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Karolingische Klöster

Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.

Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
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Materiale Textkulturen

Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 933

Herausgegeben von
Ludger Lieb

Wissenschaftlicher Beirat:
Jan Christian Gertz, Markus Hilgert,
Bernd Schneidmüller, Melanie Trede und
Christian Witschel

Band 4
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Karolingische
Klöster

Wissenstransfer und kulturelle Innovation

Herausgegeben von
Julia Becker, Tino Licht und Stefan Weinfurter
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.

DE GRUYTER

Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
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ISBN 978-3-11-037123-9
e-ISBN (PDF) 978-3-11-037122-2
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038614-1
ISSN 2198-6932

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by-nc-nd/3.0/.

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über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Universitätsbibliothek, Pal. lat. 864, fol. 26v (Lorsch, ausgehendes 8. Jahrhundert)
Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany

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Vorwort

Mit der Auflösung des weströmischen Reiches zerfiel im 5./6. Jahrhundert auch die
Einheit des lateinischen Kulturraums. Wechselnde Herrschaftsbildungen auf dem
Boden des ehemaligen Imperium Romanum führten zu einer Segmentierung, deren
Auswirkungen bis in die Buchkultur hinein erkennbar sind. Politisch und kulturell
wurde dieser Prozess erst in karolingischer Zeit aufgefangen und umgekehrt. Man
versuchte, auch in den Wissenschaftsdisziplinen an die Verhältnisse vor dem Zusam-
menbruch des Imperiums anzuknüpfen. Bis auf Ausnahmen ist von der antiken, teil-
weise sogar von der spätantiken Literatur nur das erhalten, was die karolingischen
Gelehrten bei Hof und in den Bildungszentren des Reiches überliefern konnten und
wollten. Sie erschlossen die Reste des spätantiken Wissensreservoirs, ergründeten
entlegene und vergessene Bestände, sammelten und sicherten das Schrifttum durch
eine intensive Kopiertätigkeit in den karolingischen Skriptorien, sorgten für Kommen-
tare und philologische Kontrolle der gewonnenen Texte. Der Wechsel von Papyrus zu
Pergament begünstigte diesen Transfer entscheidend, da ‚Wissen‘ von nun an ‚dauer-
haft‘ bereitgestellt werden konnte: Die europäische Wissensgesellschaft basiert auf
der Synthese von antiker Bildungstradition und frühmittelalterlicher Schriftlichkeit
in den karolingischen Klöstern.
Die Untersuchung dieses Wissens- und Kulturtransfers stand im Mittelpunkt
der internationalen Tagung, die das im Heidelberger SFB 933 „Materiale Textkultu-
ren“ angesiedelte Teilprojekt A04 „Wissenstransfer von der Antike ins Mittelalter.
Bedingungen und Wirkungen dauerhafter Verschriftlichung am Beispiel des Klosters
Lorsch“ vom 31. Oktober bis 2. November 2012 im Museumszentrum Lorsch veranstal-
tet hat. Der Tagungsort war nicht zufällig gewählt, denn unter den Bibliotheken des
Karolingerreiches hat die alte Klosterbibliothek von Lorsch den Moment der Wieder-
gewinnung antiken und spätantiken Erbes besonders deutlich bewahrt. Die Reichs-
abtei wies in karolingischer Zeit eine einzigartige Bibliothek auf und repräsentierte
einen Idealbestand vor allem des spätantiken Wissens.
Die Referenten waren von den Tagungsorganisatoren eingeladen worden, in
ihren Ausführungen vor allem die Materialität der Textträger, die im Zentrum des
Forschungsprogramms des SFB 933 stehen, zu berücksichtigen. Der SFB geht von
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der Prämisse aus, dass die überlieferten Texte und die Deutung ihrer Inhalte nicht
genügen, um den kulturellen Zuschreibungen historisch gerecht zu werden. Wichtige
Informationen über ihre ursprüngliche Funktion liefert vielmehr die Materialität und
Anordnung der texttragenden Artefakte. Daher standen die Analyse der Textträger,
das Layout der Handschriften und die an den Artefakten vorgenommenen Rezep-
tionspraktiken im Mittelpunkt der vier Sektionen: Die erste hatte die literarischen
Rezeptionspraktiken in karolingischer Zeit zum Gegenstand. Hier wurde der Aspekt
der Entstehung der karolingischen Literatur aus dem antiken und spätantiken Reser-
voir, insbesondere die Frage nach der Reintegration der antik-klassischen Autoren

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VI   Vorwort

und des antik-paganen Wissens in den karolingischen Bildungskanon diskutiert. Die


karolingischen Bibliotheken als Wissensspeicher und Wissensordnungen standen in
der zweiten Sektion im Vordergrund. Besprochen wurde die Rolle der karolingischen
Klöster als ‚Wissensorte‘, wo in Form von handschriftlichen Artefakten Wissensob-
jekte produziert, konzentriert und transformiert sowie die Vorgaben der karolingi-
schen Correctio umgesetzt wurden. Die dritte Sektion „Zeichen, Schriften, Artefakte“
galt den karolingischen Handschriften, der Schriftentwicklung am Oberrhein und
den resultierenden Anhaltspunkten für Datierung und Überlieferungswege der Arte-
fakte. In der vierten und letzten Sektion wurde nach den Trägern und Akteuren der
karolingischen Klosterlandschaft gefragt und beispielsweise die Rolle von Äbten und
Mönchen bei der Vermittlung von Rechtstexten, die Grenzen und Möglichkeiten der
Weltgeistlichkeit bei der Umsetzung der karolingischen ‚Bildungsoffensive‘ oder der
Einfluss der karolingischen Gelehrten bei der Wiederbelebung der römischen Epigra-
phik untersucht.
Fast alle Beiträge dieser Tagung haben Eingang in den vorliegenden Sammel-
band gefunden. Den Referentinnen und Referenten, die sich die Mühe gemacht
haben, ihren Vortrag in schriftliche Form zu bringen und damit zum Entstehen dieses
Bandes beigetragen haben, sei vom Herausgeberteam herzlich gedankt. Besonderen
Dank schulden wir dem SFB 933 „Materiale Textkulturen“ – und damit der Deutschen
Forschungsgemeinschaft – für die großzügige Finanzierung der Tagung, die es uns
ermöglichte, erste Ergebnisse der Arbeit in unserem Teilprojekt A04 einer breiteren
Öffentlichkeit vorzustellen. Wir freuen uns, dass der Tagungsband nach Begutach-
tung durch den Vorstand des SFB 933 in die Reihe „Materiale Textkulturen“ aufge-
nommen werden konnte. Ein eigener Dank gebührt unseren SFB-Hilfskräften, Frau
Theresa Jäckh und Lisa Horstmann, die die verschiedenen Korrekturphasen des
Bandes mit großer Geduld ertragen haben.
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Inhalt

Stefan Weinfurter
Wissenstransfer und kulturelle Innovation in karolingischer Zeit – Einleitung  3

Ulrich Eigler
Überlieferung durch die Hintertür? Die Tradition klassischer lateinischer Autoren
als Rekonstruktion des Wissenshintergrunds der Kirchenväter  7

Kirsten Wallenwein
Subscriptiones in karolingischen Codices  23

Carmen Cardelle de Hartmann


Bücher, Götter und Leser. Theodulfs Carmen 45  39

Michael Embach
Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum. Kanonizität und strukturelle
Mobilisierung  53

Julia Becker
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen. Lorsch als „patristische
Zentralbibliothek“  71

Sita Steckel
Von Buchstaben und Geist. Pragmatische und symbolische Dimensionen der
Autorensiglen (nomina auctorum) bei Hrabanus Maurus  89

Stefan Morent
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch. Aspekte der Überlieferung und
Rekonstruktion  131

Tino Licht
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Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit  145

Natalie Maag
Alemannische Spuren in Lorsch  163

Martin Hellmann
Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie  175

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Matthias Becher
Ut monasteria … secundum ordinem regulariter vivant. Norm und Wirklichkeit in den
Beziehungen zwischen Herrschern und Klöstern in der Karolingerzeit  195

Wilfried Hartmann
Äbte und Mönche als Vermittler von Texten auf karolingischen Synoden  211

Steffen Patzold
Correctio an der Basis. Landpfarrer und ihr Wissen im 9. Jahrhundert  227

Florian Hartmann
Karolingische Gelehrte als Dichter und der Wissenstransfer am Beispiel der
Epigraphik  255

Sebastian Scholz
Bemerkungen zur Bildungsentwicklung im Frühen Mittelalter.
Zusammenfassung  275

Abbildungsverzeichnis  291

Abkürzungsverzeichnis  292

Autorenverzeichnis  295

Handschriftenregister  299

Personenregister  303
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Stefan Weinfurter
Wissenstransfer und kulturelle Innovation in
karolingischer Zeit – Einleitung
Lass’ Deine Stimme ertönen, Flöte, und mache süße Verse für meinen Herrn.
David liebt Verse! Erhebe Dich und lass’ Verse erklingen!
David liebt Dichter. Kommt alle zusammen
Und singt meinem David süße Lieder.
David liebt Dichter, David ist der Ruhm der Dichter.
(…)
David liebt es, die geheiligten Gedanken der Alten zu erkunden,
Die Reichtümer der Alten kundigen Herzens zu durchstreifen.
Er frohlockt, wenn er die Geheimnisse der heiligen Weisheit erforscht.
(…)
David sehnt sich danach, Gelehrte und kluge Köpfe um sich zu haben,
Zur Zierde und zum Lob einer jeden Wissenschaft an seinem Hof,
Um die Weisheit der Alten durch gelehrten Geist wiederherzustellen.“1

Diese Verse stammen von dem Franken Angilbert, dem Laienabt von St. Riquier, nie-
dergeschrieben vor mehr als 1200 Jahren. Und sie führen uns mitten hinein in die Welt
der Bildungs- und Wissensoffensive unter Karl dem Großen, der hier wie in anderen
Quellen als David erscheint: „David sehnt sich danach, Gelehrte und kluge Köpfe
um sich zu haben“! Um diese ungewöhnliche Bildungs- und Wissensoffensive geht
es in unserer Tagung über „Karolingische Klöster. Wissenstransfer und kulturelle
Innovation“.2 Damit wird ein Forschungsprojekt vorgestellt, das unter dem Titel „Wis-
senstransfer von der Antike ins Mittelalter. Bedingungen und Wirkungen dauerhafter
Verschriftlichung am Beispiel des Klosters Lorsch“ steht und dem Heidelberger Son-
derforschungsbereich 933 (Materiale Schriftkulturen) angehört. Es kann als „Schar-
nier“ für den kulturellen Übergang vom Altertum in die Welt Europas gelten.
Mit dieser Tagung stellen wir unser Projekt zum ersten Mal umfassend zur Dis-
kussion. Das Kloster Lorsch steht im Mittelpunkt. Aber es soll auch als Exempel zu
verstehen sein für den gewaltigen Transfer antiken Wissens und antiker Wissens- und
Wissenschaftsmethoden in karolingischer Zeit. Es geht um Wissensbeschaffung, Wis-
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sensträger, Wissensaufbereitung, Wissensselektion, Wissenssicherung und Wissens-


speicherung. Dies alles wurde durch ein Unternehmen in Gang gesetzt, das wir mit
„karolingischer Bildungsreform“ umschreiben. Darüber ist viel geschrieben worden,3
doch ebenso sind viele Fragen offen. Woher stammten die Texte, die man in den karo-

1 Angilbert, Carmina, ed. Dümmler, 360–361.


2 Tagung vom 31. Oktober bis zum 2. November 2012 im Museumszentrum Lorsch.
3 Fried 2014, 319–371; Weinfurter 2014, 178–204.

© 2015, Weinfurter.
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4   Stefan Weinfurter

lingischen Klöstern übernahm? Nach welchen Kriterien hat man die Vorlagen ausge-
schrieben, neu geordnet oder zusammengestellt? Gab es gezielte Schwerpunktfelder
der Texte und Literatur in bestimmen Klöstern und wie ist Lorsch hier einzuordnen?
Wie weit ist das Bildungsprogramm in die Bevölkerung eingedrungen? Welche neuen
Texte sind in jüngerer Zeit entdeckt worden und wie sind sie zu bewerten? Und nicht
zuletzt: Welche Rolle spielte Karl der Große selbst bei diesen Vorgängen?
Solche Fragen führen uns auch immer wieder zurück zu dem Normen- und Wer-
tegefüge, von dem das Denken und Handeln der Menschen dieser Epoche geleitet
war. In der geistigen und politischen Führungselite waren es Begriffe wie rectitudo,
norma, iustitia und veritas, aber auch fides und oboedientia, mit denen die Grund-
pfeiler der Gesellschaftsordnung markiert wurden. Sie stehen in einer Wechselbezie-
hung zu den Texten, die in den Skriptorien für bedeutsam und relevant angesehen
wurden. Damit ist auch ein wesentlicher methodischer Ansatz für unser Projekt ange-
sprochen: Text- und Buchproduktion der Karolingerzeit, deren Gestaltung und Ord-
nungsprinzipien nur im Verbund mit der vorherrschenden Ordnungskonfiguration
erschlossen werden können. Diese lenkte die Auswahl aus den Vorlagen der Antike,
auch der Väterschriften, und vor allem die Auszeichnung, Gliederung und Gesamt-
komposition der Abschriften.
Grundsätzlich wird man zu beachten haben, dass Präzision, Korrektheit und Ein-
deutigkeit die Normierung der „Rechtheit“ – die norma rectitudinis – gewährleisten
sollten. Dazu mussten die Methoden und das Instrumentarium der Kommunikation
verfeinert werden: Sprache, Begrifflichkeit und Schrift. Nur die Eindeutigkeit der
„Artefakte“ und die Sicherheit im Umgang mit ihnen – so könnte man es allgemein
formulieren – garantierte ihre Wirksamkeit. Daraus entstand nicht zuletzt die ein-
deutigste aller Schriften, die karolingische Minuskel,4 die wir heute noch benutzen.
Dass es auch ganz andere Zielsetzungen in Schrift und Sprache früher Kultu-
ren gab, hat der Heidelberger Assyrologe Markus Hilgert gezeigt.5 Sein Beispiel sind
die mesopotamischen Keilschriftzeichen. Hier kann man erkennen, dass es sich um
Schriftzeichen, also „Grapheme“, handelt, die als Wortzeichen („Logogramme“) oder
als Silbenzeichen („Phonogramme“) verstanden werden konnten. Darüber hinaus
war es möglich, sie auch als stumme, nicht ausgesprochene Klassifikationen zu ver-
wenden. Ein Beispiel: Das Graphem gis bedeutete als Logogramm das sumerische
Wort für Holz. In der Verwendung als Silbenzeichen stand es für die Silbe /is/ und
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wurde im Akkadischen als „Los“ oder „Anteil“ übersetzt. Als einem Wort vorange-
stellter Klassifikator schließlich bekam das Zeichen im Sumerischen die Bedeutung
„Keule“ oder „Waffe“.
Dies macht deutlich, dass Schrift im Zweistromland völlig anders eingesetzt
wurde als im Reich Karls des Großen. Mit den sumerischen und akkadischen Schrift-

4 Licht 2012, 337–346.


5 Hilgert 2009, 277–309.

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Wissenstransfer und kulturelle Innovation in karolingischer Zeit   5

zeichen sollten möglichst weitgefasste Wissens- und Bedeutungsfelder abgedeckt


werden. Das ging sogar so weit, dass ganze Gruppen von Komposit-Graphemen ent-
stehen konnten, bei denen eine Komponente, zum Beispiel die erste Silbe, identisch
war. So bildeten sich ganze Cluster von Wissensgeflechten. Für diese Schrift und den
Sinn, den sie transportierte, war ein hoher Grad von Mehrdeutigkeit und von Unbe-
stimmtheit kennzeichnend. Mit ihr konnte Wissen gespeichert werden, das dann in
ganz unterschiedlichen Kontexten abrufbar und einsetzbar und daher im Hinblick auf
kulturelle Veränderungsprozesse anschlussfähig war. Markus Hilgert spricht daher
vom „rhizomatischen“ oder „rhizomorphen“ Charakter dieser Schrift. Eine der frühen
und bedeutendsten Hochkulturen der Menschheit hat sich demnach gerade nicht für
die Eindeutigkeit der Sprache und der Schrift entschieden, sondern für „Multidimen-
sionalität, Variabilität, Instabilität und namenlose Offenheit“ von vielfältig verfloch-
tenen, aber nicht linearen Wissensinhalten und Wissensobjekten.6
Mit solchen Gegenüberstellungen bekommt die Eindeutigkeits-Offensive Karls
des Großen ein besonders scharfes Profil im Sinne einer spezifischen Entwicklung.
Wissen und Wissenschaft wurden mit dem Anspruch zusammengefügt, dass nur die
Eindeutigkeit eine kollektive Ordnung der „Rechtheit“ (rectitudo) hervorzubringen
vermag.7 So vermeinte man, den Weg dafür zu bereiten, das Richtige vom Falschen zu
trennen, und war davon überzeugt, auf diese Weise auch die Wahrheit zu erkennen.
So markiert das hier vorgestellte Projekt eine mächtige Weichenstellung in der Ent-
wicklung der „materialen Textkulturen“ in der westlichen Zivilisation, ein Prozess,
dessen „kulturelle Innovation“ kaum überschätzt werden kann.

Quellen
Angilbert, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1881 (Nachdruck
1964, 1978, 1997).

Literatur
Fleckenstein (1953): Josef Fleckenstein, Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der
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Norma rectitudinis, Bigge-Ruhr.


4
Fried ( 2014): Johannes Fried, Karl der Große. Glaube und Gewalt. Eine Biographie, München.
Hilgert (2009): Markus Hilgert, „Von ‚Listenwissenschaft‘ und ‚epistemischen Dingen‘. Konzeptuelle
Annährungen an altorientalische Wissenspraktiken“, Journal for General Philosophy of Science
40, 277–309.

6 Ebd., 307.
7 Fleckenstein 1953.

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6   Stefan Weinfurter

Licht (2012): Tino Licht, „Die älteste karolingische Minuskel“, Mittellateinisches Jahrbuch 47,
337–346.
Weinfurter (22014): Stefan Weinfurter, Karl der Große. Der heilige Barbar, München.
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Ulrich Eigler
Überlieferung durch die Hintertür? Die
Tradition klassischer lateinischer Autoren als
Rekonstruktion des Wissenshintergrunds der
Kirchenväter1

In der Zürcher Zentralbibliothek befindet sich ein Lorscher Codex (Ms. Car. C 131),
geschrieben Mitte des 9. Jahrhunderts im jüngeren Lorscher Stil,2 welcher die circa
387 von Hieronymus angefertigte Übersetzung der Schrift des Didymus Alexandrinus
De spiritu sancto unvollständig enthält.3 Schlägt ein Leser die Handschrift auf, ist er
unmittelbar mit Hieronymus’ Polemik gegen den Übersetzungsversuch der Schrift
des Didymus durch Ambrosius konfrontiert, mit der Hieronymus sich von ihm ohne
Namensnennung im Prolog (fol. 1v) distanziert. Er kritisiert die cuiusdam libellos vor
allem deswegen, weil die Übersetzung aus dem Griechischen so schlecht sei:

Legi dudum de spiritu sancto cuiusdam libellos et iuxta comici sententiam ‘ex grecis bonis Latina
vidi non bona’ [Ter. Eun. prol. 7–8] nihil ibi dialecticum, nihil virile atque districtum, quod lectorem
vel gratis in adsensum trahat… Dydymus vero meus oculum habens sponsae de cantico canticorum
[cant. 1, 14; 4  1. 9; 6, 4] et illa lumina, quae incandentes segetes sublimari Iesus praecepit [Joh.
4, 35].

Wie für viele Schriften der Kirchenväter typisch, die der sowohl traditionell als auch
christlich orientierten Bildungskultur entstammen,4 werden im Prolog5 zwei verschie-
dene Corpora aufgerufen: spezifisch christliche beziehungsweise biblische Texte, die
genauer zitiert werden durch den Verweis auf das Hohelied oder eine Äußerung Jesu
sowie – meist ohne klare Herkunftsnennung – die klassische Bildungsliteratur, die
hier durch ein wörtliches Zitat mit dem unbestimmten Beleg iuxta comici sententiam
vertreten ist. In beiden Fällen dienen derartige Bezugnahmen, produktionsästhe-
tisch betrachtet, gegenüber dem zeitgenössischen Publikum der Autoritätsstiftung
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1 Die Ausführungen in den Abschnitten 2–4 beruhen auf früheren Arbeiten (Eigler 2003 und beson-
ders Eigler 2013), da hier wie dort mit dem gleichen Modell zu Textüberlieferung und Wissenskultur
gearbeitet wird. Die älteren Arbeiten mögen zu einer umfassenden Einordnung herangezogen wer-
den. Längere Passagen sind besonders aus Eigler 2013 übernommen, wurden aber überarbeitet und
gedanklich weiterentwickelt.
2 Bischoff 1989, 52, 134–135; Häse 2002, Nr. 270–271.
3 Zum Zusammenhang der Schrift genauer: Mülke 2008, 199–201; Gemeinhardt 2007, 444.
4 Vgl. dazu besonders Hagendahl 1958; 1967; 1983.
5 Hieronymus zitiert zum Beispiel auch im Prolog zu seinem Kommentar zu Hosia dieselbe Terenz-
passage: Hieronymus, Commentariorum in Osee Prophetam, II, ed. Adriaen, 55.

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8   Ulrich Eigler

und Legitimation, fordern und bekräftigen zugleich die Kenntnis der Herkunftstexte,
die in unterschiedlichen Kontexten kanonischen Status beanspruchen dürfen, hier
aber nebeneinander stehen. Der Bezug auf die klassische Bildungstradition verlangt
keinen besonderen Ausweis, die biblischen Texte werden dagegen pietätvoll spezifi-
scher zitiert.
In rezeptionsästhetischer Sicht, das heißt in diachroner Perspektive, bedeutet
dies allerdings, dass im Zuge des Rückgangs der traditionellen Kultur derartige Klas-
sikerzitate zu einem vagen Memento an einen vergangenen Text- und Wissenshinter-
grund degenerierten, der unter Umständen überhaupt nicht mehr wahrgenommen
wurde. Im vorliegenden Fall wurde dann wohl die Textgemeinschaft der Komödien
des Terenz mit der Bibel nicht mehr realisiert; gleichwohl erfolgte mit dem Hierony-
mustext eine indirekte Überlieferung von Verweisen auf den klassischen Bildungs-
hintergrund der Kirchenväter.6
Nachweislich ging aber auch die sprachlich anspruchsvolle Kirchenväterlektüre
auf dem Kontinent zurück und erlebte bekanntlich erst Ende des achten Jahrhunderts
eine signifikante Wiederbelebung – und mit ihr implizit der Bildungshintergrund, vor
dem diese Texte entstanden waren.7 Dies betraf den allgemein sprachlich-gramma-
tischen Charakter ihrer Schriften wie die in ihnen enthaltenen indirekt überliefer-
ten Reminiszenzen an klassische Autoren wie Terenz, aber auch Vergil, Horaz oder
Cicero. Es erfolgte eine Überlieferung durch die Hintertür.8
Diese ist im Falle der Zürcher Handschrift auch äusserlich zu erkennen.9 Das
Deckblatt präsentiert nämlich ein ganzseitiges incipit in roter breit auseinander-
geschriebener Capitalis Rustica, wie es sich beispielsweise auch zu Beginn einer
zeitgleich entstandenen Lorscher Handschrift des Johannesevangeliums findet
(Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 93, fol. 79v).10 Auch hier wird implizit ein
Merkmal spätantiker Klassikerhandschriften – man denke an den Vergilius Mediceus
(fol. 61v) – tradiert, das an prominenter Stelle mit einem durchaus zu überlesenden,
unter bestimmten Gegebenheiten aber auch aktualisierbaren Signal auf die Herkunft
aus seiner spätantiken Bildungskultur verweist. Diese Deckblattgestaltung verband
traditionelle und christliche Texte,11 bildet für Spätere ebenfalls ein Memento an die
Zeit, in der christliche Literatur in der traditionellen Schriftkultur eingebettet war.
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6 Grundsätzlich zur impliziten Vermittlung von Wissen in der spätantiken literarischen Kultur vgl.
Eigler 1999 (hier philosophisches Wissen).
7 Brown 1975, 263.
8 Häse 2002, 5 bringt diesen Gedanken für die Lorscher Bibliothek des 8./9. Jahrhunderts ganz ähn-
lich zum Ausdruck: „Die heidnischen Schriften waren aber eher ein Nebenprodukt des fleißigen Sam-
melns der Lorscher Mönche, das auf ein Erfassen der patristischen Literatur zielte.“
9 Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Car. C 131, fol. Iv.
10 Bischoff 1989, 45–46. Zur Titelseite in den Lorscher Handschriften vgl. den Beitrag von Tino Licht
(in diesem Band), 153–157.
11 Zu einem ähnlichen incipit (allerdings mit etwas gedrungener, schwarzer Capitalis) im Vergilius

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Überlieferung durch die Hintertür?   9

Wir wollen im Folgenden daher – freilich nur skizzenhaft – der Frage nachgehen,
welche Rolle die impliziten Verweise auf den spätantiken Bildungshintergrund in Kir-
chenväter- und verwandten Handschriften12 spielten. Dessen Wahrnehmung rückte
auch materiell in einer Bibliothek die als Memento innerhalb der Texte auftretenden
Autoren wieder in die Nähe der Träger dieser Appelle. Wir stellen also die Frage, wie
in einem Kloster, in dem man sich verstärkt – dem Zug der Zeit entsprechend – der
Kirchenväterabschrift widmete, auch den Bildungsautoren der Spätantike wieder
größere Bedeutung zukam, die sich auch in einer erkennbaren Bibliotheksgemein-
schaft niederschlug. Ich gehe davon aus, dass die besondere Pflege der Kirchenväter
die Rückkehr von antiken Autoren stimulierte, die seit dem 6. Jahrhundert in den Hin-
tergrund traten, ja in Vergessenheit gerieten. Ich sehe in diesem Vorgang eine Mög-
lichkeit, Wissenstransfer und kulturelle Innovation in der Karolingerzeit zu beschrei-
ben.
Dazu sollen zunächst (1.) einige Bemerkungen zum Potential der Kirchenväter-
Literatur als Auslöser der Beschäftigung mit ihrem spätantiken Bildungshintergrund
gemacht werden. Ein zweiter Abschnitt ist der materiellen Nachbarschaft der Kir-
chenväterschriften, wie sie sich in einer Bibliotheksvision des Sidonius Apollina-
ris ausdrückte, gewidmet (2.). Es soll damit ein Modell bibliothekstechnischer und
epistemischer Nähe entwickelt werden, das in karolingischen Handschriften noch
spürbar ist, wenn man beispielsweise an die behandelte Hieronymus-Übersetzung
denkt, das in der Bibliothek als Ganzes, wie das Beispiel Lorsch zeigt, in anderem
Rahmen wiedergewonnen wird. In einem kurzen Abschnitt (3.) soll daher ein Blick
auf die Bedingungen geworfen werden, welche die Kirchväterrezeption blockierten.
Im vierten Abschnitt (4.) muss dagegen illustriert werden, wie denn bei Wiederauf-
nahme der Kirchenväterlektüre die Einlösung des ihnen inhärenten Appells vorstell-
bar, das Potential einlösbar, das heißt der Wissenstransfer möglich wurde. Anschlie-
ßend seien unsere sehr allgemeinen Überlegungen anhand einiger Beispiele aus
Lorsch durchgespielt (5.) und kurz eingeordnet.
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Mediceus vgl. die Abbildung in Giardina 1986, Tav. 44. Ein ebenso gestaltetes Eingangsblatt findet
sich in der Lorscher Abschrift von Hieronymus’ Kommentar In ecclesiasten. Die direkte Abschrift von
einem spätantiken Exemplar ist durchaus vorstellbar. Zur Wahrscheinlichkeit, dass zahlreiche Lor-
scher Handschriften dieser Zeit direkt von spätantiken Vorlagen abgeschrieben wurden vgl. McKit-
terick 2003, 171.
12 Man muss zu den von Kirchenvätern verfassten theologischen Schriften auch historiographische
Werke zur Kirchengeschichte oder Chroniken hinzuzählen, zumal sie wie im Falle des Hieronymus
von diesen selbst verfasst oder wie die Weltgeschichte des Orosius durch Augustinus angeregt sind.
Aus dieser Nähe resultiert das Problem der genauen Benennung christlicher Historiographie in der
Spätantike, die man sinnvoll zunächst nur von heidnischer Geschichtsschreibung abgrenzt. Vgl.
McKitterick 2003, 160.

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1 Die Kirchenväter und die Überlieferung durch die


Hintertür
In einer Bibliothek, die man wie im Einladungstext zur Tagung als „patristische Zen-
tralbibliothek“ bezeichnet hat, muss die Frage von besonderer Bedeutung sein, welche
Sekundäreffekte die erneute Pflege dieser Texte generierte. Was steuerte die Zusam-
menstellung dieser Bibliothek, die ja als kulturgeschichtliches Zeugnis einen eigenen
Quellen-Wert hat? Uns interessiert dabei weniger die Frage, woher die Vorlagen für
die Abschriften beziehungsweise die von außerhalb erworbenen Codices kamen,13 als
die Frage, was das Interesse an der Erweiterung der Kirchenväterbestände, besonders
aber an heidnischer Literatur ausgelöst haben könnte. Ich meine hier, dass man unter
Umständen dem impliziten Appell der Kirchenväter folgte, der sich aus dem in der
Lektüre wahrgenommenen Memento ergab oder auch aus der schieren Präsenz von
Kirchenväterhandschriften.14 Im Falle der Zürcher Handschrift würde dies bedeuten,
dass man Terenz gesucht und abgeschrieben hätte (wofür es leider soweit ersichtlich
keinen Nachweis gibt) oder dass zumindest die Bereitschaft, sich mit dem literari-
schen Hintergrund der spätantiken Kirchenväter zu beschäftigen, durch ihre Präsenz
in der Bibliothek gefördert wurde. Schon die materiellen Bücher enthalten einen
generellen Appell, der die Berücksichtigung des ganzen spätantiken Wissensraums
anmahnt. Der Sinnpflege geht die Textpflege voraus. Wie ein erratischer Block steht
eine vor allem im 9. Jahrhundert gepflegte und offenbar systematisch erweiterte Bib-
liothek vor uns.15 Zeugnisse zur „Sinnpflege“ in Schule und Unterrichtspraxis fehlen,
so dass man die evidente Dynamik der Bibliothek in ihrer Blütezeit mangels Zeug-
nissen wie besonderer Markierung, Kommentierung oder Verwendung nur implizit
erahnen kann. Insofern ist dieses Kloster, das sich durch seine Bibliothek hervortut,
auch Beispiel einer Aporie. Es tritt uns lediglich als potentiell realisierbarer, in seiner
Materialität gelegentlich sehr gut greifbarer Wissensspeicher entgegen. Mit dieser
Potentialität wollen wir uns im Folgenden beschäftigen,16 ist sie doch Ausdruck des
durch Katalog und konkrete Codices repräsentierten „Idealbestand[s] vor allem des
spätantiken Wissens“,17 ohne dass sich die „epistemische Operativität“ dieser „Arte-
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13  Zu den historischen Werken, die in Lorsch im 8./9. Jahrhundert abgeschrieben wurden, stellt
McKitterick 2003, 171–174 ganz ähnlich diese Frage.
14 Zu Begriffen und Formen der Sinn- und Textpflege vgl. Assmann 1987, 12–15.
15 Ausdruck dieses Zustands sind die Kataloge. Vgl. dazu Häse 2002.
16 Bischoff 1989, 61 betont zu Recht: „Denn einmal geschaffen, hat die Bibliothek sich weniger als
andere erneuert, und da Lorsch nur spärliche literarische Dokumente hinterlassen hat, erhalten
selbst bescheidene Spuren der späteren Generationen, die sich in den Codices niedergeschlagen
haben, erhöhten Wert.“
17 Ich folge hier dem Einladungstext.

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Überlieferung durch die Hintertür?   11

fakte“ präzise belegen, die Funktion des Materiellen als „Aktant“ und „Instrument“
genau trennen ließe.18
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Gedichtzeilen des Hrabanus
Maurus zum Stand des Klosters in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts (Hrabanus
Maurus, Carmen 23, 3–6):

Quicquid ab arce deus caeli direxit in orbem,


Scripturae sanctae per pia verba viris
Illic invenies, quicquid sapientia mundi
Protulit in medium temporibus variis.19

Neben den pia verba scripturae sanctae steht quicquid sapientia mundi protulit in
medium temporibus variis, was eine duale Wissenssystematik, jedoch keine Gegen-
überstellung evoziert. Neben den scripturae sanctae steht das Wissen aller Zeiten,
legitimiert durch den einleitend genannten Willen Gottes. Übertragen auf die Lorscher
Bibliothek, könnte man die Kataloge als repräsentativ für diesen Befund ansehen: Die
biblischen Schriften stehen zusammen mit einem enormen Fundus von patres, was die
Bibliothek zum Zeugnis der Wiederbelebung der Autorität der patres als Garanten des
Wissens aller Zeiten (quicquid sapientia mundi / Protulit in medium temporibus variis)
macht.20 Dazu gehörte aber auch sprachlich-kulturelles Wissen der Antike, welches,
wie auch Cassiodor betonte, die Kirchenväter auszeichnete. So ordnet er diese in der
Doppelfunktion als christliche Autoren wie auch als antike Redner respektvoll in eine
als ill[e] chor[us] sanctissim[us] atque facundissim[us] Patrum bezeichnete Sonder-
gruppe ein.21 Das Attribut sanctissimus qualifiziert sie als herausragende christliche
Autoren, die Bezeichnung facundissimus gesellt sie antiken Autoren wie Cicero als
Schriftsteller höchster sprachlich-rhetorischer Qualität bei. Als chorus sanctissimus
führen sie zur genaueren Bibellektüre:

18 Vgl. Konzept der Jahreskonferenz des SFB 933 „Wissen in materialen Textkulturen. Zum episte-
mischen Status von Geschriebenem in vergangenen und heutigen Gesellschaften“ (13. /14. 06. 2013):
http://www.materiale-textkulturen.de/dokumente/kalender/2013-06_SFB_933_Programm_Jahresta-
gung_2013.pdf (Stand 10. 3. 2014): „Aktuelle Tendenzen der Wissenschaftstheorie werden nach ihrer

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Übertragbarkeit auf die gegenwärtige geisteswissenschaftliche Forschung befragt – unter Berücksich-


tigung der relevanten Fragestellungen im Hinblick auf die spezielle Problematik der epistemischen
Operativität schrifttragender Artefakte: Welche Schlüsse lassen sich aus den (materiellen) Überliefe-
rungsträgern für die Konstituierung des betrachteten wissenschaftlichen Gegenstands ziehen? Wel-
che Rolle kommt dem Materiellen zu, das in der epistemischen Praxis sowohl Wissensobjekt und
Repräsentation als auch Wissenssubjekt, Aktant und Instrument differenzieller Iteration ist?“
19 Hrabanus Maurus, Carmina, ed. Dümmler, 187.
20 Bischoff 1989, 63 verweist bezeichnenderweise auf Alkuins Verse auf die Bibliothek von York als
Vorbild. Auch Alkuin entwirft mit seinem Gedicht eine Vision umfassenden (spätantiken) Wissens, in
der die Kirchenväter eine entscheidende Rolle spielen. Vgl. auch Häse 2002, 21–22.
21 Cassiodor, Institutiones, I, 17, 3, 228.

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Difficile quoque dictu est, quam frequenti occasione reperta Scripturas sanctas locis aptissimis
potenter aperient, ut subito transiens discas, quod te neglegenter praeterisse cognosces.22

Dieselben Autoren führen als chorus facundissimus aber auch sprachlich, was
ornatus, Zitate und Syntax betrifft, zu den klassischen Normautoren Vergil, Cicero
et cetera, nur wird das von Cassiodor nicht weiter thematisiert. Immerhin betont er
im selben Kapitel die andere Sprache der Kirchenväter, die neben Belehrung auch
ein ästhetisches Vergnügen bereitet: cum quo suavissime colloquaris.23 Wie die ästhe-
tische Qualifizierung deutlich macht, ist Cassiodor der ständige Appell bewusst, der
bei der Lektüre der Kirchenväter den spätantiken Bildungsraum eröffnet.
Die Kirchenväter machen eine Gemeinschaft von Autoren möglich und führen zu
Autoren zurück, die nun nicht mehr unverstandene Mementos hinterlassen haben,
sondern in einem gewissen Maße gesucht und den Kirchenvätern bibliothekarisch
beigesellt werden. So finden sich in der Lorscher Bibliothek Klassikerhandschriften,
wie diese auch im Gedicht Theodulfs De libris quos legere solebam… im unmittelba-
ren Anschluss an die Kirchenväter begegnen.24 Auf die Nennung von Hieronymus,
Ambrosius, Isidor oder Cyprian folgt nämlich die Bemerkung:

Legimus et crebro gentilia scripta sophorum


Rebus, qui in variis eminuere satis.25

Wichtig ist hier wie auch in dem eingangs genannten Beispiel der Hieronymus-Hand-
schrift in Zürich zu bemerken, dass die Referenz auf die christliche Literatur spezifisch
vorgenommen wird, diejenige auf die gentilia scripta nur allgemein.26 Dies akzentuiert
die nachgeordnete Bedeutung der spätantiken traditionellen Kultur, deren Präsenz
aber latent anerkannt und in Erinnerung gehalten wird. Theodulf beschreibt so wenig
wie Hrabanus Maurus oder Cassiodor eine bibliothekarische Anordnung der Bücher,
sondern eine epistemische, die den Wissenskosmos der Zeit umschreibt und struktu-
riert. Dieser konvergiert mit dem der christlichen Spätantike, welchem der folgende
Abschnitt gewidmet ist.
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22 Cassiodor, Institutiones, I, 17, 3, 228.


23 Ebd.
24 Vgl. dazu den Beitrag von Carmen Cardelle (in diesem Band), 39–51.
25 Theodulf, Carmina, ed. Dümmler, 543.
26 Theodulf nennt danach explizit die Namen christlicher Dichter der Spätantike: Theodulf, Carmi-
na, ed. Dümmler, 543.

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2 Kanon und Regal: Lateinische Literatur bei


Sidonius Apollinaris
In gleicher Weise bietet für die Spätantike Sidonius Apollinaris ein Bild von Bücher-
und Wissensordnung, als er im Jahre 465 die Bibliothek in der Villa des Ferreolus,
des praefectus praetorio Galliarum von 451, beschreibt. In ihr befanden sich mehrere
Regale, zwei werden hervorgehoben:27

sic tamen quod, qui inter matronarum cathedras codices erant, stilus his religiosus inveniebatur,
qui vero per subsellia patrumfamilias, hi cothurno Latiaris eloquii nobilitabantur; licet quaepiam
volumina quorumpiam auctorum servarent in causis disparibus dicendi parilitatem: nam similis
scientiae viri, hinc Augustinus, hinc Varro, hinc Horatius, hinc Prudentius lectitabantur. Quos inter
Adamantius Origenes Turranio Rufino interpretatus sedulo fidei nostrae lectoribus inspiciebatur;
pariter et, prout singulis cordi, diversa censentes sermocinabamur...

Und es war so, dass in den Büchern (codices), die sich zwischen den Sitzen (cathedrae) der
Frauen befanden, ein religiöser Stil (stilus religiosus) zu finden war, die aber, die bei den Sitzen
(subsellia) der Herren standen, durch den hohen Stil lateinischer Sprache geadelt wurden (hi
cothurno Latiaris eloquii nobilitabantur); [war es doch so, dass] jede Rolle beliebiger Autoren
(licet quaepiam volumina), wenn auch in verschiedenen Angelegenheiten, den gleichen Stil
(dicendi parilitatem) wahrte. Denn Autoren gleicher sprachlicher Gewandtheit (similis scientiae
viri), Varro und Augustinus, Horaz und Prudentius wurden da gelesen. Unter diesen wurde fleis-
sig von Lesern unseres Glaubens Origenes in der Übersetzung des Rufinus konsultiert. Obwohl
unterschiedlicher Meinung, diskutierten wir in ausgeglichener Atmosphäre und wie dem Einzel-
nen der Sinn stand...

Hier verhält es sich freilich anders als in den bisher behandelten Fällen von Bücher-
ordnungen. Der noch ganz in der traditionellen Kultur verhaftete Aristokrat bleibt,
was die spezifisch christlichen Bücher betrifft, unklar. Sie werden allgemein als
Gruppe von libri charakterisiert, die wegen ihres stilus religiosus hervorgehoben, aber
auch optisch durch die Codexform identifiziert sind. Es liegt also genau die gegentei-
lige Situation wie in den christlichen Texten vor, die wir bisher behandelt haben. Dort
wurden die biblischen Bezüge genau benannt, Reminiszenzen an die traditionelle
Literatur, wie zum Beispiel an Terenz bei Hieronymus, blieben unbestimmt. Sidonius
lässt dagegen die ‚spezifisch’ christliche Literatur unklar, nimmt aber die Kirchen-
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väter bezeichnenderweise explizit in eine entgegengesetzte Gruppe hinein. Er kon-


struiert einen durch Metaphern und Symbole sowie literatur- und kulturgeschicht-
liche Semantik geprägten Gegensatz. So werden beispielsweise die Geschlechter
bestimmten Regalen, aber auch Sitzen zugeordnet. Wird mit diesen Symbolen bereits
eine religiöse Sphäre von einer weltlich-laikalen separiert, so erfährt dies noch eine

27 Sidonius Apollinaris, Epist. 2, 9, 4–5, ed. Loyen, 64.

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Verstärkung durch die suggestive Buchmetaphorik. Sidonius platziert die Frauen vor
den codices und wählt damit für die ihnen zugeordneten Bücher eine Mediengestalt,
die man mit christlicher Literatur assoziiert.28 Entsprechend werden die Männer vor
volumina, das heißt Buchrollen, gesetzt, die einen materiellen Kontrast konstituieren,
der für diese Zeit bereits anachronistisch ist,29 da sich der Codex als Buchform schon
generell durchgesetzt hat. Sidonius inszeniert eine Differenz traditionell-lateinischer
und christlicher Literatur gegenüber spezifisch christlichen Texten.
Die erste Gruppe befindet sich im Regal vor den Herren. Dort stehen Autoren, die
durch den gemeinsamen hohen Stil verbunden sind. Varro rangiert auf einer Stufe
mit Augustinus, Prudentius mit Horaz. Prosa und poetische Sprache sind vertreten:
Hi cothurno Latiaris eloquii nobilitabantur. Die im Herrenregal versammelten Bücher
sind der kanonischen literarischen ‚spätantiken’ Kultur verpflichtet, die im Westen
des römischen Reiches etabliert ist und die gemeinsame sprachliche Grundlage (pari-
litas dicendi) der Kirchenväter-Literatur wie auch der Schulautoren bildet. Ebenso gilt
Prudentius wegen der steten Präsenz seines Vorbilds Horaz als christlicher Horaz und
ist diesem gleichgestellt. Im Herrenregal ist also Literatur für Christen enthalten, eine
Unterscheidung der Regale nach heidnischen Klassikern und christlichen Büchern
greift zu kurz.30
Den Texten im hohen Stil steht im Frauenregal eine Gruppe von libri gegenüber,
die einerseits wegen ihres stilus religiosus hervorgehoben, andererseits optisch durch
die Codexform identifizierbar ist. Im Sprachniveau liegt denn auch, folgt man der
antithetischen Ordnung, der Unterschied gegenüber den libri religiosi des Frauenre-
gals. Diese müssen dem klassischen Kanon und seiner christlichen Transformation
stilistisch und inhaltlich entgegengesetzt sein. So können wir vermuten, dass es sich
um Schriften handelt, deren Inhalt in der Lektüre unmittelbar evident ist, das heißt
der religiösen Praxis entspricht oder lokale Themen wie Heiligenviten bietet. Sie sind
sprachlich einfach gehalten und setzen nicht den Besuch des Grammatikunterrichts
beziehungsweise die Vermittlung einer elaborierten Sprache oder Wissen um Inter-
texte oder antike Geschichte beziehungsweise Mythologie voraus.31 Dies erklärt auch,
warum Sidonius keinen alternativen Kanon formuliert, die Frage nach dem Inhalt des
Frauenregals offen lässt. Die dortigen codices sind noch nicht durch eine Institution
kanonisch allgemein fixiert.
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28 Vgl. Jochum 1999, 52 zum Zeichencharakter von Codex und Rolle in der Unterscheidung von
christlicher und heidnisch-traditioneller Literatur.
29 Roberts 1970, 57 geht davon aus, dass an der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert 73,95 % der heid-
nischen Literatur in Codexform vorlag. Allgemein vgl. Cavallo 1999, 99–133.
30 Dies macht beispielsweise Manguel 2000, 155, der den Inhalt der beiden Regale als „lateinische
Klassiker für Männer, Gebetbücher für Frauen“ charakterisiert.
31 Dies ist zum Beispiel für Prudentius’ allegorische Dichtungen und allemal für Horaz der Fall,
ebenso für Augustinus, der die Kenntnis von Livius, Varro, Sallust, Vergil und Cicero für das Verständ-
nis von De civitate Dei voraussetzt und sich deshalb auch im Herrenregal mit diesen Autoren befindet.

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Aristokratische Villen besaßen wohl durchweg derartige Bibliotheken,32 die eine spä-
tantike Reichskultur reflektieren, mit deren Schwinden aber lokale Interessen in den
Vordergrund treten und das Herrenregal an Boden verliert. Der innertextliche Appell
der Kirchenväter, nach den Regalgenossen zu greifen, wird nicht mehr vernommen.
Zugleich aber schwindet mit der traditionellen literarischen Bildung die Kompetenz,
mitunter auch der Wille, sich der Weisheit der Kirchenväter zu bedienen und sich
sprachlich oder wie auch immer geartet dem impliziten Appell auszusetzen, sich die
spätantike Bildungskultur als Voraussetzung dieser Texte zu vergegenwärtigen.

3 Libri religiosi oder die Verengung des Kanons


Viele Umstände trugen dazu bei, dass das Herrenregal, also Kirchenväter und in der
Spätantike präsente Klassiker verschwand. Zu ihnen gehören politische und soziale
Veränderungen, aber auch explizite religiös motivierte Bildungsfeindlichkeit.33 Nur
ein Beispiel unter vielen sei hier genannt. So fordert, um in Gallien zu bleiben, Cae-
sarius von Arles (470–542), ein 491 ins Kloster Lérins eingetretener Aristokrat, der 502
Bischof von Arles geworden war und 512 dort ein Männerkloster gründete, in einem
nur kurze Zeit nach Sidonius’ Schreiben verfassten Brief:34

Si expositiones sanctarum scripturarum eo ordine et illo eloquio, quo a sanctis patribus sunt expo-
sitae, caritatis vestrae auribus voluerimus intimare, non nisi ad paucos scolasticos cibus doctrinae
poterit pervenire, reliqua vero populi multitudo ieiuna remeabit; et ideo rogo humiliter, ut conten-
tae sint eruditae aures verba rustica aequanimiter sustinere, dummodo totus grex domini simplici
et, ut ita dixerim, pedestri sermone pabulum spirituale possit accipere.

Wenn wir die Auslegungen der Heiligen Schriften in dieser Ordnung und jenem Stil, in dem
dies die heiligen Väter getan haben, Euren geschätzten Ohren vermitteln wollen, dann wird die
Speise des Wissens nur zu wenigen, die Schulbildung genossen haben, gelangen, die übrige
große Schar des Volkes wird hungrig davon gehen; und darum bitte ich demütig, dass die gebil-
deten Ohren sich damit zufrieden geben, gleichmütig bäurische Worte zu ertragen, solange nur
die ganze Herde des Herrn die geistliche Speise in einfachem und sozusagen Fußgängerstil auf-
nehmen kann.

Die Schriften der Kirchenväter zeichnen sich durch einen gebildeten, nur für die aures
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eruditae weniger Absolventen der Grammatik-Schule (scholastici) bewältigbaren Stil


(eloquium) aus. Gerade wegen ihres eloquium lehnt Caesarius, der selbst noch eine

32 Vgl. auch Vessey 2001 zur Reminiszenz an einen Bibliotheksbesuch in einer gallischen Villa in
einem Brief des Rusticus an Eucherius.
33 Vgl. zur ‚Bildungsfeindlichkeit‘ Gregors des Grossen ausführlicher Eigler 2013, 411–414. Es wären
auch die canones der lokalen Konzilien heranzuziehen.
34 Caesarius von Arles, Sermones, ed. Morin, 353.

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grammatisch-rhetorische Ausbildung erhalten hatte, die Orientierung an den Kir-


chenvätern bei der expositio der Heiligen Schrift ab. Caesarius fordert also die Lösung
des Bandes, das christliche Lehre mit spätantiker Bildungstradition verknüpfte. Um
im Bild des Sidonius zu bleiben, distanziert er sich zugunsten einer lokal orientierten
Verkündigung von den christlichen, patristischen Autoren des bei Sidonius skizzier-
ten Herrenregals, die einer globalen spätantiken literarischen Kultur entstammen.
Beide gallischen Autoren bedienen sich derselben Dichotomie, Caesarius freilich pri-
vilegiert die Aufgabe des Kirchenväterbezugs in der kirchlichen Lehre, indem er die
Aufgabe des globalen Standards spätantiker Kultur zugunsten der Verengung einer
rein Bibel-orientierten Verkündigung des Wortes Gottes verlangt. Die Bedeutung der
Kirchenväter gerade für die genaue Erkenntnis des Schriftsinns, wie es später Cassio-
dor formulierte, negiert er.

4 Alkuin und der Appell der Spätantike


Wie aber kann das Potential der Kirchenväter als Vermittler spätantiken Wissens
aktualisiert werden? Wie könnte sich der Weg vom Appell beziehungsweise Memento
– zur Suche – zum Wissen gestalten? Was sich in Lorsch beim Aufbau der Bibliothek
vollzog, entsprach der allgemeinen intellektuellen Bewegung der ‚karolingischen
Renaissance’. Die Autoren des ‚Herrenregals’ kehrten ins Zentrum des kulturellen
Interesses zurück, nicht zuletzt angemahnt durch die wieder aktuelle Lektüre von
Hieronymus’ De viris illustribus, der Institutiones des Cassiodor aber auch von De doc-
trina christiana Augustins. Damit sind die erneute Etablierung eines grammatisch-
rhetorischen Sprachstils und die Rückkehr spätantiken inhaltlichen Kulturwissens
neben der etablierten lateinischen literarischen Kultur verbunden. Zugleich kehren in
der aktuellen literarischen Produktion wieder intertextuelle Bezüge mit antiken und
patristischen Autoren, eine neue Themenvielfalt und auch eine rudimentäre römi-
sche historische Perspektive zurück.35 Das Kirchenväterstudium führt nämlich zum
sprachlichen Hintergrund dieser klassisch gebildeten Autoren. Dies verschafft Horaz,
Vergil, Cicero und Terenz als Normautoren des klassischen Stils wieder ein Heimat-
recht im karolingischen Wissens- und Lebenskosmos. Ständig wurden die Leser auf
diese Garanten des kulturellen Hintergrunds der Kirchenväter hingewiesen, die in der
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Lektüre durch die Hintertür antikes Wissen zurückbrachten. So schreibt Alkuin 799 in
einem an Karl den Großen gerichteten Brief:36

Legitur quendam veterum dixisse poetarum, cum de laude imperatorum Romani regni, si rite
recordor, cecinisset, quales esse debuissent, dicens: Parcere subiectis et debellare superbos [Verg.

35 Eigler 2003, 271–275.


36 Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 294.

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Aen. 6, 853] quem versiculum beatus Augustinus in libro de civitate Dei [Aug. civ. 1, 6] multa laude
exposuit.

Man liest, dass einer der alten Dichter, als er, wenn ich mich recht erinnere, zum Ruhme der
Kaiser des römischen Reiches ein Gedicht verfasste, gesagt habe – er sprach nämlich darüber,
wie sie sein sollten: „Schonen die Unterworfenen und bekämpfen die Hochmütigen“. Diesen
Vers behandelte in großartiger Weise der Heilige Augustinus in einem Buch seines Werks De
civitate Dei.

Die Beschäftigung mit dem Thema der misericordia des christlichen Königs lässt
Alkuin an das Kapitel 6 des ersten Buches von Augustins De civitate Dei (Quod ne
Romani quidem ita ullas ceperint civitates, ut in templis earum parcerent victis) denken,
zumal Karl genau diese Schrift sehr schätzte.37 Dies führt zum berühmten Vergilzitat
aus dem sechsten Aeneisbuch gleichsam durch die Hintertür. Es begegnet dieselbe
Praxis, die wir bereits eingangs bei Hieronymus beobachten konnten. Der heidnische
Autor wird nur ganz allgemein als quidam veterum poetarum genannt, obwohl Alkuin
ihn bestens kannte.38
Damit wird Karl also mit dem Appell konfrontiert worden sein, sich mit Vergil zu
beschäftigen. Zu Augustinus gesellt sich damit zunächst virtuell Vergil, als Hinter-
grund des Augustinus, rückt aber auch bibliothekstechnisch näher. Gleichsam durch
den Kirchenvater legitimiert erhält nun Vergil wieder Heimatrecht in derselben Bib-
liothek. Sidonius hatte Varro und Augustinus’ De civitate in ein Regal gestellt, um die
Nähe antiker Bildung zu den Kirchenvätern zu illustrieren, bei Alkuin wird das ima-
ginäre Regal mit dem quidam veterum poetarum bestückt, von dem aber mittlerweile
jeder wieder weiß, wer er ist.
Dies gilt auch für die Gemeinschaft verschiedener Autoren im Codex. Hadoard
stellte zum Beispiel in Corbie Florilegien zusammen aus Augustinus und Cicero.39
Nebeneinander und in derselben Schrift, der karolingischen Minuskel, werden die
römischen Autoren mit den christlichen abgeschrieben, ja in Miscellanhandschrif-
ten zusammengebunden. Auch kodikologisch wird die Wiedergewinnung der Regal-
gemeinschaft dokumentiert, wenn die Regula Benedicti in derselben karolingischen
Minuskel abgeschrieben wird wie die Aeneis Vergils.
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37 Einhard vermerkt in der Vita Caroli Magni: Legebantur ei [sc. Carolo] historiae et antiquorum res
gestae. Delectabatur et libris sancti Augustini, praecipueque his qui de civitate Dei praetitulati sunt.
Einhard, Vita Caroli Magni, ed. Holder-Egger, 29.
38 In der von einem unbekannten Verfasser in den 20er Jahren des 9. Jahrhunderts geschriebenen
Vita Alcuini heisst es von Alkuin, er sei Virgilii amplius quam psalmorum amator gewesen. Heinzer
2012, 95 weist darauf hin, dass der Vitenschreiber „sich der Zäsur, die der karolingische Reformabt
markiert, ... bewusst“ gewesen sei. Vgl. auch Berschin 1991, 176–177.
39 Bischoff 1975, 71.

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18   Ulrich Eigler

5 Lorsch und die Rekonstruktion des Wissenshinter-


grunds der Kirchenväter
Die enge Beziehung zum Hof förderte maßgeblich die Entstehung der Lorscher Bib-
liothek unter Adalung, Richbod und Samuel. Zweifellos hat die allgemeine geistige
Entwicklung einen großen Einfluss ausgeübt. Allmählich finden auch die bei Sido-
nius stilistisch nebeneinandergestellten Autoren wieder zu einer Gemeinschaft.40
Wir haben uns allerdings eher mit dem Appell der Codices selber beschäftigt, die
einerseits durch ihre pure Präsenz erst Lücken sichtbar werden und Buchwünsche
entstehen lassen, andererseits einen impliziten Appell enthalten, der seinerseits auf
Autoren ‚hinter’ den gerade gelesenen deutet und gleichsam auf diese Weise einen
Suchauftrag erteilt. Die daraus entstehende Eigendynamik ist auch für die Lorscher
Bibliothek denkbar. Dass zum Beispiel die Anwesenheit eines Vergilcodex weitere
Abschriften beziehungsweise Erwerbungen provoziert, wie den Kommentar des
Fulgentius,41 ist denkbar, auch wenn die Motive rein bibliothekarischer Natur und
nicht durch das Bedürfnis einer Schule bedingt sind. Auch vorhandene Kirchenväter
provozieren den Erwerb weiterer Handschriften derselben Autoren, wenn man zum
Beispiel die Excerptio Eugippii ex libris sancti Augustinis zur Orientierung besaß.42
Man sah Lücken und konnte sie zu füllen versuchen, bibliothekarische und epistemi-
sche Ordnung gehen hier ineinander über.
Für die Einlösung textinterner Appelle bewegt man sich natürlich auf noch unsi-
chererem Boden. Selten sind die Hinweise auf klassische Autoren besonders gekenn-
zeichnet wie zum Beispiel in der Handschrift von Augustinus’ De civitate Dei [Aug.
civ. 19, 1] (Rom, BAV, Pal. lat. 200, fol. 36r). Augustinus setzt sich dort mit De finibus
bonorum et malorum auseinander. Am Rand der Handschrift findet sich die Kapitel-
überschrift, die evident auf die hinter Augustinus’ Erörterungen stehende Tradition
und insbesondere auf Varro verweist: Quod in quaestione, quam de finibus bonorum
et malorum philosophica disputatio ventilavit, ducentas octoginta et octo sectas esse
posse Varro perspexerit. Explizit wird damit auf Varro, den Regalgenossen des Augus-
tinus bei Sidonius, verwiesen, dieses Mal geht es um seine (verlorene) Schrift Liber
de philosophia. Im Akt der Abschrift wird in Lorsch diese Gemeinschaft der Bildung
wiederhergestellt und in Erinnerung gerufen. Zumindest wird der spätantike Hinter-
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40 Auch Origenes begegnet wieder in der Übersetzung des Rufinus wie zum Beispiel die Homiliae in
librum Iudicum aus dem zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl.
37).
41 Der Codex Rom, BAV, Pal. lat. 1579 umfasst am Anfang die aus dem 9. Jahrhundert stammende
Abschrift der Expositio Virgilianae continentiae secundum philosophos moralis des Fulgentius Plan-
ciades (ca. 500).
42 Vgl. zum Eintrag im Katalog Häse 2002, 60.

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Überlieferung durch die Hintertür?   19

grund des Augustinus hervorgehoben und konnte bei entsprechender Motivation wie
beim Vergilzitat in Alkuins Brief aktualisiert werden.

Der Appell, der von der Kirchenväter-Lektüre ausgeht, ihrer alten ‚Regalgenossen’
vielleicht auch nur im Sinne einer allgemeinen Akzeptanz zu gedenken, muss für den
gründlichen Leser oft deutlich spürbar gewesen sein. Der in der eingangs besproche-
nen Zürcher Hieronymus-Handschrift zu lesende implizite Verweis auf Terenz (iuxta
comici sententiam) konnte noch überlesen werden, die massive Intertextualität, die
aber zum Beispiel die Briefe des Hieronymus auszeichnet, drängte die Regalgenossen
geradezu auf, insbesondere, wenn die Auflösung des Zitats für das Verständnis des
Briefes unabdingbar war. Las man zum Beispiel in der ebenfalls im jüngeren Stil ver-
fassten Lorscher Handschrift der Briefe des Hieronymus seine epistola 2 (Karlsruhe,
Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 105), so wurde man am pointiert formulier-
ten Ende mit der kunstvollen Verwendung einer Aeneis-Passage durch Hieronymus
konfrontiert: nunc me novis diabolus retibus ligat, nunc nova impedimenta proponens‚
maria undique et undique pontum [Verg. Aen. 5, 9; vgl. aber auch 3, 193], nunc in medio
constitutus elemento nec regredi volo nec progredi possum.43 Hieronymus veranschau-
licht seine innere Zwangslage durch den Vergleich mit Aeneas, der sich auf seinen
Irrfahrten zwischen Italien und Africa befindet. Das tiefere Verständnis für Hiero-
nymus in einer Entscheidungssituation als alter Aeneas ergibt sich erst, ist man mit
Vergils Aeneis vertraut. Zugleich gibt derjenige, der bei der Lektüre der Handschrift
an Vergil denkt, diesem Heimatrecht im Kreise des Kirchenvaters. Der Wunsch nach
dessen Verständnis provoziert einen Lernprozess, dessen Ergebnis auch durch eine
Vergilhandschrift repräsentiert sein kann.
Ein weiterer Weg zum spätantiken Hintergrund eröffnete sich bei der Lektüre
von kirchenhistorischen Schriften. Als abschließendes Beispiel sei hier der Lorscher
Orosius (Rom, BAV, Pal. lat. 829) aus dem 8. / 9. Jahrhundert genannt, der auf den foll.
1r–113r den Beginn der Historia adversum paganos (Oros. hist. 1–4, 1, 1) enthielt und,
soweit seine Darstellung die Anfänge Roms betraf, mit Livius- und besonders Aeneis-
zitaten durchdrungen war.44 Der Raub der Sabinerinnen wird zum Beispiel mit Hilfe
Vergils kurz abgehandelt (Oros. hist. 2, 4, 2):

Cuius regnum continuo Romulus parricidio imbuit, parique successu crudelitatis, sine more raptas
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Sabinas’ [Verg. Aen. 8, 635], inprobis nuptiis confoederatas maritorum et parentum cruore dota-
vit.45

43 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 105, fol. 41v (=Hieronymus, Epistola 2,4).
44 Eigler 2003, 216–224.
45 Orosius, Historia, ed. Zangemeister, 88.

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20   Ulrich Eigler

Dass diese Form der Aneignung, die bereits auch spätantike Modelle besitzt, in
Lorsch reflektiert wurde, belegt die praefatio der Defensio artis medicinae im Lorscher
Arzneibuch:46

Quod ipsi non ad dei sed ad suum favorem fecere, vos ad dei gloriam omnipotentis agite. Itaque
quando in scriptis eorum aliquid utile sumitur, quasi aurum, quod sepe contigit, in sterquilinio rep-
peritur, sicut quidam vir dei interrogatus, cur gentilem legeret, ostendit dicens: aurum in sterquili-
nio quaero [Phaedr. 3, 12].

Der Verfasser rechtfertigt damit seine Verwendung (spätantiken) Wissens, das auch
in der christlichen Wissenswelt seinen Platz haben sollte, wobei er klar zwischen
erlaubtem, edlem Wissen (aurum) und wertlosem (sterquilinium) unterscheidet.
Durch die Hintertür tritt allerdings nicht nur das Wissen, sondern mit dem Fabeldich-
ter Phaedrus auch derjenige antike Autor ein, der diese Sentenz geprägt hat (Phaedr.
3, 12 Pullus ad Margaritam), wobei aber das Zitat durch Verweis auf die vermittelnde
Instanz eines vir quidam dei legitimiert wird. So wird aber die Möglichkeit eröffnet,
das Memento in seiner Komplexität zu begreifen und eventuell einmal den ganzen
Kontext bei Phaedrus nachzusehen. Das Zitat wird vom Memento zum impliziten
Appell, diesen zu suchen:

In sterculino pullus gallinacius


dum quaerit escam margaritam repperit.
„Iaces indigno quanta res“ inquit „loco!
Hoc si quis pretii cupidus uidisset tui,
olim redisses ad splendorem pristinum.
Ego quod te inueni, potior cui multo est cibus,
nec tibi prodesse nec mihi quicquam potest.“
Hoc illis narro qui me non intellegunt.47

Rückblickend muss man allerdings bemerken, dass es in Lorsch vor allem die Kir-
chenväter waren, aus denen man Perlen beziehungsweise Gold fischte. Sie bildeten
keinesfalls eine Textumgebung, die sich mit Mist vergleichen ließe. Als viri Dei per se
sanktionierten und empfahlen sie alles in ihnen enthaltene Wissen. Man musste in
Lorsch Anfang des 9. Jahrhunderts nur die Regale entlang gehen und ihre Handschrif-
ten aufschlagen. Bibliothekarische und epistemische Ordnung spielten einander in
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die Hände, repräsentiert in der bloßen Materialität der Codices oder im Rahmen des
impliziten Mementos. In diesem Prozess zeigt sich eine Wissens-Ordnung, die dieje-
nige von Katalogen ergänzt, dieser unter Umständen überlegen ist und dieser auch
konkurrierend gegenübersteht.

46 Stoll 1992, 48.


47 Phaedrus, Fabeln, ed. Brenot, 45.

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Überlieferung durch die Hintertür?   21

Quellen
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(Nachdruck 1994), 1–481.
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in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften, übers. und eingel. von Wolfgang Bürsgens,
Fontes Christiani 39/1–2, Freiburg u.a. 2003.
Caesarius von Arles, Sermones, ed. Germain Morin, CCSL 103, Bd. 1, Turnhout 1963.
Einhard, Vita Caroli Magni, ed. Oswald Holder-Egger, MGH SS rer. Germ. 25, Berlin 1911.
Hieronymus, Commentariorum in Osee Prophetam, ed. Marc Adriaen, CCSL 76, Turnhout 1970,
1–158.
Hrabanus Maurus, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 2, Berlin 1884,
154–258.
Orosius, Historiarum adversum paganos libri VII, ed. Karl Zangemeister, CSEL 5, Wien 1882.
Phaedrus, Fabeln, Texte établi et traduit par Alice Brenot, Paris 1924.
Sidonius Apollinaris, Epistulae = Sidoine Apollinaire, lat.-frz., Bd. 2, ed. und übers. von André Loyen,
Paris 1970.
Theodulf, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1881 (Nachdruck
1964, 1978, 1997).

Literatur
Assmann (1987): Aleida Assmann/Jan Assmann (Hgg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie
der literarischen Kommunikation II, München.
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Philologie des Mittelalters 10, Stuttgart.
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blätter Kreis Bergstrasse, Sonderband 10, Lorsch.
Brown (1975): Thomas Julian Brown, „An Introduction to the Use of Classical Latin Authors in the
British Isles from the Fifth to the Eleventh Century“, in: La cultura antica nell’occidente latino
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Eigler (1999): Ulrich Eigler, „Strukturen und Voraussetzungen zum Erhalt von philosophischem
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tischen Philosophie in der Spätantike, Stuttgart, 279–293.
Eigler (2003): Ulrich Eiger, Lectiones vetustatis. Römische Literatur und Geschichte in der
lateinischen Literatur der Spätantike, Zetemata. Mongraphien zur klassischen Altertumswis-
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Eigler (2013): Ulrich Eigler, „Gallien als Literaturlandschaft. Zur Dezentralisierung und Differen-
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Müller (Hgg.), Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region, Berlin/
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22   Ulrich Eigler

Gemeinhardt (2007): Peter Gemeinhardt, Das lateinische Christentum und die antike pagane
Bildung, Studien und Texte zu Antike und Christentum 41, Tübingen.
Giardina (1986): Andrea Giardina, Società Romana e impero tardoantico IV: Tradizione dei classici
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Häse (2002): Angelika Häse, Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus dem Kloster Lorsch.
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Heinzer (2012): Felix Heinzer, „Vergilii amplius quam psalmorum amator. Klösterliche Intellektualität
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Kirsten Wallenwein
Subscriptiones in karolingischen Codices

Hört man den Begriff subscriptio, öffnet sich ein weites Bedeutungsspektrum. Man
versteht „Unterschrift“ und denkt an Unterschriften in Urkunden, die sich in der
Signums- und Rekognitionszeile am Ende des rechtlichen Dokuments finden; viel-
leicht erinnert man sich aber auch an Unterschriften und Vermerke von Schreibern,
die diese nach getaner Arbeit unter den von ihnen abgeschriebenen Codex setzten
und den Leser nicht selten zur Fürbitte aufrufen. Für letztere findet man die Bezeich-
nung „Kolophon“. Und eine begriffliche Abgrenzung ist in der Tat notwendig.

Wer nicht schreiben kann, glaubt, das sei keine Arbeit: Drei Finger schreiben, zwei Augen sehen,
eine Zunge spricht und der ganze Körper plagt sich ab. Und alle Arbeit hat ein Ende, aber der
Lohn dafür ist unendlich. So lieb, wie dem Segelnden der beste Hafen, so lieb ist dem Schrei-
ber die letzte Zeile. Ich, der Kleriker Jonathan, habe mich mit dem Beistand des Herrn bemüht,
diesen Codex abzuschreiben. Bete für mich, den Schreiber, wenn du Gott zum Beschützer hast.
Amen.1

Dieses Beispiel eines Kolophons findet sich im Pal. lat. 46, der sich einst im Besitz der
Lorscher Klosterbibliothek befand. Der Schreiber thematisiert die Anstrengungen,
die die Abschrift eines Codex mit sich bringt, nennt sich beim Namen und bittet um
ein Gebet. Derartige Äußerungen von Schreibern sind hier nicht gemeint; in diesem
Beitrag werden unter subscriptiones allein Vermerke der Textkontrolle in Handschrif-
ten verstanden. An ihnen soll das Nachwirken der antiken Qualitätssicherung und des
antiken Schriftwesens in der karolingischen Überlieferung sichtbar gemacht werden.
Subscriptiones sind als Praxis der Spätantike und des Frühmittelalters der For-
schung seit längerer Zeit bekannt. In ihnen wird über eine Kontrolle des Textes
Rechenschaft abgelegt, wobei idealerweise Ort, Datum und Namen desjenigen, der
die Überprüfung durchgeführt hat, genannt sind. Liegen sie im Original vor, liefern
sie Anhaltspunkte zum Datieren und Lokalisieren der Handschriften und sind her-
vorragende Zeugnisse für die Schriftentwicklung. Datierte Handschriften gelten als
„Rückgrat“, „Lebenselixier“ und „Meilensteine“ der Paläographie.2
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1 Rom, BAV, Pal. lat. 46, fol. 137v: Qui scribere nescit, nullum putat se esse laborem. Tres digiti scribunt,
duo oculi vident, una lingua loquitur, totum corpus laborat. Et omnis labor finem habet et praemium eius
non habet finem. Quam dulcius [sic] est naviganti optimus portus, ita sriptori [sic] novissimus versus.
Ego Ionatham clericus domino opitulante hunc codicem scribere studui. Ora pro me scriptorem, si deum
habeas protectorem. Amen. Vgl. auch Colophons III, 11984.
2 CLA VII, VI: „Since dated manuscripts are the backbone of palaeography“; CLA VIII, VIII: „Dated
and placed manuscripts are the life-blood of palaeography“ und CLA XI, IX: „Dated manuscripts are
of prime interest to the palaeographer. […] milestone in palaeography“.

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24   Kirsten Wallenwein

Zu den ältesten mit Datierung und Lokalisierung versehenen subscriptiones, die


uns im Original vorliegen und in der sich der Korrektor namentlich nennt, zählen
die des Victor von Capua (541–554).3 Sie finden sich im unzial geschriebenen „Victor-
Codex“ (CLA VIII, 1196) aus Süditalien, der unter der Signatur Bonifatianus I in der
Hochschul- und Landesbibliothek von Fulda liegt. Victor, der sich als „Diener Christi
und durch dessen Gnade Bischof von Capua“ bezeichnet, gibt an, dass er in der basi-
lica Constantiniana am 13. Tag vor den Kalenden des Mai in der neunten Indiktion
fünf Jahre nach dem Konsulat des vir clarissimus und consul Basilius die Handschrift
Korrektur gelesen habe.4 Der Eintrag kann somit auf den 19. April 546 datiert werden,
und der topographische Hinweis führt ebenso wie Victors Episkopat nach Capua.
Nach einer zweiten Durchsicht vermerkt Victor unter dem zitierten Kontrollvermerk,
dass er den Codex in der zehnten Indiktion ein weiteres Mal durchgesehen habe –
und zwar am 12. April 547.5
Obwohl im ebengenannten Beispiel die subscriptiones durch den Einsatz von
Reagenzien schwer lesbar geworden sind,6 handelt es sich um einen überlieferungs-
geschichtlichen Glücksfall, denn in den meisten Fällen sind die Originale verloren
gegangen, und erst die karolingischen Abschriften tragen die subscriptiones weiter.
Ein prominentes Beispiel ist die subscriptio des Securus Melior Felix. Der datierte
Kontrollvermerk findet sich nach dem ersten Buch von Martianus Capellas enzyklo-
pädischen Lehrwerk De nuptiis Philologiae et Mercurii.
Wie in spätantiken subscriptiones üblich, erfolgt die Datierung nach römischem
Kalender und Konsulat. Die Mehrzahl der Handschriften hat consulatu Paulini viri
clarissimi sub die nonarum martiarum und bietet somit eine auf den Tag genaue
Datierung: den 7. März unter dem Konsulat des vir clarissimus Paulinus. Die Schwie-
rigkeit liegt in der Ermittlung des Jahres, denn es kommen insgesamt vier verschie-
dene Konsuln namens Paulinus in Betracht und zwei von ihnen wiederum in die
engere Auswahl. Die subscriptio nennt nur einen Konsul und muss folglich zu einer
Zeit abgefasst worden sein, in der es im Westen üblich geworden war, selbst wenn es
einen östlichen Amtskollegen gab, diesen nicht mehr in der Datierung anzuführen.
Denkbar ist dies erst nach 476 und so kommen nur die Konsuln der Jahre 498 und 534
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3 Zu Victor von Capua, vgl. PCBE II, 2, 2280–2281.


4 Fulda, Hochschul- und Landesbibliothek, Bonifatianus I, fol. 502v: Victor, famulus Christi et eius
gratia episcopus Capuae, legi apud basilicam Constantinianam die XIII kalendas maias, indictione
nona, quinquiens post consulatum Basilii viri clarissimi consulis. Zitiert nach Steffens 21929, Taf. 21.
(Fl.) Anicius Faustus Albinus Basilius war 541 consul ordinarius, vgl. PLRE III A, 174–175.
5 Fulda, Hochschul- und Landesbibliothek, Bonifatianus I, fol. 502v: Iterato legi indictione X, die pri-
die iduum aprilium. Zitiert nach Steffens 21929, Taf. 21. Eine weitere subscriptio findet sich auf fol. 433r
im Anschluss an die Apostelgeschichte. Zu den subscriptiones, vgl. auch Colophons V, 18407 sowie die
Miszelle von Corssen 1909, 175–177.
6 Hausmann 1992, 6. Die subscriptio auf fol. 433r lässt sich gut lesen, während die beiden subscriptio-
nes auf fol. 502v nicht mehr zu erkennen sind.

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Subscriptiones in karolingischen Codices   25

in Frage.7 Bereits Otto Jahn wies in seiner grundlegenden Studie „Über die Subscrip-
tionen in den Handschriften römischer Classiker“ von 1851 auf die Möglichkeit zweier
Datierungen – 498 und 535 (sic) – hin. Er entschied sich, vor allem weil in der nach
527 entstandenen subscriptio zu Horaz ein Felix, orator urbis Romae belegt ist, für die
spätere von beiden.8 Cameron dagegen votiert wegen des fehlenden Zusatzes iunior
für 498.9 Eine Gegenüberstellung der beiden Standpunkte findet sich bei Shanzer,
die sich Jahns Entscheidung anschließt und dessen Argumentation bekräftigt, indem
sie nochmals ausdrücklich auf die Übereinstimmung dreier Elemente in den beiden
subscriptiones hinweist: Name, Ort und Amt.10 Auch wenn sich die Frage nach der
exakten Datierung in diesem Fall nicht mit letzter Sicherheit beantworten lässt, spre-
chen mehrere Punkte für das Jahr 534:
Erstens die Übereinstimmungen mit und die zeitliche Nähe zur Horaz-subscrip-
tio, zweitens die Möglichkeit, dass der Verfasser den Zusatz iunior nicht als notwen-
dig erachtete und drittens gibt es Parallelfälle, die genau dies belegen, da in ihnen
ein Zusatz iunior möglich, wenn nicht mit Cameron zu erwarten gewesen wäre:
„There can be no doubt that the consuls of 480 [Caecina Decius Maximus Basilius]
and 541 [Anicius Faustus Albinus Basilius] were both styled iunior in the western
documents“.11 In der oben zitierten subscriptio des Victor von Capua wird nach dem
Konsulat des letzten Jahreskonsuls – ohne Verwechslungsgefahr und ohne iunior –
datiert. Dem könnte man kritisch entgegnen, dass die Datierung post consulatum
(zumal quinquies) und die zusätzliche Angabe der Indiktion diesen Zusatz nicht erfor-
dern würden, die letzten Zweifel wären dadurch nicht beseitigt. So kann das Vorkom-
men von iunior zwar eine zusätzliche Datierungssicherheit gewähren, das Fehlen hin-

7 Cameron 1984, 160–161 und ders. 1986, 320.


8 Jahn 1851, 353–354. Securus Melior Felix subskribierte Horaz als „Zweitkorrektor“: Vettius Agorius
Basilius Mavortius, vir clarissimus et inlustris, excomite domesticorum, exconsule ordinario legi et, ut
potui, emendavi conferente mihi magistro Felice, oratore urbis Romae. Diese subscriptio findet sich
in den Handschriften: Brüssel, Bibliothèque royale de Belgique, Ms. 9776–9778, fol. 68v (saec. XI);
Gotha, Forschungsbibliothek, Chart. B 61, fol. 204r (saec. XV); Hamburg, Staats- und Universitätsbib-
liothek, Cod. 53b in scrin., fol. 1v (saec. IX ex., foll. 1r–2v gehörten einst zu Paris, Bibliothèque nationale
de France, Lat. 7900A); Leiden, Universiteitsbibliotheek, B. P. L. 28, fol. 77r (saec. X2); Oxford, Queen‘s
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College, Ms. 202, fol. 88v (saec. XII in.); Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 7972, fol. 83v
(saec. X); Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 8216, fol. 73r (saec. XII2); Turin, Biblioteca
nazionale universitaria, I.VI.2, fol. 30r (saec. XI/XII). Es gibt Hinweise, dass sie, wenn auch als Beiga-
be, einst im Cheltenhamensis Phillippsianus 16392 membranaceus (heute Cologny, Fondation Martin
Bodmer, 88) enthalten war. Vgl. Keller 21899, XXVI und LXVII. Des Weiteren wurde vermutet, dass die
17. Epode samt Korrekturvermerk von St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg 312 einem Subskriptio-
nensammler zum Opfer gefallen sein könnte. Vgl. Keller 1879, 416; ders. 21899, XL; ihm folgend Bick
1906, 4.
9 Cameron 1986, 320–324.
10 Shanzer 1986, 8–12.
11 Cameron 1984, 165 und CLRE, 44.

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26   Kirsten Wallenwein

gegen nicht, wie die Herausgeber der Consuls of the Later Roman Empire einräumen:
„All inscriptions by Basilius, without iun., have been listed under this year; but it is
possible that the omission of iun. is a scribal error in some cases, in which event 480
or 541 would be possible“.12 Warum sollte das nicht auch im Falle Paulinus gelten?
Und in der Tat lässt sich ein Beispiel anführen: Caesarius von Arles unterschreibt
seine Statuta sanctarum virginum und datiert sub die X kalendas iulii Paulino consule
tempore.13 Im Vorwort seiner Nonnenregel nennt er sich episcopus. Dies ist erst unter
dem Konsulat von Paulinus iunior, 534, möglich.
Nicht nur die früheste Überlieferung dieser Textkontrolle, sondern auch die frü-
heste Überlieferung von De nuptiis Philologiae et Mercurii überhaupt stammt aus dem
9. Jahrhundert. Daher hat die subscriptio des Securus Melior Felix seit jeher das Inte-
resse der Forschung auf sich gezogen und wurde zur approximativen Datierung des
spätantiken Werks herangezogen.
Claudio Leonardi hat 1960 in einem mehrteiligen Beitrag in der Zeitschrift Aevum
eine Liste von 241 Handschriften aufgestellt.14 27 von ihnen überliefern die subscrip-
tio15 – darunter elf Handschriften aus dem 9. Jahrhundert.16 Dass Lorsch in der zweiten
Hälfte des 9. Jahrhunderts im Besitz eines Martianus Capella-Exemplars war, wissen
wir aus einem der im Pal. lat. 1877 enthaltenen Lorscher Bibliothekskataloge. Auf
fol. 2v findet sich unter den Nachträgen der Eintrag Liber Felicis Capellae. Bernhard
Bischoff und Angelika Häse identifizieren „das Buch des Felix Capella“ mit der Leide-
ner Handschrift, die in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Lorsch entstanden
ist.17 Leonardis Vermutung, dass die Handschrift im Lorscher Skriptorium entstanden
sei,18 konnte durch die paläographische Analyse Bischoffs über die Identifizierung

12 CLRE, 461.
13 Caesarius von Arles, Statuta sanctarum virginum, ed. de Vogüé/Courreau, c. 73, 272.
14 Die Handschriftenliste findet sich bei Leonardi 1960, 1–99 und 411–524. Diesen beiden Teilen ging
1959 ein Beitrag in der gleichen Zeitschrift voraus, in dem Leonardi 23 Handschriften angibt, die die
subscriptio überliefern, vgl. ders. 1959, 446, Anm. 8. Dieser Auflistung fügt er selbst Rom, BAV, Barb.
lat. 130, fol. 9r hinzu; vgl. ders. 1960, 458.
15 Jean Préaux hat die Auflistung der subscriptiones um drei auf 27 erhöht und den Kontrollvermerk
des Securus Melior Felix anhand von zwölf Handschriften kritisch ediert; vgl. Préaux 1975, 103–104
und 1978, 77–78.
16 Bamberg, Staatsbibliothek, Class. 39 (M. V. 16), fol. 19r (saec. IX3/4, Umkreis von Fleury?); Brüssel,
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Bibliothèque royale de Belgique, Ms. 9565–9566, fol. 28r (saec. IX ex., Bodenseegebiet); Karlsruhe,
Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 73, fol. 9v (saec. IX2/4, Lorsch?); Leiden, Universiteitsbibliothe-
ek, B. P. L. 36, fol. 11v (saec. IX ex., Lorsch); Leiden, Universiteitsbibliotheek, B. P. L. 87, foll. 15r–v (saec.
IX ex., Ostfrankreich?); London, British Library, Harley 2685, fol. 44r (saec. IX ex., Ostfrankreich?);
München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14729, fol. 83v (saec. IX ex., Bodenseegebiet: St. Gallen?);
Orléans, Bibliothèque municipale, Ms. 191 (168), p. 272 (saec. IX4/4); Paris, Bibliothèque nationale de
France, Lat. 8670, fol. 11r (saec. IX2, Corbie); Rom, BAV, Reg. lat. 1535, fol. 10v (saec. IX3/4, Auxerre);
Rom, BAV, Reg. lat. 1987, fol. 12v (saec. IX2/4, Nordfrankreich?).
17 Leiden, Universiteitsbibliotheek, B. P. L. 36. Bischoff 21989, 54; Häse 2002, 179.
18 Leonardi 1960, 61. Korrekturen hd/hl: foll. 21r, 49v etc.

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Subscriptiones in karolingischen Codices   27

Lorscher Hände und das Aufspüren des Verweispaares hd/hl (hic deest/hic lege), das
als Lorscher Ohrmarke gilt,19 bestätigt werden.20 Im Text wird die Auslassung durch
ein hic deest – „hier fehlt“ – kenntlich gemacht, am unteren Rand wird die fehlende
Textpartie nach hic lege – „hier lies“ – ergänzt.
Bischoff hielt bereits 1989 die Entstehung einer weiteren Handschrift im Lorscher
Skriptorium für denkbar. Der heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe
liegende Augiensis LXXIII wird von ihm als wichtigster Textzeuge charakterisiert.21
Auf fol. 9v findet sich die subscriptio von Securus Melior Felix:22

Securus Melior Felix, vir spectabilis, comes consistorianus, rethor urbis Romae ex mendosissimis
exemplaribus emendabam contralegente (ms. contralegenae)23 Deuterio scolastico, discipulo meo
Romae ad portam Capenam consulatu (ms. consist) Paulini viri clarissimi sub nonarum martiarum
Christo adiuvante.

Ich, Securus Melior Felix, vir spectabilis, Mitglied des kaiserlichen consistorium und Rhetor der
Stadt Rom habe aus höchst fehlerhaften Vorlagen heraus verbessert, während mein Schüler, der
gelehrte Deuterius, gegenlas. In Rom bei der Porta Capena während des Konsulats des vir claris-
simus Paulinus am Tag der Nonen des März, mit Christi Hilfe.

Nahezu alles, was wir über Securus Melior Felix wissen, wurde uns durch diese
subscriptio überliefert. Dass er als Mitglied des kaiserlichen Staatsrates der zweiten
senatorischen Rangstufe angehörte und Redner der Stadt Rom war, teilt der Subskri-
bent uns ebenso mit, wie den Ort und das Datum der Korrektur, die er nicht alleine
zu verantworten hatte. So bieten subscriptiones, wenn sich in ihnen der Korrektor
mit seiner Ämterlaufbahn nennt, Informationen, die für die Personengeschichte von
Bedeutung sind.
Die Kopisten – vielleicht beeindruckt von der Aufzählung der prestigeträchtigen
Ämter24 – tradieren die subscriptiones. Durch das in ihnen beglaubigte Vergleichen
mit und das Verbessern nach der Vorlage erfolgte eine gewisse Qualitätssicherung.25
Derjenige, dem ein subskribiertes Exemplar vorlag, konnte sich sicher sein, eine
Handschrift, die bestimmten Maßstäben genügte oder zu genügen versuchte, vor sich
zu haben. Vermutlich auch aus diesem Beweggrund und nicht nur aus bloßem Unver-
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19 Wallace M. Lindsay machte die Lorscher Ohrmarke als „best criterion of Lorsch products“ ausfin-
dig, vgl. Lindsay 1924, 43–44; demgegenüber kritisch Bischoff 21989, 30.
20 Bischoff 21989, 54.
21 Bischoff 21989, 83–84, Anm. 49a.
22 Die kopialüberlieferte subscriptio der Handschrift Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug.
perg. 73 (saec. IX2/4, Lorsch?) lässt sich online einsehen unter: http://digital.blb-karlsruhe.de/blbhs/
content/pageview/208081.
23 Bereits Licht sprach sich in Anlehnung an ThLL IV, 765 für die Lesart contralegente aus: vgl. ders.
2006, 115, Anm. 20. Vgl. dagegen contra legente in der Edition bei Préaux 1975, 104.
24 Cameron 2011, 492.
25 Licht 2006, 114.

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28   Kirsten Wallenwein

ständnis ist die Übernahme dieser spätantiken und frühmittelalterlichen Textzeugen


in spätere Abschriften zu erklären.
Der umgekehrte Fall lässt sich ebenso beobachten: Der um 800 in Lorsch ent-
standene Pal. lat. 814 hat auf fol. 145r eine bis zur Unkenntlichkeit radierte subscriptio
– so Bischoff.26 Eigentlich lässt sich nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich um
den Eintrag eines Korrektors oder Schreibers handelt. Der ursprünglich achtzeilige
Vermerk findet sich am Ende der lateinischen Übersetzung der Antiquitates Iudaicae
des Flavius Iosephus. Lediglich die abschließenden Zierzeichen lassen sich noch gut
erkennen. Eine subscriptio zu den „Jüdischen Altertümern“ ist bisher nicht bekannt.27
Zu einem anderen Werk von Flavius Iosephus, das ebenfalls vom Griechischen
ins Lateinische übertragen wurde, ist eine metrische subscriptio überliefert, die
gleich zwei Handschriften aus dem 9. Jahrhundert tradieren.28 Nach dem Ende des
fünften Buches des Bellum Iudaicum subskribierte der Korrektor, der sich im letzten
Vers selbst nennt (tuus famulus Cyprianus):

Ecce pater dulcis, ut potui, tua iussa peregi


Plus prompto vellę plane quam posse valente.
Quodque tuis sanctis fidens orationibus actum
Quodcumque fuerit placitum in corde receptum,
5 Omne hic offensum mihi deprecor esse donandum.
Denique percurrens sine auctoreque retractans,
Correxi, ut valui, distinguendoque notavi.
Ambigua quęque virgis signata reliqui.
Monstrandas [et] causas breviter in limine promsi.
10 Sit, rogo, iste labor placidus, sit corde receptus
Sit tuus hic animus gratus, sit semper amoenus
Ut fiat ethereo satius et munere plenus,
Quod promas, Stephane sacer, obtima dindima letus,
Quodque tuus famulus Cyprianus gaudeat actus.
15 Finiunt versi feliciter.


2 prompto] promto (S) ǁ vellę] vellae (A) ǁ plane] planae (A) 3 Quodque] Quoque (A) 7 correxi] corexi
korrigiert zu conrexi (A) ǁ distinguendoque] distingendo korrigiert zu distinguendo (A, S)  8 quęque]
quaequę (A) 10 placidus] placi ds korrigiert zu placi dus (S)  11 amoenus] amenus korrigiert zu amo-
enus (S)
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26 Bischoff 21989, 32. Den radierten Vermerk von Rom, BAV, Pal. lat. 814, fol. 145r findet man in digita-
lisierter Form unter: www.bibliotheca-laureshamensis-digital.de/bav/bav_pal_lat_814/0299.
27 Im Papyruscodex Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cimelio 1 (saec. VI, Norditalien: Mailand?)
findet sich lediglich zweimal der Vermerk contuli in Verbindung mit der Lagensignatur: vgl. Reiffer-
scheid 1872–1873, 3, einmal auf p. 56; vgl. CLA III, 304.
28 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 82, fol. 134v (saec. IX in., Sigle: A); St. Gallen,
Stiftsbibliothek, Cod. 626, p. 312 (saec. IX in., Sigle: S). Letztere ist online zugänglich unter: http://
www.e-codices.unifr.ch/de/csg/0626/312.

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Subscriptiones in karolingischen Codices   29

Abb. 1: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 82, fol. 134v (Ausschnitt).

Sieh, gütiger Vater, ich habe deine Befehle, so gut ich konnte, ausgeführt, eher freilich voll guter
Absicht, als im Stande dazu. Was immer vertrauend auf deine heiligen Gebete von mir bewirkt
wurde, und welches Urteil auch immer im Herzen gefasst werden wird, ich bitte, dass mir alle
Fehler angelastet werden – schließlich bin ich ohne Vorlage den Text durchgegangen und habe
ihn mir nochmals vorgenommen. Ich habe [ihn], wie ich es vermochte, korrigiert, gegliedert,
zweideutige Stellen habe ich gekennzeichnet, und sie, nachdem ich sie markiert habe, stehen
lassen. Anzuzeigende Besonderheiten habe ich am Rand kurz angegeben. Ich bete, dass diese
Arbeit gefällt und von Herzen angenommen wird, dass du mir dankbar und immer gewogen bist,
auf dass dein Geist auch von himmlischer Gabe noch mehr angefüllt werde, weil du, heiliger
Stephan, heiter die besten Geheimnisse verkündest, und weil sich auch dein Diener Cyprian der
Taten erfreut. Die Verse sind zu Ende. Feliciter.
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Vierzehn Hexameter nennen den Auftraggeber der Korrektur, thematisieren den


mehrteiligen Korrekturvorgang und drücken in topischer Form die Hoffnung aus,
dass das vollbrachte Werk gefalle. Hinter dem Verfasser der subscriptio hatte bereits
Holder Cyprian von Toulon (524–546) vermutet. Ihm folgt Morin, der im pater dulcis
und Stephanus sacer zwei voneinander zu unterscheidende Adressaten sieht. Den
„gütigen Vater“ identifiziert er mit Caesarius von Arles († 542), dem Cyprian als
Schüler, Freund und Biograph verbunden war und auf dessen Initiative hin auch die

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30   Kirsten Wallenwein

Korrektur des Bellum Iudaicum erfolgt sein soll.29 Wenn Cyprian sich an den heiligen
Stephan wendet, sei als Schutzpatron von Arles der Erzmärtyrer Stephan gemeint.30
Die subscriptio zeigt auf beeindruckende Weise den Versuch, den Inhalt, den
man auch einfacher beispielsweise mit – … contuli, annotavi, distinxi. Deo gratias.31 –
hätte fassen können, in eine höhere Stilform zu transponieren. Dass es hier bei einem
Versuch blieb und Cyprian von Toulon „mehr gut gemeinte als metrisch lobenswerthe
Verse“ verfasst hat, merkte Wilhelm Wattenbach an;32 und in der Tat passen in einigen
Fällen Längen und Kürzen nicht ins Versmaß. Dennoch ist die subscriptio eines der
seltenen Zeugnisse, die eine Überprüfung des Textes in Versform attestieren.
Forderungen nach einer solchen Überprüfung – ob ihre Beglaubigung nun in
metrischer Form erfolgte oder nicht – werden in adiurationes, admonitiones oder
obtestationes laut, mit denen der Schreiber dazu angehalten werden soll, nach der
Abschrift die Kopie mit der Vorlage zu vergleichen. Eine in ihrem Wortlaut auf Irenäus
von Lyon († 202) zurückgehende adiuratio, ist bei Eusebius von Cäsarea († 339/340)
überliefert. Hieronymus († 419/420), der mit den Werken des Eusebius vertraut war
und dessen Chronik ins Lateinische übertrug, führt sie in seinem bio-bibliographi-
schen Werk De viris illustribus unter dem Eintrag zu Irenäus an.33 Rufinus von Aqui-
leia († 411/412) transportiert sie durch seine Übersetzung der Kirchengeschichte ins
lateinische Schrifttum.
Diese Ermahnung hat Eingang in die karolingischen Handschriften gefunden;
wir finden sie beispielsweise im Pal. lat. 822, der um 800 in Lorsch entstanden ist.
Der Schreiber setzte die adiuratio in insularer Majuskel unter das Explicit des fünften
Buches der Kirchengeschichte von Rufinus von Aquileia:

Ich beschwöre dich, der du diesen Band abschreiben möchtest, bei unserem Herrn Jesus Chris-
tus und bei seiner ruhmvollen Wiederkehr, bei der er kommt, um die Lebenden und Toten zu
richten, dass du, was du abgeschrieben hast, vergleichst und nach den Vorlagen korrigierst von
denen du abgeschrieben hast, und all dies mit Sorgfalt tust. Auch diese Art von Beschwörung
sollst du auf gleiche Weise kopieren und sie so in den Codex, den du abschreibst, übertragen.34

29 Der Bischof Cyprian von Toulon gilt als Hauptverfasser der Autorenkollektiv entstandenen Vita S.
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Caesarii; vgl. Berschin 1986, 249. Zur Vita vgl. ebd., 249–258.
30 Holder 1906, 224 und Morin 1921–1928, 157–158.
31 Vgl. beispielsweise eine der kopialüberlieferten subscriptiones des Rusticus Diaconus zu seinen
redigierten Akten des Konzils von Chalcedon in Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 11611,
fol. 97r, hier distincti.
32 Wattenbach 31896, 332.
33 Hieronymus, De viris illustribus, ed. Ceresa-Gastaldo, c. 35, 5, 130.
34 Rom, BAV, Pal. lat. 822, fol. 88r: Adiuro te quicumque hos descripseris libros per dominum nostrum
Iesum Christum et gloriosum eius adventum in quo veniet iudicare vivos et mortuos, ut conferas quod
descripseris et emendes ad exemplaria ea de quibus transscripseris diligenter; et hoc adiurationis genus
similiter transscribas et transferas in eum codicem quem descripseris.

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Subscriptiones in karolingischen Codices   31

Einige Seiten zuvor war im fünften Buch der Kirchengeschichte zu lesen:

Derselbe Irenäus verfasste auch noch eine Schrift über die Achtzahl. … Dieser Schrift hat er
eine sehr feinsinnige Bemerkung angefügt (subscriptionem satis eleganter adfixam), die ich für
würdig erachte, hier zu zitieren.35

Die darauf wiedergegebene adiuratio ähnelt trotz orthographischer und lexikalischer


Abweichungen derjenigen, die sich in der Handschrift nach dem Explicit des fünften
Buches findet. Wie letztere an ihren Platz gekommen ist, lässt sich nicht mit Sicher-
heit sagen. Bedenkt man die lange Tradition, die Irenäus’ Vermerk zur damaligen Zeit
bereits ausgebildet hatte, ist eine Übernahme aus der Vorlage, die ihn an dieser Stelle
tradiert haben könnte, wahrscheinlich.
Der Vermerk wird in und nach Büchern der Historia ecclesiastica überliefert.
Bisweilen wird die adiuratio des Irenäus von Lyon anderen Werken beigegeben:36
Beim Weißenburgensis 91 handelt es sich um eine Sammelhandschrift verschiedener
liturgischer und katechetischer Texte. Nach dem Initienverzeichnis der 22 Homilien
Gregors des Großen über das Buch Ezechiel wird Irenäus Ermahnung mit Adiuro te
eingeleitet. Der Eintrag schließt mit: Docet hoc Hireneus Lugdunensis Galliarum epi-
scopus. „So lehrt es Irenäus von Lyon, Bischof in Gallien.“37
Nicht nur Irenäus, sondern auch Augustinus war um die Verbesserung und Siche-
rung des Wortlautes seines Werks besorgt. Mit der Epistula 174, die heute als Pro-
ömium der Ausgabe von De trinitate vorangestellt ist, übersendet er dem Aurelius
von Karthago sein Werk. Sie findet sich auf fol. 6r–v des um 800 entstandenen Pal. lat.
202. Augustinus beklagt in dem Brief, dass einige Bücher bereits ohne sein Wissen
und seine Zustimmung in Umlauf gebracht worden seien und er diese nicht mehr
durchsehen und korrigieren habe können. Nun schicke er dem Bischof von Karthago
das ganze Werk einschließlich der korrigierten, bereits in Umlauf gebrachten Bücher
in der Hoffnung, dass diejenigen, die bereits im Besitz der Bücher seien, wenn sie
Kenntnis von dieser Ausgabe erhielten, sie danach verbessern würden. Er beschließt
seinen Brief folgendermaßen: „Ich bitte inständig darum, dass dieser Brief, obwohl er
dir getrennt zugesandt wurde, dennoch auf deine Anordnung hin an den Anfang des
Werks gesetzt werde. Bete für mich.“38

Demnach kann durch adiurationes eine Textsicherung in dreierlei Hinsicht erfolgen:


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35 Ebd., fol. 83r. Rufinus/Eusebius, Historia ecclesiastica, ed. Mommsen, lib. V, 20, 1–2, 481–483.
36 Bischoff 42009, 63, Anm. 28.
37 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Weiss. 91, fol. 159r.
38 Rom, BAV, Pal. lat. 202, fol. 6v: Peto sane, ut hanc epistolam seorsum quidem sed tamen ad caput
eorundem librorum iubeas anteponi. Ora pro me.

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32   Kirsten Wallenwein

1. Zum einen auf der Ebene der Skriptorien: Die Kopisten werden zu sorgfältiger
Abschrift aufgerufen; ist diese abgeschlossen, soll die Kopie mit der oder den Vor-
lagen, nach denen sie angefertigt wurde, verglichen werden.
2. Dies kann vom Autor oder aber anonym – unter oder ohne Berufung auf eine
Autorität – gefordert werden.
3. Der zitierte Augustinus-Brief zielt zusätzlich auf eine Authentifizierung ab. Die
Übernahme der Epistula 174 erbringt den Nachweis, dass es sich bei der jeweili-
gen Handschrift um eine vom Verfasser autorisierte Abschrift handelt.

Der Pal. lat. 202 gehört zu den vier ältesten – noch dazu fast gleichzeitigen – Text-
zeugen, die uns den Brief an Aurelius im Verbund mit De trinitate überliefern.39 Wie
Augustinus es erbeten hatte, wurde dem Codex das ursprüngliche Begleitschreiben
vorangestellt. Die Handschrift ist gleichfalls ein Zeuge dafür, dass auch zeitgenös-
sische Korrektoren in karolingischen Codices ihre Spuren hinterlassen. Auf fol. 175v
findet sich der mit Kreuz markierte Vermerk hucusque relegi. Die korrespondierende
Textstelle wurde ebenfalls mit einem Kreuz gekennzeichnet. Über 100 Seiten zuvor
hatte eine andere Hand am linken oberen Rand bereits usque hic notiert.40 Beide Ein-
träge bezeugen eine Durchsicht des Codex, die in mindestens zwei Schritten erfolgte.
Eine weitere Beobachtung lässt sich in der gleichen Handschrift machen: Nach
dem fünften Buch von Augustinus De trinitate wurde der Vermerk contulit, wenn
auch nicht vollständig, getilgt.41 Vermerke wie contuli („ich habe verglichen“) oder
emendavi („ich habe verbessert“) – mit oder ohne feliciter – attestieren ebenso wie
die ausführlicheren subscriptiones eine Kontrolle, die ursprünglich in den Skriptorien
der Spätantike stattgefunden hat. Über die Abschrift einer spätantiken Vorlage finden
auch sie bisweilen Eingang in spätere Handschriften. Im gerade erwähnten Beispiel
sah man den übernommenen contulit-Vermerk als überflüssig an und beschloss, ihn
zu entfernen.
Das Gleiche, nämlich die Tilgung des contuli, lässt sich an der Handschrift Cod.
2147 der Österreichischen Nationalbibliothek zeigen.42 Doch hat man in diesem Codex
die Vermerke auch einfach stehen lassen oder graphisch hervorgehoben, indem man
sie bisweilen eingerahmt oder umkreist hat.43
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39 Die anderen drei sind Oxford, Bodleian Library, Laud. misc. 126 (saec. VIII med., Chelles; CLA
2II, *252), Cambrai, Bibliothèque municipale, Ms. 300 (282) (saec. VIII ex., Umgebung von Meaux;
CLA  VI, 739) und Montecassino, Archivio e Biblioteca dell’Abbazia, Ms. 19 (saec. VIII/IX, Spanien;
CLA III, 373).
40 Lindsay 1896, 60.
41 Rom, BAV, Pal. lat. 202, fol. 75r.
42 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2147, fol. 209r.
43 So beispielsweise ebd., foll. 190v und 211v.

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Subscriptiones in karolingischen Codices   33

Eine Kuriosität aus der Lorscher Klosterbibliothek soll am Ende dieses Beitrags
stehen:

Abb. 2: Rom, BAV, Pal. lat. 285, fol. 59r (Ausschnitt). © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana

In einer Handschrift aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts findet sich nach dem
Ende des zweiten Buches von Bedas Hoheliedkommentar ein Zeichen, das durch
seine „bienenkorbähnliche Gestalt“ an ein Rekognitionszeichen erinnert, welches
sich im Eschatokoll von Urkunden findet und die Rekognitionszeile beschließt.44
In ihr wird der Kanzler, der überprüft (recognovit) und unterzeichnet hat (subscrip-
sit), genannt. Ursprünglich bestand dieses Zeichen selbst aus tironischen Noten, die
diesen Vorgang bezeichneten. Erst im Laufe der Zeit wurde die Herkunft des Zeichens
aus dem Wort subscripsi unkenntlich.45
In Tours vermerkte man im Frühmittelalter den Korrekturvorgang am Lagenende
mittels tironischer Noten und brachte so beispielsweise nach der Lagensignatur den
Vermerk requisitum oder requisitum est an.46 In einer Handschrift – Épinal, Biblio-
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44 In den Handschriften Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 12161 (saec. VII/VIII) und
Nouv. acq. lat. 1597 (saec. VIII/IX) findet sich bisweilen am Ende eines Kapitels oder Abschnittes „a
curious flourish like a monogram of SS“, vgl. CLA V, 624 und 687.
45 Vgl. beispielsweise Worm 2004, v. a. 76, 143–152 und 159.
46 Vgl. hierzu CLA VI, XXVIII–XXVIIII und vor allem Bischoff 1966, 9–14, dem es nicht zuletzt durch
die „eigenartige Sitte der tironischen Kollationsvermerke“ (ebd., 13) gelang, eine Handschriftengrup-
pe zusammenführen. Die Vermerke finden sich in CLA V, 682, 683; VI, 762; VIII, 1157; IX, 1394; X, 1571,
1584. Nach Bischoff „wohl auch in London, B. M. Egerton 2831“, vgl. ebd., 10, Anm. 31. Im dazuge-
hörigen Eintrag CLA 2II, 196a werden zwar Notae Tironianae (foll. 19v, 56v, 91v) vermerkt, nicht aber

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34   Kirsten Wallenwein

thèque municipale, Ms. 149 (68) (CLA VI, 762) – nennt sich zusätzlich der Korrek-
tor am Ende einiger Lagen in tironischen Noten, zum Beispiel nach Lage VIIII (fol.
70v) und XVII (fol. 134v). Die Herausgeber der CLA identifizieren ihn als „an abbot
Aricus who himself collated the manuscript and noted the fact in the familiar Tours
manner“ und datieren die Handschrift mit Hilfe eines kopialüberlieferten Auftrag-
vermerks „<A>ricus hunc librum scribere abba rogavit anno III regni Childirici regis.“
auf 744 / 74547. Nimmt man allerdings das dritte Regierungsjahr Childerichs II. (und
nicht Childerichs III.) nicht in Austrasien, sondern in Neustrien beziehungsweise im
Gesamtreich an, ergibt sich eine Datierung in das Jahr 675. Im gleichen Zeitraum ist
für Tours ein Abt namens Agyricus (Agiricus / Aegiricus) belegt.48 Dies und der paläo-
graphische Befund der ligaturenreichen Minuskel, die der Halbkursive nahesteht,
sprechen für eine frühere Datierung und erlauben die Identifizierung des Korrektors.
Bei unserem Beispiel lädt eine Handschrift der St. Galler Stiftsbibliothek zum
direkteren Vergleich ein: Im Codex 731 wurde vom Schreiber Wandalgarius ein Rekog-
nitionszeichen an das Ende seines Kolophons gesetzt.49 Weil Wandalgar das Zeichen
an dieser Stelle platzierte, ist von den Herausgebern der CLA angenommen worden,
dass er selbst wahrscheinlich Kanzleibeamter war.50 Vielleicht trifft das auch für den
Schreiber des Pal. lat. 285 zu.
Vermerke von Schreibern und Korrektoren lassen sich sowohl inhaltlich, als auch
begrifflich deutlich voneinander abgrenzen. Im Kolophon nennt sich der Schreiber,
in der subscriptio der Prüfer einer Handschrift. Subscriptiones beglaubigen die Durch-

in Verbindung mit dem Lagenende gebracht. Das Gegenteil ist bei der Anfang des 9. Jahrhunderts
entstandenen Handschrift CLA V, 528 der Fall: Hier nennt sich der Schreiber (wie die Herausgeber der
CLA vermuten) gleich viermal jeweils am Ende einer Lage nach deren Signatur in tironischen Noten
(Iacob auf foll. 52v, 60v, 68v, 76v). In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts finden sich die tironischen
Prüfvermerke auch in anderen französischen Skriptorien. Bischoff 1966, 10, Anm. 31.
47 Der Vermerk findet sich auf fol. 208v.
48 Vgl. die Auflistung der Äbte von St. Martin in Gallia christiana XIV, 159–160. Das von Papst Adeo-
datus II. (672–676) verliehene Privileg der Exemption „Aequitatis nos admonet“ nennt Aegiricus reli-
giosus presbyter et abbas monasterii S. Martini; ebd., instr. III, 5. Es wird hier um 674 datiert, vgl. auch
JE 2105 (1621). Zu Agyricus vgl. besonders die „Documents comptables“ aus Tours (ChLA XVIII, 659 I,
VI, VII, XII), die 1975 erstmals von Pierre Gasnault herausgegeben und von Jean Vezin paläographisch
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beschrieben wurden.
49 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 731, p. 342: Expleto libro tertio die veneris kalendas novembris
anno XXVI rigni domno nostro Carolo regi. Deus domine, tu ho [sic] qui legis hunc librum istum vel hanc
pagina [sic] ora in pro [sic] Vandalgario scriptore, quia nimium peccabilis sum. Vandalgarius. Vgl. auch
Colophons V, 18623. Während im Kolophon die Fertigstellung der Handschrift auf das Jahr 793 datiert
wird, ist ihre Lokalisierung bis heute umstritten. Bischoff verortet die Handschrift paläographisch
nach Burgund, möglicherweise in die Westschweiz. Bischoff 1981, 19. Wegen der Namensgleichheit
mit einem im Reichenauer Verbrüderungsbuch auftauchenden Wandalgar sind zunächst Besançon
und zuletzt Lyon angenommen worden. Schott 1993, 305.
50 CLA VII, 950: „where he adds the recognition sign in the manner of notaries“ und weiter „Wandal-
garius, presumably a notary, to judge by the recognition sign“.

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Subscriptiones in karolingischen Codices   35

sicht einer Abschrift; bisweilen wird in ihnen ein mehrteiliger Korrekturprozess the-
matisiert. Originalüberlieferte subscriptiones bieten einerseits einen Anhaltspunkt
für Entstehungsort und -zeit ihrer Überlieferungsträger, andererseits können sie
als paläographisches Vergleichsmaterial zur Datierung oder Lokalisierung anderer
Handschriften dienen. Subscriptiones enthalten Informationen, die sowohl für die
Personen- als auch Kulturgeschichte aufschlussreich sein können. Die mikroskopi-
schen Textzeugen überliefern biographische Angaben zu den in ihnen genannten
Personen, die oftmals nur in dieser Form erhalten sind. Durch ihre Datierungen oder
Lokalisierungen sind subscriptiones selbst in Kopialüberlieferung unverzichtbare
Zeugen für die Rezeptionsgeschichte eines Textes. Dessen Überlieferungsprofil lässt
sich durch sie skizzieren, durch sie erhält man zum Teil direkten, zum Teil indirekten
Zugang in die Skriptorien der Spätantike und des Frühmittelalters. Schriftlich festge-
haltene Textkontrollen sind ein Reservoir ersten Ranges bei der Rekonstruktion der
Überlieferungsgeschichte. Subscriptiones illustrieren im Kleinen den Wissenstrans-
fer, der am Übergang von der Spätantike ins Frühmittelalter stattfand. Ihre Über-
nahme in karolingische Abschriften verdeutlicht, auf welche Vorlagen noch in dieser
Zeit zurückgegriffen werden konnte.

Quellen
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chrétiennes 345, Paris 1988, 170–272.
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Schriftkunde und Literaturgeschichte, Bd. 1, Stuttgart, 6–16.
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Literaturgeschichte, Bd. 3, Stuttgart, 5–38.
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blätter Kreis Bergstrasse, Sonderband 10, Lorsch.
Bischoff (42009): Bernhard Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendlän-
dischen Mittelalters, Grundlagen der Germanistik 24, Berlin.

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Subscriptiones in karolingischen Codices   37

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schaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N. F. 69, Paderborn/München/Wien u.
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De nuptiis Philologiae et Mercurii book 1, University of California publications: Classical studies
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ThLL: Thesaurus Linguae Latinae, Bd. 4, Leipzig 1906–1909.
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Carmen Cardelle de Hartmann
Bücher, Götter und Leser:
Theodulfs Carmen 45
Wenn wir über das Wissen einer Epoche sprechen, meinen wir eine abstrakte Größe,
nämlich die Summe aller Kenntnisse, die in dieser Zeit verfügbar waren und rezi-
piert wurden. Allerdings ist uns bewusst, dass der Zugang zum Wissen sich an jedem
Ort und in jeder sozialen Gruppe unterschiedlich gestalten kann und dass es erst in
jedem einzelnen Rezipienten zum konkreten Wissen wird und so die Möglichkeit der
Innovation entfaltet. In der karolingischen Zeit konzentrierten sich die Literaturre-
zeption und die Wissensvermittlung auf einige Orte: den Hof, bestimmte Bischofskir-
chen und einige Klöster, in denen Bibliotheken unterhalten wurden. Die Verbindun-
gen zwischen diesen Zentren ermöglichten die Zirkulation von Büchern und somit
die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, an einem einzelnen Ort ein breites Angebot
an Literatur zu finden. Die Bestände der Bibliotheken wurden aber von ihren Benüt-
zern nicht in gleichem Maße rezipiert: Manches Werk war lange verfügbar, ohne dass
man danach gegriffen hätte oder der Schritt zu einer praktischen Umsetzung oder zu
einem Weiterdenken der dort vermittelten Ideen getan worden wäre. Die Auswahl der
gelesenen Texte war von den Prioritäten der Zeit beeinflusst, von der Sorge um einen
reinen Glauben und um eine reibungslose Kommunikation innerhalb des Reiches.
Ein einzelner Leser konnte aber diese Auswahl erweitern und wenig beachtete Texte
berücksichtigen oder gar zu einer häufigen Lektüre machen. In diesem Aufsatz möchte
ich ein Gedicht Theodulfs von Orléans interpretieren, in dem der Dichter seine bevor-
zugten Lektüren vorstellt und dabei auch Vergil und Ovid, heidnische Autoren, die
in seiner Zeit nur von wenigen gelesen wurden, präsentiert. Dies führt ihn zu einer
Verteidigung der Allegorese, die eine Überlegung über die Rolle des Lesers und die
besondere Wahrheit der Dichtung impliziert.
Das Carmen 451 Theodulfs von Orléans ist auf den ersten Blick ein Doppelge-
dicht mit zwei unterschiedlichen Themen, nämlich die Bücher, die der Dichter früher
gelesen hatte, (vv. 1–20) und die allegorische Interpretation von Dichtung (vv. 21–64).
Beide Teile scheinen nur lose zusammenzuhängen; der zweite Teil wirkt außerdem
wenig kohärent, denn darin werden Beispiele von verschiedenen Spielarten allegori-
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scher Deutung2 scheinbar ohne inneren Zusammenhang aneinander gereiht. Bereits

1 Theodulf, Carmina, ed. Dümmler, 543–544. Text von Dümmler abgedruckt in: Godman 1985, 168–171
(mit englischer Übersetzung), und Klopsch 1985, 114–121 (mit deutscher Übersetzung und Kommentar
471–473), s. auch Anhang.
2 Genaue Diskussion der verschiedenen Modi der Allegorese, die im Gedicht gezeigt werden, bei Bret-
zigheimer 2004, 200.

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40   Carmen Cardelle de Hartmann

Seznec wies auf dieses Gedicht als Beispiel einer Verteidigung der Allegorese hin3.
In einer allzu hastigen Lektüre interpretierte Nees es hingegen als eine Warnung vor
der Lektüre heidnischer Autoren.4 Wenig später las Chance c. 45 wiederum als eine
Verteidigung der Klassikerlektüre, wobei sie auch darin eine Dämonisierung des
Mythos zu entdecken glaubte: Der Leser – der von Herkules symbolisiert wird – geht
durch die Hölle  der heidnischen Götter (Amor), um dank seiner moralischen Quali-
täten mit Aeneas  zu entkommen.5 Auf Nees antwortete Staubach und zeigte, „dass
Theodulf die Allegorese als ein Instrument der Rehabilitierung und Aneignung des
Mythos schätzt und empfiehlt“6 und dass das ganze Gedicht als Verteidigung der alle-
gorischen Lektüre, die von einem der angeführten Beispiele, Proteus, symbolisiert
wird, verstanden werden soll.7 Einige wertvolle Hinweise für die Interpretation des
Gedichtes hat Bretzigheimer 2004 gegeben, die Staubachs Ansatz folgt. In derselben
Linie soll hier die Einheitlichkeit des Gedichtes gezeigt werden, denn sein eigentli-
ches Thema ist die Lektüre, die als ein Auslegungsprozess durch den Leser dargestellt
wird; nicht nur Proteus, sondern alle angeführten Beispiele beziehen sich darauf.
Der Titel De libros quos legere solebam et qualiter fabulae poetarum mystice per-
tractentur kündigt ein Gedicht mit zwei Themen an: die Lektüren des Dichters und die
allegorische Interpretation von Dichtung, oder genauer, von Erdichtungen. Ob dieser
Titel auf Theodulf zurückgeht, ist allerdings ungewiss. Zwei Codices mit einer Samm-
lung von Theodulfs Gedichten waren in der Frühen Neuzeit bekannt und wurden
von Sirmond und Mabillon ediert beziehungsweise teilediert, sind aber heute ver-
schollen.8 Für einige Gedichte Theodulfs gibt es eine Einzelüberlieferung, Carmen 45
zählt jedoch nicht zu ihnen: Es ist für uns nur in Sirmonds Edition aus dem Jahr 1646
greifbar, die von Dümmler im ersten Band der Poetae so gut wie unverändert nachge-
druckt wurde. An der Echtheit des Gedichtes besteht allerdings kein Zweifel. Schaller
fand in seiner sorgfältigen Untersuchung von Theodulfs Gedichten außerdem keinen
Anlass, den Text Dümmlers in irgendeiner Form zu verändern.9

3 Seznec 1980, 85.


4 Nees 1991, 65–68. Staubach 1994, 388–390, hat den methodischen Fehler Nees’ genau gezeigt: „Um
den Text ad malam partem lesen zu können, vermischt er zwei Aspekte des Allegorie-Modells, die ver-
schiedenen Begriffsebenen angehören: die Deutbarkeit und Signifikanz des Mythos als Umschlag von
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der ‚Lüge’ zur ‚Wahrheit’ und die ethische Wertigkeit der jeweils durch ihn bezeichneten Tugenden
oder Laster, also des Signifikats“. Staubach 1994, 389.
5 Chance 1994. Trotz guter Beobachtungen krankt ihre Interpretation an einer wenig sorgfältigen Lek-
türe (z.B. listet sie unter den von Theodulf in diesem Gedicht genannten Dichter auch Horaz, Lukan
und Cicero auf) und an der mangelnden Differenzierung zwischen Isidors und Theodulfs Einstellung
gegenüber dem Mythos.
6 Staubach 1994, 389.
7 Dazu auch Staubach 1998, 683–685.
8 Kurze Darstellung der Textüberlieferung bei Schaller/Brommer 1995, 766, ausführlicher bei Schaller
1962, 17–19.
9 Schaller 1962, 22.

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Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45   41

Bereits der erste Vers macht klar, dass das lesende Ich in seiner Auseinanderset-
zung mit den Büchern im Mittelpunkt des Gedichtes steht:

Namque ego suetus eram hos libros legisse frequenter

Er beschäftigte sich häufig mit ihnen, worauf nicht nur suetus und frequenter im
ersten Vers hinweisen, sondern auch die nachdrückliche Wiederholung von saepe
am Anfang und Ende des dritten Verses. In v. 2 fügt Theodulf hinzu, dass diese Arbeit
(labor) Tag und Nacht in Anspruch genommen habe. Daraufhin werden die gelese-
nen Autoren spezifiziert. Als erste werden Gregor der Große und Augustinus genannt,
gefolgt von Hieronymus, Ambrosius, Isidor, Johannes Chrysostomus, Cyprianus
sowie andere, die der Dichter unerwähnt lässt. In einem weiteren Distichon (vv. 9–10)
erwähnt er heidnische Gelehrte aus verschiedenen Wissensgebieten, ohne sie jedoch
namentlich zu nennen. Es bleibt in der Schwebe, wer diese Gelehrten waren. Der
Leser kann an die Fachschriften denken, die in vorkarolingischer Zeit als fast einzige
antike Schriften und noch in karolingischer Zeit eifrig abgeschrieben wurden (Schrif-
ten über die Artes, über Medizin oder Recht).10 Deren Studium galt nach Augustinus
und Cassiodor als nützlich für die Auslegung der Bibel und war deshalb unumstrit-
ten. Es ließe sich aber auch an andere Texte denken, wie zum Beispiel historiographi-
sche Schriften.11 Anschließend geht Theodulf zu den Dichtern über, von denen zuerst
die Christen aufgezählt werden: Paulinus,12 Arator, Avitus, Fortunatus, Juvencus
und schließlich Prudentius, den er als seinen Verwandten (parens) bezeichnet. Die
Liste der Dichter wird von zwei Grammatikern unterbrochen, Donatus und seinem
Kommentator Pompeius13, und endet mit zwei heidnischen Dichtern, Vergil und dem
gesprächigen Ovid (Naso loquax).
Carmen 45 gehört zu den Gedichten, die man zur Gewinnung von Informatio-
nen über Theodulfs Leben herangezogen hat. Das Ich, das in dem Gedicht spricht,
hat einiges mit dem historischen Theodulf gemeinsam: Es erinnert sich an eine Zeit

10 Holtz 1998, 1097–1101.


11 Alkuin zählt in seinem Gedicht De patribus, regibus et sanctis Eboricensis ecclesie, vv. 1536–1562,
die Bücher, die Erzbischof Aelberht (767–780) für die Bibliothek von York gesammelt hat, auf und
führt Plinius, die Epitome des Pompeius Trogo durch Justinus, und Cicero (wohl die Schriften zur Rhe-
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torik) an (Godman 1982, lxxi–lxxii und 122–127, kritische Diskussion dieser Verse mit Berücksichti-
gung anderer Quellen in Bullough 2004, 252–293). Zu den antiken Texten, die im 7. und 8. Jahrhundert
kopiert wurden, siehe Holtz 1998, 1095–1099.
12 Mit Paulinus ist Paulinus von Nola gemeint, dessen Werk weit verbreitet war (so identifiziert von
Godman 1985, p. 168, Anm. zu vv. 13–14, und Klopsch 1985, 472). Die Werke von Paulinus von Pé-
rigueux und Paulinus von Pella waren weniger verbreitet und in mittelalterlichen Bibliothekskatalo-
gen häufig für Werke des Paulinus von Nola gehalten.
13 Bei Pompeius ließe sich zwar an die Epitome des Pompeius Trogo (wie im Fall von Alkuin, Bull-
ough 2004, 259–260 und 283) denken, viel wahrscheinlicher ist es im Zusammenhang von Theodulfs
Gedicht, dass es sich um den Grammatiker Pompeius, der die Ars maior des Donatus kommentierte,
handelt (so identifiziert von Godman, 1985, 169, Anm. zu v. 17, und Klopsch 1985, 472).

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42   Carmen Cardelle de Hartmann

der intensiven Lektüre, die nun abgeschlossen ist, weil es wohl andere, dringlichere
Dinge beschäftigen; es nennt außerdem Autoren, die Theodulf häufig zitiert,14 als
seine Lektüre und bezeichnet Prudentius, den spätantiken Dichter aus der provin-
cia Tarraconensis, als noster et ipse parens, was eine Herkunft aus dem Gebiet dieser
römischen Provinz nahelegt, die für den Westgoten Theodulf möglich ist. Ann
Freeman hat vermutet, dass Theodulf aus Caesaraugusta stammte, woraus etliche
Christen in den Jahren 778–782 ins Frankenreich flohen.15 In Caesaraugusta dürfte es
zu dieser Zeit eine gut bestückte Bibliothek gegeben haben, denn dort hatte der bele-
sene Braulio etwa 150 Jahre früher gearbeitet. Auf diese Bibliothek, so Freeman, habe
sich Theodulf im Carmen 45 bezogen.16 Freemans Vorschlag zu Theodulfs Herkunft ist
gut argumentiert und plausibel. Für die Interpretation des Gedichtes ist aber wichtig,
dass darin keinesfalls eine real existierende Bibliothek angedeutet wird: Es gibt keine
deutlichen Hinweise auf einen konkreten Ort, genauso wenig auf die historische
Zeit, in der der Dichter sich mit diesen Autoren beschäftigte. Eine Lektüre, die sich
über viele Jahre und verschiedene Orte erstreckte, wäre durchaus mit dem Gedicht
vereinbar. Die Schriften, die darin vorkommen, sind erinnerte Schriften, von denen
nur in der Vergangenheitsform gesprochen wird; da sie oft gelesen wurden, können
wir weiter sagen, dass sie in doppeltem Sinne im Gedächtnis des Dichters anwesend
sind, nämlich als Erinnerung an die Lektüre und als verinnerlichte Schriften, als eine
Art innere Bibliothek. Der Dichter hat nicht nur die Werke dieser Autoren gelesen,
wie der Hinweis auf andere, nicht genannte Autoren, sowohl christliche (vv. 7–8)
als auch heidnische (vv. 9–10) zeigt, aber sie werden vom ihm als besonders wichtig
erachtet. Einige dieser Autoren überraschen uns nicht: Die Kirchenväter, der Märtyrer
Cyprian und die spätantiken christlichen Dichter wurden zu Theodulfs Zeit häufig
abgeschrieben und werden in Bibliothekskatalogen aus der Karolingerzeit erwähnt.17
Die zwei Grammatiker sind an sich nicht befremdlich, eher schon ihre Positionierung
im Gedicht, zwischen den christlichen und den heidnischen Dichtern.18 Sie weisen

14 Die Zitate aus älterer Dichtung in Theodulfs Gedichten werden in der Edition Dümmler 1881 nach-
gewiesen, Nachträge in MGH Poetae 2, ed. Dümmler, 694–697, Manitius 1886, 561–563 und Schaller
1962. Der einzige Dichter, der von Theodulf häufig zitiert und in Carmen 45 nicht genannt wird, ist
Dracontius.
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15 Freeman 1990, 185–187.


16 Freeman 1990, 186.
17 Zum Beispiel finden sie sich alle in den Katalogen der Bibliothek von Lorsch aus dem 9. Jahrhun-
dert (siehe dazu das Register der Autoren und Werke in Häse 2002, 391–405); im Murbacher Katalog
des 9. Jahrhunderts fehlt nur Papst Leo (siehe das Register in Milde 1968); im St. Galler Katalog aus
der Mitte des 9. Jahrhunderts werden alle bis auf Papst Leo und Venantius Fortunatus genannt (Leh-
mann 1918, 66–82). In den drei Bibliotheken waren auch Donatus und sein Kommentator Pompeius
vorhanden.
18 Alkuin nimmt in seinem Gedicht De patribus, regibus et sanctis Eboricensis ecclesie, vv. 1536–1562
eine ähnliche Aufteilung der Autoren vor: christliche Prosaisten – heidnische Prosaisten – christliche
Dichter – heidnische Dichter – Grammatiker (Godman 1982, 122–127).

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Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45   43

auf eine Zeit der Ausbildung hin und daher suggerieren dem Leser, dass die dar-
auffolgenden heidnischen Dichter wegen ihrer Sprache gelesen wurden. In einem
anderen Gedicht (c. 44, Cur modo carmina non scribat) wird die Lektüre antik-heid-
nischer Autoren mit diesem Argument, das hier nur angedeutet wird, gerechtfertigt.
Die Erwähnung Vergils ist in diesem Zusammenhang zu erwarten: Er wurde ja häufig
von den antiken Grammatikern, die in karolingischer Zeit zur Erlernung des Lateins
herangezogen wurden, zitiert und gehört überhaupt zu den römischen Autoren, die
im 8. Jahrhundert gelesen und abgeschrieben wurden.19 Ovid hingegen hat keinen so
sicheren Status. Einerseits war die Beschäftigung mit seinen Werken dadurch sank-
tioniert, dass viele christliche Autoren bis hin zu Venantius Fortunatus ihn häufig
zitierten, wohl, wie Klopsch vermutet, wegen seiner rhetorischen Qualitäten. Ande-
rerseits sind es in der Hauptsache nur zwei Werke aus Ovids umfangreichen Oeuvre,
die herangezogen wurden, nämlich die Fasti und die Metamorphosen.20 Für die karo-
lingische Zeit schätzt Munk Olsen wegen der wenigen erhaltenen Handschriften und
der seltenen Erwähnungen in Bibliothekskatalogen, dass Ovid kaum in den Schulen
gelesen wurde.21 Obwohl Lendinara 1998 dieses Bild durch den Fund zweier Glossare
zum ersten Buch der Metamorphosen etwas korrigiert hat, kann man weiterhin davon
ausgehen, dass die Beschäftigung mit Ovids Werken weitaus seltener als die Lektüre
Vergils war.
In den zwei folgenden Distichen wird die Lektüre heidnischer Autoren mit dem
Argument gerechtfertigt, dass auch in ihren Werken Wahres gefunden werden könne.
Wir lesen sie genau, denn der Text ist nicht frei von Ambiguitäten.
Die Verse 19 und 20 lauten:

In quorum dictis quamquam sint frivola multa,


plurima sub falso tegmine vera latent.

Das nächste Distichon scheint vorerst eine Korrektur daran anzubringen. Während v.
20 Wahres und Falsches in einem einzigen Text verortet, trennt Theodulf im nächsten
Vers das Falsche, das die Dichter vorbringen, vom Wahren, was die sophi schreiben:
Falsa poetarum stilus affert, vera sophorum. Im nächsten Vers (v. 22) sagt Theodulf:
falsa horum in verum vertere saepe solent. Klopsch übersetzt beide Verse: „Irrtum trägt
der Griffel der Dichter auf, Wahres der der Denker, und sie wenden die Irrtümer jener
oft zur Wahrheit“. Vers 22 macht wieder klar, dass Wahres und Falsches im selben
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Text zu finden sind, doch geht beides nicht gleichermaßen auf die Dichter zurück: Die
Dichter fabulieren, die sophi hingegen sind in der Lage, in diesen Erdichtungen das
Wahre zu finden. Wen hat nun Theodulf mit sophi gemeint? Es könnten die heidni-

19 Holtz 1985.
20 Klopsch 1986, 99-100.
21 Munk Olsen 1987, passim, und 1992, 198 (= 1995, 36).

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schen Kommentatoren sein, die eine allegorische Interpretation der Dichter aufzeigen
(z. B. Servius und Macrobius, die zu Theodulfs Zeit bekannt waren) oder auch allge-
mein die Philosophen, die Mythen interpretierten (zum Beispiel Varro, den Augusti-
nus in De civitate Dei in diesem Zusammenhang erwähnt).22 Die Vorstellung, dass die
Philosophen das Wahre im Werk der Dichter finden, hat ihre Wurzeln in der Antike,
sie wurde allerdings von den christlichen Apologeten ins Negative gewendet: Die
Interpretation der Philosophen finde in den Erdichtungen eine Wahrheit, die in ihnen
gar nicht angelegt sei; sie sei deshalb auch eine Lüge und diene nur dazu, die Mythen
zu rechtfertigen.23 Diese Rigorosität wurde später abgemildert, nachdem das Heiden-
tum keine reale Gefahr mehr darstellte, so dass ein christlicher Autor wie Fulgentius
Mythographus allegorische Interpretationen mit Hinweis auf die Philosophen weiter
tradieren konnte.24 Wie mir scheint, nimmt Theodulf hier indirekt Stellung in dieser
Diskussion. Die sophi, mit denen wohl allgemein die verständigen Leser gemeint sind,
finden durchaus eine Wahrheit hinter den Lügen. Die allegorischen Interpretationen,
die er im Folgenden als Beispiele vorbringt, zeigen ferner, wie diese verständige
Lektüre vorgehen muss.
Die drei ersten Beispiele für versteckte Wahrheiten, die Theodulf vorbringt –
Proteus, Virgo (das Sternbild, das Dike oder Astraea darstellt) sowie Herkules und
Cacus – geben die Schlüssel zu einer weisen Lektüre. Das erste Beispiel, Proteus,
ist Vergil entnommen (Georgica 4, 387–414), das zweite und dritte, Vergil oder Ovid
(Virgo: Vergil, Eclogae 4, 6; Ovid, Metamorphoses 1, 149–150; Herkules: Vergil, Aeneis
8, 184–272, Ovid, Fasti 1, 543–586).25 Proteus, sagt Theodulf, stelle die Wahrheit dar,
die sich unter tausend Lügen verbirgt, aber ihre Gestalt dann zeigen muss, wenn man
sie fest im Griff hält.26 Die Jungfrau repräsentiere den Gerechten, den der Ungerechte
nicht zu besudeln vermag. Bei Herkules und Cacus stellt sich ein kleines Interpreta-
tionsproblem ein. Vers 29 lautet: Gressibus it furum fallentum insania versis, Klopsch
übersetzt „Mit den umgedrehten Füßen trügerischer Diebe schreitet die Unvernunft“.
Die Übersetzung ist plausibel, trotzdem möchte ich eine andere vorschlagen. Wenn

22 Zur Diskussion der Mythen-Allegorie bei Varro siehe Pépin 1976, 236–307; zu seiner Verwendung
durch Augustinus in De civitate Dei, Pépin 1976, 280–289.
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23 Demats 1973, 37–54, Pépin 1976, 315–322, 365–392, 431–442.


24 Demats 1973, 54–60. Es gibt eine lange Diskussion über die mögliche Identität von Fulgentius
Mythographus und dem Bischof Fulgentius von Ruspe. Die letzte, äußerst gründliche Durchsicht der
Evidenz von Hays 2003 kommt zum Schluss, dass es sich um zwei verschiedene Personen handelt und
datiert den Mythographen später als den Bischof (467–533), nämlich irgendwann in der Zeitspanne
von Mitte des 6. zur Mitte des 7. Jahrhunderts.
25 Auf die Stellen bei Vergil wies Dümmler 1881 in seiner Edition hin, auf Astraea bei Ovid Klopsch
1985, 472–473. Zu Herkules in den Fasti Bretzigheimer 2004, 188–189.
26 Die Zuordnung von vv. 255 und 256 zu Proteus wird in etlichen Übersetzungen verdeckt, wie Stau-
bach 1998, 684, angemerkt hat. In der Deutung von Proteus entfernt sich Theodulf von Servius, der in
ihm die prudentia sieht (dazu Staubach 1998, Anm. 36 und Bretzigheimer 2004, 203).

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Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45   45

man den Vers vorträgt, lädt die Zäsur dazu ein, fallentum zu insania zu beziehen:
„Mit den umgedrehten Schritten der Diebe schreitet die Unvernunft der Lügner“.
Bretzigheimer hat gezeigt, dass mit Proteus und Cacus zwei verschiedene Formen
der Lüge aufgezeigt werden: Proteus stellt einen unschädlichen Betrug dar, hinter
dem eine Wahrheit steckt; Cacus hingegen den böswilligen.27 Aber auch böswillige
Lügner können besiegt werden, wie Theodulf vv. 31–32 sagt: Die Geisteskraft vermag
sie bloßzustellen, so dass ihre Bosheit offensichtlich wird. Staubach hat als erster
darauf hingewiesen, dass Proteus für eine die Allegorie aufdeckende Lektüre steht:
„Mit der Gestalt des Proteus hat Theodulf sogar – wie es scheint – eine durch die
Tradition nicht vorgegebene neue Deutung, nämlich gleichsam eine Allegorie der
Allegorese kreiert“.28 Meines Erachtens gibt Theodulf nicht nur mit Proteus, sondern
mit allen drei Beispielen Anweisungen für die korrekte Lektüre: Der christliche Leser,
der sich heidnischen Texten zuwendet, soll in der Lage sein, mit seinem Geist die
verborgene Wahrheit zu erfassen, ohne sich von den oberflächlichen Lügen beirren
zu lassen; moralisch kann er nicht von diesen Erdichtungen besudelt werden, wenn
er ein Gerechter ist; ferner soll er die rein lügnerischen Erfindungen als solche offen-
legen können.29
Es folgen zwei Beispiele, welche die Ergebnisse einer die Wahrheit aufdeckenden
Lektüre zeigen: der Gott Amor und die zwei Tore der Träume. Letzteres bezieht sich
erneut auf Vergil (Aeneis 6, 893–896). Die Deutung des Gottes Amor wird von den
Beispielen aus Vergil eingeschlossen. Vergil war der heidnische Autor, der bereits als
Lektüre akzeptiert war. Amor hingegen verweist schon mit seinem Namen auf Ovids
Amores, die Theodulf kannte und in seinen Gedichten mehrmals zitiert. Die morali-
sche Interpretation von Amor soll nahelegen, dass es möglich ist, auch Ovids Amores
einer moralischen Lektüre zu unterziehen.
Die moralische Deutung von Amor konnte Theodulf sowohl bei Servius (Commen-
tarius in Vergilii Aeneida I, 663) als auch bei Isidor (Etymologiae 8, 11, 80) in ihren

27 Bretzigheimer 2004, 201–203. Sie weist in diesem Zusammenhang auf Augustins Unterscheidung
zwischen fallax und mendax: ... omnis fallax appetit fallere, non autem omnis vult fallere qui mentitur:
nam et mimi et comoediae et multa poemata mendaciorum plena sunt, delectandi potius quam fallendi
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voluntate, et omnes fere, qui iocantur, mentiuntur (Soliloquia 2, 9, 16, zitiert in Bretzigheimer 2004, 203,
Anm. 60). Es ließe sich auch an Macrobius denken, der in seinem Commentum in somnium Scipio-
nis I,2,7-21 zwischen rein lügnerischen Mythen und Mythen, die eine Wahrheit verstecken, unterschei-
det (dazu Pépin 1976, 210–214).
28 Staubach 1998, 684.
29 Astraea als Allegorie des Gerechten ist naheliegend, da sie die Gerechtigkeit darstellt. Hercules
wurde von Fulgentius Mythographus als die virtus interpretiert (im zweiten Buch der Mitologiae, c.
2–4). Vis mentis ist jedoch präziser und hat einen Bezug zum intellektuellen Vermögen, nicht zur
moralischen Qualität. In dieser Deutung sieht Bretzigheimer 2004, 203, Anm. 65 den Einfluss von Ser-
vius, Commentarius in Vergilii Aeneida, VI, 395: Hercules a prudentioribus mente magis quam corpore
fortis inducitur. Servius, Commentarius II, Thilo/Hagen, 60; Jeunet-Mancy 2012, 104.

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Grundzügen finden, er entwickelt sie allerdings weiter.30 Theodulf scheint hier vor
allem Isidor gefolgt zu sein, denn sein Text steht demjenigen Isidors näher.31 Es ist auf-
schlussreich zu sehen, inwieweit sich die Deutung des Cupido und der heidnischen
Götter allgemein zwischen Isidor und Theodulf verschoben hat. Isidor gesteht den
Dichtern in einem anderen Kapitel desselben Buches (Etymologiae 8, 7, 10) zu, auch
Wahres zu vermitteln: Officium autem poetae in eo est ut ea, quae vere gesta sunt, in
alias species obliquis figurationibus cum decore aliquo conversa transducant.32 Isidor
scheint sich hier vor allem auf die poetische Wiedergabe von res gestae in der Epik
zu beziehen, was die anschließende Nennung von Lukan, der auf Fiktives verzichte
und deshalb als historicus zu gelten habe, bestätigt. In dem Kapitel, in dem Isidor
Amor behandelt (Etymologiae 8, 11 über die heidnischen Götter), weht hingegen ein
Geist des Misstrauens gegen die Dichter.33 Isidor lehnt sich eng an Augustinus in De
civitate Dei an34 und interpretiert die Götter euhemeristisch als Menschen, die wegen
ihrer herausragenden Qualitäten verehrt wurden. Die Dichter sind an deren Vergött-
lichung mitschuldig.35 So in Etymologiae 8, 11, 2: In quorum etiam laudibus accesse-
runt et poetae, et conpositis carminibus in caelum eos sustulerunt.36 Eine Schuld trifft
auch die Bildhauer, die Statuen dieser Menschen bildeten. Die Teufel profitierten von
der Vorarbeit der menschlichen Künstler und bemächtigten sich dieser Statuen, um
die Menschen zu täuschen und sie zu ihrer Anbetung und Verehrung zu bewegen.
Die Aufdeckung philosophischer Wahrheiten in den Mythen sieht Isidor – hier auch
Augustinus folgend – ebenfalls als Täuschung, die eine nicht existierende Wahrheit
in reinen Lügengeschichten finden will. So in Etymologiae 8, 11, 29:

30 Auf Isidor wies Dümmler hin, auf Servius Staubach 1998, 684, Anm. 34. Staubach erwähnt in
diesem Zusammenhang auch Augustinus, Contra Faustum 20,9, darin ist jedoch eine viel knappere
Anspielung.
31 Isidor erklärt die fax, Servius nicht. Außerdem sagt Isidor wie Theodulf, dass Cupido als Kind dar-
gestellt wird, weil er unvernünftig sei; Servius erklärt dies mit der stockenden Sprache der Liebende
... item quia imperfectus est in amantibus sermo, sicut in puero, ut incipit effari mediaque in voce resistit.
Servius, Commentarius I, Thilo/Hagen, 190.
32 Übersetzung: „Die Aufgabe des Dichters besteht darin, das, was wirklich geschehen ist, durch
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eine bildliche Ausdrucksweise elegant überformt, in eine andere Gestalt zu überführen.“


33 Von einer dezidiert polemischen Einstellung Isidors zu sprechen, ginge hingegen zu weit. Im
Vergleich zu früheren Autoren (vor allem zu seiner Quelle De civitate Dei) fällt seine Polemik milde
aus, und hält ihn von der langen, kommentarlosen Auflistung aller allegorischen Deutungen nicht ab
(dazu Korte 2012, 77–94). Fontaine 1989, 339–400, sieht darin vor allem eine Desakralisierung antiker
Mythologie in der Folge von Varro und von Dichtern wie Ovid und Horaz, die Isidor auch zitiert.
34 Zu den Quellen siehe die gründliche Untersuchung von MacFarlane 1980.
35 Sie sind freilich nicht die einzigen Schuldigen: Isidor nennt auch ausdrücklich die teuflische Täu-
schung (z. B. 8,11, 4: persuadentibus demonis).
36 Übersetzung: „In deren Lob – d. h. in das Lob auf hervorragende Menschen – stimmten auch die
Dichter ein und erhoben sie in den Himmel, indem sie Gedichte verfassten.“

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Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45   47

Quaedam autem nomina deorum suorum gentiles per vanas fabulas ad rationes physicas conan-
tur traducere, eaque in causis elementorum conposita esse interpretantur. Sed hoc a poetis totum
fictum est, ut deos suos ornarent aliquibus figuris, quos perditos ac dedecoris infamia plenos fuisse
historiae confitentur.37

Nach dieser Behauptung findet sich eine ganze Reihe von Interpretationen, welche
die Eigenschaften der einzelnen Götter auf die Eigenschaften der Naturphänomene,
Vorgänge oder menschlichen Tätigkeiten, die sie darstellen sollen, zurückführen.
Isidor hat aber ausgeführt, dass diese Erklärungen sekundär sind: Die Götter waren
nur Menschen und werden wegen der Mitwirkung der Teufel verehrt. Im Fall von Juno
unterscheidet er sogar zwischen einer philosophischen Interpretation – aufgrund der
Etymologie ihres Namens – und einer poetischen, in der die Geschwister und Gatten
Jupiter und Juno jeweils die Elemente Feuer und Luft (Jupiter) sowie Erde und Wasser
(Juno) darstellen (Etymologiae 8, 11, 69). Im Fall von Amor stellt der erste Satz klar,
dass er nicht einmal ein verdorbener Mensch gewesen ist, sondern der Teufel der Flei-
scheslust selbst:

Cupidinem vocatum ferunt propter amorem. Est enim daemon fornicationis. Qui ideo alatus pin-
gitur, quia nihil amantibus levius, nihil mutabilius invenitur. Puer pingitur, quia stultus est et inra-
tionabilis amor. Sagittam et facem tenere fingitur. Sagittam quia amor cor vulnerat; facem, quia
inflammat. (Etymologiae 8, 11, 80).38

Theodulf kehrt die Reihenfolge um: Er legt zuerst die Attribute Amors dar und iden-
tifiziert ihn erst dann mit dem Teufel der Unzucht. Das letzte Distichon (vv. 51–52)
legt sogar nahe, dass die Liebe kein echter Teufel ist, sondern dass sie die Macht, die
Wirkung und die Gewohnheiten eines solchen hat. Während für Isidor der heidnische
Gott Cupido ein höchst realer Teufel ist und die Auslegung seiner Eigenschaften ledig-
lich den Versuch darstellt, ihn zu verharmlosen, zeigt Theodulf umgekehrt, wie in den
Werken der Dichter eine Warnung vor der – in ihren Eigenschaften teuflischen – Liebe
entdeckt werden kann. Allerdings kann diese Warnung nur vernommen werden,
wenn der Leser seine Vernunft gebrauchen kann und gerecht – also frei von Sünde –
ist, wie die vorangehenden Beispiele (Proteus, Virgo und Hercules) gezeigt hatten. Da
die Liebe den Liebenden der Vernunft beraubt (vv. 43–44), darf man schlussfolgern,
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37 Übersetzung: „Die Heiden versuchen einige Namen ihrer Götter mit Hilfe von eitlen Erdichtungen
auf eine natürliche Ursache zurückzuführen. Aber dies wurde alles von den Dichtern erlogen, um ihre
Götter, von denen die Geschichte bekennt, dass sie verdorben und voll schändlicher Laster waren, mit
einigen Redefiguren zu schmücken.“
38 Übersetzung: „Es heißt, Cupido werde so (d. h. Begierde) wegen der Eigenschaften der Liebe ge-
nannt, denn er ist der Teufel der Unzucht. Er wird beflügelt dargestellt, weil sich nichts Leichtsinnige-
res und Wankelmütigeres als die Liebenden findet. Er wird als Kind dargestellt, weil Liebe dumm und
unvernünftig ist. Man bildet sich ein, er trage einen Pfeil und eine Fackel. Einen Pfeil, weil die Liebe
das Herz verletzt, eine Fackel, weil sie das Herz in Brand setzt.“

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48   Carmen Cardelle de Hartmann

dass Liebende diese Gedichte nicht lesen dürfen, denn ihnen fehlt in ihrem Zustand
die Geisteskraft, die in den Texten verborgene Warnung zu entschlüsseln.
Das letzte Beispiel schließlich fasst den Inhalt des Gedichtes zusammen. Es
handelt sich um die zwei Tore der Träume. Eines ist aus Horn und lässt wahre Träume
durch, das andere ist aus Elfenbein, wodurch die falschen Träume kommen. Theodulf
folgt hier dem Servius-Kommentar, in dem das erste Tor als das Auge, das zweite als
der Mund interpretiert wird:

Physiologia vero hoc habet: per portam corneam oculi significantur, qui et cornei sunt coloris et
duriores ceteris membris: nam frigus non sentiunt, sicut et Cicero dicit in libris de deorum natura.
per eburneam vero portam os significatur a dentibus. et scimus quia quae loquimur falsa esse
possunt, ea vero quae videmus sine dubio vera sunt.39

Theodulf nimmt die Idee auf: os fert falsa, oculus nil nisi vera vidit, ohne die Lügen
dem Dichter ausdrücklich anzulasten. Dieser Vers fungiert als Schluss und fasst das
Vorherige zusammen: Der Mund der Dichter bringt Lügen hervor, das Auge des Lesers
kann aber die darin verborgene Wahrheit entdecken.
Im Carmen 45 streift Theodulf einige wichtige Themen: Die Bedeutung heidni-
scher Mythen, ihre allegorische oder naturkundliche Auslegung, die Rolle der Dichter
in ihrer Entstehung, die mögliche Anwesenheit von Wahrheit in der heidnischen Dich-
tung. Im zweiten Teil des Gedichtes zeigt er die Möglichkeit, diese Wahrheit zu ent-
hüllen, und rechtfertigt so die Lektüre der Werke heidnischer Dichter, doch ist diese
Rechtfertigung nicht das Ziel des Gedichtes. Argumente dafür, die er ausdrücklich
in Carmen 44 Cur modo carmina non scribat vorbringt – die Schönheit der Sprache
und ihr Wert für die Bildung von jungen Leuten – werden hier höchstens angedeutet.
Theodulf verlagert dezidiert die Verantwortung für die Aufdeckung der Lüge und die
Entdeckung der Wahrheit auf den Leser. Deshalb sind der Leser und seine Lektüre das
zentrale Thema des Gedichtes, das ihm seine Einheit verleiht. Im ersten Teil geht es
um die persönliche Auswahl, nämlich um die Texte, die häufig gelesen und deshalb
zum Wissensbestand des einzelnen Lesers werden. Während einige dieser Texte die
Wahrheit als klaren und offenen Gegenstand haben, findet sich diese in anderen nur
verborgen. Wie der Leser sie enthüllen kann, ist das Thema des zweiten Teils. Die
richtige Art des Lesens hängt von den Eigenschaften des Lesers ab, von seiner Geis-
teskraft, seiner Vernunft, seinem moralischen Sinn, der ihn vor der Sünde bewahrt.
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Ein solcher Leser wird sogar erotische Dichtung lesen können und in ihr die Warnung

39 Servius, Commentarius in Vergilii Aeneida VI, 893. Übersetzung: „Die Naturkunde aber bringt dies
zutage: Das Tor aus Horn bedeutet die Augen, welche die Farbe des Horns haben und härter sind als
die anderen Glieder, denn sie spüren die Kälte nicht, wie Cicero in den Büchern über die Natur der
Götter sagt. Das Tor aus Elfenbein bezeichnet durch die Anspielung auf die Zähne den Mund. Und wir
wissen, dass das, was wir reden, falsch sein kann, dass hingegen das, was wir sehen, zweifellos wahr
ist.“ Servius, Commentarius II, Thilo/Hagen, 122–123; Jeunet-Mancy 2012, 200.

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Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45   49

vor der verheerenden Wirkung der Liebe finden. Das Gedicht lässt sich zwar nicht auf
eine Rechtfertigung der Lektüre von heidnischer Literatur reduzieren, in der dezidier-
ten Art, wie Theodulf dem Leser die Verantwortung zuweist, findet sich aber die beste
Verteidigung für die Lektüre aller verfügbaren Texte, auch derjenigen, die aus der
heidnischen Antike stammen. Diese Aufwertung des Lesers, der vom passiven Rezi-
pienten zum sophus (wie in v. 21) und Erforscher der Wahrheit werden soll, impliziert
außerdem, dass auch den zeitgenössischen Dichtern die Möglichkeit zu Fabulieren
zugestanden wird. Sie müssen in ihren Erdichtungen zwar eine Wahrheit verstecken,
aber es ist nicht an ihnen, sondern an den verständigen Lesern, sie zu entdecken.
In diesem Zusammenhang ist die zuletzt evozierte Szene der Aeneis wichtig, denn
Aeneas und die Sibylle gehen durch die elfenbeinerne Tür heraus, durch die in der
Aeneis die falschen Träume in die Welt kommen und die in der naturkundlichen Aus-
legung den Mund bezeichnet, durch den ja die Lügen hervorgebracht werden. Dazu
beobachtet Servius: et poetice apertus est sensus: vult autem intellegi falsa esse omnia
quae dixit („die poetische Bedeutung ist klar: Er möchte verständlich machen, dass
alles, was er sagt, erdichtet ist“).40 Diese Überlegung nimmt Theodulf zwar nicht
ausdrücklich auf, sie wird aber einem Leser, der die Aeneis kennt, nahegelegt: Vergil
warnt damit den Leser und Theodulf tut es auch. Auch er bedient sich nämlich in
diesem Gedicht der Allegorie und zeigt so, dass die Freiheit des Dichters, sich durch
Bilder zu äußern, noch aktuell ist. Diese Freiheit – sich der Allegorie zu bedienen,
dunkel, ja zweideutig zu sein – nahm Theodulf bekanntlich auch in anderen Gedich-
ten für sich in Anspruch.

Theodulf, Carmen 45 (Ed. Dümmler, MGH Poetae 1, 543-544)


De libris quos legere solebam et qualiter fabulae poetarum
a philosophis mystice pertractentur

 Namque ego suetus eram hos libros legisse frequenter,


extitit ille mihi nocte dieque labor.
Saepe et Gregorium, Augustinum perlego saepe,
et dicta Hilarii seu tua, papa Leo.
5 Hieronymum, Ambrosium, Isidorum, fulvo ore Iohannem,
inclyte seu martyr te, Cypriane pater.
Sive alios, quorum describere nomina longum est,
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quos bene doctrinae vexit ad alta decus.


Legimus et crebro gentilia scripta sophorum,
10 rebus qui in variis eminuere satis.
Cura decens patrum nec erat postrema piorum,
quorum sunt subter nomina scripta, vide:
Sedulius rutilus, Paulinus, Arator, Avitus,
Et Fortunatus, tuque, Iuvence tonans;

40 Servius, Commentarius II (VI, 893), ed. Thilo / Hagen, 122–123; Jeunet-Mancy 2012, 200.

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50   Carmen Cardelle de Hartmann

15 Diversoque potens prudenter promere plura


metro, o Prudenti, noster et ipse parens.
Et modo Pompeium, modo te, Donate, legebam,
et modo Virgilium, te modo, Naso loquax.
In quorum dictis quamquam sint frivola multa,
20 plurima sub falso tegmine vera latent.
Falsa poetarum stilus affert, vera sophorum,
falsa horum in verum vertere saepe solent.
Sic Proteus verum, sic iustum virgo repingit,
virtutem Alcides, furtaque Cacus inops.
25 Verum ut fallatur, mendacia mille patescunt,
firmiter hoc stricto pristina forma redit.
Virginis in morem vis iusti inlaesa renidet,
quam nequit iniusti conmaculare lues.
Gressibus it furum fallentum insania versis,,
30 ore vomunt fumum probra negando tetrum.
Vis sed eos mentis retegit, peremitque, quatitque,
nequitia illorum sic manifesta patet.
Fingitur alatus, nudus, puer esse Cupido,
ferre arcum et pharetram, toxica, tela, facem.
35 Quod levis, alatus, quod aperto est crimine, nudus,
sollertique caret quod ratione, puer.
Mens prava in pharetra, insidiae signantur in arcu,
tela, puer, virus, fax tuus ardor, Amor.
Mobilius, levius quid enim vel amantibus esse
40 quit, vaga mens quorum seu leve corpus inest?
Quis facinus celare potest quod Amor gerit acer,
cuius semper erunt gesta retecta mala?
Quis rationis eum spiris vincire valebit,
qui est puer effenis et ratione carens?
45 Quis pharetrae latebras poterit penetrare malignas,
tela latent utero quot truculenta malo?
Quo face coniunctus virosus prosilit ictus,
qui volat et periment vulnerat, urit, agit?
Est sceleratus enim moechiae daemon et atrox,
50 ad luxus miseros saeva barathra trahens.
Decipere est promptus, semper nocere paratus,
daemonis est quoniam vis, opus, usus ei.
Somnus habet geminas, referunt ut carmina, portas,
altera vera gerit, altera falsa tamen.
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55 Cornea vera trahit, producit eburnea falsa,


vera vident oculi, falsa per ora meant.
Rasile nam cornu, tener et translucet ocellus,
obtunsumque vehit oris hiatus ebur.
Non splendorem oculis, non sentit frigora cornu,
60 par denti atque ebori visque colorque manet.
Est portis istis virtus non una duabus,
os fert falsa, oculus nil nisi vera videt.
Pauca haec de multis brevibus constricta catenis
exempli causa sit posuisse satis.

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Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45   51

Quellen
Theodulf, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1881 (Nachdruck
1964, 1978, 1997).
Theodulf, Carmina, Addenda ad tomum I, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 2,
Nachträge zu MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1884 (Nachdrucke 1964, 1978, 1999),
694–697.
Servius, Commentarius I: Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Vol. I.
Aeneidos librorum I–V commentarii, ed. Georg Thilo/Hermann Hagen, Leipzig 1881.
Servius, Commentarius II: Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Vol. II.
Aeneidos librorum VI–XII commentarii, ed. Georg Thilo/Hermann Hagen, Leipzig 1884.

Literatur
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‚descriptio’ des Theodulf von Orléans“, Mittellateinisches Jahrbuch 39, 183–205.
Bullough (2004): Donald Bullough, Alcuin. Achievement and Reputation, Education and Society in
the Middle Ages and Renaissance 16, Leiden.
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Demats (1973): Paule Demats, Fabula. Trois études de mythographie antique et médiévale, Genève.
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des Etymologies d’Isidore de Séville“, Bulletin de l’Association Guillaume Budé 48, 394–405.
Freeman (1990): Ann Freeman, „Theodulf of Orléans: A Visigoth at Charlemagne’s Court“, in: L’Europe
héritière de l’Espagne wisigothique (Colloque internationale du CNRS tenu à la Fondation
Singer-Polignac), Paris, 185–194, jetzt in: Ann Freeman, Theodulf of Orléans: Charlemagne’s
Spokesman against the Second Council of Nicaea, Aldershot 2003, VIII.
Godman (1982): Alcuin. The Bishops, Kings, and Saints of York, edited by Peter Godman, Oxford.
Godman (1985): Peter Godman, Poetry of the Carolingian Renaissance, London.
Häse (2002): Angelika Häse, Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus dem Kloster Lorsch.
Einleitung, Edition und Kommentar, Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 42, Wiesbaden.
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Medieval Latin 13, 163–252.
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conservés“, in: Lectures médiévales de Virgile, Roma, 9–30.
Holtz (1998): Louis Holtz, „Vers la création des bibliothèques médiévales en Occident“, in:
Morfologie sociali e culturali in Europa fra Tarda Antichità e Alto Medioevo, Settimane di studio
del CISAM 45, Spoleto, 1059–1106.
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Jeunet-Mancy (2012): Servius. Commentaire sur l‘Enéide de Virgile. Livre VI, texte établi, traduit et
commenté par Emmanuelle Jeunet-Mancy, Paris.
Klopsch (1985): Lateinische Lyrik des Mittelalters, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Paul
Klopsch, Stuttgart.
Klopsch (1986): Paul Klopsch, „Die Christen und Ovid“, in: Irene Vaslef/Helmut Buschhausen (Hgg.),
Classica et Mediaevalia: Studies in Honour of Joseph Szövérffy, Washington/Leyden, 91–102.
Korte (2012): Petra Korte, Die antike Unterwelt im christlichen Mittelalter. Kommentierung – Dichtung
– philosophischer Diskurs, Tradition – Reform – Innovation 16, Frankfurt a. M. u. a.
Lehmann (1918): Paul Lehmann, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz.
1. Band. Die Bistümer Konstanz und Chur, München.

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52   Carmen Cardelle de Hartmann

Lendinara (1998): Patrizia Lendinara, „Mixed Attitudes to Ovid. The Carolingian Poets and the
Glossographers “, in: Luuk A. J. R. Houwen/Alasdair A. MacDonald (Hgg.), Alcuin of York:
Scholar at the Carolingian Court (Proceedings of the Third Germania Latina Conference held at
the University of Groningen, May 1995), Groningen, 171–213.
MacFarlane (1980): Katherine Nell MacFarlane, „Isidore of Seville and the Pagan Gods (Origines
VIII.11)“, Transactions of the American Philosophical Society, new series 70, 3–40.
Manitius (1886): Max Manitius, „Zu karolingischen Gedichten“, Neues Archiv 11, 553–563.
Milde (1968): Wolfgang Milde, Der Bibliothekskatalog des Klosters Murbach aus dem 9. Jahrhundert.
Ausgabe und Untersuchung von Beziehungen zu Cassiodors Institutiones, Heidelberg.
Munk Olsen (1987): Birger Munk Olsen, „Ovide au Moyen Âge“, in: Guglielmo Cavallo (Hg.), Le strade
del testo, 65-96.
Munk Olsen (1992): Birger Munk Olsen, „Les poètes classiques dans les écoles au IXe siècle“, in:
De Tertullien aux Mozarabes. Mélanges offerts à Jacques Fontaine. Tome II: Antiquité tardive
et christianisme ancien (VIe–IXe siècles), Paris, 197–210, jetzt auch in: Birger Munk Olsen, La
réception de la littérature classique au Moyen Âge (IXe–XIIe siècle), Copenhagen 1995, 35–46.
Nees (1991): Lawrence Nees, A Tainted Mantle. Hercules and the Classical Tradition at the
Carolingian Court, Philadelphia.
Pépin (1976): Jean Pépin, Mythe et allégorie: les origines grecques et les contestations judéo-
chrétiennes, Paris.
Schaller (1962): Dieter Schaller, „Philologische Untersuchungen zu den Gedichten Theodulfs von
Orléans“, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 18, 13–91.
Schaller/Brommer (1995): Dieter Schaller/Peter Brommer, „Theodulf von Orléans“, in: Die deutsche
Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 9, Berlin/New York 1999, 764–772.
Seznec (1980): Jean Seznec, La survivance des dieux antiques. Essai sur le rôle de la tradition
mythologique dans l’humanisme et dans l’art de la Renaissance, Paris (deutsche Übersetzung
von Heinz Jatho: Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus
und in der Kunst der Renaissance, München 1990).
Staubach (1994): Nikolaus Staubach, „Herkules an der ‚Cathedra Petri’“, in: Hagen Keller/Nikolaus
Staubach (Hgg.), Iconologia sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und
Sozialgeschichte Alteuropas. Festschrift für Karl Hauck zum 75. Geburtstag, Berlin/New York,
383-402.
Staubach (1998): Nikolaus Staubach, „Herkules in der Karolingerzeit“, in: Claudio Leonardi (Hg.),
Gli umanesimi medievali (II Congresso dell’„Internationales Mittellateinerkomitee“. Firenze,
Certosa del Galluzzo, 11–15 Settembre 1993), Firenze, 673–690.
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Michael Embach
Die Bibliothek des Mittelalters als
Wissensraum
Kanonizität und strukturelle Mobilisierung

1 Vorbemerkungen
Wenn man sich dem Thema „Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum“ nähert,
dann sind zunächst zwei Vorbemerkungen zu machen, die den Gegenstandsbereich
genauer in sich abgrenzen und schärfer ausprofilieren können.1
Erstens gilt, dass der Begriff „Wissensraum“ eine Schöpfung der Neuzeit ist. Eine
Bildung wie spatium scientiae oder spatium rationis ist für das Mittelalter nicht belegt,
und nach Äquivalenten zu suchen, dürfte schwierig sein. Selbst die Umschreibung
des Teilbegriffs Wissen birgt für das Mittelalter Probleme in sich. Begriffe dieser Art
haben nicht selten einen längeren Bedeutungswandel durchlaufen, der ihre termi-
nologische Fixierung kaum möglich erscheinen lässt. Insofern liegt mit dem Begriff
„Wissensraum“ eine epistemologische Kategorie vor, der zumindest in diachronischer
Hinsicht kein unmittelbar fassbarer Inhalt zugeordnet werden kann.
Zweitens sei hervorgehoben, dass an dieser Stelle ausschließlich der Typus der
mittelalterlichen Klosterbibliothek thematisiert werden soll. Eine Untersuchung ent-
sprechender Phänomene für den Bereich der Amts-, Adels- oder Universitätsbiblio-
thek kann hier nicht geleistet werden. Ich verweise stattdessen auf entsprechende
Forschungen von Frank Fürbeth zu den Sachordnungen der Bibliotheken des Mittel-
alters.2
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1 Das Thema der Historischen Wissensräume ist Gegenstand des Historisch-Kulturwissenschaftli-


chen Forschungszentrums Trier (Geschäftsführender Leiter: Prof. Dr. Martin Przybilski, Universität
Trier/Ältere Deutsche Philologie). Auch die nachfolgenden Ausführungen basieren auf einem Teilpro-
jekt des Forschungszentrums, dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt
„Virtuelles Skriptorium St. Matthias“. Ziel des von Frau Prof. Dr. Claudine Moulin (Universität Trier/
Ältere Deutsche Philologie und Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publika-
tionsverfahren in den Geisteswissenschaften), Frau Prof. Dr. Andrea Rapp (Technische Universität
Darmstadt/Germanistische Computerphilologie) und meiner Person (Stadtbibliothek Trier) geleiteten
Vorhabens ist es, die Handschriften der mittelalterlichen Bibliothek der Benediktinerabtei Trier-St.
Matthias/St. Eucharius zu digitalisieren und damit die Bibliothek virtuell zu rekonstruieren.
2 Fürbeth 2008; ders. 2009.

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54   Michael Embach

2 Der Wissensbegriff am Beginn der monastischen


Bibliotheksgeschichte
In einer geistesgeschichtlichen Betrachtung gilt das Jahr 529 gemeinhin als ein soge-
nanntes Sammeljahr. Damit ist eine Zeitspanne gemeint, in der verschiedene Ereig-
nisse von epochaler Bedeutung eine augenfällige zeitliche Koinzidenz aufweisen.3 So
ergriff Kaiser Justinian im Jahr 529 Maßnahmen, die zur Aufhebung der platonischen
Akademie in Athen führten, und Benedikt von Nursia (ca. 480–547) trat mit der Stif-
tung des Klosters Montecassino den Siegeszug des Benediktinerordens an. Da fällt es
nicht schwer, zwischen diesem zunächst rein zeitlichen Zusammenhang eine kausale
Verbindung herzustellen und den Übergang von der paganen Bildung der Antike hin
zur christlichen Bildung des Mittelalters als einen teleologischen Prozess zu betrach-
ten, dessen Entwicklungsgang einer höheren Zweckmäßigkeit unterliegt. Wie es der
Benediktiner Johannes Trithemius (1462–1516) in seiner 1494 erschienenen Schrift De
laude scriptorum insinuiert, avancieren durch einen solchen Paradigmenwechsel die
Mönche des heiligen Benedikt zu Erben und Testamentsvollstreckern der antiken Phi-
losophen und frühchristlichen Väter: Sapientia latet in cucullis, so lautet die zusam-
menfassende Legitimation dieser Auffassung, wobei man anstelle von sapientia hier
wohl eher von scientia sprechen sollte.4
Dass eine solche Sichtweise allerdings nicht unproblematisch ist, erweist schon
ein Blick auf das wichtigste Basisdokument der monastischen Wissenskultur, die
Regula Benedicti. Damit wir uns recht verstehen: Keineswegs soll die Tatsache geleug-
net werden, dass die europäische Bildungsgeschichte des Mittelalters in weiten Teilen
von den Monasten, und insbesondere von den Benediktinern, getragen wurde. Doch
dürfte ohne die Berücksichtigung einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive die
These einer primär monastisch akzentuierten Bildungsgeschichte des Mittelalters
nicht zu halten sein.
Schauen wir zunächst, welche Aussagen die Regula Benedicti zum Thema Bildung
und Wissen getroffen hat.5
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3 Jochum 2010, 62.


4 Embach 2000. In seinem gedruckt erschienenen Werk De laude scriptorum macht Johannes Trithe-
mius sich zu einem leidenschaftlichen Anwalt der alten monastischen Tradition des Abschreibens
von Texten. In einer Zeit, in der der Buchdruck sich längst etabliert hatte, verteidigt Trithemius diese
Tradition als einen Akt kontemplativer Versenkung in die Originalquellen der klösterlichen Lebens-
kultur. Zur Bedeutung des Phänomens Klosterhumanismus vgl. Müller 2006.
5 Benediktsregel 1982. Unsere Auswertung muss sich auf die wichtigsten Stellen der Regel beschrän-
ken. Eine Berücksichtigung der verschiedenen Consuetudines und ihrer Aussagen zum Lektürekanon
der jeweiligen Konvente ist nicht möglich.

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Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum   55

3 Bildung und Wissen in der Regula Benedicti


Die Regula Benedicti ist in mehr als 300 Handschriften überliefert, von denen die
älteste um 700 in Südengland entstanden ist (Oxford, Bodleian Library, Ms. Hatton
48).6 Volkssprachliche Ausgaben der Regel sind ab dem frühen 9. Jahrhundert in
einer althochdeutschen Übersetzung bezeugt, der eine angelsächsische Übersetzung
Bischof Aethelwolds von Winchester († 984) aus dem späten 10. Jahrhundert folgt.
Romanische Fassungen finden sich erst ab dem 13. Jahrhundert.7
Es ist bekannt, dass der Siegeszug der Benediktsregel ein über Jahrhunderte sich
erstreckender, mühsamer Prozess gewesen ist, der durch die Reformanstöße Karls des
Großen und Benedikts von Aniane (ca. 750–821) zwar kräftige Impulse erhielt, der
sich „auf dem flachen Land“ aber teilweise bis ins 10. Jahrhundert und weit darüber
hinaus hinzog. Und obwohl Benedikt von Aniane es auf den Reformsynoden von
Aachen (816/19) erreichte, dass die Regula Benedicti zur alleinigen Mönchsregel im
Frankenreich erklärt wurde, verzögerte sich ihre Einführung – um nur ein Beispiel
zu nennen – in der Abtei Trier-St. Matthias bis in die Zeiten des ottonischen Bischofs
Egbert (977–993).8
Benedikt selbst hatte in Rom ein Studium der Septem artes begonnen, es aber
nicht zu Ende geführt, da er in ihm einen potenziellen Weg zum Laster erblickte. „Er
zog sich also zurück, mit Wissen unwissend und aus Weisheit ungebildet“, so heißt es
in den Dialogi Gregors des Großen über den Ordensstifter.9 Damit erscheint Benedikt
als eine Gestalt, die in der Tradition des theodidaktos steht, eines Menschen also, der
allein von Gott unterrichtet ist. Dieses auf die Vita Antonii des Athanasius von Alexan-
drien (ca. 295–373) zurückgehende Ideal wurde in der Patristik geradezu topisch apo-
strophiert und fand im Mittelalter bei Gestalten wie Hildegard von Bingen (1098–1179)
und anderen Visionären eine bereitwillige Wiederaufnahme. Ansonsten gilt, dass
als Leitbild eines Mönchs, wie ihn die Regula Benedicti beschreibt, Christus selbst
erscheint, der damit in die Rolle eines Proto- oder Krypto-Benediktiners schlüpft. In
Bezug auf das Thema Wissen und Bildung bedeutet dies nicht eben viel: Dem Zeugnis
der Bibel zufolge konnte Christus zwar lesen und schreiben, doch sind die einzigen
von ihm tatsächlich geschriebenen Worte, wie die neutestamentliche Erzählung von
der Ehebrecherin (Joh 8,6) belegt, mit dem Finger in den Sand geschrieben. Der Lese-
kanon Christi wiederum erschöpfte sich, soweit uns dies bekannt ist, in den Schrif-
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ten des Alten Testaments beziehungsweise Teilen daraus. So berichtet die Perikope
Lk 4,16, Jesus habe in der Synagoge von Nazareth vorgelesen, und zwar aus dem Buch
Jesaja.

6 Ruh 1978, 703.


7 Ebd. 704.
8 Zu den Trierer Benediktinerabteien vgl. Die Söhne des heiligen Benedikt 2009.
9 Gregor der Große, Dialogi. Zitiert nach Benediktsregel 1982, 244.

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56   Michael Embach

Hinsichtlich des Themas Wissen, genauer gesagt hinsichtlich der Punkte Schrei-
ben und Lesen, äußert sich die Regula Benedicti vor allem in ihrem 48. Kapitel.10 Hier
wird, angepasst an den natürlichen Jahresablauf von Sommer und Winter und das
liturgische Tagesoffizium, ein Lektüreprogramm ausgebreitet, das sich zeitlich zwar
recht ausgreifend, inhaltlich jedoch eher eng, und zwar vollständig auf den Bereich
der Bibel bezogen, darstellt. Neben dem Alten und Neuen Testament werden Erklä-
rungen zu den biblischen Büchern genannt, die „von anerkannt rechtgläubigen
katholischen Vätern“11 stammen sollten, ansonsten nur noch der Psalter und der Text
der Regula Benedicti selbst.12 Und wenn Benedikt von der scola oder der bibliotheca
spricht, so geschieht auch dies nicht in einem wissensspezifischen Sinn. Vielmehr
meint scola das Kloster als Schule des Herrn (dominici scola servitii) und bibliotheca
die Heilige Schrift als das Buch der Bücher. Wie streng dieser Lektürekanon im monas-
tischen Alltag beobachtet wurde, beweist die Tatsache, dass während der Fastenzeit
zwei Brüder im Kloster umhergehen mussten und darauf zu achten hatten, dass die
Lesung auch tatsächlich erfolgte. War dies nicht der Fall, so drohte Strafe.13
Die gesamte monastische Conversio zielte demgemäß auf die Kenntnis und Verin-
nerlichung der Bibel ab. Eine nach heutigem Verständnis autonome, auf Sachlitera-
tur, Wissensaneignung oder Antikenrezeption gemünzte Lektüre war dagegen nicht
vorgesehen.
Noch drastischer fällt der Befund aus, wenn man die Bestimmungen der Bene-
diktsregel zu den Schreibutensilien in den Blick nimmt. So heißt es in Kapitel 33, das
über die Frage handelt, ob die Mönche Eigentum besitzen dürften: „Keiner nehme
sich heraus, ohne Geheiß des Abtes etwas wegzugeben oder zu empfangen oder
etwas zu eigen zu besitzen, durchaus nichts“ – und dann weiter „weder Buch, noch
Täfelchen, noch Griffel, nein, überhaupt nichts.“14 Diese Regelung wird in Kapitel
55, Vers 18–19 im Zusammenhang des Sonderbesitzes der Mönche noch einmal wie-
derholt: „Um dieses Laster des Sonderbesitzes mit der Wurzel auszurotten, stelle der
Abt alles Notwendige zur Verfügung, nämlich Kukulle, Tunika, leichtes und schweres
Schuhwerk, Gürtel, Messer, Griffel, Nadel, Tüchlein, Täfelchen, damit sich keiner ent-
schuldigen kann, es fehle ihm etwas Notwendiges.“15 Damit ist klar, dass auch das
Schreiben und Anfertigen von Texten als eine Tätigkeit betrachtet wurde, die sich der
Verfügungsgewalt des einzelnen Mönchs entzog. Sie besaß keinen autonomen, sub-
jektiven Status, sondern wurde gewissermaßen offiziell vom Kloster beziehungsweise
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10 Benediktsregel 1982, 235–245.


11 Ebd. 139 [Kapitel 9, Vers 8].
12 Ebd. 311 [Kapitel 66, Vers 8]: Wir wollen, dass diese Regel öfter in der Gemeinschaft gelesen wird,
damit sich kein Bruder mit Unkenntnis entschuldigen kann.
13 Ebd. 242.
14 Ebd. 197 [Kapitel 33, Vers 3].
15 Ebd. 263 [Kapitel 55, Vers 18–19].

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Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum   57

dem Abt an den einzelnen Schreiber delegiert und bedurfte von daher der Genehmi-
gung der Klosteroberen.
Soweit die in puncto Wissensaneignung doch recht restriktiven Bestimmungen
der Benediktsregel. Schauen wir nun, in welcher Weise sich dieser frühe Bildungsiko-
noklasmus auf die Zusammensetzung und die geistige Ausrichtung benediktinischer
Bibliotheken des Mittelalters ausgewirkt hat.

4 Der Maximiner Bibliothekskatalog von circa 1125

Ein in der Trierer Handschrift 2209/2328 2°, Bd. 2 (fol. 1r) niedergelegter Bibliotheks-
katalog der Abtei Trier-St. Maximin aus der Zeit um 1125 weist im Ganzen 151 Codices
nach.16
Der nachträglich in die Handschrift eingetragene Katalog findet sich auf der Rec-
toseite von fol. 1 des zweiten Bandes. Beide Bände zusammen enthalten eine aus dem
dritten Viertel des 10. Jahrhunderts stammende Abschrift der Moralia in Iob Gregors
des Großen. Der mit reichhaltigen Verzierungen ausgestattete Text gilt Hartmut Hoff-
mann zufolge als „das Hauptwerk des Skriptoriums von St. Maximin in der Zeit vor
dem Egbertcodex“.17 Die Initialkunst der beiden Bände weist deutliche Spuren einer
Beeinflussung durch das Skriptorium von Tours auf. Die Systematik und die aufge-
zählten Schriften des Maximiner Katalogs geben noch sehr deutlich die grundlegen-
den Vorschriften der Regula Benedicti zu erkennen. Im Zentrum stehen die Bibel und
ihre Kommentierungen, während der Bereich der profanen Wissensliteratur nahezu
vollständig ausgeblendet bleibt. Der Bestand der Bibliothek ist in neun Sachgruppen
eingeteilt, von denen acht im Katalog über entsprechende Rubriken auch terminolo-
gisch ausgewiesen sind. Nur die letzte Abteilung versammelt ohne eigene Überschrift
Schriften heterogenen Inhalts. Sie könnte unter der Rubrik „Quodlibetica“ zusam-
mengefasst werden.
Zu Beginn erscheinen die Libri de armario Sancti Maximini. Hierbei handelt es sich
um besonders geschützte und separat aufgestellte Codices, die Ausgaben der Bibel
oder biblischer Bücher enthalten. Im Einzelnen werden aufgeführt: zwei Pandekten
(Bibliothecae due maiores perfectae), eine Ausgabe des Alten Testaments mit den Pau-
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lusbriefen (item alia minor in qua vetus tantum testamentum cum epistolis Pauli), ein

16 Kentenich 1910, 158–159. Der Maximiner Katalog ist ediert bei Kraus 1869, Becker 1885, 178–181 (Nr.
76) sowie bei Knoblich 1996, 120–124 mit Abb. 147. Zur Bibliothek von St. Maximin vgl. auch Knoblich
1999, 1040–1041.
17 Hoffmann 1986, 497.

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58   Michael Embach
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Abb. 3: Trier, Stadtbibliothek, Hs. 2209/2328 2°, Bd. 2, fol. 1r: Bibliothekskatalog von Trier-St.
Maximin, ca. 1125.

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Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum   59

Textus evangelii unus auro scriptus, hinter dem sich das berühmte Ada-Evangeliar der
Stadtbibliothek Trier (Hs 22) verbergen dürfte, sowie fünf weitere Evangeliare.18
Als nächste Hauptkategorien folgen die Schriften der vier westlichen Kirchen-
väter Augustinus, Hieronymus, Ambrosius und Gregor der Große (Augustiniani
Libri, Ieronimiani Libri, Ambrosiani Libri, Gregoriani Libri). Sie beinhalten das, was
die Benediktsregel unter die Erklärungen der Bibel durch „anerkannt rechtgläubige
katholische Väter“ zählt. Die weiteren Rubriken sind zunächst zwei bedeutenden
Vermittlern spätantiken Wissens an das Mittelalter gewidmet, Beda Venerabilis (ca.
672–735) und Isidor von Sevilla (ca. 560–636). Bei Beda, der mit stattlichen 14 Codices
vertreten ist, überwiegen die Bibelkommentare (von der Apokalypse bis zu Markus
und Lukas), gefolgt von den komputistischen Schriften (De temporibus tres) und der
Geschichte des englischen Volkes. Isidor erscheint mit einem Kommentar zu den
fünf Büchern Mose, den Etymologien und einem nicht genauer zu identifizierenden
Werk scottice scriptus. Es folgen homiletische und exegetische Schriften des Johannes
Chrysostomus und des Haimo von Auxerre (Jesaja-Kommentar) sowie eine circa 50
Nummern starke Abteilung gemischten Inhalts. Sie besteht aus historischen Schrif-
ten (Historia Romana, Historia tripartita, Gesta Karoli et eius successorum), anderen
Ordensregeln (Smaragd von St. Mihiel, Diadema monachorum; Glosae super regulam
sancti Benedicti), liturgischen Texten (Ordo romanus, Amalarius [?], Liber de officiis
ecclesiasticis), weiteren Vätertexten (Vitas patrum) sowie einigen wenigen Abhand-
lungen zur Theologie (Athanasius, De sancta trinitate). Zu erwähnen sind ferner eine
Expositio Psalterii scottice scripta und ein singulärer Liber theutonicus. Bei letzterem
könnte es sich um ein noch heute in der Stadtbibliothek Trier liegendes Fragment der
althochdeutschen Lex salica handeln.19
Die Literatur des Mittelalters ist außer durch Beda Venerabilis und Amalarius von
Trier (Metz) nur durch zwei weitere „moderne“ Autoren vertreten, Hrabanus Maurus
(De ecclesia catholica) und Alkuin (Johannes-Kommentar). Kein einziger Autor jen-
seits der karolingischen Renaissance ist vorhanden, und die zeitgenössische Literatur
des 11. und frühen 12. Jahrhunderts bleibt vollständig ausgeblendet.
Damit erweist sich der Maximiner Bestand als extrem konservativ, oder, um beim
Thema zu bleiben, den Anweisungen der Regula Benedicti konform, eine Aussage, die
naturgemäß unter dem Vorbehalt steht, dass die Bibliothekstopographie eines mittel-
alterlichen Klosters durch Aufsplitterung der Bestände nach spezifischen Standorten
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gekennzeichnet war. So müssen wir mit eigenen Buchbeständen in der Sakristei, der

18 Zum Ada-Evangeliar vgl. Embach 2010. Das um 795/810 entstandene Ada-Evangeliar gilt als das
typenbildende Hauptwerk der Hofschule Karls des Großen. Die Handschrift enthält den ganz in Gold
geschriebenen Text der vier Evangelien. Berühmt sind die vier Bilddarstellungen der Evangelisten.
Der Name Ada-Evangeliar leitet sich von einer angeblichen Schwester Karls des Großen her, die den
Codex gestiftet und in Auftrag gegeben haben soll.
19 Embach 2012, 426–427.

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60   Michael Embach

Infirmarie, der Abtsstube und im Refektorium, möglicherweise auch in der Schule,


rechnen.
Vor allem aber überrascht im Maximiner Katalog das vollständige Fehlen von
Autoren der Antike, der Septem artes-Literatur sowie von Kompilationswerken in der
Deszendenz des Isidor von Sevilla. Andere Klöster besaßen zu dieser Zeit längst Aus-
gaben von Hrabans De natura rerum, des Liber Floridus Lamberts von Saint Omer, des
Summarium Heinrici oder vergleichbarer Kompendien der post-isidorischen Realien-
literatur.
Die Absenz antiker Autoren und von Werken der Schulliteratur wiederum kann
eigentlich nur zwei Gründe haben: Entweder waren die Schultexte separat aufgestellt
oder die akademische Ausbildung der angehenden Mönche war in St. Maximin nicht
so wichtig wie etwa in Trier-St. Matthias und Echternach, Klöstern, die durch eine
reiche Ausstattung mit Werken der antiken Literatur, lateinischen und griechischen
Grammatiken und Schriften der semi-profanen Wissensliteratur gekennzeichnet
sind.20
Vergleicht man den Maximiner Katalog von circa 1125 mit den Beständen von St.
Gallen, Trier-St. Matthias (Eucharius) oder Echternach, so erhärtet sich der Eindruck
einer stark konservativen Ausrichtung. Die Sankt Galler Handschrift, Stiftsbibliothek,
Cod. 728, eine Zusammenstellung der Kapitularien des Ansegis, der Lex salica und
der Lex Ribuaria, enthält auf S. 4 einen Bibliothekskatalog, der unter der Überschrift
Libri Scottice scripti circa 30 verschiedene Codices aufführt.21 Das in die Jahre 884 bis
888 datierte Verzeichnis enthält den ältesten erhaltenen Katalog der Stiftsbibliothek
St. Gallen. Es weist zwar auch die üblichen Bibeltexte mit ihren Kommentaren, ferner
patristische, hagiographische, liturgische und kirchenrechtliche Schriften nach,
doch sind zudem bereits Schulbücher vorhanden. Genannt seien Beda Venerabilis
mit seiner Schrift De arte metrica oder Boethius mit seinem Werk De arithmetica. Es
findet sich sogar ein Metrum Vergilii mit einer zugehörigen Glosse, vermutlich dem
Kommentar des Servius. Im Zwischenbereich von Christentum und Antike angesie-
delt sind zwei Werke des Juvencus (306–337) und des Sedulius († 450). Ersterer ist
als Verfasser einer in lateinischen Hexametern geschriebenen Evangelienharmonie,
der Evangeliorum libri quattuor, letzterer als Schöpfer einer ebenfalls metrischen
Nacherzählung des Lebens Jesu, des berühmten Carmen paschale, bekannt. Das Ver-
zeichnis ist umso interessanter, als es lediglich die insular geprägten Bestände St.
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20 Zur Bibliothek der Abtei Trier-St. Matthias (Eucharius) vgl. Becker 1996, 76–240, sowie Embach/
Moulin 2012.
21 Beschreibung der Handschrift vgl. Scherrer 1875, 233–235. Die Handschrift ist mittlerweile in di-
gitaler Form über das Portal e-codices. St. Gallen, Stiftsbibliothek benutzbar. Der Bibliothekskatalog
wurde mehrfach ediert. Vgl. Becker 1885, 43–53 (Nr. 22) und Lehmann 1918, 66–82 (Nr. 16). Vom Bib-
liothekskatalog der Handschrift 728 wurde gegen Ende des 9. Jahrhunderts eine Abschrift hergestellt,
die sich im Codex St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 267 erhalten hat. Zur Systematik des Kataloges vgl.
Umstätter/Wagner-Döbler 2005, 26–30.

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Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum   61

Gallens (Libri scottice) aufführt, vermutlich eben deshalb, weil diese gegen Ende des
9. Jahrhunderts aufgrund ihrer altertümlichen Schriftart nicht mehr gut lesbar waren.
Möglicherweise sollten sie zur Makulierung ausgesondert und durch neue Abschrif-
ten ersetzt werden, möglicherweise besaßen sie aber auch einen besonderen Status,
da sie auf die iro-fränkische Gründung St. Gallens zurückverwiesen. Wie dem auch
sei, es ist damit zu rechnen, dass die „moderne“ Klosterbibliothek St. Gallens mit den
„Non-Scottica“ noch sehr viel stärker an der Antike und der aufsprießenden Wissens-
literatur der Zeit orientiert war als dies für die Libri scottice galt. In diesem Zusammen-
hang hat Andrea Zur Nieden darauf hingewiesen, dass die Bibliothek von St. Gallen
ihren stärksten Aufschwung im 9. Jahrhundert erfahren hat. Ebenso wie das Kloster
Reichenau habe auch St. Gallen zu dieser Zeit bereits „das Doppelte von 200 Bänden,
die als Richtgröße für eine große frühmittelalterliche Bibliothek angesetzt wurden“22,
besessen. Dabei falle auf den ersten Blick der hohe Anteil an Klassikerausgaben auf,
der insbesondere zum Studium in der Schule gedient habe.23
Wie manifest das Thema Bildung und Wissen im Laufe der Zeit tatsächlich in
die Bestandsprofile benediktinischer Bibliotheken einbrechen konnte, beweisen die
Bestände der Bibliotheken von Trier-St. Matthias (Eucharius) und Echternach. Sie
machen deutlich, dass gegen Ende des 10. und zu Beginn des 11. Jahrhunderts ein
kräftiger Aufschwung in den akademischen Studien eintrat, der vermutlich mit der
Einführung der Benediktsregel zusammenhing. Ein in Trier derzeit laufendes Projekt
zur Digitalisierung und virtuellen Rekonstruktion der Bibliothek von St. Matthias
(Eucharius) eröffnet die Möglichkeit, sich hierüber einen detaillierten Einblick zu
verschaffen (www.stmatthias.uni-trier.de).
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Aufschwung der Bibliotheken von St.
Matthias und Echternach mit der Entwicklung der Klosterschulen zusammenhing,
mögen daneben auch andere Gründe wie die inner-benediktinische Reform des 10.
Jahrhunderts (Gorze und St. Maximin) oder der Einfluss Gerberts von Aurillac (ca.
950–1003), des späteren Papstes Silvester II., hinzukommen.24 Die Echternacher
Klassikergruppe mit ihren kommentierten Ausgaben des Vergil, Horaz, Arator, Avian,
Persius, Juvenal, Lukan, Statius, Terenz und vieler anderer mehr spricht hier für
sich.25 Hinzu kommen Grammatiken des Priscian, die Disticha Catonis, Kommentar-
werke des Boethius zu Aristoteles sowie zahlreiche Schriften zu einzelnen Disziplinen
der Septem artes liberales.
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22 Zu Bibliothek und Skriptorium von St. Gallen: Zur Nieden 2008, 281–304, hier 284.
23 Zum Kanon der mittelalterliche Schullektüre vgl. Glauche 1970. Henkel 1988, insbesondere 56–64
(Verzeichnis lateinischer Texte, die im Mittelalter im deutschen Sprachraum als Schultexte verwendet
wurden).
24 Zur Schule und zum geistigen Leben in der Abtei Trier St. Matthias vgl. Becker 1996, 456–476.
25 Zu den Echternacher Klassiker-Handschriften vgl. Schroeder 1975.

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62   Michael Embach

Doch ist es keineswegs nur der Bestand der Bibliothek, der sich ändert und erwei-
tert. Entscheidende Bedeutung besitzen, und damit komme ich zum Begriff der struk-
turellen Mobilisierung von Wissen, die intensiven Eingriffe in den Grundtext einer
Handschrift, die sich in Form von Glossen, Scholien und Kommentierungen äußern.
Ich sehe in diesen Eingriffen eine potenzierte Form der Wissensaneignung bezie-
hungsweise Wissensvermittlung, da es durch sie zur Herausbildung eines ergänzen-
den semantischen Systems kommt, innerhalb dessen auf eine „wissenschaftliche“
Weise Meinungen artikuliert, Standpunkte ausgetauscht und neue Erkenntnisse for-
muliert werden. Der Rezipient beginnt, sich als eigenständiges Erkenntnissubjekt von
der alleinigen Autorität des Autors oder eines normsetzenden Masterminds, dessen
Kommentierungen als kanonisch angesehen werden, zu emanzipieren und sich
Wissen in einer ihm gemäßen Form anzueignen, mögen die Glossen und Scholien
auch häufig noch in schulmäßiger Weise tradiert worden sein. Der Text und das in
ihm zugrunde gelegte Wissen entwickeln sich zu einer Art Aktivpotenzial, das einen
höheren Grad von Wirkung zu entfalten vermag als die „nackte“ Vorlage allein. Nicht-
glossierende und glossierende Textlektüre unterscheiden sich daher nicht nur gra-
duell, sie unterscheiden sich systematisch voneinander. Während erstere primär mit
dem Autor dialogisiert, ist letztere auf ein zusätzliches Referenzsystem unterschiedli-
cher Meinungen und Inhaltsebenen bezogen, deren Berücksichtigung die Lektüre in
den Rang einer „Wissenschaft“ erhebt. Damit ist zugleich gesagt, dass diese Wissen-
schaft ein Hortus conclusus ist, der nur den Eingeweihten, das heißt den Gebildeten
oder Lateinkundigen, offenstand.
Es wäre reizvoll, diese Gesichtspunkte anhand einer großen Glossenhandschrift,
etwa des aus Echternach stammenden Trierer Codex, Hs. 1093/1694 gr. 2°, einer
bedeutenden Schulhandschrift mit zentralen Texten der lateinischen Antike sowie
zahlreichen lateinischen und deutschen Glossen, näher zu beleuchten.26 Aus Raum-
gründen muss dies hier unterbleiben. Ich verweise stattdessen auf eine kurz vor dem
Abschluss stehende Dissertation von Falco Klaes (Universität Trier/Ältere Deutsche
Philologie) über die althochdeutsche Glossographie in Handschriften aus dem Raum
Trier.
An dieser Stelle sollen zumindest kurz zwei weitere Sachverhalte angesprochen
werden, die mir im Hinblick auf eine genauere Umschreibung des Begriffs „Wissens-
raum“ im Mittelalter wichtig erscheinen.
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Zum einen sei hervorgehoben, dass die Glossatoren der antiken Texte ihre Tätig-
keit keineswegs nur in lateinischer Sprache verrichtet haben. Gerade am Beispiel der
eben genannten Glossenhandschrift lässt sich zeigen, dass die Praxis des Glossierens
auch in der Volkssprache stattfand. Der Codex enthält circa 780 Glossen in althoch-
deutscher Sprache. Dies bedeutet zugleich, dass die Glossatoren wortschöpferisch
aktiv waren. Nicht selten waren sie Pioniere in der Herausbildung einer volkssprach-

26 Zur Handschrift 1093/1694 gr. 2° vgl. Keuffer 1931, 22–26 sowie Embach/Nolden 2010, 18–19.

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Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum   63

lichen Wissenschaftssprache. Ähnliches trifft auf den Bereich der Übersetzungen


zu, wie wir ihn ja insbesondere für Bibliothek und Skriptorium der Abtei St. Gallen
belegen können. Zahlreiche Erstverwendungen aus der spätalthochdeutschen und
frühmittelhochdeutschen Epoche finden sich in Glossen- und Übersetzungswerken.
Der volkssprachliche Wortschatz dieser Epoche ist, dies haben die Untersuchungen
von Rolf Bergmann und seiner Schule hinlänglich bewiesen, bis zu etwa zwei Dritteln
sogar ausschließlich aus der glossatorischen Überlieferung geschöpft.27 Was damit
geleistet wurde, kann als eine gewaltige Inkulturation antiken Wissens und zeitge-
nössischer Bildung in den Bereich der indigenen Sprachen und Literaturen des Mit-
telalters bezeichnet werden. Wie weit dieser Prozess der Inkulturation gehen konnte,
mag eine Glossenhandschrift des 11. Jahrhunderts aus Trier-St. Matthias (Eucharius)
zeigen (Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars, Hs. 61, foll. 39–41, 115v).28
Der Codex enthält nicht nur Glossen, sondern auch Runen. Dies ist sehr unge-
wöhnlich. Runen waren etwa seit dem Jahre 800 nicht mehr im Gebrauch. In ger-
manischer Zeit dienten sie vor allem als Zeichen im Rahmen von kultischen Zusam-
menhängen. Hier in unserer Handschrift greift nun ein Mönch des 11. Jahrhunderts
zur Feder und trägt am oberen Rand seines Textes vier verschiedene Runenalphabete
ein. Es sind dies: Isrunen, Lago-, Hahal- und Stopfrunen.29 Ja mehr noch, er beginnt
sogar, selbst Texte in Runenschrift zu verfassen. Auch wenn ihm hierbei manche
Fehler unterlaufen, so gewährt sein dokumentarisches Wirken doch ein deutliches
Zeichen für den Bildungshunger und die Aufgeschlossenheit der Mönche gegenüber
allem, was Wissen betrifft. Auch das „heidnische“ Ausdrucksverhalten längst ver-
gangener Zeiten ist es noch wert, festgehalten zu werden. Hierzu passt, dass zahlrei-
che Handschriften, insbesondere aus St. Maximin, lateinische und volkssprachliche
Zauber- und Segenssprüche überliefern, die zum Teil auf paganem, zum Teil auch
auf christlichem Traditionsgut basieren. Für die volkssprachlichen Sprüche gehen
diese Denotate bis in die Zeit des Althochdeutschen beziehungsweise Altsächsischen
zurück.30
Die emsigen Benediktinermönche offenbaren sich hierin als Paläontologen des
Geistes, die ihre Aufgabe darin erblicken, Wissen zu archivieren und – ohne jegliche
Rücksicht auf seine weltanschauliche Ausrichtung – vom Aussterben zu bewahren.

Wir sind damit bei der Frage angekommen, wo die Grenzen einer solchen Form wis-
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sensbasierter Aktivitäten lagen. Waren die Bibliotheken, Skriptorien und Schulen der

27 Bergmann/Stricker 2005, Bd. 1, 58. Siehe auch Bergmann/Stricker 2009.


28 Marx 1912, 50–51; Rapp/Embach 2007, 48–52 [mit Abb.]. Zur Entzifferung der Runen wurde eine
Tabelle verwendet, die den Buchstaben- bzw. Lautwert der Runen darstellte.
29 Zu den verschiedenen Runenschriften, ihrer Verwendung und Geschichte vgl. die einschlägigen
Einträge im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 25 (Müller 2003), 499–596.
30 Zu den Zauber- und Segenssprüchen aus dem Raum Trier vgl. Embach 2007, 61–108.

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Abb. 4: Trier, Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars, Hs. 61, fol. 39r: Runenschrift

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Klöster jener Zeit embryonale Vorstufen der Universitäten des späten Mittelalters und
der Frühen Neuzeit oder gab es Mauern, die nicht mehr zu überspringen waren?

5 Grenzen des monastischen Bildungshungers


Ich möchte versuchen, Antworten auf diese Fragen anhand zweier Beispiele aus dem
12. und 15. Jahrhundert zu geben, wobei dies hier allerdings nur noch in aphoristi-
scher Kürze geschehen kann.
Nimmt man den Hortus Deliciarum der gelehrten Stiftsdame Herrad von Hohen-
burg (ca. 1125–1196) zur Hand, so begegnet man im vorderen Teil ihres Werkes einer
Miniatur der Septem artes liberales.31
Die zugehörigen Texte und Bilder sind von programmatischer Aussagekraft,
bedürfen aber auch der Interpretation. Einerseits liefert die Miniatur ein pathetisches
Bekenntnis zum Bildungskanon der Antike mit den seit langem zum Kurrikulum der
akademischen Ausbildung gehörenden Fächern des Trivium und des Quadrivium.
Andererseits werden die weltlichen Wissenschaften durch die Gestalt der Philosophia
christiana, aus deren Herzen die sieben Ströme der Weisheit fließen, gewissermaßen
getauft und christianisiert. Hierzu passt, dass Sokrates und Plato als Repräsentanten
der antiken Philosophie das Suppedaneum, die Fußbank der thronenden Philosophia
christiana, bilden und die poetae vel magi als Vertreter der weltlichen Literatur aus
dem Kosmos der christlichen Wissensgesellschaft kategorisch ausgeschlossen sind.
Krähen als mythische Vögel des Todes flüstern ihnen Verderben bringende Botschaf-
ten ins Ohr. Sie erweisen die weltlichen Dichter und Gelehrten als Kontratypen zu
den vier Evangelisten, denen die Taube des Heiligen Geistes die Botschaft des Lebens
einhaucht.
Wir erkennen in dieser Miniatur eine bewusst gebrochene, weltanschaulich gerei-
nigte Form des antiken und mittelalterlichen Bildungskanons, auch wenn der weitere
Text des Hortus Deliciarum die Einschränkung auf rein christliches Bildungsgut kei-
neswegs durchhält und antike Mythologeme wie die Odyssee des Homer in großem
Stil herbeizitiert. Der Schritt weg von der Schule des Klosters und hin zur Universität
der Stadt, in der die Freien Künste unbeanstandet gefeiert werden, ist aber noch nicht
vollzogen.
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Noch problematischer stellt sich die Situation im 15. Jahrhundert dar, als der
auf das Ziel der Bildung hin fokussierte Humanismus geistlicher Kreise manche
Klosterstube in ein rein weltliches Studierzimmer zu verwandeln drohte. Es ist

31 Green/Evans 1979, Bd. 1, 33. Die Originalhandschrift des Hortus Deliciarum wurde von den preu-
ßischen Truppen im Krieg von 1870/71 bei einem Bombardement der Stadt Straßburg zerstört. Auf
der Grundlage zuvor erstellter Abbildungen konnten jedoch weite Teile der Handschrift rekonstruiert
werden.

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Abb. 5: Herrad von Hohenburg, Hortus Deliciarum; aus: Green/Evans 1979, Bd. 2, 57, Abb. 33: Minia-
tur der Septem artes liberales

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Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum   67

bekannt, dass der bereits erwähnte Klosterhumanist Johannes Trithemius, ebenfalls


ein Sohn des heiligen Benedikt, in seinem Heimatkloster Sponheim eine der größten
Bibliotheken seiner Zeit aufbaute.32 Allein gut 100 Codices in griechischer Schrift
waren Bestandteil der als achtes Weltwunder geltenden Sammlung. Auf der anderen
Seite führten gerade diese Bibliomanie und der sich darin verkörpernde Bildungsfu-
ror zur Absetzung und Vertreibung des großen Humanisten sowie zur bewusst voll-
zogenen Zerstreuung seiner Bibliothek durch die Nachfolger im Amt, eine geradezu
krasse Form der Damnatio memoriae.
Es wird an diesen Beispielen deutlich, dass die Spielräume monastischer Bib-
liotheken im Spannungsfeld von Kanonizität und struktureller Mobilisierung in den
circa eintausend Jahren zwischen 500 und 1500, die wir in den Blick genommen
haben, zwar gewaltig erscheinen, dass ihnen jedoch auch deutliche Grenzen gesetzt
waren. Um es auf den Punkt zu bringen: Die latent drohende Entwicklung von der
Scientia Dei zur Scientia mundi konnte und durfte nicht vollständig zum Tragen
kommen, wollten monastische Bibliotheken das bleiben, was sie der Ursprungsin-
tention ihres Stiftervaters Benedikt von Nursia gemäß sein sollten: nicht Räume des
Wissens, sondern Rüstkammern der Erkenntnis Gottes.

Quellen
Benediktsregel (²1982): Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben. Der vollständige
Text der Regel lateinisch-deutsch. Übersetzt und erklärt von Georg Holzherr, Abt von Einsiedeln,
Zürich.

Literatur
Arnold (²1991): Klaus Arnold, Johannes Trithemius (1462–1516), Quellen und Forschungen zur
Geschichte des Hochstifts Würzburg 23, Würzburg.
Becker (1885): Gustav Becker, Catalogi bibliothecarum antiqui, Bonn.
Becker (1996): Petrus Becker, Die Benediktinerabtei St. Eucharius-St. Matthias vor Trier, Germania
Sacra, 34, 8, Berlin/New York.
Bergmann/Stricker (2005): Rolf Bergmann/Stefanie Stricker, Katalog der althochdeutschen und
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altsächsischen Glossenhandschriften, 6 Bde., Berlin/New York.


Bergmann/Stricker (2009): Rolf Bergmann/Stefanie Stricker, Die althochdeutsche und altsächsische
Glossographie. Ein Handbuch, Berlin/New York.
Die Söhne des heiligen Benedikt (2009): Die Söhne des heiligen Benedikt in Trier – Die vier
großen Benediktinerabteien der Stadt (Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Trier,
Museumsführer, 6), Trier.

32 Arnold 1991, 76–73.

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68   Michael Embach

Embach (2000): Michael Embach, „Skriptographie versus Typographie: Johannes Trithemius’ Schrift
De laude scriptorum“, Gutenberg-Jahrbuch 75, 132–144.
Embach (2007): Michael Embach, Trierer Literaturgeschichte. Das Mittelalter, Geschichte und Kultur
des Trierer Landes 8, Trier.
Embach (2012): Michael Embach, „Fragment einer althochdeutschen Lex-Salica-Übersetzung“, in:
Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike bis zum Mittelalter (Ausstel-
lungskatalog), Magdeburg, 426–427.
Embach/Moulin (2013): Michael Embach/Claudine Moulin (Hgg.), Die Bibliothek der Abtei St.
Matthias in Trier – Von der mittelalterlichen Schreibstube zum virtuellen Skriptorium, Trier.
Embach/Nolden (2010): Michael Embach/Reiner Nolden, Kostbare Handschriften und Urkunden
aus Echternach und Trier. Eine Ausstellung der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs Trier. Mit
Leihgaben aus der Nationalbibliothek Luxemburg und dem Domschatz Trier (Ausstellungs-
kataloge Trierer Bibliotheken, 42), Trier.
Fürbeth (2008): Frank Fürbeth, „Sachordnungen mittelalterlicher Bibliotheken als Rekonstruk-
tionshilfen“, in: Andrea Rapp/Michael Embach (Hgg.), Rekonstruktion und Erschließung
mittelalterlicher Bibliotheken, Mainz, 87–103.
Fürbeth (2009): Frank Fürbeth, „Deutsche Privatbibliotheken des Spätmittelalters und der Frühen
Neuzeit. Forschungsstand und –perspektiven“, in: Andrea Rapp/Michael Embach (Hgg.), Zur
Erforschung mittelalterlicher Bibliotheken. Chancen – Entwicklungen – Perspektiven. Frankfurt
a. M., 185–208.
Glauche (1970): Günter Glauche, Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des
Lektürekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt, Münchener Beiträge zur Mediävistik und
Renaissance-Forschung 5, München.
Green/Evans (1979): Rosalie Green/Michael Evans/Christine Bischoff/Michael Curschmann (Hgg.),
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Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum   69

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Julia Becker
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen
Lorsch als „patristische Zentralbibliothek“

1 Einleitung
Quamvis enim melius sit bene facere quam nosse, prius tamen est nosse quam facere.1
Dieses ursprünglich aus der vierten Predigt des Erzbischofs Caesarius von Arles (502–
542) stammende Zitat findet sich in gekürzter Form in der Epistola de litteris colendis,
die Karl der Große wohl um das Jahr 787 zunächst an Abt Baugulf von Fulda (779–802)
richtete, um sie später als Rundschreiben an alle Bischöfe und Äbte seines Reiches zu
vermitteln.2 Darin ist kurz und knapp das Motto der karolingischen Bildungsreform
auf den Punkt gebracht. Diese wurde durch die zentralen und richtungweisenden
Kapitularien Karls des Großen – die Epistola de litteris colendis (um 787), die Admo-
nitio generalis von 7893 und die Epistola generalis (zwischen 786 und 800)4 – einge-
leitet.5 Ihr Inhalt scheint zunächst allgemein auf die Förderung der „Wissenschaften“
(litterarum studia)6 beziehungsweise auf das Studium der artes liberales abzuzielen.7
Doch Karl dem Großen und seinen gelehrten Ratgebern ging es grundsätzlich nicht
nur um die Wiederbelebung der Wissenschaften, sondern vor allem um die Richtig-
keit und die korrekte Weitergabe von „Wissen“.8 Aus diesem Grunde sollten fehler-
hafte Bücher korrigiert9 beziehungsweise die fehlerhafte Ausfertigung von Büchern

1 MGH Capit. 1, 78–79, Nr. 29: Obwohl es nämlich besser ist, was richtig ist, zu tun, als es zu wissen,
kommt dennoch das Wissen vor dem Handeln.
2 Zur Epistola de litteris collendis vgl. Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Stengel, 251–254, Nr. 166;
Berschin 1991, 101–113.
3 Jüngst kritisch ediert und übersetzt von Mordek/Zechiel-Eckes/Glatthaar 2012.
4 MGH Capit. 1, 80–81 Nr. 30.
5 Vgl. auch Berschin 1991, 101.
6 Quamobrem hortamur vos litterarum studia non solum non neglegere, verum etiam humillima et deo
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placita intentione ad hoc certatim discere … MGH Capit. 1, 79, Nr. 29.
7 Igitur quia curae nobis est, ut nostrarum ecclesiarum ad meliora semper proficiat status, oblittera-
tam pene maiorum nostrorum desidia reparare vigilanti studio litterarum satagimus officinam, et ad
pernoscenda studia liberalium artium nostro etiam quos possumus invitamus exemplo. MGH Capit. 1,
80, Nr. 30.
8 … ut, qui Deo placere appetunt recte vivendo, ei etiam placere non negligant recte loquendo. […] Et
bene novimus omnes, quia, quamvis periculosi sint errores verborum, multo periculosiores sunt errores
sensuum. MGH Capit. 1, 79, Nr. 29.
9 Inter quae iam pridem universos veteris ac novi instrumenti libros, librariorum imperitia depravatos,
Deo nos in omnibus adiuvante, examussim correximus. MGH Capit. 1, 80, Nr. 30. Ähnlich auch in der
Admonitio generalis: Psalmos, notas, cantus, compotum, grammaticam per singula monasteria vel epi-

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grundsätzlich vermieden werden,10 um das richtige Verständnis der „göttlichen


Schriften“ nicht zu gefährden.11 Bereits Cassiodor (ca. 485–580) forderte in seinen
Institutiones divinarum et saecularium litterarum, einer Einführung in die geistli-
chen und weltlichen Wissenschaften, beim Lesen der Heiligen Schrift eine gewisse
Vorsicht ein und riet dazu, Worte, die keinen Sinn ergaben, zu verbessern.12 Im Mit-
telpunkt der karolingischen Bildungsreform stand folglich die „Eindeutigkeit“ und
richtige Tradierung von „Wissen“.13 Die karolingische Bildungsreform strebte daher
nicht nach der Wiederherstellung eines früheren Zustandes,14 sondern nach der Ver-
wirklichung des rechten Zustandes – der norma rectitudinis.15 Dabei bildeten die reno-
vatio von Sprache, Schrift sowie der weltlichen und geistlichen Wissenschaften eine
untrennbare Einheit.16 Denn die zentrale Forderung war die Reinheit der biblischen
Überlieferung und die richtige Interpretation der patristischen Werke, in deren Dienst
die artes liberales gestellt wurden.17 Daneben standen die Vereinheitlichung von litur-
gischer Praxis und kirchlichem Leben, die Ausbreitung und bessere Zugänglichkeit
des Schulwesens sowie die Tradierung und Wiederbelebung des antiken Wissens
auf der Tagesordnung.18 Die Verchristlichung des Reiches und damit die Stabilisie-
rung der Herrschaft Karls des Großen konnte nur durch die bewusste Verknüpfung

scopia et libros catholicos bene emendate; quia saepe, dum bene aliqui Deum rogare cupiunt, sed per
inemendatos libros male rogant. MGH Capit. 1, 60, Nr. 22.
10 Et pueros vestros non sinite eos vel legendo vel scribendo corrumpere; et si opus est evangelium,
psalterium et missale scribere, perfectae aetatis homines scribant cum omni diligentia. MGH Capit. 1,
60, Nr. 22.
11 … ut facilius et rectius divinarum scripturarum mysteria valeatis penetrare. MGH Capit. 1, 79, Nr. 29.
12 Cassiodor, Institutiones I, 15 (Sub qua tutela relegi debeat caelestis auctoritas), 11, 204–205: Quod si
tamen aliqua verba reperiuntur absurde posita, aut ex his codicibus quos beatus Hieronymus in editione
septuaginta interpretum emendavit, vel quos ipse ex Hebreo transtulit, intrepide corrigenda sunt.
13 Zum Begriff der „Eindeutigkeit“ vgl. Weinfurter 2012, 73–74.
14 Vor allem die ältere Forschung sprach von der karolingischen Renaissance: vgl. Burdach 1918;
Patzelt 1924. Der Begriff der Renaissance wird den Zielen der Bewegung aber nicht gerecht, denn es
ging weniger um eine Wiederbelebung der klassischen Antike, sondern die gelehrte Tradition sollte
gewahrt und ihr neue Anwendungsfelder erschlossen werden. Vgl. hierzu Kintzinger 2007, 92; Hart-
mann 2010, 204.
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15 Bereits Papst Zacharias (741–752) hatte in seinem Brief an Bonifatius im Jahr 744 gefordert: … stude
ad normam rectitudinis reformare. Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, ed. Tangl, 108, Nr. 58.
Nach Josef Fleckenstein stand hinter dem dreifachen Bemühen Karls des Großen, die Irrtümer zu
korrigieren (errata corrigere), das Überflüssige abzutrennen (superflua abscindere) und das Richtige
zu bekräftigen (recta cohartare) die norma rectitudinis als Wertmaßstab: vgl. Fleckenstein 1953, 52–53.
16 Vgl. Fleckenstein 1953, 84-85; Steckel 2011, 80–81.
17 „Die sieben freien Künste verloren, das folgt daraus, durch Karls Zugriff ihre Freiheit; sie waren
zielgerichtet, einem Zweck unterworfen. Gleichwohl legitimierte dieser Freiheitsverlust, die Rezepti-
on der religionsfernen Künste. […] Denn die sieben „Artes“ stärkten den Glauben und führten zu Gott;
sie, die einst unchristlichen, halfen nun mit, das Reich zu verchristlichen.“ Fried 1997, 37.
18 Vgl. Schieffer 1997, 16.

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Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen   73

von gelehrtem Wissen und religiöser Lehre erzielt werden.19 Doch inwieweit können
der handschriftliche Bestand und die Organisation der Lorscher Bibliothek über die
Wissensvorstellungen der Zeit und die zentralen Forderungen der karolingischen
Bildungsreformer Auskunft geben? Für die Klärung dieser Frage sollen vor allem die
Untersuchungsmethoden des Heidelberger Sonderforschungsbereichs 933 „Materiale
Textkulturen“ hinsichtlich der Materialität der in Lorsch entstandenen und aufbe-
wahrten Artefakte sowie deren Rezeptionspraktiken fruchtbar gemacht werden. Denn
wenn wir die Lorscher Codices als „kulturgeschichtlich relevante Quellen“ betrachten
und uns die Frage stellen, welche Bedeutung den Artefakten in ihrem „ursprüngli-
chen sozial-kulturellen Umfeld“ zugeschrieben wurde, können wir wertvolle Infor-
mationen über die kulturhistorischen Gegebenheiten und die „Wissensordnungen“
der karolingischen Zeitgenossen in Erfahrung bringen.20
Denn der Zugang zum Wissen war vom sozialen und kulturellen Kontext abhän-
gig und konnte sich erst im jeweiligen Rezipienten zu konkretem Wissen entfalten.
Die gelehrte Vermittlung von Bildung und Wissen war in der Karolingerzeit vor allem
die Aufgabe der Klöster und monastischen Gemeinschaften.21 Denn in den karolingi-
schen Klöstern befand sich die „Bildungselite“ beziehungsweise die Sondergruppe
derjenigen Personen, die sich speziell der Aufgabe verschrieben hatten, der Wahrheit
zu dienen, wie es ebenfalls in der Epistola de litteris colendis heißt.22 Die Vervielfäl-
tigung von Schriftzeugnissen durch die Tätigkeit der klösterlichen Skriptorien führte
zur Weitergabe eines seit Jahrhunderten tradierten Wissensbestandes und zu einer
dauerhaften Verschriftlichung von Wissensinhalten. Dabei dienten die Klöster als
Wissensspeicher, auf deren Wissensreservoir die karolingische Elite zurückgreifen
und ihre Reformmaßnahmen umsetzen konnte.23 Um die Qualität der Wissensvermitt-
lung in den Klöstern zu steigern, wurden meist namhafte Persönlichkeiten aus dem
Gelehrtenzirkel um Karl den Großen in die klösterlichen Gemeinschaften geschickt.24
So auch im Reichskloster Lorsch, das wohl bereits um das Jahr 763 als adeliges Eigen-
kloster von Graf  Cancor und seiner Mutter, der Witwe Williswinth am Fluss Weschnitz
gegründet und bald darauf ihrem Verwandten Bischof Chrodegang von Metz über-
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19 Vgl. Fried 1997, 36-37; Steckel 2011, 78–91.


20 Vgl. Hilgert 2010, 1–4.
21 Vgl. Kintzinger 2006, 24–25; Steckel 2011, 89; Diem 1998, 27, stellt die dreifache Funktion der ka-
rolingischen Klöster als „intellectual centres“ heraus: „they offered space and resources to produce,
copy and preserve books, they organised the institutionalised transmission of knowledge in monastic
schools, and finally they enabled learned monks to indulge in scholarly work and the exchange of
ideas.”
22 … qui ad hoc solummodo probantur electi, ut servire specialiter debeant veritati. MGH Capit. 1, 79,
Nr. 29.
23 Vgl. Diem 1998, 27–30.
24 Vgl. Steckel 2011, 89.

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tragen wurde.25 Die Klostergründung diente zunächst einmal der Sicherung des See-
lenheils der Gründerfamilie. Mit Chrodegang von Metz, der zu den engen Vertrauten
König Pippins gehörte und bei der Neuorganisation der fränkischen Kirche eine ent-
scheidende Rolle spielte, erhielt das Kloster einen einflussreichen Förderer.26 Im Jahr
765 wurde das mit Benediktinermönchen aus Gorze besiedelte und nach der römisch-
fränkischen Kirchenreform ausgerichtete Kloster mit der Nazariusreliquie ausgestat-
tet, wie die Fortsetzung der Annales Petaviani und der Annales Laurissenses minores
belegen.27 Im Jahr 772 wurde Lorsch zur Reichsabtei erhoben und unter königlichen
Schutz gestellt. Damit waren die engen Beziehungen zum karolingischen Königshof
im Folgenden vorgezeichnet. Lorsch blieb bis ins Jahr 1232 Reichsabtei.28
Die Lorscher Handschriftenproduktion begann wohl bereits vor Abt Richbod
(784–804), der unter dem Pseudonym „Macharius“ Teil des Gelehrtenkreises um Karl
den Großen und ein Schüler Alkuins von York (735–804) war.29 Enge Beziehungen
zum karolingischen Hof unterhielt auch Adalung, der der Abtei von 804 bis 834 als
Abt vorstand und dem ab dem Jahre 808 auch noch die Abtei Saint-Vaast bei Arras
in Personalunion anvertraut wurde.30 Unter ihm, wie auch unter seinem Nachfolger
Abt Samuel (837–856), einem Freund des Hrabanus Maurus und später Bischof von
Worms, wurde der Bestand der Lorscher Bibliothek weiter ausgebaut.31 Sowohl über
die engen Beziehungen seiner Äbte zum karolingischen Hof als auch durch die Bereit-
stellung von Wissen, das vor allem dem richtigen Verständnis der heiligen Schriften
und der patristischen Werke dienen sollte, hatte Lorsch Anteil an der karolingischen
Reform. Dabei ging es neben der Korrektheit von Wissen vor allem auch um die Rein-
heit des Glaubens, wie es Alkuin von York in einem Brief an Rado, den Vorgänger des
Adalung als Abt von Saint-Vaast (790–808) und Erzkanzler Karls des Großen (776–
795), auf den Punkt brachte.32 Er schrieb an Rado, der ebenfalls mit dem Skriptorium
von Lorsch eng verbunden war:33

25 Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, 267.


26 Scholz 2004, 769–770.
27 Hruotgangus Metensis urbis archiepiscopus postulavit a Paulo Romanae sedis apostolico corpora
sanctorum martyrum Gorgonii, Naboris et Nazarii, et impetravit, adduxitque ab urbe Roma cum honore;
et condidit sanctum Gorgonium in monasterio suo, quod ipse a novo aedificaverat, cui vocabulum est
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Gorzia, sanctum Naborem in monasterio alio quod dicitur Novacella, sanctum vero Nazarium in mo-
nasterio nostro Lauresham. Annales Laurissenses minores, ed. Pertz, 117. Vgl. Annales Petaviani, ed.
Pertz, 11.
28 Vgl. Scholz 2004, 798.
29 … substituitur Richbodo, vir plane dilectus deo et hominibus, simplex et sapiens, atque tam in divinis
quam in secularibus disciplinis adprime eruditus. Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, 288.
30 Bischoff 1989, 62; Scholz 2004, 773–774.
31 Vgl. Deutinger 2004, 79–87.
32 Rado ist zwischen 772 und 784 in Urkunden Karls des Großen für das Kloster Lorsch als Invenient
belegt: vgl. Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, 276 und 283–285.
33 Ergänzungen in der charakteristischen Handschrift Rados finden sich vor allem in Codices, die in

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Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen   75

Fordere die Brüder auf, dass sie die heiligen Schriften sehr gewissenhaft lesen. Sie mögen nicht
auf das mündliche Wissen vertrauen, sondern auf die Erkenntnis der Wahrheit, damit sie gegen-
über denen, die der Wahrheit widersprechen, Widerstand leisten können. Wir leben in gefährli-
chen Zeiten, wie es die Apostel prophezeit haben, denn es treten viele falsche Gelehrte auf – und
neue Sekten entstehen, die danach streben, die Reinheit des „rechten“ Glaubens durch frevel-
hafte Behauptungen zu besudeln. Daher braucht die Kirche viele Verteidiger, die nicht nur durch
die Heiligkeit des Lebens, sondern auch durch die Lehre der Wahrheit die Festungen Gottes tat-
kräftig zu verteidigen verstehen.34

Alkuin betont in seinem Brief die Bedeutung des Geschriebenen für die Reinheit des
Glaubens, der nur über das richtige Verständnis und die richtige Auslegung der heili-
gen Schrift bewahrt werden könne. Und dazu benötigte man einen „idealen“ Bestand
an Bibelversionen, Bibelkommentaren und exegetischen Schriften der Kirchenväter.

2 Bestand der Lorscher Bibliothek


Genau auf diesen von Alkuin geforderten Werken lag auch eindeutig der Schwer-
punkt des Lorscher Bibliotheksbestandes, den man aufgrund der uns überlieferten
vier karolingischen Bibliothekskataloge, die jüngst von Angelika Häse kritisch ediert
wurden, rekonstruieren kann.35 Der ausführlichste, um 860 entstandene Katalog Ca
und Cb verzeichnet allein etwa 470 Codices, worunter auch die liturgischen Bücher
der Sakristei und die Handschriften für die Klosterschule aufgenommen sind.36 Heute
sind insgesamt noch rund 300 Handschriften und Handschriftenfragmente erhalten,
die mit Lorsch in Verbindung gebracht werden können. Die in Lorsch vorhandenen
Handschriften werden in den vier Katalogen mit kleinen Unterschieden nach folgen-
der Sachordnung verzeichnet: Bibel, historische Schriften (u. a. Orosius, Eusebius,
Flavius Josephus, Hegesippus, Epiphanius, Gregor von Tours), Kirchenväter (Augus-

der frühen Produktionsphase des Skriptoriums, d.h. im älteren Lorscher Stil angefertigt wurden: so in
Pal. lat. 207 (Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis), Pal. lat. 822 (Eusebius-Rufinus, Historia
ecclesiastica) und Pal. lat. 1753 (Marius Victorinus, Grammatica, etc.), die sich alle drei heute in der
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Biblioteca Apostolica Vaticana in Rom befinden. Zu Rado vgl. auch den Beitrag von Tino Licht (in
diesem Band), 149–151.
34 Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 117, Nr. 74: Fratres quoque cohortare, ut sanctas diligentissime le-
gant scripturas. Non confidant in linguae notitia, sed in veritatis intellegentia, ut possint contradicen-
tibus veritati resistere. Sunt tempora periculosa, ut apostoli praedixerunt, quia multi pseudodoctores
surgent, novas introducentes sectas, qui catholicae fidei puritatem impiis adsertionibus maculare nit-
untur. Ideo necesse est ecclesiam plurimos habere defensores, qui non solum vitae sanctitate, sed etiam
doctrina veritatis castra Dei viriliter defendere valeant. (Übersetzung d. Verf.).
35 Vgl. Häse 2002. Im Folgenden wird sich an der von Angelika Häse vorgenommen Einteilung der
Kataloge in A, B, Ca und Cb, D orientiert, die von der Zählung bei Bischoff 1989 (I–IV) abweicht.
36 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 1–34. Vgl. Häse 2002, 38.

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76   Julia Becker

tinus, Hieronymus, Gregor der Große, Beda Venerabilis, Ambrosius und Origenes)
und verschiedene Theologen und frühmittelalterliche Gelehrte (Cassiodor, Isidor
von Sevilla, Hilarius von Poitiers, Alkuin etc.).37 Danach folgen ohne eine erkenn-
bare feste Ordnung Briefsammlungen und antike Autoren (wie beispielsweise Seneca,
Cicero, aber auch Tertullian und Petrus Chrysologus), Grammatiker, wieder antike
Autoren (vermischt mit Arianus Candidus, Einhard und Frechulf von Lisieux), christ-
liche Dichtung (u. a. Severus von Malaga, Avitus von Vienne, Cyprianus Gallus), asze-
tische Literatur, Gesetzbücher und Canones, Glossare und Hagiographie.38 Auffallend
ist bei dieser Einteilung vor allem, dass die kirchenhistorischen Schriften direkt nach
den Büchern der Bibel und noch vor den Kirchenvätern aufgeführt werden. Dies ist
dadurch zu erklären, dass die historia sacra im Mittelalter selbst als Exegese der Heili-
gen Schrift verstanden wurde.39 Denn seit Origenes hatten sich vor allem drei Formen
der Bibelexegese (historisch, moralisch, allegorisch-pneumatisch) durchgesetzt, von
denen die historia an erster Stelle stand.40 Rosamond McKitterick vermutete auf-
grund der hohen Konzentration der kirchenhistorischen Schriften außerdem, dass
die karolingischen Bildungsreformer in der Frühphase vor allem diese historiogra-
phischen Werke stark „beworben“ hätten, womit uns ein weiteres Indiz dafür vorlie-
gen würde, dass Lorsch mit dem Zentrum der karolingischen Reform eng verbunden
war.41 Anhand der einzelnen Kataloge können wir die „Entwicklung“ der Lorscher
Bibliothek gut erkennen, deren größte Wachstumsperiode zwischen der Erstellung
des zweiten und dritten Kataloges (B und C) anzusetzen ist.42 Allerdings muss dabei
beachtet werden, dass im frühesten Katalog nicht alle Schriften registriert und diese

37 Vgl. dazu auch Bischoff 1989, 24.


38 Vgl. ebd.
39 „Die Historiographie trug nicht nur das historische Wissen für die Bibelexegese, und besonders
für die historische Auslegung, zusammen, sie wurde vielmehr selbst als Exegese verstanden. […] Die
historia als mittelalterliche Geschichtsschreibung hatte – und darin die eigentliche Geschichtstheorie
des Mittelalters – wie die gesamte Exegese einen theologischen Bezug, und die Geschichtsschreiber
waren zum großen Teil Theologen.“ Goetz 1985, 203 und 204.
40 Vgl. Goetz 1985, 194.
41 McKitterick 2004, 207: „I argue below that it is possible that the remarkable concentration of early
church history manuscripts and the very wide dissemination of ecclesiastical history texts, especially
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of the Eusebius-Rufinus Historia ecclesiastica and the Historia tripartita across the Carolingian em-
pire, could reflect the deliberate promotion of these books at an early stage of the Carolingian reform
movement.“
42 Der früheste Lorscher Bibliothekskatalog A, um 830 zu datieren, verzeichnete etwa 30 Augustinus-
Titel, der auf ihm aufbauende Katalog B (um 830-840) bereits 70, der ausführlichste dritte Katalog (Ca
und Cb) sogar etwa 85 und der vierte, etwas weniger ausführliche Katalog D nur noch ca. 73, wobei
sich darunter jedoch viele Zweitexemplare befinden. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Hierony-
mus-Bänden: in Katalog A finden sich nur drei Hieronymus-Titel, in B schon 25, in Ca und Cb 32 und in
D nur noch 26. Machen wir eine Stichprobe bei einem nicht-patristischen Autor, z. B. Alkuin von York,
ergibt sich ein ganz ähnliches Bild: Katalog A nennt drei Einträge zu Alkuin, Katalog B bricht vorher
ab, Katalog Ca und Cb führt elf und Katalog D nur noch neun Schriften Alkuins auf.

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Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen   77

dann teilweise zum ersten Mal in Katalog B aufgenommen wurden.43 Schauen wir
detaillierter in die einzelnen Abteilungen, lassen sich einige Lorscher „Spezialitäten“
erkennen: Das Hauptaugenmerk lag sicherlich im Bereich der patristischen Autoren.
Die Werke des Augustinus waren um die Mitte des 9. Jahrhunderts fast vollständig
vertreten, und hierin übertraf Lorsch fast alle anderen wichtigen Klöster der Zeit, zu
nennen sind nur die Reichenau, St. Gallen, Murbach, Bobbio, Fulda und Corbie.44
Eine weitere Besonderheit, die sich unter der Rubrik Grammatici des Lorscher Kata-
logs Ca entdecken läßt, ist unter anderem die Tatsache, wie stark christliche Dichtung
aus der Spätantike in Lorsch vertreten war, die sich in etwas geringerer Konzentration
nur noch in Murbach und St. Gallen findet.45 Leider haben sich heute, außer einigen
Fragmenten, so gut wie keine Handschriften mit den Werken des Severus von Malaga,
Arator, Avitus von Vienne oder Cyprianus Gallus mehr erhalten.46 Während Leges und
karolingische Kapitularien in St. Gallen stark vertreten sind, sucht man hingegen in
Lorsch Handschriften, die säkulare Rechtstexte enthalten, fast vergebens. Außer dem
Eintrag der Lex Gothorum in uno codice und Lex Ripuaria et Lex Salica in uno codice im
dritten Katalog scheinen in Lorsch keine Leges vertreten gewesen zu sein.47
Bei dem Blick in die Handschriften der ersten drei Bibliothekskataloge fällt auf,
dass jeweils nach den Einträgen zu Augustinus – bevor die Aufzählung der Werke
des Hieronymus beginnt – eine größere Lücke gelassen wurde, was bei den anderen
Autoren nicht der Fall ist.48 Vielleicht hatte man absichtlich diesen Platz für „Nach-
träge“ gelassen, da man hier zum Zeitpunkt der Katalogerstellung noch den größten
Zuwachs der Bibliothek erwartete. Leider hat sich ausgerechnet die Handschrift der
Retractationes des Augustinus aus dem Lorscher Bestand nicht mehr erhalten,49 so
dass nicht mehr überprüft werden kann, wie diese von den Verfassern der Lorscher
Kataloge rezipiert wurde und ob sie noch in der Bibliothek fehlende Stücke dort ver-
merkten, wie Bernhard Bischoff dies für Mainz und Murbach nachweisen konnte.50
Allerdings ist feststellen, dass sich keiner der Kataloge bei der Anordnung der Augus-
tinus-Werke an der Reihenfolge, wie diese in den Retractationes wiedergegeben
werden, orientiert.

43 Vgl. Bischoff 1989, 22.


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44 Vgl. Becker 1885.


45 Bischoff 1989, 78.
46 Vgl. dazu Bischoff/Schetter 1994, 9–10; Licht 2008, 171–172.
47 Häse 2002, 166.
48 Katalog A: Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 75r–v; Katalog B: Rom, BAV, Pal. lat. 1877, fol. 61r; Katalog
Ca: Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 17v–18r. In Katalog A wurde fol. 74 mit Ergänzungen zu Augustinus
nachträglich eingefügt. Vgl. auch Häse 2002, 55–56.
49 Dass Lorsch ein Exemplar der Retractationes besessen haben muss, geht aus den Bibliothekska-
talogen hervor, die Kataloge Ca und D verzeichnen sogar jeweils noch ein Zweitexemplar der Hand-
schrift. Vgl. die Einträge bei Häse 2002: A 22, B 66, Ca 124 und 125, D 43 und 44.
50 Vgl. Bischoff 1989, 72.

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78   Julia Becker

Vergleicht man den Lorscher Bestand mit den Vorstellungen Cassiodors von einer
„idealen“ Bibliothek wird deutlich, dass Lorsch bei den von Cassiodor geforderten
Augustinusschriften fast die doppelte Menge vorzuweisen hatte und auch bei den
übrigen Kirchenvätern und anderen christlichen Autoren gut mit den Forderungen
Cassiodors Schritt halten konnte.51 Bei der profanen Literatur jedoch, vor allem bei
den von Cassiodor genannten Autoren der artes liberales und den historiographi-
schen Werken fallen viele Lücken ins Auge. Hier sieht man deutlich, dass das Kloster
Vivarium von Cassiodor als Schulkloster konzipiert war, welche Funktion im Fall von
Lorsch wesentlich unwichtiger gewesen zu sein scheint. Außerdem hatte sich die Aus-
gangssituation seit der Gründung von Vivarium, wo Cassiodor noch an die spätanti-
ken Wissensideale anknüpfen konnte, inzwischen grundlegend verändert. Abgese-
hen davon konnte die Präsenz des Wissens, das die Lorscher Klosterbibliothek Mitte
des 9. Jahrhundert vor allem hinsichtlich der patristischen Schriften zu bieten hatte,
durchaus – wenn auch eine gewisse Zeitverzögerung festzustellen ist – den Anliegen
der karolingischen Bildungsreformer gerecht werden und es mit den anderen monas-
tischen Wissenszentren seiner Zeit aufnehmen.

3 Normierung von patristischen Texten


Auch der eingangs genannten Reformforderung nach der Weitergabe von „richtigem“
beziehungsweise „eindeutigem“ Wissen, die sich vor allem durch die Korrektur von
fehlerhaften oder durch die Ergänzung von fehlenden Passagen in den Handschriften
ausdrückte, kam man im Lorscher Skriptorium nach. Handschriften aus dem eigenen
Skriptorium oder aus anderen karolingischen Klöstern wurden in Lorsch oder durch
Lorscher Schreiber auf ihre Richtigkeit überprüft. Dabei standen die Korrektheit und
die eindeutige Verständlichkeit des Textes im Vordergrund, der ästhetische Gesamt-
eindruck der Handschrift trat dahinter meist zurück. Als Beispiel lässt sich hier unter
anderem der um 800 in Lorsch entstandene Codex Pal. lat. 207, der sich heute in der
Biblioteca Apostolica Vaticana in Rom befindet, anführen. Diese Handschrift wurde
im sogenannten älteren Lorscher Stil verfasst, sie weist noch viele Doppelformen und
Ligaturen auf und es lassen sich zahlreiche insulare und alemannische Einflüsse im
Schriftbild nachweisen.52 Der Text der Augustinus-Handschrift Tractatus in evange-
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lium Iohannis wurde an mehreren Stellen durch Lorscher Schreiber korrigiert, so etwa
auf fol. 8v, wo die Phrase caput enim omnium peccatorum superbia am Rand korrekter-
weise in caput omnium morborum superbia est, quia caput omnium peccatorum super-

51 Zum Bestand des Klosters Vivarium vgl. Cassiodor, Institutiones, 488–500; Troncarelli 1998.
52 Vgl. Bischoff 1989, 31, 33, 35.

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Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen   79

bia verbessert wurde.53 Am Ende des gleichen Blattes wurde eine weitere ergänzende
Änderung durch dieselbe Hand, die dem bereits erwähnten Rado zuzuschreiben ist,
vorgenommen. Charakteristisch für die Handschrift des Rado sind die ausgeprägten
Ober- und Unterlängen, die schlaufenförmigen Verdickungen an den Oberlängen,
das über die Zeile geführte e und die knospenartigen Verdickungen am Ansatz des f.
Eingefügt ist eine im Text der Handschrift ausgelassene Passage, die jedoch für das
richtige Verständnis der Stelle von zentraler Bedeutung ist.54

Abb. 6: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 8v: Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis.
© [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana

Rado, zunächst Erzkanzler am Hof Karls des Großen, war also auch im Lorscher Skrip-
torium nicht als einfacher Schreiber, sondern in leitender Funktion tätig und kontrol-
lierte die korrekte Ausführung und Weitergabe der patristischen Texte.55

53 Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 8v.


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54 Nach der Phrase: ergo quia humilitatem docet deus, dixit: non ueni facere uoluntatem meam, sed
eius uoluntatem qui me misit, ist eingefügt: haec enim commendatio humilitatis est. Superbia quippe
facit uoluntatem suam; humilitas facit uoluntatem dei. Ideo qui ad me uenerit, non eiciam foras. Quare?
quia non ueni facere uoluntatem meam, sed uoluntatem eius qui me misit. Danach geht es wieder kor-
rekt oben im Text weiter mit: humilis ueni, humilitatem docere ueni … Augustinus, Tractatus in evange-
lium Iohannis, 25, 16, ed. Willems, 257.
55 In Rom, BAV, Pal. lat. 822 (Eusebius-Rufinus, Historia ecclesiastica) hat Rado, wie es dem Lei-
ter eines Skriptoriums zustand, einige Kapitelüberschriften geschrieben (vgl. foll. 121v, 125v, 126v). In
Rom, BAV, Pal. lat. 1753 (Marius Victorinus, Grammatica, etc.) stammen ganze Passagen aus seiner
Hand (vgl. foll. 21r, 40r-42v, 43v-47v) wie auch in Pal. lat 487 (Ordo Romanus), wo er foll. 20r–24r ge-
schrieben hat.

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80   Julia Becker

Durch die für Lorsch in dieser Zeit typischen Korrekturmerkmale – hl (hic lege)
und hd (hic deest) mit Kreuzstrich durch den Schaft von hd und hl –, die Wallace
Lindsay als Lorscher „Ohrmarke“ bezeichnet hat, lassen sich Verbesserungen durch
das Lorscher Skriptorium oder durch Lorscher Schreiber auch in Handschriften aus
anderen Bibliotheken nachweisen.56 So beispielsweise in der in St. Gallen entstande-
nen Handschrift (Codices Sangallenses 165) mit dem Psalmenkommentar des Augus-
tinus, die zahlreiche Lorscher Korrektureinträge hic lege und hic deest enthält und die
daher entweder in Lorsch oder durch einen Lorscher Schreiber korrigiert wurde.57 Um
ein ganzes Doppelblatt wurde der Reichenauer Augustinus-Codex De Genesi contra
Manichaeos ergänzt, der heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe auf-
bewahrt wird.58 Der Augustinus-Handschrift fehlte zum richtigen Verständnis sogar
eine längere Passage des ersten Buches, die auf einem im jüngeren Lorscher Stil aus-
gefertigten Doppelblatt nachgetragen und dann – wenn auch an falscher Stelle – in
den Reichenauer Codex eingefügt wurde.59 Aber auch bei Handschriften, die nicht in
Lorsch produziert, sondern „nur“ für die dortige Bibliothek erworben wurden, war
die richtige Ausführung der Texte wichtig. Dies belegen beispielsweise die Korrektu-
ren im Codex Pal. lat. 183 (Hieronymus, Quaestiones Hebraicae), der wohl im ersten
Viertel des 9. Jahrhunderts in der Loire-Gegend entstanden war und wenig später in
Lorsch korrigiert wurde,60 oder im Codex Pal. lat. 202 (Augustinus, De trinitate), der
um 800 in einem deutsch-angelsächsischen Skriptorium geschrieben und kurz darauf
durch Lorscher Hände in der Benediktinerabtei an der Weschnitz berichtigt wurde.61
Der Blick in die Handschriften belegt, dass die korrekte Weitergabe patristischen
Wissens für die karolingischen Gelehrten eine zentrale Rolle spielte und sich andere
zeitgenössische Skriptorien (St. Gallen, Reichenau) durchaus am Wissensstand der
Lorscher Bibliothek orientierten. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit das Lorscher
Skriptorium auf die Produktion von korrekten patristischen Handschriften speziali-
siert war oder diese vorwiegend korrigierte? Von den circa 25 Codices, die Bernhard
Bischoff dem älteren Lorscher Stil zuordnete, handelt es sich nur bei neun Handschrif-
ten um patristische Texte, vor allem Werke des Augustinus und Hieronymus. Daneben

56 Vgl. Lindsay 1924, 13; Bischoff 1989, 30.


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57 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 165 (Augustinus in psalmos), foll. 56, 66, 79, 86, 92, 120, 124, 140,
144, 152, 157, 169, 172, 177, 195, 214, 234, 275.
58 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 187, foll. 11r–v.
59 Der Nachtrag, der mit sic fortasse endet, hätte allerdings erst nach fol. 12r eingeordnet werden
dürfen. Diese Lorscher Korrektur muss vor dem Jahr 847 entstanden sein, da am Ende des Nachtrags
noch ein Gruß an den Reichenauer Lehrer Tatto (Vale frater, fidelissime Datto) angefügt ist, der im
Jahre 847 starb. Vgl. auch Bischoff 1989, 47. Der im jüngeren Lorscher Stil ausgefertigte Nachtrag weist
bereits mehrere Merkmale des Lorscher Spätstils auf (unziales D, tiefgespaltene re-Ligatur) und kün-
digt daher einen nahenden Stilwechsel im Skriptorium an.
60 Rom, BAV, Pal. lat. 183, foll. 4r, 10r, 11r, 18v, 28r, 32v, 33r. Vgl. Bischoff 1989, 60.
61 Rom, BAV, Pal. lat. 202, foll. 6v, 14r, 14v, 23r. Vgl. Bischoff 1989, 60; CLA I, 83.

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Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen   81

galt in der frühen Lorscher Produktionsphase die Aufmerksamkeit des Skriptoriums


vor allem den kirchenhistorischen Schriften (Hegesippus, Flavius Josephus, Euse-
bius, Orosius, Gregor von Tours und Beda Venerabilis).62 Ganz ähnlich sieht es auch
bei den Handschriften der Übergangszeit und im Saint-Vaast Stil aus: Von den ins-
gesamt 38 Codices enthalten 20 Texte oder exegetische Auslegungen der Bibel.63 Im
jüngeren Lorscher Stil beträgt das Verhältnis zwischen den Werken der patristischen
Autoritäten und den anderen Textgattungen sogar bereits knapp die Hälfte.64 Auch
wenn man hier natürlich die Verzerrung berücksichtigen muss, die sich durch die
Verluste in der Handschriftenüberlieferung ergibt, lässt sich doch eine klare Tendenz
feststellen. Während zunächst vor allem patristische Handschriften durch Lorscher
Schreiber korrigiert wurden, konnten sich die bereits eingangs erwähnten Reform-
forderungen nach der Bereitstellung eines möglichst vollständigen und korrekten
Bestandes an Bibelversionen, Bibelkommentaren und exegetischen Schriften durch-
setzen und das Lorscher Skriptorium erhöhte gegen Mitte des 9. Jahrhunderts stetig
seine Produktion an patristischem Wissen.

4 Transfer von Wissen


Allerdings gab man sich mit dem vor Ort vorhandenen Wissen durchaus nicht zufrie-
den, sondern versuchte gezielt, bestehende „Wissenslücken“ zu stopfen. Ein schönes
Beispiel für den Transfer von patristischem Wissen bietet uns die heutige Pariser
Handschrift, Bibliothèque nationale de France, Lat. 12226. Der Pariser Codex, der
eine Sammlung von Augustinus Briefen enthält, ist in einer frühen karolingischen
Minuskel geschrieben und wohl um 800 in Corbie entstanden.65 Die Schrift weist
noch einen frühen Entwicklungsstand auf, wir können zahlreiche Doppelformen –
unziales a/oc-a, gerades d/unziales D – und auch den Gebrauch von Majuskel-N nicht
nur in Spezialpositionen feststellen. Auch finden sich zahlreiche rt-, st-, or-Ligaturen
sowie die et-Ligatur in Wortmitte und es lässt sich noch kein einheitliches Alphabet
der Auszeichnungsschriften nachweisen. Besonders interessant ist jedoch der mehr-
fache Gebrauch der –ur Kürzung. Hieran können wir erkennen, dass die klare Unter-
scheidung der Kürzungen von –us und -ur, deren Erfindung Bernhard Bischoff vor
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62 Vgl. Bischoff 1989, 31–33.


63 Vgl. ebd. 38–42.
64 Vgl. ebd. 48–52.
65 Das als Rückseite verwendete fol. 114 enthält ein Fragment aus Gregors des Großen, Moralia in
Iob, und ist in einer frühen karolingischen Minuskel im Maurdramnus-Typ verfasst. Die Vorderseite
besteht aus einem Titelblatt des Ps.-Ambrosius, Commentarius in Epistolas Pauli ad Galatas, die genau
mit dem Codex Amiens, Bibliothèque municipale, Ms. 88, fol. 1v übereinstimmt. Vgl. Ganz 1990, 139;
CLA V, 637.

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82   Julia Becker

800 im Umkreis des Hofes vermutete, um 800 bereits in das Skriptorium von Corbie
eingedrungen war.66 Ein karolingischer Rezipient, dessen Identität leider nicht mehr
endgültig festzustellen ist, hat diese Handschrift besonders intensiv gelesen und an
fast allen Stellen, an denen ein neuer Augustinusbrief beginnt, in tironischen Noten
vermerkt,67 ob er über diesen Brief bereits verfügte (ibi est)68 oder noch nicht (non
habemus in aliis69 oder non habemus in aliis et est inferius in isto).70 In einem Fall
notierte er auch, wo der eine Augustinusbrief endet und der folgende beginnt (hic
deest finis istius epistulae et principium sequentis).71 Aus welchem Umfeld dieser
aufmerksame und in den tironischen Noten geschulte Leser kam, kann nicht mehr
eindeutig geklärt werden. Es ist jedoch anzunehmen, dass er aus dem westfränki-
schen Kontext stammte, da die Verwendung der tironischen Noten bisher vor allem
für diesen Bereich nachgewiesen werden konnte.72 Die Tatsache, dass der Vermerk
non habemus hier im Plural und nicht im Singular steht, wie dies in der heute in der
Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrten Handschrift Pal. lat. 211 der Fall ist,73
könnte dahingehend interpretiert werden, dass die Corbier Augustinus-Briefsamm-
lung von einem Skriptoriumsleiter oder Bibliothekar gezielt auf in seiner Klosterbi-
bliothek noch fehlende oder bereits vorhandene Texte durchgesehen wurde. Daher
ist es besonders interessant, dass die Kataloge B74 und Ca75 der Lorscher Bibliothek,

66 Vgl. Bischoff 2009, 152.


67 Das Auflösen der tironischen Noten wäre ohne die Hilfe von Dr. Martin Hellmann und seinem
Hypertext-Lexikon auf www.martinellus.de nicht möglich gewesen, dem ich an dieser Stelle dafür
herzlich danke.
68 Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 12226, foll. 7r, 9r, 39r, 42r, 53r, 56v, 66r, 71r, 81v, 82v, 86v,
97v, 105r, 109r, 111rv, 113r.
69 Ebd. foll. 2v, 5r–6r, 7v, 8v, 12v, 13r, 17r, 17v, 20r, 21r, 41r, 45v, 58v, 60r, 61r, 61v, 63r, 100r, 102v, 103v, 104r.
70 Ebd. foll. 49r, 51r, 52r, 52v.
71 Ebd. fol. 71r.
72 Vgl. Hellmann 2000, 19–22.
73 Die Handschrift Rom, BAV, Pal. lat. 211, die ebenfalls verschiedene Epistulae et Sermones des hei-
ligen Augustinus enthält, wurde im älteren Lorscher Stil der Übergangszeit und im Saint-Vaast-Stil
wohl nach dem Jahre 808 in Lorsch geschrieben. Am Beginn des darin enthaltenen Briefes an Mar-
cellinus (fol. 19r), der Augustinus Regel (fol. 117r) und seiner Schrift De vita et moribus clericorum
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(foll. 121r und 124v) ist am Rand in tironischen Noten non habeo vermerkt. Bei diesen, dem gelehrten
Leser noch unbekannten Augustinus-Titeln kann man nachvollziehen, dass sie ganz intensiv studiert
wurden. Denn am Rand wird – wiederum in tironischen Noten vermerkt – bis wohin der Rezipient
gelesen hatte, wo er aufhören mußte, dimisi (foll. 5r, 90r, 98v, 104v, 106r, 109v, 113v, 118r, 121v,122r,124r),
und wo er wieder angefangen hat, incipe (foll. 18r, 20r, 22v, 24r, 26r, 30r, 33r). Vgl. dazu den Beitrag von
Martin Hellmann (in diesem Band), 181–182. Bernhard Bischoff, der fälschlicherweise non habemus
las, folgerte daraus, dass diese Handschrift im gleichen Zentrum wie Paris, Bibliothèque nationale
de France, Lat. 12226, auf fehlende Texte durchgesehen wurde (vgl. Bischoff 1989, 39). Dies ist jedoch
aufgrund des ganz anderen Anmerkungssystems zu bezweifeln. Vgl. auch Hellmann 2000, 13–14.
74 Rom, BAV, Pal. lat 1877, foll. 60v–61r. Vgl. Häse 2002, 125–126.
75 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 15r–v. Vgl. Häse 2002, 148.

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Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen   83

deren Entstehung um die Jahre 830–840 beziehungsweise um 860 zu datieren ist,


jeweils einen Codex dieser Augustinusbriefe verzeichnet: Epistulae sancti Augustini
XLI in uno codice: I. Ad Valerium episcopum Hipponiensem. II. Ad Aurelium episcopum
de vitandis conviviis… Im ersten Lorscher Bibliothekskatalog A, der um das Jahr 830
in Lorsch entstanden sein muss,76 ist die Handschrift mit den Epistulae von Augus-
tinus noch nicht aufgeführt. Zwischen dem in den Lorscher Bibliothekskatalogen
verzeichnetem Codex und der heute in Paris aufbewahrten Handschrift Lat. 12226
gibt es hinsichtlich der Reihenfolge und Zusammenstellung der einzelnen Augusti-
nus Briefe kaum Unterschiede. Leider ist das Lorscher Exemplar heute verloren, so
dass die Handschrift nicht mehr auf aussagekräftige Übernahmen von der Vorlage
aus Corbie überprüft werden konnte.77 Doch die beinahe identische Anordnung der
einzelnen Augustinus-Briefe sowie die engen Beziehungen von Corbie zum karolingi-
schen Königshof sprechen durchaus dafür, dass die Corbier Handschrift der Lorscher
Kopie als Vorlage gedient haben könnte.78 Denn Abt Adalhard (781–814, 821–826), ein
Sohn des Karolingers Bernhard und ein Enkel Karl Martells, wurde am Hof erzogen
und schließlich zum Abt von Corbie und Corvey ernannt.79 Adalhard könnte die
Anschaffung der Augustinus-Briefe für die Corbier Bibliothek veranlasst haben. Die
Anfertigung der Lorscher Kopie dieses Augustinus-Codex ist vielleicht der Initiative
Gerwards († 860), der als Pfalzbibliothekar Ludwigs des Frommen wiederum eine
enge Verbindung zum karolingischen Hof unterhielt und seine Ausbildung in Lorsch
erfahren hatte, zu verdanken.80

5 Fazit
Die gezeigten Beispiele lassen deutlich werden, dass die karolingischen Zeitgenossen
durchaus ein Gespür für die einzigartige Präsenz des Wissens besaßen, das die Lor-
scher Klosterbibliothek – vor allem hinsichtlich der patristischen Werke – aufzuwei-
sen hatte und dieses auch dementsprechend rezipierten.
Doch die Lorscher Bibliothek wurde nicht nur wegen ihrer patristischen Werke
konsultiert. Der irische Gelehrte Sedulius Scottus († ca. 860) beispielsweise schätzte
den Lorscher Bestand vor allem für den Horazkommentar des Pomponius Porphyrio
(Anfang 3. Jahrhundert): Lies die Auslegung des Pomponius zu Horaz, die ich in Lorsch
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gesehen habe, empfahl der Ire seinem Schülerkreis, wie eine heute in Bern liegende

76 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 67ra–79vb. Vgl. Häse 2002, 60; Bischoff 1989, 26.
77 Vgl. Häse 2002, 230–232, Nr. 141.
78 Dies vermutete bereits David Ganz: vgl. Ganz 1990, 45.
79 Zu Adalhards Hofnähe und Bemühen, die Bestände der Corbier Klosterbibliothek anzureichern,
vgl. Kasten 1986, 63–68.
80 Vgl. Häse 2002, 75; McKitterick 1989, 190.

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84   Julia Becker

Handschrift belegt.81 Bei dieser Handschrift handelt es sich um eine Sammelhand-


schrift eines Schülers des Sedulius Scottus, der die Ergänzungen seines Lehrers zum
Vergil-Kommentar des Servius aus der Vorlage mitabgeschrieben und diese „Zitate“
am Rand entsprechend gekennzeichnet hat.82 Ein Kommentar des Pomponius Por-
phyrio zu Horaz ist in den Lorscher Katalogen jedoch gar nicht verzeichnet, in Katalog
Ca findet sich lediglich der Eintrag: Libri Oratii poete in uno codice.83 Tino Licht folgert
daraus, dass der Kommentar des Pomponius sich wohl in der gleichen Handschrift
befand, wie auch das Lorscher Horazexemplar, aber nicht eigens in den Katalogen der
Lorscher Bibliothek verzeichnet wurde.84
Dieses Beispiel belegt, dass man den karolingischen Gelehrten eine gewisse
Sensibilität für wertvolle beziehungsweise seltene Exemplare im „Wissensbestand“
der Klosterbibliotheken zuschreiben kann. Daneben wurden auch Versuche unter-
nommen, durch den Transfer und Tausch von Handschriften „Wissenslücken“ in der
„eigenen“ Bibliothek zu beseitigen.85 Über den Abbruch des wissenschaftlichen Aus-
tausches beklagte sich beispielsweise Alkuin in einem seiner Briefe an den Lorscher
Abt Richbod und ließ daran gleich die Bitte folgen, ihm die Homeliae Papst Leos I.
und die Expositio in librum Tobiae des Beda Venerabilis auszuleihen,86 die beide in
den Lorscher Katalogen verzeichnet sind.87
Abschließend können wir festhalten, dass die Bereitstellung und Weitergabe von
eindeutigem Wissen mittels „korrigierter“ Handschriften eine der zentralen Aufgabe
der karolingischen Klöster war. Welche Art von Wissen in einer karolingischen Bib-
liothek um die Mitte des 9. Jahrhunderts verfügbar sein sollte, war wesentlich durch
die karolingische Bildungsreform festgelegt worden. Zu dem „idealen“ Bestand einer
karolingischen Klosterbibliothek gehörte neben Bibelversionen und Bibelkommenta-
ren ein nahezu lückenloses Verzeichnis an exegetischen Schriften der Kirchenväter.
Alles, was darüber hinaus angeschafft wurde, war bis zu einem gewissen Grad auch

81 Bern, Burgerbibliothek, Ms. 363, fol. 25v: Lege Pomponii expositionem in Oratium, quam vidi in
Lorashaim. Zu einer ausführlichen Beschreibung der Handschrift vgl. Licht 2006, 122–124. Außerdem
Bischoff 1989, 65.
82 Vgl. hierzu Licht 2006, 124; Häse 2002, 34.
83 Vgl. Häse 2002, 165 und 309, Nr. 345.
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84 „Verzeichnet ist also der (leider nicht erhaltene) Lorscher Horazcodex, nicht aber der (dort ja mit
Sicherheit befindliche) Kommentar, er gehörte eben dazu oder war sogar in die Handschrift inte-
griert.“ Licht 2006, 125.
85 Hinter dem Eintrag zu den Epistulae Austrasiacae im Lorscher Katalog A ist – wohl vom Verfasser
des Katalogs selbst – der ursprüngliche Fundort dieser Briefsammlung vermerkt: Liber epistularum
diversorum patrum et regum, quas Treveris inveni, in uno codice XLIII, um die dann die Lorscher Bib-
liothek angereichert wurde. Vgl. Häse 2002, 98; Bischoff 1989, 21 und 75.
86 Omeliam sancti Leonis et tractatum beati Baedae in Tobia, deprecor, ut ad horam prestes nobis.
Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, Nr. 191, 318 (der Brief Alkuins ist zwischen die Jahre 796 und 800 zu
datieren).
87 Vgl. Häse 2002, 136.

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Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen   85

von den persönlichen Vorlieben und Kontakten der Klöster und vor allem ihrer Äbte
abhängig.88 Die These von Felix Heinzer, dass „Zeiten geistlicher Reform im Mittelal-
ter immer auch Epochen intensiver Pflege von Schriftlichkeit seien“, findet beim Blick
auf die Entwicklung der Lorscher Bibliothek im 9. Jahrhundert Bestätigung.89 Die enge
Verbindung der Lorscher Äbte zum karolingischen Hof bestimmte letztendlich den
Anteil des Lorscher Skriptoriums am Reformvorgang und trug damit, wenn auch mit
einer gewissen Zeitverzögerung, zur einzigartigen Präsenz von patristischem Wissen
in der Lorscher Klosterbibliothek bei.

Quellen
Die Admonitio generalis Karls des Großen, ed. Hubert Mordek/Klaus Zechiel-Eckes/Michael
Glatthaar, MGH Leges, Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum separatim editi 16,
Hannover.
Alkuin, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 4 (Epistolae Karolini Aevi II), Berlin 1895
(Nachdruck 1994), 1-481.
Annales Laurissenses minores, ed. Georg Heinrich Pertz, MGH SS 1, Hannover 1826 (Nachdruck
Stuttgart 1976), 112-123.
Annales Petaviani continuatio, ed. Georg Heinrich Pertz, MGH SS 1, 11-13.
Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis, ed. Radbod Willems, CCSL 36, Turnhout 1954.
Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, ed. Michael Tangl, MGH Epistolae selectae 1, Berlin
1916.
Cassiodor, Institutiones: Cassiodor, Institutiones divinarum et saecularium litterarum. Einführung
in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften, übers. und eingel. von Wolfgang Bürsgens,
Fontes Christiani 39/1-2, Freiburg u.a. 2003.
CLA I: Codices Latini Antiquiores, Bd. I: The Vatican City, hg. von Elias Avery Lowe, Oxford 1934.
CLA V: Codices Latini Antiquiores, Bd. 5: France: Paris, hg. von Elias Avery Lowe, Oxford 1950.
Codex Laureshamensis, Erster Band: Einleitung, Regesten, Chronik, ed. Karl Glöckner, Darmstadt
1929.
MGH Capit. 1: Capitularia regum Francorum I, ed. Alfred Boretius, MGH Capitularia 1, Hannover 1883
(Nachdruck 1984).
Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Edmund E. Stengel, Bd. 1 (Die Zeit der Äbte Sturmi und
Baugulf), Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 10,1,
Marburg 1958.
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88 Vgl. Ganz 1990, 67.


89 Heinzer 2002, 125. Nach Heinzer ist Schriftlichkeit ein „wesentliches Mittel zur Durchsetzung von
Erneuerung“, aber zugleich auch „eines ihrer originärsten Produkte“. Ebd.

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86   Julia Becker

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Herzog, bearbeitet von Otto Zwierlein, München.
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Franz-Josef Schmale, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung, Darmstadt.
Hartmann (2010): Wilfried Hartmann, Karl der Große, Stuttgart.
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zwischen geistlicher Reform und Schriftlichkeit im Mittelalter“, in: Hans-Jochen Schiewer/Karl
Stackmann (Hgg.), Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften, Tübingen, 107–127.
Hellmann (2000): Martin Hellmann, Tironische Noten in der Karolingerzeit am Beispiel eines Persius-
Kommentars aus der Schule von Tours, Hannover.
Hilgert (2010): Markus Hilgert, „‚Text-Anthropologie‘: Die Erforschung von Materialität und Präsenz
des Geschriebenen als hermeneutische Strategie“, in: ders. (Hg.), Altorientalistik im 21.
Jahrhundert. Selbstverständnis, Herausforderungen, Ziele, Mitteilungen der Deutschen Orient-
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Gesellschaft 142, 87–126.


Kasten (1986): Brigitte Kasten, Adalhard von Corbie. Die Biographie eines karolingischen Politikers
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Stritzke (Hgg.), Ex Praeteritis Praesentia. Sprach-, literatur- und kulturwissenschaftliche Studien

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Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen   87

zu Wort- und Stoffgeschichten. Festschrift zum 70. Geburtstag von Theo Stemmler, Anglistische
Forschungen 370, Heidelberg, 109–134.
Licht (2008): Tino Licht, „Aratoris fortuna. Aufgang und Überlieferung der Historia apostolica“, in:
Andrea Jördens/Harns Armin Gärtner/Herwig Görgemanns/Adolf Martin Ritter (Hgg.), Quaerite
faciem eius semper. Studien zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike
und Christentum als Dankesgabe für Albrecht Dihle aus dem Heidelberger „Kirchenväterkol-
loquium“, Hamburg, 163–179.
Lindsay (1924): Wallace Martin Lindsay, „The (early) Lorsch Scriptorium“, in: ders. (Hg.), Palaeo-
graphia latina, Bd. 3, St. Andrews University publications 19, Oxford/London/Edinburgh u. a.,
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McKitterick (1989): Rosamond McKitterick, The Carolingians and the written word, Cambridge.
McKitterick (2004): Rosamond McKitterick, History and memory in the Carolingian world,
Cambridge.
Patzelt (1924): Erna Patzelt, Die karolingische Renaissance. Beiträge zur Geschichte der Kultur des
frühen Mittelalters, Wien.
Schieffer (1997): Rudolf Schieffer, „Vor 1200 Jahren: Karl der Große läßt sich in Aachen nieder“, in:
Paul Butzer/Max Kerner/Walter Oberschelp (Hgg.), Karl der Grosse und sein Nachwirken. 1200
Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa, Turnhout, 3–21.
Scholz (2004): Sebastian Scholz, „Lorsch. Geschichtlicher Überblick“, Germania Benedicta 7,
768–798.
Steckel (2011): Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter. Autorität, Wissens-
konzepte und Netzwerke von Gelehrten, Köln/Weimar/Wien.
Troncarelli (1998): Fabio Troncarelli, Vivarium. I libri, il destino, Instumenta Patristica 33, Turnhout.
Weinfurter (2012): Stefan Weinfurter, „Eindeutigkeit – Motor von Innovation im Mittelalter?“, in:
Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2011, Heidelberg 2012, 73–74.
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Sita Steckel
Von Buchstaben und Geist
Pragmatische und symbolische Dimensionen der Autorensiglen
(nomina auctorum) bei Hrabanus Maurus

1 Fußspuren der Gelehrsamkeit: Wissenstransfer in


der Exegese der Karolingerzeit
Der Fuldaer Mönch und Gelehrte Hrabanus Maurus (ca. 780–856), der nach Jahren
der Ausbildung als Oblat in Fulda, am Hof und beim berühmten Alkuin von York
(† 804) selbst Lehrer in Fulda geworden war, stellte mit ungefähr vierzig Jahren seinen
ersten großen Bibelkommentar fertig.1 Im Widmungsbrief dieses Matthäuskommen-
tars an Erzbischof Haistulf von Mainz († 825) führt Hrabanus in einprägsamer Weise
vor Augen, welche kulturellen und materiellen Parameter im Frühmittelalter Wis-
senstransfer und Innovation bestimmten. Er beschrieb nicht nur den intellektuellen
Hintergrund, vor dem er arbeitete – die Werke der Kirchenväter – und seine eigene
Tätigkeit. Er trug auch Sorge um das Resultat seiner Arbeit, einen exegetischen Text,
der die Autorität seiner Quellen in besonderer Weise abbildete:

Ich habe sorgfältig beschaut und im Folgenden also hier versammelt, was die bedeutendsten
und würdigsten Künstler der heiligen Lesungen in ihren Werken über die Worte des seligen
Matthäus gedacht und geschrieben haben. Ich nenne Cyprian und Eusebius, Hilarius, Ambro-
sius, Hieronymus, Augustinus, Fulgentius, Victorinus, Fortunatianus, Orosius, Leo, Gregor von
Nazianz, Gregor den römischen Papst, Iohannes Chrysostomus, und die übrigen Väter, deren
Namen im Buch des Lebens stehen. So gut ich konnte, war ich ihrer Lektüre ergeben, insofern
mir das zwischen den unzähligen Belastungen des monastischen Dienstes möglich war – und
neben der Belehrung der Kleinen, die uns nicht wenig Mühe kostet und Lesezeit verbraucht.

Mir selbst als Diktator, Notar und Bibliothekar dienend, ließ ich auf Zettel schreiben, was ich
an Auslegungen auffand, entweder in ihren eigenen Worten oder auch einmal aus Gründen der
Kürze in meinen eigenen. Da es mühevoll war, jeweils einzeln die Worte einzusetzen und zu
zeigen, was wörtlich von welchem Autor gesagt war, hielten wir es für bequemer, immerhin am
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Im Rahmen der in diesem Band dokumentierten Lorscher Tagung erhielt ich für diesen Beitrag wert-
volle Hinweise und Anregungen von Mariken Teeuwen, Irene van Renswoude, Janneke Raaijmakers,
Evina Steinová, Carla Meyer und Walter Berschin, für die herzlich gedankt sei. Genauso bedanke ich
mich bei Christel Meier-Staubach für die Überlassung eines unveröffentlichten Vortragsmanuskripts
zur mittelalterlichen Ambiguitätstoleranz.
1 Vgl. zu Leben und Werk des Hrabanus Maurus grundlegend Kottje/Zimmermann 1982; Kottje 1991;
Schaller 1971; sowie zuletzt Raaijmakers 2012, 175–265. Zu Hrabans Widmungen an Haistulf vgl. auch
Steckel 2011b; Steckel 2014a.

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90   Sita Steckel

Rand die ersten Buchstaben der Namen einzutragen und so einzeln mitzuteilen, wo jeweils eine
Aussage der Väter beginnt und wo der Ausschnitt, den ich übertragen habe, endet. So habe ich
dafür gesorgt, dass man mir nicht nachsagen kann, ich hätte die Aussagen der Großen gestohlen
und quasi als meine eigenen ausgegeben. [...] Ohne anderen etwas absprechen zu wollen, füge
ich aber hinzu, dass ich auch einiges eingetragen habe, das mir der Quell des Lichts selbst zu
eröffnen geneigt war und das ich zur Bezeichnung meiner eigenen Arbeit, wo passend, durch die
Notiz meines Beinamens gekennzeichnet habe.2

Hrabanus Maurus sammelte also in Fulda die Aussagen der Väter, stellte sie neu
zusammen und ergänzte sie. Das so zusammengestellte Wissen versah er dann zwar
nicht mit Fußnoten, aber sozusagen mit Fußspuren, meist geradezu buchstäblichen
vestigia patrum, Spuren der Kirchenväter in Form von Autorensiglen wie AG, B, GG,
HR, ISD.3 Diese hochinteressanten symbolischen Markierungen sind vielfach heute
noch sichtbar, da in einer ganzen Reihe von Handschriften Siglen der von Hrabanus
benutzten Autoritäten im Randbereich eingetragen sind. Unter ihnen ist auch der
Buchstabe M durchaus häufig, also die Sigle, die Hrabanus für eigene Formulierun-
gen unter dem von seinem Lehrer Alkuin verliehenen Beinamen Maurus4 verwendete.
Ein schönes Beispiel ist die soeben in der Bibliotheca Laureshamensis digital zugäng-
lich gemachte vatikanische Handschrift Rom, BAV, Pal. lat. 293 aus Lorsch oder der
ebenfalls dort einsehbare Codex München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8108 aus
Fulda, der direkt auf Exemplare Hrabanus’ zurückgehen dürfte. Weitere Handschrif-
ten lassen sich leicht auffinden und mittlerweile auch vielfach digital einsehen.5

2 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 389–390: Adgregatis igitur hinc inde insignissimis sacrae
lectionis atque dignissimis artificibus, quid in opusculis suis in beati Mathei verbis senserint, quid dixer-
int, diligentius inspicere curavi: Cyprianum dico atque Eusebium, Hilarium, Ambrosium, Hieronimum,
Augustinum, Fulgentium, Victorinum, Fortunatianum, Orosium, Leonem, Gregorium Nazanzenum, Gre-
gorium papam Romanum, Iohannemque Crisostomum et ceteros patres, quorum nomina sunt scripta in
libro vitae. Horum ergo lectioni intentus, quantum mihi pro innumeris monasticae servitutis retinaculis
licuit, et pro nutrimento parvulorum, quod non parvam nobis ingerit molestiam et lectionis facit iniu-
riam, ipse mihi dictator, simul notarius et librarius, existens, in scedulis ea mandare curavi, quae ab eis
exposita sunt vel ipsis eorum syllabis vel certe meis breviandi causa sermonibus. Quorum videlicet quia
operosum erat vocabula interserere per singula, et quid a quo auctore sit dictum nominatim ostendere,
commodum duxi eminus e latere primas nominum litteras inprimere, perque has viritim, ubi cuiusque
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patrum incipiat, ubi sermo quem transtuli desinat, intimare, sollicitus per omnia, ne maiorum dicta
furari et haec quasi mea propria componere dicar. [...] Preter haec quoque nonnulla, ut sine laesione
aliorum dicam, quae mihi auctor lucis aperire dignatus est, proprii sudoris indicia per notas vocabuli
agnominisque mei, ubi oportunum videbatur adnexui [...]. (Übersetzung d. Verf.).
3 Das Wortspiel Fußnote – Fußspur im Bezug auf Beda schon bei Hill 2006, 228–229.
4 Vgl. zum Beinamen Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 402 sowie Judic 2010.
5 Die Handschrift Rom, BAV, Pal. lat. 293 (Hrabanus Maurus, Commentarium in libros Regum I–IV) ist
auf der Seite der Bibliotheca Laureshamensis unter der persistenten URL http://bibliotheca-lauresha-
mensis-digital.de einzusehen. Vgl. in der Bibliotheca Laureshamensis sowie beim Digitalisierungs-
zentrum der Bayerischen Staatsbibliothek (http://www.digitale-sammlungen.de) auch München,
Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8108 (Commentarium in epistulam beati Pauli ad Romanos V–VIII),

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Von Buchstaben und Geist   91
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Abb. 7: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8108, fol. 29r (Rhabani Mauri expositionis super
epistolam S. Pauli ad Romanos libri V–VIII), aus Fulda, Mitte des 9. Jahrhunderts.

nur in München, Clm 14384 (Hrabanus Maurus, In libros Regum), Clm 6260 (In Genesin), Clm 6261 (In
librum Numerorum), Clm 6262 (In libros Paralipomenon).

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92   Sita Steckel

Diese eigentümlichen Beinahe-Fußnoten Hrabanus’ stehen in unmittelbarem


Zusammenhang mit seiner exegetischen Tätigkeit und enthalten wichtige Aussagen
über seine Vorstellung von Wissenstransfer, gelehrter Autorität und Innovation. Sie
sind in der Forschung aber bislang – wie das für Marginalien frühmittelalterlicher
Handschriften leider oft der Fall war – nur am Rande thematisiert worden.
Ganz wesentlich scheint dies mit der bekanntermaßen ambivalenten Wahrneh-
mung des Hrabanus Maurus zusammenzuhängen, der darin auch stellvertretend für
die frühmittelalterliche Exegese insgesamt steht: Fast seit Beginn der wissenschaftli-
chen Forschung blieb Hrabanus’ Bild umstritten. Wie schon Paul Lehmann schrieb,
„preist man ihn [bald] als den Praeceptor Germaniae, bald verunglimpft die Welt die-
selbe Persönlichkeit als Plagiator.“6 Vor allem bezweifelte die ältere Forschung auf
der Basis genieästhetischer Vorstellungen von Individualität und intellektueller Leis-
tung oftmals Hrabanus’ Originalität. Wie andere frühmittelalterliche Exegeten stellte
er sein Werk ja häufig aus Aussagen der Kirchenväter zusammen, die er teils mosa-
ikartig kombinierte, ohne eigene Zusätze zu machen. Andererseits verteidigte man
Hrabanus schon früh intensiv. Letztere Sichtweise hat sich mittlerweile durchgesetzt,
und der Anlass des 1150. Todestags 2006 hat uns erfreulicherweise einen regelrechten
Schub einschlägiger Publikationen beschert.7
Auch in neuesten Arbeiten scheint allerdings noch das Bemühen durch, Hraba-
nus Maurus gegen Ernst Robert Curtius’ Verdikt des ‚öden Kompilatorentums’ und
den älteren Vorwurf des Plagiats in Schutz zu nehmen.8 Tatsächlich weisen fast alle
Kommentatoren auf die Tatsache hin, dass ja schon Hrabanus Maurus selbst den Ver-
dacht des Plagiats weit von sich wies – und mit den Autorensiglen sogar entspre-
chende Maßnahmen ergriff, um Neues und Altes voneinander abzuheben.9 Silvia
Cantelli Berarduccis großes Repertorium Fontium zu Hrabanus’ exegetischen Werken
oder Detlef Zimpels Studie und Edition seines De institutione clericali von 819 gehen
darüber hinaus ausführlich auf den Eigenanteil Hrabanus’ an seinen Werken und
auf seine kompilatorische Technik ein.10 Wie Cantellis ausführliche Studien zeigen,

6 Vgl. Lehmann 1954, 198.


7 Vgl. Depreux 2010, Aris/Bullido del Barrio 2010; Kottje 2007; Felten/Nichtweiß 2006. Bibliographi-
en zu Hrabanus Maurus in Aris/Bullido del Barrio 2010 sowie bei Spelsberg 1984. Raymund Kottje hat
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zuletzt ein Verzeichnis der Handschriften mit Werken Hrabans vorgelegt, Kottje 2012. Überlegungen
zu Hrabans exegetischem Werk und zu seiner Arbeitsweise bes. in Zimpels Edition (De institutione
clericali, ed. Zimpel 1996) und Cantelli 2006 sowie bei den Beiträgern in Depreux 2010; Felten/Nicht-
weiß 2006, insbesondere Felten 2006; Dreyer 2006 und Aris 2006; den Beiträgern in Schrimpf 1996,
insbesondere Aris 1996 und Enders 1996; De Jong 1995, 2000, 2001; Spilling 1992; Richenhagen 1989;
Rissel 1976; Müller 1973; Heyse 1969.
8 Die Bezeichnung „Hrabanus Maurus, der öde Kompilator“ bei Curtius 1948, 93.
9 Vgl. zum Konzept des Plagiats in Bezug auf Hrabanus Cardelle de Hartmann 2000, 93-95 sowie die
Stellungnahmen von Brunhölzl 1982; Kottje 1975; Lehmann 1954. Allgemein Ziolkowski 2001; Cons-
table 1983, 26–40.
10 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 7–124 sowie Zimpel in Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed.

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Von Buchstaben und Geist   93

stellte sich Hrabanus mit seiner sammelnden Arbeitsweise bewusst in eine spezi-
fische Tradition Bedas und Alkuins:11 Schon seit seinen ersten Werken verfolgte er
den bereits aus der Zeit der Bildungsreformen Karls des Großen stammenden Plan
eines ‚colligere in unum’. Die vorliegenden Auslegungen der Väter zur gesamten Bibel
sollten gesichert, zusammengeführt und, wo nötig, durch weitere Auslegung ergänzt
werden.
Diesen Plan setzte Hrabanus im Laufe seines Lebens weitgehend in die Tat um,
wobei er ein zunehmend eigenständiges exegetisches Profil entwickelte. Sowohl in
seinen sammelnden collectanea wie in einigen vorrangig von ihm selbst kommentier-
ten Büchern der Bibel zeigt sich starkes Interesse für die allegorische Auslegung und
eine intensive Beschäftigung mit der Einheit der Kirche und dem Konzept der Häresie.
Wie zudem Mayke De Jong hervorhebt, positionierte Hrabanus’ starker Bezug auf
die Bibel als ‚Gesetz’ und auf deren traditionsorientierte Auslegung ihn an einer für
das 9. Jahrhundert essentiellen Quelle politischer und intellektueller Legitimität. Er
schreckte gerade in politisch aufgeladenen Situationen auch nicht davor zurück, aus
ihr innovative Deutungen zu schöpfen.12
Während Hrabanus’ Ruf als Gelehrter somit hinreichend etabliert erscheint, ist
das Phänomen der Autorensiglen (nomina auctorum, signa nominum) bislang meist
nur als Beweis für die Tatsache zitiert worden, dass Hrabanus Maurus selbst sich der
Gefahr des Plagiats bewusst war. Gerade das große Repertorium Fontium Cantellis zu
Hrabanus’ exegetischem Werk setzt sich zwar punktuell mit den Siglen auseinander,
geht aber nicht auf das Phänomen selbst ein. Insbesondere fehlt daher ein direkter
Vergleich der von Cantelli erschlossenen Quellen Hrabanus’ mit den handschriftlich
überlieferten Siglen.13
Doch scheint die gesamte Praxis derartigen ‚Zitierens’ im 9. Jahrhundert überra-
schend weit verbreitet und wir kennen Vorbilder und Parallelen zunehmend genauer.
Es liegt also nahe, die nomina auctorum mit zeitgenössischen Vorstellungen zu Wissen
und Erkenntnis, mit der materiellen Entstehung der Werke Hrabanus’ und nicht
zuletzt seinem Selbstverständnis als Exeget im Rahmen der patristischen Tradition in
Verbindung zu bringen. Die vorliegende Skizze möchte Anregungen für solche Quer-
verbindungen geben. Sie kann anhand weniger Stichproben an den Handschriften
lediglich Fragen für künftige Forschungen aufwerfen. Dies mag aber angesichts des
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Zimpel 1996, 37-95; an älteren Studien vgl. zum Umgang mit Quellen spezifisch Blumenkranz 1977;
Rissel 1976; Heyse 1969.
11 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 7-14 und 79–124. Zur Charakteristik von collectanea siehe nochmals unten.
12 De Jong 1995, 2000. Hrabans starke Fokussierung auf die Bibel ist schon früher hervorgehoben
worden, etwa von Kottje 1975, 538; Brunhölzl 1982, 4.
13 Auf die Möglichkeit, anhand des Repertorium fontium bei Cantelli 2006 nach ‚Arbeitshandschrif-
ten’ Hrabanus’ zu suchen, wies etwa Klaus Zechiel-Eckes in seiner Rezension hin, vgl. Zechiel-Eckes
2008.

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aktuell wachsenden Interesses an der Materialität von Texten14 und speziell an karo-
lingerzeitlicher Gelehrsamkeit und deren materiellem Niederschlag legitim sein.15
Als Zugang soll hier der Gedanke verfolgt werden, dass im 9. Jahrhundert keines-
wegs nur eine Logik der literarischen Originalität zur Erklärung gelehrter Arbeitstech-
nik bemüht werden darf. Ihr stand vielmehr offensichtlich schon für die Zeitgenos-
sen eine Logik der authentischen Wiedergabe höherer Wahrheit gegenüber. Vielen
älteren, grundlegend auf moderne, säkular gedachte Wissenschaft ausgerichteten
Forschungen erschien diese eindeutig religiöse Aufladung gelehrter Kultur des Früh-
mittelalters weniger interessant.16 Doch Hrabanus Maurus gewann seine Bedeutung
als Exeget vor den Zeitgenossen nicht im Kontext heutiger Wissenschafts- und Indi-
vidualitätsvorstellungen. Seine Marginalsiglen müssen im Gegenteil im Spannungs-
feld frühmittelalterlicher Logiken gelehrten Wissens und religiöser Weisheit veror-
tet werden: Jenseits der hinreichend diskutierten anachronistischen Vorwürfe von
Plagiat und Kompilation ist zu fragen, wie zeitgenössische, möglicherweise stark
sakral aufgeladene Konzepte der Ordnung und Vermittlung von Wissen mit der Mate-
rialität der Texte interagierten. Welcher Geist spricht, um das im 9. Jahrhundert gern
verwendete Paulus-Zitat (2 Kor 3,6) zu adaptieren, aus den litterae am Rande der
Codices? Zur Beantwortung dieser Frage soll im Folgenden zunächst auf Vorstellun-
gen der Erkenntnis und die Rolle des Exegeten bei Hrabanus Maurus und anderen
Exegeten (2.) sowie auf die konkrete Arbeitsweise frühmittelalterlicher Bibelkommen-
tatoren (3.) eingegangen werden. Dies soll helfen, technische und symbolische Nut-
zungen der Autorensiglen (4.) genauer zu deuten, bevor abschließend Funktionen der
Autorensiglen und offene Fragen zusammengefaßt werden (5.).

2 Zwischen Wissen und Wahrheit: Exegese im


Kontext frühmittelalterlicher Erkenntnistheorie
Welche Erkenntnistheorie steht also hinter Hrabanus’ Umgang mit den patristischen
Autoritäten? Einen wichtigen Einblick in epistemologische Überlegungen bietet sein
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14 Vgl. exemplarisch für aktuell laufenden Projekte etwa Hilgert 2010 aus dem Heidelberger Sonder-
forschungsbereich 933 ‚Materiale Textkulturen’; Kwakkel 2012, darin bes. McKitterick 2012, aus dem
niederländischen VIDI-Projekt „Turning over a new leaf“ an der Universität Leiden, geleitet von Erik
Kwakkel.
15 Vgl. das VIDI-Forschungsprojekt „Marginal scholarship. The practice of learning in the early
Middle Ages (c. 800 – 1000)“ von Mariken Teeuwen (Leitung), Irene van Renswoude und Evina Stein-
ová am Huygen ING. Vgl. auch Teeuwen 2011a und den Berichtband eines Vorgängerprojekts zur karo-
lingischen Kommentartradition zu Martianus Capella Teeuwen/O’Sullivan 2011.
16 Vgl. so die Grundüberlegung meiner Dissertation (Steckel 2011a), aus der hier Gedanken weiter-
entwickelt werden. Siehe aber auch Aris 1996; Enders 1996; Dreyer 2006.

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Von Buchstaben und Geist   95

Werk De institutione clericali. Dieses wohl 819 für die Fuldaer Brüder wie für ein brei-
teres Publikum angefertigte Handbuch zu Fragen der Klerikerausbildung entstand im
Nachgang der Aachener Reformen von 816–819 und behandelte viele der dort disku-
tierten Fragen.17 Doch fasste Hrabanus auch die für ihn wichtigsten Überlegungen
zur Wissensvermittlung zusammen, wofür er vielfach auf Überlegungen Augustins,
Cassiodors und Isidors von Sevilla zum Erwerb christlichen Wissens zurückgriff.
Wie Hrabanus deutlich herausstellte, mussten Geistliche – und zumal solche im
geistlichen Lehr- und Hirtenamt – vorrangig Wissen um die göttliche Wahrheit besit-
zen. Dieses Wissen umfasste vielerlei scientia, die im Umgang mit der Heiligen Schrift
und sonstigen gelehrten Traditionen nötig war, blieb aber auf veritas und sapientia
gerichtet. Ihr Verständnis konnte man gerade nicht an den Buchstaben allein gewin-
nen, sondern nur durch Vermittlung des Heiligen Geistes. Mit Paulus gesprochen war
es der Geist, der belebte, während der Buchstabe allein tötete. Wie Augustinus formu-
lierte, war es Gott selbst, der im Innern des Menschen lehrte.18 Hrabanus fasste in De
institutione clericali zusammen:

Fundament, wahrer Zustand und Vollendung der Klugheit aber ist das Wissen der Heiligen
Schriften. Es fließt aus jener ewigen und unveränderlichen Weisheit hervor, die aus dem Munde
des Allerhöchsten hervorgeht, ja, die als seine Erstgeborene vor der geschöpften Kreatur erschaf-
fen wurde. Sie leuchtet durch die Zuteilungen des Heiligen Geistes durch die Gefäße der Schrif-
ten als unauslöschliches Licht und erhellt wie durch Lampen den ganzen Erdkreis. Und wenn es
noch weiteres gibt, was zu Recht mit dem Namen Weisheit bezeichnet werden kann, ist es aus
demselben Quell der Weisheit abgeleitet und erblickt in ihr den Ursprung.19

Diese Vorstellung unterschiedlicher Wissensebenen ist offensichtlich stark sakrali-


siert: Gott schafft die mit Christus identische sapientia, und durch den Heiligen Geist
geht sie über die Schriften als ‚Gefäß’ in die Welt hinaus. Man könnte hier durchaus
vom Heiligen Geist als ‚Medium’ der Wissensvermittlung sprechen, denn durch ihn
treten unermessliche göttliche Wahrheit und begrenztes menschliches Wissen zuein-
ander in ein Verhältnis.20

17 Vgl. zum Handbuch und seinen Kontexten die Studie von Detlev Zimpel in seiner Edition Hraba-
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nus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel.


18 Vgl. 2 Kor. 3,6 Littera occidit, spiritus autem vivificat und Aurelius Augustinus, De Magistro liber
unus, ed. Daur, 198: Ergo ne hunc quidem doceo uera dicens vera intuentem; docetur enim non uerbis
meis, sed ipsis rebus deo intus pandente manifestis…; zu Augustinus auch Schumacher 2010.
19 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III, 2, 438: Fundamentum autem, status et
perfectio prudentiae scientia est sanctarum scripturarum, quae ab illa incommutabili aeternaque ‚sa-
pientia profluens, quae ex ore altissimi prodiit, primogenita scilicet ante omnem creaturam, spiritus
sancti distributionibus per vasa scripturae lumen indeficiens’ quasi per lanternas orbi lucet universo,
ac si quid aliud est, quod sapientiae nomine rite censeri possit, ab uno eodemque sapientiae fonte deri-
vatum ad eius respectat originem. (Hervorhebungen im Original).
20 Die ‚Medienqualität’ der Vermittlung von Wissen/Wahrheit durch den Heiligen Geist ist erst in

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96   Sita Steckel

Die resultierende Vorstellung eines mehrschichtigen, entweder oder gleichzeitig


göttlichen und menschlichen Wissens musste starke Konsequenzen für die Rolle von
Gelehrten und besonders von Exegeten der Bibel haben: Auch ihnen konnte nach zeit-
genössischen Vorstellungen wahrheitsgemäßes Wissen nie allein durch die Buchsta-
ben zufallen, sondern stets nur durch den Geist. Hrabanus formulierte im Anschluss
an seine Überlegungen zur Vermittlung der sapientia daher eine Theorie, nach der
alle Gelehrten – sogar die Heiden unter ihnen – ihr Wissen stets nur aus der ewigen
göttlichen Wahrheit schöpften und schöpfen konnten:

Was immer nämlich an Wahrem von jemandem aufgefunden wird, ist bekanntlich nur durch
die Wahrheit und in Abhängigkeit von ihr wahr [...]. Und auch jenes, was in den Büchern der
Gelehrten dieser Welt an Wahrheit und Weisheit zu finden ist, darf nichts Anderem als der
Wahrheit und Weisheit selbst zugeschrieben werden. Denn diese Dinge sind nicht zuerst von
denen festgelegt worden, in deren Äußerungen man sie liest. Sie wurden vielmehr aus dem von
Ewigkeit her Feststehenden entdeckt, soweit die Lehrerin und Erleuchterin aller, die Wahrheit
und Weisheit selbst, die Fähigkeit zur Entdeckung zugestand. Und daher ist auf einen einzigen
Ausgangspunkt zurückzuführen, was in den Büchern der Heiden als nützlich und was in der
Heiligen Schrift als heilsam gefunden wird [...]. 21

Mit der engen Verbindung, die Hrabanus Maurus durch diese Überlegungen zwischen
der Ebene der göttlichen Wahrheit und derjenigen des menschlichen Wissens kons-
truierte, wird die Rolle des Exegeten stark aufgewertet und sakralisiert. Autoren und
Autorinnen, die mit dem Text der Heiligen Schriften und deren Auslegungen umgin-
gen, arbeiteten an einem Ort der Vermittlung zwischen göttlicher und menschlicher
Sphäre. Sie lasen oder hörten nicht nur Worte, sondern nahmen – wenn die Weisheit
ihnen dies ‚zugestand’ (concessit)! – an einem Prozess teil, durch den Gott in ihnen
wirkte und ihnen göttliche Weisheit und Liebe direkt, offenbar körperlich, einschrieb.
Wie die christliche Liebe (caritas) wurde der Heilige Geist im 9. Jahrhundert meist
als einströmend gedacht.  Er erschien als Inspiration, teils aber auch als Illumination
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letzter Zeit als Forschungsproblem behandelt worden, vgl. etwa Kiening 2009, bes. 7-9; Bedos-Rezak
2012.
21 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III, 2, 438–439: Quicquid enim veri a quo-
cumque reperitur, a veritate verum esse per ipsam veritatem dinoscitur [...]. Nec enim illa, quae in libris
prudentium huius saeculi vera et sapientia reperiuntur, alii quam veritati et sapientiae tribuendae sunt,
quia non ab illis haec primum statuta sunt, in quorum dictis haec leguntur, sed ab aeterno manentia
magis investigata sunt, quantum ipsa doctrix et inluminatrix omnium veritas et sapientia eis investigare
posse concessit. Ac ideo ad unum terminum cuncta referenda sunt, et quae in libris gentilium utilia et
quae in scripturis sacris salubria inveniuntur, ut ad cognitionem perfectam veritatis et sapientiae perve-
niamus, qua cernitur et tenetur summum bonum.

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Von Buchstaben und Geist   97

und Öffnung der inneren Augen.22 Der Tugend des Menschen kam daher eine ent-
scheidende Rolle als Voraussetzung für die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit zu.23
Wer nur Wissen besaß, die göttlichen Gebote aber nicht in seinem Verhalten
verwirklichte, konnte also keine Teilhabe an der Weisheit haben. Wer dagegen am
richtigen, zur Auslegung der Schriften befähigenden Geist teilhatte, verfügte über
sapientia und bekleidete eine nicht nur intellektuelle, sondern auch religiöse Autori-
tätsposition. Als ‚Gelehrte’ mochten Exegeten des 9. Jahrhunderts damit Spezialisten
für bestimmte Wissensbestände sein. Sie erscheinen heute zu Recht als Experten mit
ansatzweise funktional ausdifferenzierten Rollen. Sie wurden von den Zeitgenossen
allerdings stets auch als religiöse Experten gesehen, denen man ein spezifisches
Charisma zuschrieb.24 Nicht aus sich selbst, sondern durch besondere Begnadung
konnten sie aus der göttlichen Wahrheit schöpfen und die Vielfalt des in der Heiligen
Schrift enthaltenen Sinns ausdeuten – denn dabei ging es ja auch darum, Auslegun-
gen im richtigen Geist von solchen ohne diesen zu unterscheiden.25 Auch Hrabanus
Maurus sah sich als Exeget offenbar in spezieller Weise vom Heiligen Geist geleitet.
Wie sich aus verschiedenen Werken schließen lässt, sah er seine Tätigkeit als Bibel-
kommentator (im Gegensatz zum Unterricht der parvuli) nicht als Aufgabe eines
bloßen Lehrers (doctor). Im Anschluss an Gregor den Großen und andere erschien
ihm die Schriftauslegung vielmehr als besondere Aufgabe innerhalb der Kirche und
als eine Art Fortsetzung des alttestamentlichen Prophetentums.26
Doch wie beeinflussten derartige Konzeptionen von Autorität und Autorschaft27
die Art und Weise, in der sich Exgeten wie Hrabanus Maurus zur Tradition positi-
onierten? Spezifische Vorstellungen dazu wurden nicht nur von Hrabanus Maurus
entwickelt, sondern auch von anderen karolingerzeitlichen Gelehrten, die teils expli-
ziter ihre eigene Position innerhalb der Tradition ansprachen. Abt Paschasius Rad-
bertus von Corbie (ca. 790–865) legitimierte etwa sehr ausführlich seine Autorität als
Exeget. Er fügte seinem Matthäuskommentar nicht nur eine Widmung, sondern eine
richtiggehende Autorisierungserzählung an.28 In ihr berichtete er zunächst über den

22 Vgl. zum Konzept der Inspiration Thraede 1998; Evans 1998, 66–77; Grosse 2009; Frey 2009; eine
genauere Untersuchung zum Konzept der Inspiration im Frühmittelalter fehlt leider.
23 Vgl. Steckel 2011a, 116–124.
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24 Charisma hier verstanden im paulinischen Sinne der Begnadung. Vgl. für ausführlichere Bestim-
mung des Begriffs Ratschow 1981; Andenna u.a. 2005; Rychterová u.a. 2008.
25 Vgl. so etwa Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III, 12, 456–457. Zur Gesamtein-
schätzung Hrabans auch Dreyer 2006, 43–47.
26 Vgl. zu Hrabans Konzeption der Prophetie und seiner Rolle als Prophet Pollheimer 2010; Schlosser
2000, 200–201; zu gelehrter Autorschaft als Fortsetzung alttestamentlicher Prophetie insbesondere
Meier 2014a.
27 Vgl. zur Erforschung von Autorschaftskonzepten zuletzt die Beiträge in Meier/Wagner-Egelhaaf
2011, für die Karolingerzeit Steckel 2011a, 531–569; 602–650; zu Autorität im Zusammenhang mit Ma-
terialität vgl. auch Garipzanov 2008.
28 Vgl. zu Paschasius Radbertus Ganz 1990, 82–83; De Jong 2009, 102-111; zu seinem Autorschaftskon-

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Schreibanlass und demonstrierte dabei eine auf Gott, die Erkenntnis der Weisheit
und die Erbauung seiner Mitbrüder ausgerichtete, äußerst demütige Einstellung, wie
sie auch Hrabanus in Vorreden meist sorgfältig anzeigte.
Paschasius verteidigte jedoch dann in dieser Vorrede recht offensiv sein Recht
zur Bibelauslegung in ‚modernen Zeiten’. Er nahm dabei ähnlich wie Hrabanus auf
eine als ewig und unveränderliche gedachte Wahrheit Bezug, die von verschiedenen
Exegeten aufgefunden und vermittelt würde:

[I]ch habe dies nicht aus Unbesonnenheit entschieden, sondern aus Liebe zur Religion, in dem
Wunsch, von der Gnade Christi benetzt die Vorsätze der Väter weiterzuführen. Tatsächlich hat ja
kein Lehrer bislang ausgeschlossen, dass Künftigen die Gabe des Heiligen Geistes und Geistes-
schärfe zuteil wird; niemand hat verboten, die himmlischen Lehren zu befolgen. [...] Auch wir
müssen also nicht schweigen. Denn die Schriftsteller der verschiedenen Kirchen haben in ihren
Erwiderungen klar deutlich gemacht, dass es nützlich ist, wenn viele verschiedene Bücher von
Verschiedenen geschrieben werden, in unterschiedlichem Stil, doch im selben Glauben, so dass
die eine, einheitliche Lehre des Heiligen Geistes verkündet an viele dringen soll, an die einen so,
an die anderen aber so. Und es ist auch nicht anzunehmen, dass in unserer Zeit gar niemand das
Verständnis dazu gewährt würde [...]. 29

Wissen konnte in den irdischen Vermittlungen, in denen es vorlag, also immer wieder
neu entdeckt werden und war dann in seinen unterschiedlichen Formen anzueignen
und weiterzugeben. Die historischen Exegeten, in deren Tradition Hrabanus oder
Paschasius sich stellten, hatten an der Wahrheit quasi immer von neuem teil und
konnten sie ihrem Publikum in spezifischen, besonders klug ausgewählten, zeitge-
mäßen oder nützlichen Selektionen präsentieren.
Paschasius stellte seine Rolle innerhalb dieses Prozesses sehr selbstbewusst dar.
Er schmetterte nicht nur Vorwürfe der Tätigkeit ultra terminos patrum mit dem kühlen
Hinweis ab, es gebe ja kein Verbot der Auslegung. Er fand bei Cicero auch eine fas-
zinierende Metapher für seine Tätigkeit, das er ausdrücklich nicht als ‚Kompilation’
angesehen haben wollte (nec compilator veterum appellandus). Wie der Maler Zeuxis
von Croton nämlich nicht eines, sondern vielmehr fünf schöne Mädchen auswählen
ließ, um aus ihren Zügen ein Porträt der schönen Helena herauszudestillieren, so
wählte auch Paschasius das Beste aus den Schriften der Alten aus und fügte es so zu
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zept Steckel 2011a, 539–546.


29 Paschasius Radbertus, Epistolae, ed. Dümmler, 139–140: Quod si quispiam econtra invidorum op-
ponere temptaverit, moderno tempore post auctoritatem patrum priorum ut quid nisus sim evangelium
exponere, noverit, quod non temeritate usus hoc praeelegerim, sed amore religionis, cupiens paterna
subplere vota Christi gratia respersus. Profecto quia hactenus nemo doctorum proscripsit donum sancti
Spiritus et mentis efficatiam futurorum, nemo qui interdixerit caelestibus parere doctrinis. [...] nos ta-
cere non debuisse; cum auctores ecclesiarum suorum in responsione luce clarius demonstraverint utile
quidem esse plures a pluribus fieri libros diverso quidem stilo, sed non diversa fide, ut ad plurimos una
eademque doctrina sancti Spiritus promulgata perveniat, ad alios sic, ad alios autem sic. Neque enim
putandum est nulli nunc temporis gratiam intelligentiae largiri [...].

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Von Buchstaben und Geist   99

einem neuen Ganzen zusammen.30 Er folgte wie andere vor ihm also den Fußspuren
der Lehrer und Autoren, suchte aber auch selbst, für den Heiligen Geist ‚Frucht zu
erbringen’. Die Rolle des Exegeten wurde also wesentlich dadurch definiert, die Tra-
dition zu durchdringen, auf Wahrheits- und Weisheitsgehalt zu beurteilen, und aus
ihr für ein zeitgenössisches Publikum auszuwählen.

3 Der Ausleger im Gehäus. Wissensorganisation in


der karolingerzeitlichen Exegese
Bevor Hrabanus Maurus oder Paschasius Radbertus ihren Lesern neue Schriften
präsentieren konnten, galt es also, durch Beherrschung der älteren Schriften auf die
Wahrheit zuzugreifen. In der Verwendung der marginalen signa werden dabei auch
ererbte Techniken des Sammelns und Verarbeitens von Wissensliteratur greifbar.31
Zwar haben wir aus dem Frühmittelalter keine Bilddarstellungen von Gelehrten ‚im
Gehäus’, wie sie in späteren Jahrhunderten gängig wurden.32 Doch Hrabanus Maurus
wie Paschasius Radbertus arbeiteten offensichtlich von Codices der Kirchenväter
umgeben, die selbst wiederum andere Autoritäten zitierten. Wie Michael M. Gorman
und andere erarbeitet haben, mussten karolingerzeitliche Exegeten dabei bereits auf
Techniken des ‚Zitierens’ und der Markierung von Autoritäten durch Siglen stoßen.33
Der Urheber des Autoritätenverweises durch nomina auctorum scheint der
angelsächsische Gelehrte Beda († 735) gewesen zu sein, der sie zuerst in seinem
Lukaskommentar anwandte. Insgesamt nutzte er sie jedoch nur in seinem Lukas-
und Matthäuskommentar sowie in De locis sanctis (dort übrigens für ein anderes

30 Paschasius Radbertus, Epistolae, ed. Dümmler, 141: Nec ideo profecto compilator veterum appel-
landus, quando, ut Tullius refert, ipse rex eloquentiae quendam Eleusynum est imitatus, qui ex omnibus
Crotoniensium virginibus quinque delegit pulchriores, quas statuit coram oculis, dum Elenae imaginem
illis petentibus mirabile opus pingeret, ut quod uni earum minus esset pulchritudinis, ex his decorosius,
quicquid singillatim in se pulcrius exprimerent, totum picturae suae coloribus conferret: ita praefatus
orator insignis, sicut in suo testatur opere, ex omnibus qui ante se fuerunt filosophis, coram se constitu-
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ens, delegit unde rethoricae artis formaret mirabile documentum [...].


31 Vgl. zur karolingerzeitlichen Bibelexegese allgemein die Beiträge in Boynton/Reilly 2011; Contreni
2011; Van’t Spijker 2009; Gorman 2007; Shimahara 2007; Chazelle/Edwards 2003; Contreni/Casciani
2002; Lobrichon 1999; Contreni 1992; Iogna-Prat u.a. 1991; Riché 1984 sowie viele der oben Anm. 7
genannten Beiträge, bes. aus Depreux u.a. 2010.
32 Vgl. zu frühmittelalterlichen Bilddarstellungen von Gelehrten Meier 2000.
33 Die intensivste Behandlung der marginalen Autorensiglen in verschiedenen in Gorman 2007 ver-
sammelten Aufsätzen sowie einprägsam Hill 2006 zu Beda; Rädle 1974, 137–142 zu Smaragdus von
St. Mihiel; Stoll 1991 mit einem Vergleich. Ältere Literatur wie Sutcliffe 1926; Laistner 1933 oder Souter
1908; Souter 1917; Souter 1922; Souter 1933; Schönbach 1903 katalogisierte dagegen meist nur. Ledig-
lich allgemeinste Überlegungen zu mittelalterlichen Zitierweisen bei Eco 1999.

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100   Sita Steckel

Autoritätensystem).34 Wie Beda im Widmungsbrief zu seinem Lukaskommentar


schilderte, sollte ihn die Bezeichnung von wörtlich übernommenen Stellen vor dem
Vorwurf des Ideendiebstahls schützen, war aber auch ein Produkt seines Arbeitspro-
zesses: Er hatte aus den verschiedenen Kirchenvätern auf Zetteln (schedulae) Passa-
gen notiert, wobei er teils wörtlich abschrieb, teils zur Kürzung in eigenen Worten
zusammenfasste. Diese stellte er dann zu seinem neuen Werk zusammen. Da es
umständlich erschien, die Namen ständig im Text zu wiederholen, bezeichnete er die
Zitate durch die Anfangsbuchstaben der Autornamen am Rand als solche; er wollte
unbedingt, dass sie sauber abgeschrieben würden.35 Beda nutzte diese Markierungen
im Gegensatz zu den meisten seiner Nachahmer übrigens als genuine Zitatmarkie-
rungen: Der erste Buchstabe eines Kürzels wie AG oder HR für Augustinus und Hie-
ronymus stand jeweils beim Anfang des Zitats, der letzte beim Ende (ubi sermo quem
transtuli desinat). 36
Eine ganze Reihe von Exegeten des 9. Jahrhunderts orientierte sich an dieser
Methode. Doch es stellten sich schnell Schwierigkeiten ein, die einiges über Potentiale
und Grenzen des Autoritätenverweises durch Randsiglen aussagen. Aufschlussreich
sind die knappen Aussagen bei Claudius von Turin († nach 827), einem recht eigen-
ständigen und eigenwilligen Exegeten.37 In seinem Kommentar zum Buch Genesis
verfuhr er anfangs nach dem Vorbild Bedas und übernahm für die ‚Blüten’, die er
auf den Wiesen der Väter gesammelt hatte, jeweils Anfangsbuchstaben der zitierten
Autoren als Verweise am Rand:

34 Vgl. Gorman 2002, 260 und insges. 258–261; Kaczynski 2001, 20–23.
35 Vgl. Beda Venerabilis, In Lucae Evangelium Expositio, ed. Migne, Sp. 304C–305A: Aggregatisque
hinc inde quasi insignissimis ac dignissimis tanti muneris artificibus, opusculis Patrum, quid beatus
Ambrosius, quid Augustinus, quid denique Gregorius vigilantissimus (juxta suum nomen) nostrae gentis
apostolus, quid Hieronymus sacrae interpres historiae, quid caeteri Patres in beati Lucae verbis senser-
int, quid dixerint, diligentius inspicere sategi; mandatumque continuo schedulis, ut jussisti, vel ipsis
eorum syllabis, vel certe meis, breviandi causa, sermonibus, ut videbatur, edidi. Quorum quia operosum
erat vocabula interserere per singula, et quid a quo auctore sit dictum nominatim ostendere, commo-
dum duxi eminus e latere primas nominum litteras imprimere, perque has viritim ubi cujusque Patrum
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incipiat, ubi sermo quem transtuli desinat, intimare, sollicitus per omnia, ne majorum dicta furari, et
haec quasi mea propria componere dicat. Multumque obsecro, et per Dominum legentes obtestor, ut
si qui forte nostra haec qualiacunque sunt opuscula transcriptione digna duxerint, memorata quoque
nominum signa, ut in nostro exemplari reperiunt, affigere meminerint. Nonnulla etiam quae (ut verbis
tuae sanctitatis loquar) mihi auctor lucis aperuit, proprii sudoris indicia, ubi opportunum videbatur,
annexui [...].
36 Vgl. die Abbildung der ältesten erhaltenen Handschrift des Lukaskommentars mit den Randsiglen
bei Gorman 2002, 383. Wie Rädle 1974, 141, bemerkt, führte diese Technik im Werk Smaragds von St.
Mihiel zu fälschlichen Verwendungen der Randsigle ‚R’, die bei Beda das Ende eines Hieronymus-
Zitats markiert, aber als Autorenbezeichnung missverstanden wurde.
37 Vgl. zu Claudius und seiner Verweis- und Arbeitstechnik Gorman 1997; allg. Boulhol 2002.

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Von Buchstaben und Geist   101

[D]er Leser liest hier nicht meine, sondern ihre Worte, denn wie schöne Blüten habe ich ihre
Worte aus den diversen Feldern zusammengesucht und es ist ihre Auslegung in meiner Schrift.
Und damit ich nicht von anderen als anmaßend und tollkühn beurteilt werde, weil ich Waffen
aus dem Schrank eines anderen genommen habe, habe ich jeweils den Namen eines jeden
Lehrers mit seinen Anfangsbuchstaben unten annotiert, so wie es auch der selige Priester Beda
getan hat.38

Claudius bezeichnete dabei auch selbstverfasste Passagen, und zwar mit dem Kürzel
CLN oder NCL, was Gorman als Claudii nota oder nota Claudii auflöst. 39
Doch Claudius’ idyllische Blütenlese geriet bald in technische Schwierigkeiten.
Eine seiner Hauptquellen, die auch die zitierte Passage seines Widmungsbriefes fast
wörtlich inspirierte, war Isidor von Sevilla († 636). Isidor hatte in Spanien – ähnlich
wie Beda im nordhumbrischen England – von einer guten Überlieferungssituation
profitieren können und bemühte sich erfolgreich, eine Auswahl der wichtigsten
älteren Schriften in eigenen Zusammenstellungen zu tradieren. Doch Isidor scheint
keine gewissenhaften Randsiglen genutzt zu haben und dies führte zu einem bei heu-
tigen Editoren gut bekannten Problem: Wie Claudius konstatieren musste, stellten
sich Passagen Isidors als unmarkierte Zitate aus anderen, älteren Werken heraus,
vor allem aus Werken des Augustinus und Ambrosius. Anscheinend darüber verun-
sichert, kombinierte er Isidors Namen zunächst mit dem des Ambrosius, in Abkür-
zungen wie ysd et ambrosi. 40 Doch schließlich ließ er den Namen des von ihm sehr
ausführlich benutzten Isidor zunehmend weg. Teils verwies er stattdessen noch auf
dahinterstehende Quellen. In einer weiteren, späteren Widmung, in der er auf den
Wunsch seines Schülers Theutmirus von Psalmodi nach einem ausführlich mit Auto-
ritäten bezeichneten Kommentar reagierte, schrieb Claudius aber schließlich ernüch-
tert:

Da Du aber befiehlst, in unseren Auslegungen die Sätze eines jeden Lehrers auf der Seite zu mar-
kieren: Ich habe von niemandem gelesen, der das getan hat, außer dem seligen Beda, und dieser
führte es über zwei Bücher hinaus (nämlich die Auslegung der Evangelisten Markus und Lukas)
nicht weiter. Ich habe es also unterlassen, denn ich fand bald heraus, dass die Sätze von einigen,
die ich zunächst unter bestimmten Namen annotiert hatte, sich bei genauerer Nachforschung als
Sätze von anderen herausstellten. 41
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38 Claudius von Turin, Epistolae, ed. Dümmler, 592: Has autem rerum gestarum sententias de mysticis
thesauris sapientium inquirendo et investigando in unum codicem conpendio brevitatis coartavi, in qui-
bus l(ector) non mea legit, sed illorum relegit, quorum ego verba quae illi dixerunt veluti speciosos flores
ex diversis pratis in unum collegi et meae litterae ipsorum expositio est. Et ne ab aliquibus praesumptor
et temerarius diiudicarer, quod (ab) alieno armario sumpserim tela, uniuscuiusque doctoris nomen cum
suis characteribus, sicut et beatus fecit presbiter Beda, subter in paginis adnotavi. Vgl. zur Überliefe-
rung dieses Widmungsbriefs die Bemerkungen von Gorman 1997, 288 mit Anm. 45.
39 Gorman 1997, 315.
40 Nachweis ebd.
41 Claudius von Turin, Epistolae, ed. Dümmler, 603: Quod vero sententiam uniuscuiusque doctoris

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Claudius stellte also den Verweis auf Autoritäten am Rand ein. Interessanterweise
wissen wir von ihm auch, dass er teils – allerdings vermutlich nur aus Zeitmangel
– auf den Arbeitsschritt einer Verzettelung der exzerpierten Zitate verzichtete. Einen
Kommentar schrieb er ganz direkt aus seinen Codices der Bibel und Kirchenväter
zusammen und entschuldigte sich dann für den etwas unordentlichen Text – er habe
dieses Mal ohne Exzerpte auf Wachstafeln (tabellae) und Anordnung auf Zetteln
beziehungsweise losen Blättern (scedulis digesta) gearbeitet.42
Weitere Variationen des Umgangs mit nomina auctorum können mangels sys-
tematischer Forschungen nur grob skizziert werden. Sedulius Scottus († nach 858)
benutzte Randsiglen in seinen Collectanea in Epistolas Pauli.43 Smaragd von St. Mihiel
(fl. 809–819) benutzte Randsiglen für die Kirchenväter in seinem Liber Comitis, das
Bibelperikopen mit patristischen Exzerpten zusammenstellte; auch er übernahm die
Praxis direkt von Beda.44 Paschasius Radbertus von Corbie kündigte in seinem Mat-
thäuskommentar an, Randsiglen nutzen zu wollen, wiewohl de facto keinerlei Hand-
schriften mit Randsiglen von seinen Werken erhalten sind.45
Paschasius wollte allerdings anders als Beda, Claudius von Turin und Hrabanus
offenbar seinen eigenen Namen nicht mit eingeschlossen haben. Möglicherweise steht
dies mit seinem Autorschaftskonzept als kreativer ‚Auswähler’ in engem Zusammen-
hang.46 Deutlicher lässt sich dies für Angelomus von Luxueil (fl. 825–855) postulieren:
Gorman rekonstruiert, dass er eine mit Autoritätenverweisen versehene Arbeitskopie
seiner Auslegungen besessen haben muss.47 In der Widmung seines Hoheliedkom-
mentars verzichtete Angelomus aber bewusst auf die Verzeichnung von Autoritäten
am Rand.48 Stattdessen stellte er sich im Text durch vielfache Verweise auf die Autori-

in paginis adnotare praecipis in expositionibus nostris: neminem hoc fecisse legi, excepto beatissimum
Bedam; quod quidem nec ille amplius quam in duobus codicibus fecit, in expositione videlicet evangelis-
tarum Marci et Lucae. Quod ego ideo omisi facere, quia sententias quorundam, quas adnotaveram prius
sub nomine aliorum, diligentius perquirens, aliorum eas esse repperi postea.
42 Claudius von Turin, Epistolae, ed. Dümmler, 595: Quod vero quaedam minus ordinata quam decet
in hoc codice multa repperiuntur, non omnia tribuas imperitiae, sed quaedam propter paupertatem,
quaedam ignosce propter corporis infirmitatem et meorum oculorum inbecillitatem, quia non fuerunt in
tabellis excepta vel scedulis digesta, sed ut a me inveniri vel disseri potuerunt, ita in hoc adfixa codice
sunt. Date itaque veniam inprudentiae meae, quam extorsistis.
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43 Vgl. Souter 1917.


44 Vgl. zu Smaragd Rädle 1974, bes. 137-142 sowie zuletzt Ponesse 2010; Ponesse 2012 war mir leider
noch nicht zugänglich.
45 Vgl. Ganz 1990, 82–83.
46 Vgl. ähnlich die Andeutungen bei Cantelli 2006, Bd. 1, 11.
47 Vgl. Gorman 1999b, 578–579.
48 Vgl. Angelomus von Luxueil, Epistolae, ed. Dümmler, 627: Sed sciendum vero, quia ut moris est
quorundam scriptorum, non in pagella e regione singulorum doctorum viritim litteris insignitis assigna-
verimus nomina omnia, sed ex eorum dictis profecto expositorum nonnulla compaginare ex multimo-
dis, breviter recidendo videlicet demptis superfluis, multimoda, nonnulla vero ex prolixioribus sensum
eorum sequentes coniungere decerpendo, aliqua nostra interpolando augmentare censuimus longiora.

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Von Buchstaben und Geist   103

täten wie durch Angebote eigener allegorischer Deutungen selbst als Ausleger in den
Vordergrund, der für Leser und Hörer eine Palette an ‚Medikamenten’ und ‚Gewürzen’
zusammengestellt hatte.49 Gerade bei Angelomus gewinnt man den Eindruck, dass er
keinen besonderen Wert auf die umständliche wörtliche Wiedergabe der Autoritäten
legte, sondern eher deren Sinn zusammenfassen wollte.50
Vor diesem Hintergrund lassen sich die Intentionen des Hrabanus Maurus bereits
genauer einordnen: Schon die knappen Kommentare zu seiner eigenen Arbeitsweise
führen vor allem eine intensive ‚Zettelwirtschaft’ vor Augen, die karolingerzeitliche
Gelehrsamkeit vielleicht stärker auszeichnete als bislang wahrgenommen.51 Aus
mehreren seiner Widmungsbriefe geht etwa hervor, dass Hrabanus kürzere Texte und
exzerpierte Passagen aus den Kirchenvätern auf schedulae notiert hatte. Ein gutes
Beispiel ist sein De institutione clericali: Zwar hat Zimpel für dieses Werk eine sehr
spezifische Schreibabsicht im Zusammenhang mit den Reformen von 816–819 fest-
gestellt, die Hrabanus in der Widmung glatt unterschlug. Doch wird man seinen
einleitenden Worten soweit glauben dürfen, als das Werk offensichtlich auch auf
gestückelte Informationen zurückging, die Hrabanus anlässlich von Anfragen einzel-
ner Fuldaer Kleriker herausgesucht und teils bereits schriftlich als Antworten notiert
hatte. Unter anderem handelte es sich um folia, auf denen er offenbar Zitate und Pro-
blemlösungen situationsgebunden festhielt und die er dann für das Gesamtwerk neu
zusammenstellte und ergänzte.52
Wie Zimpel argumentiert, muss dieses Arbeiten mit Zetteln dann der in De insti-
tutione clericali beobachtbaren Tatsache zugrundeliegen, dass Hrabanus zwar Pas-
sagen aus den Kirchenvätern komplett verwertete, dabei aber völlig neu zusammen-

49 Vgl. Gorman 1999b für Bemerkungen zu Angelomus’ Autorschaftskonzept (567–568) und zu sei-
nem verweisenden Duktus (589–592). Die Metaphern des Darreichens von Medikamenten und Gewür-
zen in Angelomus’ zitiertem Widmungsbrief (vorige Anm.).
50 Siehe seine Überlegungen zu Kürzungen in der gerade zitierten Stelle.
51 Ich hoffe, zum Umgang mit schedulae in der karolingerzeitlichen Wissensvermittlung demnächst
weitere Überlegungen vorzulegen, da sich dieses Thema in der Tagungsdiskussion als besonders wei-
terführend erwies. Schedulae und Einzelblätter sind im Rahmen codicologischer Forschungen zwar
behandelt worden, etwa schon von Lehmann 1936, doch sind mir aktuell keine Arbeiten zu Zetteln
als Medium der Wissenorganisation für das Frühmittelalter bekannt, anders als für die Neuzeit. Hier
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wäre also einiges zu tun; vgl. z.B. Blair 2010, 210, die zu bezweifeln scheint, dass Zettel im Mittelalter
überhaupt öfters zu Kompilationszwecken genutzt worden seien.
52 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 385: Quaestionibus ergo diversis fratrum nostrorum, et
maxime eorum, qui sacris ordinibus pollebant, respondere conpellebar, qui me de officio suo et variis ob-
servationibus, quae in aecclesia Dei decentissime observantur, saepissime interrogabant. Et aliquibus
eorum tunc dictis, aliquibus vero scriptis, prout oportunitas loci ac temporis erat, secundum auctorita-
tem et stilum maiorum ad interrogata respondi, sed non in hoc satisfacere potui, qui me instantissime
postulabant, immo cogebant, ut omnia haec in unum volumen congererem, ut haberent quo aliquo modo
inquisicionibus suis satisfacerent, et in uno codice simul scriptum repperirent, quod antea non simul,
sed speciatim singuli, prout interrogabant, in foliis scripta habuerant. Quibus consensi et quod rogabant
feci quantum potui. Nam de hoc tres libros edidi.

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stellte, ohne einzelne Sätze zu wiederholen. Auch der Blick über die anwachsende
Reihe seiner späteren Bibelkommentare lässt den Eindruck entstehen, dass Hraba-
nus Maurus inmitten eines anwachsenden Zettelkastens biblischer und patristischer
Weisheiten arbeitete. Wie Silvia Cantelli zeigt, setzte Hrabanus etwa häufig Querver-
weise auf andere biblische Bücher und parallele patristische Auslegungen ein.53 Sie
nimmt auch an, dass er möglicherweise eine Arbeitskopie seiner anwachsenden Zahl
von Bibelkommentaren in Fulda behielt,54 die aus losen Blättern bestanden haben
könnte. Auch andere Exegeten der Zeit arbeiteten offenbar mit Hilfsmitteln wie sche-
dulae und tabellae, „the 3 × 5 cards and Post-it notes of their day“ (Gorman).55 Tat-
sächlich scheint es, dass Zettel und Leim für seine Zusammenstellungen zunehmend
die Rolle spielten, die Papier, Schere und Kleber auch noch im 20. Jahrhundert für die
Erstellung von wissenschaftlichen Arbeiten zukam – und die erst aktuell weitgehend
vom digitalen Copy and paste und von Listen- und Zettelverwaltungsprogrammen wie
Evernote abgelöst wird.56

4 Auf den Spuren der Spuren der Väter. Die nomina


auctorum in Theorie und Praxis
Welche Intentionen der Nutzung von Autorensiglen lassen sich vor diesen episte-
mologischen wie technischen Hintergründen bei Hrabanus Maurus rekonstruieren?
Angesichts vorliegender Forschungen zu Hrabanus’ oft geradezu subtiler Verwen-
dung von Autoritäten dürfen wir von vornherein eines ganz sicher annehmen: Bei
der Verwendung von nomina auctorum am Rand muss sich Hrabanus Maurus etwas
gedacht haben. Allein die Studie Zimpels zu De institutione clericali57 zeigt, dass Hra-
banus Maurus wie Claudius von Turin und Angelomus von Luxueil genau um die
technischen Problematiken des Verweisens auf Autoritäten wusste. Doch er konnte
wörtliche Zitate der Kirchenväter nach Bedarf genau markieren oder aber höchst wir-
kungsvoll ‚stumm’ einsetzen – und schließlich die Sätze der Alten auch einmal so
zusammenstellen, dass aus drei Augustinus-Zitaten eine Stellungnahme gegen die
Ansicht des Augustinus wurde.58 Auf den Spuren der Väter zu wandeln bedeutete bei
Hrabanus Maurus niemals, einem eingetretenen Pfad zu folgen.
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53 Cantelli 2006, Bd. 1, 72–73, 79–80.


54 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 61, Anm. 256 mit Verweis auf Spilling 1982, 167.
55 So Gorman 1997, 316.
56 Vgl. Zimpel in Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, 74-75. Der Ausdruck „scissors
and paste“ bei Saltman 1973, 46. Zu note-taking und Wissensmanagement in der Vormoderne Blair
2010.
57 Vgl Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, bes. 62–94.
58 Vgl. zu letzterem bereits Blumenkranz 1977; die inhaltliche Innovativität Hrabanus’ bei gleich-

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Von Buchstaben und Geist   105

Eine genauere Betrachtung seiner Widmungsbriefe ergibt, dass Hrabanus laufend


zwischen pragmatischen und epistemologischen, religiösen wie profanen Konzepten
der Erkenntnis und Praktiken des exegetischen Schreibens vermittelte. In vielschich-
tigen Positionierungen setzte er sich dabei mit mehreren Problemkomplexen ausein-
ander, die sich im Verlauf seiner gelehrten Karriere auch mehrfach wandelten. Immer
jedoch scheint seine Selbstdarstellung und seine Handreichung für Leser und Wid-
mungsempfänger um die Rolle des Exegeten als Auswähler zu kreisen.
In den frühen Werken Hrabanus’ stand seine eigene, noch unsichere Stellung als
Vermittler transzendenter Wahrheit sehr weit im Vordergrund. In seinem Erstlings-
werk, dem kunstvollen Liber sanctae crucis von 814,59 stellte er den Lesern in betonter
Sorgfalt eine Prüfung anheim, ob seine Auswahl von Inhalten auch richtig und ortho-
dox sei. Diese Geste der Demut erscheint gleichzeitig als paradoxe Selbstaufwertung,
denn die kundigen Leser sollten nun in einer aktiven Lektüre ebenfalls eine Auswahl
treffen:60 Was nicht ganz richtig oder unbesonnen scheine, so Hrabanus, solle man
seiner eigenen Schwäche zuschreiben. Doch strebe er nach dem richtigen und katho-
lischen Glauben und sei willig, seinen Text auch zu korrigieren. Was man im Text aber
rechtgläubig und im Vergleich mit den Heiligen Schriften richtig finde, so die zweite
Hälfte einer typischen und topisch gewordenen Aufforderung zur Auswahl, das solle
direkt dem zugeschrieben werden, von dem alles Gute komme, also Gott. Wo immer
Hrabanus nicht verbessert werden konnte, hatte er sich somit als Teilhaber an der
göttlichen Wahrheit selbst in die Gruppe der inspirierten sapientes eingeschrieben
und einschreiben lassen. Als einfacher Mönch in seinen Dreißigern noch eher zurück-
haltend, als Abt aber bald relativ selbstbewusst, sprach er auch selbst davon, dass
er schreibe, was ihm die göttliche Gnade (oder auch die Inspiration, der Quell des
Lichts, die ipsa veritas etc.) eröffnet habe.
Diese relative – nämlich im Gegensatz zu der anerkannten Inspiration der Kir-
chenväter noch ungeprüfte – Autorität seiner eigenen Aussagen blieb für Hrabanus
weiter präsent. Nicht zuletzt zu ihrer Markierung dienten die Siglen mit nomina auc-
torum: In seinem ersten exegetischen Werk, dem Matthäuskommentar von 821/822,
erklärte er die Abbildung von Autoritäten durch Siglen noch als Mechanismus der
Abwehr von Plagiatsvorwürfen. Doch formulierte er diese oben zitierte Beteuerung
bei genauem Hinsehen im direkten wörtlichen Anschluss an Beda, der offensichtlich
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zeitiger imitierender Verwendung typischer Stilelemente z.B. von Beda und Cassiodor betont auch
Cantelli 2006, Bd. 1, 120–122.
59 Vgl. Ferrari 1999.
60 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 383: rogo, ut quicumque textum huius operis perspexerit
[...] si velit et possit, legat et oculo sanae fidei intuendo atque per auctoritatem divinarum scripturarum
diiudicando, quod in eo catholice et recte repperierit disputatum, ei hoc tribuat, a quo est omne bonum.
Si quid autem minus recte atque inconsiderate invenerit prolatum, magis meae inperitiae quam malitiae
deputet, qui catholicae fidei quantum possum rectitudinem semper desidero et inhianter disco, eiusque
iura, quantum superna gratia concedit, servare contendo.

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sein Vorbild für diese Technik war (und nicht, wie in einigen Arbeiten angenommen,
Alkuin61). Hrabanus erklärte sie an dieser Stelle nicht weiter. In seinen nächsten Wid-
mungen finden wir dagegen eine leicht präzisierte Erklärung: An Bischof Frechulf
von Lisieux (fl. 825–852) widmete er einen Kommentar zur Genesis mit der Erläute-
rung, er habe auf dessen Wunsch einzelne Auffassungen der Väter zur Bibel zusam-
mengestellt:

[I]ch habe sie inseriert, wobei deren Namen vorher auf der Seite angemerkt sind. Wenn aber
die göttliche Gnade mir Unwürdigem selbst etwas zu erleuchten geneigt war, habe ich dies am
nötigen Ort gleich mit einem Zeichen meines Namens bezeichnet. So weiß der Leser, was er aus
der Tradition der Väter hat, und was er nur von unserer Wenigkeit, in ungeschliffener Sprache
aber doch, wie ich glaube, in katholischem Sinn, ausgelegt findet.62

Hrabanus transponierte den Gedanken einer möglichen, aber keineswegs sicheren


Inspiration also nun in eine Hierarchie der Autoritäten, innerhalb derer er sich in
vorbildlicher Demut einen geringeren Status zuschrieb.
Diese Überlegung steht jedoch in engem Zusammenhang mit Bemühungen, die
Autoritäten möglichst korrekt zu zitieren. Im Jahr 829 widmete Hrabanus seinen
Kommentar zu den Königsbüchern an Abt Hilduin von St. Denis. Wie Mayke de Jong
wahrscheinlich macht, versuchte er mit der Widmung an diese wichtige und selbst
hochgelehrte Persönlichkeit wohl, über den Umkreis von Fulda und Mainz hinaus-
zugelangen und durch gelehrte Geschenke wieder einen Anschluss an den Kaiserhof
herzustellen.63 In der Widmung erläuterte Hrabanus nunmehr, dass die Siglen aus-
weisen sollten, was wie zu gewichten sei, quidve in singulis sentientum sit.64 Er sprach

61 Gorman 1997, 313; Aris 1996, 451, Anm. 88; Hill 2006, 231 behaupten, dass Hrabanus die Ver-
wendung von Siglen von Alkuin gelernt habe, was allerdings auf einer Fehlübersetzung zu beruhen
scheint: Hraban erläutert an der von ihnen stets zitierten Stelle (hier unten in Anm. 64 zitiert), Alkuin
habe ihm den Beinamen Maurus beigelegt (nomen ... quod meus magister beatae memoriae Albinus
mihi indidit). Dass Hrabanus die Technik aus Bedas Schriften lernte, ist dagegen mit guten Gründen
anzunehmen, da er dessen Texte kannte und bei den meisten anderen Autoren des 9. Jahrhunderts
sogar explizite Bezüge auf Beda auftreten (und da schließlich von Alkuin keine Bibelkommentare mit
Autorensiglen überliefert sind).
62 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 394: Feci enim sicut postulasti, et sanctorum patrum
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libros, in quibus rebar aliquid de sententiis legis expressum esse, quantum licuit perlegi et singula se-
cundum oportunitatem loci, prout mihi satis esse videbatur, inserui, eorum nominibus ante in pagina
praenotatis. Si quid vero gratia divina indigno mihi elucidare dignata est, in locis necessariis simul cum
nota agnominis mei interposui, quatinus sciret lector, que ex patrum traditione haberet, et que ex par-
vitate nostra, licet sermone rustico, tamen ut credo sensu catholico exposita inveniret.
63 De Jong 2000, 203–204.
64 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 14, 402: Quorum omnium sententias aut, sicut ab ipsis
conscripte sunt, posui aut sensum eorum meis verbis breviando explanavi. Praenotavique in marginibus
aliquorum eorum nomina, ubi sua propria verba sunt; ubi vero sensum eorum meis verbis expressi aut
ubi iuxta sensus eorum similitudinem, prout divina gratia mihi concedere dignata est, de novo dictavi,
M litteram Mauri nomen exprimentem, quod meus magister beatae memoriae Albinus mihi indidit, pra-

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Von Buchstaben und Geist   107

also ganz direkt eine Autoritätenhierarchie an, die er selbst als Hüter des Wissens
handhabte und den Lesern darbot. Er erläuterte jedoch auch – wiederum mit Anklän-
gen an Worte und Arbeitstechniken Bedas –, dass es sich bei den mit Autorensiglen
bezeichneten Stellen um wörtliche Zitate handele. Es geht also nicht nur um Autori-
tät, sondern auch um textuelle Authentizität.
Dieser Wunsch, die Worte der Väter sogar wörtlich wiederzugeben, verdient,
festgehalten zu werden.65 Marc-Aeilko Aris hat bereits hervorgehoben, dass in Hra-
banus’ intensivem Bemühen um „Wahrheitssicherung“ durch genauen Umgang mit
den Texten der Tradition letztlich sein „Wissenschaftsverständnis“ zu suchen ist.66
Wiewohl das 9. Jahrhundert streng genommen einen ausgebildeten Begriff von Wis-
senschaft höchstens im Zusammenhang mit religiöser Weisheit entfaltete, erweist
sich Hrabanus’ Arbeit in diesem Aspekt tatsächlich als stark regelgeleitet und ‚metho-
disch’, im Sinne stringenter, durchgehaltener Arbeitsweise. Nicht nur entwickelte
Hrabanus im Verlauf seiner exegetischen Tätigkeit immer deutlicher eine Neigung,
aus der Bibel bestimmte Normen zu abstrahieren und diese als Leitprinzipien für die
Auslegung bislang ungeklärter Stellen einzusetzen, ging also zunehmend systema-
tisierend vor.67 Er investierte auch beträchtliche Mühen, um die Authentizität der
exzerpierten Textpassagen durch Siglen gewissermaßen zu beglaubigen.
Wenn man Randbemerkungen Zimpels und Cantellis zu Hrabanus’ Arbeitsweise
Ernst nimmt, drängt sich tatsächlich der Eindruck auf, dass Hrabanus von dem
Problem, das Claudius von Turin hatte verzweifeln lassen, lediglich zu Höchstleistun-
gen angespornt wurde: Wiewohl auch Hrabanus die Intertextualität der patristischen
Tradition nicht vollständig entwirren konnte, versuchte er doch zumindest, nicht nur
Quellen anzugeben, sondern auch deren Quellen. Wie Cantelli bemerkt, notierte Hra-
banus etwa offenbar Randsiglen und Querverweise bereits aus seinen Vorlagen mit.68
Zimpel stellt es (offenbar noch unter dem Eindruck moderner Plagiatsvorwürfe) dann
teils sogar als ‚vorgetäuschte Belesenheit’ Hrabanus’ dar, dass dieser viele nament-
lich genannte Quellen seines De institutione clericali indirekt aus wenigen Hauptquel-
len wie Augustinus, Cassiodor und Isidor bezog. Zimpel gibt jedoch gleichzeitig zu
bedenken, dass Hrabanus in einigen Fällen deren Verweise offenbar gewissenhaft
nachschlug und teils ergänzte.69 Dass Hrabanus somit offenbar bemüht war, die
ursprüngliche Quelle einer Aussage aufzufinden, und Zitate aus Zitaten sorgfältig
benannte (zumindest zum Teil, denn für die Exegese haben wir dazu leider keine sys-
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tematischen Beobachtungen), spricht für ein Verständnis von Textualität, das man

enotare curavi, ut diligens lector sciat, quid quisque de suo proferat quidve in singulis sentientum sit,
decernat.
65 Vgl. auch Cantelli 2006, Bd. 1, 65-66 mit Hinweisen auf weitere Stellen.
66 Aris 1996, 445.
67 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 87–124, bes. 123.
68 Vgl. so Cantelli 2006, Bd. 1, 68, Anm. 263.
69 Zimpel in Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, 89–94, bes. 93–94.

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eigentlich erst im 11. und 12. Jahrhundert erwarten würde. Als sichtbare Markierun-
gen, die einen fortlaufenden, äußerlich kontinuierlichen Text in Stücke unterschied-
licher Qualität gliederten, dürften die Autorensiglen zeitgenössischen Lesern zumin-
dest eine Ahnung der dahinterstehenden Probleme vermittelt haben.
Hrabanus’ Hochschätzung wörtlicher Zitation bildet zudem die Basis für die
anderen Bedeutungsebenen der Autorensiglen, die auch auf seine eigene Rolle hin-
führen. Für die mit seinem eigenen Namen Maurus bezeichneten Stellen gab er etwa
eine noch genauere Erklärung, die zu epistemologischen Überlegungen zurückführt:
Seine Aussagen waren entweder der Kürze halber in eigenen Worten zusammenge-
fasst, enthielten aber eine Bedeutung, die von den Vätern vorgegeben wurde – oder
sie enthielten eine Bedeutung, deren Erkenntnis Hrabanus selbst von der göttlichen
Gnade ‚zugestanden‘ worden war, die aber derjenigen der Väter ähnlich sei und von
ihm lediglich neu formuliert werde.70 Befragt man die Passage auf zeitgenössisches
Wissensverständnis und nicht auf moderne Vorstellungen von Originalität, zeigt sich,
dass Hrabanus sich hier wiederum in eine Gemeinschaft der begnadeten Ausleger
einschrieb: Nicht nur stand sein Name, in nichts von den ihren unterschieden, mit
auf einem Blatt und beglaubigte seinen Text im Wortlaut – deutlich zu sehen etwa
auf Folio 15r des Codex München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14384 (Abb. 8).
Hrabanus schrieb auch ganz explizit, dass er (wie er hoffte) durch dieselbe Instanz,
nämlich die göttliche Gnade, an derselben Wahrheit teilhatte. Er war buchstäblich
Kind desselben Geistes, der auch die Kirchenväter inspiriert hatte. Wie sie „brachte“
er eine sakralisierte Wahrheit „aus dem Seinen hervor“ (de suo proferat).
Da er eine übergeordnete, transzendente Wahrheit annahm, die sich durch
verschiedene Akteure in mannigfaltiger Weise manifestierte, aber letztlich mit sich
identisch blieb, wenn der Exeget nur voll an der göttlichen Gnade teilhatte, zielte
Hrabanus bei aller Demut also hoch: Er versprach nicht nur nebenbei, das Alte wo
nötig neu zu formulieren (de novo dictavi) – in seinem Insistieren, mit Hilfe der Gnade
nur Aussagen zu machen, die dem Sinn der Kirchenväter ähnlich seien (iuxta sensus
eorum similitudinem), verortete er sein eigenes Schreiben gleichzeitig auf der höchs-
ten denkbaren Ebene: Genauso wie aus den Worten der Kirchenväter sprach aus
seinen Worten letztlich Gott, die veritas und sapientia selbst. Nicht nur seine unter-
geordnete Autorität, sondern unterschwellig auch der sakrale Status seiner eigenen
Worte wurde wiederum durch die Sigle M am Rand materiell herausgehoben. Mit der
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Bezeichnung forderte Hrabanus den Leser auf, das Geschriebene zu beurteilen – und
es, wo es nicht abzulehnen war, im vorliegenden Wortlaut zu approbieren und so mit
den Aussagen der Kirchenväter auf eine Ebene zu stellen. Die symbolisch herausge-
stellte sakrale Dimension des Auswählens als Vermittlung zwischen göttlicher Wahr-
heit und menschlichem Wissen durchdringt also die pragmatische Arbeitstechnik der
bearbeitenden und ergänzenden Kompilation.

70 Vgl. hier und für die folgenden Zitate oben Anm. 64.

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Abb. 8: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14384, fol. 15r (Hrabanus Maurus, In libros
Regum), aus St. Emmeram in Regensburg, 3. Viertel des 9. Jahrhunderts.

Die von Hrabanus Maurus öfters hervorgehobene ‚rein kompilierende’ Zusam-


menstellung von Väterautoritäten gewinnt weitere Bedeutung, wenn man mögli-
che Rezeptionskontexte einbezieht: Wie Cantelli betont, wollte Hrabanus zumeist

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collectanea schreiben, also Zusammenstellungen aller bekannten Auslegungen zu


einem bestimmten Buch der Bibel, eine Gattung, die seit den Bildungsreformen Karls
des Großen programmatisch gepflegt wurde.71 Er selbst bezeichnete seine zeitspa-
rend zusammengestellten Väterschriften teils als compendium.72 Es war daher nicht
Zeichen der eigenen Geistesarmut, sondern bester Ausweis des guten Exegeten, den
Lesern eine möglichst vollständige Vielzahl von inspirierten und inspirierenden
Interpretationen der einen Wahrheit bieten zu können. Ein Angelomus von Luxueil
mochte dabei sein Wissen um die Tradition der Väter mit vagen Verweisen auf sie
etablieren. Hrabanus Maurus hatte das nicht nötig: Aus der anwachsenden Biblio-
thek Fuldas73 und eigenen, ständig vertieften Kenntnissen schöpfend, konnte er den
Lesern und Hörern die Weisheit der Väter im genauen, sorgfältig bezeichneten Wort-
laut bieten.
Hrabanus verwies ganz ausdrücklich auch auf die praktische Nutzbarkeit seines
Kommentars jenseits eines im engeren Sinne gelehrten Umfelds. Dieser Verweis
gewinnt Konturen, da Hrabanus in der Widmung des für Abt Lupus von Ferriè-
res bestimmten Pauluskommentars sogar Anweisung gab, die von ihm so sorgfäl-
tig notierten Autorensiglen sollten beim Vorlesen des Textes unbedingt mitgelesen
werden.74 Hrabanus Maurus wollte also nicht nur Lesern, sondern auch Hörern ver-
schiedene Vätermeinungen im Original nahebringen.
Gemäß seiner auf göttliches Einwirken auf den Menschen ausgelegten Epistemo-
logie dürfte Hrabanus davon ausgegangen sein, dass die Lektüre bzw. das Hören von
Schrift- und Väterpassagen quasi spirituelle Nahrung bot. Wie er in De institutione
clericali mit Augustinus schrieb, könnten etwa auch Gebete vom häufigen Hören der
Liturgie zusätzliche Wirkung gewinnen, da sie, von der Bedeutung der Schrift buch-
stäblich gemästet, fetter (pinguior) würden.75 Auch den Lesern und Hörern seiner
Kommentare gab er eine ‚angereicherte‘ Version der Bibel zu verdauen. Solche Leser

71 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 11–13, 59–64.


72 Vgl. an Kaiser Lothar Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 443: habeatque satis commodum
compendium, quando id, quod in multis codicibus patrum scrutari debuit, in unum reppererit collectum:
nec iam sibi laborare necesse esse inquirendo, ubi aliorum labore quieti sue invenerit consultum. An
Abt Hilduin von St. Denis ähnlich, ebd., 402: Aestimo enim, si illud relegeritis, per omnia vobis non
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displicere, cum cognoveritis me ad hoc laborare velle, ut sanctorum patrum dicta, quae de predicto libro
exposita in pluribus exemplaribus dispersa sunt, in unum ob commoditatem legentis colligerem.
73 Vgl. Raaijmakers 2012, 189-198; Aris 2006; Spilling 1982.
74 In seiner Widmung des Pauluskommentars an Lupus von Ferrières, vgl. Hrabanus Maurus, Epis-
tolae, ed. Dümmler, 429–430: Unde necessarium reor, ut intentus auditor per lectorem primum recitata
singulorum auctorum nomina ante scripta sua audiat, quatenus sciat, quid in lectione apostolica unus-
quisque senserit, sicque in mentem suam plurima coacervans possit de singulis iudicare, quid sibi utile
sit inde sumere.
75 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, II, 52, 411–412 (mit Isidor von Sevilla, De
ecclesiasticis officiis): Nec putes parvam nasci utilitatem ex lectionis auditu; siquidem oratio ipsa fit
pinguior, dum mens recenti lectione saginata per divinarum rerum, quas nuper audivit, imagines currit.

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Von Buchstaben und Geist   111

und Hörer dürften aus den Mönchen aus Fulda und anderen Klöstern, aus Klerikern
wie denjenigen im Umfeld der zahlreichen bischöflichen Widmungsempfänger und
möglicherweise sogar aus weltlichem Adel im Umkreis der königlichen Dedikatare
bestanden haben.
Die nährende Fülle der Auslegungen sollte Hörer und Leser zudem noch selbst
zum Denken und Meditieren anregen, und dabei war Aufmerksamkeit geboten: Wie
Hrabanus ausdrücklich in der Widmung zu seinem Pauluskommentar insistierte, gab
es bereits viele Schriften der Alten. Nun ging es darum, aus dieser Vielzahl für sich
Nutzen zu ziehen. Daher war die relative Autorität der Väter wichtig:

Ich ermahne den, der meine Lesungen nutzen will, die Namen der Autoren, deren Worte ich aus
ihren Büchern exzerpiert und außen an der Seite mit ein, zwei oder drei Buchstaben gekenn-
zeichnet habe, auch beim Lesen vor anderen immer dort laut mit auszusprechen, wo er sie findet.
So wird er den Leser nicht verwirren, der vielleicht nicht weiß, wer dies oder jenes vorgebracht
hat, und es dann für Worte eines anderen hält, obwohl die Wahrheit anders liegt. Denn ihre
Auslegungen stimmen in einigem überein, weichen aber in einigem auch voneinander ab. Daher
halte ich es für notwendig, dass dem aufmerksamen Hörer durch den Leser zuerst die Namen der
jeweiligen Autoren vorgelesen werden, bevor er deren Text hört, denn so wird er wissen, was ein
jeder über die apostolische Lesung dachte, und kann so selbst im Geist mehreres ansammeln
und schließlich beurteilen, was er selbst Nützliches für sich herausziehen kann.76

Diese Passage führt weniger den Gelehrten ‚im Gehäus‘ oder die kleine Lehrer-Schü-
ler-Gruppe vor Augen als vielmehr den Alltag der Klostergemeinschaft, deren Mitglie-
der in der Liturgie, anlässlich von Lesungen bei Tisch oder an Sonntagen sowie in
individueller Lektüre, besonders in der Fastenzeit, ebenfalls die Bibel hörten oder
lasen und angehalten waren, über sie zu meditieren.77
Die von Hrabanus angedeutete Interpretationsoffenheit und der problemlose
Umgang mit widersprüchlichen Aussagen der Väter mögen übrigens für denjenigen
überraschend wirken, der das Frühmittelalter als Periode traditionshöriger, eng auf
Orthodoxie orientierter Auslegung einstuft, etwa im Vergleich mit der stärker speku-
lativen, dialektischen Theologie der Frühscholastik oder den problemorientierten
Standardwerken des 13. Jahrhunderts. Doch da die karolingerzeitliche Exegese nicht
die wörtlichen und sprachlogischen Aussagen der Bibel und Väterschriften systema-
tisieren, sondern zunächst deren normativen Gehalt sichern wollte, konnte sie eine
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76 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 429: Illum autem, qui lectione nostra uti elegit, admo-
neo, ut ubicumque conspexerit auctorum nomina, quorum dicta ex libris suis excerpsi, forinsecus in
pagina singulis literis aut binis seu etiam ternis praenotata non pigeat eum in legendo coram aliis illa
pronunciare, ne forte auditorem confundat, cum nescierit, quis hoc vel illud ediderit, et alterius scripta
arbitretur, quam se veritas habet. Sunt enim eorum sensus in aliquibus concordantes, in aliquibus vero
discrepantes, und weiter wie Anm. 74.
77 Vgl. für monastische Lesungen hier nur Cochelin 2011.

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112   Sita Steckel

ganz eigene Signatur des Umgangs mit Diversität, Widersprüchen und Innovation
entwickeln.
Zunächst lässt sich auf den Spuren von Autoritäten wie Augustinus und Cassian
eine Hochschätzung der Bedeutungsvielfalt der schier unerschöpflichen Bibel und
ihrer gewissermaßen ‚changierenden‘ Auslegungen auffinden.78 In De institutione cle-
ricali schrieb Hrabanus Maurus etwa mit Augustinus, dass gerade die Vielfältigkeit
möglicher Bedeutungen der Bibel die Macht und den Reichtum der göttlichen Vorse-
hung belegte.79 Paschasius Radbertus hatte, wie oben geschildert, formuliert, dass es
positiv sei, wenn die Wahrheit immer wieder diverso quidem stilo, sed non diversa fide
erklärt würde. Sogar in einer Frage spekulativer Theologie hielt der Hrabanusschüler
Lupus von Ferrières († nach 862) fest, dass innerhalb der Grenzen des Glaubens das
Vertreten unterschiedlicher Standpunkte (diversa sentire) kaum eine Sünde darstel-
len könne.80 Darüberhinaus wurden Widersprüche im Bereich des Sprachlichen oder
des bloß profanen Wissens anscheinend nur selten als problematisch empfunden.
Angelomus von Luxueil erklärte etwa, dass es kaum einen Unterschied mache, ob
Johannes der Täufer (Joh 3, 23) nun in ‚Salem’ oder ‚Salim‘ getauft habe.81 Auch im
brieflichen Austausch unter Gelehrten ließ man Probleme teils offen stehen oder
verhandelte Meinungsverschiedenheiten, wofür karolingerzeitliche Autoren übri-
gens richtiggehende Vorsichts- und Höflichkeitsregeln entwickelten.82 Materiellen
Niederschlag solcher Diskussionen hat aktuell Mariken Teeuwen in ihren detaillier-
ten Untersuchungen karolingerzeitlicher Glossentraditionen zu Martianus Capella
genauer identifiziert. Wie sie betont, ließ man in der gelehrten Auseinandersetzung
mit seinem Werk, das Schwierigkeiten in fast allen Wissensgebieten aufwarf und
intensive Nutzung aller möglichen Referenztexte auslöste, einander widersprechende
Lösungen und Verweise teils unverbunden in Randglossen stehen.83 Wie Hrabanus’

78 Vgl. demnächst ausführlich Meier 2014b.


79 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III, 15, 462 (nach Augustinus, De doctrina
christiana): Nam quid in divinis eloquiis largius et uberius potuit divinitus provideri, quam ut eadem
verba pluribus intellegantur modis, quos alia non minus divina contestantia faciant adprobari?
80 Vgl. Lupus von Ferrières, Epistolae, ed. Marshall, 37–38, über die beata visio nach dem Tode: quo-
niam de isdem quaestionibus diversa sentire quousque contra fidem non est, aut nulla ut parva culpa
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est […].
81 Vgl. Angelomus von Luxueil, Commentarius in Genesin, ed. Migne, 176 B: Inde dicit Joannes evange-
lista: Erat Joannes baptizans in Ennon juxta Salim, quia multae sunt ibi aquae (Joan. III, 23). Nec differt
utrum Salem an Salim dicatur, cum vocalibus in medium perraro utuntur Hebraei, et pro voluntate lec-
torum ac diversitate regionum eadem verba diversis sonis et accentibus proferunt [Z., proferuntur]. Nos
enim opiniones diversorum ponimus; sed prudenti lectori, quid horum verius elegerit, derelinquimus.
Gorman 1999, 599, zieht diese Stelle und v.a. die letzte Zeilen her, schließt jedoch ohne Bezug auf
die verhandelte Thematik (nämlich bloß die Lautung eines Worts), dass Angelomus Interpretationen
generell gerne offen gelassen habe.
82 Vgl. Steckel 2011a, 584–589.
83 Teeuwen 2011b, bes. 32–33. Inwiefern dies auf Gebrauchskontexte außerhalb der ‚Schule’ schlie-

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Von Buchstaben und Geist   113

Bemerkung suggeriert, scheint man derartige offene Fragen eher als Bereicherung
denn als Problem empfunden zu haben.
Der geschilderten Offenheit steht jedoch ein weiteres, ebenso wichtiges Kennzei-
chen karolingerzeitlicher Exegese gegenüber, das wiederum die Rolle des Auslegers
als Auswähler entscheidend definiert: Bei aller Begeisterung für den unerschöpfli-
chen Bedeutungsreichtum der Bibel und die nährende Wirkung der Meditation über
ihre unterschiedlichen Auslegungen hielten karolingerzeitliche Exegeten doch eine
ständige, strikte Grenzziehung zwischen Orthodoxie und Heterodoxie für nötig.
Die Betonung dieser Grenze ist bei Hrabanus Maurus, wie Cantelli meint, fast
„obsessiv“. Tatsächlich entwickelt er ein sehr breites Konzept der Häresie, die er
neben der unrichtigen Auslegung der Heiligen Schrift auch mit Abweichungen von
der Einheit der Kirche in Zusammenhang bringt.84 Doch auch die oben diskutier-
ten erkenntnistheoretischen Problematiken dürften zu Buche schlagen: Da die zwi-
schen Gott und Menschen vermittelnde Auswahl der Wahrheit durch Exegeten von
deren göttlicher Begnadung abhing und verlustig gehen konnte, blieb die Exegese
ein gewagtes Geschäft. Die Möglichkeit von Fehlinterpretationen war stets präsent,
etwa in Anlehnung an Augustinus, der insbesondere vor falscher wörtlicher bzw.
übertragener Auslegung warnte.85 Da das Frühmittelalter antike Konzepte mensch-
licher Wissenschaft dezidiert einer christlichen Dichotomie göttlicher Wahrheit und
menschlichen Irrtums unterordnete, bedeutete eine Fehlinterpretation zudem nicht
nur Unrichtigkeit, sondern Irrtum und, falls dieser verteidigt wurde, Häresie.86
Hrabanus Maurus zog entsprechend besonders in seinen früheren Werken die
Möglichkeit eigener Irrtümer stets in Betracht und suchte ihr unter anderem durch
die Autorensiglen vorzubeugen. Seine sorgfältigen Erläuterungen zu möglichen Irr-
tümern, die ja sogar bei Kirchenvätern anzutreffen seien, rückten jedoch gleichzeitig
stets die Tatsache in den Vordergrund, dass er selbst für die Wahrheit der ausgewähl-
ten Passagen garantierte. In seiner Erläuterung zum Pauluskommentar, in dem Hra-
banus Lesern und Hörern teils unterschiedliche Meinungen der Väter zur Meditation
vorsetzte, fügte er etwa vorsorglich hinzu:

Die Lehrer selbst waren nämlich alle katholisch, außer Origenes, von dem ich jedoch nur Sen-
tenzen ausgewählt habe, die er in katholischem Sinn vorgebracht hat, während ich die anderen
außen vor gelassen habe. Tatsächlich habe ich im vorliegenden Werk auch gar nicht besonders
viel von meinen eigenen Anschauungen vorgebracht, wie ich dies in anderen kleinen Werken
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ßen lässt, wie Teeuwen argumentiert, wäre eine interessante Frage, da dies weitgehend von der De-
finition von ‚Schule’ abhängt. Es wäre etwa zwischen der Lektüre jugendlicher Schüler und fortge-
schrittener Schüler von ca. 20 Jahren und aufwärts zu unterscheiden.
84 So Cantelli 2006, Bd. 1, 124 (Zitat) und 102–106.
85 Vgl. etwa Hrabans ausführliche Zitate aus De doctrina Christiana in De institutione clericali, ed.
Zimpel, III, 6–15, 446–463.
86 Vgl. mit Verweisen auf die weitere Literatur Steckel 2011a, 571–673.

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tat, denn ich glaubte, dass dem ernsthaften Leser genügt, was er in den Sentenzen der Väter
vorgebracht findet.87

Demut und Selbstaufwertung werden hier von Hrabanus Maurus eng verschränkt:
Seine Beteuerung, kaum Eigenes vorzubringen, leistet einem Eindruck bloßen Kom-
pilierens Vorschub und rückt seine selbstlose Rolle als demütiger Schüler der Väter
in den Vordergrund. Dies dürfte den Lesern nicht zuletzt demonstriert haben, dass
Hrabanus Maurus die nötigen Voraussetzungen zum Empfang göttlicher Begnadung
mitbrachte, nämlich Demut und ein auf Gott und nicht etwa den eigenen Ruhm aus-
gerichtetes Schreibinteresse. In diesem Sinne stellte sich Hrabanus Maurus noch
öfters dar, etwa wo er sich gegen den Anwurf verteidigte, kaum Eigenes zu schrei-
ben.88 Doch im zitierten Absatz erklärte Hrabanus auch, dass er höchstpersönlich
ausgewählt habe, welche Stellen des zweifelhaften Kirchenvaters Origenes katholisch
seien. Die moderne Forschung hat allzu oft nur die eine Hälfte dieser Selbstdarstel-
lung als ‚Kompilator‘ wahrgenommen und kaum bemerkt, dass die Selbststilisierung
Hrabanus’ als begnadeter Grenzwächter der Orthodoxie für zeitgenössische Vorstel-
lungen wohl wichtiger war.89 Gerade sie hebt die Tätigkeit des Exegeten als Auswähler
des Sinnvollen, Erbaulichen und Orthodoxen über die rein menschliche und profane
Ebene eines Wissenschaftlers oder Literaten hinaus.
Diese symbolische Konstruktion von Autorität war zudem bei weitem nicht ‚bloß’
symbolisch: Hrabanus Maurus arbeitete ja an verschiedenen Stellen auch de facto an
den Grenzen der catholica fides. Neben dem problematischen Kirchenvater Origenes
nutzte er beispielsweise auch den als Häretiker verurteilten Augustinus-Gegner Pela-
gius – unter seinem eigenen Namen Maurus und ohne Leser darauf hinzuweisen.90
Für seinen Kommentar zu den Königsbüchern wählte er zudem zu substantiellen
Teilen aus einem später als Pseudo-Hieronymus bekannten Werk aus, das ein gewis-
ser Ebraeus moderni temporis verfasst hatte, wie wir seit Längerem wissen, offenbar

87 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 430: Doctores enim ipsi omnes catholici fuerunt excepto
Origene, cuius tamen sententias tantummodo, quas catholico sensu prolatas credidi, sumpsi, caeteras
autem praetermisi. Nec ex meo sensu in hoc opere plura protuli, sicut in aliis opusculis meis feci, credens
sobrio lectori sufficere quod in patrum sententiis editum repererit.
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88 Vgl. etwa an Kaiser Lothar Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 477: Nec etiam illud silen-
dum arbitror, quod quibusdam narrantibus comperi, quosdam sciolos me in hoc vituperasse, quod ex-
cerptionem faciens de sanctorum patrum scriptis, eorum nomina prenotarem, sive quod aliorum sen-
tentiis magis innisus essem, quam propria conderem; quibus ad hoc facile respondere possum. Quid
enim peccavi in hoc, quod magistros aeclesie veneratione dignos iudicabam et eorum sententias, prout
ipsi eas protulerant, oportunis locis simul cum nota nominum eorum in opusculis meis interposueram?
Magis enim mihi videbatur salubre esse, ut humilitatem servans sanctorum patrum doctrinis inniterer,
quam per arrogantiam, quasi propriam laudem quaerendo, mea indecenter proferrem [...].
89 Auch Cantelli 2006, Bd. 1, 123–124, hebt Hrabans Beschäftigung mit dem Konzept der Häresie zwar
stark hervor, deutet sie aber kaum als Teil seiner Autoritätskonstruktion.
90 Vgl. Heil 2003, 83.

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ein konvertierter Jude, der aus der Tradition der jüdischen Exegese schöpfte.91 Obwohl
Hrabanus dem Leser anheimstellte, diese Passagen selbst zu beurteilen, nahm er sie
doch in seine Auswahl auf. Sie waren allerdings wiederum sorgfältig gekennzeichnet,
mit der Sigle EB für Ebraeus (Abb. 8) sowie oft auch im Text selbst.
Wenn Hrabanus beispielsweise dem einflussreichen Abt Hilduin von St. Denis
diesen Kommentar widmete, beurteilte er damit vor prominentem Publikum die
Rechtgläubigkeit eines Wissens, das nicht aus der Quelle der Kirchenväter oder des
Beinahe-Kirchenvaters Beda stammte. Damit machte Hrabanus sich zum Richter über
eine Autoritätenhierarchie, die von den sancti patres bis zu einer von ihm selbst oft
als zweifelhaft gekennzeichneten jüdischen Auslegungstradition reichte. Hrabanus’
Urteil über diese Hierarchie war als Ordnungsleistung sein wesentlicher Beitrag zur
doctrina. Es zeigte eine deutlich übergeordnete Stellung des Exegeten an – und gerade
diese über den Autoritäten schwebende Position Hrabanus’ wurde an den Autorensi-
glen sehr augenfällig zu Pergament gebracht.

5 Antworten und offene Fragen zu den nomina


auctorum und ihren Funktionen
Wie sich gezeigt hat, hinterließen auf den Rändern karolingerzeitlicher Bibelkom-
mentare nicht nur die Kirchenväter, sondern vor allem deren zeitgenössische Erben
eigene Spuren. Treffend beobachtet Bernice M. Kaczynski, dass die intensive Aneig-
nung des spätantiken und frühmittelalterlichen Wissens in der Karolingerzeit weniger
als ‚Autoritätshörigkeit’, sondern vielmehr als dynamische Formierung eines Autori-
tätenkanons erscheint. Wie sie hervorhebt, wurde auch die Reihe der Kirchenväter in
der Karolingerzeit noch wesentlich verändert und schloss am Ende – in halboffiziel-
lem Status – Beda ein.92
Vor diesem Hintergrund stellen sich die hier untersuchten nomina auctorum als
Materialisierungen pragmatischer, intellektueller und religiöser Verweiszusammen-
hänge heraus. Grundsätzlich waren die Autorensiglen Markierungen von persona-
ler Autorität und textueller Authentizität. Sie dienten etwa bei Hrabanus Maurus
als Zeichen wörtlicher Übernahmen aus den Kirchenvätern. Doch darüber hinaus
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verwies die Präsenz der Buchstabengruppen auf der Buchseite nicht nur auf eine
Form von Autorität, sondern machte die komplexe frühmittelalterliche Formation
verschiedener Wissensebenen insgesamt materiell greifbar und anschaulich. Letzt-
lich dienten die Autorensiglen auf der Textseite als Verankerung für einen eigenen
Rezeptionsrahmen, der die Leser und Hörer von vornherein auf ein gestuftes, ins-

91 Vgl. Saltman 1973.


92 Vgl. Kaczynski 2001; Kaczynski 2006; Mühlenberg 1999; zu Beda Hill 2006 mit weiteren verweisen.

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gesamt auf die Transzendenz verweisendes zeitgenössisches Wissen hinlenkte: Von


Menschenhand geschriebenes Wissen verwies auf göttliche Wahrheit, die durch die
Schriften und deren Ausleger erkannt wurde. Der Ausleger war somit die zentrale
vermittelnde Instanz zwischen Wahrheit, Tradition und Leser. Der Text wurde Ort
der Vermittlung, Prüfung und Auswahl – und nicht nur Autoren, sondern auch Leser
und Hörer mussten in der Rezeption aktiv mentale Verbindungen knüpfen und am
Prozess der Vermittlung zwischen Wahrheit und menschlichem Wissen teilnehmen
(was dann teils meditatio genannt wurde ).93
Hrabanus Maurus signalisierte durch die Siglen stärker als seine Zeitgenossen,
dass der Text im Rezeptionsprozess auf Wahrheit und Irrtum zu prüfen blieb. Mit Hilfe
der Siglen stellte er auf der Buchseite jedoch auch sein Bestreben dar, die Tradition
der Kirchenväter möglichst vollständig zu erfassen und nur nötigenfalls durch eigene
Auslegungen zu ergänzen. Wie von Cantelli etabliert, dürfte seine starke Ausrichtung
am Prinzip der collectanea zu einzelnen Bibelbüchern dabei auf Impulse der Reformen
Karls des Großen und seiner Umgebung zurückgehen.94 Die über Alkuin und dessen
geistigen Urgroßvater Beda vermittelte angelsächsische Tradition, die in Fulda ja sehr
stark war,95 dürfte Hrabanus aber auch aus eigenem Antrieb weitergeführt haben.
Hrabanus zielte zudem mit seinen Überlegungen zur auditiven Rezeption durch
Hörer sowie seinem intensiven Bemühen um pragmatischen Nutzen für möglichst
viele Rezipienten auf ein Publikum jenseits von Schulen und Hof. Diesem Publikum
in Kirchen und Klöstern wollte Hrabanus den Zugang zu einer ‚nährenden’ Vielzahl
von Interpretationen der Bibel ermöglichen. Die Notation der Siglen schloss ihnen
die von Hrabanus geordnete vielstimmige Autoritätenhierarchie auf. Diese Intention
erforderte jedoch im Gegenzug eine Schärfung seines eigenen Profils als Hüter der
Orthodoxie, der die angebotene Vielfalt zunächst sorgfältig auf Wahrheit und Irrtum
geprüft hatte. Wie im Falle des Ebraeus sichtbar, konnte auch diese Stiftung von
Autorität, Authentizität und schließlich Orthodoxie im Zusammenspiel erklärender
Vorrede und knapp symbolisierender Siglen anschaulich gemacht werden.
Die karolingerzeitliche gelehrte Kultur legte mit solchen Elementen essentielle
Grundlagen für spätere Modi der Wissensorganisation. Gerade wenn man Hrabanus’
Bibelkommentare des 9. Jahrhunderts mit ihren Marginalsiglen neben die wohlor-
ganisierten Codices der Glossa ordinaria zur Bibel oder die zunehmend unterglie-
derten und indexierten Lehrbücher des 13. Jahrhunderts legt, schneiden sie nicht
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schlecht ab. Frühmittelalterliche, noch nicht durch Abschreiben verzerrte Kommen-


tare Hrabanus’ dürften sich für die Lehre fortgeschrittener Schüler und besonders
für gelehrtes Nachschlagen durchaus geeignet haben: Den Gesamtinhalt konnte ein

93 Vgl. so öfter Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler 1899, 394, 395 (an Frechulf von Lisieux)
u.ö.
94 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 14–22.
95 Zur Bedeutung Bedas in Fulda seit Bonifatius vgl. Hill 2006, 230–232.

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Gelehrter auf der Suche nach Querverweisen durch die als Sachindex lesbaren aus-
führlichen durchgezählten Capitula erschließen (auf die Hrabanus etwa eigens und
etwas umständlich hinwies).96 Die gesuchte Bibelpassage innerhalb des optisch mar-
kierten und durchgezählten Kapitels war dann leicht zu finden, da der Bibeltext, wie
in einem St. Emmeramer Codex aus dem dritten Viertel des 9. Jahrhunderts, durch
rote Hervorhebung und Zitatmarkierungen am Rand gekennzeichnet war (Abb. 8).
Anhand der Siglen konnte man dann zum gewünschten Kirchenvater vorstoßen oder
die von Hrabanus Maurus sorgfältig zusammengestellte Überlieferung zu wörtlicher
und übertragener Bedeutung der Passage insgesamt befragen.
Auch die eher Erbauung suchenden Leser oder Hörer, oder gar Anfänger unter
ihnen, wurden durch Hrabanus’ auf Vollständigkeit zielende Arbeitsweise bis zu
einem gewissen Grad in das vergleichende, problemorientierte Vorgehen eingeführt.
Gerade solche Rezipienten dürften in erster Linie aber etwas Grundlegenderes mitge-
nommen haben: das Wissen um die ungeheure Wichtigkeit der Autoritäten, die die
Bibel erst erschlossen und erklärten – und das Wissen um die Notwendigkeit und
Bedeutung des Auslegers. Die von Hrabanus anvisierten Lesungen, in denen Rezipi-
enten systematisch die unterschiedlichen Überlegungen der Kirchenväter zu wörtli-
chen und übertragenen Bedeutungsebenen einzelner Textpassagen erklärt wurden,
dürften nicht nur diese als ‚Autoritäten’ vor Augen gestellt haben: Einerseits hörte
man von den großen Auslegern und Erläuterern der Spätantike, die bei Beda meist in
der Vierzahl Hieronymus, Ambrosius, Augustinus und Gregor erschienen,97 in Texten
wie dem sogenannten Decretum de libris recipiendis et non recipiendis verzeichnet
waren oder aus älteren gelehrten Schriften entnommen werden konnten. Anderer-
seits waren es nun aber auch Ausleger wie Beda, Alkuin und Hrabanus Maurus selbst,
die auf deren Spuren wandelten und deren Präsenz auf der Buchseite – ganz buch-
stäblich in einem ‚Raum’ der Autoritäten – sie mit ihnen auf eine Ebene stellte.
Solche jüngeren Autoren, die moderni doctores der Karolingerzeit, erschienen
zwar nicht als neue Kirchenväter. Doch sie waren nur eine Nuance von den Kirchen-
vätern entfernt, denn sie positionierten sich selbst typischerweise als ‚Schüler’ der
Väter. Paschasius Radbertus schrieb etwa, er behaupte nicht, an das Wissen oder die
Verdienste der Väter heranzureichen, doch er freue sich, von ihnen den Glauben und
die Wahrheit gelernt zu haben und ein Zögling ihrer Lehre zu sein.98 Damit stellte er
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96 Vgl. zu exegetischen Capitula mit weiteren Verweisen Gorman 2002, 263–270; Hrabanus fügt eine
lange Erläuterung zur Benutzung von durchgezählten Capitula (die ihm offenbar als Errungenschaft
erscheinen) in den Widmungsbrief seines Matthäuskommentars ein, vgl. Hrabanus Maurus, Episto-
lae, ed. Dümmler, 390.
97 Vgl. Kaczynski 2001; Kaczynski 2006.
98 Paschasius Radbertus, Epistolae, ed. Dümmler, 140: Veruntamen, etsi ita loquar, non adeo fastum
iactantiae diligo, ut me ad eorum scientiam aut merita attigisse polliceam, sed quod fidem, quam ipsi
docuerunt, et veritatem adprehendisse ipsorumque doctrina enutritum me esse gaudeo.

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sich sozusagen als letzten einer nicht abreißenden Reihe von Autoritäten vor, die er in
seinem Widmungsbrief übrigens von den Kirchenvätern bis zu Beda führte:

[A]lle Lehrer zogen es vor, den Spuren der katholischen Vorgänger zu folgen und durch ihren
Geist den Strom der Lehre auszuweiten [...]. Ihnen folgend habe ich die hervorragenden aus-
gewählt, Hieronymus, Ambrosius, Augustinus und den seligen Gregor sowie Bischof Johannes
[Chrysostomus] von Konstantinopel und als ihren letzten den Priester Beda, und glaube, ihren
Spuren folgend von ihnen in nichts abgewichen zu sein, auch wenn ich ab und an der Wahrheit
Gemäßes von anderswo eingefügt habe.99

Hrabanus Maurus sah sich offenbar sehr ähnlich. Er formulierte in einem seiner Kom-
mentare:

„[I]ch habe dies nämlich nicht als ein Nachfolger Papst Gregors getan, oder als Prediger des Got-
tesvolks [...], sondern nur quasi als Nachahmer und Schüler, der nicht nur den Fußspuren des
genannten Papstes, sondern auch denen der anderen heiligen Doktoren folgt“. 100

In seinem Widmungsbrief zum Matthäuskommentar, der die Kommentare Bedas zu


Lukas und Markus sowie Alkuins zu Johannes ergänzte, stellte er sich dann zwar nicht
explizit in die Reihe der Autoritäten. Doch bestand dieser Widmungsbrief zu großen
Teilen aus wörtlichen Zitaten aus den Prologen von Bedas Lukas- und Markuskom-
mentaren.101 Ähnlich wie er in Dichtungen verschiedentlich spielerisch oder pointiert
die Verse seines Lehrers Alkuin wiederverwendete und abwandelte, 102 stellte Hra-
banus, der über Alkuin Bedas Ur-Urenkelschüler war, sich hier als getreuer Schüler
Bedas dar – zumindest für Gelehrte, die sein Pastiche des angelsächsischen Vorbilds
entschlüsseln konnten.103
Während Gelehrte sich also im Hochmittelalter als Zwerge auf den Schultern von
Riesen sahen, mit deren Status sie sich nicht messen konnten, waren frühmittelal-
terliche Exegeten als ‚Söhne’ der Kirchenväter diesen durchaus wesensverwandt. Die
Rede von Söhnen und Schülern zielt ja darauf, dass letztere allmählich zur selben

99 Ebd., 141: doctorum […] omnes praedecessorum catholicorum sequi maluerunt vestigia et suis ampli-
are semper ingeniis fluenta doctrinae Christi, ut quod in divinis litteris occultatur necessarium, Dei rese-
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rante gratia copiosius patesceret ad fructum. Quos ego secutus elegi egregios Hieronimum, Ambrosium,
Augustinum et beatum Gregorium necnon Iohannem Constantinopoleos episcopum eorumque ultimum
Bedam presbiterum, quorum adherens vestigiis, ab eorum sensibus credo me in nullo deviasse, licet ex
aliis interdum veritatis concordi nonnulla interponerem.
100 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 476–477: feci enim non quasi successor papae Gregorii
et predicator plebis Dei [...], sed quasi imitator et discipulus, non solum ipsius memorati papae, sed et
aliorum sanctorum doctorum vestigia sequendo.
101 Vgl. die beiden Stellen hier oben, Anm. 1 und 35.
102 Vgl. dazu Aris 2006, 57–61.
103 Vgl. zu Hrabans Imitation von Beda und Alkuin als highest form of compliment die Überlegungen
von Ziolkowski 2001.

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Von Buchstaben und Geist   119

Statur heranwachsen wie die Väter und Lehrer. Wenn man die Rezeption der Zeit-
genossen miteinbezieht, erweist sich die Demut der karolingerzeitlichen Ausleger
tatsächlich als Grundlage späterer Hochschätzung durch ihr Publikum, das sie oft
in Parallele zu den Kirchenvätern wahrnahm oder sie in eine Genealogie orthodo-
xer Auslegung einordnete. Solche Traditionsketten imaginierte Alkuin etwa als longa
series ecclesiasticae eruditionis. 104
Noch zu seinen Lebzeiten gelang es Hrabanus Maurus, von niemand Geringerem
als Kaiser Lothar die Stellung zugewiesen zu bekommen, die er sich selbst nur symbo-
lisch zuschreiben konnte: Wie Lothars Schreiben formulierte, hatten seine Vorgänger
unter den Kaisern zwar als Ratgeber Hieronymus, Augustinus, Ambrosius und Gregor
gehabt. Ihm aber habe Gott Hrabanus Maurus zugewiesen, einen Lehrer von glei-
chem Verdienst und Wissen.105 Zwar wurde Hrabanus auch Kritik zuteil – im Kontext
des Prädestinationsstreits wurde er vom schlagkräftigen Polemiker Florus von Lyon
(† ca. 860) hart angegriffen, interessanterweise mit dem Argument, er habe irrele-
vante Stellen ausgewählt und renne daher offene Türen ein, benutze außerdem auch
eine gefälschte, nämlich pseudo-augustinische Schrift als echt.106 Das musste einen
Experten für die Auswahl von Text schmerzhaft treffen. Andere Teilnehmer des Streits
verteidigten Hrabanus jedoch als Gewährsmann der Orthodoxie. Hinkmar von Reims
(† 882) zitierte ihn etwa als ‚ehrwürdigen Vater und katholischen Schriftsteller’, der
vom großen, orthodoxen Lehrer Alkuin mit der Milch der orthodoxen Lehre genährt
worden sei.107
Die letztere Wahrnehmung sollte sich auf lange Sicht durchsetzen. Tatsächlich
wurde Hrabanus Maurus – wie übrigens auch Alkuin – bis ins Hochmittelalter häufig
als Autorität angeführt, unter anderem noch von Thomas von Aquin († 1274).108 Es fällt
sogar auf, dass karolingerzeitliche Autoren im Hochmittelalter deutlich als Fortsetzer
der christlichen Tradition der Spätantike verstanden wurden, denen man nachzuei-
fern trachtete und in deren schriftstellerische Tradition man sich stellte. Abt Wibald
von Stablo und Corvey († 1158) schrieb um 1140 etwa, dass er selbst nur auf den Spuren
der Alten wandele, unter denen er nach Eusebius, Hieronymus, Isidor und Gennadius

104 Vgl. Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 126.


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105 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 504: inmensas omnipotenti Deo laudes gratiasque re-
pendimus, qui [...] non dispari nos quoque quam predecessores nostros doctrinae suae iubare inradiare
dignatus est. Nam si illis Hieronimum, Augustinum, Gregorium Ambrosiumque et ceteros quam plurimos
prebuit, et nobis idem opifex eiusdem meriti et scientiae contulit Rhabanum Maurum.
106 So Zechiel-Eckes 1999, 322.
107 Hinkmar von Reims, Epistolae, ed. Perels, 14, in der Anklage Gottschalks von Orbais, der gegen
Hrabanus geschrieben hatte: [Erg.: Gotescalcus scripsit] contra Rhabanum venerabilem archiepisco-
pum et iam aevosum in sancta religione patrem et catholicum scriptorem – ut videlicet ab ortodoxo et
magno doctore domno Alchuino in sanctae ecclesiae utilitatibus uberibus ipsius catholico lacte nutritum
[...].
108 Vgl. Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, 130–133.

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120   Sita Steckel

dann Beda, Ambrosius Autpertus, Haimo von Auxerre und Hrabanus Maurus nannte.
Wiederum als deren Fortsetzer erschienen Wibald die frühscholastischen Theologen
seiner Zeit, Anselm von Laon († 1117), Wilhelm von Champeaux († 1121) oder Albe-
rich von Reims († 1141), als Höhepunkt der Reihe empfahl er schließlich Bernhard
von Clairvaux († 1153).109 Das Einsetzen solcher teils definitorisch-kanonisierenden,
teils genealogischen Reihungen ist bereits im frühen 10. Jahrhundert zu verzeich-
nen. Ein gewisser Gautbert stellte eine ‚Erbfolge der Grammatiker’ (Grammaticorum
Diadoké) auf.110 Er führte darin die Gelehrsamkeit seiner Zeit bis zu Hadrian und
Theodor zurück, den im Lateinischen und Griechischen versierten Gelehrten, die im
7. Jahrhundert von Papst Gregor dem Großen zu den Angelsachsen geschickt worden
waren. Von ihnen aus konstruiert er eine Reihe, in der auf Aldhelm und Beda direkt
Hrabanus Maurus folgt, bevor weitere karolingerzeitliche Gelehrte sich anschließen.
Interessanterweise ist Alkuin, Hrabanus’ Lehrer, in der Grammaticorum Diadoké aus
Versehen zu seinem Schüler geworden – vielleicht insofern nicht ganz unpassend, als
Hrabanus das Bild Alkuins stark mitgeprägt und geformt hat.111
Die derart intensiv wahrgenommene Autorität der ‚Lehrer’ und Ausleger, die als
Nachfolger der Propheten und Kirchenväter göttliche Wahrheit an das menschliche
Wissen ihrer Zeit vermitteln konnten, ist eine der wichtigsten kulturellen Innovati-
onen der Karolingerzeit. Gerade die häufige Zitierung karolingerzeitlicher Gelehrter
bei Hrabanus und bei anderen Autoren des 9. Jahrhunderts wie Smaragdus von St.
Mihiel lässt den Eindruck entstehen, dass wir es beim Autoritätenkanon des Früh-
und Hochmittelalters weniger mit einem ‚patristischen’ Autoritätenkanon als mit
einer fortgesetzten Reihe kirchlicher Gelehrsamkeit zu tun haben. Für solche Vorstel-
lungen einer longa series ecclesiasticae eruditionis dürften die von Beda, Hrabanus,
Smaragd und anderen verwendeten Autorensiglen wichtige materielle Verankerun-
gen dargestellt haben.
Es wäre insofern als Desiderat auszuweisen, dass wir anscheinend keine hand-
schriftenbasierte Gesamtdarstellung des Phänomens der Randsiglen haben, während
einige Fragen durchaus offen bleiben. Neben Beda, dessen Aufstieg zum ‚Kirchen-
vater ehrenhalber’ von der anglophonen Forschung intensiv beleuchtet wurde,112 ist
beispielsweise nicht nur Hrabanus Maurus, sondern auch sein Lehrer Alkuin in den
autoritativen Rändern frühmittelalterlicher Bibelkommentare präsent. Eine Stich-
probe an der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6260, einer
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Freisinger Abschrift von Hrabanus’ Kommentar zum Buch Genesis (um 860, einem
von drei erhaltenen Freisinger Hrabanus-Kommentaren mit relativ sorgfältigen Rand-

109 Wibald von Stablo, Briefbuch, ed. Hartmann, 292–303.


110 Vgl. Berschin 1980, 149–152.
111 Vgl. Steckel 2011a, 197–202; demnächst Steckel 2014b zur bekannten Bilddarstellung Hrabans
mit Alkuin.
112 Vgl. Hill 2006 mit Verweisen.

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Abb. 9: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6260, fol. 55v: Hrabanus Maurus, In Genesin,
Freising, um 860.

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siglen113) zeigt aber, dass Alkuin, wiewohl nur in Ergänzung der älteren Kirchenväter
verwendet, immerhin 18-mal mit Sigle aufgeführt wird (vgl. Abb. 9).
Beda erhält mit 19 nur wenig mehr Siglen, Hrabanus selbst wie Gregor der Große
29, also viel weniger als die häufiger zitierten Autoritäten Hieronymus (83), Isidor (84)
und Augustinus (97), aber mehr als die nur einmal erwähnten Autoren Orosius und
Plinius. So drängt sich die Frage auf, ob Hrabanus seinen Lehrer Alkuin, dessen noch
zu ‚junge’ Autorität er in De institutione clericali öfter einmal durch seinen eigenen
Namen verdeckte, 114 in seinen Bibelkommentaren stärker als Autorität etablierte –
oder ob Abschreiber den Namen hervorhoben.
Wenn wir solche Fragen beantworten könnten, wäre nicht nur für die Untersu-
chung frühmittelalterlicher Wissenstransfers einiges gewonnen. Eine Beschäftigung
mit der Frage, wie genau es Hrabanus Maurus und andere Autoren der Karolingerzeit
mit dem wortwörtlichen Zitieren von Autoritäten wirklich hielten und welches Ver-
ständnis von Textualität sich darin offenbart, wäre auch für diachron-vergleichende
Untersuchungen hochgradig relevant. Tatsächlich ist ‚Autorität’ ein immer noch zu
vage operationalisierter Begriff, wenn man die Innovativität karolingerzeitlicher Wis-
senskultur nuanciert beschreiben oder sie sogar mit den Umwälzungen des 11. und 12.
Jahrhunderts genauer in Bezug setzen möchte.
Denn dass etwa zwischen der sammelnden und abgleichenden Arbeit der karo-
lingerzeitlichen Gelehrten und der begrifflich-definitorischen Klärung der mit der
frühen Glossa ordinaria zur Bibel befassten frühscholastischen Theologen enge
Bezüge bestehen, ist nur zu deutlich.115 Doch die graduellen Verschiebungen früh-
und hochmittelalterlicher Wissenskulturen verschwimmen, wo man sie in ein line-
ares, modernisierungstheoretisch beeinflusstes Schema eines ‚autoritätshörigen’,
wenig originellen Frühmittelalters und eines ‚rationalen’ Hochmittelalters presst. Es
bleibt also viel zu erforschen, wenn man die Handschriften nicht nur auf ihren Text-
gehalt, sondern auch auf Materialität, technische Kontexte und symbolische Bedeu-
tungsebenen befragte. Dies kann gleichzeitig nicht nur gelehrte und literarische,
sondern auch religiöse Formen von Autorität als kulturelles Phänomen erschließen.
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113 Vgl. zu den Handschriften München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6260, 6261, 6262 Bischoff
1960, 118, 122. Clm 6260 scheint zu zeigen, dass der Schreiber das Siglensystem erst lernen musste:
Eine erste Sigle mit B für Beda, der jedoch zunächst keine weitere folgt, da Hrabanus Beda über Seiten
hin ausschrieb, ließ der Schreiber weg oder übersah sie. Vom hinteren Teil von Buch I an werden die
Siglen dann jedoch aufgeführt, teils übrigens als volle Namen (Albinus vs. ALB).
114 Vgl. Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, 50–51.
115 Sichtbar etwa an den karolingerzeitlichen glossierten Psaltern; vgl. Gibson 1994 sowie zur Glossa
ordinaria Smith 2009.

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Von Buchstaben und Geist   123

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Stefan Morent
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch:
Aspekte der Überlieferung und Rekonstruktion

Die Kultur mittelalterlicher Klöster, ihr geistiges Profil samt den intellektuellen Rah-
menbedingungen für Bildung und Schriftlichkeit lässt sich zu einem großen Teil
anhand ihrer Bibliotheken und Handschriften erschließen.1 Dies gilt auch für die
Musik, deren Klang längst vergangen und nur in Schriftform in liturgischen Codices
erhalten ist. Das Schicksal der Bibliotheken und ihrer Handschriften kann hierbei
völlig verschieden sein: von der fast vollständigen Bewahrung am Ort der Entstehung
bis heute, wie beispielsweise in der Stiftsbibliothek Sankt Gallen, bis zur völligen
Zerstörung, wie im Fall der Reichsabtei Corvey,2 oder zur Auflösung und Zerstreu-
ung, wie im Falle des Klosters Reichenau oder auch der Bibliothek des 764 zunächst
als Eigenkloster der Rupertiner gegründeten Lorsch, das bereits 772 unter Karl dem
Großen zur reichsunmittelbaren Abtei erhoben wurde.
Für Lorsch verteilen sich die Bestände heute auf ca. 70 Bibliotheken in Europa
und USA, wobei die meisten Handschriften immer noch im Palatina-Fonds der
Vaticana in Rom liegen, gefolgt von Beständen in der Bayerischen Staatsbibliothek
München und in der Oxford Bodleian Library, wohin die Handschriften über die Abtei
Eberbach gelangten, nachdem Lorsch 1233 unter Papst Gregor IX. mit Zisterziensern
aus Eberbach besiedelt worden war.3
Das Schicksal der Klosterbibliothek wurde um 1550 maßgeblich vom damaligen
Pfalzgrafen und nachmaligen Kurfürsten Ottheinrich beeinflusst, der, wie es die Zim-
mersche Chronik formuliert, „tanquam alter Nabucadnezar“ in das Kloster einfiel und
„die kaiserliche uralte bibliothek sampt butzen und still, wie man sagt“ abtranspor-
tieren ließ und seiner Bibliothek einverleibte.4 Dies sollte nicht die letzte unfreiwillige
Reise der Lorscher Handschriften bleiben,5 denn nachdem Heidelberg im 30-jährigen
Krieg 1622 von den Truppen Tillys eingenommen worden war, ließ sein Herr, Herzog
Maximilian I. von Bayern, die berühmte Bibliotheca Palatina Ottheinrichs ebenso
gründlich durch den päpstlichen Legaten Leone Allacci aus Heidelberg abtranspor-
tieren, um sie fast vollständig 1623 Papst Gregor XV. beziehungsweise dessen Nachfol-
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ger Urban VIII. zu überlassen, der sie dort gesondert in der Vatikanischen Bibliothek
aufstellen ließ. Nach dem Frieden von Tolentino 1797 mussten wiederum Palatini vom

1 Hierzu Embach/Moulin/Rapp 2011, 486.


2 Schmalor 2009.
3 Palmer 1998.
4 Barack 1881, 590; Berschin 1992, 27.
5 Zum Folgenden vgl. Berschin 1992, 11–14.

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132   Stefan Morent

Kirchenstaat an Frankreich zurückgegeben werden und schließlich gelangte nach


dem Sieg über Napoleon ein Viertel der ehemaligen Heidelberger Handschriften 1816
nach dem Wiener Kongress von Paris aus zurück nach Heidelberg, darunter die Pala-
tini Germanici, aber auch einige Graeci und Latini, so beispielsweise die um 800 ent-
standene Lorscher Kopie der Historiae Gregors von Tours und der Fredegar-Chronik
im Palatinus latinus 864 (Heidelberg, UB, Pal. lat. 864), die sich deshalb heute wieder
im Besitz der Universitätsbibliothek Heidelberg befindet.
Besser als alle Worte es vermögen könnten, sind allerdings die Handschriften
selbst beredte Zeugnisse ihrer wechselvollen Geschichte. So zeigt der Gregor-Codex
auf dem ersten Folio6 unter verschiedenen Nachträgen und Federproben einen Besitz-
vermerk aus dem 9. oder frühen 10. Jahrhundert mit Nennung des Klosternamens
(Lauresham) und des Klosterpatrons, des Heiligen Nazarius, sowie einen weiteren
aus dem 15. oder frühen 16. Jahrhundert. Auf dem Umschlagblatt prangt stolz das
Ex-libris Kurfürst Maximilians I. von Bayern,7 das von der schmachvollen Niederlage
Heidelbergs und der Übergabe als Kriegstrophäe an Papst Gregor XV. kündet und
das Maximilian 1623 extra in einer Auflage von über 8.000 Exemplaren drucken ließ,
nachdem es ihm gelungen war, Kurfürst Friedrich V. auch die Würde des Erztruchses-
sen und Kurfürsten abzunehmen.8 Der geprägte Ledereinband der Handschrift9 zeigt
die Wappen der Familie des römischen Kardinalsbibliothekars Alessandro Albani aus
dem 18. Jahrhundert und verweist damit auf den Aufenthalt der Handschrift in Rom.
Der untere Bereich von Folio 1 zeigt schließlich links den Stempel der Bibliothèque
nationale de France in Paris, rechts den der Universitätsbibliothek Heidelberg sowie
unten die alte durchgestrichene Signatur 124 und die neue 864.
Insgesamt sind bisher 330 Handschriften und Fragmente aus dem 5. bis 15. Jahr-
hundert aus der Bibliothek beziehungsweise dem Skriptorium von Lorsch nach-
gewiesen, wobei sich die Zuschreibungen hauptsächlich auf die Expertise und die
Forschungsarbeiten der Paläographen Bernhard Bischoff und Hartmut Hoffmann
stützen. Für den Zugang sind die seit kurzem online zugänglichen Handschriften-
Digitalisate innerhalb des von der UB Heidelberg, der Welterbestätte Kloster Lorsch
und vom Land Hessen geförderten Projekts „Bibliotheca Laureshamensis digital“
überaus hilfreich, erlauben sie doch, vor allem die zahlreich vorhandenen Bestände
der Vaticana einfach und in vorher nicht gekannter Qualität zu konsultieren.10
Ein Kloster vom Rang und Namen Lorschs, gegründet im 8. Jahrhundert und mit
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engen Verbindungen zu den karolingischen Herrschern und in der Person Chrode-


gangs von Metz zu einem der Zentren liturgischen Gesangs im frühen Mittelalter,

6 Heidelberg, UB, Pal. lat. 864, fol. 1r.


7 Heidelberg, UB, Pal. lat. 864, fol. 1**r.
8 Berschin 1997a, 13–15.
9 http://bibliotheca-laureshamensis-digital.de/view/ubhd_cpl864/0285.
10 http://bibliotheca-laureshamensis-digital.de/de/index.html.

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Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch   133

muss die Aufmerksamkeit des Musikhistorikers auf sich ziehen. Da Lorsch mit Fulda,
der Reichenau, Murbach und St. Gallen im 9. Jahrhundert zu den führenden Klöstern
im ostfränkischen Raum gehörte, muss ihm ebenso wie diesen die Pflege des liturgi-
schen Gesangs als eine der obersten Aufgaben gegolten haben.
Auf den ersten Blick stellt sich allerdings zunächst Ernüchterung ein: Wer etwa
auf prachtvolle musikalische Handschriften gehofft hat, wird enttäuscht.11 Dass die
Lorscher Bibliothek durchaus Handschriften von hohem künstlerischem Rang besaß,
wenn auch nicht unbedingt selbst herstellte, belegt bereits einer der vier Lorscher
Bibliothekskataloge aus der Mitte des 9. Jahrhunderts (Katalog „C“), der gleich zu
Beginn ein Evangelium pictum cum auro scriptum habens tabulas eburneas nennt,12 in
dem wohl das sogenannte „Lorscher Evangeliar“ (Rom, BAV, Pal. lat. 50) zu sehen ist,
das circa 810 in der Hofschule Karls des Großen entstanden und der Katalog-Beschrei-
bung gemäß mit prachtvollen ganzseitigen Miniaturen etwa der Evangelisten und mit
Gold und Silber geschriebenen Textseiten sowie mit Elfenbein-Platten als Einbänden
glänzt.13
Ähnlich kostbar ausgestattete Handschriften für die Gesänge der Messe, als Chry-
sographen auf mit Purpur getränktem Pergament noch ohne Notation geschrieben,
wie beispielsweise das Cantatorium von Monza aus dem 2. Drittel des 9. Jahrhun-
derts (Monza, Museo del Duomo, Inv. Nr. 88) scheinen aus Lorsch nicht überliefert zu
sein. Dass das Kloster auf jeden Fall Gesangshandschriften besessen hat, belegt der
bereits genannte Bibliothekskatalog mit den Einträgen Antifonarium integrum unum.
gradalum unum. Antifonarios .II. de cantu nocturnali.14 Auch die Bücherliste (tabula
librorum) des Lorscher Priesters Heilrad aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts
verzeichnet mehrere Exemplare eines antefonarius sowie eines gradal.15 Mit ersterem
Eintrag des Lorscher Katalogs ist wohl ein Antiphonar für die gesamten Gesangs-
texte des Stundengebets gemeint, während der letzte Eintrag auf zwei Codices mit
den Gesangstexten zur Liturgie der Vigil in der Nacht verweist. Mit gradalum könnte
entweder ein Graduale, also eine Handschrift mit den Gesangstexten für die Messe,
gemeint sein, oder – in diesem Kontext der Aufzählung – auch mit denen des Stun-
dengebets am Tage. Denn in eben dieser Formulierung gemahnt auch ein Passus aus
der berühmten Admonitio generalis Karls des Großen von 789 die vollständige und der
Ordnung gemäße Ausführung der Offiziumsgesänge für die Nacht- und Tagzeiten an
(pro nocturnale vel gradale officium).16
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11 Erste Vorstudien zu den neumierten Handschriften aus Lorsch liegen vor von Bannister 1913 und
Münch 1993, die allerdings in Teilen stark verbesserungswürdig sind.
12 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, fol. 1r.
13 Rom, BAV, Pal. lat. 50: Darstellung des Evangelisten Johannes (fol. 67v), Beginn des Johannes-
Evangeliums (fol. 70v).
14 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, fol. 1v.
15 Rom, BAV, Pal. lat. 175, fol. 66va.
16 Vgl. etwa Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 496a Helmst., fol. 12v: Ut cantum

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Hier wird zum einen deutlich, dass ein Kloster zur Absolvierung des täglichen
Opus dei mit einem Grundbestand an Handschriften ausgestattet sein musste, der
auch für den Gründungskonvent von Lorsch aus 16 Mönchen aus Gorze unter Gun-
deland, dem Bruder Chrodegangs, anzunehmen ist (wozu, wie es später etwa die
Summa cartae caritatis der Zisterzienser formuliert, „psalteri[um], hymnari[um], …
antiphonari[um], gradal[um], regula“ und „missali“ gehörten,17 die auch im Lorscher
Bibliothekskatalog erwähnt werden). Zum anderen ist der Passus ein Zeugnis für die
karolingischen Bestrebungen, den Gesang der päpstlichen Liturgie in Rom (cantus
romanus) auch im fränkischen Reich einheitlich und flächendeckend einzuführen.
Nach der Admonitio generalis begann dieser Prozess, den man als musikalischen
Kulturtransfer oder mit einem englischen Terminus „globalization of chant“ nennen
könnte, bereits unter Karls Vater Pippin und schloss die euphemistisch als „Abschaf-
fung“ formulierte Unterdrückung bereits vorhandener Lokal-Liturgien, wie etwa der
gallikanischen, mit ein. Wie sich diese Einführung der cantilena romana, des römi-
schen Liturgiegesangs, von der auch etwa Walahfrid Strabo rückschauend auf die Zeit
Pippins und Papst Stephans II. berichtet,18 genau vollzogen hat, wirft für die musik-
bezogene Mittelalterforschung seit langem viele und im Detail bis heute ungeklärte
Fragen auf: Wie kann etwa das enorme Repertoire von mehreren tausend Gesängen
für Messe und Stundengebet übermittelt worden sein, ohne dass offenbar musikali-
sche Notation benutzt wurde? Denn vor 900 sind zumindest keine vollständig notier-
ten Gesangshandschriften überliefert, dann aber beinahe gleichzeitig praktisch aus
dem Nichts aus verschiedenen Orten des fränkischen Reiches (St. Gallen, Einsiedeln,
Laon, Chartres) und mit – bis auf kleinere Varianten in Details – identischen Fassun-
gen der Gesänge. Auch hier stellt sich die Frage, wie und woraus sich die sogenannte
Neumenschrift entwickelt hat und wie sich der Übergang von mündlicher Tradierung
zur Fixierung im Medium der Neumenschrift gestaltet hat.19
Dass Melodieverläufe zunächst als nicht aufschreibbar galten, war etwa in den
Etymologiae des Isidor von Sevilla (um 600) nachzulesen. So heißt es in der wohl in
Lorsch um 800 entstandenen Kopie dieses enzyklopädischen Werkes in Buch III, c.
15, dass die Musen Töchter des Iupiter und der Memoria seien und die Töne deshalb
vergehen, wenn sie nicht vom Menschen im Gedächtnis behalten werden, da sie nicht
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romanum pleniter discant et ordinabiliter pro nocturnale vel gradale officium peragatur secundum quod
beate memorie genitor noster pippinus rex decertavit ut fieret quando gallicanum tulit ob unanimitatem
apostolice sedis.
17 Häse 2002, 19 Anm. 4.
18 Walahfrid Strabo, Liber de exordiis, ed. Knöpfler, c. 26, 84: Cantilenae vero perfectiorem scientiam,
quam iam pene tota Francia diligit, Stephanus papa, cum ad Pippinum, patrem Caroli magni impera-
toris, in Franciam pro iusticia Sancti Petri et Langobardis expetenda venisset per suos clericos petente
eodem Pippino invexit, indeque usus eius longe lateque convaluit.
19 Philips 2000, 529–533.

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Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch   135

geschrieben werden können (quia scribi non possunt).20 Damit meint Isidor wohl: Die
genaue Gestaltung der Musik in der Zeit, das heisst ihr genauer Vortrag kann nicht
aufgeschrieben, sondern nur in der Erinnerung tradiert und bewahrt werden. Denn
bereits die griechische Antike kannte sehr wohl eine musikalische Notation, die aller-
dings aus dem Alphabet abgeleitet war und so auch von Boethius dem Mittelalter
überliefert und von ihm adaptiert wurde. Sie bezeichnet aus der musiktheoretischen
Reflexion kommend strukturelle Tonorte und nicht die praktisch ausgeführte melo-
dische Linie.21 Gleichzeitig wird hier schon klar, dass Notation, wenn überhaupt, als
Gedächtnisstütze verstanden wird und nicht als präskriptive Aufführungsanweisung.
Und doch war es Karl dem Großen und seinen Nachfolgern ein mit größtem Nach-
druck verfolgtes Anliegen, die Einheit mit Rom nicht nur im politischen sondern auch
im liturgischen Bereich herzustellen. Am Ende dieser als Ideal angestrebten unitas
et consonantia in regno et provincia, wie sie Notker Balbulus in seinen Gesta Karoli
Magni bezeichnet,22 steht freilich eine vom Vorbild abweichende fränkische Redak-
tion des römischen Chorals, der sogenannte „Gregorianische Choral“. Entscheidend
ist die geglaubte auctoritas Papst Gregors des Großen als des angeblichen Urhebers
der Choralmelodien, wie sie etwa im Prolog des bereits erwähnten Cantatoriums von
Monza zum Ausdruck kommt.23 Johannes Diaconus und Notker Balbulus berichten
satirisch vom Austausch römischer und fränkischer Sänger, um die neue Singweise
zu lehren und zu lernen und erklären die Differenzen in diesem „Sängerkrieg“ wech-
selweise mit der Unfähigkeit der fränkischen Sänger, die Feinheiten der cantilena
romana mit ihren barbarischen, trinkfesten Kehlen auszuführen beziehungsweise
mit der bösen Absicht der römischen Sänger, möglichst verschieden und falsch zu
singen. Diese Texte sind als Reflex auf die Schwierigkeiten beim Aufeinandertreffen
zweier musikalischer Kulturen und ihrer gegenseitigen Amalgamierung sowie auf die
Rolle Karls des Großen in diesem Prozess, der nach beiden Autoren die musikalischen
Unterschiede wahrnimmt und kritisiert, zu verstehen.24
Jedenfalls müssen wir uns Europa im 8. und 9. Jahrhundert in seinen kulturellen
Zentren als ein im Wesentlichen singendes Europa vorstellen, dem die einheitliche
und korrekte Ausübung des liturgischen Gesangs eines der wichtigsten Anliegen war.
Und dies passt sich ein in das allgemeine Bestreben karolingischer Kultur des corri-
gere et superflua abscindere. Nicht nur weil es politisch gewollt war, sondern auch
weil Benedikt von Nursia in seiner Regel bereits ermahnt, die Mönche sollen eines
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Herzens und mit einer Stimme singen und sich dabei immer vor Augen halten, dass

20 Quaru[m] sonus, quia sensibilis res est praeterfluit in praeteritum tempus inprimiturque memoriae.
Inde a poetis iovis et memoriae filias musas esse confictum est. Nisi enim ab homine memoria tenea[n]-
tur soni pereunt quia scribi non possunt. Rom, BAV, Pal. lat. 281, fol. 53v.
21 Hierzu Philips 2000, 549–560.
22 Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni, ed. Haefele, I, 10, 14.
23 Hierzu Stäblein 1968.
24 Vgl. Haug 2005.

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sie in Gegenwart der Engel (in conspectu angelorum) sängen.25 Dieser Brückenschlag
zwischen irdischer und himmlischer Liturgie ereignet sich im Sanctus der Messe,
dessen einleitende Worte lauten: una voce dicentes.
Die Musik, in ihrer mittelalterlichen Begrifflichkeit als musica den heutigen
Begriff von Musik um vieles transzendierend, hält Welt und Himmel grundlegend
zusammen. So bildet die musica auch die Quelle aller Erkenntnis. Wiederum bei Isidor
ist nachzulesen, keine disciplina sei ohne die musica vollkommen und selbst die Welt
und das Weltall seien in einer Zusammenstimmung der Klänge komponiert und sogar
der Himmel drehe sich in tönender Ordnung. Diese von Gott geschaffene Ordnung, die
Zeit und Raum bestimmt und gliedert, klingt in ihrer liturgischen Dimension etwa in
den als Probatio pennae gekennzeichneten Anfangsworten von Notkers Weihnachts-
sequenz Natus ante secula dei filius unter den Nachträgen einer in der 1. Hälfte des
9. Jahrhunderts geschriebenen Faustus-Handschrift aus Lorsch an.26 Diese Sequenz
Notkers, die mit zu seinen berühmtesten zählt und seinen Liber hymnorum eröffnet,
wie in der ältesten erhaltenen, vollständigen Handschrift dieses Werkes aus St. Gallen
aus dem 2. Viertel des 10. Jahrhunderts,27 war auch in Lorsch bekannt, wie der Beginn
eines um 1000 in Lorsch geschriebenen Sequentiars, das sich heute in Wien befin-
det, zeigt.28 Die Verse per quem fit machina caeli ac terrae verweisen hierbei auf jenes
aus antiken Vorstellungen übernommene Konzept der Sphärenharmonie, wie es in
einer Kopie des Macrobius-Kommentars zum Somnium Scipionis aus Lorsch aus der 2.
Hälfte des 9. Jahrhunderts visualisiert und auf die musikalischen Intervalle bezogen
wird.29
Die Haltung der Aneignung und gleichzeitigen Adaption antiker Lehrinhalte, die
die karolingische Kultur allgemein kennzeichnet, ist auch für die musica entschei-
dend: Die grundlegende Rolle der musiké im griechischen Denken beruht auf der
pythagoräischen Erkenntnis der Relation zwischen rationalen Zahlverhältnissen und
den musikalischen primären Konsonanzen von Einklang, Quart, Quint und Oktave.
Da die Töne so im Unterschied etwa zu den Farben als Sinneseindrücke an die ratio-
nal fassbaren Zahlen rückgebunden sind, wird ihnen im philosophischen Denken ein
höherer Rang zugesprochen. Die musica gehört deshalb auch im Wissenschaftsver-
ständnis des Mittelalters zu den quattuor matheseos disciplinae des erstmals so von
Boethius benannten Quadriviums (beziehungsweise zunächst quadruvium bei Boe-
thius) wie es eine schematische Darstellung in einer um 800 in Lorsch geschriebe-
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nen grammatischen Sammelhandschrift verdeutlicht,30 wobei die verehrende Aneig-

25 Regula Benedicti, c. XIX.


26 Rom, BAV, Pal. lat. 241, fol. 37r.
27 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 381, p. 333.
28 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1043, fol. 1r.
29 Rom, BAV, Pal. lat. 1341, fol. 78v.
30 Rom, BAV, Pal. lat. 1746, fol. 60v.

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Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch   137

nung griechischen Denkens hier dadurch besonders zum Ausdruck kommt, dass die
Namen der einzelnen Disziplinen mit griechischen Buchstaben geschrieben sind.
Vermittelt wird dieses Wissen dem Mittelalter durch Boethius, dessen Institutio
arithmetica zwar in der Lorscher Handschrift Pal. lat. 1341, die sich heute in der BAV in
Rom befindet, vorhanden ist, seine Institutio musica jedoch weder durch eine Hand-
schrift noch durch einen Eintrag in einem der karolingischen Bibliothekskataloge
bezeugt ist. Obwohl Boethius’ Schrift über die Musik offenbar erst generell einiges
später als die Institutio arithmetica in karolingischen Klöstern rezipiert wurde,31 ist ihr
Fehlen in Lorsch doch erstaunlich. Während der griechischen Philosophie die prakti-
sche Musikausübung als Handwerk gegenüber der gelehrten Spekulation als inferior
galt – weshalb uns auch über die Praxis antiker Musik so wenig bekannt ist – und
Boethius auch diese Wertung mit seiner Unterscheidung zwischen dem wissenden
musicus und dem nur ausübenden cantor an das Mittelalter weiter gab, sahen sich
die Kantoren karolingischer Klöster der Herausforderung gegenüber, dass sie einer-
seits diese antike Haltung der rationalen speculatio übernahmen, andererseits mit
dem Choral mitten in einer täglichen und für die Liturgie unabdingbaren Musikpraxis
standen. Die eigentliche schöpferische Leistung von Autoren wie etwa Hucbald von
St. Amand um 900 besteht darin, die tonsystematische Erkenntnis mit der gesunge-
nen Praxis zu verschränken, den Choral auf die Musiktheorie hin durchhörbar zu
machen und damit die Musik rational zu durchdringen.32 Hierhin begründet sich das
eigentliche Movens für die gesamte abendländische Musikgeschichte.
Aus Lorsch selbst sind aber keine solchen Traktate bekannt, so dass eigene Leis-
tungen in der Musiktheorie bisher nicht anzunehmen sind. Immerhin bezeugt im 11.
Jahrhundert eine Abschrift des Tonarius des Bern von Reichenau (Rom, BAV, Pal. lat.
1344) eine Rezeption dieses einflussreichen musiktheoretischen Werkes des Reiche-
nauer Abtes auch in Lorsch.33 Aber auch nach vollständigen Handschriften, die die
bereits erwähnte um 900 einsetzende Fixierung des Gesangsrepertoires für Messe
und Stundengebet in Gestalt der Neumenschrift dokumentieren, sucht man in den
erhaltenen Lorscher Beständen vergeblich: Kein einziges vollständiges Graduale oder
Antiphonar – etwa dem St. Galler Cantatorium (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 359)
und Codex Hartker (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 390/391) oder den Gradualien
von Einsiedeln (Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 121), Laon (Laon, Bibliothèque
municipale, Ms. 239) und Chartres (Chartres, Bibliothèque municipale, Ms. 47) ver-
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gleichbar, die zu den frühesten und kostbarsten Zeugen dieser ersten Phase von musi-
kalischer Schrift gehören – scheint aus Lorsch erhalten.

31 Duchez 1980.
32 Traub 1989.
33 Beziehungsweise in St. Michael, für das die Handschrift eventuell von Abt Uodalrich (1056–1075)
gestiftet wurde. Häse 2002, 24 Anm. 38.

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Die eingangs bereits erwähnten Gesangshandschriften, die der Lorscher Bib-


liothekskatalog auflistet, waren sicherlich noch nicht mit Notation versehen: Nach
allem was wir wissen, tauchen vollständig neumierte Gesangshandschriften erst um
900 auf. Dass Lorsch nicht eine einzige solche besessen haben sollte, ist schlichtweg
nicht vorstellbar. Selbst wenn man Überlieferungsverluste, unter anderem durch die
dokumentierten Klosterbrände von 1090, 1247 und 1358 und durch die Odyssee der
Handschriften von Lorsch, nach Heidelberg, Rom, Paris und zurück nach Heidelberg
einrechnet, bleibt diese Lücke ein gewisses Rätsel.
Einen kleinen Einblick gibt es neben dem bereits erwähnten Sequentiar (Wien,
Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1043) allerdings doch: Im Fürstlich Leinin-
genschen Archiv in Amorbach hat sich ein (verstümmeltes) Pergamentdoppelblatt
erhalten, das offenbar ein Fragment eines Graduales aus Lorsch aus dem zweiten
Drittel des 11. Jahrhunderts darstellt und die neumierten Messgesänge zu den Sonn-
tagen XIV bis XVII und XXIII nach Pfingsten, der Feria III und V in den September-
Quatembern, den Beginn der Totenmesse sowie eine Alleluia-Serie für das Commune
sanctorum enthält. Der Alleluia-Reihe der Sonntage nach Pfingsten nach ist für die
unvollständige Dominica XIV p. Pent. das Alleluia Venite exultemus mit Vers Preoccu-
pemus zu erwarten.34 Die am oberen Blattrand von fol. 1r noch lesbaren abgeschnit-
tenen unteren Buchstaben-Hälften lassen tatsächlich die Worte in psalmis iubilemus
ei aus dem Alleluia-Vers rekonstruieren, wozu auch die entsprechenden Abstände für
die Neumierung passen.35
Jenseits der festen Kategorien von geschlossen und vollständig überlieferten
Gesangs-Repertoires für Messe und Offizium finden sich jedoch umfangreiche Zeug-
nisse in Gestalt neumierter Fragmente, Nachträge und Marginalien. Sie belegen, dass
das Medium der Neumenschrift in Lorsch natürlich nicht unbekannt war, ja eine Lor-
scher Quelle bietet sogar den ersten Nachweis für den Terminus neuma im Sinne von
Notationszeichen: Unter den Nachträgen zu einer Handschrift mit den Carmina des
Paulinus Nolanus, die in die Lorscher Bibliothek gelangte,36 findet sich ein Musik-
traktat mit dem Incipit Quid est cantus?, der wohl zwischen dem Ende des 10. Jahr-
hunderts und 1100 in Lorsch geschrieben wurde. Die Formulierung de accentibus
toni oritur nota que dicitur neuma setzt hier zum ersten Mal den schon von Boethius
verwendeten Terminus nota für musikalische Notation mit neuma gleich, während
neuma im 9. und frühen 10. Jahrhundert eine melismatische Melodiebewegung, oft
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als Erweiterung bestehender Gesänge, meint. Das von einer späteren Hand hinzu-
gefügte figura deckt sich mit anderen frühen Bezeichnungen von Notationszeichen

34 Zu Konkordanzen für die Reihenfolge der Alleluias für die Sonntage XV, XVI, XVII, XXIII nach
Pfingsten vgl. die Datenbank http://www-app.uni-regensburg.de/Fakultaeten/PKGG/Musikwissen-
schaft/Cantus/Alleluia/index.html.
35 Amorbach, Fürstlich Leiningensches Archiv, Schublade 1, Fragment 23.
36 Rom, BAV, Pal. lat. 235, fol. 38v.

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Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch   139

als figura musica. Gleichzeitig scheint diese Stelle einen genetischen Zusammenhang
zwischen den prosodischen Akzentzeichen der Grammatiker und den Neumen herzu-
stellen: Die erwähnten Akzente acutus, gravis und circumflexus rekurrieren auf Erklä-
rungen, wie sie etwa Isidor, dabei selbst Donats Ars maior paraphrasierend, bietet.37
Allerdings lassen sich die Beschreibungen des acutus (mit Verweis auf die griechische
Vorstellung oxys = spitz, scharf) und des gravis (barys= stumpf, schwer) als Verlauf
von schräg unten nach schräg oben beziehungsweise umgekehrt nur mit dem System
der sogenannten paläofränkischen Neumenschrift in Einklang bringen, die allerdings
wohl zu den ältesten Neumensystemen gehört.38 Andere Neumenschriften lassen sich
damit nicht erklären – und so bleibt die auch in der Musikwissenschaft aufgegrif-
fene sogenannte „Akzentthese“ nur eine unter mehreren Ansätzen zur Erklärung der
Genese der Neumenschrift.39
Die speziellen Charakteristika der Lorscher Neumenschrift, wie sie sich aus den
Fragment-Befunden ergeben, sind bisher nur ansatzweise erfasst:40 Sie gehört jeden-
falls zur Familie der sogenannten deutschen Neumenschriften, mit denen in der For-
schung die Neumen im deutschen Sprachgebiet in Abgrenzung zur eigenständigen
St. Galler Neumenschrift bezeichnet werden, und wozu auch etwa die Reichenau
oder Regensburg gehören, deren Differenzierung allerdings bisher relativ unscharf
bleibt.41 Erschwerend kommt hinzu, dass bei Nachträgen jeweils zu entscheiden ist,
ob der Trägercodex selbst in Lorsch entstanden ist oder nur zu einem bestimmten
Zeitpunkt in die Lorscher Bibliothek gelangte, und ob die Neumierung außerhalb
von Lorsch oder in Lorsch und jeweils ursprünglich mit dem Text oder nachträglich
erfolgte. Hier ist oft die paläographische Expertise für die Texte von entscheidender
Bedeutung.
Die folgenden Überlegungen können also nur einen ersten Überblick an aus-
gewählten Beispielen darstellen. Zu den ältesten Neumendokumenten aus Lorsch
könnte eine liturgische Sammelhandschrift aus dem 3. Viertel des 9. Jahrhunderts
gehören, die eine neumierte Passage über den Worten O mira circa nos aus dem Oster-
Exultet oder Preconium paschale (Osterankündigung) enthält.42 Obwohl der Text
offenbar nicht ursprünglich für Neumierung vorgesehen war, scheinen die Neumen
aufgrund ihrer Formgebung noch aus dem 9. Jahrhundert zu stammen.43
Einen zweifelhaften Fall stellen die neumierten Nachträge mit Carmina aus De
consolatione philosophiae von Boethius im sogenannten „Ludwigspsalter“ dar.44 Die
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37 Hierzu Atkinson 1995.


38 Philips 2000, 463–465.
39 Ebd. 505–526.
40 Münch 1993, 32–33; Möller 1997.
41 Philips 2000, 433–442.
42 Rom, BAV, Pal. lat. 485, fol. 48v. Zur Handschrift: Paxton 1990; Möller 1997, 29–30.
43 Hiley 1980, 346.
44 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Theol. lat. 58, fol. 1v.

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Trägerhandschrift, ein Psalterium gallicanum, wurde wohl in St. Omer Anfang des
9. Jahrhunderts für Ludwig den Deutschen oder Ludwig den Frommen geschrieben.
Einige Anhaltspunkte sprechen dafür, dass die Boethius-Nachträge in Lorsch Ende
des 9. Jahrhunderts entstanden sein könnten, vielleicht im Zusammenhang mit der
Abdankung Karls des Dicken zwischen 887 und 888.45 Sie würden sich damit in eine
Reihe von Neumierungen zu Boethius’ Consolatio aus dem 9. oder frühen 10. Jahr-
hundert einreihen, wie etwa in einer Handschrift mit Versus der Pariser Bibliothèque
nationale de France, die wohl in einem Martins-Kloster in Aquitanien entstand und
im 11. Jahrhundert in St. Martial in Limoges an den lokalen Usus adaptiert wurde.46
Die in Lorsch nachgewiesene Kopie der Consolatio (Rom, BAV, Pal. lat. 1581) enthält
allerdings keine Neumierungen und stammt zudem nicht aus Lorsch selbst. Insge-
samt sind allerdings die erhaltenen Neumierungen zur Consolatio mehrheitlich nicht
direkt im Text enthalten, sondern als Nachträge in Handschriften mit anderen Texten.
Die beiden Zeugnisse aus Lorsch würden damit zu den ältesten bisher bekannten Neu-
mendenkmälern überhaupt gehören. Und sie fügen sich auch insofern in das typische
Bild dieser Zeugnisse ein, als es sich nicht um größere Bestände aus dem Repertoire
der Messe oder des Offiziums handelt, sondern um einzelne Stücke, die spezielle
Texte am Rande oder gar außerhalb der Liturgie betreffen: So etwa das bis heute
wohl älteste bekannte Zeugnis für Neumenschrift, die Prosula Psalle modulamini aus
Regensburg, die das Oster-Alleluia Christus resurgens textiert, zwischen 820 und 840
datiert wird und deren Schreiber Enguldeo sich in der letzten Zeile sogar beim Namen
nennt.47 Oder ein teilweise neumiertes griechisches Gloria in paläofränkischen
Neumen, auf 875/876 datiert.48 Oder neumierte Passagen aus Martianus Capellas De
nuptiis Mercurii et Philologiae, wie etwa in einer französischen Handschrift (Oxford,
Bodleian Library, MS. Laud. Lat. 118, fol. 11v) aus dem 9. Jahrhundert, die wiederum
auf die Rezeption spätantiker Schriftsteller und ihre grundlegende Bedeutung für die
Herausbildung einer Musiktheorie verweisen.
Mit zu den frühesten dokumentierten Gattungen für Neumen gehören auch die
Erweiterungen der kodifizierten Gesänge für Messe und Offizium in Text und Musik,
die fast gleichzeitig mit der Übernahme der Repertoiregesänge entstanden sind:
Tropen, die einen Bezugsgesang, besonders den Introitus, mit textlichen und/oder
musikalischen Erweiterungen ergänzen und kommentieren und Sequenzen, die zu
einer textlosen Melodie nach dem Vorbild des Alleluia-Melismas neue Dichtungen
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adaptieren und zu einer eigenen Gattung nach dem Alleluia und vor dem Evangelium
werden. Auf das um 1000 geschriebene Lorscher Sequentiar wurde bereits hingewie-
sen. Es bezeugt die Rezeption des St. Galler Sequenzen-Repertoires in Lorsch und ist,

45 Jammers 1955; Philips 2000, 432.


46 Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1154, fol. 118r.
47 Möller 1990; Philips 2000, 436–438.
48 Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 2291, fol. 16r.

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Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch   141

wenn auch mit nur acht Blättern, aber immerhin einem vollständigen Quaternio, die
einen Faszikel aus einer verlorenen umfangreicheren Handschrift oder eben einen
eigenständigen Libellus darstellen, das umfangreichste neumierte Dokument aus
Lorsch überhaupt.49 Einzelbeispiele bilden die in der bereits erwähnten Grammati-
schen Sammelhandschrift wohl aus dem 10. Jahrhundert stammende, auf dem letzten
Blatt nachgetragene und kaum mehr lesbare Sequenz zur Nativitas Johannis Baptistae
Sancti baptistae Christi von Notker auf das Melodiemodell Iustus ut palma maior mit
Marginal- und Interlinear-Neumierung.50 Oder die in einer Handschrift mit den Ora-
tiones des Gregor von Nazianz nachgetragene, Alkuin zugeschrieben Sequenz Summi
regis archangele Michahel aus der Zeit um 900.51 Der einzige eigene Beitrag Lorschs
zur Gattung Sequenz scheint zumindest in der Sequenz Gaudia diei celebremus auf
den Klosterheiligen Nazarius vorzuliegen, die in die Lorscher Beda-Handschrift
(Rom, BAV, Pal. lat. 833, fol. 83r) nachgetragen wurde, allerdings ohne Neumen, aber
mit Verweis auf das zugrunde liegende Melodiemodell Beatus vir qui suffert.52
In derselben Handschrift wurde auch der Tropus Hodie sanctissimi virgo zum
Introitus Vultum tuum für Mariä Himmelfahrt ebenfalls um 900 nachgetragen, der
auch aus dem St. Galler Tropenrepertoire bekannt ist.53 Ein anderer Fall liegt bei einer
um 800 in Lorsch geschriebenen Hieronymus-Brief-Handschrift vor.54 Im Inselkloster
Reichenau wurde ein Abschnitt der epistula 14 zu einem tropierenden Vers des Res-
ponsoriums Libera me aus dem Totenoffizium umgearbeitet. Nachträglich neumiert
wurde dann auch die Stelle im Brief selbst, die teilweise von der tropierenden Fassung
abweicht, und am unteren Blattrand ist die Erweiterung des Tropus nur mit den
Vokalen des Abschnitts mit Neumen versehen notiert.55 Den einzigen bisher bekann-
ten eigenen Beitrag Lorschs zur Gattung Tropus stellt der in die ganz zu Beginn vor-
gestellte Handschrift mit den Historiae Gregors von Tour und der Fredegar-Chronik
nachgetragene Tropus Hodie beatus Uodalricus auf den Heiligen Ulrich von Augsburg
dar, dem noch zwei weitere lateinische kurze hymnische Texte zur Nacht und zum
Morgen folgen.56 Der Tropus hebt mit der für Tropen fast topischen Wendung Hodie
an, die auf den wohl bekanntesten und weit verbreiteten Tropus Hodie cantandus est
zur Weihnacht des Tuotilo aus St. Gallen zurückgreift. Mit ihr wird der Introitus als
Eingangsgesang der Messe aktualisiert und ins Hier und Jetzt versetzt. Der Tropus
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49 Zur Handschrift: Zühlke.


50 Rom, BAV, Pal. lat. 235, fol. 67v.
51 Oxford, Bodleian Library, MS. Laud. misc. 276, fol. 65r.
52 Münch 1993, 94 gibt fälschlicherweise als Melodiemodell Adducentur an, das sich auf fol. 82v aber
auf die vorhergehende Sequenz bezieht, weist aber auf das richtige Melodiemodell Beatus vir qui suf-
fert hin.
53 Rom, BAV, Pal. lat. 833, fol. 24r.
54 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 105, foll. 3v/61v.
55 CLA VIII, 1080; Klaper 2003, 206–226.
56 Heidelberg, UB, Pal. lat. 864, fol. 134v; Berschin 1997b.

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142   Stefan Morent

kommentiert nicht nur die Antiphon des für das Fest des Heiligen Ulrich vorgesehe-
nen Introitus Os iusti, deren Stichworte nur als nicht neumierte Incipits angegeben
sind, sondern setzt auch nach dem Psalmvers und dem Gloria patri an. Die Kunst des
in diesem Fall anonymen Tropendichters bestand hierbei darin, die neu verfassten
Passagen in Wort und Melodie so anzupassen, dass sie mit dem bereits Bestehenden
eine organische Einheit bilden und es neu beleuchten.
Fasst man die bisher bekannten Musikzeugnisse aus dem Kloster Lorsch über-
blicksartig zusammen, so lässt sich bisher daraus nicht ablesen, welche Rolle Lorsch
etwa bei der Aneignung und Verbreitung des Gregorianischen Chorals oder bei
dessen Erweiterungen in Dichtung und Musik und in der Musiktheorie eingenommen
hat. Vielleicht positionierte es sich im Unterschied zur Reichenau und zu St. Gallen
eher in der Bewahrung? Einschränkend muss hierzu natürlich gesagt werden, dass
uns offenbar der größte Teil der musikalischen Handschriften aus Lorsch verloren ist.
Von den erhaltenen Zeugnissen kann aber in einem gewissen Rahmen, jeden-
falls je nach Überlieferungslage, die ursprüngliche klangliche Gestalt in vielen Fällen
zumindest näherungsweise rekonstruiert werden. So ist es möglich, die bereits
erwähnte Nazarius-Sequenz über das zugrunde liegende Melodiemodell Beatus vir
qui suffert wiederzugewinnen. Die mit diesem Melodiemodell verbundene Columban-
Sequenz A solis occasu liegt neumiert im Lorscher Sequentiar (Wien, Österreichische
Nationalbibliothek, Cod. 1043, fol. 4v) vor. Freilich muss hier auf spätere und geogra-
phisch entferntere Handschriften mit Notation auf Linien als Ergänzung zurückge-
griffen werden, um den Melodieverlauf in seinen Tonhöhen wiederzugewinnen, da
aus Lorsch selbst solche Handschriften nicht erhalten sind. Im Fall des Ulrichs-Tropus
sind aber bisher keine auf Linien notierten und damit in Tonhöhen lesbaren Fassun-
gen bekannt geworden. Gewisse Wendungen, wie das einleitende Hodie, das auch
im Melodischen topische Züge in der Überlieferung annimmt, ließen sich vielleicht
rekonstruieren, während der Bezugsgesang, der Introitus Os iusti, als Bestandteil des
Standardrepertoires für die Messgesänge breit überliefert ist und aus späteren Notati-
onen auf Linien wiedergewonnen werden kann, wenn auch keine spezielle Lorscher
Überlieferung weder in Neumen noch in Linien dafür bekannt ist. Auf Linien notierte
Handschriften aus Lorsch sind überhaupt nicht überliefert, das Kloster scheint bereits
vor diesem Schritt in der Entwicklung der Notation im 11. Jahrhundert im Niedergang
begriffen gewesen zu sein.
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Der am oberen Blattrand einer Handschrift mit den Sermones von Augustinus, die
um 900 nach Lorsch kam und auch den berühmten „Lorscher Bienensegen“ enthält,
nachgetragene neumierte Introitus Laudate pueri dominum57 lässt sich dagegen durch
Vergleich mit anderen zeitgenössischen Fassungen, wie etwa der im Graduale 121
der Stiftsbibliothek Einsiedeln, und späteren Liniennotationen, die die Basis für die
gedruckte Fassung im Graduale Romanum von 1908 bilden, in seinem melodischen

57 Rom, BAV, Pal. lat. 220, fol. 38r.

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Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch   143

Verlauf als spezifische Lorscher Variante rekonstruieren. Auf solche Weise gewonnene
Fassungen stehen dann der musikalischen Interpretation offen, um die verlorene
klangliche Wirklichkeit wiederzugewinnen, die vergangenen soni, von denen Isidor
spricht, wieder zum Leben zu erwecken. Damit überschreitet der Musikhistoriker die
Grenze hin zur Musikpraxis, was aber ein notwendiger Schritt ist, um die Musik des
Mittelalters in der Gesamtheit ihrer Erscheinungsweise zu verstehen.

Quellen
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beschreibungen/01043.pdf (Stand: 13.03.2014).

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Tino Licht
Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in
karolingischer Zeit
Wie kaum eine zweite karolingische Schreibschule ist das Lorscher Skriptorium
durch eine beispielhafte jüngere Monographie erschlossen worden, für die sich mit
Bernhard Bischoff der vielleicht beste Kenner der karolingischen Schriftlichkeit ver-
antwortlich zeigte.1 Man mag sich angesichts dieser Publikation fragen, was es zur
Lorscher Schriftgeschichte in karolingischer Zeit noch zu sagen gibt. Bischoffs Unter-
suchungen ermöglichen es dem Benutzer, die Lorscher karolingische Produktion in
den Bibliotheken der Welt ebenso wiederzufinden, wie die Handschriften, die in der
Lorscher Klosterbibliothek vorhanden waren, ohne dort hergestellt worden zu sein,
also wie etwa das berühmte „Lorscher Evangeliar“,2 das aus der Hofschule stammt,
zwar Lorscher Bibliotheksheimat, aber nicht Lorscher Schriftheimat hat. In einigen
Fällen mußte Bischoff hinsichtlich der Herkunft ein Fragezeichen stehen lassen, etwa
bei einem der wenigen nach Heidelberg zurückgekehrten Palatini latini.3 Bischoffs
Fragezeichen sind selten, er war sich, obwohl er nicht zu vorschnellen Urteilen neigte,
in den meisten Fällen sicher.
Wenn hier dennoch neue Beobachtungen präsentiert werden sollen, so liegt das
neben einem Neufund, der zu Anfang kurz skizziert werden soll, an den Möglichkei-
ten der digitalen Erschließung der Lorscher Bibliothek („Bibliotheca Laureshamen-
sis – digital“).4 Sie bietet Kulturhistorikern, Philologen und Paläographen nicht nur
die einzigartige Wiederherstellung einer der bedeutendsten karolingischen Biblio-
theken, sondern auch ein außerordentliches Forschungsreservoir zur Überlieferungs-
und Schriftgeschichte in karolingischer Zeit. Was nur Bernhard Bischoff einmal
gelungen ist, die Lorscher Bestände in den Bibliotheken der Welt zu erreisen, wird
nun schrittweise jedem Interessierten ermöglicht, und zwar als beliebig wiederholba-
rer Vorgang. Aus diesem Reservoir neue Erkenntnisse zu gewinnen, ist Ziel dieses Bei-
trags. Die Beobachtungen betreffen drei Komplexe: 1. Die Neudatierung des älteren
Lorscher Stils 2. Die Lorscher Titelseite 3. Den Lorscher karolingischen Spätstil als
vierte Produktionsperiode.
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1 Bischoff 1989.
2 Das Evangeliar ist inzwischen in zwei Codexteilen und separierten Elfenbeintafeln verteilt auf die
Standorte Bukarest, Biblioteca Naţională României, Ms R II 1; London, Victoria and Albert Museum,
Inv.-Nr. 138–1866 und Rom, BAV/Museo Sacro, Pal. lat. 50.
3 Es handelt sich um den Codex Heidelberg, UB, Pal. lat. 894 mit zwei Epitomisierungen von Ab urbe
condita des Livius „großenteils von einer sicher fremden, etwas flüchtigen Hand“; Bischoff 1989, 40
und 104.
4 Abrufbar unter: http://www.bibliotheca-laureshamensis-digital.de.

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146   Tino Licht

1 Anfänge

Für den ersten Teil sind einige Daten zur allgemeinen Schriftgeschichte zu korrigieren,
welche die Entwicklung der karolingischen Minuskel betreffen. Das Lorscher Skripto-
rium beginnt, auch wenn regionale, vor allem insulare (daneben auch alemannische)
Züge in den frühen Handschriften zu erkennen sind, mit dieser Schrift, über deren
Ursprung es seit langer Zeit Unsicherheiten gibt. Diese Unsicherheiten erwachsen aus
den ältesten datierten Zeugnissen, die etwa in den gleichen Zeitraum führen. Da ist
zum einen eine mehrbändige Bibel in Amiens (CLA VI, 707) deren Herstellungsort
und Datierung durch eine Auftragsnotiz im Makkabäerband Amiens, Bibliothèque
Municipale, Ms. 11, fol. 96r bestimmt werden kann: EGO MAVRDRAMNVS ABBAS
PROPTER DEI AMOREM ET PROPTER CONPENDIVM LEGENTIVM HOC VOLVMEN
FIERI IVSSI. „Ich, Abt Maurdramnus, habe um der Liebe zu Gott willen und für den
Dienst am Leser diesen Band herstellen lassen“. Der Auftraggeber Maurdramnus war
Abt von Corbie, und zwar von 772 bis 781, bis er durch den karolingischen Kandida-
ten Adalhard ersetzt wurde. Der Codex ist damit datiert und lokalisiert, Corbie zwi-
schen 772 und 781. Und man trifft auf eine karolingische Minuskel, die weit entwickelt
ist, kaum noch Ligaturen hat und die Kennbuchstaben mustergültig erkennen läßt:
unziales a, ein zum Schließen neigendes g und ein Minuskel-n. Das zweite, konkur-
rierende, datierte Zeugnis der karolingischen Minuskel ist einer der frühen Chry-
sographen, also Handschriften in Gold und Silbertinte, die in der Hofschule Karls
des Großen entstanden sind, das „Godesscalc Evangelistar“ in Paris, Bibliothèque
nationale de France, Nouv. acq. lat. 1203 (CLA V, 681). Dieses Evangelistar steht im
Hauptteil in Unziale, nur im Widmungsgedicht auf foll. 126v–127r findet sich karo-
lingische Minuskel. Aus diesem erfährt man den Namen des Schreibers Godesscalc,
man erfährt das Auftragsjahr 781, das 14. Herrschaftsjahr Karls des Großen, und man
erfährt, dass Karls Gattin Hildegard bei der Niederschrift noch am Leben war. Sie starb
783, der Codex ist damit auf die Jahre 781 bis 783 eingegrenzt. Herstellungsort ist die
Hofschule, die übrigens noch immer nicht lokalisiert werden kann. „Maurdramnus
Bibel“ zwischen 772 und 781, „Godesscalc Evangelistar“ zwischen 781 und 783, das
waren bisher die beiden ältesten datierbaren, möglicherweise gleichzeitig entstande-
nen Zeugnisse der karolingischen Minuskel. Von den beiden hat das zweite, das Hof-
exemplar, die stärkere Anziehungskraft ausgeübt, auch auf Bernhard Bischoff. Nach
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anfänglicher Zurückhaltung spricht er später einmal von der „Hofschrift“.5 Über den
Gesamtbefund hatte sich die europäische Perspektive gelegt und nach und nach das
attraktivste Ergebnis ins Bewußtsein gerückt: Die Hauptschrift Europas entstand am
Hof von Europas Vater Karl.6

5 Bischoff 1980, 265; freundlicher Hinweis von Prof. Walter Berschin, (Heidelberg).
6 Das ist der Stand, der auch aktuell referiert wird, jüngst etwa bei Cherubini/Pratesi 2010, 368: „I

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Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit   147

Und doch existiert das Zeugnis, welches geeignet ist, der Hofthese den Boden
zu entziehen. Auch in dieser Handschrift ist die karolingische Minuskel nicht
Hauptschrift, sonst hätte sie nicht verborgen bleiben können, sondern nur Zusatz.
Hauptschrift ist die Halbunziale, in einem späten markanten Typ, dem sogenannten
‚Leutchar-Typ‘. Handschriften in dieser Halbunziale sind selten. Erhalten sind nur
drei, und zwei davon gleichen bis in Abmessung und Initialkunst hinein einander.
Sie sind, obwohl sie unterschiedliche Texte enthalten, ‚kodikologische Zwillinge‘:7
Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Theol. lat. fol. 354 (CLA VIII, 1067a)
und St. Petersburg, Publichnaja Biblioteka, F.v.I.6. Man gewinnt durch die St. Peters-
burger Handschrift eine Datierung und Lokalisierung, denn dort ist auf fol. 211r der
Auftraggeber genannt: Leutcharius abba iussit fieri. Beide Handschriften entstanden
also in Corbie unter Abt Leutchar, der längstens bis 769 dort gewirkt hat, mit Sicher-
heit aber im Jahr 762 Abt in dem alten Königskloster war.8 In dem „Berliner Leutchar-
codex“ nun ist für zwei Seiten die Halbunziale mit einer karolingischen Minuskel ver-
tauscht worden, ohne dass die Schrift auf Rasur steht, ohne dass die Seitengrenzen
Übergangsprobleme signalisieren, ja sogar so, dass der Wechsel nicht beim Übergang
von Blatt zu Blatt, sondern beim Übergang von der Vorder- zur Rückseite (recto/verso)
erfolgte. Die Schrift läuft durch, ein experimenteller Wechsel; die Innovationsschrift
wurde probiert, bevor man zur herkömmlichen Schrift, zur Halbunziale zurück-
kehrte. Wir sind bei vorsichtiger Datierung in den 760er Jahren, möglicherweise sogar
im Jahrzehnt davor und demnach erheblich früher, als man bisher erlauben wollte.
In dem Jahr, als Lorsch gegründet wurde, hat die karolingische Minuskel wohl schon
existiert. Corbie ist mit Sicherheit der Ort, an dem sich die entscheidenden Entwick-
lungsschritte vollzogen haben.9

primi codici in carolina sono gli Evangeliari [!] di Godes[s]calco e di Ada e il Salterio di Dagulfo, tutti
riconducibili in qualche modo agli ultimi due decenni del secolo VIII e ad ambienti di corte“. Ganz
1987, 36 entscheidet sich für die „Maurdramnus Bibel“ als „probably the earliest datable specimen
of Caroline minuscule“, vertritt aber ein merkwürdiges, analoges Entwicklungsmodell: „... Caroline
minuscule ... developed independently at various centers and was not imposed by one center upon
others“ (ebd. 24). An dieses (wenig wahrscheinliche) Modell ‚unabhängiger Analogie‘ scheint anzu-
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knüpfen Schieffer 2005, 37: „sie wurde nirgends angeordnet und ist als Leistung verschiedener Skrip-
torien allein aus dem paläographischen Befund zu erschließen“.
7 Eindrucksvoll ist dieser Zusammenhang anhand zweier identischer Initialen demonstriert bei Zim-
mermann 1916, Tafel 118.
8 Leutchar war Bischof von Amiens und Abt von Corbie in Personalunion; die Daten zu ihm muß man
nachschlagen bei Cousin 1963, 19–46, der ebd. 30 den Abbatiat auf die Jahre 750–765 festlegt; eine
erste Bestätigungsurkunde, die das belegt, datiert auf die Jahre 751/752 (ebd. 38, Anm. 61); Leutchars
Nachfolger Haddo ist für das Jahr 768 (ebd. 24) nachgewiesen; Ganz 1990, 21–22 ergänzt einen siche-
ren Nachweis für Leutchar aus dem Jahr 762 (Gebetsbund von Attigny), verschiebt aber das Zeugnis
für Haddo in das Jahr 769.
9 Ausführlich dazu Licht 2012, 337–346.

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148   Tino Licht

Welche Auswirkungen hat das auf die Schriftgeschichte in Lorsch? Das Datengerüst
der dortigen karolingischen Schreibschule nach Bischoff war bisher das folgende:
Sie beginnt mit Richbod († 804), dem Vergilliebhaber und Träger des Hofnamens
Macharius,10 Abt von Lorsch seit dem Jahr 784. Die ältesten Beispiele datiert Bischoff
immer römisch „VIII/IX“, das heißt um das Jahr 800. Unter Adalung († 837), im Jahr-
zehnt nach 804 wird ein zweiter, ein Übergangsstil erkennbar, dem die markante
stäbchenfömige Rustica als Auszeichnungsschrift fehlt. Dieser wird bald von einer
nordostfranzösischen karolingischen Minuskel begleitet, die auch in Lorsch geschrie-
ben worden ist. Dieser Stil ist der sogenannte Saint-Vaast-Stil. Er steht mit Adalung in
Verbindung, der ab 808 auch den Abbatiat der Abtei Saint Vaast in Arras innehatte.
Ab den 820ern ist das Skriptorium auf seinem Höhepunkt und tritt in die lange und
ertragreiche Phase der karolingischen Minuskel im jüngeren Lorscher Stil ein. Die
Produktion wird um 860 in dem umfangreichsten Bibliothekskatalog Ca von Lorsch
registriert und ebbt dann langsam ab.11 Älterer Lorscher Stil (784–ca. 810), Übergang-
stil (ca. 810–ca. 825), Saint-Vaast-Stil (ca. 810–ca. 825), jüngerer Lorscher Stil (ca. 825
bis zum Ende des Karolingerzeit).
Mit welchem Argument ist der Beginn des Skriptoriums unter Richbod festgelegt?
Bischoffs Begründung lautet: „Die Datierung muß sich zunächst darauf beschrän-
ken, dass ein Ansatz vor Gode[s]scalcs erstaunlicher Leistung (zwischen 781 und 783)
unwahrscheinlich ist ...“.12 Für die Datierung der ältesten Handschriften wird also mit
der ‚Hofthese‘ argumentiert, wovon man sich nun im Wissen um den „Berliner Leut-
charcodex“ und um die Existenz der karolingischen Minuskel schon in den 760ern
befreien darf. Paläographisch spricht nichts dagegen, dass das Lorscher Skriptorium
von Anbeginn produktiv gewesen ist.13 Eigentlich ist schon das Gründungsjahr 764
nicht mehr auszuschließen. Vielleicht ist es für manchen leichter, den Beginn mit
dem Bezug der neuen Konventsgebäude im Jahr 774 anzusetzen. Und es gibt zusätz-
liche Argumente.
Es sei mit einem Fall begonnen, den auch Bischoff sich nicht erklären konnte,
mit dem Fall des Schreibers Donadeus. Dieser hat einen der wenigen Kolophone hin-
terlassen, die sich in Lorscher Codices der Karolingerzeit finden. Der Codex Rom,
Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 200 ist eine Handschrift von Augustinus De
civitate Dei. In ästhetischem Wechsel von schwarz und rot und in Traubenform (bot-
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10 So spricht ihn Alkuin in Epist. 13 seines Briefcorpus an; vgl. Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 38–39.
11 Die Datierungsargumentation, bei der die Paläographie durch Beobachtungen zur Personenge-
schichte gestützt wird, ist entwickelt bei Bischoff 1989, 23–24; die Signaturangabe Ca folgt der Edition
von Häse 2002, 136–167.
12 Bischoff 1989, 31.
13 Man kann den frühen Entwicklungsstand der karolingischen Minuskel etwa gut an der Hand-
schrift Rom, BAV, Pal. lat. 238 nachvollziehen (CLA I, 88), deren Schrift durch e- und r-Ligaturen,
nt-Ligaturen (als Majuskel- und Minuskelligatur auch in Wortmitte) und Doppelformen a und n ge-
kennzeichnet ist.

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Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit   149

rionis formula)14 hat Donadeus auf fol. 138v um eine Fürbitte nachgesucht. Ora pro
me scribtore Donadeo seruo tuo si Deum habes adiutorem. ‚Wenn Du Gott zum Helfer
hast, dann bete für mich, deinen Knecht, den Schreiber Donadeus.‘ Bischoff kom-
mentiert: „Der nicht häufige Name Donadeus ist in Lorscher Urkunden zwischen 765
und 804 für Schreiber bezeugt ...; wenn alle diese Zeugnisse bis zum letzten sich auf
den einen, wohl aus Gorze stammenden Schreiber beziehen ..., kann der Donadeus
der Handschrift, der eine untadelige karolingische Minuskel und eine verständnis-
voll klassischen Mustern nachgebildete Rustica beherrscht, nicht mit ihm identisch
sein.“15 Warum war trotz des nicht häufigen Namens Donadeus dieser nicht mit
dem Urkundenschreiber zu identifizieren? Bischoffs paläographische Datierung der
Handschrift stand davor. Die Handschrift ist Zeuge des Übergangsstils. Ihre Datierung
würde nach dieser Zuordnung in die 810er fallen, da war der Urkundendonadeus ver-
stummt, und es mußte eben einen zweiten, einen jüngeren Donadeus gegeben haben.
Da sich mit der Verschiebung des älteren Lorscher Stils auch der Zeitraum nach von
verlagert, indem der Übergangsstil geschrieben worden ist, sei der Vorschlag unter-
breitet, die Handschrift neu zu datieren und die Namensidentität zu akzeptieren: Pal.
lat. 200 entstand um 800 im Übergangsstil durch den Schreiber Donadeus (Abb. 10).
Aufschlußreich könnte ein zweiter, bisher nicht diskutierter Fall sein. Zu den
Eigenheiten einiger Handschriften des älteren Lorscher Stils zählt eine eigenwil-
lige Auszeichnungsschrift, eine diplomatische Kursive. Diese diplomatische Kursive
findet sich einmal als Textabschluß bei einem Hauptschreiber des Codex Rom, BAV,
Pal. lat. 1753, fol. 47v. Auf diesem Blatt geht die Hand aus der karolingischen Minuskel
in die diplomatische Kursive über, und danach wird der Text mit einem kuriosen kon-
zentrischen Explicit abgeschlossen. Am unteren Rand gibt es noch einen Schreiber-
eintrag in diplomatischer Kursive. Die Schrift hat eine markante Eigenheit, die teils
ihre Lesbarkeit erschwert: Das l wird unter die Linie geführt und wie ein Majuskel-L
betont (Abb. 11).
Unter den karolingischen Kanzleischreibern zeigt dieses l mit Vorliebe der Schrei-
ber und spätere Kanzleileiter Rado († 808), und zwar sowohl in der Kontextschrift als
auch in den Auszeichnungszeilen der litterae elongatae.16 Weitere Auffälligkeiten in
den betreffenden Lorscher Handschriften, das gekerbte d und das doppelläufige g,
sind bei ihm ebenfalls zu belegen. Die Kombination dieser Schriftmerkmale findet
sich meines Wissens bei keinem anderen überlieferten Kanzleischreiber, so dass sich
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hinter diesem Lorscher Kopisten der spätere Leiter der karolingischen Königskanz-
lei Rado verbergen könnte. Man liest diese diplomatische Kursive ebenfalls in den

14 So lautet der terminus technicus für die sich nach unten verjüngende Anmerkung bei Cassiodor,
Institutiones, I, 3, 1, 132.
15 Bischoff 1989, 39.
16 Zu Rado vgl. die Angaben und Bibliographie in ChLA XV, 612 (S. [75], Anm. 7); eine jüngere Arbeit
zur karolingischen Kanzlei mit Würdigung Rados liegt vor von Worm 2004, 35–44.

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150   Tino Licht

Abb. 10: Rom, BAV, Pal. lat. 200, fol. 138v (Ausschnitt der linken Spalte); Lorsch, ca. 800; am Ende
des XXII. Buches von Augustinus’ De civitate Dei hat der für mehrere Lorscher Urkunden verantwort-
liche Schreiber Donadeus einen Kolophon eingetragen. Die karolingische Minuskel weist Frühsym-
ptome auf (z.B. ‚liegende‘ nt-Ligatur Z. 2 agant) und auch die verwendete Capitalis rustica ist – man
beachte das gedeckte L (Z. 4 legis catholicae) – nur mit Abstrichen als ‚musterhaft‘ zu bewerten.
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Auszeichnungszeilen des Codex Rom, BAV, Pal. lat. 822 auf foll. 121v, 125v und 126v;
auch dort fallen die unter der Zeile wie Majuskelbuchstaben ausgeführten l ins Auge
(Abb. 12).
Wie könnte man sich Rados Verhältnis zu Lorsch vorstellen? Rado hat selbst für
Lorsch geurkundet. Er ist Subskribent der Königsurkunden (das ist natürlich kein
Indiz), er ist namensgleich mit einem Zeugen der Urkunden 228 und 268 aus dem Jahr
782 im „Codex Laureshamensis“ und hat vielleicht eine Schenkung an Lorsch („Codex
Laureshamensis“ 1605) unter Richbod getätigt. Bei der Beschreibung der Mark Hep-
penheim im „Codex Laureshamensis“ 6a wird erwähnt, das Rado als Königsbote

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Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit   151

Abb. 11: Rom, BAV, Pal. lat. 1753, fol. 47v (Ausschnitt); Lorsch, saec. VIII ex.; Abschluß eines Metrik-
traktats mit ‚konzentrischem‘ Explicit. Der Schreiber wechselt in der letzten Textzeile aus seiner
karolingischen Minuskel in eine diplomatische Kursive (Z. 3 super hoc adhuc non parua lis est). Am
unteren Rand folgt ein wohl vom Schreiber selbst (mit gleich zwei Abweichungen in der lateinischen
Formenbildung) formuliertes Kolophon: Ego me misello, qui in decurso (!) sedebam, manibus
nardum tangebo (!), digitus oculum lambebat. Auffällig sind die unter der Zeile nach Art von Majus-
kelbuchstaben abgewinkelten l (misello). Weitere Schriftmerkmale sind das doppelläufige g (ego)
und das gekerbte d (digitus). © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana

(regis missus) bei der Fixierung der Gemarkung anwesend war und eine Grenzmar-
kierung vornehmen lassen hat. Wenn man die Anfangsworte der Notiz in Pal. lat.
1753, fol. 47v Ego me misello, qui in decurso sedebam... vor dem Hintergrund von Ps 136
Super flumina Babylonis illic sedimus et flevimus ... zu verstehen versucht, dann hat
der Schreiber sich an fremdem Ort befunden. Stimmt die Identifizierung, war Rado
kein Konventsmitglied, sondern in Lorsch zu Gast und hat bei diesen Gastaufenthal-
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ten (in dem Jahr 773, in dem die Mark Heppenheim fixiert worden ist, oder im Jahr
782, wo er als möglicher Zeuge zweier Lorscher Urkunden auftaucht?) im Skriptorium
mitgewirkt. Rado war ab 790 übrigens Abt von Saint Vaast in Arras; sein Nachfolger
in diesem Abbatiat wird ab 808 der Lorscher Abt Adalung sein. Für den Codex hätten
wir dann einen terminus ante quem in Rados Todesjahr 808, einen wahrscheinlichen
terminus ante quem in der Ernennung zum Abt von Saint Vaast im Jahr 790, denn den
Abt einer nordfranzösischen Königsabtei mag man sich kaum beim Kopieren in der
Lorscher Schreibschule vorstellen (Abb. 13). Abschließend sei erwähnt, dass Bischoff
noch ein weiteres Mal über Datierungsschwierigkeiten reflektiert hat, welche die

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Abb. 12: Litterae elongatae Rados im Diplom Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Kaiserurkunden
Hersfeld, 775 VIII 3 (ChLA XII, 535) aus dem Jahr 775. Markant sind das doppelläufige g (signum) und
das unter der Zeile abgewinkelte l (Caroli).
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Abb. 13: Kontextschrift Rados im Diplom Paris, Archives Nationales, K 6, no 1A (ChLA XV, 612) aus dem
Jahr 772 mit unter der Zeile abgewinkeltem l (Z. 1 nullus) und gekerbtem d (Z. 2 audiendum).

frühen Jahre des Skriptoriums betreffen, nämlich bei der Abhängigkeit der Lorscher
karolingischen Minuskel von Metzer Vorbildern: „Wenn in Metz wirklich … die Arbeit
des Skriptoriums ... mit dem Tode Angilrams 791 fast zum Erliegen kam, so müßte

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Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit   153

auch für Lorsch gelten, dass die Schreiber des ‚älteren Lorscher Stils‘ schon vor 790 in
voller Tätigkeit waren“.17

2 Titelseite
„Die mittelalterlichen Handschriften und die frühen Inkunabeln kannten noch kein
Titelblatt“,18 so oder ähnlich darf man es in den Lexika zum Buchwesen nachlesen.
Warum sich dagegen nicht schon längst Widerstand erhoben hat, ist kaum zu erklä-
ren.19 Jeder Handschriftenforscher ist schon einmal einer Titelseite in mittelalterli-
chen Codices begegnet. Der Charakter einer Titelseite ist erkennbar, wenn für die
Nennung des erhaltenen Werkes (und sei es auch nur in einer Incipitformel) eine
ganze Seite reserviert ist. Solche Beispiele sind schon aus der Spätantike bekannt,
etwa der berühmte „Vergilius Sangallensis“ CLA VII, 977, eine von nur drei erhalte-

Abb. 14: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 1394, p. 34; Umzeichnung (titulum in subsequenti pagina
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sic lege) durch Ildefons von Arx († 1833) einer im 13. Jahrhundert palimpsestierten Titelseite (p. 35)
des ca. a. 500 in Italien geschriebenen „Vergilius Sangallensis“.

17 Bischoff 1989, 37.


18 Marwinski 1988, 340–341.
19 Inzwischen gibt es immerhin einen ersten Versuch von Derolez 2008, 17–36; allerdings mit sehr
weit gefasstem Verständnis von Titelseite.

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nen Handschriften in Capitalis quadrata, konkret wohl aus der Ostgotenzeit Italiens
um 500. Der Codex ist im 13. Jahrhundert, dem ‚secolo senza Roma‘,20 palimpsestiert
worden, weshalb man die Umzeichnung benötigt, um einen Eindruck vom ursprüng-
lichen Aussehen der Titelseite zu gewinnen.
Bischoff hat eine ähnliche Vorlage bei der Gestaltung einer Titelseite für den Codex
Rom, BAV, Pal. lat. 175 angenommen, die Titelseite fol. 2v abgebildet und kommentiert:
„Titelblatt nach spätantiken Vorbild“.21 Inzwischen aber kann man durch die Digita-
lisierung erfahren, dass die Titelseite eine Spezialität des Skriptoriums von Lorsch
war, dass Titelseiten seit Anbeginn der Lorscher Eigenproduktion beigegeben worden
sind und dass die spätantike Ästhetik des bei Bischoff abgebildeten Blattes eine Lor-
scher Ästhetik ist, ein Klassizismus. Schon beim gegenwärtigen, vorläufigen Stand
der Digitalisierung sind mehrere Dutzend Lorscher Codices mit Titelseiten erkennbar.
Aus ihnen erwächst die Möglichkeit, deutlicher als in den reinen Schriftveränderun-
gen den Wandel der Handschriftenästhetik sichtbar zu machen (Abb. 15).
Lorsch beginnt mehrfarbig, wenn man so will vorkarolingisch, mit manierierter
und verspielter Buchstabenpräsentation: Ligaturen, Mischalphabet, Verschränkun-
gen, Enklaven, über und untergestellte Buchstaben verdichten den Schmuck und
erschweren die Lesbarkeit. Der Augustinuscodex Rom, BAV, Pal. lat. 207 mit dem
Tractatus in Iohannem ist ein Vertreter des älteren Lorscher Stils. Im zweiten Beispiel
Rom, BAV, Pal. lat. 1449 erkennt man die Reduzierung. Nur noch ein Buchstabe ist
untergestellt, die Schrift ist einfarbig, das Alphabet unvermischt. Die Titelseite ist
übersichtlich geworden und enthält knappste Informationen; man erblickt den Klas-
sizismus des jüngeren Lorscher Stils (Abb. 16).
Der stilistische Wandel im Skriptorium ist an diesen Titelseiten leicht nachzuvoll-
ziehen. Erheblich schwieriger wäre es gewesen, denselben an den Buchstabenformen
der karolingischen Minuskel zu vermitteln. Die Lorscher Titelseiten sind das mar-
kante Reservoir zur Demonstration der Stilveränderung. Sie können darüber beleh-
ren, wie lange der karolingische Klassizismus gebraucht hat, bis er in der Wirklichkeit
der Handschriften angekommen ist. Beim zweiten Beispiel, dem Pal. lat. 1449, befin-
den wir uns schon in den späten Regierungsjahren Ludwigs des Frommen († 840).22
Die Titelseite ist, auch wenn hin und wieder andere Skriptorien Titelseiten produziert
haben,23 wegen ihres dichten Auftretens ein Lorscher Symptom. Der in Heidelberg,
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20 So lauten Titel und Erkenntnis von Toffanin 1942 (und zahlreiche spätere Auflagen).
21 Bischoff 1989, Taf. 10.
22 Ein terminus ante quem ergibt sich daraus, daß der Tod Abt Adalungs († 837) im Kalendar der
Handschrift auf fol. 6v nachgetragen wurde.
23 Das Skriptorium der Reichenau hat unter Reginbert († 846) einen Alkuinkommentar zu drei Pau-
linischen Briefen kopiert (KFH I, 1114; Einsiedeln, Stiftsbibliothek, 182 und 168), für den Reginbert
selbst in seiner charakteristischen Capitalis rustica das Titelblatt geschrieben hat (p. 2); unter Bischof
Iesse von Amiens († 836) wurde einer im bischöflichen Skriptorium angefertigten Kopie von Hiero-
nymus’ Adversus Iovinianum (CLA VIII, 1030; KFH I, 235; Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Patr. 86)

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Abb. 15: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 1v; Lorsch, saec. VIII ex.; dreifarbige (rot, grün, schwarz im
Wechsel) Titelseite (die erste Zeile ist ein Nachtrag) mit manierierter Buchstabenanordnung und
-formung vor allem in den vergrößerten Zeilen (Z. 2–4 AVRELII AVGVSTINI TRACTATVS AD POPVLVM
IN IOHANNEM). © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana

ebenfalls eine Titelseite (fol. 1v) vorangestellt.

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Abb. 16: Rom, BAV, Pal. lat. 1449, fol. 27v; ante a. 838; einfarbig rote Titelseite in Capitalis quadrata.
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Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit   157

Universitätsbibliothek, Pal. lat. 894 beheimatete Codex mit den Liviusabkürzungen,


der keine Lorscher Haupthand erkennen läßt, trägt durch die Titelseite einen Hinweis
auf Schriftheimat in Lorsch.24

3 Spätstil
Auch für den Lorscher Spätstil ist der Ausgangspunkt bei Bischoff zu nehmen, bei
dem die meisten Beobachtungen schon zusammengetragen sind, die das Profil eines
solchen entwerfen helfen. In der Buchproduktion von Lorsch gibt es etwa mit der
Erstellung des großen Katalogs um 860 (Katalog Ca nach Häse) eine Zäsur. Diese Zäsur
ist zunächst an der Quantität abzulesen, es gibt nur zehn Handschriften mit Lorscher
Schriftheimat, die in diese späte Phase zwischen den 860ern und der Jahrhundert-
wende datiert werden können, „ein schwacher Nachhall des Eifers der vorangegan-
genen Zeit“.25 Für Bischoff war diese Zehnergruppe eine Fortsetzung des jüngeren
Lorscher Stils, mit einigen, gewissermaßen uneinheitlichen Veränderungen. Doch es
gibt Gemeinsamkeiten. Man sammelt diese am leichtesten auf der Eingangsseite fol.
1r der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 21218, die De baptismo
von Augustinus enthält. Merkmale der Hauptschrift sind Wiederkehr und Dominanz
des unzialen d, die häufigere Verwendung von Majuskel-N auch jenseits der Vernei-
nung, f und s mit einem kurzen Abschlußhaken (Bischoff spricht von ‚langhalsig‘).26
Bei den Auszeichnungsschriften erhalten die Schäfte der Capitalis quadrata gespal-
tene Basen. Die Unziale hat jetzt haarfeine Buchstabenbestandteile die bei A, E und
G erkennbar sind. Eine neue Buchstabenform taucht fast durchgängig auf, der Aus-
zeichnungsbuchstabe Q mit gebrochenem Bogen (Abb. 17).
Der Stil hat sich gewandelt; man erkennt es auch an der wieder erwachten Initial-
kunst. Dieser Wechsel im Stilempfinden ist jenseits des Lorscher Skriptoriums in zahl-
reichen weiteren Fällen belegbar: in der Literatur an den Dichtungen eines Heiric von
Auxerre, in der Schrift am St. Galler Spätstil,27 in der Buchmalerei an der sogenannten
franko-sächsischen Schule, die einen markanten Umbruch im Stil repräsentiert. Fast
schlagartig wandelt sich zwischen 860 und 870 das Stildeal vom Klassizismus zum
Manierismus.28 Am schärfsten hat der Kunsthistoriker Wilhelm Köhler angesichts
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24 Bischoff 1989, 40 erkennt nicht die Titelseite an sich, sondern deren Capitalis rustica als charakte-
ristisch für Lorsch an: „Für Entstehung in Lorsch spricht die Titelseite 1**v mit der typischen leichten
Rustica“.
25 Ebd. 52–53.
26 Ebd. 53–54.
27 Zusammenfassend beschrieben bei Daniel 1973, 29–33.
28 Ausführlich besprochen und dokumentiert ist diese „Epochengrenze mitten in der ‚Karolinger-
zeit‘“ bei Berschin 1991, 337–341.

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Abb. 17: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 21218, fol. 1r; Handschrift im Lorscher Spätstil
(saec. IX ex.); markant sind wiederkehrendes Majuskel-N auch außerhalb der Verneinung, die
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langhalsigen f und s (rechte Spalte Z. 2 nobis flagitantibus) und die Wiederaufnahme des unzialen
d (rechte Spalte Z. 7 donatistae). Bei den Auszeichnungsschriften erhalten die Schäfte der Capitalis
quadrata gespaltene Basen (linke Spalte Z. 5 IN EIS LIBRIS); die Unziale hat jetzt (wieder) haarfeine
Buchstabenbestandteile bei A, E und G in der linken Spalte Z. 13/14 diligentius quęstionem bap-
tismi); eine charakteristische Buchstabenform, das Q mit gebrochenem Bogen (rechte Spalte Z. 4
Quapropter), dominiert in den Auszeichnungsalphabeten.

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Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit   159

Abb. 18: Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. I.2.4° 1, fol. 2v (Ausschnitt), „Lorscher Sakramentar“
(saec. IX ex.); in den beiden Auszeichnungszeilen sind Merkmale des Lorscher Spätstils zu erken-
nen, besonders die hauchdünnen Buchstabenbestandteile beim unzialen A und das Capitalis-Q mit
dem gebrochenen Bogen (Z. 2 qui apostolis).

des franko-sächsischen Stils diesen Wechsel gefaßt: „Um 870 ist die karolingische
Bewegung tot in Frankreich“. In dieser Drastik ist das nicht leicht zu verdauen, und
doch bleibt auffällig, dass auch in Lorsch sich der Stilwechsel in den Handschriften
belegen läßt. Und wie andernorts besteht er zu einem gewichtigen Teil in der Wie-
deraufnahme alter, vorkarolingischer beziehungsweise frühkarolingischer Formen.
Neu ist, dass es in Lorsch nun sogar eine Buchmalerei mit einer insular beeinflußten
Ästhetik gibt. Paradebeispiel ist das sogenannte Lorscher Sakramentar, von dem nur
noch Fragmente existieren. Wenn man auf die Auszeichnungsschrift dieses Sakra-
mentars schaut, wird man die Unziale mit den Symptomen des Spätstils erkennen
und auch das Q mit gebrochenen Bogen sehen, was im Ideal einer unvermischten
Auszeichnungsschrift gar nicht zugelassen sein dürfte, denn es ist ein Capitalisbuch-
stabe. Der Stil hängt also zusammen und ergibt ein einheitliches Bild (Abb. 18).
Kann man mehr gewinnen, als nur die Beschreibung eines Spätstils des Lorscher
Skriptoriums? Die Schriftmerkmale geben Datierungs- und Lokalisierungssicherheit
und helfen, Zuweisungen kritisch zu prüfen. Erst in den letzten Jahren wurde das
Sakramentarfragment New York, Columbia University Library, G.A. Plimpton Coll.
Ms. 59 in die Liste der Handschriften mit Lorscher Schriftheimat inskribiert und die
Einschätzung gegeben, es sei von einem „Lorscher Schreiber etwa im 3. Viertel des
9. Jahrhunderts“ geschrieben worden, was sich an der Verwandtschaft zum Lorscher
Rotulus und zum Lorscher Sakramentar zeige.29 Es mangelt der Auszeichnungsschrift
aber an allen Lorscher Symptomen (gespaltene Basen, Q mit gebrochenem Bogen,
feine Buchstabenbestandteile, die insbesondere das markante unziale A formen),
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und auch in der Hauptschrift gibt es keine gemeinsamen Besonderheiten. So fehlt


etwa die typische Lorscher re-Ligatur, die eine Einordnung in den Lorscher Spätstil
stützen könnte. Angesichts der im New Yorker Fragment auftauchenden Anschiebun-
gen bei ff und ss in der Hauptschrift und der Verwendung roter Spaltleisteninitialen
muß die Datierung des Fragments erheblich, nämlich ins XI. Jahrhundert verschoben
werden.

29 Hoffmann 2004, 178.

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4 Zusammenfassung
Mit hoher Wahrscheinlichkeit nimmt das Lorscher Skriptorium früh, spätestens in
den neuen Konventsgebäuden seine Tätigkeit auf. Die Mauer, die bisher vor einer
Frühdatierung aufgebaut war, darf eingerissen werden. Die karolingische Minuskel
existiert schon seit der Mitte der 760er Jahre und Lorsch durfte von Anfang an partizi-
pieren. Damit verschiebt sich die Periodisierung des älteren Lorscher Stils vor die Zeit
um 800, vorsichtig also von den 770ern bis in die 790er Jahre, und der Übergangs-
stil schließt schon in dieser Zeit an. Der Schreiber Donadeus, der aus vielen Lorscher
Urkunden bekannt ist, dürfte demnach das Colophon in Pal. lat. 200 eigentragen
haben, weshalb die Handschrift auf die Zeit um 800 vorzudatieren wäre. Den Leiter
der Königskanzlei Rado finden wir vielleicht in den 770ern oder 780ern als Schreiber
in den Lorscher Codices Pal. lat. 822 und 1753. Eine Spezialität des Lorscher Skripto-
riums war die Titelseite. Man darf diese Titelseite künftig als Lorscher Symptom ins
Feld führen, wenn die Lokalisierung durch weitere Argumente befestigt werden muss,
auch wenn die Gewohnheit, Titelseiten anzufertigen, nicht exklusiv für Lorsch rekla-
miert werden kann. Der Wandel in der Ästhetik dieser Titelseiten ist deutlicher als der
Schriftwandel in der Hauptschrift. Er kann der Veranschaulichung der Entwicklung
dienen und ist gewissermaßen das ‚kunsthistorische‘ Reservoir in einer ansonsten an
Initialen und Buchmalerei armen, wissenschaftlich-theologischen Produktion. Erst
mit dem Lorscher Spätstil kehren Initiale und pleonastische Schriftästhetik in die
Schreibschule zurück und führen den spätkarolingischen Manierismus nach Lorsch.
Der Spätstil darf als vierte Produktionsperiode beschrieben werden und betrifft die
Handschriften ab den 860ern. Seine Sonderformen können jenseits der bei Bischoff
angebotenen Merkmale der genaueren Handschriftendatierung dienen. Abschlie-
ßend sei betont, dass diese neuen Beobachtungen nicht als Beitrag zum modernen
‚Bischoffbashing‘ verstanden werden dürfen, wie vor allem die jüngere Profilierungs-
paläographie es betreibt, und bei dem selbst so glasklare paläographische Erkennt-
nisse wie das Skriptorium von Chelles mit großer Geste und mangelnden Argumenten
weggewischt werden. Alle Beobachtungen standen auf den Schultern eines hervorra-
genden und nur in Nuancen zu korrigierenden Grundlagenwerkes quasi nani gigan-
tum umeris insidentes.
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Quellen
Alkuin, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 4 (Epistolae Karolini Aevi II), Berlin 1895
(Nachdruck 1994), 1–481.
Cassiodor, Institutiones: Cassiodor, Institutiones divinarum et saecularium litterarum. Einführung
in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften, übers. und eingel. von Wolfgang Bürsgens,
Fontes Christiani 39/1-2, Freiburg u.a. 2003.

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Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit   161

ChLA VII: Chartae Latinae Antiquiores, Bd. 7: The United States of America III, ed. Albert Bruckner/
Robert Marichal, Zürich 1975.
ChLA XII: Chartae Latinae Antiquiores, Bd. 12: Germany III, ed. Albert Bruckner/Robert Marichal,
Zürich 1978.
ChLA XV: Chartae Latinae Antiquiores, Bd. 15: France III, ed. Bruckner/Robert Marichal, Zürich 1986.
CLA I: Codices Latini Antiquiores, Bd. 1: The Vatican City, ed. Elias Avery Lowe, Oxford 1934.
CLA V: Codices Latini Antiquiores, Bd. 5: France, Paris, ed. Elias Avery Lowe, London 1951.
CLA VI: Codices Latini Antiquiores, Bd. 6: France, Abbeville – Valenciennes, ed. Elias Avery Lowe,
Oxford 1953.
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CLA VIII: Codices Latini Antiquiores, Bd. 8: Germany, Altenburg – Leipzig, ed. Elias Avery Lowe,
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162   Tino Licht

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Natalie Maag
Alemannische Spuren in Lorsch

Was heißt hier alemannisch? Gemeint ist weder der alemannische Dialekt noch ein
alemannisches Gräberfeld oder gar ein alemannisches Königreich. Alemannisch
bezieht sich auf eine Schrift, die alemannische Minuskel, deren Geschichte noch vor
der Spurensuche an der Bergstraße erzählt werden muß. Die alemannische Minuskel
wird als Regionalschrift um das Jahr 744 fassbar.1 Sie ist Nachfahre der jüngeren römi-
schen Kursive, hat sich jedoch von dieser durch Kalligraphierung und individuelle
Merkmale emanzipiert. Vielerorts ist dieser Umbruch im abendländischen Schrifttum
des 7. und 8. Jahrhunderts zu beobachten: In Corbie, Luxeuil, Chelles, im Benevent
und Rätien entstehen charakteristische Minuskelschriften, die einige Zeit die Vor-
herrschaft in den Codices übernehmen. Jean Mabillon war der erste, der sich mit
diesem Phänomen beschäftigte und das Konzept der sogenannten Nationalschriften
entwickelte.2 Dahinter verbarg sich die Vorstellung, dass jedes Volk, beispielsweise
die Langobarden oder Westgoten, eine eigene Schrift eingebracht hätte. Scipione
Maffei widerlegte diese These und etablierte den Stand, der noch heute gilt und von
den unterschiedlichen regionalen Ausprägungen und Entwicklungen der römischen
Schrift ausgeht.3 Diese entstehenden Minuskeln weisen signifikante Merkmale auf, so
dass man sie von anderen unterscheiden und als eigene Regionalschrift betrachten
kann.
Die alemannische Minuskel ist in der Bodenseeregion heimisch und konnte sich
vor allem in St. Gallen und auf der Reichenau entwickeln.4 Den Namen gab ihr der
Schweizer Forscher Albert Bruckner, der sie aus den Verwirrungen der Benennungs-
versuche wie ‚langobardische Schrift‘, ‚merovingica‘ oder ‚karolingische unausgebil-
dete Minuskel‘ löste.5 Sie ist die erste stilisierte Schrift, die wir in den überlieferten
Zeugnissen der beiden großen Zentren St. Gallen und Reichenau finden; sie beglei-
tet die Skriptorien, wenn diese ihre Arbeit aufnehmen. Unter ihrem ersten nament-
lich bezeugten Schreiber Winithar macht sie noch einen ungelenken Eindruck, da
Buchstabenformen und -proportionen stark variieren und auch die Zeilenführung
schwankt oder weitgehend ignoriert ist. Bereits in der ersten und einzigen erhalte-
nen Urkunde von der Hand Winithars sind die Schriftmerkmale der alemannischen
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Minuskel vorhanden (Abb. 19).

1 Vgl. die erste erhaltene Urkunde in alemannischer Minuskel: St. Gallen, Stiftsarchiv, Bremen 2
(ChLA II, 159).
2 Mabillon 21709, 45.
3 Vgl. das Vorwort von Maffei 1847, 1311.
4 Zur Einführung vgl. Berschin 22005c, 80.
5 Bruckner 1937, 7.

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Abb. 19: St. Gallen, Stiftsarchiv I 23 (ChLA I, 57); a. 761; Schenkung Hungaers an das Kloster St.
Gallen. Winithar (Z. 11–12 uuinitharius) schreibt eine sehr individuelle alemannische Minuskel, die
weder bei zeitgenössischen noch bei späteren Schreibern ihre Entsprechung findet. Hauptmerkmal
der alemannischen Minuskel ist die nt Ligatur in Wortmitte und das 3-förmige g, das meist links-
schräg auf der Zeile steht (Z. 8–9 argento). Typische Ligaturen sind ra (Z. 1 trado), re (Z. 3 credo) und
ri (Z. 12 scripsi). Seltener sind die Ligaturen mit f (z.B. fi in Z. 10–11 firma).

Das a wird aus zwei Bögen gebildet, das sogenannte doppel-c a. Wichtigste Merkmale
sind das meist linksschräge 3-förmige g und eine nt Ligatur in Wortmitte, bei der das t
auf seinem Deckbalken liegt. Hinzu kommt die Vorliebe für bestimmte Ligaturen, z.B.
re, ri, ro oder ti, te aber auch solche mit f, die Bernhard Bischoff als preziöse Verbin-
dungen bezeichnete, da sie seltener gebraucht werden.6 Die paläographische Arbeit
mag hier kleinteilig erscheinen, schlägt aber eine Brücke von der mikroskopischen
zur makroskopischen Ebene. Nicht nur in den St. Galler Urkunden ist die Überlie-
ferungslage günstig, auch einige frühe Codices sind unter der Mitarbeit Winithars
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in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts entstanden.7 Obwohl es zahlreiche


Schwächen im Latein Winithars gibt – und seine Schrift für uns ungezügelt und teils
nachlässig erscheinen mag – teilen seine Zeitgenossen unsere Perspektive nicht.8

6 Bischoff 2009, 154.


7 Die Codices St. Gallen, Stiftsbibliothek Cod. 70, 238 und 907 sind sogar ausschließlich von der Hand
Winithars.
8 Vgl. die Überschrift De voces (sic) varium animancium im Codex St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod.

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Alemannische Spuren in Lorsch   165

Ihm kommen organisatorische Arbeiten zu: Er versieht die einzelnen Lagen mit einer
alphabetischen Signatur, so dass sie beim Binden korrekt aufeinander liegen. Hinzu
kommt das Vorschreiben der ersten Zeilen, die von einem anderen Mitarbeiter fortge-
setzt werden. Auch Kapiteleinteilungen und Überschriften werden von Winithar vor-
genommen, meist in einer historisch korrekten Unziale, die keine Fremdelemente aus
anderen Schriften aufweist. Winithar nimmt Aufgaben wahr, die man einem Skrip-
toriumsleiter zuschreiben würde, und erweist sich als wichtige Persönlichkeit des
jungen St. Galler Skriptoriums.
Wir verlassen St. Gallen und gehen auf die Reichenau, wo die alemannische
Minuskel zu Beginn des 9. Jahrhunderts einen namentlich bekannten Vertreter hat. Es
ist Reginbert von der Reichenau († 846), der uns über die dortigen Verhältnisse unter-
richtet. Als Leiter des Skriptoriums und der Bibliothek war er unter vier Äbten bis zu
seinem Tod tätig.9 Auf ihn geht der erste große Bibliothekskatalog (Brevis librorum)
von 821/822 zurück,10 und sein Exlibris in Prosa und Versen ist in zahlreichen Hand-
schriften zu finden.11 Doch vor allem ist er scriptor, wie er sich selbst nennt, und damit
auch nutritor der alemannischen Minuskel, die unter seinen Händen zur Perfektion
gelangt. Hier kann sie ihre größten Erfolge feiern und ist in Sammelhandschriften wie
in liturgischen Codices vertreten. Das Erscheinungsbild der Schrift Reginberts und
seiner Schreiber ist in der ersten Phase des Skriptoriums sehr geschlossen.
Der Wirkung einer von Reginbert gestalteten Seite (Abb. 20) kann sich der Leser
nicht entziehen: Eine mehrzeilige rote Initiale mit geometrischem Muster im Schaft
fängt den Blick des Lesers und leitet über zu einer kunstvollen Capitalis quadrata:
Pauci admodum dies, Wechsel zur zweiten Zeile in Unziale sunt, quod sancti ex urbe
fratres cuius, dann die dritte Zeile in Capitalis Rustica (cuius)-dam mihi ioviniani com-
mentariolos, Wechsel zur vierten Zeile transmiserunt. Rogantes, ut eius ineptiis res-
ponderem und zur Hauptschrift in Zeile fünf, et epycurum christianorum – hier als
adjektivisch gebrauchtes Nomen sacrum geschrieben, eingeleitet durch das griechi-
sche χ und ρ – evangelico atque apostolico rigore contererem. Es ist der Anfang des
Hieronymus Werkes Adversus Iovinianum, der hier in vier verschiedenen Schriften
von Reginbert auf höchstem Niveau umgesetzt wird.
Seine Hauptschrift, die alemannische Minuskel, besitzt einen hohen Wiederer-
kennungseffekt, nicht zuletzt durch die gleichförmigen Buchstabenproportionen und
die unten nach links gebogenen Ligaturen re und ro, beides zu sehen in Zeile 9, im
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Wort probare.

225, p. 132 (CLA VII, 928). Die Form varium lässt sich vielleicht durch eine Verwechslung der Deklina-
tionsklasse erklären und würde sich dann auf animancium beziehen.
9 Lehmann 1918, 258.
10 Der Katalog lag in einem heute verschollenen Rotulus vor. Lehmanns Edition (vgl. ebd. 244) be-
ruht auf einer Abschrift des 17. Jahrhunderts.
11 Zur prosaischen und metrischen Form des Exlibris vgl. Berschin 2005a, 169–178, hier 169–171.

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Abb. 20: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 94, fol. 2v; ca. a. 830; Hieronymus
Adversus Iovinianum, apolegeticum ad Pammachium. Die Initiale ist (wie Z. 1–3 der Auszeichnungs-
schriften) in roter Tinte gehalten und Schaft in geometrisches Muster. Die Hierarchie der Schriften
besteht aus Capitalis quadrata, Unziale und Capitalis rustica. Auch hier ist Reginberts formschöne
alemannische Minuskel zu sehen (Z. 5), die trotz der vielen Ligaturen nichts von ihrem hohen kalli-
graphischen Standard einbüßt.

In einer späteren Phase erleben wir die Ankunft der karolingischen Minuskel auf der
Reichenau. Reginbert und die älteren Schreiber zeigen sich gegen diese Entwicklung
unempfindlich und behalten die alemannische Minuskel bei. Doch eine neue Schrei-
bergeneration setzt die Innovation um und schreibt parallel zur Hausschrift karolin-
gische Minuskel. Bei den Auszeichnungszeilen bleibt Reginbert jedoch federführend
und verwendet am häufigsten seine stilisierte Capitalis rustica (vgl. Abb. 20, Z. 3–4).
Er ist der letzte Vertreter der alemannischen Minuskel und mit ihm stirbt sie im Jahre
846 auf der Reichenau. Doch die gewonnene Sicherheit in den Auszeichnungsschrif-
ten, das hohe kalligraphische Niveau und die umfassende Bibliothek blieben. Das
schon damals bedeutende Skriptorium brachte es in den folgenden Jahrhunderten
– nicht zuletzt wegen seiner Buchmalerei – zu großem Ansehen.
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Doch nicht nur im Bodenseegebiet war die alemannische Minuskel verbreitet.


Ihre erste Spur fernab Alemanniens entdeckte Bischoff in Freising, im Bestand der
ältesten Handschriften, die das ansässige Skriptorium im ausgehenden 8. Jahrhun-
dert hervorbrachte.12 Auch in seiner mustergültigen Rekonstruktion der Lorscher

12 Bischoff 21960, 63.

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Alemannische Spuren in Lorsch   167

Bibliothek wird Bischoff auf eine alemannische Hand aufmerksam.13 Sie taucht in
den frühesten Handschriften auf, die von Bischoff als „älterer Lorscher Stil“ gefasst
werden.
Er charakterisiert die Schrift in dieser ersten Phase als „runden Typ“ und betont
den Einfluss, den einige insular geschulte Schreiber in Lorsch hinterlassen haben. Als
Auszeichnungsschrift begleitet diesen Stil eine „stäbchenhafte [Capitalis] Rustica“.
Rund 25 Handschriften gehören zu dieser Gruppe, deren Entstehungszeit Bischoff um
das Jahr 800 ansetzt.14 Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass der ältere Lorscher
Stil bereits in den 70er Jahren des 8. Jahrhunderts im Skriptorium zu belegen ist.15
Da dem Bestand dieser Handschriften eine chronologische Ordnung fehlt, sich also
weder Jahresangaben noch Nennungen der Abbatiate finden lassen, ist die Forschung
auf die paläographische Analyse verwiesen. Die alemannische Spur sah Bischoff im
Codex Rom, BAV, Pal. lat. 207 (Abb. 21).

Abb. 21: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 56r; saec. VIII–IX; Augustinus Tractatus in evangelium Iohan-
nis. Die alemannische Hand beginnt in Z. 2 bei iustius und fällt zunächst durch ihren runden
Duktus ins Auge. Von den Hauptmerkmalen sind nur noch cc-a und 3-förmiges g in Z. 6 gloriam
und die Ligaturen mit r (Z. 4 iudicare und Z. 6 gloriam) zu erkennen. Eine insular beeinflusste Hand
ergänzt mit der typischen ‚Lorscher Ohrmarke‘ hl [hic lege] mit Kürzungsstrich durch die Schäfte
eine Textpassage. Das Verweiszeichen hd [hic deest] ist mittig ergänzt (hier nicht zu sehen).
© [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana

Die karolingische Minuskel (Z. 1) wird in der zweiten Zeile ab iustius von der aleman-
nischen Minuskel abgelöst. Auffällig sind zunächst die breiten Buchstabenformen die
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im Vergleich zum ersten Schreiber raumgreifend wirken. Die Kennzeichen der ale-
mannischen Minuskel (bis auf die nt Ligatur in Wortmitte) finden sich bereits im Wort
gloriam (Z. 6). Das linksschräge 3-förmige g, eine typische ri Ligatur und das cc-a.

13 Bischoff 1989, 31.


14 Ebd., 35.
15 Vgl. auch den Beitrag von Tino Licht (in diesem Band), 145–162; zur Datierung der ältesten karolin-
gischen Minuskel vgl. Licht 2012, 337–346.

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Abb. 22: Rom, BAV, Pal. lat. 218, fol. 58v; saec. VIII–IX; Augustinus In Iohannis epistulam ad Parthos
tractatus X. Die karolingische Minuskel des Schreibers ist geprägt von frühen bzw. regionalen
Merkmalen. Am auffälligsten ist die Nutzung der preziösen Verbindung fi in Z. 3 finem, ebenso eine
nt Ligatur in Wortmitte in montem (Z. 1), wie sie in der alemannischen Minuskel charakteristisch ist.
© [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana

Hier sind die Merkmale und auch der runde, breite Duktus noch gut zu erkennen,
was sich jedoch im Laufe der Handschrift ändert. Der alemannische Schreiber passt
sich seiner Umgebung an, benutzt wenige Ligaturen und gibt schließlich auch das
typische offene 3-förmige g auf, um die karolingische Form zu verwenden.16 Ein Blick
auf die karolingischen Hände im Codex zeigt, dass diese bisweilen eine nt Ligatur in
Wortmitte verwenden, wie in der alemannischen Minuskel üblich.17
Eine weitere These soll Bischoff Raum zur Erklärung der gehäuft auftretenden
alemannischen Symptome geben. Im Codex Pal. lat. 218 sieht Bischoff eine Abschrift,
die vielleicht von einer alemannischen Vorlage stammen könnte, da sie preziöse
Verbindungen enthält, also Ligaturen mit f, in diesem Fall fi.18 Die Häufigkeit fällt
ins Auge und auch die Sicherheit in der Umsetzung zeigt, dass der Schreiber diese
Ligatur beherrscht. Auf fol. 58v ist sie zu sehen in finem, fidem, magnificabant, finem
und confitetur. Hinzu kommt eine weitere alemannische Spur (Abb. 22), die mittler-
weile vertraute nt Ligatur in montem, korrigiert zu monte.
Doch es gibt noch weitere Codices mit alemannischen Schreibern oder solchen,
die zwar karolingische Minuskel schreiben, aber gelegentlich alemannische Symp-
tome zeigen. Ein Beispiel für den ersten Fall, gibt der Palatinus latinus 487. Hier sind
auf fol. 3v die ersten Zeilen von einem alemannischen Schreiber vorgeschrieben. Liest
man den Anfang, so hat man alle Kennzeichen zusammen: Das offene 3-förmige g,
das cc-a, die Ligatur fi, die nt Ligatur in Wortmitte und eine der häufigen Ligaturen
mit r. Der zweite Fall, in dem alemannische Symptome in der karolingischen Minus-
kel zu sehen sind, ‚versteckt‘ sich in Bischoffs Angaben häufig unter Beschreibungen
wie „flüchtige Hand“ oder „fortgeschrittene Hand“.19
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16 Vgl. Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 73r, Z. 11 intellegimus. Die Handschrift ist wie die folgenden – ge-
ordnet nach Bibliotheksstandort – in der Bibliotheca Laureshamensis digital der Universitätsbiblio-
thek Heidelberg einzusehen: http://bibliotheca-laureshamensis-digital.de/de/virtuelle_bibliothek.
html (Stand: 23.11.2012).
17 Ebd., fol. 79v.
18 Bischoff 21989, 31.
19 Ebd., 31–32.

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Der Codex Palatinus latinus 1753 enthält neben alemannischen Komponenten in


der karolingischen Minuskel noch eine weitere Besonderheit: Im Vorsatz fällt eine
kleine Zeile ins Auge, wieder eine Federprobe: Ad nexique globum. Es ist der Anfang
des bekannten Merkverses, der wenn man ihn vollendet, alle Buchstaben des latei-
nischen Alphabetes enthält. Adnexique globum ziphyri freta kana secabant. „Und
die aschgrauen Meerengen durchschnitten die Masse des [an Sizilien] hängenden
Zephyrium[-Gebirges in Brutium]“. Dieses Pangramm wird zum ersten Mal fassbar
in der Grammatik Julians von Toledo († 690) und war im Mittelalter weit verbreitet.20
Auffällig ist jedoch die große Anzahl der Handschriften in St. Gallen, die diesen Vers
tragen, wie Karl Schmuki nachweisen konnte.21 Es ist im Lorscher Frühbestand der
einzige Codex, der auf diese Weise eine Affinität zu St. Gallen zeigt. Bei genauer
Betrachtung der ältesten Lorscher Produktion lässt sich feststellen, dass der aleman-
nische Einfluss nicht marginal, sondern in zahlreichen Handschriften sichtbar ist.
Die folgenden enthalten mindestens eine, teils auch mehrere Hände mit alemanni-
schen Symptomen: Die in Rom verbliebenden Palatini latini 170, 195, 207, 218, 238,
487, 560, 814, 822, 1746, 1753 und der nach Heidelberg zurückgekehrte Pal. lat. 864.22
Die Verbindungen des Lorscher Skriptoriums zum alemannischen Raum sind in
der Zeit vor 800 nur durch den paläographischen Befund nachzuweisen. Später kann
man den konkreten Austausch des Klosters Lorsch mit St. Gallen und der Reichenau
belegen.23 Der auf der Reichenau entstandene Augustinuscodex mit dem Werk De
Genesi contra Manichaeos enthält ein nachträglich eingeheftetes Blatt in jüngerem
Lorscher Stil. Dieser ist am x zu erkennen, das am Fuß der Rechtsschräge nach rechts
gebogen wird.24 Das Blatt ist beidseitig beschrieben und ergänzt eine fehlende Text-
stelle. Am Ende des Blattes findet sich eine Arbeitsanweisung und ein Gruß: et sic
fortasse, sicut in superiora (sic) pagina continetur; vale frater fidelissime datto. Die
Zeile et sic fortasse gibt die Stelle im Text an, nach der der fehlende Text eingesetzt
werden soll. Dann folgt die Arbeitsanweisung „wie auf der vorigen Seite enthalten“.
Dann ein „leb wohl, teuerster Bruder Tatto“. Der angesprochene Tatto ist ein Gelehr-
ter auf der Reichenau, der um das Jahr 817 an einer kritischen Ausgabe der Benedikts-
regel für seinen Lehrer Reginbert beteiligt war und sich vom jungen Walahfrid Strabo
ein Gedicht für den Trierer Chorbischof Thegan schreiben ließ.25 In den 30er Jahren
wurde er Abt in Kempten und starb dort im Jahre 847. Der Abbatiatsbeginn Tattos
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20 Berschin 2005b, 392.


21 Schmuki 2006, 42.
22 Exemplarisch seien hier angeführt: Pal. lat. 170, foll. 23r, 28v; Pal. lat. 195, fol. 12v; Pal. lat. 207, foll.
56r, 73r, 79v (vgl. Bischoff 21989, 31); Pal. lat. 218, foll. 17v, 56r, 86v (zu fol. 86v vgl. ebd. 31); Pal. lat. 238,
fol. 8v; Pal. lat. 487, foll. 13v, 20v; Pal. lat. 560, foll. 25r, 64r, 89r; Pal. lat. 814, fol. 118v; Pal. lat. 822, foll.
59v, 127r, 148v; Pal. lat. 864, fol. 26v; Pal. lat. 1746, fol. 81v; Pal. lat. 1753, fol. 40r.
23 Vgl. Holder 1970, 429–430 und Bischoff 21989, 30.
24 Vgl. die Handschrift Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 187, fol. 11v, Z. 9 exercemur.
25 Berschin 1991, 172 und 226.

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170   Natalie Maag

bildet einen terminus ante quem für diesen Kurzbrief und die Textergänzung. Dieser
Fall dokumentiert das Bemühen um Texte, die Wichtigkeit eines vollständigen und
korrekten Textes, ganz im Sinne der karolingischen Correctio. Dass dieser Anspruch
auch noch unter Karls Nachfolgern an der grammatikalischen Wirklichkeit scheitern
kann, zeigt die metaplastische Deklination von superiora, da nicht der grammatisch
korrekte Ausgang der konsonantischen Deklination -e gewählt wird, sondern der Aus-
gleich zur a-Deklination erfolgt. Klagen über schlechten Stil und mangelhafte Gram-
matik äußert auch ein Lorscher Schreiber am Ende des 12. Jahrhunderts. Es ist der
erste Schreiber der Chronik im Codex Laureshamensis, der zwischen 1170 und 1175
nach einer Urkundenabschrift über Grammatik aber auch über Schrift reflektiert.26
Er beschreibt die vorgefundene Schrift in manchen Dokumenten als so geartet, dass
sie kaum ab studiosis earum legi dinoscique valeant, dass sie also kaum von Experten
oder Kundigen derselben gelesen und verstanden werden können. Dass die frühen
Lorscher Codices bereits im 11. Jahrhundert Leseschwierigkeiten bereithielten, zeigt
der Eingriff eines weiteren Schreibers im Pal. lat. 218 auf fol. 56r. Die ti Ligatur, die
sich aus einem epsilonförmigen t und einem unter die Zeile geführten i zusammen-
setzt, ist in vielen Regionalschriften, auch in der alemannischen Minuskel, präsent
und oft genutzt. An der genannten Stelle ist sie zweimal zu sehen, doch der spätere
Benutzer war nicht mehr an diese Ligatur gewöhnt und schrieb die Einzelbuchstaben
über die für ihn problematische Stelle.
Neben der Eigenproduktion gelangten auch Codices aus anderen Skriptorien in
die Lorscher Bibliothek, wie beispielsweise der Palatinus latinus 245 (Abb. 23). Es ist
der erste Band der Moralia in Iob Gregors des Großen († 604), der um 800 in St. Gallen
in alemannischer Minuskel geschrieben ist. Das zweitälteste Lorscher Bücherver-
zeichnis, entstanden zwischen 830 und 840, registriert den ersten Band der Moralia
und fünf weitere Bände, so dass der Leser zuerst von einer sechsbändigen Ausgabe
ausgehen mag, also in sex codicibus wie es Gregor selbst für sein Werk vorgesehen
hatte.27 Addiert man jedoch die einzelnen Bücher in den Bänden, so muss man eine
siebenbändige Ausgabe voraussetzen, wie sie ab 800 verbreitet war. Walter Berschin
hat in seinen zahlreichen Studien zur Schrift- und Literaturlandschaft im Bodensee-
raum auch auf ein St. Galler Ausleihverzeichnis des 10. Jahrhunderts verwiesen, das
den ersten Band der Moralia – ebenfalls Teil einer siebenbändigen Ausgabe – als ent-
liehen meldet.28 Lediglich den letzten Band in alemannischer Minuskel (St. Gallen,
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Stiftsbibliothek, Cod. 210) konnten die St. Galler in ihrer Bibliothek halten. Vermut-
lich verlieh das Kloster deshalb den ersten alemannischen Band, weil er zu Zeiten Abt
Grimalts (841–872), Erzkanzler Ludwigs des Deutschen, in die Jahre gekommen war.
Die alte Ausgabe musste einer „modernen“, karolingischen weichen.

26 Vgl. Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, III, c. 4, 273.


27 Gregorius Magnus, Moralia in Iob, ed. Adriaen, 3.
28 Berschin 22005c, 79.

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Alemannische Spuren in Lorsch   171

Abb. 23: Rom, BAV, Pal. lat. 245, fol. 2r; saec. VIII–IX; Gregorius Magnus Moralia in Iob. Der Codex
enthält die für den Bodenseeraum typische Regionalschrift, die alemannische Minuskel mit den
folgenden Merkmalen: Das 3-förmige g ist in Z. 2 igitur zu sehen, die charakteristische nt Ligatur in
Wortmitte bei intellectum (Z. 2–3). Die Federprobe in der letzten Zeile nennt Lorsch als Bibliotheks-
heimat. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana

Dem in Lorsch angekommenen Palatinus latinus 245 wird seine neue Bibliothekshei-
mat durch eine Federprobe auf fol. 2r eingeschrieben (Abb. 23). Sie gibt den Text des
Lorscher Exlibris wieder, das in vielen Codices in großer Formelvielfalt durch die Jahr-
hunderte zu beobachten ist. Der Eintrag wiederholt das Exlibris auf dem verlorenen
Schmutzblatt, auf dem es häufig anzutreffen ist. Der Satz bricht mitten im Text ab:
Codex de monasterio sancti nazarii quod nomi – ergänzt zu (nomi)-natur Lauresham.

Zusammenfassung
Erst im 9. Jahrhundert lassen sich Verbindungen zwischen dem Kloster Lorsch und
den Bodenseeklöstern nachweisen, obwohl ein Austausch schon zuvor stattgefunden
haben muss. Betrachtet man die frühe Lorscher Buchproduktion, so kann man fol-
gendes festhalten: Das Skriptorium sucht noch nach dem idealen Layout einer Seite
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und steht erst am Anfang der Optimierung von Design und Logistik. Vielfach gibt
es Schreiberwechsel, doch nicht nur von Lage zu Lage, sondern auch auf derselben
Seite. Unterschiede in Schrift, Stil und Schriftgrad zeigen, dass sich im Skriptorium
noch keine ‚Norm‘ durchgesetzt hat.29 So ist es auch zulässig, dass sich Regional-
schriften oder Merkmale derselben in die frühen Lorscher Codices mischen. Was nun
ist in den frühen Handschriften in Lorsch zu sehen und wie Bischoffs Einschätzungen

29 Vgl. Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 73r.

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172   Natalie Maag

zu werten? Es kann festgehalten werden, dass es mehrere alemannische Hände in den


Lorscher Codices gibt und rund zehn Schreiber, die in ihrer karolingischen Minuskel
alemannische Merkmale führen.30 Zwei Drittel der Handschriften sind von alemanni-
schen Symptomen geprägt; das Ergebnis legt nahe, dass sich die Spuren nicht durch
alemannische Vorlagen erklären, da die Schreiber zu regelmäßig von den Gewohn-
heiten Gebrauch machen. Wie der Befund zu erklären ist, muss die weitere Forschung
zeigen, die hier erst am Anfang steht und durch die Leistungen Bischoffs und der
Digitalisierung ideale Arbeitsbedingungen vorfindet. Zu diesem Zeitpunkt bleibt nur
festzuhalten, dass in der Frühphase des Lorscher Skriptoriums neben dem insularen
Einfluss der alemannische der stärkste ist.

Quellen
Albert Bruckner/Robert Marichal, Chartae latinae antiquiores. Facsimile-Edition of the Latin Charters
Prior to the Ninth Century, Bd. 2, Olten/Lausanne 1956.
Codex Laureshamensis, Erster Band: Einleitung, Regesten, Chronik, ed. Karl Glöckner, Darmstadt
1929.
Scipione Maffei, „Vorwort“, in: Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina, Bd. 70, Paris 1847.
Gregorius Magnus, Moralia in Iob libri I–X, ed. Marc Adriaen, CCSL 143, Turnhout 1979.

Literatur
Berschin (1991): Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 3:
Karolingische Biographie 750–920 n. Chr., Quellen und Untersuchungen zur lateinischen
Philologie des Mittelalters 10, Stuttgart.
Berschin (2005a): Walter Berschin, „Vier karolingische Exlibris“, in: ders., Mittellateinische Studien
1, Heidelberg, 169–178.
Berschin (2005b): Walter Berschin, „Lachmann († 1851) und der Archetyp“, in: ders., Mittella-
teinische Studien 1, Heidelberg, 389–394.
Berschin (22005c): Walter Berschin, Eremus und Insula. St. Gallen und die Reichenau im Mittelalter –
Modell einer lateinischen Literaturlandschaft, Wiesbaden.
Bischoff (21960): Bernhard Bischoff, Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der
Karolingerzeit, 1, Die bayrischen Diözesen, Wiesbaden.
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Bischoff (21989): Bernhard Bischoff, Die Abtei Lorsch im Spiegel ihrer Handschriften, Geschichts-
blätter Kreis Bergstrasse, Sonderband 10, Lorsch.
Bischoff (42009), Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters,
Grundlagen der Germanistik 24, Berlin.

30 Von den 25 Handschriften im älteren Lorscher Stil sind der Forschung bereits 19 in der Bibliotheca
Laureshamensis digital zugänglich, so dass diese die Basis der bisherigen Recherchen bilden konnten
(Stand: November 2012).

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Alemannische Spuren in Lorsch   173

Bruckner (1937): Albert Bruckner, Paläographische Studien zu den älteren St. Galler Urkunden,
ND Turin/St.Gallen (vorher in: Studi Medievali N. S. 4 [1931], 119–130, 360–370, 6 [1933],
279–293).
Holder (1970), Die Reichenauer Handschriften 1, Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek
in Karlsruhe 5, Wiesbaden.
Lehmann (1918): Paul Lehmann, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz
1, Die Bistümer Konstanz und Chur, München.
Licht (2012): Tino Licht, „Die älteste karolingische Minuskel“, Mittellateinisches Jahrbuch 47,
337–346.
Mabillon (21709): Jean Mabillon, De re diplomatica libri VI, Paris.
Schmuki (2006): Karl Schmuki, „Adnexique globum zephyri…: Federproben“, in: Peter Erhart/Lorenz
Hollenstein (Hgg.), Mensch und Schrift im frühen Mittelalter, St. Gallen, 41–47.
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Martin Hellmann
Stenographische Technik in der karolingischen
Patrologie

Um die 800 Handschriften lassen sich benennen, die tironische Noten, Schriftbei-
spiele der lateinischen Stenographie enthalten.1 Die überwiegende Anzahl stammt
aus dem 9. Jahrhundert. Noch wenig untersucht ist die Frage, wer die Personen
im karolingischen Buchwesen waren, die sich der Mühe unterzogen haben, dieses
Schriftsystem mit vielen tausend Zeichen und einer komplexen Morphologie zu erler-
nen und sinnvoll einzusetzen, die Frage, welches intellektuelle Profil mit der steno-
graphischen Schreibpraxis der Karolingerzeit verbunden war. Am deutlichsten treten
hier die Grammatiker hervor, deren Arbeit sich in der sprachlichen Erklärung, der
Glossierung, vor allen Dingen der klassischen lateinischen Literatur manifestiert.
Ein zweiter wichtiger Bereich für den Einsatz der Stenographie zeichnet sich in dem
mehr technischen Feld der Buchherstellung ab, besonders bei der für die karolingi-
sche Buchkultur so zentralen Correctio, die man mit einem allgemeineren zeitgenös-
sischen Terminus technicus auch Requisitio nennen könnte, der ganz genauen philo-
logischen Prüfung und Verbesserung eines abgeschriebenen Textes.
Im Hinblick auf die thematische Ausrichtung dieser Tagung, insbesondere ihren
impliziten programmatischen Gegenstand, die Lorscher Bibliothek, nehme ich einen
dritten Bereich in den Fokus, die historische Theologie. Exzerpte aus der Väterlitera-
tur, meist auf frei gebliebenen Seiten am Ende eines Codex, kommen unter den erhal-
tenen Schriftzeugnissen der tironischen Noten mehrfach vor.2 Die Beispiele zeugen
nicht nur von der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Texten, sondern auch
davon, dass eine Reihe von Gelehrten, die sich mit den Kirchenvätern beschäftigten,
der Stenographie mächtig waren. In der Handschrift Paris, Bibliothèque nationale
de France, Nouv. acq. lat. 1595, fol. 136v, findet man Exzerpte aus der Augustinus-
Vita von Possidius. Unter dem Titel ‚Programma eius‘ hat der betreffende Gelehrte
beispielsweise das Dichter-Epitaphium von Augustinus herausgeschrieben, das Pos-
sidius (Vita sancti Augustini c. 31,7) überliefert:
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Vivere post obitum vatem vis nosse viator,


Quod legis, ecce, loquor, vox tua nempe mea est.

1 Eine Liste von etwa 600 Handschriften ist in Hellmann 2000, 219–264, veröffentlicht und wird seit-
dem kontinuierlich von mir weitergeführt.
2 Bern, Burgerbibliothek, Cod. 109, foll. 136r–v, vgl. Contreni 2003, 373; Bern, Burgerbibliothek, Cod.
611, foll. 90v–91r, vgl. Schmitz 1891.

© 2015, Hellmann.
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176   Martin Hellmann

„Ob ein Dichter nach dem Tod weiterlebt, willst du wissen, Passant? Schau! Wenn du
vorliest, spreche ich, deine Stimme ist dann nämlich die meine.“ Es ist das vierte in
einer Reihe von sechs immer kürzer ausfallenden Exzerpten, von denen Châtelain die
ersten fünf identifiziert und in seinem Lehrbuch der tironischen Noten herausgege-
ben hat.3 Das sechste und letzte ist am linken Seitenrand hinzugesetzt und auf Châ-
telains Tafel nicht zu erkennen. Es betrifft das Alter von Augustinus nach Possidius
(Vita sancti Augustini c. 31,1): LXX sex vixit. „Er wurde 76.“
Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Überlegung, ob in einem patrolo-
gischen Großprojekt, dem Aufbau einer zentralen Kirchenväterbibliothek in Lorsch,
ihrer Pflege und Benutzung, stenographische Technik eine Rolle spielte. Ich suchte
daher nach Notizen, die sich mit den Inhalten der Texte auseinandersetzen, weniger
mit ihrer sprachlichen Gestalt. Doch die tironischen Noten in Lorscher Handschrif-
ten, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen sollen, hielten auch noch Überra-
schungen bereit, die über diesen eng gefassten thematischen Rahmen hinausgehen.
Um eine Kirchenväterbibliothek aufzubauen, benötigt man unter anderem die
Vita sancti Augustini von Possidius mit ihrem Verzeichnis der Werke des heiligen
Augustinus, dem Indiculum, oder – wie es in der Handschrift Kiel, Universitätsbiblio-
thek, Cod. ms. KB 144, fol. 36v, heißt – dem Indicium omnium librorum sancti Augusti-
ni.4 Zwar handelt es sich um eine Handschrift, die nicht in Lorsch, sondern nach
Bernhard Bischoff in Nordostfrankreich, wahrscheinlich in der Umgebung von Saint-
Amand geschrieben wurde.5 Doch der nicht gut erhaltene Besitzvermerk auf der
Rückseite der Handschrift (fol. 44v) bekräftigt, was schon zuvor vermutet wurde, dass
es sich nämlich um ein Buch der Lorscher Bibliothek handelt, das auch in den Biblio-
thekskatalogen verzeichnet ist.6 Die eine oder andere tironische Note kommt in den
Titeln des Indicium vor, stets am Zeilenende und meist als Abschluss eines Titels,
zum Beispiel fol. 42v: De versu psalmi CIIII ‚lętetur cor quaerentium dominum‘. Das
Wort dominum habe ich ergänzt, damit der Anfang des Psalmverses verständlich
wird, das vorausgehende Wort quaerentium ist als tironische Note geschrieben.
Als Zusammensetzung aus der Stammnote von quaerit (CNT 29, 23) und der Endungs-
note entium (CNT 14,43) ist es keine ganz einfache Notenbildung und beweist Schreib-
erfahrung. Ihre Funktion ist eine zweifache: zum Einen wird der Platz am Zeilenende
optimal ausgenutzt, zum Anderen wird angedeutet, dass der anzitierte Psalmvers
noch weitergeht. Zweifellos ein mageres Ergebnis. Dies kann nicht die Motivation für
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den immensen Aufwand gewesen sein, den es für den Schreiber bedeutete, die Steno-
graphie zu erlernen.7

3 Châtelain 1900, Tafel 3; Online-Digitalisat der Handschrift unter Bibliothèque nationale de France.
4 Über die Zugehörigkeit des Indiculum zur Vita vgl. Berschin 2005, 1–7.
5 Bischoff 1998, Nr. 1844.
6 Hoffmann 1999, 553; Hoffmann 2004, 176; Palmer 1998, 98, 238 (Nr. G 7) und 280; Häse 2002, 238.
7 Siehe die Zusammenstellung der tironischen Noten dieser Handschrift im Anhang S. 188.

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Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie   177

Als Ausgangspunkt des patrologischen Prozesses nehme ich das Lesen. In der
Sankt Galler Handschrift, Stiftsbibliothek, Cod. 171, einer Sammlung verschiedener
Augustinus-Schriften, die unter dem Abbatiat Grimalts 841–872 geschrieben wurde,
hat ein weniger versierter Schreiber, aber umso mehr inhaltlich interessierter Leser
seine Notizen angebracht.8 Er hat die Kurzschrift vielleicht gelernt, um sie als nütz-
liches Handwerkzeug zu verwenden. Auf p. 139 befinden sich drei typische steno-
graphische Bemerkungen aus seiner Feder. Auf der vorausgehenden Seite schreibt
Augustinus (De baptismo IV 19): Ad Corinthios enim singula enumerat, in quibus sin-
gulis subauditur quod regnum dei non possidebunt. Nolite, inquid, errare, neque forni-
catores neque idolis servientes neque adulteri neque molles neque masculorum concu-
bitores neque fures neque avari neque ebriosi neque maledici neque rapaces regnum
dei possidebunt. „Im Korintherbrief (I Cor 6, 9–10) zählt Paulus im Einzelnen auf,
wer alles das Reich Gottes nicht besitzen wird. Täuscht euch nicht, sagt er, weder die
Hurenböcke, noch die Götzenverehrer, noch die Ehebrecher, noch die Verwöhnten,
noch die Kinderschänder, noch die Diebe, noch die Geizigen, noch die Trunkenbolde,
noch die Lästerer, noch die Räuber werden das Reich Gottes besitzen.“ Ein Stück
weiter, an der ersten annotierten Stelle auf p. 139 heißt es dann: Nec dubitandum est
quidem poenas ipsas, quibus cruciabuntur qui regnum dei non possidebunt, pro diver-
sitate criminum esse diversas et alias aliis acriores. „Zwar ist kein Zweifel, dass die
Strafen, mit denen diejenigen gequält werden, die das Reich Gottes nicht besitzen
werden, aufgrund der Unterschiedlichkeit der Vergehen auch verschieden sind, und
die einen härter als die anderen.“ – Optima ratio. „Sehr gute Überlegung.“ So lautet
das Urteil des Augustinus-Lesers in der Randnotiz.

Abb. 24: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt (www.e-codices.unifr.ch).

Sed tamen „Aber dennoch“, schreibt Augustinus wenige Zeilen weiter unten, et non
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possidendum regnum dei tantundem valet ex viciis illis quod elegeris mitius, quantum
vel plura vel unum quod perspexeris gravius. Et quia illi possessuri sunt regnum dei
quos ad dexteram constituet ille iudex, nec eis qui ad dexteram constitui non merebun-
tur aliquid aliud quam ad sinistram esse remanebit. „Das Reich Gottes nicht zu besit-
zen bedeutet genauso viel aufgrund von Fehlern, die du milder beurteilen würdest,
wie das Viele oder das Eine, das du für schwerwiegender erachtest. Und weil die das

8 Bruckner 1935–1978, Bd. 3, 77–78.

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178   Martin Hellmann

Reich Gottes besitzen werden, die er als Richter zu seiner Rechten aufstellt, bleibt
denen, die es nicht verdienen zu seiner Rechten aufgestellt zu werden, nichts anderes
übrig, als sich zu seiner Linken zu finden.“ – Terribilis sententia. „Schrecklich ist
dieser Satz.“ Der Leser hadert mit der oftmals erschütternden Konsequenz, wenn die
Gesetze der Logik allzu streng auf religiöse Fragen angewandt werden.

Abb. 25: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt (www.e-codices.unifr.ch).

Weiter unten auf derselben Seite wird beispielhaft die Trunksucht behandelt: Vel ut
ebriositas… Hier notierte der Leser am Rand lediglich das Thema: De ebrietate. „Über
die Trunksucht.“ Auch ihm kann man fundierte Kenntnisse der tironischen Noten
attestieren, denn die äußerlich dreiteilige Note ebrietas (CNT 70, 17), bei der die
Stammnote in zwei unflektierbare Bestandteile zerfällt, zu denen als dritter die flek-
tierbare Endungsnote tritt, gehört gewiss nicht zum Standardrepertoire.

Abb. 26: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt (www.e-codices.unifr.ch).

Eine beachtliche Anzahl, nämlich 32 von insgesamt 67 Notizen in dieser Handschrift,


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sind inhaltliche Urteile.9 Die häufigste Notiz heißt utilis ratio „die Überlegung ist nütz-
lich“, wie beispielsweise p. 111, wo es heißt (De baptismo III 15): Sacramenta tamen si
eadem sunt ubique, sunt integra, etiam si prave intelleguntur et discordiose tractantur.
„Die Sakramente, wenn es ein und dieselben sind, sind immer und überall voll gültig,
auch wenn sie falsch verstanden oder zwieträchtig behandelt werden.“ Auch utillima
ratio „die Überlegung ist äußerst nützlich“ kommt als Urteil vor, ferner utilis quaestio

9 Siehe die Zusammenstellung der Notizen im Anhang S. 188.

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Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie   179

„die Fragestellung ist nützlich“, utilis comparatio „der Vergleich ist nützlich“, optima
comparatio „der Vergleich ist sehr gut“, wie oben bereits erwähnt optima ratio „die
Überlegung ist sehr gut“ und schließlich optimum exemplum „das Beispiel ist sehr
gut“. Markierungen, mit denen eine Stelle ohne Urteil inhaltlich hervorgehoben wird,
wie p. 142 de latrone „über den Räuber“ oder das erwähnte de ebrietate „über die
Trunksucht“, sind mit 25 Beispielen vertreten. Arbeitstechnische Markierungen wie
p. 119 usque hic „bis hier“ an einem Buchende fand ich an sechs Stellen. Das Juwel
ist eine kommentierende Notiz auf p. 363 zu folgender Augustinus-Stelle (De spiritu et
littera 7): Ideo Paulus apostolus qui cum Saulus prius vocaretur, non ob aliud, quantum
mihi videtur, hoc nomen elegit, nisi ut se ostenderet parvum. „Der Apostel Paulus, der
zuvor ja Saulus hieß, hat, wie mir scheint, diesen Namen nur gewählt, um klein zu
erscheinen.“ Die inhaltliche Hervorhebung dieser Stelle geschah mit einem Paragra-
phenzeichen und in Langschrift: Quur Saulus vocatus est Paulus. „Warum Saulus sich
Paulus nannte.“ Darunter steht in Kurzschrift der Kommentar quia paulus diminu-
tivum est „weil ‚paulus‘ eine Verkleinerungsform ist“. Bemerkenswert erscheint es,
dass Albert Bruckner seiner Beschreibung der Handschrift in den ‚Scriptoria medii
aevi helvetica‘ eine Abbildung beigegeben hat, die genau diese Notiz zeigt.10 Sie war
bis zur Digitalisierung im Rahmen der e-codices die einzige aus dieser Handschrift
abgebildete Notiz. Insofern wurden bei der Lektüre der übrigen Notizen meine Erwar-
tungen einerseits enttäuscht, doch ergaben sich auf der anderen Seite überraschende
Querverbindungen.
Das Anbringen inhaltlicher Urteile und thematischer Hervorhebungen mit tironi-
schen Noten – als Form, sich Kirchenvätertexte zu erschließen – hatte Tradition. Ins-
besondere ist an die in Bobbio im 7. oder 8. Jahrhundert entstandenen Notizen zu den
Augustinus-Predigten in der Handschrift Rom, BAV, Vat. lat. 5758 zu erinnern. Utilis ad
legendum „nützlich zum Lesen“ ist dort mehrfach zu einzelnen Predigten vermerkt,
brevis et bona „kurz und gut“ zu anderen. Mitunter tritt zum Urteil eine Themenan-
gabe hinzu: brevis et bona, ubi dicit de humilitate et confessione „kurz und gut, es geht
um Demut und Bekenntnis“. An anderen Stellen wurde bloß der Titel einer Predigt
am Rand stenographisch wiederholt und somit herausgestellt. Der Zweck derartiger
Notizen besteht meines Erachtens im Herausziehen der inhaltlichen Information, die
dann beispielsweise in ein Kapitelverzeichnis, eine Capitulatio aufgenommen werden
kann. Gut zu erkennen in der folgenden Beispielnotiz zu einer Stelle der Enarrationes
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in psalmos im Codex Rom, BAV, Vat. lat. 5757: de eo quod dicit ‚semel nati sunt et bis
mortui‘ „davon dass es heißt ‚einmal wurden sie geboren, nur tot sind sie zweimal‘“ –
gemeint sind damit die von Jesus Wiedererweckten.11
Hiermit komme ich zu einem weiteren Eckpunkt des patrologischen Prozesses,
dem Gliedern der Texte. Es fällt auf, dass die thematischen Hervorhebungen sowohl

10 Bruckner 1935−1978, Bd. 3, Tafel 7.


11 Hellmann/Weidmann 2011.

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180   Martin Hellmann

Abb. 27: Rom, BAV, Pal. lat. 246, fol. 15r, Ausschnitt. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana

in den karolingischen Beispielen aus Sankt Gallen als auch in den älteren aus Bobbio
in aller Regel mit beginnen, der tironischen Note für das Wort ‘de’, deren Gestalt
kaum von dem Unzialbuchstaben ‚d‘ abweicht. Diese tironische Note hat als Kürzel
für das Wort ‚de‘ ein gewisses Eigenleben auch außerhalb des Systemzusammen-
hangs der lateinischen Kurzschrift entwickelt.12 Es findet unter anderem in zwei Lor-
scher Handschriften der Moralia in Iob Gregors des Großen Anwendung, von denen
Bernhard Bischoff sagt, dass sie in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts wohl nicht in
Lorsch, aber in der Umgebung von Lorsch geschrieben wurden. Die beiden Hand-
schriften wurden gründlich durchgearbeitet, wobei es vor allem um die textliche
Strukturierung ging. Die Bibelstellen aus den Prophetenbüchern waren nämlich
häufig nicht graphisch ausgezeichnet. Sie wurden identifiziert, mit Paragraphenzei-
chen und Zitatzeichen markiert und am Rand mit einem Vermerk wie zum Beispiel im
Codex Rom, BAV, Pal. lat. 246, fol. 15r, de Esaia (zu Is 64, 6) versehen.13 Hinzugesetzt
ist zur Orientierung die Angabe der Buchzählung innerhalb des Moralia-Werks, hier
libro XI. In derselben Handschrift, fol. 103v, war die graphische Auszeichnung des
Iob-Zitats (Iob 24, 5) durch Unzialschrift in Ordnung: Alii quasi onagri in deserto egre-
diuntur ad opus suum. „Andere gehen wie die Esel in die Wüste hinaus, um ihr
Geschäft zu verrichten.“ An dieser Stelle ist am Rand ausnahmsweise eine inhaltliche
Hervorhebung eingebaut: de onagro in Iob sub hereticorum spetie „über den Esel bei
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12 In Hellmann 2000, 13, hatte ich mich dafür ausgesprochen, in diesem Zeichen nichts anderes als
eine gewöhnliche unziale d-Form der Minuskel zu sehen. Eine Beobachtung in einer Reichenauer
Handschrift (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 194) lässt mich diese Einschätzung
revidieren. Dort nämlich tritt in der Capitulatio foll. 1r–2v mehrfach das unziale Minuskel-d in dieser
Funktion auf, in der Passage de centurione (fol. 1r, letzte Zeile) jedoch unter weiterer Verwendung der
tironischen Silbennoten ri und ne. Online-Digitalisat der Handschrift unter Badische Landesbiblio-
thek.
13 Siehe die Zusammenstellung der Vermerke im Anhang S. 189.

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Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie   181

Iob als Bild für die Häretiker“. Graphisch eingeflochten ist hier die Angabe der Buch-
nummer libro XVI für Buch 16 der Moralia in Iob. Ebenso und von gleicher Hand wie
im Palatinus latinus 246 finden sich entsprechende Vermerke im Codex Rom, BAV,
Pal. lat. 249, der die Bücher 32–35 der Moralia in Iob umfasst. Zum Beispiel finden wir
dort, fol. 89r, wieder im Text am Anfang des Prophetenzitats das Paragraphenzei-
chen, am linken Rand fünf Zitatzeichen an den fünf Zeilen, über die das Zitat reicht,
am rechten Rand den Vermerk eines Propheten de Hieremia (falsch zu Os 2, 6–7) und
schließlich darunter die Buchzählung libro XXXIIII. Die hier vorliegenden de-Kürzel
sind nach bisherigem Kenntnisstand die einzigen tironischen Noten, die mit einiger
Sicherheit von einem Lorscher Schreiber stammen, und zwar allem Anschein nach
von einem Bibliothekar.

Abb. 28: Rom, BAV, Pal. lat. 211, fol. 19r, Ausschnitt. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana

Die Benutzung der Lorscher Bibliothek dokumentiert eine dritte Phase im Zyklus
des patrologischen Prozesses, das Sammeln. Im Codex Rom, BAV, Pal. lat. 211, einer
Handschrift mit Augustinus-Briefen, befindet sich bei insgesamt vier Stücken jeweils
am Textbeginn bei der Titelnummer die Notiz non habeo. Ein Textjäger und -sammler
war fündig geworden und konnte in einem ersten Schritt so seine Fundstücke markie-
ren. Weitere Spuren der Beschäftigung mit dieser Handschrift sind  an anderen Stellen
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auf dem Seitenrand zu finden. Der Vermerk incipe steht an insgesamt sieben Stellen,
allerdings ohne dass an diesen Stellen irgendetwas Gemeinsames erkennbar wäre.
Dasselbe gilt für den Vermerk dimisi, der an elf Stellen auftaucht. Auch die Vertei-
lung der Notizen auf die Seiten der Handschrift ergibt kein klares Bild, allenfalls eine

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lockere Gruppierung der incipe- und dimisi-Noten um die mit non habeo gekennzeich-
neten, von dem Benutzer für sich entdeckten Stücke.14
Was könnte „incipere“ beziehungsweise „dimittere“ in diesem Zusammenhang bedeu-
ten? Wenigstens für „dimittere“ gibt es einige Belege für die Verwendung in der Praxis
des Buchwesens. Dabei kommen drei unterschiedliche Bedeutungen vor:
1. „weglassen“, das heißt: nicht abschreiben. Im Codex München, Bayerische
Staatsbibliothek, Clm 5508, einer Sammlung von Konzilsakten, sind in den Kapi-
telverzeichnissen einige Kapitel am Rand mit dem gekürzten Vermerk dim. verse-
hen. Bernhard Bischoff liest dimitte, was heißen soll, dass das betreffende Kapitel
beim Abschreiben auszulassen war.15
2. „abbrechen“, das heißt: bis hier abschreiben. In den berühmten autographen
Vermerken Alkuins, mit denen er im Codex Paris, Bibliothèque nationale de
France, Lat. 1572, Stellen markiert hat, die er als Exzerpte in seiner Streitschrift
Adversus haeresin Felicis verwendete, bedeutet d für dimitte das Ende der Stelle.16
3. „absetzen“, das heißt: hier einen Absatz machen. Diese Bedeutung ist einer steno-
graphischen Notiz der ehemals Berliner Handschrift, Lat. quart. 150, zu entneh-
men, die heute in Krakau aufbewahrt wird. Der Vermerk befindet sich auf fol. 155v
an einer Stelle, wo in der annotierten Vorlage ein Absatz fälschlicherweise nicht
vorhanden war, und lautet: dimitte hic et incipe ibi et adpraehende ad ‚Praelatis‘
„hier absetzen und neu beginnen und zum folgenden Abschnitt ziehen, der mit
‚Praelatis‘ beginnt“.17 Noch ein weiteres Mal fand ich dimisi als alleinstehende
tironische Note am Seitenrand, nämlich in der Handschrift Lyon, Bibliothèque
municipale, Ms. 466, fol. 90v, in deutlicher Übereinstimmung mit den Zeichen
im Pal. lat. 211.18 Es handelt sich um eine Handschrift der Commentarii in Esaiam
von Hieronymus. An der betreffenden Stelle (zu Is 23, 15) kann man interpretieren
„ich habe einen Absatz gemacht“. Denn dieser ist mit einem Haken hinter possit
eingetragen. Der Kommentar des Hieronymus geht nämlich bis possit, und erst
dann – nicht etwa schon mit Alii, wie die graphische Auszeichnung der Hand-
schrift suggeriert – beginnt mit Post septuaginta die nächste Isaias-Stelle, was am
Rand auch mit Zitatzeichen gekennzeichnet wurde.

Da keine dieser speziellen Bedeutungen bei den Notizen des Codex Rom, BAV, Pal.
lat. 211 greift, bin ich zum Schluss gekommen, dass man dimisi hier mit der sprachlich
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weniger spezifischen Bedeutung „ich habe aufgehört“ und als persönliche Markie-

14 Siehe die Zusammenstellung der Notizen im Anhang S. 190.


15 Bischoff 1967, 17 Anm. 41; Online-Digitalisat der Handschrift unter Münchener Digitalisierungs-
Zentrum.
16 Bischoff 1967, 17–18.
17 Tangl 1908, 102.
18 Bischoff 2004, Nr. 2557, liest dimittat; Online-Digitalisat der Handschrift unter Bibliothèque mu-
nicipale de Lyon.

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Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie   183

rung verstehen muss: „hier habe ich aufgehört“, „hier musste ich meine Arbeit unter-
brechen“, „hier muss ich später weitermachen“. Incipe hieße dementsprechend „hier
.

fang an“, „mach da weiter, wo du aufgehört hast“, bedeutete pragmatisch gesehen


also genau dasselbe wie dimisi.
Zwei weitere Lorscher Handschriften sind auf ihre Tironiana zu prüfen. Ein etwas
längeres Stenogramm findet man in dem Lorscher Produkt Rom, BAV, Reg. lat. 118,
einer Cyprianus-Handschrift mit dessen Werk Ad Quirinum testimonia, einer thema-
tischen Zusammenstellung von biblischen Zeugnissen. Bernhard Bischoff hatte das
Tironianum als eine Textergänzung angezeigt, mit dem Hinweis ‚vielleicht von erster
(also Lorscher) Hand‘.19 Ein Kreuzchen vor der Notenreihe, die sich am unteren Sei-
tenrand befindet, lässt die Textergänzung an der betreffenden Stelle vermuten, die
Suche nach dem korrespondierenden Kreuzchen im Text blieb jedoch erfolglos. Die
daraufhin angestellte Textprüfung ergab, dass überhaupt keine Fehlstelle im Text
vorliegt, sondern sich der herausstenographierte Psalmvers (Ps 33, 10) auch im Text
und dort genau an der richtigen Stelle in der linken Textspalte ein wenig unterhalb
der Mitte befindet. Die falsche Psalmnummer 32 steht sowohl im Text als auch in der
Randnotiz: Item in psalmo XXXo IIo ‚Timete dominum sancti eius quoniam non est
inopia eis qui eum metuunt‘. Das sperrige Ende in Cyprians Vetus-latina-Version eis qui
eum metuunt „für diejenigen, die ihn fürchten“ heißt im etwas eleganteren Latein der
Vulgata timentibus eum. Das Stenogramm ist aber eine wortwörtliche Wiederholung,
wobei die Ordinalzahlen nicht mit den Zahlzeichen, sondern umständlich mit den
tironischen Noten für die Zahlwörter wiedergegeben sind: Item in psalmo trigesimo
secundo ‚Timete dominum sancti eius quoniam non est inopia eis qui eum metuunt‘.
Für Bischoffs ‚Lorscher Hand‘ spricht nicht viel, denn gerade diese Handschrift
dokumentiert eine zehn Stücke umfassende Bücherschenkung durch ein Widmungs-
gedicht auf seinem Deckblatt. Es ist nicht gut erhalten, doch gut genug, um zu erken-
nen, dass es sich um eine Bücherschenkung handelte, die zehn Stücke umfasste, von
denen dieses das erste war. André Wilmart hat in seiner Beschreibung der Handschrift
das gelesen, was noch zu erkennen ist:20


Cęlesti fieret conversus amore salutis
Illi dona decem dedit …

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Primo Ciprianum praesentem nosse vocatum


Mittentem Christi documenta fidelibus alma.

„…er bekehrt wurde durch die himmlische Liebe zum Heil. Ihm widmete er zehn… Als
erstes sei dieser Cyprianus genannt, der den Gläubigen die wohltuenden Zeugnisse

19 Bischoff 1989, 52; die Folioangabe ist in fol. 74r zu korrigieren.


20 Wilmart 1937, 260.

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184   Martin Hellmann

Christi verteilt.“ Wahrscheinlich ging die Schenkung nach Fleury, denn die Hand-
schrift hat einen späteren Besitzvermerk Aurelii „Orléans“, und Orléans gehört zu den
Orten, an denen tironische Noten geschrieben wurden.
Eine weitere von diesen früh nach Frankreich gekommenen Lorscher Handschrif-
ten ist möglicherweise der Codex, Rom, BAV, Ottob. lat. 259. Das wunderschöne Tiro-
nianum auf Vorder- und Rückseite seines Deckblatts hat Matthias Tischler wieder-
entdeckt. Zwar kannte Bernhard Bischoff diese Besonderheit, doch hat er sie für sich
behalten. In seinem Werk über die Lorscher Handschriften schrieb er äußerst knapp:
‚Zusatz auf fol. 1rv französisch‘, und erwähnt die Registrierung in Katalog I, nach Ange-
lika Häses Edition der Bücherverzeichnisse also Katalog A, dem ältesten, um 830 ent-
standenen.21 Der dort zusammengestellte Inhalt entspricht dem ersten Faszikel der
heutigen Handschrift, der die Blätter 1–29 umfasst: Augustinus, De disciplina Christia-
norum; Valerianus ep. Cemeliensis, De bono disciplinae; und dann müsste es an Stelle
von id est De praelatis, De iustitia principum usw. eigentlich heißen: aus den Sen-
tentiae des Isidor von Sevilla die Abschnitte De praelatis, De iustitia principum usw.22
Auch im Text der Handschrift ist an der betreffenden Stelle fol. 23v ursprünglich kein
neuer Textanfang beziehungsweise Autor vermerkt, allerdings von einem Humanis-
ten der Einschnitt eingetragen und entsprechend bezeichnet. Die Schrift wurde von
Bernhard Bischoff dem jüngeren Lorscher Stil der karolingischen Minuskel zugerech-
net. Demzufolge wurde die Handschrift im 9. Jahrhundert in Lorsch und für die Lor-
scher Bibliothek geschrieben; das Deckblatt war noch leer. Heute dokumentiert das
Deckblatt eine ganze Reihe von Eckpunkten in der Geschichte dieses Buches. Ganz
oben steht: Ex libris Petri Danielis Aurelii 1564. Die Handschrift dürfte also zu den
vielen Büchern gehören, die Pierre Daniel aus der Bibliothek des Klosters Fleury in
seinen Besitz gebracht hat. Darunter steht ausradiert, ebenfalls von der Hand Pierre
Daniels: Libri duo monstrorum. Ein solcher einstmaliger zweiter Teil dieses Buches
lässt sich in einem Liber monstrorum aus Fleury aus dem 9. oder 10. Jahrhundert
nachweisen, dem heutigen Voss. lat. O 16 der Universitätsbibliothek Leiden.23 Es gibt
also starke Indizien dafür, dass der französische Zusatz mit den tironischen Noten in
Fleury geschrieben wurde und die Handschrift sich schon im 9. Jahrhundert in Fleury
befand, beziehungsweise demzufolge noch im 9. Jahrhundert von Lorsch nach Fleury
überging. Pierre Daniel hat die Handschrift neu zusammengestellt, denn der heutige
zweite Faszikel, der am Ende des 14. Jahrhunderts geschrieben wurde, trägt eben-
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falls dessen Besitzvermerke. In dieser Gestalt kam die Handschrift dann über Paulus
Petavius – von dem die Nummer N. 55 stammt –, seinen Bruder Alexander, Königin
Christina von Schweden und Pietro Ottoboni in die Vatikanische Bibliothek. Michael
Kautz, dem wir die Beschreibung der Handschrift im Rahmen der Bibliotheca Laures-

21 Bischoff 1989, 51; Häse 2002, 209.


22 Katalogeinträge A32, B76 und Ca161 nach Häse 2002, 94–95, 123 und 138.
23 Kautz 2011.

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Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie   185

hamensis digitalis verdanken, verzeichnete den Zusatz auf fol. 1r–v als unidentifizierte
Verse. Aus den langschriftlich ausgeführten ersten Zeilen lässt sich verifizieren, dass
es sich um eine unedierte Dichtung handelt:

Amor Christi dulcis almus et suavis,


pius felix castus iustus et beatus,
carus mitis simplex altus et aeternus
omni plenus caritate bonitatis,
super omnes sine fine caelos manet.

Beachtet man die Interpunktion der Handschrift, so ergeben sich diese fünf Verse
zu je 12 Silben, die zusammen eine Strophe ausmachen. In den folgenden, teilweise
stenographisch ausgeführten Passagen setzt sich genau diese Strophengestalt fort:

Ille mentes quas suaviter incendit


a rubigine peccati purgat atque
aurat, more liquefacti pulchrum facit,
plumbum solvit, liquat stannum, solem urit
velut aureum globellum fulgescentem.

Die akzentrhythmische Struktur dieser Verse tritt deutlich hervor und präsentiert
sich in einem strengen trochäischen Aufbau, der dem Gedicht einen monumentalen
Charakter verleiht. Betonte und unbetonte Silben wechseln sich ohne rhythmische
Wendung über insgesamt 16 Strophen ab, über 16 × 5 = 80 Verse, über 80 × 12 = 960
Silben. Das jambische Gegenstück dieser Strophenform (5 × 6 Jamben pro Strophe)
gehört zu den am häufigsten verwendeten Schemata in der mittelalterlichen Hym-
nologie. Doch gibt es kein zweites Beispiel mit dieser trochäischen Architektur. Ein
Monument der Liebe hat der Autor hier entworfen oder beschrieben. Je weiter man
liest, desto deutlicher zeigt sich der ikonographische Charakter des Textes: Der christ-
liche Amor schickt drei Pfeile über Venus hinweg. Der Superbia in Gestalt eines Trink-
gelages steht ein geistliches Festmahl gegenüber. Ganz oben auf dem Thron sitzt das
Gotteslamm, zu seinen Füßen die drei purpurbekleideten Schwestern Caritas, Spes
und Fides. Die einzelnen Strophen kann man als Bildausschnitte begreifen, zum Bei-
spiel Strophe 10:
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Inperterrita stat Fides triumphale


portat tropheum sed fortis. De rosetis
et purpureis rosellis florulenta
habent serta super caput agni tincta
de cruore quem ab arce crucis fudit.

Unerschrocken steht die Fides da, doch kräftig


stemmt sie hoch die Siegtrophäe. Blütenkränze
halten sie aus rosa und aus purpur Röslein
übers Haupt des Lamms, die mit dem Blut gefärbt sind,
das es von der Kreuzeshöhe hat vergossen.

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Abb. 29: Rom, BAV, Ottob. lat. 259, fol. 1r. © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana

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Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie   187

Äußerst blumig ist das Vokabular des Dichters, dessen Name zum Greifen nah
erscheint. Für das Röslein hat er zwei unterschiedliche Wörter, in dieser Strophe
(10.3) rosella, an anderer Stelle (14.3) rosula. Man könnte spekulieren, dass er den
Geschmack seiner Zeit nicht getroffen hat, denn bislang lässt sich keine zweite Über-
lieferung des Stücks ausmachen. Dem entgegen steht das Urteil des hier tätigen,
stenographisch bewanderten Bewahrers, das sich am Ende einer vertikalen Zeichen-
folge findet, die er vor das Gedicht gehängt hat. Es lautet nämlich valde bonus „sehr
gut“. Darüber steht als Themenangabe de caritate „über die Liebe“. Voraus geht eine
bislang unbekannte tironische Note, in der allerdings die Buchstabenbestandteile
PRC und die Endungsnote ae erkennbar sind. Das oberste klar erkennbare Zeichen
setzt sich aus der Stammnote von paulus (CNT 49, 62) und der Endungsnote ni (CNT 1,
20) zusammen, so dass man den ersehnten Autornamen im Genitiv annehmen darf:
Paulini patriarchae. Die Zuschreibung an Paulinus, Patriarch von Aquileia, den eins-
tigen Dichter am Hof Karls des Großen, lässt sich erhärten.24 Links oberhalb der Note
Paulini befindet sich noch ein y-förmiges Zeichen oder Reste davon, die für hymnus
stehen könnten. Damit ergäbe sich ein abgerundeter Text für dieses Kurzgutachten:
Hymnus Paulini patriarchae de caritate valde bonus. „Ein sehr guter Hymnus des Pau-
linus von Aquileia über die Liebe.“
Als Fazit zum eigentlichen Thema dieser Untersuchung lässt sich feststellen,
dass die Arbeit mit Kirchenvätertexten – das inhaltliche Erarbeiten, das Durchstruk-
turieren, das Sammeln der Texte – ein Feld war, in dem die Stenographie sinnvolle
Anwendung fand, für dessen Akteure es sich lohnen konnte, die tironischen Noten zu
erlernen. Damit verknüpften sich zwei große karolingische Kulturprojekte: die Wie-
derbelebung der antiken Stenographie und die Aufarbeitung des Erbes der lateini-
schen Kirchenväter. Stenographische Schreibtechnik gehörte jedoch nicht zum Stan-
dardrepertoire der karolingischen Patrologie, wie das Beispiel von Lorsch zeigt, in
dessen Handschriften die Spuren der tironischen Schreibkunst fast ausnahmslos auf
auswärtige, und das heißt französische Akteure zurückgehen.

Anhang
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Der folgende Editionsteil bietet eine Zusammenstellung der tironischen Noten in den behandelten
Handschriften, soweit sie nicht bereits im Aufsatztext vollständig wiedergegeben wurden. Die steno-
graphisch geschriebenen Textteile sind kursiviert.

24 In den Analecta Hymnica digitalia ist rosula vor dem Jahr 900 dreimal belegt. Alle drei Belege
befinden sich unter den Dichtungen des Paulinus von Aquileia: AH 50, 131 (nr. 99, 38); AH 50, 144 (nr.
104, 7): pulchris liliis mixtumque palmis lauro atque rosulis; AH 50, 149 (nr. 107, 14): mixta rosulis lilia.
Besonders die beiden letzteren Stellen zeigen deutliche Anklänge an 9.1 f. violis mixtis liliis und 14.2 f.
garbis liliorum et violis atque rosolis.

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Kiel, Universitätsbibliothek, Cod. ms. KB 144


– Online-Digitalisat unter Bibliotheca Laureshamensis –
In Klammern sind die Textpositionen im Indiculum des Possidius angegeben.

fol. 38v De testimoniis scripturarum contra supra scriptos et contra idola (6, 41)
fol. 41v De versu psalmi LXVII ‚sicut deficit fumus‘ (16, 44)
De muliere quae sanguinis fluxum patiebatur (16, 50)
fol. 42v De versu psalmi CIIII ‚lętetur cor quaerentium‘ (16, 110)
fol. 43v De versu psalmi LXX ‚libera me de manu‘ (16, 166)

St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171


– Online-Digitalisat unter e-codices –

p. 17 1 ab hinc requisitum est p. 167 36 utilis ratio


p. 19 2 notandum p. 169 37 notandum
p. 31 3 quid sint sodales p. 171 38 utilis comparatio
p. 35 4 quid sit cyreneus p. 172 39 exemplum
p. 55 5 optima ratio 40 utilis ratio
p. 64 6 de presbyteris utilis ratio p. 173 41 utilis ratio
p. 65 7 notandum 42 de baptismo
p. 68 8 exemplum p. 174 43 utilis ratio
9 et hic p. 231 44 notandum
p. 72 10 exemplum p. 232 45 exemplum
p. 74 11 terribilis sententia p. 247 46 optima ratio
p. 77 12 utilis ratio p. 252 47 notandum
p. 78 13 exemplum p. 269 48 utilis ratio
p. 79 14 terribilis sententia p. 281 49 hic
p. 89 15 terribilis sententia p. 282 50 hic
16 bonum consilium 51 utilis comparatio
p. 93 17 utilis ratio p. 286 52 …
p. 111 18 utilis ratio 53 hic
p. 112 19 notandum p. 301 54 …
p. 113 20 terribilis sententia p. 315 55 de declinatione dextre aut sinistre
p. 114 21 optima comparatio p. 324 56 de sancto Ieronimo
p. 119 22 usque hic p. 325 57 optima ratio
p. 121 23 utilis ratio p. 334 58 optimus
p. 129 24 utilis ratio p. 361 59a sententia
p. 139 25 optima ratio 59b sententia
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26 terribilis sententia p. 363 60 quia paulus diminutiuum est


27 de ebrietate p. 382 61 utilis ratio
p. 141 28 de Cornelio p. 385 62a sententia
29 utillima ratio 62b sententia
30 optimum exemplum p. 394 63 et hic
p. 142 31 de latrone p. 396 64 … …
32 utilis … 65 semel locutus est deus
p. 144 33 utilis quaestio p. 398 66 usque hic
p. 156 34 utilis ratio p. 402 67 utilis ratio
p. 165 35 de manus inpositione

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Rom, BAV, Pal. lat. 246


– Online-Digitalisat unter Bibliotheca Laureshamensis –

fol. 5v de Abbacuc libro XI Hab 3,5–6 Moralia in Iob XI 10


de Osee lib. XI Os 7,8 XI 10
fol. 8r de Hieremia proph. lib. XI Lam 2,5 XI 16
fol. 12r de Hier. lib. XI Ier 31,30 XI 33
fol. 15r de Esaia lib. XI Is 64,6 XI 44
fol. 37r de Esaia lib. XIII Is 18,1 XIII 10
fol. 37v de Hierem. lib. XIII Lam 1,2 XIII 12
fol. 39r de Osee lib. XIII Os 4,2 XIII 17
fol. 51v de Esaia lib. XIIII Is 47,1 XIV 17
fol. 59r de Hieremia lib. XIIII Ier 14,8 XIV 41
fol. 60r de Hieremia lib. XIIII Ier 5,4 XIV 46
fol. 72v de Zacharia proph. lib. XV Za 5,2 XV 14
fol. 73r de Esaia proph. lib. XV Is 59,5 XV 15
fol. 78r de Hiezech. lib. XV Ez 24,7 XV 31
fol. 83r de Ezechiel proph. lib. XV Ez 18,2 XV 51
fol. 86v de Hierem. lib. XV Lam 1,12 XV 57
fol. 87v d. Ezech. lib. XV Ez 32,22 XV 59
fol. 103v de onagro in {lib.} Iob {XVI} sub hereticorum spetie Iob 24,5 XVI 47

Rom, BAV, Pal. lat. 249


– Online-Digitalisat unter Bibliotheca Laureshamensis –

fol. 15v de Ezechi. li. XXXII Ez 16,4 Moralia in Iob XXXII 14


fol. 31v in Hieremia proph. lib. XXXII Lam 4,7 XXXII 22
fol. 33v d. Ezechiele proph. lib. XXXII Ez 31,8 XXXII 23
fol. 34r lib. XXXII de Ezechih. Ez 28,12 XXXII 23
fol. 35v de Esaia lib. XXXII Ez 34,5 XXXII 23
fol. 38r de ... lib. XXXIII Is 13,2 XXXIII 1
fol. 42r de Esaia proph. lib. XXXIII Is 42,3 XXXIII 3
fol. 45r de Esaia lib. XXXIII Is 44,4 XXXIII 5
fol. 49r de Esaia proph. lib. XXXIII Am 7,4 XXXIII 6
fol. 53r d. Esaia lib. XXXIII Is 5,18 XXXIII 10
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fol. 53v de Esaia lib. XXXIII Is 11,15 XXXIII 10


fol. 54r de Esaia lib. XXXIII Is 12,3 XXXIII 10
fol. 65r de Hieremia lib. XXXIII Ier 15,19 XXXIII 17
fol. 76r d. Hierem. lib. XXXIII Lam 3,64 XXXIII 28
fol. 79v de Naum proph. lib. XXXIII Na 1,10 XXXIII 31
fol. 84v de Iohel lib. XXXIII Ioel 1,44 XXXIII 37
fol. 85v de Hierem. lib. XXXIII Ier 1,13 XXXIII 37
fol. 88v Danihele prop. lib. XXXIIII Dn 8,25 XXXIV 2
fol. 89r de Hierem. lib. XXXIIII Os 2,6 XXXIV 2
fol. 91r d. Osee proph. lib. XXXIIII Os 7,9 XXXIV 3

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190   Martin Hellmann

fol. 99v de Heremia proph. lib. XXXIIII Ier 50,23 XXXIV 12


fol. 102v d. Esaia lib. XXXIIII Ier 51,7 XXXIV 15
de Hierem. lib. XXXIIII Lam 4,1 XXXIV 15
fol. 103r de Abbacuc lib. XXXIIII Hab 2,6 XXXIV 15
fol. 114r de Danihele lib. XXXIIII Dn 4,26 XXXIV 23
fol. 119v d. Ezechih. lib. XXXV Ez 1,25 XXXV 2
fol. 132v de Abbacuc lib. XXXV Hab 3,5–6 XXXV 14

Rom, BAV, Pal. lat. 211


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In der ersten Spalte der nachstehenden Übersicht steht die korrespondierende Nummer in den über-
einstimmenden Aufnahmen der Bibliothekskataloge A15, B59 und Ca187 (vgl. Häse 2002, 90, 118,
147 f.), in der zweiten Spalte die Nummer in der Aufnahme der Capitulatio auf fol. Av, dann folgen die
Folionummern der Textanfänge mit den Kurzbezeichnungen der Augustinus-Texte und schließlich die
tironischen Vermerke.

3 1 1r Epist. 137 5r dimisi


4 2 10r Epist. 98
5 3 14v Epist. 127 18r incipe
6 4 19r Epist. 138 non habeo 20r incipe 22v incipe 24r incipe 26r incipe
7 5 27r Epist. 243 30r incipe
8 6 31r Epist. 92 33r incipe
9 7 33v Epist. 143
10 8 38v Epist. 147
11 9 62v Epist. 16
12 10 63v Epist. 17
13 11 65v Epist. 215
14 12 68v Epist. 102
15 13 82r Epist. 152
16 14 83r Epist. 153 90r dimisi
17 15 94r Epist. 149 98v dimisi 104v dimisi 106r dimisi
18 16 106v Epist. 130 109v dimisi 113v dimisi
19 17 117r Regula 2 non habeo 118r dimisi
20 18 121r Sermo 355 non habeo 121v dimisi 122r dimisi 124r dimisi
21 19 124v Sermo 356 non habeo
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Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie   191

Rom, BAV, Ottob. lat. 259, fol. 1r–v


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Hymnus Paulini patriarchae de karitate valde Ein sehr guter Hymnus des Paulinus von Aquileia
bonus. über die Liebe.

1. Amor Christi dulcis almus et suavis, Wahrlich süß und hold und fromm und glücklich,
pius felix castus iustus et beatus, selig, keusch, gerecht und achtsam, mild und tief
carus mitis simplex altus et aeternus, und einfach, ewig ist der hier gelobte Amor Christi
omni plenus caritate bonitatis, und erfüllt von aller Wertschätzung des Wohlstands
super omnes sine fine caelos manet. bleibt er über allen Himmeln ohne Ende.

2. Ille mentes quas suaviter incendit Jene Herzen, die er süß entfacht, die reinigt
a rubigine peccati purgat atque er vom Rost der Sünde und vergoldet sie und
macht sie schön, auf eine Art wie zarter Schmelz, ja
aurat, more liquefacti pulchrum facit,
löst das Blei, ja schmilzt das Zinn, erhitzt die
plumbum solvit, liquat stannum, solem urit
Sonne, wie ein goldnes Kügelchen lässt er sie
velut aureum globellum fulges <centem>
funkeln.

3. Aureum dum torquit arcum mittit ternas Während er den goldnen Bogen spannt, da schießt
super Venerem sagittas faculentam er schon auf Venus, welche Fackeln trägt, drei
quae aru<n>dines argenti superductas Pfeile, welche Silberschäfte, einen Überzug aus
habent bracteas mucronem sed acutum Blattgold, aber eine scharfe Spitze haben,
quod resecat omne vulnus vitiorum. weil er jede Sündenwunde so beschneidet.

4. Hic superbiam replicat potatorum Hier weist er zurück den Übermut der Trinker,
quae est omnium regina vitiorum der als Herrscher aller Laster gilt, aus dessen
cuius surgit de radice venenosum Wurzel auch der ganze giftige, verfluchte
omne germen maledictum peccatorum Keim der Sünden aufgeht, doch genau denselben
quod detruncat vero amor mox virtutum. stutzt die Tugendliebe schon zurück bis unten.

Hier gibt er ein Festbankett dem Geist zur Stär-


5. Hic convivium praeparat spiritale, kung, einen Schmaus im Kreis des reinen Herzens,
in circuito perfectae mentis gulas ja ein heiliges Gedeck von vierfachem Genuss, er
aepularum, quater dapis mensam sacram, stellt die Becher auf, schenkt honigsüß den Wein
ponit pocula, mellito tradit vinum, ein, bringt Tabletts, die voller gelbem Honig
stipat fercula flaventi plena favo. stehen.
6. Sanctus candido in throno sedet agnus, Heilig sitzt das Lamm auf seinem weißen Throne,
ille species sacratas cunctas manu segnet alle seine heiligen Geschöpfe
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benedicit et invitat ad vescendum mit der Hand, lädt ein zum Essen jene, die mit
eius sanguine signati qui sunt ostro seinem Blut als Purpurfarbe ausgezeichnet,
qui sunt veste nuptiali decorati. jene, die mit einem Hochzeitskleid geziert sind.

7. Ibi sedent purpuratae tres sorores, Dort in Purpurkleidern sitzen die drei Schwestern,
habent singule coronas aureolas, haben jeweils ihre goldverzierte Krone,
habent crines de argento blacteolas haben ferner Silberhaare, die in Blattgold
investitos et vermiculis sub vittis eingefasst und mit geknüpften Bändern auf die
super summum religatos frontem strictim. hohe Stirn gestreng zurückgebunden wurden.

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192   Martin Hellmann

8. Karitas vocatur una maior natu. Caritas, so heißt die älteste von ihnen.
Ipsa secus agnum tenet principatum. Abgeseh‘n vom Lamm hat sie die Vorrangstellung.
Alterae Spes atque Fides vocitantur. Spes und Fides nennen sich die andern beiden,
Ambe tales iuxta pedes agni sedent. die dem Lamm zu Füßen ihre Plätze haben.
Tres victoriae per manus palmas tenent. In den Händen halten sie drei Siegespalmen.

9. Stat Virginitas a dextris quae violis Rechts da steht Virginitas und trägt in Lilien
mixtis liliis insertis blacteolis mit in Blattgold eingefassten Veilchen oben
numquam florem marescentem super summum eine Blume, welche nie verwelkt, mit Wurzel
gestat evulsum coronam pretiosam als die teure Krone, die sie aus der Hand des
quam de manu sumpsit agni gloriosi. hochgerühmten Lamms hat in Empfang genom-
men.

10. Inperterrita stat Fides triumphale Unerschrocken steht die Fides da, doch kräftig
portat tropheum sed fortis. De rosetis stemmt sie hoch die Siegtrophäe. Blütenkränze
et purpureis rosellis florulenta halten sie aus rosa und aus purpur Röslein
habent serta super caput agni tincta übers Haupt des Lamms, die mit dem Blut gefärbt
de cruore quem ab arce crucis fudit. sind, das es von der Kreuzeshöhe hat vergossen.

11. Abstinentia pallenti sub aspectu Abstinentia mit ihrem bleichen Antlitz


Spei dextera retentans stricta manu, weist mit kampfbereiter Rechten Spes zurück, sie
ibi ante thronum agni laetabunda schöpfte derweil vor dem Thron des Lamms voll
hausit hydria de fonte gemmis picta, Freude aus dem Quell mit edelsteinverziertem
quae manabat desub throno vivas undas. Kruge, welcher rauschend unterm Thron lässt
Wasser fließen.

12. Tulit angeli de manu deauratum Nahm aus Engels Händen einen goldnen Teller,
discum omnibus repletum bonis amplo angefüllt mit all den guten Sachen, brachte
dono dei cumulatum ore sacro ihn dem Lamm gehäuft als reiche Gottesgabe
laudis agno referebat et prostrata mit geweihten Lobesworten, vor ihm zu ihm
ante sedem clara voce adorabat. betete ergeben sie mit heller Stimme.

13. Largitas benigno usu gaudebunda Voller Freude über ihre Nützlichkeit stand
latere subnexa stabat Karitatis Largitas ganz nah der Caritas zur Seite,
aurea sibi donatam possidebat weilte golden auf dem Hof, der ihr gestiftet,
aulam trino super angulo fundatam, auf dem Dreiecksfundament errichtet wurde,
erant fusiles et septem super basem. ferner standen sieben Güsse auf der Basis.

14. Per pacifica gestabat nam canistros Durch das Friedensreich trug sie die Körbe nämlich,
plenos garbis liliorum et violis welche voller Liliengarben, voller Veilchen,
atque rosolis rubratis pulchriores und mit rotgefärbten Röschen noch verschönert,
cuthii maniplis seu cinnamoma auch mit Palmstrauchbündeln und gewissen Sträu-
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redolentibus virgultis myrrhae flore. chern, die nach Zimt und die nach Myrrheblüten
duften.

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Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie   193

15. Pax Humilitas me castuoso contra Pax, Humilitas, die reizenden Geschwister,


stabant vultu et sorores blandientes standen beide da vor mir mit keuscher Miene,
subsistebant ne caderent quia gressu hielten ein, um nicht zu fallen, denn sie stiegen
satis tenero scandebant, saliendum vorsichtig genug im Gang hinauf und stützten
nusquam utra fulciebant forti manu. sich mit starker Hand, um nirgendwo zu stolpern.

16. Magna turba circa thronum dealbati Um den Thron des weiß Getünchten standen viele,
assistebat quae feliciter clamabant welche glücklich riefen Heil sei unserm Gott und
salvum deo nostro virtus et potestas Tugendkraft und Macht sei ihm, und Zier und Ehre
agno decus honor sancto super thronum sei dem Lamm, dem heiligen, das auf dem Throne
qui sedet et regnat trinus unus deus. oben sitzt und herrscht als dreifach eine Gottheit.


1.5  caelos manet wiederholt 2.4  liquat belegt bei Diefenbach – stannum] CNT  113,76 stagnum −
solem] Endungsnote -um 4.1  potatorum] unbelegte tironische Note mit der Organik P(o)-torum 5.1 
spiritale] tironische Note spiritalem 5.2  gulas] auch gulae möglich 5.3  dapis] auch dapes möglich
8.4  tales] CNT  5,47 talis 13.5  erant] CNT 4,86 erat über der Zeile ergänzt 14.3  rubratis habe ich aus
rhythmischen Gründen für rubricatis angenommen, die Handschrift hat rubriatis 14.4  cuthii für cuci
(indecl.) 15.2  blandientes] CNT 115,21 blandus mit der Endung -entes 15.3  subsistebant] CNT 47,2 mit
abweichender Endungsposition caderent] Endungsnote -re oder -runt 16.1  dealbati] de alb-i tironisch,
ati über der Zeile langschriftlich ergänzt.

Literatur
Berschin (2005): Walter Berschin, Mittellateinische Studien, Bd. 1, Heidelberg.
Bischoff (1967): Bernhard Bischoff, Mittelalterliche Studien, Bd. 2, Stuttgart.
Bischoff (²1989): Bernhard Bischoff, Die Abtei Lorsch im Spiegel ihrer Handschriften, Geschichts-
blätter Kreis Bergstrasse, Sonderband 10, Lorsch.
Bischoff (1998): Bernhard Bischoff, Katalog der festländischen Handschriften des neunten
Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen) Teil 1. Aachen/Lambach, Wiesbaden.
Bischoff (2004): Bernhard Bischoff, Katalog der festländischen Handschriften des neunten
Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen) Teil 2. Laon/Paderborn, Wiesbaden.
Bruckner (1935-1978): Albert Bruckner, Scriptoria medii aevi helvetica, 14 Bde., Genf.
Châtelain (1900): Émile Châtelain, Introduction à la lecture des notes tironiennes, Paris.
Contreni (2003): John J. Contreni, „What was Emperor Augustus Doing at a Carolingian Banquet
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(Anth. Lat.2 719f )?“, Rheinisches Museum für Philologie, N. F. 146, 372–394.
Diefenbach (1857): Lorenz Diefenbach, Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis,
Frankfurt a. M.
Häse (2002): Angelika Häse, Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus Kloster Lorsch. Einleitung,
Edition und Kommentar, Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 42, Wiesbaden.
Hellmann (2000): Martin Hellmann, Tironische Noten in der Karolingerzeit am Beispiel eines Persius-
Kommentars aus der Schule von Tours, MGH Studien und Texte 26, Hannover.
Hellmann/Weidmann (2011): Martin Hellmann/Clemens Weidmann, „Utilis ad legendum. Tironische
Noten in zwei Augustinushandschriften aus Bobbio“, Scriptorium 65, 3–20 und Tafel 1–12.

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194   Martin Hellmann

Hoffmann (1999): Hartmut Hoffmann, „Bernhard Bischoff und die Paläographie des 9. Jahrhunderts“,
Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters 55, 549–590.
Hoffmann (2004): Hartmut Hoffmann, Schreibschulen des 10. und 11. Jahrhunderts im Südwesten
des Deutschen Reichs, Textband, MGH Schriften 53,1, Hannover.
Kautz (2011): Michael Kautz, „Vatikan, BAV, Ottob. lat. 259“, http://www.ub.uni-heidelberg.de/
digi-pdf-katalogisate/sammlung53/werk/pdf/bav_ott_lat_259.pdf (Stand: 10.3.2014).
Kautz (2012): Michael Kautz, „Kiel, Universitätsbibliothek Cod. ms. KB 144“, http://www.ub.uni-
heidelberg.de/digi-pdf-katalogisate/sammlung50/werk/pdf/ubki_codmskb144.pdf (Stand:
10.3.2014).
Palmer (1998): Nigel F. Palmer, Zisterzienser und ihre Bücher. Die mittelalterliche Bibliotheksge-
schichte von Kloster Eberbach im Rheingau unter besonderer Berücksichtigung der in Oxford
und London aufbewahrten Handschriften, Regensburg.
Schmitz (1891): Wilhelm Schmitz, „Notenschriftliches aus der Berner Handschrift 611“, in: Commen-
tationes Woelfflinianae, Leipzig, 7–13 und Tafel 1–2.
Schmitz (1893): Commentarii Notarum Tironianarum, ed. Wilhelm Schmitz, Leipzig.
Tangl (1908): Michael Tangl, „Die Tironischen Noten des Cod. Berol. lat. quart. 150“, Archiv für
Stenographie 59, 97–105.
Wilmart (1937): André Wilmart, Codices Reginenses latini, Bd. 1, Rom.
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Matthias Becher
Ut monasteria … secundum ordinem
regulariter vivant
Norm und Wirklichkeit in den Beziehungen zwischen Herrschern
und Klöstern in der Karolingerzeit

Im Sommer 774 war Karl der Große als Sieger über die Langobarden aus Italien ins
Frankenreich zurückgekehrt. Ende August weilte er in Speyer. Diese Gelegenheit
nahm Abt Gundeland von Lorsch wahr, reiste in die Bischofsstadt und bat den König,
an der Weihe der neuen Klosterkirche teilzunehmen.1 Der Herrscher entsprach dem
Wunsch des Abtes: Am 1. September 774 wurde die Lorscher Klosterkirche in Karls
Beisein feierlich vom zuständigen Ortsbischof Lul von Mainz geweiht. So harmonisch
dieser Verlauf erscheint, lediglich zwei Jahre zuvor hatte die Existenz der Abtei noch
auf dem Spiel gestanden: Graf Heimerich, der Sohn des Klostergründers, hatte erb-
rechtliche Ansprüche auf Lorsch gestellt. Um diese Forderung abzuwehren, hatte
Gundeland sich im März 772 an das Königsgericht gewandt, das ihm in allen Punkten
Recht gegeben hatte. Heimerich insistierte nicht weiter und gab seine Ansprüche auf.
Kurz darauf unterstellte der Abt seine geistliche Gemeinschaft Karl dem Großen, um
endgültig sicher vor den Ansprüchen des Grafen zu sein. Der König wiederum nahm
das Kloster in seinen Schutz und verlieh ihm das Recht der freien Abtswahl sowie
Immunität.2
Dieses hier nur stark verkürzt wiedergegebene Geschehen demonstriert schlag-
lichtartig, wie gefährdet Klöster der Karolingerzeit waren und wie abhängig sie
sowohl von ihrer adligen Gründerfamilie als auch von übergeordneten kirchlichen
Autoritäten waren, vor allem aber, wie wichtig der König für die Stellung einer Abtei
sein konnte. Er erscheint als Garant monastischer Freiheit; so rettete Karls Eingreifen
Lorsch, wie eben skizziert, vor dem Zugriff der adligen Gründerfamilie und damit vor
einem ungewissen Schicksal. Von einer solchen Betrachtungsweise, so sehr sie sich
im Einzelfall einmal aufdrängen mag, ist die Forschung jedoch längst abgekommen.
Nicht immer, so hat Franz Felten gezeigt, wirkte der König positiv im Sinne der ihm
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anvertrauten Klöster und des Mönchtums insgesamt, und auch seine übergeordnete
Position als Inhaber dessen, was man früher als Staatsgewalt bezeichnet hätte, wurde
von der Forschung relativiert.3 Aber immerhin drängte er auch auf Reformen in diesem

1 Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, c. 7, 282.


2 MGH DD Kar. 1, 97–99; Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, c. 4, 274–275.
3 Felten 1980. Dabei gilt die Karolingerzeit als Epoche einer starken Königsgewalt; anders etwa
Nitschke 2001.

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196   Matthias Becher

Bereich, wie Josef Semmler, der im Oktober 2011 verstorbene Nestor der Erforschung
des karolingischen Mönchtums, nicht müde wurde zu betonen.4 Es ging den Karolin-
gern um die Durchsetzung der Regula Benedicti als einzige Mönchsregel im Franken-
reich, in dem in dieser Beziehung eine große Vielfalt herrschte. Wie durchschlagend
die Bemühungen der Herrscher waren, darüber gehen die Auffassungen in der For-
schung jedoch weit auseinander.5 Soviel zeichnet sich jedoch ab: Die Beharrungs-
kraft derjenigen, die an den althergebrachten Lebensformen festhalten wollten, war
oft stärker als der Wille zur Veränderung. Der Herrscher konnte zwar ambitionierte
Vorschriften erlassen, aber letztlich verfügte er gar nicht über die organisatorischen
Voraussetzungen, um seine Vorstellungen auf Dauer flächendeckend durchzusetzen.
Die Frage, welcher Regel die Mönche folgen sollten, war aber nur ein Teil des Pro-
blems: Die innere Ordnung der karolingischen Klöster war nicht nur von der gerade
angesprochenen großen Vielfalt von Vorschriften geprägt, sondern auch von der
Tatsache, dass diese in vielen Konventen nicht befolgt wurden. Das lag vor allem an
ihren Äbten, die eigentlich die innere Ordnung eines Klosters zu gewährleisten hatten.
Doch sie gaben sich oft einem weltlichen Leben hin, gingen auf die Jagd und zogen
sogar in den Krieg, mehr noch: Sie veruntreuten und verschleuderten den Besitz ihres
Klosters.6 Diese Missstände wurden als skandalös empfunden und manche waren es
wohl auch. Dennoch war es ein zähes Ringen, jeden einzelnen Konvent und damit
das Mönchswesen insgesamt zu reformieren. Dass die Klöster oft Widerstand leiste-
ten und an ihrer hergebrachten Lebensform festhalten wollten, bedarf wohl keiner
näheren Begründung und wird im Folgenden daher auch nicht thematisiert. Viel-
mehr geht es um die Karolinger selbst, die zwar die Reformen einerseits anstießen
und förderten, aber andererseits viele Klöster politisch instrumentalisierten, etwa zur
Ausstattung ihrer Getreuen. Damit leisteten sie einen Beitrag zu der Verweltlichung,
die sie eigentlich bekämpfen wollten. Angesichts dieser Diskrepanz zwischen Norm
und Wirklichkeit scheint es angemessen, die wichtigsten Aspekte des Themas erneut
in den Blick zu nehmen: die Verbindung der Karolinger zu den Klöstern, ihre Versu-
che, das monastische Leben stärker zu reglementieren und zu vereinheitlichen, aber
auch der Rückgriff auf das Klostergut als Machtressource bis hin zur Einsetzung von
Laienäbten.
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4 Vgl. Semmler 1959; ders. 1965; ders. 2000.


5 Vgl. grundsätzlich etwa Felten 1992/93; zur Frage, wie wirksam die von Benedikt von Aniane an-
gestoßenen Reformen Ludwigs des Frommen gewesen sind, vgl. Geuenich 1989; Kettemann 1999;
Semmler 1965; Felten 1980.
6 Dazu MGH Conc. 2, 1, 290, Nr. 38, can. 25; siehe auch grundlegend Semmler 1965; Felten 1980.

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Ut monasteria … secundum ordinem regulariter vivant   197

1 Zu den Anfängen der engen Verbindung zwischen


den Karolingern und einzelnen Klöstern
Zum Zeitpunkt der Gründung von Lorsch hatten die Karolinger gerade einmal ein
gutes Jahrzehnt die Königwürde inne. Bis dahin waren sie zwar das mächtigste, aber
eben nur ein Adelsgeschlecht neben anderen gewesen. Ihr Aufstieg im 8. Jahrhun-
dert war eng mit der direkten Kontrolle über zentrale Klöster des Frankenreiches ver-
knüpft gewesen. Wie viele andere adlige Familien der ausgehenden Merowingerzeit
gründeten sie Klöster zur Rettung ihres Seelenheils, zur Pflege ihrer Memoria und zur
besseren Strukturierung ihres Besitzes. Bald aber griffen sie auch darüber hinaus.
Pippin der Mittlere und seine Frau Plektrud übergaben dem Missionserzbischof Willi-
brord das auf ihrem Besitz gegründete Kloster Echternach und räumten diesem auch
das Recht der freien Abtswahl ein, sofern der Gewählte ihnen und ihren Erben die
Treue halte und unter ihrem Schutz verbleibe.7 Auf ähnliche Weise privilegierten die
beiden im Jahr 714 das Kloster Susteren.8 Pippins Sohn Karl Martell bediente sich
dann verschiedenster Klöster zur Stabilisierung seiner Macht, indem er Verwandte
und Gefolgsleute an ihre Spitze stellte. Das beste Beispiel dafür ist Hugo, ein schon
früh zum Priester geweihter Neffe Karl Martells, der die Abteien Saint-Denis, Saint-
Wandrille und Jumièges leitete sowie den Bistümern Paris, Rouen, Bayeux, Lisieux
und Avranches vorstand. Karl Martell hatte ihn damit zur wohl mächtigsten Person in
Neustrien gemacht und zu einer Art Statthalter im westlichen Reichsteil. Den monas-
tischen Idealen – wie bescheiden diese auch immer gewesen sein mögen – entsprach
Hugos Stellung keinesfalls. Weder stammte er aus den Konventen seiner Klöster, noch
war er von diesen gewählt worden. Zwar war er ein Kleriker, weshalb die Bezeichnung
Laienabt verfehlt wäre, aber das von Franz Felten geprägte Wort vom „irregulären
Abt“ trifft auf ihn wohl zu.9
Karl Martell griff also auf viele Klöster zu, insbesondere in Neustrien, das sich
ihm lange widersetzt hatte. Die übrigen Äbte mussten vermutlich eindeutig Stellung
beziehen – und zwar für den Hausmeier, wollten sie ihr Amt behalten. In diesen
Kontext ist möglicherweise das Testament des Abtes Widerad von Flavigny aus dem
Jahr 719 einzuordnen, der verfügte, dass nach seinem Tod kein Bischof oder anderer
kirchlicher Würdenträger die Herrschaft (dominatus) über sein Kloster ausüben solle;
zum Garanten dieser Bestimmung berief er den Hausmeier, der damit gleichsam zum
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Herrn des Klosters wurde.10 Dies äußerte sich auch darin, dass der Konvent für Karl,

7 MGH DD Arn., 14–15, Nr. 5.


8 Ebd. 16–17, Nr. 6.
9 Felten 1980, 47.
10 Diplomata, ed. Pardessus, 399, Nr. 587; beziehungsweise Formula Salica Merkiliana, ed. Zeumer,
480, Nr. 43; zu der hier verwandten gewundenen Formulierung zur Bezeichnung des Hausmeiers vgl.
Semmler 1959, 4.

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seine Familie und sein Heer beten sollte. Auch die Klöster St. Gallen und Honau nahm
er unter seinen Schutz.11 Der Hausmeier steigerte damit seine Macht – die Frage, wie
die Mönche dieser Konvente ihr Leben gestalten sollten, war für ihn wohl nicht von
Interesse.
Eine noch geringere Rolle spielte sie für seine Vertrauten, die er mit der Leitung
von Klöstern betraute. Dafür bietet die Chronik der Äbte von Saint-Wandrille, die Gesta
abbatum Fontanellensium aus dem 9. Jahrhundert, eine Vielzahl von Beispielen. Ein
Abt soll ein Drittel des Klostergutes an seine Verwandten und an Leute des Königs –
gemeint war hier sicher der Hausmeier – vergeben haben.12 Ein anderer führte das
Leben eines adligen Laien und ging etwa mit einer Meute Hunde auf die Jagd.13 Ein
weiterer Abt war Bischof Raginfrid von Rouen, der Taufpate von Karl Martells Sohn
Pippin. Wegen seiner Amtsführung verklagten ihn die Mönche nach Karls Tod bei
Pippin und erhielten Recht: Der Hausmeier entzog Raginfrid die Abtei wieder.14 Seine
geistliche Verwandtschaft mit Pippin bot dem Abt also keinen Schutz vor der Abset-
zung. Aber nicht nur dies ist bemerkenswert, sondern auch die Tatsache, dass er
auf die Klagen des Konvents hin abgesetzt wurde. Zum ersten Mal scheint in Saint-
Wandrille also die Frage nach der inneren Ordnung eines Klosters eine größere Rolle
gespielt zu haben. Dieser Wandel trat anscheinend mit dem Wechsel von Karl Martell
zu seinem Sohn Pippin ein, der – möglicherweise unter dem Einfluss der angelsäch-
sischen Mission mit Bonifatius an der Spitze – die Verhältnisse völlig anders sah als
sein Vater.
Diese neue Sichtweise auf die kirchlichen Verhältnisse fand ihren ersten bedeu-
tenden Niederschlag im sogenannten Concilium Germanicum. Es wurde wohl im Jahr
743 von Karls ältestem Sohn Karlmann, dem als Hausmeier vor allem der Osten des
Frankenreiches zugefallen war, zusammen mit Bonifatius abgehalten. Im Mittel-
punkt standen Maßnahmen zur Verbesserung der Kirche im Allgemeinen: Neben der
Rückerstattung entfremdeter Kirchengüter ging es insbesondere um die Lebens- und
Amtsführung der Priester. Die Klöster wurden nur kurz und knapp thematisiert: Alle
sollten die Regel des heiligen Benedikt einführen.15 Allem Anschein nach wurde diese
Vorschrift aber nicht befolgt – warum auch, gab es doch im Frankenreich eine reiche
monastische Tradition, die lange vor der Lebenszeit Benedikts von Nursia eingesetzt
hatte und sich auf Persönlichkeiten wie den Heiligen Martin berufen konnte, den
Schutzheiligen der Franken. Auch andere auf dem Concilium Germanicum formulierte
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Forderungen wurden nur zurückhaltend in die Tat umgesetzt. Dies gilt insbesondere

11 Semmler 1959, 4; Walahfrid Strabo, Vita sancti Galli, ed. Krusch, 319; vgl. auch Ratpert, Casus s.
Galli, ed. Steiner, c. 3, 160–162; dazu Mayer 1952, 489–491; MGH DD Arn., 45, Nr. 20.
12 Gesta abbatum Fontanellesium coennobii, ed. Lohier/Laporte, c. VI, 1, 48.
13 Ebd. c. VII, 57.
14 Ebd. c. VIII, 2, 62.
15 MGH Conc. 2,1, 4, Nr. 1 can. 7.

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Ut monasteria … secundum ordinem regulariter vivant   199

für die Rückgabe der Kirchengüter, die Karlmanns Bruder Pippin auf seiner Synode in
Soissons 744 für seinen Reichsteil erst gar nicht eigens thematisieren ließ – zu groß
waren vermutlich die Widerstände seiner Gefolgsleute, die vor allem davon betrof-
fen gewesen wären.16 Aber nicht immer nahm Pippin auf diese Rücksicht, wie sein
bereits erwähntes Eingreifen in Saint-Wandrille zugunsten der Mönche lehrt. Er legte
im monastischen Bereich anscheinend auch Wert auf eine korrekte Amtsführung der
„legitimen“ Äbte: Ihnen wurde untersagt, persönlich an Kriegszügen teilzunehmen;
ihre bewaffneten Aufgebote waren Pippin natürlich trotzdem willkommen.
Auch nach seiner Thronbesteigung 751 griff Pippin in die inneren Verhältnisse
der Klöster ein. Das Konzil von Ver 755 forderte, dass das monastische Leben sich an
der Regel zu orientieren habe.17 Gemeint war vermutlich die Regula Benedicti. The-
matisiert wurde auch, wer für das Festhalten an hergebrachten Lebensformen verant-
wortlich war: Widersetzliche Äbte sollten zuerst vom Bischof, dann vom Metropoliten
ermahnt und, falls dies ohne Wirkung blieb, schließlich von einer Synode abgesetzt
werden.18 Außerdem wurde das Recht der Äbte, ihre Mönche zum Verbleiben in ihrem
Kloster zu verpflichten, an einem entscheidenden Punkt eingeschränkt. Es sollte nur
gelten, sofern die Äbte ihren Amtspflichten nachkamen, falls nicht oder falls das
Kloster in Laienhand geraten war, durften die Mönche in einen anderen Konvent
wechseln – allerdings nur mit Einverständnis des Bischofs.19 Sicherlich im Einverneh-
men mit dem König griff das Konzil also die Forderungen des Concilium Germanicum
hinsichtlich der Lebensführung auf und ging damit deutlich über die Position der
Synode von Soissons hinaus.
Pippin gab somit zwar Normen für das monastische Leben vor, war aber selbst
nicht ganz konsequent bei ihrer Verwirklichung. So verpflichtete er die Mönche des
762 von ihm zusammen mit seiner Gemahlin wiedererrichteten Klosters Prüm nicht
ausdrücklich auf die Benediktsregel, sondern auf die althergebrachte Lebensweise
dieser Abtei.20 Im Übrigen nahm er das Kloster unter seinen Schutz und verlieh ihm
das Recht der freien Abtswahl. Andere Klöster wie Honau und Saint-Calais strebten
ebenfalls nach diesem Rechtsstatus. Dem Ausmaß der karolingischen Klosterherr-
schaft wird die Fokussierung auf diese Schutzfunktion freilich nicht ganz gerecht.
Wie schon Karl Martell betraute auch Pippin vor allem seine Getreuen – insbesondere
Angehörige der Hofkapelle – mit der Leitung wichtiger Abteien.21 Am bekanntesten ist
sicher Abt Fulrad von Saint-Denis, der um 750 zusammen mit Bischof Burchard von
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Würzburg jene Gesandtschaft Pippins nach Rom leitete, die das Plazet des Papstes für

16 Ebd. 33–36, Nr. 4.


17 MGH Capit. 1, 33, Nr. 14.
18 Ebd. c. 6, 34, Nr. 14.
19 Ebd. c. 10, 35, Nr. 14.
20 MGH DD Kar. 1, 22, Nr. 16.
21 Vgl. Voigt 1917, 59–61; Fleckenstein 1959, 106–108.

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200   Matthias Becher

den sogenannten Dynastiewechsel aushandelte. Dafür förderte Pippin Saint-Denis


nach Kräften. Dies setzte sich auch nach Pippins Tod 768 unter dessen Söhnen Karl-
mann II. und Karl dem Großen fort.22
Also auch unter Pippin als König bestätigt sich, was wir für die Zeit der Haus-
meier bereits konstatieren konnten: die von der Forschung schon längst beobachtete
Diskrepanz von Norm und Wirklichkeit. Auf der einen Seite nutzte der Herrscher die
Klöster und insbesondere ihre Güter für die Ausstattung der eigenen Gefolgsleute. Auf
der anderen Seite unterstützte er die Forderung nach einem regelgemäßen Leben im
Sinne Benedikts von Nursia. Angesprochen waren hier nicht nur einfache Mönche,
sondern vor allem auch die Äbte, deren Aufgabe es schließlich war, in ihrem Konvent
auf die Einhaltung der Regel zu drängen. Diese moderate Haltung passt zu Pippins
sonstigen Positionen in vielen kirchenpolitischen Fragen: Er stand der Kirchenreform
vorsichtig aufgeschlossen gegenüber, solange diese seine Interessen nicht tangierte.

2 Karl der Große und die Klöster


Wie sein Vater nahm auch Karl der Große Klöster unter seinen Schutz: Hersfeld, Fritz-
lar, Ansbach, Charroux, Aniane, Ellwangen, Lorsch und viele andere mehr.23 Jedoch
benutzte auch Karl viele Klöster zur Ausstattung seiner Gefolgsleute und seiner
gelehrten Freunde, die an seinem Hof wirkten. Als herausragende Beispiele seien nur
Alkuin und Angilbert genannt. Alkuin erhielt schon bei seinem ersten Aufenthalt im
Frankenreich die Klöster Ferrières und Saint-Loup bei Troyes.24 796 erhielt er zudem
Saint-Martin in Tours und ein Jahr später Flavigny und Saint-Josse-sur-Mer.25 Angil-
bert, Alkuins Schüler und Partner von Karls Tochter Bertha, stand Saint-Riquier vor.
Selbst wenn diese Personen sich um ihre Konvente verdient gemacht haben sollten,
im Vordergrund stand doch der Aspekt der Versorgung beziehungsweise angemesse-
nen Belohnung durch den König. Noch 775 hatte der irische Gelehrte Cathwulf den
König in einem im Stile eines Fürstenspiegels gehaltenen Brief ermahnt, Klöster nicht
an Laien zu vergeben.26 Nicht immer hielt sich Karl der Große daran. Einer Formula
Salica Merkiliana zufolge klagten die Mönche eines Klosters über die Missstände, die
als Folge der Verleihung ihres Klosters als beneficium eingetreten waren.27
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22 Vgl. Felten 1980, 216–218.


23 Semmler 1959, 5–6, mit der Unterscheidung zweier Rechtsformen: Kommendation in den Schutz
des Königs, die schon in der Merowingerzeit vorkommt, und dem Übergang des Klosters mit allem
Zubehör in die dominatio des Königs; Semmler 1965, 720–721.
24 Bullough 2004, 342.
25 Zu St. Martin in Tours Schieffer 2010, 25; Hartmann 2004; Tremp u.a. 2004, 19–20; Sot 2002, 29.
26 Epistolae Karolini aevi II, ed. Dümmler, 503, Nr. 6; zu Chathwulf insgesamt vgl. Story 1999.
27 Formula Salica Merkiliana, ed. Zeumer, 261–262, Nr. 61.

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Ut monasteria … secundum ordinem regulariter vivant   201

All dies scheint den König nicht allzu sehr beeindruckt zu haben, obwohl er sich
doch viel stärker als sein Vater Pippin für ein korrektes monastisches Leben einsetz-
te.28 Entschiedener als dieser und als sein Onkel Karlmann erklärte Karl spätestens
seit 789 die Benediktsregel zur alleinigen Richtschnur. Weiter forderte er von den
Klostervorstehern, ihre Gemeinschaften nicht zu verlassen und auch das dormitorium
der Regel gemäß mit ihren Untergebenen zu teilen. Sie sollten sich um die Ausbil-
dung der Novizen kümmern, und niemand sollte um eines materiellen Vorteils willen
in ein Kloster aufgenommen werden. Erst recht sollte niemandem gestattet werden,
das Gebot der persönlichen Armut zu brechen und sich Besitz für den persönlichen
Gebrauch vorzubehalten.29
Nach der Kaiserkrönung, als Karl dem Zeugnis der Lorscher Annalen zufolge eine
Reform der inneren Verhältnisse seines Reiches anging, beschäftigte er sich erneut
mit dem Mönchtum. Auf der Aachener Reichsversammlung im Frühjahr 802 wurden
die Klostervorsteher aufgefordert, ihre Gemeinschaft gemäß der Regel zu leiten, den
Bischöfen zu gehorchen und deren Aufsichtsrecht zu akzeptieren. Aber damit nicht
genug: Die Einhaltung seines zentralen Anliegens ließ Karl von missi überprüfen: War
die Regel den Mönchen nur im Wortlaut bekannt, oder verstanden und vor allem rich-
teten sie sich bei ihrer Lebensführung auch nach ihr? Nachdem die missi im Oktober
des gleichen Jahres auf einer neuerlichen Reichsversammlung über ihre – allem
Anschein nach negativen – Erkenntnisse berichtet hatten, stand die Verbesserung
des monastischen Lebens erneut auf der Tagesordnung: Feierlich wurde die Regula
Benedicti verlesen und damit erneut als die allein verbindliche Regel anerkannt.30
Danach verfügte die Reichsversammlung, Mönche und Nonnen sollten künftig das
Chorgebet nach den Vorschriften der Benediktsregel feiern.31 Laut Josef Semmler
haftete „diesem Beschluß der Versammlung von Aachen in Anbetracht der damali-
gen Situation des fränkischen Mischregelmönchtums der Charakter des Revolutio-
nären“ an.32 Dies wird umso deutlicher, als die Versammlung die Benediktsregel zur
Grundlage ihrer Beschlüsse über wichtige Einzelfragen wie die Dauer des Noviziats
oder das Verhältnis von Abt und Konvent machte.33 Das Interesse des Kaisers an Ver-
änderungen im klösterlichen Bereich war also offenkundig. Allerdings gab es großen
Widerstand, weshalb Karls Vorstellungen nicht in die Tat umgesetzt wurden. So soll
Abt Adalhard von Corbie heftig widersprochen und sich einen hitzigen Wortwechsel
mit Benedikt von Aniane geliefert haben.34 Der Versuch, das Mönchtum zu vereinheit-
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lichen, geriet – wieder einmal – ins Stocken.

28 Vgl. Semmler 1965, 263–264.


29 Vgl. Admonitio generalis, ed. Mordek/Zechiel-Eckes/Glatthaar.
30 Annales Laureshamenses, ed. Pertz, a. 802, 38–39.
31 Chronicon Moissacense, ed. Kettemann, a. 802, 103.
32 Semmler 1965, 266–276.
33 MGH Capit. 1, c. 23–24, 108–109, Nr. 34; zur Einordnung vgl. Eckhardt 1955, 21–23.
34 Semmler 1963, 48–49.

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Die Vielfalt der monastischen Lebensformen muss Karl daher weiterhin als
Problem empfunden haben. 811, also fast zehn Jahre nach den Reformplänen von
802, verlangte er von den einzelnen Klöstern eine Erklärung darüber, welcher Regel
sie folgten. Gerade dieser Punkt entschied in den Augen des alten Kaisers über die
Frage, ob ein Abt als zuverlässig gelten konnte oder nicht.35 Da das gesamte Kapitular
in diesem Ton gehalten ist, hat François Louis Ganshof vermutet, der alte Kaiser sei
an diesem Tag ausgesprochen schlechter Stimmung gewesen.36 Auf jeden Fall spricht
ein tiefes Misstrauen gegen die Äbte aus dem Text: Es solle untersucht werden, ob
derjenige tatsächlich die Welt aufgegeben habe, der einfache Leute unter Hinweis auf
eine himmlische Belohnung beziehungsweise die Qualen der Hölle dazu bringe, ihre
Güter zugunsten der Kirche zu stiften, oder aber ob dieser nur an den eigenen Vorteil
dächte. Anscheinend gelangten gestiftete Güter oftmals nur formal in das Eigentum
der Kirche, faktisch aber in den Besitz der Äbte. Außerdem gab es noch eine zweite
unerwünschte Nebenwirkung dieser Praxis: Die auf diese Weise um ihr Hab und Gut
gebrachten Erben der frommen Stifter verarmten und wurden zu Dieben und Räu-
bern.37 Weiter war es anscheinend gerade unter Äbten recht verbreitet, den eigenen
Status nach Bedarf zu variieren. Einmal traten sie als Grundherren mit stattlichem
Gefolge auf, und ein andermal als Mönche, um nicht zum Kriegsdienst herangezogen
zu werden.38 Die Auswirkungen solcher Verhaltensweisen auf das Klosterleben liegen
auf der Hand und werden in dem Kapitular mit klaren Worten angesprochen.
Wohl als Reaktion auf diese Initiative Karls des Großen tagten 813 im Reich fünf
Synoden, die sich mit diesen und anderen Missständen in der Kirche befassten. Was
die Klosterregel anbelangt, so wollte man etwa auf der Mainzer Versammlung die
Benediktsregel für alle Klöster verbindlich machen, während man in Arles ledig-
lich anmahnte, überhaupt eine Regel zu befolgen.39 Insgesamt ging es damals wohl
vor allem um die „Minimalforderung […], nach seiner eigenen Regel, entweder der
kanonischen oder der monastischen zu leben.“40 Wie Lotte Kéry gezeigt hat, erhoffte
man sich 813 die Lösung dieser Probleme von den Bischöfen. Diese sollten die Äbte
kontrollieren und zwar nicht in erster Linie als deren kirchliche Vorgesetzte, sondern
im Auftrag des Herrschers.41 Dieses Kontrollrecht sollte freilich den Klosterbesitz in
keiner Weise tangieren, über den ja auch Karl – zumindest im Falle der ihm tradierten
Klöster – ganz selbstverständlich selbst verfügte.
Zusammenfassend wird man daher auch für Karl feststellen dürfen: Trotz des
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gestiegenen Interesses an einer Verbesserung des monastischen Lebens blieb es auch

35 Capitula, ed. Ganshof, c. 2, 21; vgl. Kéry 2006, 14.


36 Ganshof 1967, 16.
37 Capitula, ed. Ganshof, c. 5, 22.
38 Ebd. c. 8, 23; vgl. Felten 1980, 168–169, 171; Kéry 2006, 15.
39 MGH Conc. 2,1, can. 11, 1, 263, Nr. 36; ebd. Nr. 34, can. 6, 251.
40 Kéry 2006, 19.
41 Ebd. 30–40.

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unter ihm bei der schon mehrfach genannten Diskrepanz: Er hielt an seiner Herr-
schaft über die Klöster fest und drängte 802 zugleich auf eine Umgestaltung des klös-
terlichen Lebens im Sinne der Reform, ohne dabei einen offenen Bruch mit der tradi-
tionalistischen Partei um seinen Vetter Adalhard von Corbie zu riskieren. Die Bischöfe
für diese Zwecke einzubinden, war 813 wohl ein geschickter Schachzug des Kaisers,
entsprach dies doch sowohl dem Kirchenrecht als auch dem konkreten Eigeninte-
resse der Bischöfe. Ihnen eröffnete sich die Möglichkeit, sowohl die Idealvorstellun-
gen in den Klöstern ihrer Diözese durchzusetzen als auch diese insgesamt fester an
sich zu binden.

3 Ludwig der Fromme und die Klöster


Karls Bemühungen, das Klosterleben zu reformieren und die Benediktsregel zur allei-
nigen Richtschnur monastischen Lebens zu erheben, blieben zu seinen Lebzeiten
insgesamt erfolglos. Das mag auch damit zusammenhängen, dass sein Vetter Adal-
hard von Corbie einer seiner maßgeblichen Berater war. Wie schon erwähnt, war
Adalhard stärker an der Einhaltung althergebrachter Traditionen interessiert denn
an einer monastischen Reform. Nach Karls Tod 814 verwies sein Nachfolger Ludwig
der Fromme den alten Abt des Hofes. An seine Stelle traten Vertraute Ludwigs, die
diesen bereits während seiner Zeit als Unterkönig von Aquitanien beraten hatten. Für
monastische Angelegenheiten wurde nun Abt Benedikt von Aniane maßgeblich.
Unter Benedikts Einfluss ging Ludwig die Klosterreform bald sehr entschieden
an. Auf den Aachener Reformsynoden von 816 bis 819 wurde die Benediktsregel
für alle Mönche und Nonnen verpflichtend gemacht und diese konsequent von den
gemeinschaftlich lebenden Kanonikern und Kanonissen unterschieden. Diesen war
nach den in Aachen erlassenen institutiones zwar das gemeinschaftliche Leben, die
vita communis, vorgeschrieben, aber dem einzelnen Kanoniker war etwa privates
Eigentum gestattet.42 Alle geistlichen Gemeinschaften sollten sich für eine spezifi-
sche Regel entscheiden: Kanoniker- beziehungsweise Damenstifte für die Aachener
Kanonikerregel, Mönchs- beziehungsweise Nonnenklöster für die Benediktsregel
sowie für die von Benedikt von Aniane verfasste consuetudo. Spezielle missi monas-
tici kontrollierten die Durchführung der Aachener Beschlüsse, die keineswegs überall
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freudig aufgenommen wurden. Viele Konvente bedeutender Klöster, welche die Bene-
diktsregel nicht akzeptieren wollten, entschieden sich für die Umwandlung in ein
Kanonikerstift oder ignorierten die Anordnungen des Kaisers womöglich ganz, um
an ihren althergebrachten Regeln und Gewohnheiten festzuhalten. Jedenfalls lässt

42 MGH Conc. 2,1, can. 115, 397, Nr. 39; vgl. Semmler 1963.

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die Quellenlage oft kein Urteil über die Frage zu, ob ein Konvent eine Entscheidung
gemäß der in Aachen vorgegebenen Alternative traf.43
Auch jenseits der Gesetzgebung bemühte sich Ludwig der Fromme um eine För-
derung der Klöster im Speziellen und aller Kirchen im Allgemeinen. Laut Thegan ließ
er alle Privilegien erneuern, die seine Vorgänger den Kirchen ausgestellt hatten.44
Dabei verschmolzen Königsschutz und Immunität zu einer Einheit.45 Dazu kam ein
generelles Recht der freien Wahl des Vorstehers, wie es zumindest aus dem Capitulare
ecclesiasticum von 818/19 hervorzugehen scheint.46 Es mag sein, dass Ludwig sich
davon eine Besserung insbesondere der monastischen Zustände erhoffte, doch hielt
er sich selbst nicht an seine eigene Vorgabe. Ausgerechnet diejenigen Äbte, auf die
er sich bei der Durchsetzung der Klosterreform stützte, waren selbst oft gerade keine
Mönche.47 Ganz pragmatisch stand also die Loyalität des Klostervorstehers über den
allgemein eingeforderten benediktinischen Vorgaben. Allem Anschein nach war der
Kaiser sogar der erste Karolinger, der Laien im eigentlichen Sinne des Wortes mit der
Funktion des Abtes betraute.48 Damit kam gerade unter Ludwig eine Praxis auf, die
den monastischen Idealen ganz sicher nicht entsprochen hat.
Zudem wurde der Fortgang der Klosterreform auch von äußeren Faktoren negativ
beeinflusst. Anfang des Jahres 821 starb Benedikt von Aniane, und kurz darauf kehrte
Adalhard von Corbie nicht nur an den Hof zurück, sondern er wurde zusammen mit
seinem Bruder Wala zum wichtigsten Berater des Herrschers. Man kann bezweifeln,
ob die Reform des Mönchtums im Sinne Benedikts nach wie vor ganz oben auf dessen
Agenda stand. Dazu kommt, dass die seit der Geburt Karls des Kahlen 823 in Frage
gestellte Nachfolgeregelung alle anderen Angelegenheiten zu überlagern begann.
Ludwig bemühte sich, seinen Sohn aus zweiter Ehe zu Lasten seiner drei Söhne aus
erster Ehe mit einem Reichsteil auszustatten, und vernachlässigte dadurch anschei-
nend andere Vorhaben, insbesondere die kirchlichen Angelegenheiten. Die Kritik
an seiner Herrschaft wurde laut, gerade auch in kirchlichen Kreisen. So formulier-
ten einige Bischöfe um 825 brieflich eine vorsichtige Beanstandung des Laienabba-
tiats.49 Auf der dem Kaiser gegenüber äußerst kritisch eingestellten Pariser Synode
von 829 war das Laienabbatiat jedoch kein zentrales Thema.50 Die Unzufriedenheit
mit Ludwig steigerte sich zunehmend, und 830 kam es zu einem ersten Aufstand
der älteren Söhne, gefolgt von einem zweiten 833, der sogar zur vorübergehenden
Absetzung des Kaisers führte. An dieser Stelle auf die Motive der Aufständischen ein-
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43 Ausgesprochen skeptisch Felten 1992/93.


44 Thegan, Gesta, ed. Tremp, c. 10, 192.
45 Vgl. Semmler 1982; Boshof 1996, 108.
46 MGH Capit. 1, c. 5, 276, Nr. 138.
47 Vgl. Geuenich 1988.
48 Felten 1980, 280–288.
49 Vgl. Felten 1980, 294.
50 Vgl. MGH Conc. 2,2, 596-680, Nr. 50.

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zugehen, würde zu weit führen.51 Konstatieren lässt sich allerdings, dass in diesen
Kämpfen und auch in den folgenden Auseinandersetzungen die Klöster und ihre
Äbte nicht umhin kamen, für einen Angehörigen der zerstrittenen Dynastie Partei zu
ergreifen. So standen nicht mehr Fragen des monastischen Lebens im Vordergrund,
sondern Anforderungen der praktischen Politik.
Seit 833 erhob etwa Ludwig der Deutsche Anspruch auf die Gebiete rechts des
Rheins. Ludwig der Fromme erkannte dies nicht an, was seine Urkunden für Klöster
in den strittigen Gebieten, also im östlichen Franken, Sachsen und Alemannien bele-
gen.52 Ludwig der Deutsche blieb bei seiner Urkundenvergabe weitgehend auf sein
angestammtes Unterkönigreich Bayern beschränkt. Bei der Neubesetzung vakanter
Posten kam der Anspruch des Kaisers noch deutlicher zum Tragen. 837 bestimmte
er mit Samuel einen neuen Abt von Lorsch, der bald darauf auch das Bistum Worms
erhielt.53 Im gleichen Jahr setzte Ludwig der Fromme in St. Gallen einen neuen
Vorsteher ein.54 838 wiederholte sich dies auch auf der Reichenau, zu deren Abt
Walahfrid Strabo aufstieg, ein enger Vertrauter Ludwigs des Frommen.55 Damals
überwarfen sich Vater und Sohn endgültig, und es kam zu bewaffneten Auseinan-
dersetzungen zwischen ihnen. Samuel und seine Mitäbte standen auf der Seite des
alten Kaisers und, nachdem dieser 840 gestorben war, auf der seines ältesten Sohnes,
Kaiser Lothar.56 Dieser übernahm den Anspruch auf die Gebiete rechts des Rheins
und wurde dort auch weithin anerkannt, zumindest von den führenden geistlichen
Großen. In den nun folgenden Kämpfen konnte Ludwig der Deutsche sich allerdings
durchsetzen und verdrängte die kaisertreuen Äbte St. Gallens und der Reichenau aus
ihren Gemeinschaften.57 Samuel von Lorsch und Worms gelang es allerdings, sich mit
den neuen Verhältnissen zu arrangieren und im Amt zu bleiben.

4 Die Diskrepanz von Norm und Wirklichkeit. Ein


Erklärungsversuch
Ludwig der Fromme ging bei seinen Versuchen, die Regula Benedicti als einzige
Mönchsregel durchzusetzen, viel weiter als seine Vorgänger. Zudem hat er zahlreiche
Privilegien ausgestellt, in denen er Klöstern das Recht der freien Abtswahl zugesi-
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chert hat. Und dennoch behielt er zugleich die eingeführte Praxis bei, Klöster an Per-

51 Dazu grundlegend Patzold 2006; vgl. auch De Jong 2009.


52 Bigott 2004, 123-124 Anm. 11–13.
53 Gensicke 1973, 253; Hartmann 2002, 32; Bigott 2004, 126.
54 Hartmann 2002, 32; Bigott 2002, 67.
55 Bigott 2004, 126.
56 Ebd., 129-130; MGH Conc. 2,2, 793, Nr. 61.
57 Bigott 2004, 130; ders. 2002, 81-83; Ratbert, Casus sancti Galli, ed. Steiner, c. 18, 186.

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sonen seiner Wahl zu vergeben. Das Ringen um das rechte monastische Leben wurde
durch die innerpolitischen Wirren unter seinen Söhnen in den Hintergrund gedrängt.
Auch weiterhin benutzten die Karolinger viele Klöster vor allem zur Belohnung ihrer
Getreuen. Einfluss auf die inneren Verhältnisse der Konvente scheinen sie aber nur
selten genommen zu haben, meist dann, wenn es zu Konflikten zwischen Äbten und
Konventen gekommen ist. Wie aber ist die unter Pippin, Karl dem Großen und Ludwig
dem Frommen zu Tage tretende Diskrepanz zwischen dem Bemühen dieser Herr-
scher, die Klöster im Sinne der Regula Benedicti zu reformieren, und ihrem machtpo-
litischen Umgang mit dem Posten des Abtes beziehungsweise mit den Gütern vieler
Klöster zu erklären?
Nach Semmler ging es Karl dem Großen bei seiner monastischen Gesetzgebung
um das Reich, nicht eigentlich um die Klöster und Mönche. Ihre rechte Ordnung sollte
demnach dem Wohlergehen des Reiches dienen, sie blieben sozusagen in dienender
Funktion. Erst unter Ludwig dem Frommen habe eine echte Reform stattgefunden.58
Zumindest die letzte These kann man bezweifeln. Kéry hat ergänzend hinzugefügt,
Karl habe die Mönche in dem Moment kritisiert, da sie sich im eigenen Interesse nicht
an die Regel hielten. Geschah dies dagegen im Interesse des Königs, akzeptierte er
auch deutliche Verstöße gegen die Regel.59 Woher kommt dieser Pragmatismus, so
kann man weitergehend fragen. Ein Grund verbirgt sich vermutlich hinter der Gebets-
klausel für König und Reich, auf die bereits Eugen Ewig hingewiesen hat: pro sta-
bilitate regni nostri sollten die Mönche beten, so kann man in Königsurkunden seit
der Merowingerzeit lesen.60 Schon Pippin der Mittlere stellte sich mittels einer etwas
abgewandelten Form in diese Tradition, und unter Pippin, Karl dem Großen, Ludwig
dem Frommen und ihren Nachfolgern begegnet diese Gebetsklausel geradezu stereo-
typ. Mit der zunehmenden Verchristlichung des Königsamtes seit dem Dynastiewech-
sel von 751 scheinen die Herrscher die Gebetshilfe der Mönche ernster genommen
zu haben. Bedachte ein Herrscher dabei, wie wirksam – beziehungsweise unwirk-
sam – ein solches Gebet war, wenn es von unwürdigen Mönchen gesprochen wurde,
so lag auf der Hand, was er zu tun hatte: Er musste für ein gottgefälliges Leben der
Mönche sorgen, wenn diese wiederum wirksam um den Segen des Höchsten für das
Reich bitten sollten. Wenn aber das Reich und damit der König sozusagen die eigent-
liche Daseinsberechtigung der Klöster darstellten, dann hat es für die Zeitgenossen
die von uns empfundene Diskrepanz zwischen der Setzung von Normen und ihrer
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Umsetzung vielleicht gar nicht gegeben. Der König war dann berechtigt, die Güter
eines Klosters, ja dieses selbst zu verwenden, um dem irdischen Nutzen des Reiches
zu dienen, solange dies die Mönche nicht daran hinderte, wirksam für das Seelenheil
Verstorbener, aber auch für die Beständigkeit des Reiches zu beten.

58 Semmler 1965, 289.


59 Kéry 2006, 48; vgl. auch Semmler 1965, 288.
60 Ewig 1982, 46–48.

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Wilfried Hartmann
Äbte und Mönche als Vermittler von Texten auf
karolingischen Synoden

Synoden sind Versammlungen von Bischöfen, auf denen Streitfälle geschlichtet


werden, Gericht über Mitbischöfe gehalten wird und oftmals auch Entscheidungen
über Fragen der liturgischen Praxis sowie des täglichen Lebens von Klerikern und
Laien getroffen werden.1 Diese Entscheidungen oder Beschlüsse der Synoden, die
Synodalkanones, wurden in vielen Fällen zu häufig zitierten und in die Praxis umge-
setzten Normen des kirchlichen Rechts.
In der Karolingerzeit, vor allem in der Mitte und der zweiten Hälfte des 9. Jahrhun-
derts, waren diese Synodalkanones häufig nicht frei formulierte kurze Texte, sondern
sie waren vielfach mit Zitaten aus der Tradition angereichert, um ihre Geltung in
dieser Tradition zu verankern. Es kam auch öfter vor, dass ältere Texte übernommen
wurden, ohne dass dies gekennzeichnet wurde. Aus welchen Vorlagen wurden diese
Zitate übernommen und warum kommen hier Äbte und Mönche ins Spiel, die ja gar
keine stimmberechtigten Teilnehmer an diesen Synoden waren?
Dass Äbte an Synoden teilgenommen haben, wissen wir aus den Unterschriftslis-
ten der Teilnehmer, die entweder zusammen mit den Akten oder Beschlüssen überlie-
fert sind oder die am Ende einer von den Teilnehmern der Synode erlassenen Urkunde
erscheinen.2 Welche Rolle die Äbte bei den synodalen Verhandlungen aber spielten,
ist fast immer unklar, so wie wir überhaupt nur wenig über die „inneren“ Vorgänge
auf einer Synode sagen können.3 Wer hat die Kanones formuliert und wer hat die
Zitate aus der Tradition des Kirchenrechts bereitgestellt: das würden wir gern wissen,
aber Aussagen über diese uns interessierenden Tatbestände machen die Quellen zu
den Synoden nicht.
Immerhin wissen wir, dass auch die teilnehmenden Äbte am Ende einer Synode
mit einem Exemplar der Konzilsbeschlüsse ausgestattet und dass diese Texte dann
in die Klosterbibliothek aufgenommen wurden: wir besitzen nämlich noch einen
kleinen Codex mit den Kanones der Synode von Mainz 847 in der Stiftsbibliothek St.
Gallen (heute St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 296), der wahrscheinlich von einem
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Mainzer Schreiber geschrieben und von Abt Grimalt ins Kloster gebracht wurde.4

1 Allgemeine Bemerkungen über das Wesen der Synoden finden sich vor allem bei Hinschius 1883,
325–332 und bei Barion 1931, 146–166 (zu den Aufgaben der Synoden).
2 Einige derartige Listen habe ich in einem Aufsatz untersucht: Hartmann 1982, 124–139.
3 Einen Einblick über eine kleine Episode auf der Synode von Attigny 870 gewährt ein kurzer Ab-
schnitt im c. 33 des Libellus expostulationis Hinkmars von Reims, den dieser auf der Synode von
Douzy im August 871 vorlegte, vgl. Hartmann 1995/96, 137–145.
4 MGH Conc. 3, 79–80.

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212   Wilfried Hartmann

Wir wollen uns in diesem kleinen Beitrag mit den Zitaten in den karolingischen
Konzilskanones beschäftigen und dabei vor allem mit der Frage, aus welchen Vor-
lagen diese Zitate entnommen wurden. Dabei muss man zwischen den eigentlichen
Quellen, also den Kanones früherer Synoden, den Briefen von Päpsten oder den Aus-
sagen von Kirchenvätern und den unmittelbaren Vorlagen, aus denen diese Exzerpte
entnommen wurden, unterscheiden.
Zitate aus den alten Konzilien und aus Papstdekretalen können aus zwei unter-
schiedlichen Arten von Vorlagen übernommen worden sein: entweder aus den soge-
nannten Sammlungen historischer Ordnung oder aus systematischen Sammlungen.
Die ersteren, also die Sammlungen historischer Ordnung, beginnen mit den Kanones
der Konzilien seit dem Konzil von Nicaea (325) in chronologischer Abfolge, dann
folgen – wiederum chronologisch gereiht – Kapitel aus päpstlichen Dekretalen, also
aus Papstbriefen des ausgehenden 4. bis 6. Jahrhunderts mit rechtlichem Inhalt. Die
wichtigste derartige Sammlung in karolingischer Zeit war die Collectio Dionysio-Had-
riana, eine Sammlung, die auf den berühmten Gelehrten Dionysius Exiguus († vor
556) zurückgeht und die – in einer aktualisierten Fassung – Papst Hadrian I. Karl dem
Großen bei seinem ersten Besuch in Rom im Jahr 774 übergeben hat. Diese Samm-
lung erhielt im Frankenreich eine geradezu „offizielle“ Funktion, was sich in ihrer
riesigen Verbreitung und Überlieferung zeigt: aus dem 9. Jahrhundert haben sich 60
Handschriften und 7 Fragmente ehemals vollständiger Codices erhalten.5 Damit ist
die Dionysio-Hadriana das mit Abstand am häufigsten überlieferte kirchenrechtliche
Werk aus der Karolingerzeit.
Von ähnlicher Bedeutung ist unter den systematisch geordneten Sammlungen
die sogenannte Collectio Dacheriana, die ihren Namen nach ihrem ersten Heraus-
geber Luc d’Achery († 1685) erhalten hat. Sie besteht aus knapp 400 Kapiteln und
wurde wahrscheinlich von dem bedeutenden Bischof Agobard von Lyon (816-835/40)
zusammengestellt. Aus dem 9. Jahrhundert haben sich von diesem Werk 29 Codices
erhalten.6
Unter den systematischen Collectiones canonum sollen hier nur noch die Coll-
ectio Vetus Gallica und die Collectio Hibernensis, die Irische Kanonessammlung,
erwähnt werden. Von der Vetus Gallica sind aus dem 9. Jahrhundert 13 Codices
erhalten;7 von der Hibernensis besitzen wir neben vier Codices mit dem vollständi-
gen Text zahlreiche Exzerpthandschriften.8 Beide Sammlungen finden sich vor allem
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in Klosterbibliotheken, das kommt wohl daher, dass die Vetus Gallica sich ausgie-
big mit dem Mönchswesen befasst,9 während die Hibernensis als Produkt aus Irland

5 Vgl. Kéry 1999, 14–18.


6 Ebd. 87–91.
7 Ebd. 51–52.
8 Ebd. 73–77.
9 Vgl. Mordek, 1975 bes. Index auf 705 (s.v. Mönche).

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Äbte und Mönche als Vermittler von Texten auf karolingischen Synoden   213

besonders in den von irischen Mönchen geprägten Klöstern wie St. Gallen beheimatet
war. Von dort ist ein am Beginn des 9. Jahrhundert geschriebener Codex mit dieser
Sammlung erhalten (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 243); aus derselben Zeit stammt
ein Fragment von der Reichenau (heute: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug.
perg. 18).
Ein zweiter Aspekt, der wenigstens kurz erwähnt werden soll, ist die Bedeutung
des Klosterwesens in der Synodalgesetzgebung der Karolingerzeit: Da das Kloster-
wesen im 8. und 9. Jahrhundert einen großen Aufschwung nahm, haben sich die
Synoden in zahlreichen Normen mit diesem Thema befasst.10 816 wurden auf einem
Konzil in Aachen zwei große Kapitularien für die Mönche und die Nonnen erlassen;
erst kürzlich ist wieder ein Versuch gemacht worden, die dafür benutzten Vorlagen
näher zu bestimmen.11
Ein dritter Punkt ist die Frage, welche Bedeutung den Mönchen für die Weiter-
entwicklung des kanonischen Rechts im 9. Jahrhundert zukam. Hier ist vor allem die
großartige Entdeckung des allzu früh verstorbenen Klaus Zechiel-Eckes zu nennen,
wonach die bedeutende Fälschung der Sammlung des sogenannten Pseudoisidor in
wesentlichen Teilen im Kloster Corbie unter Federführung von Paschasius Radbertus
(Abt von Corbie 844-849/853) hergestellt wurde.12
Zechiel-Eckes hat nämlich entdeckt, dass in einer Reihe von Handschriften, die
zentrale Vorlagen für die pseudoisidorischen Dekretalen enthalten, übereinstim-
mend aussehende Nota-Zeichen sich finden und zwar gerade an den Stellen, an
denen diesen Werken Texte entnommen wurden, die für die Fabrikation der falschen
Dekretalen herangezogen wurden. Es dürfte daher bewiesen sein, dass diese Hand-
schriften, die im 9. Jahrhundert unzweifelhaft im Kloster Corbie lagen, vom Fälscher
und seinen Helfern benutzt wurden. Damit dürfte das Kloster Corbie unter seinem
Abt Paschasius Radbertus als Werkstatt für die Großfälschung Pseudoisidor erwiesen
sein.
Im Fall dieses Fälschungswerks können wir sogar noch sagen, warum es in einem
Kloster und nicht an einer bischöflichen Bibliothek entstanden ist: der Anlass für die
Fälschung war die 830/835 erfolgte Absetzung der gegen Kaiser Ludwig den Frommen
agierenden Erzbischöfe und Bischöfe; nach der Verdrängung Ebos von Reims, Ago-
bards von Lyon und ihrer Verbündeten von ihren Bischofssitzen blieb ihren Anhän-
gern nur noch der Rückzug ins Kloster, wo sie in den Jahren nach 835 die große Fäl-
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schung angefertigt haben dürften.

10 Vgl. Hartmann 1989, 422–426.


11 Vgl. Schmitz 2012, 23–51.
12 Vgl. zuletzt Zechiel-Eckes 2011, 13.

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214   Wilfried Hartmann

Nun aber zu einigen bedeutenden Synoden aus der Mitte und der zweiten Hälfte des 9.
Jahrhunderts und zu der hier interessierenden Frage, ob dabei Äbte und/oder Mönche
als Vermittler von Texten aufgetreten sind:
Die große Synode von Meaux-Paris, die 845 und 846 an zwei Orten und über
mehrere Monate hindurch tagte, war wohl vor allem von Bischöfen bestimmt. Wahr-
scheinlich sind die Verfasser der Kanones unter solchen Bischöfen zu suchen, die
enge Kontakte zu den Männern besaßen, die mit der Anfertigung der falschen Dekre-
talen zu tun hatten.13 Man könnte etwa an Bischof Rothad von Soissons zu denken.
Hinkmar von Reims, der 845 auf den Reimser Bischofsstuhl gelangt war und damit
eine Position einnahm, die Ebo 835 hatte räumen müssen, spielte damals wahr-
scheinlich noch keine bedeutende Rolle. Unter den 80 Kanones von Meaux-Paris gibt
es nicht sehr viele, die sich mit dem Mönchswesen befassen; eigentlich sind das nur
die drei Kapitel 57, 59 und 60.14
Wenn wir nach den Vorlagen für die (insgesamt eher wenigen) wörtlichen Zitate
in den 56 Kanones (cc. 25–80) fragen, die in Meaux und Paris formuliert wurden,
dann zeigt sich, dass es nur in acht Kanones überhaupt solche Zitate gibt. Von diesen
stammen sechs aus Papstbriefen (Leo I. und Gregor I. in cc. 31, 41, 61, 65 und 72),
vier aus Konzilien (in cc. 40, 52 und 61) und eine aus den Homilien Gregors I. (in
c. 39). Da es sich bei den Zitaten nur um jeweils wenige Wörter handelt, kann die
direkte Vorlage nicht bestimmt werden, auch deshalb, weil die Zitate aus den Papst-
dekretalen und aus den alten Konzilien zumeist in der Collectio Dionysio-Hadriana
zu finden sind, die in zahlreichen Codices vorlag. Nichts spricht dafür, dass ein aus
einem Kloster stammender Codex benutzt wurde.
Auffallend ist die Nähe einiger Beschlüsse des Konzils zu den pseudoisidorischen
Fälschungen. Das gilt einmal für Kapitel 44, das gegen die Chorbischöfe gerichtet ist,
dann für die Kapitel 61 und 62, die sich mit dem Raub an Kirchengut befassen. Dabei
gibt es enge Berührungen mit falschen Dekretalen (Ps.-Lucius)15 und den falschen
Kapitularien des Benedictus Levita.16 Die Kenntnis der pseudoisidorischen Fälschun-
gen dürfte durch einen Bischof oder mehrere Bischöfe der Synode vermittelt worden
sein.

Ostfrankenreich
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Die beiden Synoden von Mainz 847 und Mainz 852 waren durch Hrabanus Maurus
(Erzbischof von Mainz 847–856) bestimmt, der lange Zeit im Kloster Fulda gewirkt

13 Vgl. Hartmann 1983, bes. 83–91.


14 MGH Conc. 3, 111–112.
15 Vgl. ebd. 113, Anm. 182.
16 Ebd. 113, Anm. 185 und 114, Anm. 187.

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Äbte und Mönche als Vermittler von Texten auf karolingischen Synoden   215

hatte, zuerst als Leiter der dortigen Schule (seit 818), dann als Abt (822–842). Unter
den auf diesen Synoden herangezogenen Vorlagen17 ragen die Kanones der Reformsy-
noden von 813 heraus. Wenn wir nach möglichen handschriftlichen Vorlagen fragen,
so müssen wir feststellen, dass diese Kanones nur schwach überliefert sind: sie sind
nur in zwei Handschriften aus dem 9. Jahrhundert überliefert. Die eine, Wien, Öster-
reichische Nationalbibliothek, Cod. 751, wurde in der Mitte des 9. Jahrhunderts in
Westdeutschland geschrieben; die andere, Novara, Biblioteca Capitolare, LXXI, in
der Mitte oder dem dritten Viertel des 9. Jahrhunderts, sie stammt aus Oberitalien.18
Aufgrund ihrer Entstehungszeit und ihres Herkunftsgebiets könnte am ehesten die
Handschrift Wien 751 als Vorlage für die Kanones von Mainz 847 und 852 in Frage
kommen. Ihr ursprünglicher Aufenthaltsort ist allerdings bisher ungeklärt.
Die nächste große Synode im Osten des Frankenreichs, das Konzil von Worms
868, habe ich vor längerer Zeit näher untersucht.19 In meinem vor 35 Jahren erschie-
nenen Buch hatte ich vermutet, dass die Kanones von einem Mitglied des ostfrän-
kischen Episkopats zusammengestellt und mindestens zum Teil auch bearbeitet
worden seien.20 Da aber neben über 20 Bischöfen auch mindestens sieben Äbte aus
dem Ostfränkischen Reich an der Synode teilgenommen haben, könnte man auch zu
der Ansicht gelangen, dass es ein Abt oder Mönch gewesen ist, der die Zitate für die
Synodalkanones herbeigeschafft hat.
Die 45 echten Kapitel von Worms sind fast alle aus Vorlagen übernommen: 15
Kapitel stammen aus drei Briefen Papst Nikolaus’ I., weitere vier entsprechen Teilen
von zwei Briefen Papst Gregors II., und mindestens 17 Kapitel wurden aus den Akten
spanischer Synoden entnommen, die in der Collectio Hispana überliefert sind. Viel-
leicht gilt das auch für die fünf Kapitel, die aus gallischen Synoden stammen. Als
mögliche handschriftliche Vorlage dieser spanischen und gallischen Konzilskanones
könnte also ein Codex der Collectio Hispana Gallica gedient haben, der im westlichen
Teil des Ostfrankenreichs vorhanden war: noch erhalten ist der heute im Vatikan
liegende Codex Pal. lat. 575, der wahrscheinlich aus Mainz kommt; er wurde aller-
dings erst am Ende des 9. oder am Beginn des 10. Jahrhunderts geschrieben. Eine
alte Handschrift der gallischen Form der Hispana, der sogenannte Rachio-Codex, lag
bis 1870 in Straßburg; dieser Codex wurde wahrscheinlich am Ende des 8. Jahrhun-
derts geschrieben.21 Aus Corbie stammen die beiden Codices der Hispana Gallica, die
von den Pseudoisidorianern umgearbeitet und verfälscht wurden (Berlin, Staatsbi-
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17 Vgl. dazu ebd. 157–156 und 239–240.


18 Vgl. MGH Conc. 2,1, 247.
19 Vgl. Hartmann 1977.
20 Ebd. 105–106.
21 Vgl. ebd. 41 Anm. 85.

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bliothek, Hamilton 132 und Rom, BAV, Vat. lat. 1341).22 Eine Handschrift aus einem
ostfränkischen Kloster hat sich nicht erhalten.
Neben den Kanones wurde auf der Synode von Worms – vielleicht sollte man
besser sagen: für diese Synode – eine Schrift gegen einige von den Bräuchen und
dogmatischen Vorstellungen der Westkirche abweichende Ansichten und Praktiken
der Ostkirche verfasst, die sogenannte Responsio contra Grecorum heresim.23 Unter
den Quellen für diese polemische Schrift gegen die Griechen sind hervorzuheben:
1. Cresconius, Collectio canonum, eine systematische Kirchenrechtssammlung, die
im 9. Jahrhundert recht verbreitet war (erhalten sind aus dieser Zeit 10 Codices
und 3 Fragmente).24 Eines dieser Fragmente (heute Paris, Bibliothèque nationale
de France, Lat. 3851) kommt aus dem Kloster Lorsch.25 Und dieses Fragment zeigt
genau die Besonderheiten, die die Vorlage der Verfasser der Responsio aufge-
wiesen haben muss! Klaus Zechiel-Eckes hat diesen Tatbestand so kommentiert:
„... keine 20 km vom Konzilsort (also von Worms) entfernt, in der überaus reich
ausgestatteten Bibliothek des Klosters Lorsch, (war) ein Exemplar des gesuchten
Cresconius-Überlieferungszweigs greifbar“.26
2. Das Florileg des Eugippius († nach 533) aus den Werken des Augustinus: auch von
diesem nach 511 entstandenen Werk war in Lorsch eine Handschrift vorhanden.27
Da der Verfasser der Responsio neben dem Florileg des Eugippius die Werke
des Augustinus auch direkt herangezogen hat, muss man nach einer Bibliothek
suchen, in der diese Werke vorhanden waren: und auch dies war in Lorsch der
Fall! Es könnte also so aussehen, als ob die Responsio in Lorsch entstanden sei.
Allerdings war das Florileg des Eugippius auch in anderen bedeutenden Kloster-
bibliotheken des Ostfrankreichs, besonders auf der Reichenau und in St. Gallen,
greifbar. Dazu kommt, dass es noch einige Zitate gibt, die selten überlieferten
Werken entnommen sind, und damit ändert sich die Sachlage ganz wesentlich:
3. Der Liber officialis des Amalarius von Metz († um 850) ist ein liturgisches Werk,
das in zahlreichen Handschriften überliefert ist, von denen die meisten aller-
dings aus der Zeit ab dem 11. Jahrhundert stammen. Ein alter Codex aus Lorsch
von diesem Werk hat sich nicht erhalten, wir besitzen aus dem 9. Jahrhundert
aus dem Gebiet des Ostfränkischen Reiches heute nur noch die Handschrift St.
Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 278.28
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22 Vgl. Mordek 1995, 29 (zur Berliner Hs.) Kuttner/Elze 1986, 80-81 (zur Handschrift Rom, BAV, Vat.
lat. 1341).
23 MGH Conc. 4, 291–307.
24 Vgl. Kéry 1999, 33–36 und Zechiel-Eckes1992, 313–354.
25 Ebd. 334–335.
26 Ebd. 203.
27 Vgl. Becker 1885, 119 Nr. 588.
28 Vgl. Amalarius, Opera liturgica omnia, ed. Hanssens, 120–126, bes. 123. – Es gab jedoch eine Hand-
schrift dieses Werks in Mainz, die noch 1549 von Cochlaeus benutzt wurde, und ein Bibliothekskata-

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Äbte und Mönche als Vermittler von Texten auf karolingischen Synoden   217

4. Ein sehr langes Zitat der Responsio ist aus einer Predigt entnommen, die nur
in drei Handschriften des 9. Jahrhunderts überliefert ist (München, Bayerische
Staatsbibliothek, Clm 18524b, 14776 und 14540), von denen zwei in Salzburg in
den 820er oder 830er Jahren geschrieben wurden, während die dritte (Clm 14540)
im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts in Regensburg (Kloster St. Emmeram) ent-
standen ist.
5. Zwei längere Zitate stammen aus einem Brief Karls des Großen an Alkuin,29 der
sich u.a. in drei Handschriften findet, die aus dem Ostfrankenreich kommen:
Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 795 (um 800 geschrieben), die
ursprünglich in Salzburg lag, und die beiden St. Gallener Codices 677 und 899,
die nach dem alten Katalog von Gustav Scherrer allerdings erst im 10. Jahrhun-
dert entstanden sein sollen.30 Die Versionen des Textes der Responsio stimmen an
mehreren Stellen mit den Handschriften aus Salzburg und aus St. Gallen überein.

Wenn wir der Frage nach einem möglichen Entstehungsort der Responsio näher
kommen wollen, müssen wir fragen, ob es auch alte Handschriften des Cresconius
und des Eugippius aus Salzburg oder aus St. Gallen gibt.
Für Cresconius sieht es so aus, dass im 9. Jahrhundert außer der oben erwähnten
Lorscher Handschrift mindestens vier weitere Codices im Ostfränkischen Reich zur
Verfügung standen: Heute noch erhalten sind Manuskripte dieser Collectio aus Würz-
burg (Oxford, Bodleian Library, MS. Laud. misc. 436; aus dem 1. Drittel 9. Jahrhun-
dert); Mainz (Rom, BAV, Pal. lat. 579; 2. Viertel 9. Jahrhundert); Fulda (Wolfenbüttel,
Herzog August Bibliothek, Cod. 842 Helmst., 2. Viertel 9. Jahrhundert) und Kloster
Weißenburg/Elsass (Rom, BAV, Reg. lat. 423, 2. Hälfte 9. Jahrhundert).31 In Klöstern
wurde diese Sammlung demnach eher selten aufbewahrt.
Vom Florileg des Eugippius besitzen wir noch eine Handschrift aus St. Gallen
(Stiftsbibliothek, Cod. 176; 9. Jahrhundert), und auch auf der Reichenau gab es einen
Codex mit diesem Werk.32 Wenn man die Überlieferung dieses Werks mustert, gewinnt
man den Eindruck, als ob es fast nur in Klosterbibliotheken vorhanden war. Aus
Dombibliotheken hat sich wenigstens kein Codex des Eugippius erhalten. Es muss
demnach offen bleiben, ob die Responsio in einem Kloster oder in einer Dombiblio-
thek verfasst wurde, wenn auch manches eher für ein Kloster zu sprechen scheint.
In mehreren Handschriften sind zusätzlich zu den 45 echten Wormser Kanones
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weitere 36 Kapitel überliefert, für die völlig andere Vorlagen herangezogen wurden

log aus Salzburg bezeugt, dass das Werk in der Bibliothek von Erzbischof Friedrich (958–991) vorhan-
den war, vgl. ebd. 126 und 129.
29 Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 229–230.
30 Vgl. Scherrer 1875, 221 und 315.
31 Vgl. Zechiel-Eckes 1992, 332, 338, 352 und 339–340.
32 Vgl. Becker 1885, 10 Nr. 350.

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218   Wilfried Hartmann

als für die 45 authentischen Kapitel. Die wesentlichen Vorlagen dieses Anhangs33 sind
die Collectio Dionysio-Hadriana, der 11 Kapitel entnommen wurden, und die Kapitu-
lariensammlung des Abts Ansegis von Fontenelle, aus der 10 Kapitel stammen. Von
den verbleibenden 15 Kanones sind vielleicht weitere vier aus einer Sammlung der
historischen Ordnung (Dionysio-Hadriana oder Hispana) bezogen, zwei sind Kanones
gallischer (cc. 60 und 61), weitere zwei frühkarolingischer Synoden (cc. 62 und 63),
drei kommen aus dem Konzil von Mainz 847 (cc. 78–80).
Besonders interessant sind die Kapitel 64 und 65, weil sie einem sehr selten über-
lieferten Bußbuch, dem Paenitentiale Martenianum, entnommen sind. Von diesem
Bußbuch hat sich nur eine Handschrift erhalten, die im 9. Jahrhundert im Kloster
Fleury geschrieben wurde (Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Ashburnham
82).34
Von der Dionysio-Hadriana besitzen wir aus dem Ostfrankenreich eine ganze
Reihe von Handschriften. Davon stammen aus Klosterbibliotheken: Düsseldorf, Uni-
versitätsbibliothek, E.2 aus Werden; Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug.
perg. 103 von der Reichenau; Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Weißenburg 3
aus Weißenburg und Würzburg, Universitätsbibliothek, M.p.th.f. 72 aus Fulda;35 aus
Dombibliotheken: Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Mss. 115, 116
und 117 aus Köln; Frankfurt, Universitätsbibliothek, Ms. Barth. 64, aus Mainz; Frei-
burg, Universitätsbibliothek, Ms. 8, wohl aus Konstanz; München, Bayerische Staats-
bibliothek, Clm 6242 und 6355, aus Freising; Clm 14008 (2. Hälfte 9. Jahrhundert) und
14517 (um 800), aus Regensburg; Rom, BAV, Pal. lat. 578, aus Mainz sowie Vat. lat.
7222 (Anfang 9. Jahrhundert) aus Salzburg.36
Die Zahl der Ansegis-Handschriften aus dem Osten des Frankenreichs ist dagegen
nicht sehr groß: eigentlich kommen nur drei in Frage, die alle aus Klöstern stammen:
– Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. 141a in scrinio: aus Corvey
– St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 727 aus St. Gallen und
– Sélestat, Bibliothèque municipale, Ms. 14 (104) aus Weißenburg im Elsass.37

Es kann also gut sein, dass dieser Anhang von 36 Kapiteln – über dessen Entstehungs-
zeit wir nichts Genaues wissen (die älteste Handschrift ist Bamberg, Staatliche Biblio-
thek, Can. 2 aus der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts und lag im Kloster Michelsberg)38
– in einem Kloster angefertigt wurde.
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33 Vgl. MGH Conc. 4, 282–283.


34 Vgl. Mordek 1975, 200 Anm. 525.
35 Vgl. Kéry 1999, 15 und 17.
36 Ebd. 15–17.
37 Ebd. 93 und 96. Vgl. Mordek 1995, 152–153, 664–665 und 708–709.
38 MGH Conc. 4, 250.

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Äbte und Mönche als Vermittler von Texten auf karolingischen Synoden   219

Wie das Konzil von Worms 868 ist auch die 20 Jahre später tagende Synode von Köln
(888) wesentlich durch Erzbischof Liutbert von Mainz (863–889) geprägt worden.
Auch in dieser Synode sind die Mehrzahl der Kanones entweder vollständig aus Vor-
lagen übernommen (14 Kapitel: cc. 2, 3, 4, 5, 6, 11, 12, 13, 14, 16, 17, 20, 21 und 22) oder
sie enthalten längere Zitate (6 Kapitel: cc. 9, 19, 23, 24, 25 und 26).39
Eine wichtige Vorlage waren die Synoden von 813 (wie in Mainz 847 und in Mainz
852), aus denen einzelne Kapitel der Synoden von Tours, Mainz, Reims, Arles und
Chalon sowie aus der Concordia episcoporum übernommen wurden (in cc. 5, 13, 17,
20, 21, 22, 34 und 25).
Diese sogenannte Concordia ist nur in den Handschriften München, Bayerische
Staatsbibliohek, Clm 27246 und Novara, Biblioteca Capitolare, Ms. LXXI überliefert.40
Schwer zu erklären ist die Herkunft der langen Zitate aus dem 2. Buch der Akten
von Paris 829 (in cc. 2 und 3).41 Die vollständigen Akten von Paris 829 sind nur in den
Codices Rom, BAV, Vat. lat. 3827 (3. Viertel 9. Jahrhundert, Nordfrankreich) und Paris,
Bibliothèque nationale de France, Lat. 5516 (10. Jahrhundert) auf uns gekommen;42
eine ostfränkische Handschrift hat sich nicht erhalten. Außerdem wurden die Kon-
zilien von Toledo 589 (in c. 4), von Orléans 549 (in c. 6) und von Worms 868 (in c. 16)
benutzt.43
Das ältere Kirchenrecht spielt dagegen keine große Rolle, vor allem fehlen Zitate
aus den echten Papstdekretalen. Diese Quellengattung ist nur durch falsche Dekreta-
len und anderes pseudoisidorisches Material vertreten, das zum großen Teil aus der
Sammlung des sogenannten Ps.-Remedius übernommen wurde (in cc. 9, 11 und 12).44
Einige Zitate aus den alten Konzilien gibt es dennoch: in cc. 19, 23 und 26. Diese Zitate
wurden wohl aus der Dionysio-Hadriana entnommen.
Die von den Konzilsvätern von Mainz 888 herangezogenen Vorlagen weichen
jedenfalls vollständig von den in Worms 868 benutzten Vorlagen ab. Während die
Dionysio-Hadriana sowohl in Kloster- als auch in Dombibliotheken zur Verfügung
stand, besitzen wir von der Sammlung des Ps.-Remedius heute nur noch einen Codex
aus dem ausgehenden 9. Jahrhundert, der aus der Dombibliothek Freising stammt
und im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts geschrieben wurde (München, Bayerische
Staatsbibliothek, Clm 6245).45 Man wird also mit aller Vorsicht sagen können, dass
888 in Mainz wahrscheinlich keine Texte aus Klöstern benutzt wurden.
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39 MGH Conc. 5, 255–263.


40 Vgl. MGH Conc. 2,1, 297.
41 MGH Conc. 5, 255–257.
42 Vgl. MGH Conc. 2,2, 606.
43 MGH Conc. 5, 257 mit Anm. 16, 257–258 mit Anm. 18 und 260 mit Anm. 27.
44 Ebd. 258–259 mit Anm. 21, 23 und 24. – Diese Sammlung ist ediert als: Collectio canonum, ed. John.
Vgl. ebd. 94–95.
45 Vgl. ebd. 30–33.

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220   Wilfried Hartmann

Die bedeutendste Synode am Ende des 9. Jahrhunderts tagte 895 in Tribur (heute
Trebur bei Groß-Gerau, nur ca. 40 km von Lorsch entfernt). Die Beschlüsse dieses
Konzils sind in drei Fassungen überliefert, die jeweils eine unterschiedliche Anzahl
von Kapiteln aufweisen. Wörtliche Zitate von größerem Umfang gibt es nur in der
Versio Vulgata. Von den 58 Kapiteln dieser Version enthalten 35 Kapitel wörtliche
Zitate, die meist ausdrücklich als solche gekennzeichnet und mit einer Quellen-
angabe versehen sind. In einigen Kapiteln kommen sogar mehrere Zitate vor. Viele
dieser Zitate stammen aus den alten Konzilien und aus Papstdekretalen der Päpste
des 5. Jahrhunderts. Welcher Vorlage diese Zitate entnommen sind, kann – wegen
der Kürzungen und Umarbeitungen der Texte – nur in wenigen Fällen genau gesagt
werden, so etwa dann, wenn die Quellenangabe Kapitelnummern enthält, die auf die
Collectio Dionysio-Hadriana als Vorlage hindeuten.46
Die Zitate aus den Pseudoisidorischen Dekretalen in den Kapiteln 2, 4, 7–9, 19, 22,
31 und 32 sind ausnahmslos aus der Sammlung des sogenannten Pseudo-Remedius
entnommen.47 Weitere Zitate aus den Schriften der Kirchenväter, die sich nicht in den
Kanonessammlungen historischer Ordnung finden und die zum Teil recht umfang-
reich sind, stammen wahrscheinlich aus diesen Schriften selbst (z.B. Martin von
Braga48; Ps.-Augustinus = Caesarius von Arles, Sermo 3349; Gregor I., Dialogi50 und
Beda, Homilie II, 2351). Eine Reihe von Zitaten wurden der Collectio Hibernensis ent-
nommen, nämlich die kurzen Texte in den Kapiteln 3, 4, 39, 41 und 46.52
Aus Schriften der Karolingerzeit stammen die Zitate aus der Admonitio generalis
(789) in der Praefatio53, aus den Bischofskapitularien Theodulfs von Orléans54 und
Haitos von Basel55, aus der Schrift De exordiis et incrementis des Walahfrid Strabo56
sowie aus den Konzilien von Worms 868 oder Mainz 888.57
Rudolf Pokorny hat bereits vor einigen Jahren die einleuchtende These aufge-
stellt, dass diese Version der Triburer Kanones in Bayern hergestellt wurde.58 Ich
selbst habe einige bairische Bischöfe des ausgehenden 9. und beginnenden 10. Jahr-
hundert daraufhin betrachtet, ob sie als Verfasser dieser Version in Frage kommen.59

46 Vgl. MGH Conc. 5, 356, Anm. 77 und 358, Anm. 92.


47 Vgl. Collectio canonum, ed. John, 98.
48 MGH Conc. 5, 344, Anm. 13.
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49 Ebd. 350, Anm. 47 und 351, Anm. 49.


50 Ebd. 353, Anm. 57.
51 Ebd. 355, Anm. 67.
52 Ebd. 346 Anm. 22, 347 Anm. 26, 363 Anm. 124, 364 Anm. 127 und 365 Anm. 134.
53 Ebd. 343 Anm. 9 und 10, 344 Anm. 13 a, 14 und 15 sowie 345 Anm. 16.
54 Ebd. 352 Anm. 56.
55 Ebd. 350 Anm. 44.
56 Ebd. 353 Anm. 58 und 354 Anm. 64.
57 Ebd. 347 Anm. 27.
58 Pokorny 1992, 477–478 und 484–485.
59 Vgl. Hartmann 2005, 87.

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Äbte und Mönche als Vermittler von Texten auf karolingischen Synoden   221

Wenn wir aber etwas anders an die Sache herangehen und nicht fragen, welchen
Teilnehmern der Synode von Tribur kirchenrechtliche Kenntnisse zuzutrauen wären,
sondern wenn wir untersuchen, an welchem Ort die Vorlagen von seltenen Zitate
greifbar waren, dann kommen wir vielleicht weiter:
Von der Dionysio-Hadriana gibt es – wie schon gesagt – zahlreiche Handschriften
aus dem 9. Jahrhundert, die Dombibliotheken von Freising, Regensburg und Salzburg
besaßen alle sogar mehrere Codices dieser wichtigen und umfangreichen Sammlung.
Dagegen fehlt die Dionysio-Hadriana in den Bibliothekskatalogen der bayerischen
Klöster.
Zitate aus den Pseudoisidorischen Dekretalen wurden nicht direkt der voll-
ständigen Sammlung Pseudoisidors entnommen, sondern der schon erwähnten
Exzerptsammlung des Pseudo-Remedius. Unter den erhaltenen Handschriften dieser
Sammlung, die vor dem Ende des 9. Jahrhunderts entstanden sind, ist hier allein die
Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6245 zu nennen: sie kommt
aus der Dombibliothek in Freising und wurde im dritten Viertel des 9. Jahrhunderts
geschrieben.
Zitate aus der Collectio Hibernensis, die sich in fünf Kapiteln finden, könnten
am ehesten aus den Codices 243 aus der Stiftsbibliothek St. Gallen oder Karlsruhe,
Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 18 von der Reichenau bezogen worden sein.
Bayern ist in der Überlieferung dieser Sammlung nur vertreten durch eine Reihe von
Exzerptwerken. Dabei wäre noch zu untersuchen, ob die Zitate in der Vulgatversion
von Tribur hier überhaupt vorhanden sind.
Einige der Zitate wurden recht selten überlieferten Werken entnommen. Es sind
diese:
6. Das Werk des Martin von Braga, Formula honestae vitae, aus dem in der Praefa-
tio zitiert wird,60 war im Ostfrankenreich des 9. Jahrhunderts allein in der Hand-
schrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14492 greifbar, die aus dem
Kloster St. Emmeram in Regensburg stammt. Sie wurde dort im zweiten Viertel
des 9. Jahrhunderts geschrieben.61 Aus dem 9. Jahrhundert haben sich außerdem
noch erhalten: die Codices Den Haag, Museum Meermanno-Westreenianum, 10 D
10 (2. Hälfte 9. Jahrhundert) und Cambrai, Bibliothèque municipale, Ms. 204, um
900, der vielleicht aus Sachsen stammt62. Es gibt auch einen Codex mit diesem
Werk Martins von Braga, der im ausgehenden 10. oder im 11. Jahrhundert in
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Lorsch geschrieben wurde und der heute in der Vatikanischen Bibliothek liegt
(Rom, BAV, Pal. lat. 253).63

60 Vgl. MGH Conc. 5, 344 bei Anm. 13.


61 Vgl. Barlow 1950, 210, der die Handschrift auf das 3. Viertel des 9. Jahrhundert datiert, und Bi-
schoff 2004, 259.
62 Vgl. Barlow 1950, 210–211.
63 Ebd. 216.

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7. Die langen Zitate in c. 1364 aus dem Sermo 33 des Caesarius von Arles65 könnten
aus einem der beiden alten Codices entnommen sein, die heute in Würzburg,
Universitätsbibliothek, M. p. th. f. 28 beziehungsweise München, Bayerische
Staatsbibliothek, Clm 6298 liegen. Beide Codices wurden noch im 8. Jahrhundert
geschrieben, beide entstammen Dombibliotheken, nämlich der von Würzburg
beziehungsweise von Freising.
8. Von den Dialogen Gregors I., die in Kapitel 17 zitiert sind,66 haben sich nur zwei
Handschriften aus dem Rheingebiet erhalten, nämlich die Codices Rom, BAV,
Pal. lat. 260 und 261 aus dem 10. bzw. dem 9. Jahrhundert.67 Der Codex Pal. lat.
261 wurde in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts geschrieben und stammt aus
dem Stephanskloster auf dem Heiligenberg bei Heidelberg.68 Dieses Kloster war
eine Tochtergründung von Lorsch; daher dürfte diese Handschrift ursprünglich
in Lorsch gelegen haben.
9. Aus der Homilie II, 23 Bedas ist am Schluss von c. 21 zitiert;69 von diesem Text
besitzen wir noch eine Handschrift aus dem Kloster Reichenau (heute: Karlsruhe,
Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 19).

In der Versio Vulgata von Tribur 895 werden auch einige Quellen aus der Karolinger-
zeit zitiert, nämlich:
10. Die Schrift des Walahfrid Strabo, De exordiis et incrementis, die in der Handschrift
St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 446 erhalten ist. Dieser Codex wurde im dritten
Drittel des 9. Jahrhunderts geschrieben.70 Den vollständigen Text des Werkes
bieten noch: Rom, BAV, Vat. lat. 1146 (11. Jahrhundert) und Wien, Österreichi-
sche Nationalbibliothek, Cod. 914 (ebenfalls 11. Jahrhundert),71 also Codices, die
wegen ihrer späten Entstehungszeit als Vorlage nicht in Frage kommen.
11. Die Admonitio generalis von 789, aus der an mehreren Stellen der Praefatio zitiert
wird, ist in mehreren Handschriften aus Bayern erhalten, so in München, Bayeri-
sche Staatsbibliothek, Clm 14468 aus Regensburg (821 geschrieben), in Clm 19416
(aus Tegernsee, 9. Jahrhundert) und in Wien, Österreichische Nationalbibliothek,
Cod. 2232 (Anfang 9. Jahrhundert, aus Niederaltaich), aber auch in St. Gallen,
Stiftsbibliothek, Cod. 733 (erstes Viertel 9. Jahrhundert): das sind also fast aus-
schließlich Handschriften aus Klosterbibliotheken!
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64 MGH Conc. 5, 350 Anm. 47 und 351 Anm. 49.


65 Caesarius von Arles, Sermones, ed. Morin, 145-146.
66 MGH Conc. 5, 353 Anm. 57.
67 Vgl. Gregor der Große, Dialogi, ed. Moricca, LXXXIII.
68 Vgl. die Homepage der Bibliotheca Laureshamensis digital: URL: http://bibliotheca-laureshamen-
sis-digital.de.
69 MGH Conc. 5, 355 Anm. 67.
70 Vgl. Langosch/Vollmann 1999, Sp. 589.
71 Ebd. Sp. 589.

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12. Die beiden Bischofskapitularien Theodulfs von Orléans und Haitos von Basel,
die je einmal zitiert werden, könnten am ehesten aus der Handschrift St. Gallen,
Stiftsbibliothek, Cod. 446 (entstanden im 3. Viertel des 9. Jahrhundert) entnom-
men sein. In diesem Codex sind nämlich beide Texte vorhanden. Codices aus bai-
rischen Dombibliotheken mit diesen Texten gibt es nicht.
13. Worms 868 oder Mainz 888: Handschriften der Kanones von Worms 868 in der
ursprünglichen Reihenfolge gibt es nur aus Dombibliotheken: Köln, Erzbischöfli-
che Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 118 (Ende 9. Jahrhundert) und Straßburg
(1870 verbrannt).72 Dazu kommt eventuell noch München, Bayerische Staatsbib-
liothek, Clm 3851 (nach 882 entstanden), der allerdings in Lothringen entstanden
sein soll und im 10. Jahrhundert in Kloster Ellwangen lag, ehe er in die Dombiblio-
thek Augsburg gelangte.73 Von den Kanones von Mainz 888 hat sich überhaupt
keine Handschrift aus dem 9. oder 10. Jahrhundert erhalten.74

Das Fazit über die Entstehung der Vulgatversion der Kanones von Tribur 895 ist also
nicht eindeutig: Sowohl einige Dombibliotheken (vor allem die von Freising) als auch
Klosterbibliotheken (besonders St. Gallen und Reichenau) kommen als Textmaga-
zine in Frage, aus denen der oder die Redaktoren der Versio Vulgata der Kanones von
Tribur 895 geschöpft haben.
Und auch meine Schlussbemerkung muss offen bleiben und ist damit wenig
befriedigend: Das Kloster Lorsch als möglicher Entstehungsort von Synodalkanones
konnte nicht sicher bestätigt werden – aber auch kein anderes Kloster. Vielleicht sind
zu viele Handschriften verloren gegangen, um eine klare Aussage machen zu können.
Und vielleicht müssen wir eher davon ausgehen, dass verschiedene Autoren – Welt-
kleriker und Mönche – daran gearbeitet haben, Zitate herbeizuschaffen, wenn es galt,
die Synodalkanones zusammenzustellen oder andere Texte für eine Synode zu ver-
fassen.

Quellen
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Alkuin, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 4 (Epistolae Karolini Aevi II), Berlin 1895
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(Nachdruck 1994), 1–481.


Caesarius von Arles, Sermones, ed. Germain Morin, CCSL 103, Bd. 1, Turnhout 1963.

72 Vgl. MGH Conc. 4, 248–249.


73 Vgl. ebd. 249 mit der dort angegebenen Literatur.
74 Die einzige Handschrift, die immerhin 19 der 26 Kanones von Mainz 888 enthält, München, Baye-
rische Staatsbibliothek, Clm 5541, wurde in der 1. Hälfte des 11. Jahrhundert im Raum Mainz oder Trier
geschrieben, vgl. MGH Conc. 5, 250–251.

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224   Wilfried Hartmann

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Äbte und Mönche als Vermittler von Texten auf karolingischen Synoden   225

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Ludwig der Fromme (814–840) und die Genese der pseudoisidorischen Dekretalen (506. Sitzung
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Steffen Patzold
Correctio an der Basis: Landpfarrer und ihr
Wissen im 9. Jahrhundert

1 Einleitung
Frederick Paxton hat 1990 in einer eindringlichen Analyse gezeigt: Der Palatinus
Latinus 485 der Vatikanischen Bibliothek, ein Codex aus Lorsch aus dem 9. Jahrhun-
dert, ist gezielt als Handbuch für die Ausbildung von Klerikern zusammengestellt
worden. Das Buch enthält Texte verschiedenster Art, die aber doch eines verbindet:
Sie alle sind von Interesse für Priester. Am Anfang stehen Texte zur Buße, darun-
ter auch einer in der Volkssprache. Dann folgen Materialien zum Computus und ein
Kalender, anschließend Erklärungen zum Messkanon und zur Taufe, Segenssprüche
und andere Texte bei Krankheit und Tod, auch weitere Benedictiones, schließlich kir-
chenrechtliche Texte: Canones des Konzils von Nikaia 325, die sogenannten „Canones
apostolorum“ und frühe bischöfliche Diözesanstatuten (von Theodulf von Orléans
sowie Ghaerbald und Waltcaud von Lüttich). Am Ende des Codex stehen Bußbücher:
die Paenitentialia Ps.-Bedas und Ps.-Egberts, das „Paenitentiale Cummiani“ und das
erste Buch derjenigen Fassung der „Canones Theodori“, die der sogenannte Discipu-
lus Umbrensium verantwortet.1
Paxton hat codicologisch überzeugend argumentiert, dass das Lorscher Buch in
dieser Zusammenstellung kein Zufall ist, sondern das Ergebnis gezielter Planung. Die
Texte dienen allesamt der Ausbildung von Priestern; und sie dürften schon in der
zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in dieser Weise zusammengeführt worden sein.
Einige Gedenk-Einträge im Kalender erlauben es, den Zeitpunkt der Komposition
genauer einzugrenzen: Die einzelnen Teile der Handschrift wurden wohl zwischen
860 und 875 geschaffen. Bei alledem haben die Lorscher Mönche, so weiter Paxton,
ihre Vorlagen sorgfältig ausgewählt; es handelt sich nämlich um ausnehmend gute,
korrekte Texte. Mehr noch: Die Fratres in Lorsch haben die Vorlagen zum Teil sogar in
Kleinigkeiten für ihre eigenen Zwecke noch gezielt überarbeitet. Irgendwann in den
letzten zwei Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts wurden die einzelnen Teile der Hand-
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schrift dann zu ihrem heutigen Stand zusammengefügt. Der Codex blieb aber weiter-
hin in Benutzung: Auch jetzt noch kamen kleinere Nachträge hinzu.2

1 Alles Voranstehende nach Paxton 1990; eine detaillierte Beschreibung des Codex von Michael
Kautz (mit umfangreicher Bibliographie) sowie ein Digitalisat der gesamten Handschrift finden sich
in der bibliothecalaureshamensis-digital.de/bav/bav_pal_lat_485 (eingesehen am 1. Oktober 2013).
2 Paxton 1990, 7–8.

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228   Steffen Patzold

Ein Buch also für Priester! Menschen mit Priesterweihe gab es im 9. Jahrhundert
viele, nicht zuletzt auch unter den Lorscher Mönchen selbst. Aber Paxton hat mit
Blick auf den Inhalt des Buches überzeugend argumentiert: Der Codex war gedacht
für Priester, die nicht hinter den Klostermauern von Lorsch lebten, sondern draußen,
in der Welt, als Pfarrer in einer Gemeinde wirkten. Schon der althochdeutsche Bußtext
macht das deutlich: Er behandelt Sünden im Umgang mit den Eltern, dem Herrn, den
Nachbarn, den Kindern oder bei der Zahlung des Zehnten. „The audience“, so hat
Paxton zu Recht formuliert, „is the secular clergy, and the intent is pastoral, even
didactic“.3
Die Handschrift, so lautet Paxtons These daher, erkläre sich aus dem Engagement
der Lorscher Mönche bei der Erschließung des Odenwalds. Im späteren 9. Jahrhun-
dert, als die Handschrift entstand, wird in der Lorscher Grundherrschaft im Oden-
wald ein Villikationssystem erkennbar – mit mehreren Herrenhöfen, an die jeweils
auch eine Pfarrkirche angegliedert war. Eben dieser Zusammenhang, so hat Paxton
vermutet, habe der Handschrift ihren Sitz im Leben gegeben: Sie habe dazu gedient,
diejenigen Priester auszubilden, die an diesen Pfarrkirchen der Lorscher Grundherr-
schaft Dienst tun sollten.4
Der Palatinus Latinus 485 eignet sich gut als Einstieg in das Thema dieses Bei-
trags. Mein Ziel ist es nämlich im Folgenden, dieses Lorscher Einzelbeispiel in seinen
größeren historischen Zusammenhang einzuordnen, in die karolingische Correctio.5
Eine solche Einbettung des Befundes zu der Lorscher Handschrift, so lautet meine
These, kann helfen, Paxtons Vermutungen über den konkreten Zweck und Gebrauch
dieser einen Lorscher Handschrift zumindest im Detail noch etwas zu erweitern. Vor
allem aber fällt damit neues Licht auf die Correctio selbst, zumal auf ihre Breiten-
wirkung und Ausstrahlung jenseits eines kleinen Zirkels von Gelehrten mit mehr
oder minder engem Kontakt zum Hof.6 Mein Argument gliedert sich in zwei Teile: Der
Beitrag handelt zunächst von den Pfarrern auf dem Lande, in denen man wichtige
Träger der Correctio sehen darf; danach geht es um deren Wissen und deren Bücher.

2 Zu den Landpfarrern der Karolingerzeit


Die Priester auf dem Lande zählten lange Zeit eher zu den Stiefkindern der Mediävis-
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tik. Das lässt sich wissenschaftsgeschichtlich durchaus erklären: Die Priester waren

3 Ebd., 9.
4 Ebd., 28–29.
5 Vgl. dazu aus der reichen Literatur zu den karolingischen Reformen beispielsweise den klassischen
Beitrag von: Schramm 1964; den breiten Überblick über die weitere ältere Forschung bei Brown 1994;
sowie Contreni 1995; Fried 1997; Depreux 2002; McKitterick 2005.
6 Skeptisch mit Blick auf die Reichweite ist Nelson 1986.

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Correctio an der Basis: Landpfarrer und ihr Wissen im 9. Jahrhundert   229

Ende des 19. Jahrhunderts Ulrich Stutz7 und seiner Theorie der Eigenkirche zum Opfer
gefallen.8 In Stutzens Perspektive waren die Geistlichen, die er als „Eigenpriester“
bezeichnete, recht armselige Kreaturen: freigelassene Sklaven, die ihren Grundher-
ren ausgeliefert blieben und ihrer Herrin das Pferd, ihrem Herrn die Hunde führten.9
Derart zurechtge“stutzt“, hat man den Geistlichen nicht mehr viel zugetraut. Um es
zuzuspitzen: Die „Eigenpriester“ galten jahrzehntelang als zwar notwendiges, aber
doch im Grunde stark von ihren Herren abhängiges Zubehör zu Eigenkirchen, die
folglich auch weit stärker im Zentrum des Interesses der Forschung standen10 als die
Priester selbst.11
Diese ältere Perspektive ist freilich – im Zuge von Untersuchungen zur Ent-
wicklung der Pfarrei und des Zehntgebots12, zur Grundherrschaft13 sowie durch die
Erschließung und Edition der sogenannten Bischofskapitularien14 – zunehmend frag-
würdig geworden.15 Diese normativen Texte zeigen uns Priester (und gerade die Pfarr-
priester auf dem Land) als wichtige Agenten der karolingischen Correctio: Gerade sie
sollten es übernehmen, durch Predigt, Belehrung und Aufsicht die Gemeinden vor
Ort zu jenem populus christianus zu formen, der Gott gefiel. Das war aus Sicht der Zeit-
genossen wichtig: Denn es entlastete die Eliten in ihrer Verantwortung für die ihnen
von Gott anvertrauten Menschen vor dem Allmächtigen; und es verlieh letztlich auch

7 Zur Person vgl. Bader 1984.


8 Grundlegend: Stutz 1895a (im Folgenden verwende ich den Nachdruck der dritten Aufl., Aalen
1972); präzisierend: Stutz 1911; zusammenfassend: Stutz 1895b, 1913; eine französische Zusammen-
fassung bei Fournier 1897, 486–506.
9 Vgl. dazu etwa Stutz 1972, 231–233.
10 Zum Stand der Diskussion in den 1980er Jahren vgl. etwa Landau 1982; Schieffer 1986; Hartmann
1982; Borgolte 1985. – Aufgegeben war damals schon die These von Stutz 1972, 89-95, dass die Eigen-
kirche eine germanische Institution sei und sich von dem Eigentempel herleiten lasse; statt dessen
hat sich die Forschung zu guten Teilen eher Dopsch 1924, 230–246, angeschlossen, demzufolge das
Eigenkirchenwesen „national indifferent“ (245) und ein „Attribut der Grundherrschaft“ (232) war; vgl.
dazu noch nuancierend etwa Schäferdiek 1982.
11 Zu ihnen vgl. etwa Aubrun 1995, bes. 18–22 zur Karolingerzeit; Aubruns Skizze beschränkt sich
freilich auf eine systematisierende Zusammenfassung ausgewählter normativer Quellen. Zu Spätanti-
ke und Frühmittelalter bis ins 6. Jahrhundert hinein vgl. Predel 2005.
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12 Fournier 1982; Semmler 1982, 1983. – Zum Zehnten vgl. jetzt den chronologisch wie räumlich sehr
breit angelegten Band La dîme, dessen Schwerpunkt freilich zeitlich eher nach dem 9. Jahrhundert
liegt.
13 Für eine grundlegende Differenzierung von Stutzens Konzept wichtig ist zumal: Hedwig 1992; zu-
letzt im breiten diachronen Überblick: Hartmann 2011.
14 MGH Capitula episcoporum 1, ed. Brommer; MGH Capitula episcoporum 2, ed. Pokorny/Strat-
mann; MGH Capitula episcoporum 3, ed. Pokorny; MGH Capitula episcoporum 4, ed. Pokorny.
15 Grundsatzkritik am Stutz’schen Eigenkirchenkonzept, freilich ohne eigene Untersuchung, hat
Reynolds 1994, 418-419, geäußert; für eine regionale Untersuchung, die zeigt, dass die Eigenkirche
im Frühmittelalter weniger Bedeutung hatte, als zuvor von der Forschung oft angenommen vgl. Hart-
mann 2003; skeptisch zum 9. Jahrhundert auch: Patzold 2007.

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230   Steffen Patzold

der Herrschaft der Karolinger erst jene Stabilität, die aus Perspektive der Zeit ohne die
Gnade Gottes nun einmal nicht sein konnte.16
Priester also waren den Zeitgenossen des späten 8. und des 9. Jahrhunderts
wichtig. Als der sogenannte Astronomus in seiner Biographie Ludwigs des Frommen
Anfang der 840er Jahre die Ereignisse schilderte, die Historiker heute gemeinhin die
„Aachener Reformen“ von 816 bis 819 nennen17, da erwähnte er nicht nur Mönche
und Kanoniker; er nannte auch noch eine dritte Gruppe – die ministri Christi. Nach
Ludwigs Willen, so berichtete der Astronom, sollten diejenigen, die doch „Knechte
Christi“ waren, nicht menschlicher Knechtschaft unterworfen bleiben dürfen.
Deshalb sollten sie, sofern sie unfrei waren, vor der Weihe zum Priester freigelassen
werden. Außerdem habe Ludwig angeordnet, daß jede Kirche ihr eigenes Vermögen
besitzen sollte: mindestens eine Hufe, außerdem wenigstens einen Knecht (servus)
und eine Magd (ancilla). Auch den Zweck der Bestimmungen nannte der Astronom
ausdrücklich: Es sollte verhindert werden, dass der cultus divinus vernachlässigt
wird.18 Für den zeitgenössischen Geschichtsschreiber betrafen die „Aachener Refor-
men“ also nicht nur zwei, sondern drei Gruppen: die Mönche, die Kanoniker und jene
ministri Dei, die wir wohl als „Landpriester“ oder „Pfarrer“ bezeichnen dürfen.
Tatsächlich hatte Ludwig der Fromme in einem Kapitular von 818/819 im Kern
eben jene Bestimmungen getroffen, die der Astronomus später in seiner Biographie
als dritte große Neuerung der Aachener Maßnahmen resümierte:19 Der Aufbau einer
Pfarrorganisation auf dem Land war ein zentraler Bestandteil der karolingischen
Reform, die Priester selbst wurden  im Zuge dessen zu Schlüsselfiguren der Correctio.
Carine van Rhijn hat die „rural priests“ sehr treffend als „bottlenecks“, als „Flaschen-

16 Dazu grundlegend: van Rhijn 2007; vgl. außerdem Patzold 2009.


17 Noch immer wichtig: Semmler 1963, 1983; zusammenfassend: Boshof 1996, 108–128.
18 Astronomus, Vita Hludowici, ed. Tremp, c. 28, 376/378: Considerans etiam isdem piissimus impe-
rator, non debere Christi ministros obnoxios esse humanae servituti, sed et multorum avaritiam abuti
ministerio ecclesiastico ad proprium questum, statuit, ut quicumque ex servili conditione conciliante
scientia et morum probitate ad ministerium adsciscerentur altaris, primum manumittantur a propriis
dominis, vel privatis vel ecclesiasticis, et tunc demum gradibus indantur altaris. Volens etiam unam-
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quamque ecclesiam habere proprios sumptus, ne per huiuscemodi inopiam cultus neglegerentur divini,
inseruit praedicto edicto, ut super singulas ecclesias mansus tribueretur unus cum pensatione legitima
et servo atque ancilla.
19 MGH Capit. 1 (Capitulare ecclesiasticum), Nr. 138, c. 9, 277: Statutum est, ut sine auctoritate vel
consensu episcoporum presbyteri in quibuslibet ecclesiis nec constituantur nec expellantur; et si laici
clericos probabilis vitae et doctrinae episcopis consecrandos suisque in ecclesiis constituendos obtuler-
int, nulla qualibet occasione eos reiciant; ebd., c. 10, 277: Sanccitum est, ut unicuique ecclesiae unus
mansus integer absque alio servitio adtribuatur, et presbyteri in eis constituti non de decimis neque
de oblationibus fidelium, non de domibus neque de atriis vel hortis iuxta ecclesiam positis neque de
praescripto manso aliquod servitium faciant praeter ecclesiasticum. Et si aliquid amplius habuerint,
inde senioribus suis debitum servitium impendant.

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Correctio an der Basis: Landpfarrer und ihr Wissen im 9. Jahrhundert   231

hals“ der Correctio bezeichnet20: Sie waren es, die die hohen Ziele, die auf Synoden
und anderen Versammlungen formuliert wurden, im Alltag konkret in den einzelnen
Gemeinden den Menschen vermitteln und vor Ort umsetzen sollten.
Die Stutz’schen Eigenpriester allerdings – jene erbärmlichen Gestalten, die ihrer
Herrin das Pferd, ihrem Herrn die Hunde führen – wollen zu diesen hohen Ansprü-
chen nicht recht passen. Schon Carine van Rhijn hat deshalb dafür plädiert, dass wir
mit besser materiell abgesicherten und auch besser ausgebildeten Priestern rechnen
sollten.21 Dieses Plädoyer kann man noch mit einem weiteren Argument unterfüttern:
Es lässt sich nämlich zeigen, dass Ulrich Stutz, um seine armseligen Eigenpriester
zu kreieren, mindestens drei verschiedene Typen von weltgeistlichen presbyteri in
methodisch höchst fragwürdiger Weise miteinander vermengt hat.
Einen ersten Hinweis gibt ein Text aus dem frühen 9. Jahrhundert, der eine Auf-
zeichnung eines Missus für eine inquisitio sein dürfte. Der Mann notierte sich, mit
welchen Fragen er alle Geistlichen der ihm zugewiesenen provincia auf ihre erudi-
tio und doctrina hin prüfen und zugleich die Laien auf ihre Bereitschaft hin kontrol-
lieren sollte, Gerechtigkeit zu üben. Dazu gehört nun auch dieser Punkt: Kein Laie
sollte es ohne Erlaubnis des Bischofs wagen, einen Priester oder Geistlichen „bei
sich zu haben oder für seine Kirchen zu bestellen“; dies sollte deshalb ausgeschlos-
sen sein, damit der Bischof den Kandidaten zuvor auf seine Eignung prüfen konnte.
Das Kapitel unterscheidet demnach offenkundig zweierlei: presbiterum secum habere
einerseits und presbiterum ad ecclesias suas ordinare andererseits.22 Man könnte
zunächst geneigt sein, die Formulierung als eine typische, redundante Doppelung zu
überlesen. Tatsächlich sind hier aber bewusst zwei verschiedene Typen von Priestern
angesprochen, die uns auch in anderen Quellen als distinkt gegenübertreten.
Der erste Typ von Priestern – der Priester, den man „bei sich hat“ – war den karo-
lingerzeitlichen Reformern zutiefst suspekt. Agobard von Lyon hat eine Generation
später, wohl zwischen 822 und 829, in einem Schreiben an den Erzbischof Bernhard
von Vienne über diese Priester erbittert Klage geführt: Es sei ja mittlerweile üblich,
dass jeder, der auch nur ein wenig nach Ruhm und Ehren in der Welt strebe, sich
einen domesticus sacerdos halte – aber nicht etwa, um diesem Geistlichen dann
zu gehorchen, sondern um ihn wie einen Diener zu benutzen! Viele dieser Priester
dienten bei Tisch, mischten Wein, versorgten Landsitze und führten Hunde oder die
Pferde, auf denen die Frauen ritten. Dabei sei es den Leuten ganz egal, welche Qua-
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litäten solche Geistlichen hätten – solange sie nur „ihre eigenen Priester“ (presbyteri

20 Van Rhijn 2006.


21 Van Rhijn 2007, 171–212.
22 MGH Capit. 1 (Capitula de examinandis ecclesiasticis), Nr. 38, c. 12, 110: Ut nullus ex laicis pres-
biterum vel diaconem seu clericum secum habere praesummat vel ad eclesias suas ordinare absque
licentiam seu examinatione episcopi sui, ut ipse sciat, si recte possit appellari clericus aut presbiter et
sit absque repraehensione.

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232   Steffen Patzold

proprii) hätten, die es ihnen ermöglichten, die ecclesiae seniores und officia publica
hintanzusetzten. Solche Leute kämen zu den Bischöfen, so klagte Agobard, und
„sagen oder befehlen“: „Ich habe einen clericio, den ich mir aus meinen Knechten
oder meinen Benefiziaren oder meinen pagenses großgezogen habe, oder den ich von
dieser oder jener Person oder von diesem oder jenem pagus erhalten habe. Ich will,
dass Du ihn mir zum Priester weihst“. Und danach, so weiter Agobard, glaubten sie,
dass die maioris ordinis sacerdotes für sie nicht mehr notwendig seien, und schwänz-
ten deshalb die publica officia und die Predigten.23
Agobard stand mit dieser Klage nicht allein. Über eine ähnliche Praxis beschwerte
sich beispielsweise auch Theodulf von Orléans. Er beschrieb folgenden pessimus usus
in seiner Diözese: Manche Leute hörten sich an Sonn- und Feiertagen früh morgens
eine missa peculiaris an (und sei es eine Totenmesse); und mit diesem Argument
erschienen sie dann nicht zur Messe und Predigt in der publica mater ecclesia,
sondern sprächen stattdessen schon vormittags dem Alkohol zu und gäben sich ihren
Gelagen hin. Das wollte Theodulf unterbinden: Deshalb verpflichtete er alle Gläubi-
gen zum Besuch der publica mater ecclesia und verbot zugleich den Priestern, in den
„Oratorien“ Messen so zu lesen, dass sie Gemeindemitglieder vom Besuch des Gottes-
dienstes samt Predigt abhielten.24
Ein drittes Beispiel: Theodulfs Nachfolger Jonas beklagte in seiner Schrift „De
institutione laicali“, daß jene Priester, die materiell arm und von niederer Herkunft
seien, von manchen Laien so sehr verachtet würden, daß sie diese Geistlichen als
ihre administratores und procuratores benutzten, sie zwängen, ihnen zu dienen, und
sich weigerten, sie als Tischgenossen zu haben. Das schien Jonas ein Unding, ja gera-

23 Agobard von Lyon, Epistolae, ed. Dümmler, Nr. 11, c. 11, 203-204: Haec pauca veteris et novi testa-
menti collegimus testimonia, in quibus quasi in speculo contueri valeamus foeditatem nostri temporis,
omni lacrymarum fonte plorandam; quando increbuit consuetudo impia, ut pene nullus inveniatur an-
helans et quantulumcunque proficiens ad honores et gloriam temporalem, qui non domesticum habeat
sacerdotem, non cui obediat, sed a quo incessanter exigat licitam simul atque illicitam obedientiam,
non solum in divinis officiis, verum etiam in humanis; ita ut plerique inveniantur, qui aut ad mensas
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ministrent, aut saccata vina misceant, aut canes ducant, aut caballos, quibus feminae sedent, regant,
aut agellos provideant. Et quia tales, de quibus haec dicimus, bonos sacerdotes in domibus suis habere
non possunt (nam quis esset bonus clericus qui cum talibus hominibus dehonestari nomen et vitam
suam ferret?), non curant omnino quales clerici illi sint, quanta ignorantia caeci, quantis criminibus in-
voluti; tantum ut habeant presbyteros proprios, quorum occasione deserant ecclesias seniores, et officia
publica. […] quando volunt illos ordinari presbyteros, rogant nos aut iubent, dicentes: „Habeo unum
clericionem, quem mihi nutrivi de servis meis propriis, aut beneficialibus, sive pagensibus; aut obtinui
ab illo vel illo homine, sive de illo vel illo pago. Volo ut ordines eum mihi presbyterum.“ Cumque factum
fuerit, putant ex hoc quod maioris ordinis sacerdotes non eis sint necessarii, et derelinquunt frequenter
publica officia et praedicamenta.
24 MGH Capit. episc. 1 (Theodulf von Orléans, Erstes Kapitular), c. 45, 141.

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Correctio an der Basis: Landpfarrer und ihr Wissen im 9. Jahrhundert   233

dezu gefährlich: Denn wie sollten solche Leute die Priester als ihre Vermittler bei Gott
akzeptieren, wenn sie die Geistlichen doch derart verachteten?25
Zu solchen Nachrichten passen die vielen Verbote, die sich über Jahrzehnte durch
die karolingischen Synodalbeschlüsse und Kapitularien ziehen: Priester sollten nicht
conductores sei; sie sollten nicht als Meier fungieren, sollten nicht an Jagden teil-
nehmen, nicht Hunde führen, nicht für ihre Herren Urkunden schreiben.26 Schon im
sogenannten ‚Concilium Germanicum‘ von 742/43 hieß es allerdings auch: Jeder Graf
solle auf dem Kriegszug einen Priester „bei sich haben“ (auch hier: secum habere), der
den Männern die Beichte abnehmen und Bußen auferlegen könne.27 Auch in einem
schlecht überlieferten Kapitel, das dem Jahr 802 zugeschrieben wird, hören wir von
solchen Geistlichen: Die Priester und die übrigen canonici, welche die Grafen in ihren
Diensten hielten (in ministeriis habent), sollten ganz und gar den zuständigen Diöze-
sanbischöfen unterworfen bleiben.28
Solche „Hauspriester“ waren gewissermaßen ein verkleinertes Abbild der Hofka-
pelle des Königs. Die Eliten des Frankenreichs waren mobil; sie verfügten über weiten
Streubesitz und waren in halb Europa unterwegs. Leute dieses Schlages ließen sich
nur schlecht in das Pfarreisystem eingliedern, das sich seit dem 8. Jahrhundert ver-
dichtete und zugleich territorialisierte.29 So hielt sich ein hoher Herr einen Priester in
seiner engeren Umgebung, der mit ihm zu reisen hatte, ihn bei der Verwaltung der
Güter unterstützte und den lästigen Besuch des officium publicum an Sonn- und Feier-
tagen unnötig erscheinen ließ, weil er ja selbst früh morgens eine Messe in einem
Oratorium lesen konnten (etwa in einem solchen, wie es Einhard in seinem Haus in
Aachen hatte30).
Auf dem Konzil von Meaux-Paris 845/846 wurden diese Priester ausdrücklich als
„Kapläne“ bezeichnet – oder genauer: als diejenigen presbyteri, die mit den viri poten-
tes (und den potentes feminae) in capellam vadunt. Diese Priester werden in den Kon-
zilsbeschlüssen aber – und das ist bezeichnend – zugleich eindeutig abgegrenzt von
den parrochiani presbyteri.31 Das heißt: Die presbyteri proprii und sacerdotes dome-

25 Jonas von Orléans, De institutione laicali, ed. Migne, c. 20, 208 D – 209 A.
26 MGH Capit. 1 (Capitula ecclesiastica a. 810/13?), c. 13, 179; MGH Conc. 2,1 (Concilium Moguntini-
ense a. 813), c. 14, 264; MGH Conc. 2,1 (Concilium Cabillonense), c. 12, 276 und c. 44, 282; MGH Conc.
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3 (Konzil von Pavia a. 850), c. 18, 227–228.


27 MGH Conc. 2,1 (Concilium Germanicum a. 743?), c. 2, 3: Id est unum vel duos episcopos cum capel-
lanis presbiteris princeps secum habeat, et unusquisque praefectus unum presbiterum, qui hominibus
peccata confitentibus iudicare et indicare poenitentiam possint.
28 MGH Capit. 1 (Capitulare missorum generale a. 802), c. 21, 95: Ut presbiteros ac caeteros canonicos,
quos comites sui in ministeriis [codex unicus: misteriis] habent omnino eos episcopis suis subiectos ex-
hibeant, ut canonica institutio iubet; zu dem Text und seiner Überlieferung: Patzold 2007.
29 Vgl. zu diesem Prozeß die oben, Anm. 12, angegebene Literatur.
30 Einhard, Translatio SS. Marcellini et Petri, ed. Waitz, lib. 3, c. 3, 246, Z. 60–61; dazu ausführlicher:
Flach 1976, 56–58; Falkenstein 2002, 168.
31 MGH Conc. 3 (Konzil von Meaux-Paris 845), Nr. 11, c. 77, 124: Provideant viri potentes et maxime

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234   Steffen Patzold

stici, über die Agobard klagt und die uns auch sonst immer wieder in Quellen der Zeit
begegnen, waren gerade nicht jene Pfarrpriester, die wir etwa als Adressaten in den
Diözesanstatuten angesprochen finden. Die „Capitula episcoporum“ nämlich sind
sicher nicht an Kapläne mächtiger Magnaten gerichtet. Die Texte setzen in aller Regel
voraus, dass ihre Adressaten eine Gemeinde haben – eine plebs oder einen populus.32
Innerhalb dieser zweiten Gruppe von Priestern – solchen mit Gemeinde – sind
nun aber wiederum zwei Typen zu unterscheiden: Es gab Priester, die eine Gemeinde
hatten und zugleich über Zehnt- und andere Pfarrrechte verfügten; und es gab
Priester, die zwar eine Gemeinde hatten, aber über keine Zehnt- und anderen Pfarr-
rechte verfügten. Das konnte beispielsweise dann der Fall sein, wenn im Zuge des
Landesausbaus eine capella neu errichtet wurde, etwa für den Gottesdienst und die
Seelsorge einer lokalen Gemeinschaft, der man den weiten Weg zu einer schon beste-
henden Pfarrkirche nicht länger zumuten wollte. Hinkmar von Reims hat diese Situ-
ation in seinem Traktat „De ecclesiis et capellis“ ausdrücklich behandelt – und dabei
hohen Wert darauf gelegt, daß solche neuen capellae keine Zehnt- und Pfarrrechte
haben sollten.33 Einschlägige Bestimmungen dazu ziehen sich außerdem auch durch
die Kapitularien und Synodalbeschlüsse der Zeit.34 In der Diözese Freising lassen sich
sowohl in Urkunden als auch in Bischofskapitularien schon terminologisch ecclesiae
baptismales einerseits von den sogenannten tituli andererseits unterscheiden – unter-
geordnete Kirchen, die kein Taufrecht hatten. Ein Bischofskapitular aus der Zeit um
840 geht außerdem davon aus, daß den Priestern an den Taufkirchen andere Priester
unterstellt waren, die hier als presbiteri subiecti bezeichnet werden;35 der Text regelt

potentes feminae, ut in suis domibus adulteria et luxuriae concubinaticae et incesta adulteria non vi-
geant. Et suos presbyteros, qui cum eis in capella vadunt, huiusmodi virtutem habere faciant, quatinus
omnia vitia in domibus suis resecent et orationem dominicam ac symbolum cunctos tenere et frequen-
tare compellant, quia parrochiani presbyteri et episcoporum ministri de minoribus et vilioribus personis
hoc providere studebunt.
32 Hier müssen wenige Beispiele genügen: MGH Capit. episc. 1, c. 14, 31 (Theodulf von Orléans, Ers-
tes Kapitular, Prolog, 103): Obsecro vos, fratres dilectissimi, ut erga subditarum plebium profectum et
emendationem vigilantissima cura laboretis […]; Ghaerbald von Lüttich forderte in seinem zweiten
Kapitular dazu auf, zu überprüfen, welchen Ruf die Priester im populus genossen; vgl. außerdem Wal-
ter von Orléans, Kapitular: Ut plebibus suis denuncient, ne iuramentis assuescant; Haito von Basel,
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Kapitular, ebd., Inscriptio, 210: Haec capitula, quae sequuntur, Haito Basilensis ecclesiae antistes et
abbas coenobii, quod Augia dicitur, presbyteris suae dioceseos ordinavit, quibus monerentur, qualiter
se ipsos ac plebem sibi commissam caste et iuste regere atque in religione divina confirmare deberent;
MGH Capit. episc. 3 (Capitula Frisingensia tertia), c. 2, 222: […] et qui scit, docere populum sibi subiec-
tum non retardet et doctrinam cum exemplo bonorum operum ostendat.
33 Hinkmar von Reims, Collectio de ecclesiis et capellis, ed. Stratmann, hier bes. 75–8.
34 Vgl. statt anderer nur MGH Conc. 2,1 (Concilium Arelatense a. 813), Nr. 34, c. 20, 252.
35 MGH Capit. episc. 3 (Capitula Frisingensia tertia), c. 14, 226: Iubemus et canonica auctoritate prae-
cipimus, ut presbiteri baptismalis ęcclesię adeo a suis titularibus et sibi subiectis presbiteris in omni
more honorentur, ut nil extra normam canonicam acturi inveniantur; vgl. auch ebd., c. 35 und c. 37,
230. – Auch in den Traditionen des Hochstifts Freising, ed. Bitterauf, findet sich regelmäßig die Un-

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ausdrücklich, dass insbesondere die Priester der Taufkirchen eine Kopie der zuvor
verzeichneten Bestimmungen besitzen sollen.36 Halitgar von Cambrai unterschied
um 830 Priester, qui vicos tenent, von solchen, die keinen vicus innehatten; dabei ging
er davon aus, dass nur in den vici Taufkirchen (baptismales ecclesiae) stünden.37 Die-
selbe Unterscheidung findet sich auch in einem Diözesanstatut Radulfs von Bourges:
Er forderte, daß die sacerdotes in cellis, wenn sie denn taufen wollten, zu diesem
Zweck ad vicos zusammenkommen sollten.38 Hinkmar von Reims behauptete, der
Priester des Landguts von Follanaebrayus namens Ottericus habe gleichzeitig noch an
drei weiteren Kirchen die Messe gelesen (cantavit). Diese drei Kirchen waren jedoch
untergeordnet: titulus autem ipsius, in quo et residuus erat, fuit in Follanaebrayo.39
Zudem legte Hinkmar im Streit mit seinem gleichnamigen Neffen, dem Bischof von
Laon, großen Wert auf den Nachweis, daß die Kirche in Folembray keiner anderen
Kirche unterstand (was demnach prinzipiell als möglich betrachtet wurde).40
Wir müssen folglich mindestens drei Typen von Priestern auseinanderhalten:
1) presbyteri parrochiani, die wir „Pfarrer“ nennen können; 2) Priester, die capellae,
cellae oder oratoria versahen, zwar für eine Gemeinde Verantwortung trugen, aber an
ihrer Kirche keine Zehnt-, Tauf- und anderen Pfarrrechte hatten; 3) presbyteri proprii,
„Hauspriester“ oder Kapläne von Angehörigen der Elite, ohne eigene Gemeinde.
Ulrich Stutz hat die Unterschiede zwischen diesen drei Typen mit seiner Theorie
der „Eigenkirche“ ganz und gar verwischt41: Er kannte nur „Eigenpriester“, die den
Auftrag hatten, eine Kirche nach Art einer grundherrlichen Mühle zu betreiben – und
zugleich als Verwalter, Hundeführer, Urkundenschreiber für ihre Herren tätig waren.
Dieses Bild vermengt, was Zeitgenossen des 9. Jahrhunderts strikt zu trennen wussten!

terscheidung zwischen ecclesiae parrochiales bzw. ecclesiae baptismales auf der einen Seite und tituli
auf der anderen Seite. – Ecclesiae baptismales werden außerdem erwähnt in den MGH Capit. 1 (Capi-
tula ecclesiastica ad Salz data), c. 2, 119.
36 MGH Capit. episc. 3 (Capitula Frisingensia tertia), c. 35, 230: Volumus, ut unusquisque presbiter
baptismalis ęcclesię ista praenotata capitula secum habeat in pergamena scripta […].
37 MGH Capit. episc. 3 (Capitula Neustrica secunda), c. 15, 61: Ut prescriptis duobus temporibus, id est
pascha et pentecosten, in vicis baptizent, quibus in locis baptismales ecclesias antiqua consuetudo ap-
pellat (vgl. auch Capitula Neustrica quarta, ebd., c. 7, 71). – In der Zuschreibung des Textes an Halitgar
folge ich (gegen die Skepsis von Pokorny, ebd., 63-64.) Hartmann 1979, 376.
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38 MGH Capit. episc. 1 (Radulf von Bourges, Kapitular), c. 20, 249: His itaque duobus temporibus,
pascha scilicet et pentecosten, omes ex cellis sacerdotes ad vicos convenire debent et ibi officio peracto
cum summa diligentia baptizandos quosque baptizent. Et tunc ad proprias ecclesias cum baptizatis
suis et ceteris subiectis remeantes missarum sollemnia persolvant. – Danach auch: MGH Capit. episc.
1 (Ruotger von Trier, Kapitular), c. 21, 68; vgl. außerdem noch MGH Capit. episc. 2 (Herard von Tours,
Kapitular), c. 31, 134.
39 Hinkmar von Reims, Epistola, ed. Migne, 538 B.
40 Ebd., 539 A.
41 Vgl. dazu die knappe Bemerkung bei Stutz 1972, 238, Anm. 7, in der er die Existenz eines „Haus-
kaplanats“ zwar anerkennt, aber die einschlägigen Klagen von Agobard und anderen darauf gerade
nicht beziehen will.

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236   Steffen Patzold

Die Differenzierungen werden nun spätestens dann interessant, wenn wir nach
der Position der Priester fragen: Wie kamen die Priester des ersten Typs, also die
Pfarrer, ins Amt? Welche Stellung, welches Ansehen genossen sie innerhalb ihrer
Gemeinde? Und welche Qualifikation durfte man von ihnen erwarten? Die Theorie der
Eigenkirche rechnet bei der Auswahl und Einsetzung aller Priester fast ausschließlich
mit dem jeweiligen Grundherrn, der bestenfalls noch mit dem zuständigen Bischof
über die Besetzung „seiner“ (Pfarr-)Kirche in Streit geraten kann. Dieses Bild ist
jedoch in dramatischer Weise unterkomplex: Das Modell der „Eigenkirche“ blendet
mit seiner Konzentration auf Eigenkirchenherren und Bischöfe die Interessen und
Handlungsspielräume sowohl der Pfarrgemeinden als auch der Priester selbst aus.
Das Modell setzt voraus, dass eine lokale Gemeinschaft – eine Gemeinde also – immer
nur einen einzigen Grundherrn hatte. Das mag vielleicht für den Lorscher Landesaus-
bau im Odenwald im späteren 9. Jahrhundert denkbar sein. Aber es geht schwerlich
zusammen mit unserem Wissen über adligen Streubesitz in anderen Gegenden des
karolingerzeitlichen Frankenreichs; und es passt auch schlecht zur Existenz der klei-
neren freien Eigentümer, die etwa in Kapitularien zur Heeresorganisation auch noch
in den ersten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts vorausgesetzt wird.42
So könnte sich ein frischer, unvoreingenommener Blick in die Quellen lohnen.
Stutzig macht dann schon das, was das Konzil von Arles 813 beschloss: „Dass Laien
es nicht wagen, von Priestern für die Betrauung mit einer Kirche eine Gabe zu
fordern, weil ja Kirchen doch häufig wegen der Gier von Laien an solche Priester ver-
geben werden, die nicht geeignet sind, das Priesteramt auszufüllen.“43 Ganz ähnlich
bestimmten es 813 auch die Konzilien in Reims, Mainz und Tours44 – oder auch die
„Capitula“ des Bischofs Theodulf von Orléans45.
Alle diese Bestimmungen sind nur schlecht vereinbar mit der Vorstellung, daß
im Regelfall ein Grundherr einen von ihm abhängigen Mann als Priester seiner
Eigenkirche eingesetzt habe: Denn wie hätte ein solcher Habenichts seinem Herrn
überhaupt eine attraktive Bestechungssumme zahlen sollen? Unvoreingenommen
gelesen, weisen die Texte vielmehr auf Priester hin, die von sich aus nach einer neuen

42 Vgl. MGH Capit. 1 (Memoratorium de exercitu in Gallia occidentali praeparando a. 807), Nr. 48, c.
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2, 134–135; ebd. (Capitulare missorum de exercitu promovendo a. 808), Nr. 50, c. 1, 137; MGH Capit. 2
(Capitula ab episcopis in placito tractanda a. 829), Nr. 186, c. 7, 7; ebd. (Capitulare missorum a. 829),
Nr. 188, c. 5, 10.
43 MGH Conc. 2,1 (Concilium Arelatense a. 813), c. 5, 251: Ut laici omnino a praesbiteris non audeant
munera exigere propter commendationem eclesiae, quia propter cupiditatem plerumque a laicis talibus
presbiteris eclesiae dantur, qui ad peragendum sacerdotale officium indigni sunt.
44 MGH Conc. 2,1 (Concilium Remense a. 813), c. 21, 255; ebd. (Concilium Turonense a. 813), c. 15, 288;
ebd. (Concilium Moguntiniense a. 813), c. 30, 268.
45 MGH Capit. episc. 1 (Theodulf von Orléans, Erstes Kapitular), c. 16, 114. – Vgl. im übrigen MGH
Capit. episc. 3 (Capitula ecclesiastica a. 810/813?), c. 1, 178; und ebd. (Statuta Bonifatii 819/829), c. 7,
361.

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Position in einer Gemeinde strebten.46 Und mit den laici, die regelmäßig im Plural
genannt werden, muss hier auch gar nicht zwangsläufig jeweils ein einzelner Grund-
herr gemeint gewesen sein; es könnte genauso gut eine Gruppe, eine lokale Gemein-
schaft, eben eine Pfarrgemeinde angesprochen gewesen sein, die kollektiv einen
Pfarrer für sein Amt auswählte.47
Kollektive Entscheidungen einer Gemeinde über die Besetzung von Pfarrkirchen
haben in unserem Eigenkirchen-dominierten Bild der kirchlichen Organisation auf
dem Lande bisher keinen Platz. Schon Dietrich Kurze hat allerdings in seinem Buch
über die Pfarrerwahlen einschlägiges Material auch aus dem Frühmittelalter zusam-
mengetragen.48 Bekannt ist der Titel I,9 der „Lex Baiwariorum“: Hier werden zwei
Arten benannt, wie ein Priester ins Amt komme, nämlich: quem episcopus in parochia
ordinavit – vel qualem plebs sibi recepit ad sacerdotem. Es ist sprachlich nicht klar,
ob die Konjunktion „vel“ hier auf eine Alternative oder auf zwei gleichermaßen not-
wendige Bedingungen für den Weg ins Priesteramt verweist. Genannt werden aber
ausschließlich Bischof und Gemeinde (plebs); von einem Grundherrn ist mit keinem
Wort die Rede.49
Für Sachsen bestimmte Karl der Große in der sogenannten „Capitulatio de par-
tibus Saxoniae“: Jede Kirche solle einen Hof und zwei Mansen Land erhalten – und
zwar ausdrücklich von den pagenses ad ecclesiam recurrentes. Jeweils 120 Männer
sollten gemeinsam der Kirche einen Knecht und eine Magd zur Verfügung stellen.50

46 Vgl. dazu etwa MGH Capit. episc. 1 (Ghaerbald von Lüttich, Erstes Kapitular), c. 13, 19 (= MGH
Capit. 1 [Capitula a sacerdotibus proposita], Nr. 36, c. 13, 107): Ut nullus presbyter a sede propria sanc-
tae ecclesiae, sub cuius titulo ordinatus fuit, admonitionis causa ad alienam pergat ecclesiam, sed in
eadem devotus usque ad vitae permaneat exitum. (Der Charakter des Textes ist strittig: Pokorny 2005,
93–96, hat gegen den Editor Brommer bezweifelt, daß es sich überhaupt um ein Bischofskapitular
handele; vgl. dagegen aber wieder van Rhijn 2007, 219–228, die zwar Pokornys Zweifel an Ghaerbalds
Autorschaft für berechtigt hält, den Text aber sehr wohl als von einem Bischof, nicht vom König er-
lassen betrachtet.) – Vgl. außerdem beispielsweise noch: MGH Capit. episc. 1 (Ghaerbald von Lüttich,
Drittes Kapitular), c. 7, 39.
47 So etwa, wenn es in den MGH Capit. episc. 3 (Statuta Bonifatii), c. 1, 360, heißt: Ut nullus pres-
biter creditam sibi ecclesiam sino [sic!] consensu episcopi derelinquat et laicorum suasione ad aliam
transeat.
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48 Kurze 1966, 42–73, der freilich seine Belege noch ganz im Lichte der Stutz’schen Eigenkirchenlehre
interpretierte.
49 Lex Baiwariorum, ed. Schwind, tit. I, 9, 279-780: De presbiteris vel diaconibus, quomodo conponan-
tur. Si quis presbytero vel diacono quem episcopus in parochia ordinavit vel qualem plebs sibi recepit
ad sacerdotem, quem ecclesiastica sedes probatum habet, iniuriam fecerit vel plagaverit, tripliciter eos
conponat. – Zu der Stelle schon: Kurze 1966, 45–51.
50 MGH Capit. 1 (Capitulatio de partibus Saxoniae), Nr. 26, c. 15, 69: Ad unamquamque ecclesiam
curte et duos mansos terrae pagenses ad ecclesiam recurrentes condonant, et inter centum viginti ho-
mines, nobiles et ingenuis similiter et litos, servum et ancillam eidem ecclesiae tribuant. Zu einer mögli-
chen Datierung in die Mitte der 790er Jahre vgl. jetzt Hen 2006, 38–44; skeptisch dagegen Nelson 2013,
23–24; zur Interpretation der Capitulatio bleibt wichtig: Schubert 1993.

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238   Steffen Patzold

Zweifellos, das erst noch zu christianisierende Sachsen hatte im 8. Jahrhundert eine


Sonderstellung; auch geht es in dem Kapitel nicht eigens um die Bestellung des Pries-
ters. Immerhin suchten aber fränkische Eliten für Sachsen die Lösung bei der Orga-
nisation und Ausstattung der Kirchen auf dem Land offenbar nicht in der Macht ein-
zelner nobiles, sondern im gemeinschaftlichen Handeln aller nobiles, ingenui und liti
auf lokaler Ebene.
Doch nicht nur in normativen Texten wird ein kollektives Interesse am Pfarrer
sichtbar. Auf dem Rückweg von einer gemeinsamen Zechtour nach Mouzon schlug
Ende der 860er Jahre der Priester Trisingus in volltrunkenem Zustande seinem Schwa-
ger Livulf mit dem Schwert zwei Finger ab. Daraufhin wurde Trisingus von Hinkmar
von Reims mehrfach zu Synoden vorgeladen, um sich in dieser Sache zu rechtfer-
tigen. Auch nach eineinhalb Jahren war der Fall noch nicht geklärt, Trisingus aber
hatte sich mittlerweile auf den Weg zum Papst nach Rom gemacht. In dieser Situation
wandte sich nun nicht etwa ein Stutz’scher Eigenkirchenherr, der die Verluste seiner
grundherrlichen Kirche beklagt hätte, an den Reimser Erzbischof. Es beschwerte sich
vielmehr die Gemeinde: Die parociani, die nicht länger ohne Priester sein wollten,
führten bei Hinkmar Klage. So jedenfalls berichtete es der Erzbischof selbst in einem
Brief an Papst Hadrian II.51 Dasselbe aber können wir auch noch in einem zweiten
Fall beobachten, über den uns ebenfalls Hinkmar berichtet: Auch hier klagte nicht
ein einzelner Grundherr über die Vakanz einer Pfarre, sondern die homines in ipsa
villa – und zwar quia non haberent presbyterum in sua ecclesia.52
Wenn wir schließlich den Blick über die Alpen nach Italien weiten, so treffen
wir in Urkunden relativ häufig auf Belege für Priesterwahlen.53 Und so dürfen wir
zumindest fragen: Ist dieses Phänomen eine Besonderheit Italiens? Oder sehen wir
dort solche Pfarrerwahlen vielleicht nur deshalb häufiger, weil wir eine erheblich
dichtere und zugleich auch etwas anders ausgerichtete urkundliche Überlieferung für
die lokale Ebene haben? Im Jahr 832 interpretierte Kaiser Lothar jedenfalls jene ein-
gangs zitierten, grundlegenden Bestimmungen seines Vaters von 818/81954, die auch
der Astronomus erwähnt hatte, für Italien in recht eindeutiger Weise: Nicht etwa ein
einzelner Grundherr, sondern die gesamte Gemeinde, der populus, sollte seine Pfarr-
kirche jeweils mit einer Hufe Land ausstatten.55
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51 Hinkmar von Reims, Epistola, ed. Migne, 641 B – 648 D, hier 646 C – 648 C, bes. 648 A: Post annum
et sex menses reclamantibus parochianis ecclesiae ipsius, in qua idem presbyter fuerat ordinatus, se non
habere presbyterum; zu dem Fall auch Schmitz 2004, 7–8.
52 Hinkmar von Reims, Epistola, ed. Migne, 538 D; vgl. Kurze 1966, Anm. 52.
53 Vgl. schon Kurze 1966, 57–71.
54 Vgl. oben, Anm. 19.
55 MGH Capit. 2 (Capitulare Papiense a. 832), Nr. 201, c. 1, 60: Quodsi forte in aliquo loco aecclesia sit
constructa, quae tamen necessaria sit et nihil dotis habuerit, volumus, ut secundum iussionem domni
et genitoris nostri unus mansus cum duodecim bunuariis de terra arabili ibi detur et mancipia duo a
liberis hominibus, qui ad eandem ecclesiam officium Dei debeant audire, ut sacerdotes ibi possint esse

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Doch auch nördlich der Alpen lassen sich noch deutliche Indizien für kollektives
Handeln von Gemeinden nennen – ja sogar für eine kollektive Auswahl des Priesters
durch seine parrochiani. Im Codex Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 8508
findet sich auf foll. 155v bis 157r ein Priesterexamen, das Wilfried Hartmann mit guten
Gründen Halitgar von Cambrai zugeschrieben hat. Der Text regelt, wie Geistliche
(clerici) vor ihrer Weihe zum Priester zu prüfen seien – und was sie bei dieser Gele-
genheit vor dem Bischof, der Geistlichkeit und dem populus zu versprechen hatten.
Demnach sollte der Bischof einen jeden Kandidaten fragen, si natura prudens vel si
electus a populo sit, si literatus, si bene doctus. Ein Priester sollte also nicht nur klug
und gut ausgebildet sein, sondern auch „von der Gemeinde erwählt“.56
Die bisherigen Indizien bereiten den Boden für das, was in einer Handschrift
wohl des ausgehenden 9. Jahrhunderts aus St. Maximin in Trier dokumentiert ist.57
Darin findet sich nämlich eine kleine Zusammenstellung von Texten, die Priester
betreffen: Fol. 109r enthält ebenfalls Fragen, die typisch sind für ein Priesterexamen
vor der Weihe des Kandidaten. Sie zielen vor allem auf die räumliche und soziale
Herkunft des künftigen Priesters und auf sein Wissen: Stammt er aus der Gemeinde?
Ist er frei geboren, aus einer legitimen Ehe? Kennt er die Psalmen, die Weihegrade
und ihre Bedeutung, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser? Kann er lesen – und
versteht er auch, was er da liest? Weiß er zu predigen?58 Ähnliches findet sich einige
Jahrzehnte früher schon im Pariser Latinus 101259 und andernorts60; und dieselben
Themen werden auch in etlichen Bischofskapitularien des 9. Jahrhunderts angespro-
chen. (Der Trierer Codex selbst enthält passenderweise auch die „Capitula“ Theodulfs
von Orléans.61)
Interessant ist nun in unserem Zusammenhang die Rückseite desselben Blattes
109: Sie stammt von anderer Hand; Hubert Mordek hat trotzdem den ersten Absatz
der Rückseite noch für den Schluss des Fragenkatalogs gehalten, der auf der Vorder-
seite beginnt.62 Sicher ist das nicht, es könnte sich auch schon um den Beginn eines
zweiten kleinen Textes handeln. Von seiner Funktion her wäre er allerdings eng ver-

et divinus cultus fieri; quodsi hoc populus facere noluerit, destruatur.


56 Institutio ecclesiasticae auctoritatis, ed. Hartmann 1979, 392.
57 Zum Folgenden vgl. Mordek 1995, 127–129, zur Provenienz aus St. Maximin, die durch einen ent-
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sprechenden Besitzvermerk und einen Eintrag im Bibliothekskatalog spätestens für das ausgehende
11. Jahrhundert gesichert ist: ebd., 127. – Ich danke ganz herzlich Herrn Dr. Charles West, der mich auf
den Codex aufmerksam gemacht hat.
58 Gent, Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek, Ms. 506, fol. 109r.
59 Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1012, foll. 27v–29r; der Text ist gedruckt bei Vykoukal
1913, 85–86. (die orthographischen Fehler der Handschrift sind hier stillschweigend verbessert).
60 Im selben Codex, Gent, Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek, Ms. 506, folgt etwa foll. 103r–104r
eine weitere Liste von Fragen, die offenkundig an einen Priester adressiert sind; zu den Priesterexa-
men der Karolingerzeit vgl. jetzt grundlegend: van Rhijn 2012.
61 Gent, Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek, Ms. 506, foll. 87r–94r.
62 Mordek 1995, 128.

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240   Steffen Patzold

bunden mit dem Examen auf der Vorderseite des Blattes: Hier geht es nämlich nun
um die Auswahl von Diakonen und Priestern. Interessanterweise wird dazu festge-
halten, dass der Priester von den boni homines jener Pfarrei zu wählen sei, für die er
geweiht werden soll.63 Dann folgen die Kriterien, an denen sich die Kandidaten für
die Priester und die Diakonsweihe messen lassen müssen. Diese Kriterien sind fast
wörtlich aus dem Paulus-Brief an Timotheus übernommen (1 Tim. 3, 2–4) – obwohl
sie dort bekanntlich auf episcopi und diaconi, nicht auf presbiteri bezogen sind.64 Am
Ende steht in unserem Trierer Codex sogar noch eine Formel, mit der offenbar die boni
homines (oder ihr Sprecher?) auf einer Versammlung das Ergebnis ihrer Wahl verkün-
den und die Anwesenden dazu auffordern sollten, berechtigte Einwände gegen den
Gewählten offen vorzutragen – so sie denn Einwände hätten.65
Wahrscheinlich wird sich das Material noch weiter verdichten lassen. Schon
jetzt aber deutet der Befund in eine bestimmte Richtung: In den Weiten des Fran-
kenreichs des 9.  Jahrhunderts sind offenbar zumindest nicht überall Pfarrkirchen
von Grundherren mit deren freigelassenen Sklaven als abhängigen „Eigenpriestern“
besetzt worden. Wir dürfen stattdessen auch an Priester mit Eigeninitiative denken,
an Priester, die wohlhabend genug waren, um Gemeinden zu bestechen. Und wir
dürfen – zumal in Regionen mit vielen kleineren freien Eigentümern – mit Gemein-
den rechnen, die kollektiv, repräsentiert durch die boni homines, über die Wahl ihres
Pfarrers entschieden.

3 Ausbildung und Wissen der Pfarrer


Diese Pfarrer aber brauchten, damit das zentrale politische Projekt der Correctio ein
solides Fundament hatte, eine vernünftige Ausbildung; sie brauchten Bücher. Im
Priesterexamen der Handschrift aus St. Maximin wird gefragt: Ob der Kandidat das
Glaubensbekenntnis und das Vaterunser gut kenne? Denn ohne dies könne man
Gott nicht gefallen! Auch soll der Priester daraufhin geprüft werden, wie gut er die

63 Dies und das folgende nach Gent, Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek, 506, fol. 109v: Si sciat
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quam gra[n]dis honor est diaconalis uel sacerdotalis et quam graue pondus utriusque sit honoris et si
habeat impetratam ecclęsiam in cuius titulo ordinetur. Ut presbiter eligatur per electionem hominum
bonorum in illa parrochia degentium in cuius ecclesię titulo ordinatur.
64 Ebd.: Oportet presbiterum inreprehensibilem esse, sobrium, prudentem, pudicum, ornatum, hospi-
talem, doctorem, non uinolentum non percussorem, sed modestum, non litigiosum, non cupidum, suę
domui bene praepositum, non neophytum ne in superbia elatus in iudicium incidat diaboli. Oportet
autem illum et testimonium habere bonum ab his qui foris sunt, ut non in obprobrium incidat et laqueum
diaboli.
65 Ebd.: Auxiliante domino deo et saluatori nostro Iesu Christo eligimus in ordine diaconi hos ill. in
titulo illo et in ordine presbiteri .i. hos in titulo illo. Si quis autem habet aliquid contra hos uiros pro deo
propter deum cum fiducia exeat et dicat, uerum tamen memor communionis suę.

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Correctio an der Basis: Landpfarrer und ihr Wissen im 9. Jahrhundert   241

Psalmen kennt und die capitula – die ihrerseits erklärt werden als die lectiones per
singula tempora congruas ad dicendum in horis canonicis.66 Priester mußten Kennt-
nisse haben über die Messe, über das Vater-Unser und das Glaubensbekenntnis, aber
auch über die weitere Liturgie und die Sakramente, zumal über die Taufe und die
Buße. Sie brauchten Grundkenntnisse des Kirchenrechts und des Computus (beson-
ders mit Blick auf die kirchlichen Feiertage), aber auch ein Wissen über die rechte,
gottgewollte Ordnung der Geistlichkeit, etwa mit Blick auf die verschiedenen Weihe-
grade und deren Bedeutung. Und schließlich mußten Priester in der Lage sein, ihre
Gemeinden zu belehren: Sie mussten zu predigen wissen. Musterpredigten waren ein
angemessenes Mittel, um dafür Orientierung und Halt zu bieten.
Überliefert sind nicht nur Priesterexamen67, sondern auch eine ganze Reihe
früher Bischofskapitularien, die fordern, dass Priester über diejenigen Texte verfü-
gen, die ihnen solche Kenntnisse vermitteln.68 Die Übereinstimmungen dessen, was
die verschiedenen frühen bischöflichen Capitula hierzu fordern, sind so groß, dass
Rudolf Pokorny sogar angenommen hat, schon in der Spätzeit Karls des Großen sei
eine Art Wissenskanon zentral definiert und als Norm ausgegeben worden.69
Das Ergebnis dieser normativen Vorgaben ist ganz konkret in der Überlieferung
zu beobachten: Es sind einerseits Codices, die dem Palatinus latinus 485 aus Lorsch
gleichen, also Schulbücher, die von ihrem Inhalt her darauf ausgerichtet sind, ange-
henden Pfarrern das notwendige Wissen zu vermitteln – recht sorgfältig gearbeitete
Codices mit einschlägigen Texten von guter Qualität. Das Ergebnis sind andererseits
aber auch Bücher, die Susan Keefe als „instruction-reader“ für Landpriester bezeich-
net hat: Handbücher, die den Priestern wohl tatsächlich ganz konkret bei ihrer Arbeit
in ihrer Gemeinde helfen sollten.70 Wir kennen schon jetzt eine beachtliche Zahl

66 Ebd., fol. 109r.


67 Vgl. Vykoukal 1913; van Rhijn 2012. – Ein einschlägiges Beispiel bieten etwa auch MGH Capit.
episc. 3 (Interrogationes examinationis), 214–215; vgl. außerdem unten, Anm. 78.
68 Eine karge Liste, überliefert in drei Freisinger Handschriften des 9. Jahrhunderts, stellt in 15 knap-
pen Kapiteln Wissensinhalte zusammen: Haec sunt, quę iussa sunt discere omnes ecclęsiasticos: Der
Kanon reicht eben vom Glaubensbekenntnis und Vaterunser über die Sakramente, die Meßtexte und
den Computus bis hin zur Fähigkeit, Urkunden und Briefe zu schreiben (MGH Capit. episc. 3 [Capitula
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Frisingensia prima], 204–205.). In einem Codex aus der Mitte des 9. Jahrhunderts, der wohl in Mainz
geschrieben wurde (Sélestat, Bibliothèque municipale, Ms. 132), findet sich in zehn Punkten bündig
formuliert, wie die Archipresbyter das Wissen der sacerdotes überprüfen sollten – eine Fragenliste,
die vielleicht noch aus der Zeit Richulfs von Mainz († 813) datiert (gedruckt in: ebd. [Capitula Mogunti-
ensia], 179–180); weitere enge Parallelen bestehen zur Kapitelliste Waltcauds von Lüttich, MGH Capit.
Episc. 1, 45–49.
69 Pokorny 2005, 36.
70 Vgl. dazu grundlegend: Keefe 2002; Hen 1999, 2001. – Buchbesitz von Priestern ist uns auch viel-
fach in anderen Quellen bezeugt: So führte beispielsweise Hinkmar von Reims bei seinem Neffen
darüber Klage, daß der Priester Haimerad die Kirche in Follanaebrayus, an der der Priester Bertfrid
die Messe las, zerstört habe und bei dieser Gelegenheit nicht nur liturgische Gewänder, sondern auch

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242   Steffen Patzold

solcher Codices;71 und hinter so manchem Manuskript des 9. Jahrhunderts, das im


Bibliothekskatalog als „theologische Sammelhandschrift“ oder „mélanges théolo-
giques“ verzeichnet ist, könnte sich ein weiteres Buch dieses Typs verbergen. Dieses
Material bildet den größeren Kontext für unser Lorscher Schulbuch für die Priester-
ausbildung. Es ist von der historischen Forschung bisher erst in Ansätzen erschlos-
sen.72
Die betreffenden Codices sind in der Regel recht klein und handlich. Manche
sind sichtlich aus Pergamentresten gefertigt, die bei der Produktion anderer Codices
als Beschnitt übriggeblieben sind.73 Das sprachliche Niveau schwankt stark. Das-
selbe lässt sich aber auch über den Textbestand sagen: Zwar kehren bestimmte
Texte häufig wieder; typisch sind etwa Erklärungen zur Messe, zum Vaterunser, zum
Glaubensbekenntnis, zur Taufe, auch Gebetsformeln, Musterpredigten, Lehrdialoge,
dazu Priesterexamen, Bischofskapitularien und Auszüge aus Lehrbüchern zu kirch-
lichen Institutionen wie etwa Isidors „De ecclesiasticis officiis“. Aber kein erhaltener
Codex gleicht in seiner Zusammenstellung genau dem anderen, bestenfalls lassen
sich gewisse Gruppenähnlichkeiten namhaft machen; und schon die einzelnen Texte
schwanken, wo sie wiederkehren, in ihrem Wortbestand von Codex zu Codex stark.
Die Varianz ist hierbei so groß, dass es bisweilen schwerfällt, überhaupt die Grenze
zwischen Text und Rezension scharf zu ziehen.
Eines dieser Büchlein, das Susan Keefe als „instruction reader“ bezeichnet hat,
sei hier exemplarisch etwas näher vorgestellt. An diesem Beispiel nämlich lässt sich
zumindest in Ansätzen erkennen, wie solche Bücher für Priester hergestellt worden
sein könnten. Der betreffende Codex liegt heute in der Bibliothèque Municipale in
Laon. Und schon ein flüchtiger Blick auf den Inhalt legt den Verdacht nahe, daß
das Buch zur Gruppe der Handbücher für Priester gehört. Es enthält jedenfalls eine
Zusammenstellung typischer Texte: zwei Erklärungen zum „Vater Unser“74, je eine
Erklärung zum „Symbolum Apostolorum“75 und zum „Symbolum Athanasii“76, eine

unum librum gestohlen habe: Hinkmar von Reims, Epistola, ed. Migne, 539 D.
71 Vgl. die Liste in Anhang I.
72 Grundlegend vor allem Keefe 2002; Pokorny 2005; van Rhijn 2012.
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73 Dies gilt in besonderer Weise für Wien, Österreichischische Nationalbibliothek, Cod. 1370; aber
auch in Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1012, finden sich derlei Beschnittreste verarbei-
tet, etwa für fol. 39 und fol. 53.
74 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 1v–2r; ähnlich auch in Paris, Bibliothèque nationale
de France, Lat. 13440, foll. 217r–219r und mindestens 20 weiteren Handschriften.
75 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 2v–6r (unediert?); der Text ist häufig überliefert,
etwa in Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1012, foll. 55v-59r; Paris, Bibliothèque nationale
de France, Lat. 13440, foll. 222r–v (hier Fragment); Madrid, Real Biblioteca de San Lorenzo de El Esco-
rial, L. III. 8, fol. 19v sq.
76 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 6r–15r (ähnlich beispielsweise auch in Paris, Biblio-
thèque nationale de France, Lat. 1012, foll. 60r–66v).

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Expositio missae77, in die ein sehr kurzes Priesterexamen78 eingewoben ist, sowie
Worterklärung zum Canon Romanus79, eine Erklärung zu Gebeten des Taufritus80,
inklusive einem kleinen Text mit Prüfungsfragen und Antworten zur Taufe81. Daran
schließt sich noch eine Reihe von zehn Predigten an; sie behandeln grundlegende
Themen christlicher Moral: Warum wir gute Werke tun müssen; was der Unterschied
zwischen den Guten und den Bösen ist; wie Gottesfurcht die Sünde vertreiben kann;
Warnungen vor dem Jüngsten Gericht und dergleichen mehr.82 Die Serie dieser Pre-
digten wird allerdings unterbrochen von einem kleinen Text, der sich am Anfang als
Lehrdialog ausgibt, tatsächlich aber die Dialogform im weiteren nicht durchhält:
Der Text handelt vom Körper Adams, der Erschaffung der Welt durch Gott und von
Sünden;83 zumindest der erste Teil, der die Substanzen aufführt, aus denen Adams
Körper gemacht ist, wird ähnlich sonst auch in medizinischen Zusammenhängen
überliefert.84

77 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 15r–22v.


78 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 16v–17r: […] pro qui[corr. d] dititur benedictus bene-
dictus dicitur ad adnontiandum uerbum diuinum et tradendum baptismum uel penitente lauacrum et
hostias hofferendum omnipotentem domino pro salute uiuorum et requiem defunctorum ; pro quid can-
tas missa in cummorationem morti domini que mors christi facta est uita mundauit offerendum proficiat
ad salutem uiuorum et requiem defunctorum adque medella animarum et corporum quid cantis misa .
Offero panem in corpore christi ipso dicente [corr. ad] apostulos accipite et manducate hoc [corr. est]
enim corpus meum ; offero uinum q[corr. ua]si in sanguinem eius ipso dicente ad apostolos hic enim san-
guis meus qui pro uobis et pro multis efundetur in remissionem peccatorum uinum aut com aqua mixto
offero; ähnlich, aber im einzelnen mit großer Varianz, z.B. auch in: Paris, Bibliothèque nationale de
France, Lat. 1008, foll. 30r–31r; Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Weißenburg 91, foll. 149r–v;
Albi, Bibliothèque municipale, Ms. 43, foll. 15v–16r; St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 40, p. 304 (hier
übrigens unter der Inskription Ioca episcopi ad sacerdotes).
79 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 22v–28v.
80 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 28v–37v (ed. Keefe 2002, Bd. 2, Nr. 31, 430–436, nach
dieser Handschrift).
81 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288 foll. 37v-38r; nach dieser Hs. gedruckt bei Keefe 2002,
Bd. 2, Nr. 31, 436, Z. 22, 437, Z. 9. Der Anfang entspricht in etwa dem, den Keefe ebd., Nr. 49, 576, Z.
1–5, abgedruckt hat; anders als Reynolds 1983, 124, angibt enthält der Codex aber gerade nicht den
Ritus des pedilavium, das in Nordwestfrankreich tatsächlich ja auch unüblich war: Vgl. Keefe 2002,
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Bd. 1, 135.
82 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 38r sqq. – Die Predigten werden teils Hieronymus,
zum größeren Teil aber Augustinus zugeschrieben und bleiben im einzelnen noch zu identifizieren;
Parallelen bestehen etwa zu den Homilien, die die Hs. Madrid, Real Biblioteca de San Lorenzo de El
Escorial, L. III. 8, überliefert; Keefe 2002, Bd. 1, 18-19, nimmt an, die Predigten seien „clearly intended
as instruction for the cleric himself“ – ein Urteil, dem ich in dieser Schärfe nicht folgen kann.
83 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, foll. 55r–59r.
84 Der Anfang jedenfalls ist ähnlich überliefert in Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz,
Ms. Phill. 1790, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1118 und weiteren Handschriften: Vgl.
dazu Fischer 1996 (mit Druck des Textes auf 223–226), der allerdings unsere deutlich ältere Hand-
schrift aus Laon nicht berücksichtigt.

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244   Steffen Patzold

Das Format des Buches ist – typischerweise – recht handlich: 91 Blätter, ca. 21 ×
14  cm klein. Die Handschrift ist über Initialen und Tituli strukturiert; man erkennt
durchaus einen Willen, von vornherein ein gegliedertes und benutzbares Buch zu
schaffen (Kustoden sind vorhanden, aber jüngeren Datums). Doch laufen Texte auch
über das Ende einer Lage und einen Wechsel der Hand hinaus.
Bernhard Bischoff hat die verschiedenen Hände datiert auf „ca. 2. Viertel des
9. Jahrhunderts“ und ins nördliche Frankreich verortet.85 Susan Keefe setzt die Hand-
schrift in das erste Drittel des 9. Jahrhunderts.86 Die Provenienz des Buches ist Laon,
laut Bischoff stammt es aus Saint Vincent.87 In jedem Falle handelt es sich – und
das könnte wichtig sein – um einen monastischen Überlieferungskontext. Zur Schrift
hat Bischoff treffend notiert: „Mehrere meist etwas schwerfällige Hände“.88 Außer-
dem weist der Codex einige wenige Glossen und sehr viele Korrekturen auf, und zwar
schon des 9. und dann noch einmal des 11. Jahrhunderts.
Bei näherer Betrachtung stechen zuallererst die überaus zahlreichen Schwächen
in der Orthographie und Grammatik ins Auge.89 Die Fehler betreffen letztlich alle
Scheiber und können hier nur anhand weniger Beispiele angedeutet werden:
– o und u werden sehr häufig verwechselt (nos > nus, communionem > cummuni-
onem, mundum > mondum, secundum > secondum, dux > dox); das betrifft auch
Stellen, an denen der Unterschied die Grammatik berührt (omnes homines iustus
et peccatores uiuos et mortuus ipse erit iudicaturos / sanctos iob dicit).
– h vor Vokal kann stehen oder auch nicht (opere > hopere);
– geschlossenes e und i werden häufig verwechselt: (dimitte > demite, quicumque >
queconque, adscribe > adscrebe);
– ebenso d und t (teneat > tenead);
– manche Schreibformen verweisen offenbar auf Nasale (permansit > permanxit;
mansio > manxio);
– x und s werden aber auch sonst verwechselt: (remissionem peccatorum > remi-
xionem peccatorum – umgekehrt: crucifixus > crucifisus; poscit > posxit; possit >
poxit);
– nicht selten sind ganze Silben verschliffen: (maiestas > maistas; peccavit >
peccait; crucifisus, mortuus et pultus).

Der Befund spricht wohl für Schreiber, die eine frühe Form des Romanischen sprachen
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und durchaus fähig waren, Buchstaben zu Pergament zu bringen (wenn auch etwas
„schwerfällig“). Mit der Orthographie und der Grammatik jenes korrekten Lateins,

85 Bischoff 2004, Nr. 2102, 31–32.


86 Keefe 2002, Bd. 2, 429.
87 Bischoff 2004, 31.
88 Ebd.
89 Bischoff 2004, 31, kommentierte knapp: „Text sehr verderbt“.

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das Karl der Große, Ludwig der Fromme und die Eliten des Hofes forderten90, standen
unsere Schreiber dagegen auf Kriegsfuß – und zwar selbst dort, wo Kernbestände
religiösen Wissens91 betroffen waren. Als Einzelfall, je für sich genommen wäre jeder
dieser Fehler sicherlich wenig erstaunlich, ja vielleicht sogar geradezu zeittypisch;
doch ihre Dichte ist in der Handschrift ungewöhnlich hoch – und geht weit über das
Maß hinaus, das man in anderen Codices der Zeit findet. Tatsächlich ließe sich die
Liste der Beispiele fast beliebig verlängern. In den hinteren Abschnitten des Buches
werden allerdings dann auch die Korrekturen intensiver: Wir finden etliche Rasuren,
Ergänzungen, Korrekturen mindestens zweier Zeitschichten.

So ergibt sich als Zwischenfazit folgendes Bild:


1. Die einzelnen Teile des Buches dürften von vornherein als eine zusammengehö-
rige Kompilation geplant gewesen sein; es handelt sich um eine zweckmäßige
Zusammenstellung von Texten, die für einen Priester, der außerhalb des Klosters
für eine Gemeinde zuständig war, einen hohen pragmatischen Nutzen hatten. Es
spricht zumindest nichts dagegen, mit einer von vornherein geplanten Produk-
tion des Buches zu rechnen.
2. Es waren mehrere Personen an der Zusammenstellung beteiligt; der erste Schrei-
ber verantwortete den Löwenanteil, die Blätter 1–39, aber auch weite Passagen des
Predigtteils. Dort wechseln die Hände allerdings rascher, und zwar teilweise auch
innerhalb einer Lage, manchmal sogar in kurzen Abständen. Mindestens ein Kor-
rektor hat schon im 9. Jahrhundert die Texte durchgesehen und die schlimmsten
Schnitzer ausgebessert – im ersten Teil noch eher sporadisch, später intensiver.
3. Die meisten Fehler deuten auf Romanen hin. Sie sind so häufig und so schwer-
wiegend, dass sie nicht selten geradezu den Text entstellen und den Sinn ver-
dunkeln – und zwar selbst an Passagen, in denen es sich um grundlegende Texte
handelt (wie etwa das Vaterunser oder das Symbolum).

Wie kann man den Befund erklären? Angesichts unseres – sicher unzureichenden
– Forschungsstandes zu derartigen Büchern sind zurzeit mindestens zwei verschie-
dene Szenarien denkbar. Zum einen ruft das Manuskript geradezu zwangsläufig die
Erinnerung an ein berühmtes Kapitel der „Admonitio generalis“ wach: Kinder sollten
nicht durch Diktieren und Schreiben das Latein der Bücher verderben; zumindest die
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heiligen Texte – Psalter, Evangelium und Missale – sollten deshalb von Erwachsenen
geschrieben werden, und zwar cum omni diligentia.92

90 Vgl. dazu statt vielem anderen nur programmatisch die sogenannte Epistola de litteris colendis
(Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Stengel, Nr. 166, 246-254); zur quellenkundlichen Einordnung
immer noch grundlegend: Martin 1985.
91 Zu dem Begriff als Forschungskonzept: Holzem 2013, 247–262.
92 Admonitio generalis, ed. Glatthaar/Mordek/Zechiel-Eckes, c. 70, 224.

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Liest man die Handschrift aus Laon, dann könnte man also vielleicht an pueri im
Kloster denken: Die Kleinen haben zwar die Buchstaben schon gelernt, sie sind auch
schon in der Lage, auf Pergament zu schreiben (wenn auch noch etwas schwerfällig).
Dem Sinn der Texte aber wissen sie noch nicht viel abzugewinnen. Ihr Lehrer lässt
sie im Diktat reihum das Schreiben üben, der Fortgeschrittenere darf etwas mehr, die
weniger Guten dürfen vorerst nur wenig zu Pergament bringen. Anschließend korri-
giert der Lehrer die schlimmsten, grob sinnentstellenden Fehler. Das Ergebnis solcher
Übungen aber, so durchwachsen die Qualität auch ist, wird dann weiterverwendet
und wird auf diese Weise über die Jahrhunderte tradiert: Es kann einem Priester auf
dem Lande als „instruction-reader“ dienen.
Denkbar wäre aber auch noch ein zweites Szenario. Es ergibt sich vor allem aus
der minderen sprachlichen Qualität einer ganzen Reihe von schwer entstellten Passa-
gen, die ihren ursprünglichen Sinn kaum noch erahnen lassen. Ein gutes Beispiel für
diesen Befund bietet ein kleiner Text zum „Symbolum Apostolorum“, der sich nicht
nur in der Handschrift aus Laon, sondern ähnlich auch noch in anderen Büchern
dieses Typs findet:

Laon, BM, Ms. 288, foll. 2v–3r Paris, BnF, Lat. 1008, foll. 19v–20r

Symbolum grece dicitur quod in latino interpreta- Symbolum greca lingua dicitur quod in latino
tur conlatio siue indicio: conlatio qui xii apostoli interpretatur conlatio siue placitum inter deum
xii uerba symbuli conpusuerunt. Inditio per quod et hominem. Conlatio quia duodecim apostoli
indicatur omnis estientia ueritatis per quem in duodecim uersibus composuerunt et cunctis
posimus peruenire ad uitam eter eternam. in ista credentibus tradiderunt. indicio uero per quam
duodecim uerba symbuli tota essis excluditur et indicatur omnis sapientia ueritatis per quam
omni sapientia demunstratur omnipotens deus. aetiam possit homo fidelis ad uitam peruenire
aeternam. In his duodecim uersibus symboli
omnes hereses excluduntur et plenitudo fidei
demonstratur.

Durchaus typisch an diesem Beispiel sind grob sinnverändernde Fehler (wie verba
statt versus) und Wortbildungen wie estientia und essis93, auch die wiederholte Aus-
lassung von Halbsätzen. Kann man all das noch als simple Hörfehler bei einem Diktat
oder gar als Lesefehler eines ungeübten Kopisten erklären? Hat hier also wirklich
jemand legendo uel scribendo den Text entstellt, wie es die „Admonitio generalis“
verhindert wissen wollte?
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Oder dürfen wir angesichts solcher Befunde eher folgendes Szenario annehmen:
Könnte hier ein Priester, der einmal Jahre zuvor Schreiben gelernt und damals auch
einschlägige Texte auswendig gelernt hatte, das aufgeschrieben haben, was er vom

93 Tino Licht hat mich dankenswerterweise darauf aufmerksam gemacht, dass estientia von scientia
mit Prothesis gebildet sein dürfte (vgl. scuola>école). Bei essis könne es sich um eine synkopierte Form
von heresis handeln.

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einst Gelernten noch im Kopf hatte? Seine Schrift blieb – ob mangelnder Praxis im
Alltag – recht ungelenk; als Romane waren ihm zudem Orthographie und Gramma-
tik jenes Lateins fremd, das sich der Hof von Geistlichen wünschte; und auch sein
Gedächtnis ließ den Mann häufig genug im Stich. Das betraf bezeichnenderweise
komplizierte „Fachwörter“ wie haeresis, aber beispielsweise auch fremde Eigenna-
men – und zwar selbst im Kernbestand des Glaubensbekenntnisses selbst, wie etwa
bei dem Versuch, über Pontius Pilatus Auskunft zu geben: pasus sopontiopilato pas
qui ipse erat notierte der Schreiber hier.94 Gab der Mann also einstmals auswendig
Gelerntes wieder? Was mag er selbst sich dann unter den verballhornten Wörtern,
wenn er sie murmelte, konkret vorgestellt haben?
Sein Zeitgenosse, der Bischof Halitgar von Cambrai, wollte sicherstellen, dass
jeder Priester die documenta fidei pleniter sciat. Jeder Kandidat hatte vor dem Bischof,
der Geistlichkeit und dem populus daher zu versprechen, dass er das Vaterunser und
das Symbolum Apostolorum versteht, außerdem das Symbolum Athanasii „vollstän-
dig kennt und der Gemeinde in vernünftiger Weise übersetzt“.95 Ähnliche Bestim-
mungen finden wir in mehreren Bischofskapitularien.96 Aber mehr noch: Wir haben
Indizien dafür, dass solches Wissen in regelmäßigen Abständen auf Diözesansyno-
den abgeprüft worden ist – und die Priester aufgefordert wurden, gute, korrigierte
Bücher zu haben.97
Haben wir es also bei den Schreibern unseres Buchs mit Priestern zu tun, die
hier ihr mehr oder minder richtiges Wissen aus dem Kopf niederschrieben? Entstand
das Büchlein vielleicht sogar bei einer Überprüfung des Wissens dieser Männer, etwa
bei einer Visitation oder im Rahmen einer Diözesansynode? Die Fragen lassen sich
vorerst angesichts des desolaten Forschungsstandes zur Ausbildung und zum Wissen
von Priestern im 9. Jahrhundert noch nicht beantworten. Fest steht aber immerhin,
dass auch andere „instruction-reader“ für Priester, die im 9. Jahrhundert entstanden,
Gemeinschaftswerke waren. Und auch in anderen dieser Büchlein (allerdings längst
nicht in allen!) finden sich in dramatischer Dichte schwere, sinnentstellende Fehler
im Latein.98
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94 Laon, Bibliothèque municipale, Ms. 288, fol. 3v.


95 Institutio ecclesiasticae auctoritatis, ed. Hartmann 1979, 392.
96 Vgl. oben, Anm. 68–69.
97 Vgl. Patzold 2009, 387–388, zu einem Mechanismus der Kontrolle des Wissens von Pfarrpriestern.
– Zur von Bischöfen geforderten Korrektur von Büchern vgl. etwa auch: MGH Capit. episc. 3 (Capitula
Frisingensia tertia), c. 3, 222: Admonemus, ut unusquisque presbiter librum suum vitio scriptorum falsa-
tum emendare studeat, quatenus laudem dei recte et rationabiliter in ęclesia sancta populo fideli assis-
tente recitare queat. – Der Singular (librum suum) sticht ins Auge: Ob die Mahnung auf das jeweilige
Handbuch des Priesters abzielt?
98 Vgl. etwa Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 1012, fol. 86r: Incipit omilia sancti agustini
episcopi de illas sex peccata originalis quod commisit adam primus homo.

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4 Fazit
Es bedarf weiterer Grundlagenforschung, um entscheiden zu können, ob wir es hier
eher mit einem typischen Befund zu tun haben oder mit einer seltenen Ausnahme;
ja, letztlich ist zur Zeit nicht einmal sicher zu belegen, ob überhaupt eines der beiden
hier vorgeschlagenen Szenarien zutrifft. Immerhin weist die Provenienz unseres
Büchleins aber einmal mehr auf eine These hin, die Susan Keefe in ihrer Untersu-
chung von karolingerzeitlichen Texten zur Diskussion gestellt hat: Offenbar waren
Klöster seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert in einem sehr hohen Maße an der Aus-
bildung auch von Weltgeistlichen beteiligt, und hier insbesondere an der Ausbildung
der neuen Pfarrpriester.99 Theodulf von Orléans hielt in seinem Kapitular ausdrück-
lich fest, dass Priester, die einen Neffen oder anderen Verwandten zur Schule schi-
cken wollten, dafür entweder die Kathedralkirche Sainte-Croix selbst oder die Klöster
Saint-Aignan, Fleury oder Saint-Liphard de Meung-sur-Loire oder andere coenobia
der Diözese wählen sollten.100 In Klöstern sind zudem oft genug Schulbücher tra-
diert worden für die Unterrichtung von Priestern, Bücher von hoher Qualität – wie
der Palatinus latinus 485 aus Lorsch. Bei ihnen könnte es sich zugleich um Vorlagen
gehandelt haben für die Herstellung jener Kompilationen, die – in höherer Zahl – als
Handbücher für den Pfarrklerus in den Pfarreien gebraucht wurden. An der Produk-
tion solcher Bücher könnten (zumindest bisweilen) pueri oblati oder andere Klos-
terschüler beteiligt gewesen sein, vielleicht aber auch die angehenden Pfarrpries-
ter selbst. Karl der Große und seine Eliten haben solche Verfahren 789 als gegeben
geradezu vorausgesetzt; sie hatten allerdings Zweifel, ob die Produkte, die daraus
hervorgingen, immer auch eine ausreichende Qualität hatten – und wollten diese
Form der Produktion zumindest für Texte der Heiligen Schrift und für das Missale
verboten wissen. Zugleich forderten sie eine Korrektur der liturgischen Bücher für die
Priester. Ein solcher Korrekturgang bildet sich im hier näher vorgestellten Codex aus
Laon augenfällig ab. Vielleicht greifen wir also in den Texten vor der Korrektur sogar,
gewissermaßen als Überrest, ganz unmittelbar das Wissen karolingerzeitlicher Land-
pfarrer?
Bei alledem bleibt noch viel zu tun: Die Texte in den Schul- und Handbüchern
für den Pfarrklerus des 9. Jahrhunderts könnten Historikern langweilig erscheinen,
die Bücher selbst aber sind als materielle Überreste der Karolingerzeit jedenfalls ein
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sehr lohnendes Forschungsobjekt. Ihre Adressaten, Eigentümer und Benutzer waren


keine Stutz’schen Eigenpriester, keine erbärmlichen Freigelassenen, die doch stets
ihrem Herrn ausgeliefert geblieben wären. Sie waren Geistliche mit eigenem Hand-
lungsspielraum, die zumindest in manchen Gegenden des Frankenreichs vielleicht
sogar von den Gemeinden selbst gewählt wurden. Sie verfügten über eine solide

99 Keefe 2002, Bd. 1, 149 u.ö.


100 MGH Capit. episc. 1 (Theodulf von Orléans, Erstes Kapitular), c. 19, 115–116.

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Correctio an der Basis: Landpfarrer und ihr Wissen im 9. Jahrhundert   249

Grundausbildung, die sie nicht zuletzt auch in Klöstern wie Lorsch erlangen konnten
– und zwar auch noch im ausgehenden 9. Jahrhundert. Und sie besaßen für ihren
Alltag Handbücher, die zumindest einen gewissen Standard an Inhalten wahren
helfen sollten.
Deren Orthographie und Grammatik freilich ließen bisweilen so sehr zu wünschen
übrig, dass der Hof mit Recht Sorge haben durfte, ob nicht auch der Sinn entstellt
wurde. In Kapitularien und Bischofskapitularien wiederholten Könige und Bischöfe
wieder und wieder: Es sollten gute, fehlerlose Bücher sein. Wie weit diese Forderung
vor Ort, in der Pfarrei, umgesetzt wurde, wie also die Correctio konkret in der Breite in
das Land hineinwirkte – darüber wird uns erst eine systematische Analyse der Schul-
bücher und „instruction readers“ für Priester nähere Auskunft geben.101

Anhang I: Arbeitsliste von Büchern für Pfarrer im


9. Jahrhundert
Als „K“ sind diejenigen Codices gekennzeichnet, die Keefe 2002 als „instruction-readers for priests“
bezeichnet hat; unter der Sigle „P“ firmieren Bücher, die Pokorny 2005, 9 als „Handbücher für den
Landpfarrer“ aufgeführt hat.

1) Albi, BM, Ms. 38 bis s. IX med. K


2) Albi, BM, Ms. 43 s. IX 4/4 K
3) Basel, UB, F III 15e s. IX med. P
4) Bern, Burgerbibliothek, Cod. 289 s. IX 2/4 P
5) Madrid, RBSL, L. III. 8 s. IX 2 P102
6) Gent, BR, Ms. 506 (83) s. IX 3/4 P
7) Laon, BM, Ms. 288 s. IX 1/3 K
8) St. Petersburg, RNB, Q.V.I.34 s. IX ex. K
9) London, BL, Addit. 19725 s. IX ex. P
10) Mailand, BA, L 28 sup. s. IX 3/3 K
11) Merseburg, DStiBi, Cod. 136 820-840 K
12) Montpellier, BI, Méd. 387 s. IX 2/3 K
13) München, BSB, Clm 6324 s. IX 3-4/4 K+P
14) München, BSB, Clm 6325 s. IX 1/3 K+P
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15) München, BSB, Clm 14410 s. IX 1/3 P103


16) München, BSB, Clm 14461 s. IX1 P
17) München, BSB, Clm 14508 s. IX 3/4 K
18) Orléans, BM, Ms. 116 s. IX 3/4 K

101 Carine van Rhijn (Utrecht) und ich bereiten zurzeit ein Projekt hierzu vor; vieles in diesem Bei-
trag verdankt sich unseren gemeinsamen Diskussionen und Gesprächen in diesem Zusammenhang.
102 Keefe 2002 hält den Codex für ein „bishop’s pastoral manual“.
103 Keefe 2002 hält den Codex für ein „bishop’s pastoral manual“.

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19) Paris, BnF, Lat. 1008 s. IX-X K


20) Paris, BnF, Lat. 1012 s. IX 1/3 K+P
21) Paris, BnF, Lat. 1248 s. IX med. K
22) Paris, BnF, Lat. 10741 s. IX 3/3 K
23) Rom, BAV, Pal. lat. 485 s. IX 2 P (K: „schoolbook“)
24) St. Gallen, StiBi, Cod. 40 s. IX 2-3/3 K
25) Sélestat, BM, Ms. 132 s. IX med. K+P
26) Wien, ÖNB, Cod. 1370 s. IX 1-2/4 K

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254   Steffen Patzold

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Florian Hartmann
Karolingische Gelehrte als Dichter und der
Wissenstransfer am Beispiel der Epigraphik

Vor wenigen Jahren hat Nick Everett die gut begründete These aufgestellt, dass der lan-
gobardische König Liutprand in bis dahin unbekanntem Maß Epigraphie als ein Mittel
königlicher Propaganda genutzt habe, um allen sein Wohlwollen, seine Frömmigkeit
und die rechtmäßige Erfüllung seiner königlichen Pflichten zu demonstrieren.1 Laut
Rudolf Kloos „wurde erstmals in Pavia, der langobardischen Königsstadt, um 700
eine erfolgreiche Wiederbelebung epigraphischer Schriftkultur ins Werk gesetzt“.2
Diese öffentlichen, auf die Propagierung königlicher Ideale zielenden Inschriften
richteten sich demnach unmittelbar an die literaten Rezipienten. Gleichwohl wurde
materiell Geschriebenes auch von nur partiell literaten oder gar illiteraten Akteuren
rezipiert, für welche die Ikonizität des Gesamtsbildes in den Vordergrund trat.3 Der
Inschriftentext hat zwar primär eine verbale Botschaft, aber die figurale Anordnung
transportiert daneben eine ganze Reihe assoziativer Bedeutungen, die für die illitera-
ten Rezipienten erkennbar waren.4 Die Materialität und die Präsenz der Epigraphik
verbinden deswegen in ganz spezifischer Weise die Visualisierung basaler Botschaf-
ten mit der klassisch-christlichen Gelehrsamkeit im Umfeld der gebildeten Elite am
Hof eines Königs.
Die erwähnten langobardischen Inschriften sind sowohl in der epigraphischen
Technik als auch in der literarischen Gestaltung bemerkenswert.5 Ihre neuartigen
Formen wurden bald auch andernorts, vor allem in Süditalien übernommen, auch
wenn man bis heute die konkreten Vermittlungswege nicht rekonstruieren konnte.6
Nach Liutprands Tod könnte diese königliche Propaganda durch Inschriften auch von
weiteren Kreisen der langobardischen Elite kopiert worden sein.7 Denn nun traten

1 Everett 2001, 180; ders. 2003; de Rubeis 2000; vgl. auch Mitchell 1990; ders. 1994; allgemein zur
mittelalterlichen Epigraphik Favreau 1979; ders. 1997; dazu auch Kloos 1992; für den Übergang von
spätantiker zur frühmittelalterlichen Epigraphik vgl. Bern 1968.
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2 Kloos 1981, 898; eine ausführliche Bestandsaufnahme mit der Kommentierung der erhaltenen In-
schriften bei Panazza 1953.
3 Krämer 2006, 77; eine Diskussion über die Fähigkeit im langobardischen Italien, die Inschriften,
insbesondere antiken Ursprungs, zu verstehen, bei Everett 2003, 238–240.
4 Everett 2003, 240.
5 Zur Innovation auf dem Feld der langobardischen Epigraphik vgl. etwa Mitchell 2001; Everett 2001;
sehr knapp de Rubeis 2000.
6 Zum Kulturtransfer zwischen dem Norden und dem Süden des langobardischen Italiens vgl. Panto-
ni 1951; mit anderem Fokus Belting 1967.
7 Zum möglichen Transfer norditalienisch-langobardischer epigraphischer Formen in den Süden,
insbesondere in das Kloster San Vincenzo al Volturno, vgl. Mitchell 2001.

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256   Florian Hartmann

sie untereinander in Wettstreit um Autorität und Prestige, den sie auch mit Mitteln
der Malerei und Schrift als Symbolen kultureller Autorität und als Vehikel kulturel-
ler Kontrolle zu nutzen verstanden.8 In diesen Zusammenhang ist beispielsweise die
Inschrift des langobardischen dux Liguriae Audoald einzuordnen:

Sub regibus Liguriae ducatum tenuit audax


Audoald armipotens, claris natalibus ortus
Victrix cuius dextra subegit naviter hostes
Finitimos et cunctos longeque lateque degentes
Belligeras domavit acies et hostilia castra
Maxima cum laude prostravit Didymus iste
Cuius licet corpus huius sub tegmine cautis
Lateat non fama silet vulgatis plena triumphis
Quae virum qualis fuerit quantusque per urbem
Innotuit laurigerum et virtus bellica ducem
Sexies qui denis peractis circiter annis
Spiritum ad aethera misit et membra sepulchro
Humanda dedit prima cum indictio esset
Die nonarum iuliarum feria quinta.9

Der Herzog inszeniert sich hier fast königsgleich in Anlehnung an sprachliche


Formen, die vorher bereits für König Liutprand in Pavia nachzuweisen sind. Die
allerwenigsten dieser langobardischen Inschriften von geistlichen und weltlichen
Würdenträgern haben sich bis heute in situ erhalten;10 aber sie erschienen damals
zumindest einigen Betrachtern wichtig genug, um sie zur späteren Verwendung in
anderen Zusammenhängen abzuschreiben. Auf die in diesem Kontext entstandenen
Sammlungen von Inschriften wird im Folgenden noch zurückzukommen sein. Gerade
in Bezug auf geistliche Epitaphien in Kirchen ist wohl von einer hohen Anzahl von
Inschriften auszugehen, die auch eine große und zudem aufmerksame Rezipienten-
zahl fand;11 schließlich bot der Kirchenraum, der der Meditation über eine Buchreli-
gion geweiht war, genau jenen ruhigen Ort, an dem sorgsam die geistlichen Inschrif-
ten gelesen werden konnten.12
Nick Everett und John Mitchell haben ihre Thesen zur Breitenwirkung der lango-
bardischen Epigraphik und zu einer „politico-epigraphic strategy“ im Wesentlichen
auf Italien und auf die Zeit König Liutprands beschränkt; über das Ende des selbstän-
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digen langobardischen Reiches sowie über die Eroberung durch Karl den Großen im

8 Mitchell 1994, 951.


9 Panazza 1953, Nr. 80; dazu auch Everett 2003, 258–260.
10 Für die erhaltenen frühmittelalterlichen Inschriften in den Abteien Montecassino und San Vincen-
zo vgl. Pantoni 1980; Mitchell 1990; de Rubeis 1996.
11 Everett 2003, 237.
12 Everett 2001, 181.

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Karolingische Gelehrte als Dichter und der Wissenstransfer am Beispiel der Epigraphik   257

Jahr 774 hinaus haben sie das Phänomen nicht weiter verfolgt. Im Folgenden soll die
Frage im Mittelpunkt stehen, wie Karl der Große und die Gelehrten des Karolingerrei-
ches im ausgehenden 8. und zu Beginn des 9. Jahrhunderts auf diese langobardischen
Entwicklungen reagierten, inwieweit sie Facetten dieser Politisierung von Epitaphien
wahrnahmen und übernahmen sowie welche Rolle dabei, wie zuvor unter Liutprand,
dem Hof des Königs zukam.

1 Motivationen für den Transfer langobardischer und


römischer Epigraphik
Mit der Eroberung des Langobardenreiches durch Karl den Großen im Jahr 774 kamen
Franken in größerer Zahl erstmals für lange Zeit nach Italien und ließen sich hier
zum Teil nieder, bekleideten örtliche Würden und blieben dennoch in Kontakt zu
ihrer fränkischen Heimat.13 Schon der erste Italienzug 773/774 dürfte die Gelegenheit
geboten haben, die örtlichen Inschriften in Augenschein zu nehmen; vor allem aber
die folgenden Jahre mit der zunehmenden personellen Vernetzung zwischen dem
nordalpinen und südalpinen Teil des Karlsreiches dürften den Einfluss der langobar-
dischen Epigraphik vergrößert haben. Schließlich sind spätestens ab dem Ende des
8. Jahrhunderts eine Vielzahl begabter Epigraphiker im Umfeld des Frankenkönigs
nachweisbar, angefangen mit den Langobarden Paulus Diaconus und Petrus von
Pisa. Ihnen folgten später Alkuin, Theodulf von Orléans bis hin zu Paschasius Rad-
bertus, um nur einige zu nennen.
Als Alternative zur langobardischen Epitaphienproduktion kamen die Karolinger
freilich gleichzeitig auch mit den römischen, insbesondere päpstlichen Epitaphien
aus Alt St.-Peter, aber auch aus anderen Kirchen der ewigen Stadt in Kontakt.14 Rudolf
Schieffer hat in seinem wegweisenden Beitrag zu Rom als Ort authentischer Überlie-
ferung im frühen Mittelalter nachgezeichnet, wie die Ewige Stadt „durch die Über-
mittlung konkreter Bücher und Texte“ immer wieder von Neuem bestätigte, der „Hort
authentischer Überlieferung“ zu sein.15 Aus dem Frankenreich, besonders aber aus
England richtete man Bitten an die Päpste um innumerabilium librorum omnis generis
copia.16 Diese Nachfrage betraf neben Büchern aller Art – also Kirchenrechtssamm-
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13 Beispiele dafür bei Tellenbach 1988, 802-803; Hlawitschka 1960, 25; auch italienische Bischofs-
sitze gingen in diesem Prozess wohl auf fränkische Geistliche über; am Beispiel Pavias vgl. dazu
Hoff 1943, mit dem tabellarischen Überblick S. 4; vgl. zum gesamten Prozess auch Hartmann 2006,
202–206.
14 Für die Inschriften, die auch außerhalb von Kirchen wahrgenommen wurden, vgl. etwa die Ein-
siedler Inschriftensammlung: Walser 1987; nützlich immer noch Schneider 1933.
15 Schieffer 1989, 54; vgl. auch Tellenbach 1934/35, 24; Kottje 1965, 327; Mordek 1977, 240–241.
16 Beda, Vita, ed. Plummer, c. 6, 369–370.

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lungen, Sakramentaren, historischen Werken sowie klassischen antiken Texten17 –


auch Reliquien und bildliche Darstellungen, wie beispielsweise jene picturas imagi-
num sanctarum, die Benedict Biscop im frühen 8. Jahrhundert zur Ausschmückung
seiner Kirchenbauten aus Rom mitbrachte.18
Diese Fixiertheit auf Rom und die Vermutung, alles was aus Rom kam, sei rein
und richtig, gingen bekanntlich zurück auf die „Tradition des in Rom hingerichte-
ten und bestatteten Apostelfürsten Petrus“.19 Diese Tatsache wurde unter anderem
für die Propagierung des hierarchischen und ideellen Vorrangs des apostolischen
Stuhles gegenüber allen anderen Bischofssitzen genutzt. Dieser Vorrang wurde frei-
lich noch nicht in der Konsequenz eingefordert wie es seit dem 11. Jahrhundert der
Fall war. Rudolf Schieffer hat mit zahlreichen Belegen für die schriftlichen, insbe-
sondere theologischen, liturgischen und kirchenrechtlichen Sammlungen in Rom
nachgewiesen, dass – unabhängig von der tatsächlichen Qualität der Texte20 – die
Richtigkeit der römischen Überlieferung allein deswegen außer Zweifel stand, weil
sie aus Rom kam.21 Deutlich hat Schieffer dabei auch auf die Diskrepanz zwischen
tatsächlicher und unterstellter Qualität hingewiesen.22 Damit rücken die Texte und
Bücher assoziativ in die Nähe der römischen Reliquien. „Bücher aus Rom, der Stadt
der Apostel und Märtyrer, und selbst deren Abschriften seien kostbarste Träger und
Verbreiter des mit so vielen Heiligen verbundenen Segens“.23
Ähnliches könnte für römische Bilder gelten. Wenn Beda Venerabilis davon
berichtet, dass Benedict Biscop Bilder, also wohl Abzeichnungen von römischen ima-
gines, mit nach England brachte, um nach ihrem Vorbild die dort neu zu errichtenden
Kirchen bildlich auszustatten,24 dann haben solche Bilder Vorbildcharakter. Mit ent-
sprechenden Intentionen ließen sich wohl auch römische Inschriften in sprachlich-
stilistischer, aber vielleicht auch in spiritueller Hinsicht als idealtypische Muster mit
apostolischer Aura verstehen.
Aus zwei Gründen könnte also Karl der Große Interesse daran gehabt haben, zur
Repräsentation und Visualisierung seiner eigenen Herrschaft Fachleute auf dem Feld
der Epigraphik aus Italien an seinen Hof kommen zu lassen. Zum Einen existierte dort
das Vorbild langobardischer Königspropaganda durch Epigraphik, wie sie seit Liut-
prand belegt ist. Zum Anderen ist die ideologische Propagierung päpstlicher Ansprü-
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17 Belege bei Schieffer 1989, 51.


18 Meyvaert 1979, 66–67.
19 Schieffer 1989, 47.
20 Zu den erkennbaren Mängeln der römischen Überlieferung im Einzelnen ebd., 58, dort in Bezug
auf das Sacramentarium Hadrianum; vgl. Sacramentarium Gregorianum, ed. Lietzmann; vgl dazu
auch Hen 2001, 74–81; Hartmann 2006, 273–277.
21 Schieffer 1989; vgl. aber auch Mordek 1977; Hen 2001, 77–78.
22 Schieffer 1989, 67.
23 Ebd. 68.
24 Vgl. Anm. 16; dazu den Beitrag von Meyvaert 1979.

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Karolingische Gelehrte als Dichter und der Wissenstransfer am Beispiel der Epigraphik   259

che und die Heiligkeit der römischen Inschriften anzuführen, die deren Rezeption
im Frankenreich begünstigt haben dürften. Beide Facetten politisch-ideologischer
Epigraphik wahrzunehmen, hatte Karl der Große seit 774 persönlich Gelegenheit. Es
überrascht dann wenig, wenn er nach dieser Erfahrung die Imitation italienischer
Inschriften vorantrieb. Schließlich ist beispielsweise auf dem Felde der Baupolitik
längst bekannt, dass der Frankenkönig Baumaterial aus Italien ins Frankenreich
importieren ließ. Dabei zeigte er besonderes Interesse an solchen antiken Stücken,
die zur Demonstration kaiserlicher Würde dienten. Bewusst begnügte sich Karl der
Große dabei nicht mit irgendwelchen Spolien, sondern forderte ausgerechnet jene aus
Rom und Ravenna an. Papst Hadrian erteilte ihm auf Anfrage schriftlich die Erlaub-
nis, mosiva et marmores aus Rom und Ravenna ins Frankenreich transportieren zu
lassen.25

2 Wege und Formen des Transfers am Beispiel der


Epigraphik
Waren der Eroberungszug Karls des Großen in den Jahren 773/774 und sein kurzer
Feldzug gegen aufständische Langobarden im Friaul 775/776 vielleicht noch stark
von ihrem militärischen Charakter geprägt, so durfte der fränkische Langobarden-
könig 781 Gelegenheit gehabt haben, die Inschriften in Kirchen und an Gebäuden26
in Augenschein zu nehmen; schließlich hielt er sich 781 länger in Rom auf. Nach dem
hektischen und unvorbereiteten Rombesuch 77427 stand nämlich die von langer Hand
geplante Taufe seiner Söhne Ludwig und Karlmann/Pippin an.28 Der Aufenthalt in
Rom war also ungleich entspannter als sieben Jahre zuvor. Ausgiebig konnte Karl die
Wirkung der römischen Inschriften studieren.
Vor allem im Kontext seiner Aufenthalte in Pavia, aber wohl auch an anderen
Zentralorten langobardischer Könige wie dem Kloster San Salvatore in Brescia 781 war
er möglicherweise mit den verbreiteten Inschriften konfrontiert.29 Gerade in Pavia
hatten die Langobardenkönige ihre epigraphische Propaganda präsentieren können.
Die Diskrepanz zwischen der Materialität langobardischer Königsideologie in Pavia
und jener im Frankenreich, von der uns vor 781 nur wenig ambitionierte Beispiele vor-
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25 Codex Carolinus, ed. Gundlach, Nr. 81, 614; vgl. auch Einhard, Vita Caroli Magni, ed. Holder-Eg-
ger, 20.
26 Vollmann 2007, 166 spricht in Bezug auf diese langobardischen Gebäudeinschriften von „politisch
motivierte[r] ‚Öffentlichkeitsarbeit‘“.
27 Vgl. Hartmann 2006, 114–118.
28 Zur Bedeutung der Taufe Angenendt 1980; zum zweiten Rombesuch Karls des Großen Hartmann
2006, 222–224.
29 Einen Überblick über die noch heute bekannten Inschriften bei Panazza 1953.

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260   Florian Hartmann

liegen, muss dabei auch auf den Frankenkönig Wirkung gehabt haben. Hans Belting
hat gezeigt, in welcher Weise noch Arichis von Benevent als princeps Langobardo-
rum in betont langobardischer Tradition30 die Epigraphik zur Präsentifizierung seiner
Herrschaft zu nutzen verstand.31 Und es entsprach inhaltlich geradezu karolingischer
Ideologie,32 wenn beispielsweise Liutprand in einer der langobardischen Inschriften
in den Worten gelobt wird:

Ecce domus domini perpulchro condita textu


emicat et vario fulget distincta metallo.
Marmora cui pretiosa dedit museumque columnas
Roma caput fidei, illustrant quam lumina mundi.
euge auctor sacri princeps leutprande laboris.
te tua felicem clamabunt acta per aevum
qui proprie gentis cupiens ornare triumphos
his Titutlis patriam signasti denique totam.33

Wie bei den Franken wird auch hier bei Liutprand die Nähe zu Rom, zum caput fidei,
als Beleg der Orthodoxie und als Sinnbild für die Rolle des Königs als Verteidiger des
rechten Glaubens etabliert. Liutprand symbolisiert zudem – zumindest nach Aussage
der Inschriften –in besonderer Weise die weltlichen Triumphe seines Volkes. Galt das
alles nicht auch für Karl den Großen?
Bedenkt man also die Wirkung, die diese Materialität und Präsenz königlicher
beziehungsweise apostolischer Ideologie vor Karl damals in Italien entfaltet hat,
dann ist es durchaus bemerkenswert, dass Karl just 781, während dieses Italien-
aufenthaltes, und möglicherweise sogar in Pavia selbst, mit Paulus Diaconus einen
Gelehrten an seinen Hof berief, der unter den letzten langobardischen Königen – und
sogar noch danach am Hof des Arichis von Benevent – eine Art Chefepigraphiker war:
Für Desiderius’ Frau Ansa und dessen Schwiegersohn Arichis von Benevent verfasste
er jeweils eine Grabinschrift. Für Arichis, der als selbsternannter princeps Lango-
bardorum gewissermaßen zu Desiderius’ Nachfolger wurde,34 verfasste er darüber
hinaus etliche Gebäudeinschriften in der Hauptstadt Benevent, die der epigraphi-
schen Ideologisierung Liutprands recht nahe kamen.35 Paulus hatte sogar schon zu
König Ratchis in Kontakt gestanden, unter dem die Inschriften bereits als bedeutsa-
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30 Zur Bedeutung dieses auffälligen Titel vgl. Paulus Diaconus, Historia Romana, ed. Crivellucci,
XXXI, der zudem auf die Anrede Arichis als excellentissimus verweist, die Arichis erst nach der Ab-
setzung Desiderius’ 774 geführt habe; zu diesem Titel vgl. auch Garms-Cornides 1973; Kaminsky 1974,
81–92.
31 Belting 1962, 141–193.
32 Vgl. etwa Nelson 1994, 52–87.
33 Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed. De Rossi, 168–169, Nr. 21.
34 Vgl. oben Anm. 30.
35 Vgl. zur Baupolitik des Arichis in Benevent Belting 1962.

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mes Instrument der Machtpräsentation genutzt wurden. Da Paulus zudem Lehrer von
Desiderius’ Tochter Adelperga war, unterhielt er möglicherweise auch Verbindungen
zur Familiengründung San Salvatore in Brescia,36 der eine Tochter von Desiderius
als Äbtissin vorstand. Deswegen ist auch nicht ausgeschlossen, dass Paulus selbst
die Inschrift in der Basilika im Hauptschiff über den Arkaden verfasst hat, die, wenn
auch kurz nach 774 entstanden, durch und durch langobardischen Charakters ist.37
Kaum durch Karls Anwerben im Frankenreich angekommen, stand Paulus
zunächst als Epigraphiker im Dienst des Königs: Er, nicht Alkuin, verfasste in den
780er Jahren die Grabinschriften für die verstorbenen Karolinger Hildegard († 783),
für zwei ihrer Töchter sowie für zwei Schwestern Karls des Großen.38 Mit dem Trans-
fer langobardischer epigraphischer Traditionen in das Frankenreich setzte dann auch
Karl vermehrt Inschriften als Symbole kultureller Autorität und kulturellen Führungs-
anspruchs ein.39 Deswegen liegt die Vermutung nicht fern, dass es zunächst vor allem
diese Fähigkeit war, die Karl dazu bewegte, Paulus in den Kreis seiner Gelehrten auf-
zunehmen.
Latein unterrichten konnten auch andere; die Geschichtswerke hatte Paulus
für seine langobardischen Auftraggeber geschrieben, sein Donatuskommentar war
hilfreich, aber nicht zwingend für Karls Bildungsprogramm im Reich. Die Kompo-
sition von Epitaphgedichten für Karls Herrscherfamilie musste hingegen höchsten
Ansprüchen genügen, erst recht, nachdem Karl in Pavia vermutlich gesehen hatte,
wie andere Könige die Epigraphik zu nutzen verstanden. Es entspricht deswegen
wohl Paulus’ eigenem Interesse, wenn er in seine Historia Langobardorum Inschrif-
ten besonders hohen stilistischen Anspruchs inserierte, die er in Ravenna von dem
angelsächsischen König Caedwalla und von Drotculf von Ravenna vorgefunden und
für eigene Zwecke abgeschrieben hatte.40
Neben Paulus dominierten als Epigraphiker im Frankenreich zunächst Paulus’
Landsleute: Fardulf, Paulinus von Aquileia und Petrus von Pisa. Alkuin erreichte
diese Stellung erst wesentlich später, bezeichnender Weise wohl erst nachdem Paulus,
Petrus und vielleicht auch Paulinus das Frankenreich bereits verlassen hatten.
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36 Hartmann 2009, 78.


37 Mitchell 1994, 894, mit weiteren Angaben.
38 Das betont auch Bullough 2004, 344.
39 Vgl. Mitchell 1994, 950–951.
40 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, ed. Bethmann/Waitz, 125–127 (Drotculf); ebd. 217–219
(Caedwalla).

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3 Netzwerke des Kulturtransfers


Bislang hält sich in der Forschung die Vorstellung, Paulus habe sich aus eigenem
Antrieb mit einem Gedicht an den Frankenkönig gewandt, in dem er den König um
die Freilassung seines Bruders bat.41 So recht überzeugen kann diese Sicht aber kaum,
denn wie konnte er mit dem Gedicht überhaupt bis zum Ohr des Königs durchdrin-
gen? Paulus muss auf dem Weg zum König auf Fürsprecher vertraut haben, die für
dessen Berufung an den Hof wichtiger waren als das Gedicht, das bislang als Auslöser
galt. Einer dieser Fürsprecher könnte Adalhard gewesen sein, der Abt von Corbie. Er
war mit der Krönung Pippins zum König von Italien Regent geworden,42 also gerade
im Jahr 781, als Paulus an Karls Hof kam. Alle dürften sich damals in der Königsstadt
Pavia aufgehalten haben. Dieser Adalhard hatte sich nun zuvor für Jahre in Monte-
cassino aufgehalten, auffälliger Weise genau in jenen Jahren, in denen sich dort auch
Paulus Diaconus aufhielt.43 Ein später verfasster Brief des Paulus an Adalhard belegt
die lange Freundschaft, die beide auch noch in den späten 780er Jahren verband.44
Diesem Text ist auch zu entnehmen, welche Autorität in philologischer Hinsicht
Paulus in Adalhards Augen war. Adalhard, seit Jahren aus Montecassino bekannt und
geschätzt, könnte als Fürsprecher des Paulus Diaconus gewirkt haben. Dass Adalhard
bei Karl dem Großen damals über die erforderliche Autorität verfügte, um den Berufs-
langobarden Paulus am fränkischen Hof akzeptabel erscheinen zu lassen, ist durch
den Beitrag von Tino Licht in diesem Band auf anderem Feld belegt worden. Wenn
nämlich mit Licht Corbie als Brutstätte der karolingischen Minuskel zu gelten hat,
dann war es offensichtlich der Abt dieser Abtei, dem es zukam, diese intern ausgear-
beitete neue Schrift zum Vorbild einer reichsweiten Vereinheitlichung zu machen. In
beiden Fällen wird man Adalhard als einen der einflussreichsten Ratgeber des Fran-
kenkönigs anzusehen haben.
Adalhard stand damals in Italien (und zuvor bereits im Frankenreich) zudem
in Kontakt mit Angilbert, dem Abt von St. Riquier. Angilbert, wegen seiner dichte-
rischen Vorlieben später mit dem Beinamen ‚Homer‘ geschmückt,45 hatte ab 781 die
Hofkappelle Pippins in Italien geleitet. Ebenso wie Karl der Große dürften also auch
Adalhard und Angilbert während ihrer Tätigkeit in Italien seit 781 in ganz besonderer
Weise die Bedeutung langobardischer Epigraphik erkannt haben. Dass sich Paulus
Diaconus auf diesem Feld in langobardischer Zeit in besonderer Weise ausgezeichnet
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hatte, wird ihnen sicher bewusst gewesen sein. Ist es dann ein Zufall, dass in Corbie,

41 So wegweisend Neff 1908, 53; Menghini 1904, 321–322; Godman 1985, 82; McKitterick 1999, 323;
Hartmann 2009, 75–77.
42 Vgl. Kasten 1986, 43; Paschasius Radbertus, Vita Adalhardi, ed. Migne, Sp. 1526C.
43 Zu den wenig begründeten Zweifeln an dem Eintritt in das Kloster Montecassino vgl. Plassmann
2006, 192, mit weiterer Literatur.
44 Neff 1908, 129–130, Nr. 31.
45 Kasten 1986, 48; vgl. auch Brown 1994, 31.

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Karolingische Gelehrte als Dichter und der Wissenstransfer am Beispiel der Epigraphik   263

wo Adalhard Abt war, um 800 eine Handschrift nachgewiesen ist, die eine Fülle ita-
lienischer Inschriften enthält?46 Ist es ein Zufall, dass diese Inschriftensammlung
aus Corbie auf eine – heute verlorene – Vorlage aus dem Kloster St. Riquier zurück-
geht, jenem Kloster, in dem Angilbert als Laienabt und Epigraphiker tätig war? Der-
selbe Angilbert, zudem seit 781 Kanzler in Italien, war es auch, der der Bibliothek in
St. Riquier 200 Bücher geschenkt hatte;47 unter ihnen dürfte dann wohl auch jene
Inschriftensammlung gewesen sein, deren italienischer Ursprung außer Frage steht.
Für den Transfer dieser italienischen Sammlung ins Kloster St. Riquier ließe sich
leicht der dort tätige Kanzler, Dichter und Literat Angilbert verantwortlich machen.
Wozu konnte diese Sammlung dienen, wenn nicht zur Ausbildung, wo doch laut der
Klosterordnung Angilberts in St. Riquier mindestens 100 Schüler unterrichtet werden
sollten.48 Von einer heute verschollenen Vorlage aus St. Riquier erhielt die Bibliothek
des Klosters Corbie eine Kopie, die heutige Sylloge Centulensis.49 Diese Kopie datiert
aus der Zeit, als sowohl Angilbert in St. Riquier als auch Adalhard in Corbie tätig
waren.

4 Medien des Transfers – Die handschriftlichen


Inschriftensammlungen
Gerade in dieser Zeit um 800 wurden also im Frankenreich Sammlungen von italie-
nischen Inschriften kopiert oder angelegt. Neben der Sylloge Centulensis aus Corbie,
die ursprünglich aus St. Riquier kam und eine Reihe petrinisch argumentierender
Inschriften enthält,50 ist die insgesamt bekanntere Sylloge Laureshamensis zu nennen,
heute Codex Rom, BAV, Pal. lat. 833. Heinrich Fichtenau vermutet, der Lorscher Abt
Richbod habe das Interesse für Inschriften mit Alkuin und Angilbert geteilt und die
Lorscher Sylloge angelegt.51 Bernhard Bischoff hat dagegen mit guten Argumenten
dessen Nachfolger Adalung zum Urheber erklärt, der seine gut belegte Romreise 823
zur Abschrift dieser Inschriften genutzt haben könnte.52 Nach dem Urteil des Her-
ausgebers De Rossi ist die Sylloge Laureshamensis aus vier separaten Sammlungen
zusammengesetzt.53 Dagegen hat jüngst Nick Everett Einwände erhoben, da sich De
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46 So das Urteil des Editors De Rossi, in: Inscriptiones Christianae Urbis Romae, 168–169, Nr. 76.
47 Vgl. Nonn 2012, 23.
48 Dass diese Zahl je erreicht wurde, zieht Nonn 2012, 24, allerdings mit guten Gründen in Zweifel.
49 Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed. De Rossi, 72–94.
50 Vgl. Everett 2003, 244.
51 Fichtenau 1953, 300–301.
52 Bischoff 1989, 99, Anm. 52.
53 Karl Strecker hat sich dem Urteil in seiner Teiledition, Rhythmi Langobardici, ed. Strecker, 718
angeschlossen.

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264   Florian Hartmann

Rossi allein auf paläographische Argumente in der Lorscher Handschrift beziehe:


Jede neue Hand nimmt De Rossi als Beleg für den Beginn einer neuen Sammlung
mit je ganz eigener Entstehungsgeschichte. Mit diesem Einwand kann Everett zwar
die ältere These anzweifeln, eine neue Entstehungsgeschichte der Sylloge Lauresha-
mensis lässt sich allerdings ebenfalls nicht plausibel entwerfen.54 Die Datierung der
gesamten Syllogae auf die Zeit zwischen 821 und 846 ergibt sich aus einer Inschrift
in der erst von Paschalis I. errichteten Basilica Santa Cecilia in Trastevere und aus
dem Verweis auf Gebäude, die durch die Einfälle der Sarazenen im Jahr 846 zerstört
wurden. Der terminus post quem, 821, gilt freilich nur für die sogenannte erste Sylloge
urbana, die stadtrömische Inschriften enthält. Für die drei andere Teile der gesamten
Sammlung lassen sich je unterschiedliche Entstehungszeiten postulieren. Die zweite,
Inschriften aus der Petersbasilika enthaltende Sammlung wird gemeinhin auf das 7.
oder 8. Jahrhundert datiert; die dritte enthält norditalienische Inschriften und geht
auf das ausgehende 8. Jahrhundert zurück, während die vierte Sylloge weit verstreute
Inschriften aus Rom, Spoleto und Ravenna überliefert. Sie stammt wohl aus dem 7.
Jahrhundert.55
Die Motivationen, diese Sammlungen anzulegen, waren jeweils unterschied-
lich. 1853 hat Edmond Le Blant aufgrund von Anomalien in erhaltenen mittelalterli-
chen Inschriften vorgeschlagen, dass die Verfasser diese Fehler nur begangen haben
könnten, indem sie auf unzulängliche Formulare oder in unzulänglicher Weise auf
korrekte Formelsammlungen zurückgegriffen hätten.56 Zwar hat 1889 René Cagnat
dem widersprochen unter dem Hinweis, die Verfasser hätten in ihrer Umwelt so viele
Inschriften vor Augen gehabt, dass sie auch aus denen für eigene Formulierungen
hätten schöpfen können, ohne auf Formelsammlungen zurückgreifen zu müssen.
Doch konnte jüngst Cécile Treffort zeigen, dass zumindest einige Verfasser von
Inschriften auf Formulare zurückgegriffen haben.57 Sie berief sich dabei auch auf
eine wegweisende Miszelle Bernhard Bischoffs, der im Jahr 1984 aus einer Berner
Handschrift „Epitaphienformeln für Äbtissinnen“ bekannt gemacht hat.58 Er deutete
diese allerdings nicht als Formelsammlung im engeren Sinn, sondern als Abschrif-
ten von „echten Epitaphien“.59 Treffort führt selbst eindrucksvoll Beispiele dafür an,
wie in Inschriften wörtlich Formulierungen aus den Carmina, nicht aber aus anderen
Inschriften übernommen wurden. Nur stammen die Vorlagen gerade nicht aus For-
mularen, sondern aus den Carmina Alkuins.
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54 Everett 2003, 243, Anm. 31.


55 Vgl. auch die Zusammenstellung bei Strecker in seiner Edition der Rhythmi Langobardici, ed. Stre-
cker, 718.
56 Treffort 2007, 188.
57 Ebd.
58 Bischoff 1984.
59 Ebd., 150.

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Karolingische Gelehrte als Dichter und der Wissenstransfer am Beispiel der Epigraphik   265

Treffort ist zweifelsohne darin zuzustimmen, dass die Verfasser von Epitaphien
auf textliche Vorlagen zurückgegriffen haben. Doch dürfte es sich dabei in der
Regel nicht um explizite Formelsammlungen nach der hochmittelalterlichen artes
dictandi gehandelt haben, sondern um schlichte Sammlungen von Inschriften, wie
sie in den oben beschriebenen Sylloge überliefert sind. Denn immerhin kann Treffort
nach bemerkenswert detaillierter Analyse erhaltener Epitaphien gerade einmal für
zwei Fälle die Benutzung von solcherlei Vorlagen nachweisen. Und in diesen Fällen
handelt es sich um Entlehnungen aus unterschiedlichen Carmina und nicht aus Epi-
taphien.
So dürften nicht nur die Sylloge Laureshamensis, sondern all die Inschriftensamm-
lungen aus dem 8. und 9. Jahrhundert zumindest teilweise als Musterbeispiele und
Lehrwerke gedacht gewesen sein. Einige von ihnen fokussierten auf klassisch-antike
Inschriften; andere konzentrieren sich auf spätantike christliche Monumente. Robert
Favreau hat zwar darauf hingewiesen, dass in den karolingischen Epitaphien antike
literarische Vorbilder wiederzufinden seien.60 Noch wesentlich griffiger dürften aber
die vorgefertigten und bereits auf den Stil christlicher Totenmemoria justierten For-
mulierungen mittelalterlich-christlicher Inschriften gewesen sein. Dafür brauchte
man nur eine große Anzahl und Varianz von „erfolgreichen“ Inschriften, um aus
einem möglichst großen Pool von Musterformulierungen schöpfen zu können.
Inschriften aus Italien boten sich hier schon allein deswegen an, weil sie dort
in besonderer Zahl anzutreffen waren; die römischen Inschriften bürgten zugleich
für die richtige, liturgisch, theologisch und sprachlich korrekte Form. Der Vorzug
römischer Inschriften steht parallel zu den oben erörterten Bemühungen der karo-
lingischen Kanonistik, in Rom authentische Vorlagen des Kirchenrechts zu erhalten.
Wenn man um 800 in Rom nach Handschriften des Kirchenrechts suchte und aus
Rom und Ravenna Spolien anforderte, die zur Demonstration kaiserlicher Ansprüche
dienen sollten, dann ist es an sich nur konsequent, im Zuge der karolingischen Cor-
rectio auch gleich mustergültige Inschriften zum Zweck ihrer Imitation aus Rom zu
übernehmen.

5 Zum stilistischen Vorbildcharakter römischer und


langobardischer Inschriften
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Die sprachliche und ideelle Vorbildhaftigkeit, welche die karolingischen Epigraphi-


ker damals in den Inschriften der Syllogae gesehen haben dürften, kommt darin zum
Ausdruck, dass die Sylloge Centulensis mit einer Inschrift schließt, die Angilbert selbst
auf den in St. Riquier bestatteten Schotten Chaidocus verfasst hatte. Dieses Gedicht

60 So in der Diskussion auf Nachfrage von Jacques Monfrin, Favreau/Michaud 1981, 258.

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zitiert wiederum wörtlich die von Alkuin verfasste Grabinschrift für Erzbischof
Angilram von Metz. Aus Angelramnus ovans fretus pietate magistra macht Angilbert:
Angilbertus, fretus pietate magistra.61 Das Arbeiten mit Versatzstücken aus anderen
Inschriften war, wie auch folgende Beispiele lehren, üblich.62
Hrabanus Maurus, dessen kompilatorische Arbeitsweise ebenso auf anderem
Feld belegt ist, übernahm auch in der Dichtung Versatzstücke aus Alkuins Epita-
phien. So heißt es in Alkuins Epitaph auf der Grabplatte Papst Hadrians:

Tu memor est mei, sequitur te mens mea semper


Cum Christo teneas regna beata poli
Te clerus populus magno dilexit amore.63

Hrabanus übernahm Teile davon in folgender Variante:

Et post hanc vitam conscendes lucis ad arcem,


Illic quo teneas regna beata poli.64

Ernst Dümmler sah in der Junktur beata regna noch eine direkte Entlehnung aus
Ovid,65 da sie aber mehrfach von Hrabanus’ Lehrer Alkuin verwendet wurde, dürfte
er hier wohl eher von seinem Lehrer abgeschrieben haben.
Hrabanus Maurus schöpfte allerdings nicht nur aus dem Werk von Alkuin,
sondern auch aus jenem Angilberts oder direkt aus der Sylloge Centulensis, wenn es
bei ihm heißt:

Patronosque sibi exoptans fieri arte magistra


Ornavit tumulum condidit et titulum.66

Denn schon die Inschrift Angilberts, mit der die Sylloge Centulensis schließt, lautet
ganz ähnlich:

Huic Angilbertus fretus pietate magistra


Et tumulo carmen condidit et tumulum.67

61 Alkuin, Carmina, ed. Dümmler, 329, Nr. 102, Z. 2: Angelramnus ovans fretus pietate magistra; und
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Angilbert, Carmina, ed. Dümmler, 365, Nr. 3, Z. 7: Angilbertus, fretus pietate magistra.
62 Neff 1908, 45; vgl. Bullough 2004, 246 und 278. Bei Alkuin wird die Zitation aus den Syllogae schon
länger vermutet.
63 Epitaphium Hadriani, in: Schneider/Walther 1933, 25–26, Z. 19–21; dazu Scholz 1997, 373–394; vgl.
ähnlich auch Alkuin, Carmina, ed. Dümmler: versus ad Leonem apostolicum urbis Romae, 255, Z. 34.
64 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 500–501, Nr. 46.
65 Hrabanus Maurus, Carmina, ed. Dümmler, 161, Nr. III, Anm. 7; vgl. Publius Ovidius Naso, Epistolae
Heroidum ed. Dörrie, XII, 24; zu einzelnen, immer wiederkehrenden Junkturen karolingischer Epigra-
phik vgl. auch Favreau/Michaud 1981, 251–253.
66 Hrabanus Maurus, Carmina, ed. Dümmler, 213, Nr. XLVII, Z. 15–16.
67 Angilbert, Carmina, ed. Dümmler, 365, Nr. III, Z. 7–8. = Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed.

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Noch ein weiteres karolingisches Epitaph kannte nachweislich Inschriften, die in


der Sylloge Centulensis überliefert werden. Man vergleiche die Grabinschrift für Karls
fidelis Eggihard und in ähnlicher Formulierung auch für seinen Sohn Lothar:

Pallida sub parvo clauduntur membra sepulcro


Ardua sed caeli spiritus astra petit.68

Mit dem in beiden Syllogen und auch sonst übernommenen Epitaph Gregors I.:

Spiritus astra petit leti nil iura nocebunt


Cui vitae alterius mors magis ipsa vita est
Pontificis summi hoc clauduntur membra sepulcro.69

Diese Beispiele sollen hier genügen. Man muss in all diesen Fällen nicht an bewuss-
tes Abschreiben denken, als habe der Autor gewissermaßen mit den Syllogae in der
Hand eigene Gedichte verfasst. Vielmehr konnten durch auswendig gelernte Inschrif-
ten metrisch passende Phrasen beliebig angepasst werden.70 Insbesondere aus den
damasianischen Epigrammen, von denen zahlreiche in den Syllogae überliefert
werden, „[schöpften] die christlichen Inschriften … in ganz hohem Maß“.71 Denn hier
fanden Epigraphiker eine Vorlage, in der klassisch-römische, vor allem augusteische
Dichtung zitiert und systematisch im christlichen Sinn umgedeutet wurde.72
Neben den tatsächlich im Einzelfall schwer nachzuweisenden Zitaten ist es aber
allemal bemerkenswert, dass der karolingische Homer Angilbert von St. Riquier, sein
Freund Adalhard von Corbie und Paulus Diaconus vor ihrem epigraphischen Engage-
ment im Umfeld Karls des Großen eine langobardische Vergangenheit gemein hatten.
Dass an den späteren Wirkungsstätten von Angilbert und Adalhard Mustersammlun-
gen italienischer Inschriften im Umlauf waren, belegt recht anschaulich den Transfer
epigraphischen Wissens aus Italien in das Frankenreich.

De Rossi, 94, Nr. 68, Z. 7–8.


68 Neff 1908, 176.
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69 Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed. De Rossi, 78, Nr. 3, u.ö.


70 So zitiert die Inschrift auf dem Grab Einhards in Seligenstadt, die Hrabanus Maurus verfasst hat,
zwei in der Lorscher Sylloge überlieferte nacheinander stehende Inschriften aus Pavia. So heißt es im
von Hrabanus Maurus verfassten Epitaph, Hrabanus Maurus, Carmina, ed. Dümmler, 237–238, Nr.
LXXXV: Conditus ecce iacet tumulo vir nobilis isto. In der Lorscher Sylloge dagegen lautet die Paveser
Inschrift, Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed. De Rossi, 165, Nr. 12: sed non est flendus qui iacet
in tumulo. Und weiter heißt es auf dem Grab Alkuins: Ipsiusque animae regna poli tribuant bei Hraba-
nus; zum Vergleich in Pavia, Inscriptiones Christianae Urbis Romae, ed. De Rossi, 165, Nr. 13: prendite
regna poli.
71 Reutter 1999, 65.
72 Ebd., 65–66.

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268   Florian Hartmann

Angilbert und Adalhard, sowie die Langobarden Petrus von Pisa73 und Paulus
Diaconus waren personell oder materiell am Transfer kulturellen Wissens auf dem
Feld der Epigraphik unmittelbar beteiligt.74 Paulus und Petrus, die beiden Langobar-
den, waren zudem als Lehrer tätig.75 Die Sylloge Centulensis und die Sylloge Lauresha-
mensis wird man ebenfalls in diesem schulischen Kontext zu verorten haben. Später
bemühte man sich auch hier, in Lorsch, wo vielleicht auch Alkuin76 tätig war, um jene
Inschriftensammlungen, die es ermöglichten, das Abfassen von Inschriften auf dem
entsprechenden Niveau und mit entsprechender Autorität zu lehren. Es ist bezeich-
nend, dass auch diese Sylloge Laureshamensis ausschließlich langobardische und
römische Inschriften enthält. Ist es dann ein Zufall, dass man nur in Lorsch zu berich-
ten wusste, dass Karl der Große für den verstorbenen Papst Hadrian I. ein ebitaffium
aureis litteris in marmore conscriptum anfertigen ließ?77
Die Inschriften wurden bei der Aufnahme in die Sylloge freilich von ihrem
ursprünglichen Aufstellungsort getrennt; die Autoren hatten beim Abfassen also eine
ganz andere Materialität und einen anderen Rezipientenkreis vor Augen. In den Syl-
logae verloren die Inschriften ihren unmittelbar auf Präsentierung und Publizierung
zielenden Zweck. Mit dem Wandel der Materialität und Präsenz durch die Abschrift in
den Syllogae verloren sie zudem einen Teil ihrer Bedeutung, nämlich jene Bedeutung,
die an den ursprünglichen Aufstellungsort gekoppelt war, so wenn beispielsweise
Bilder oder Skulpturen durch die Inschrift kommentiert wurden oder, was häufig
vorkam, die Skulpturen gewissermaßen selbst zu dem Leser sprachen.78
Trotz dieses Bedeutungsverlustes durch Medienwechsel wurden diese Inschrif-
ten in die Sylloge aufgenommen, weil es nämlich nicht um die Aufrechterhaltung
oder Archivierung des ursprünglichen Sinnzusammenhanges ging, sondern um
den Nutzen und um den Vorbildcharakter einzelner Texte für künftige Epigraphiker.
Offenbar bestand einige Nachfrage nach Hilfsmitteln zur Gestaltung von Inschriften.
Dagegen waren die Syllogae für die künstlerisch-handwerkliche Gestaltung einer
Inschrift natürlich kaum geeignet. Es ist deswegen bezeichnend, dass Einhard im
Jahr 836 von Lupus von Ferriéres um die graphische Vorlage von Buchstaben gebeten
wurde, die als Vorlage einer Capitalis quadrata geeignet waren.79 Ein solches Muster-
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73 Neff 1908, 163–164.


74 Bernt erwähnt, „dass [Alkuin] handschriftliche Sammlungen römischer Inschriften zur Verfügung
[standen]“. „Alkuin hat seinerseits diese Tradition weitergegeben an seine Schüler und Nachahmer,
denen er wiederum als Vorbild gedient hat, an Angilbert, Walahfrid und andere“, vgl. Bernt 1968, 195.
75 Ähnliche Tätigkeiten sind für Alkuin in den 780er Jahren noch nicht belegbar, vgl. Bullough 2004,
345.
76 Vgl. ebd., 344–345.
77 Annales Laureshamenses, ed. Pertz, 22–39, ad a. 795, S. 36.
78 Belege dazu bei Everett 2003, 247–248.
79 Lupus abbas Ferrariensis, Epistolae, ed. Dümmler, 17, Nr. V: Praeterea scriptor regius Bertcaudus
dicitur antiquarum litterarum, dumtaxat earum quae maximae sunt et unciales a quibusdam vocari

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alphabet hat sich in einer zeitgenössischen Handschrift aus der Burger-Bibliothek in


Bern erhalten, auf die Bernhard Bischoff aufmerksam gemacht hat.80 Dieses Musteral-
phabet ist gewissermaßen die graphische Ergänzung zu den sprachlich-stilistischen
Vorbildern in den handschriftlichen Inschriftensammlungen und dokumentiert
zugleich, dass man sich im Karolingerreich damals um die Verbreitung von epigra-
phischen Grundkenntnissen Gedanken machte.
Denn diese Epigraphiker waren gefragt. Zwar sind nur die allerwenigsten Inschrif-
ten in situ erhalten.81 Aber sehr vielsagend ist es, dass sogar der ansonsten völlig
unbekannte Eggihard eine eigene Inschrift erhielt, die eher zufällig überliefert ist.
Karl Neff hat sie ediert.82 In diesem Zufallsfund greifen wir wahrscheinlich eine von
zahlreichen Inschriften, die in literarisch weniger anspruchsvoller Form dem nicht
unmittelbar höchsten Adel gewidmet wurden. Anders gesagt: Wenn sogar jemand
wie der unbekannte Eggihard eine Grabinschrift erhalten hat, dann galt das mögli-
cherweise für zahllose Adlige des Karolingerreiches. Da ja sogar die berühmteren Epi-
taphien nicht in situ, sondern nur in Abschriften überliefert sind, ist leicht erklärbar,
warum die ursprünglich in großer Zahl verfassten minder gelehrten Inschriften für
den niederen Adel heute verloren sind. Dass in diesen Fällen, anders als in den Epi-
taphien für führende Gelehrte des Reiches, Inschriften auch minderen literarischen
Anspruchs akzeptabel erschienen und deswegen häufiger eklektisch aus Versatzstü-
cken von anerkannten Vorbildern zusammengesetzt wurden, kann man sich leicht
ausmalen. Wenn also im gesamten Reich auch für niedere Adlige Epitaphien zu ver-
fassen waren, musste auch das epigraphische Wissen gewissermaßen popularisiert
werden; das heißt mithilfe der Inschriftensammlungen wurden auch minder begabte
Kleriker befähigt, Inschriften zumindest in kompilatorischer Arbeitsweise zu verfas-
sen. Aber das wird eher ein Nebeneffekt der Inschriftensammlungen gewesen sein.
Ursprünglich galt der Import durch die Gelehrten den Gelehrten des Reiches.
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existimantur, habere mensuram descriptam. Itaque si poenes (!) vos est, mittite mihi eam per hunc,
quaeso, pictorem, cum redierit, scedula tamen diligentissime sigillo munita; vgl. Neumüllers-Klauser
1989, 135 mit der Abb. 105, 136.
80 Bischoff 1965, 222–223.
81 Vgl. zur Quantität Everett 2003, 237, der die geringe Zahl an Inschiften, die in situ oder in Sylloge
erhalten sind, als Spitze des Eisbergs bezeichnet, „for several fragments of inscriptions preserved
in the Casa Anelli in Pavia suggest that there was a far greater number of ‚Pavese’ style inscriptions
produced in this period“, Zitat 237–238.
82 Neff 1908, 176–177, Anhang, Nr. II.

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270   Florian Hartmann

6 Fazit
Mit der Eroberung des Langobardenreiches im Jahr 774 intensivierte sich der Kontakt
zwischen den Franken und Langobarden. Geistliche und weltliche Ämter wurden in
Italien nun an Franken übertragen, und der neue rex Langobardorum selbst machte
sich in seinen Italienzügen mit dem Land vertraut. In diesem Zusammenhang wurden
die Franken auch mit der quantitativ wie qualitativ überlegenen epigraphischen Pro-
duktion konfrontiert, die in Rom und im regnum Langobardorum auf ältere Traditio-
nen zurückzuführen waren. Sowohl für Rom als auch für Pavia und beispielsweise
für Benevent, das unter Arichis zur „letzten Bastion“ langobardischen Selbstver-
ständnisses avancierte, ist eine quantitativ wie qualitativ bemerkenswerte Produk-
tion nachgewiesen. Das ideell-spirituelle Kapital der römischen, zumal apostolischen
Inschriften auf der einen Seite und die Propagierung königlicher Herrschaftsideale in
den langobardischen Inschriften auf der anderen wiesen den italienischen Inschrif-
ten einen besonderen Vorbildcharakter zu.
So verwundert es nicht, wenn im Zuge der intensivierten Kontakte nach 774 eine
Reihe von Sammlungen italienischer Inschriften den Weg in fränkische Klöster fand.
Mit den Äbten Angilbert von St. Riquier und Adalhard von Corbie lassen sich zwei
karolingische Gelehrte ausmachen, die aufgrund ihrer persönlichen Bindungen für
den Transfer epigraphischen Wissens verantwortlich gewesen sein könnten. Sie
haben während ihrer Aufenthalte in Italien nach 774 Kontakt zu den langobardischen
Gelehrten aufgenommen und deren Fähigkeiten zu schätzen gelernt. Wenn gerade
in ihren Klöstern wenige Jahre später handschriftliche Sammlungen von Inschrif-
ten dokumentiert sind, dann wird man die beiden Gelehrten persönlich mit diesem
Transfer epigraphischen Wissens in Verbindung bringen können. Wenn zudem in
diesen Abteien Klosterschulen mit besonderem Anspruch nachgewiesen sind, dann
liegt es nicht fern, diesen Inschriften einen Vorbildcharakter auch im schulischen
Umfeld zuzuschreiben.
Anhand weniger Beispiele lässt sich wahrscheinlich machen, dass die Verfasser
von Inschriften damals auf solche Sammlungen zurückgegriffen und diese in ihren
eigenen Inschriften zitiert haben. Solche Inschriften wurden nachweislich auch für
ansonsten unbekannte Adlige mittleren Standes oder Geistliche niederer Weihen in
den Stiften und Klöstern verfasst. In diesen Fällen durfte das stilistische Niveau auch
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mal geringer sein; Kompilationen und Entlehnungen aus älteren Vorlagen waren
dann auch akzeptabel. Der Nutzen von Inschriftensammlungen ist angesichts des so
zu erschließenden hohen Bedarfs zweifellos groß gewesen.
Zugleich eigneten sich die anspruchsvollen Epitaphien der Päpste und der lango-
bardischen Könige, die in den Syllogae überliefert wurden, auch als Vorlagen für die
Gräber von Vertretern der Elite des fränkischen Reiches. Die karolingischen Gelehrten
konnten daher die Sammlungen als Muster für ihre epigraphischen Auftragsarbeiten
nutzen. Deswegen waren sie es auch, die für den Transfer der Handschriften ins Fran-
kenreich verantwortlich waren. In den karolingischen Klöstern wurden also mithilfe

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von Sammlungen italienischer Inschriften, kurz vermittels transferierten Wissens,


von gelehrten Lehrern junge Kleriker zu Dichtern ausgebildet, die auf dem Fundament
dieses spezifischen Wissens in die Lage versetzt wurden, eigene, den Geist römischer
Heiligkeit atmende und langobardische Königsideologie aufgreifende Epitaphien zu
verfassen und damit – dank der charakteristischen Materialität der Epitaphien – zur
Präsentifizierung karolingischer Autorität und Ideologie vor einem erweiterten Rezi-
pientenkreis beizutragen.

Quellen
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Sebastian Scholz
Bemerkungen zur Bildungsentwicklung im
Frühen Mittelalter. Zusammenfassung

Im Folgenden geht es darum, einerseits die Ergebnisse des vorliegenden Bandes zu


bündeln, und andererseits die Bildungsentwicklung im 6. und 7. Jahrhundert, der
kein eigener Beitrag gewidmet ist, in die Überlegungen mit einzubeziehen. Der Blick
ist dabei auf das Frankenreich gerichtet, während die zumindest in Teilen anders ver-
laufende Entwicklung in Italien hier nicht behandelt wird.
Am Anfang der Überlegungen steht Sidonius Apollinaris, jenes Mitglied der gal-
lorömischen Senatsaristokratie und späterer Bischof von Clermont, in dessen Werken
und Briefen der Bruch des antiken Bildungsideals wohl am deutlichsten wird. Ulrich
Eigler hat einen Text des Sidonius vorgestellt, in dem dieser eine Bibliothek in der
Villa eines Aristokraten beschreibt. Varro und Augustinus sowie Horaz und Pruden-
tius stehen hier in einem Bücherregal. Ihre Schriften sind nicht Gegensätze, sondern
Zeichen einer bestimmten Geisteshaltung und Bildung. Literarische Bildung und
hoher Sprachstil waren wichtig für die galloromanische Senatorenschicht, weil sie
verbindende Elemente dieser Gruppe waren, für die literarische Bildung ein bedeu-
tendes soziales Distinktionsmerkmal war. Es gab hier eine Identität von Sprachnorm
und Lebensnorm.
Doch bereits zur Zeit des Sidonius Apollinaris gab es innerhalb der Kirche Kritik
an Bischöfen, die sich mit den antiken römischen und somit heidnischen Autoren
beschäftigten.1 Die Statuta ecclesiae antiqua, ein apokrypher Text, der zwischen
475 und 485 vermutlich in Südfrankreich entstand und aus zahlreichen älteren Vor-
lagen schöpfte,2 schrieben im fünften Kanon vor, „der Bischof soll die Bücher der
Heiden nicht lesen, die Bücher der Häretiker aber nach der Notwendigkeit und den
Zeitumständen.“3 Die Vorlage für den Kanon stammte aus den ebenfalls apokryphen,
um 400 entstandenen Constitutiones apostolicae, wurde aber deutlich abgeändert.
In den Constitutiones ist die Anweisung, heidnische Bücher zu meiden, auf Laien (!)
bezogen.4 Daran wird deutlich, dass es innerhalb der Kirche Strömungen gab, die der
tradierten Schulbildung mit ihrem an klassischen Autoren und antiken Bildungsin-
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halten ausgerichteten Stoff ablehnend gegenüberstanden. Auch Sidonius selbst fühlte

1 Die Darstellung von Illmer 1979, 75–80, basiert auf einer ungenauen Textanalyse und verzerrt da-
durch die Entwicklung. Bei den von ihm angegeben Stellen für „lehren“ (docere) geht es um die Ver-
mittlung des christlichen Glaubens, nicht um Schulunterricht.
2 Munier 1960, 105–169; Gaudemet 1985, 85–86.
3 Concilia Galliae (Statuta ecclesiae antiqua), ed. Munier, can. 5, 167: Ut episcopus gentilium libros non
legat, haereticorum autem pro necessitate et tempore; vgl. Riché 1989, 37.
4 Vgl. Munier 1960, 130–131.

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276   Sebastian Scholz

sich verpflichtet, auf gewisse Vorbehalte innerhalb der christlichen Gemeinschaft


Rücksicht zu nehmen. Als ihn Oresius um 481 um ein neues Gedicht bat, antwortete
ihm Sidonius: „Von Beginn meiner religiösen Aufgabe an habe ich vor allem diese
Beschäftigung aufgegeben, weil man mir ohne Zweifel Leichtsinn anlasten könnte,
wenn mich, für den die Bedeutung der Handlungen entscheidend geworden waren,
die Geschliffenheit der Verse ergriffen hätte.“5 Gedichte zu schreiben, schien mit dem
Charakter des Bischofsamtes nicht vereinbar zu sein. Gut hundert Jahre später kriti-
sierte dann Papst Gregor I. in seinem Brief an Bischof Desiderius von Vienne dessen
Grammatikunterricht anhand antiker Autoren: Das Lob Christi dürfe nicht zugleich
mit dem Lob Jupiters in einem Mund Platz haben.6
Wichtig ist eine Äußerung des Caesarius von Arles, der nicht die klassische
Bildung an sich kritisierte, den Einsatz rhetorischer Elemente in einer Predigt aber
ablehnte. Die Auslegung der heiligen Schriften solle in der Weise geschehen, dass „die
Speise der Bildung nicht nur zu den wenigen Gelehrten (scolastici) gelangt und die
übrige Menge des Volkes hungrig bleibt. Und deshalb bitte ich demütig darum, dass
die gebildeten Ohren damit zufrieden sind, die bäuerischen Worte geduldig zu ertra-
gen, wenn nur die ganze Herde des Herrn durch eine einfache und eine, wie ich gesagt
haben möchte, gewöhnliche Predigt das geistliche Futter empfangen kann. Und weil
die ungebildeten und einfachen Menschen nicht zur Höhe der Gelehrten hinaufstei-
gen können, mögen sich die Gebildeten zur Unwissenheit jener hinabneigen.“7 Eine
am Sprachstil Ciceros oder Vergils orientierte Predigt war also nach Caesarius nicht
geeignet, die große Masse des Volkes zu erreichen. Für die Vermittlung der christli-
chen Botschaft musste der Sprachstil der Zuhörer- oder Leserschaft angemessen sein
und durfte diese nicht überfordern. Das Bildungsniveau im Frankenreich war im 6.
Jahrhundert offenbar sehr ungleichmäßig. Die Wohlhabenden waren nach wie vor in
der Lage, die Ausbildung ihrer Kinder durch Privatlehrer zu finanzieren, während die
vor allem durch Stiftungen finanzierten öffentlichen Schulen massiv zurückgegangen
zu sein scheinen. Dafür ergeben sich aus den Kanones mehrere Hinweise. So heißt es
im 1. Kanon der Synode von Vaison aus dem Jahr 529:
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5 Sidonius Apollinaris, Epist. 9,12,1, ed. Loyen, 160: Primum ab exordio religiosae professionis huic
principaliter exercitio renuntiavi, quia nimirum facilitati posset accommodari, si me occupasset levitas
versuum, quem respicere coeperat gravitas actionum. Übersetzung: S. Scholz.
6 Gregor der Große, Registrum Epistularum, ed. Ewald/Hartmann, Reg. XI, 34, 303.
7 Caesarius von Arles, Sermo 86,1, ed. Morin, 353: non nisi ad paucos scolasticos cibus doctrinae po-
terit pervenire, reliqua vero populi multitudo ieiunia remanebit; et ideo rogo humiliter, ut contentae sint
eruditae aures verba rustica aequanimiter sustinere, dummodo totus grex domini simplici et, ut ita dixe-
rim, pedestri sermone pabulum spiritale possit accipere. Et quia inperiti et simplices ad scolasticorum
altitudinem non possunt ascendere, eruditi se dignentur ad illorum ignorantiam inclinare; Übersetzung:
S. Scholz; vgl. Abel 1974, 116–117; Eigler 2013, 413–414 und den Beitrag von Ulrich Eigler (in diesem
Band), 7–22.

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Zusammenfassung   277

„Es hat dies Gefallen gefunden, dass alle Priester, die in den Pfarreien eingesetzt
worden sind, gemäß der Gewohnheit, die bekanntlich in ganz Italien mit erheblichem
Vorteil eingehalten wird, jüngere Lektoren, wie viele auch immer sie haben, die noch
ohne Frauen sind, zu sich ins Haus aufnehmen, wo sie selbst wohnen. Und wie gute
Väter sollen sie diese geistlich erziehen und sich anstrengen, diese auf die Psalmen
vorzubereiten, sie mit den heiligen Texten vertraut zu machen und sie im Gesetz des
Herrn zu unterrichten, damit sie für sich würdige Nachfolger vorbereiten und vom
Herrn den ewigen Lohn empfangen. Wenn diese aber zur Volljährigkeit gelangt sind,
und einer von ihnen wegen der Schwachheit des Fleisches eine Frau haben will, soll
man ihm die Möglichkeit, eine Ehe zu führen, nicht verweigern.“8
Die Priester sollten also junge, unverheiratete Männer in ihrem Haus aufneh-
men, um sie auszubilden. Doch stand nicht der klassische Bildungskanon auf dem
Programm. Nicht klassische Autoren, Grammatiker oder das römische Recht wurden
gelehrt, sondern das Singen der Psalmen, die Texte der Heiligen Schrift sowie die
kirchlichen Vorschriften. Ob und in welcher Weise die hier erwähnten jungen Männer
schon vorher eine Schulbildung erhalten hatten, bleibt allerdings unklar.9 Dieses
Problem wird aber im 16. Kanon der Synode von Orléans 533 angesprochen: „Kein
Presbyter oder Diakon darf geweiht werden, wenn er ohne Ausbildung ist oder
die Taufvorschriften nicht kennt.“10 Damit wird innerhalb des Frankenreichs das
Problem einer mangelhaften Ausbildung zum ersten Mal in einem offiziellen kirch-
lichen Dokument behandelt. Da die Bestimmungen der Kanones in der Regel Reak-
tionen auf entsprechende Vorfälle sind, muss es entsprechende Probleme gegeben
haben. Wie verbreitet sie waren, lässt sich nicht genau feststellen,11 doch immerhin
formulierte 589 eine westgotische Synode im an der Grenze zum Frankenreich liegen-
den Narbonne eine ganz ähnliche Vorschrift: „Keinem der Bischöfe soll es erlaubt
sein, einen Diakon oder Presbyter zu weihen, der nicht Schreiben kann; aber wenn sie
geweiht worden sind, sollen sie gezwungen werden, es zu lernen. Wer aber als Diakon

8 Concilia Galliae (Konzil von Vaison 529), ed. de Clercq, can. 1, 78: Hoc placuit, ut omnes presbyteri,
qui sunt in parrociis constituti, secundum consuetudinem, quam per totam Italiam satis salubriter te-
neri cognouemus, iuniores lectores, quantoscumque sine uxoribus habuerent, se cum in domo, ubi ipsi
habitare uidentur, recipiant et eos quomodo boni patres spiritaliter nutrientes psalmis parare, diuinis
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lectionibus insistere et in lege domini erudire contendant, ut et sibi dignos successores prouideant et a
domino proemia aeterna recipiant. Cum uero ad aetatem perfectam peruenerint, si alequis eorum pro
carnis fragilitate uxorem habere uoluerit, potestas ei ducendi coniugium non negetur. Übersetzung: S.
Scholz; vgl. Riché 1989, 40; Godding 2001, 60–63.
9 Nach Gregor von Tours, Liber vitae patrum, ed. Krusch, c. 20, 291 gab es im 6. Jahrhundert auch
kirchliche Schulen für Kinder, doch lässt sich die Lebenszeit des von ihm in diesem Zusammenhang
erwähnten heiligen Leobard nicht sicher datieren.
10 Concilia Galliae (Synode von Orléans 533), ed. de Clercq, can. 16, 101: Presbyter uel diaconus sine
literis uel si baptizandi ordinem nesciret nullatenus ordinetur. Übersetzung: S. Scholz; Godding 2001,
51–52.
11 Vgl. auch Godding 2001, 53.

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278   Sebastian Scholz

oder Presbyter im Schreiben ungebildet ist und es träge aufschiebt, zu lesen oder sein
Amt zu erfüllen, und in der Kirche nicht zu allen Dingen bereit ist, muss vom Lebens-
unterhalt (der Kleriker) entfernt werden … Aber was wird er in der Kirche sein, wenn
er nicht zum Lesen ermuntert worden ist? Aber wenn er träge dabei bleibt und nicht
nützlich sein will, soll er ins Kloster geschickt werden, weil er das Volk außer durch
Lesen nicht erbauen kann.“12
Es scheint, dass der Zugang zur elementaren Ausbildung im Lesen und Schrei-
ben nicht mehr überall gewährleistet war. Das gilt, wie gesagt, nicht für die aristo-
kratische Oberschicht, doch lässt sich auch hier eine Veränderung im Umgang mit
Bildungsinhalten feststellen. Der zur Zeit des Sidonius Apollinaris noch vorhandene
feste Bildungskanon, der mittels der gemeinsamen Lektüre der gallorömischen Sena-
torenschicht einen gemeinsamen Sprachstandard erzeugte und damit identitäts-
stiftend wirkte, löste sich im 6. Jahrhundert allmählich auf. So sind die Briefe des
Bischofs Desiderius von Cahors aus der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts immer noch
der Romanitas verpflichtet, ohne aber bei den Adressaten noch einen klar profilierten
Bildungskanon vorauszusetzen.13 Entsprechend gering bleiben die Bezugnahmen auf
die klassische Bildung. Der Kontakt mit den klassischen Autoren blieb jedoch beste-
hen, da sie auch weiterhin zur regelmäßigen Lektüre der Oberschicht gehörten. In
einem Brief an einen unbekannten Empfänger schreibt Desiderius von Cahors: „Ich
wünschte oft, die Umstände wären uns gewogen, so dass Du an unseren Gesprächen
teilnehmen könntest, damit es Dir erlaubt sei, so, wie wir früher im weltlichen Stand
in der Gesellschaft des huldreichsten Fürsten Chlothar uns gegenseitig Geschichten
(fabellae) zu erklären pflegten, jetzt, nachdem wir jenes nichtige Tun völlig aufgege-
ben haben, die süßen Vorschriften Christi mit uns zu erörtern.“14
Der Hof war offenbar ein Ort, an dem sich der König mit den Söhnen führender
Familien traf, um gemeinsam über wichtige Themen zu reden und klassische Texte
zu lesen, denn etwas anderes kann mit fabellae kaum gemeint sein. Zugleich wird
deutlich, dass Desiderius als Bischof von Cahors es für nicht mehr angemessen hielt,
sich mit der heidnischen römischen Literatur zu beschäftigen. Dies war für ihn jetzt
„nichtiges Tun“, das der Beschäftigung mit den Bibeltexten weichen musste. Damit
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12 Concilia Galliae (Synode von Narbonne 589), ed. de Clercq, can. 11, 256: Qui uero diaconus aut
presbiter fuerit literis inheruditus et desidiose legere uel implere officium distulerit, et in ecclesia paratus
ad omnia non fuerit, ab stipendio reiciendum, ... Aut quid erit in ecclesia dei, si non fuerit ad legendum
exercitatus? Et si perseuerauerit desidiose, et non uult proficere, mittatur in monasterio, quia non potest
nisi legendo edificare populum. Übersetzung: S. Scholz.
13 Schwitter 2013; für die Überlassung des Druckmanuskripts möchte ich Raphael Schwitter (MGH,
München) ganz herzlich danken.
14 Desiderius von Cahors, Epistulae, ed. Norberg, Nr. I, 10, 28: Optarem frequenter, si possibilitas ad-
rideret, sacris vestris interesse conloquiis, ut, sicut nos sub saeculi habitu in contubernio serenissimi
Flothari principis mutuis solebamus revelare fabellis, ita iam nunc, illa ad plenum deposita vanitate,
dulcia Christi liceret ruminare praecepta. Übersetzung: S. Scholz.

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Zusammenfassung   279

werden hier die Auswirkungen einer Entwicklung sichtbar, die im 5. Jahrhundert


ihren Anfang nahm und sich im erwähnten 5. Kanon der Statuta ecclesiae antiqua
niederschlug, der den Bischöfen verbot, die Bücher der Heiden zu lesen.15 Insofern
überrascht es kaum, dass in den Werken der Bischöfe des 7. Jahrhunderts nur wenige
Zitate klassischer Autoren zu finden sind. Man kann daraus aber nicht schließen,
diese Texte seien in Vergessenheit geraten.
Die Entwicklung von der Mitte des 7. bis zur zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts
ist in den Quellen nur schlecht zu greifen. Einige Nachrichten bieten die Heiligen-
viten, deren Überlieferung jedoch aufgrund der karolingischen réécriture oft pro-
blematisch ist.16 Die Vita Bischof Leodegars von Autun († 677–679) berichtet etwa,
er sei von seinem hochgebildeten Onkel Bischof Dido von Poitiers in verschiede-
nen Bereichen unterrichtet worden, „welche die weltlichen Großen zu studieren
pflegen.“17 Demnach müsste man davon ausgehen, dass die klassischen Autoren
auch in dieser Zeit nicht nur durch die Grammatiker und die Kirchenväter vermittelt
wurden, sondern dass sich eine kleine Elite weiterhin mit diesen Texten befasste. Das
ist schon deshalb naheliegend, weil die karolingische Renovatio, welche die Beschäf-
tigung mit diesen Texten auf eine neue Basis stellte, auf vorhandenen Grundlagen
aufgebaut haben muss. Zweifellos gehört es aber zu den wesentlichen Errungenschaf-
ten der karolingischen Bildungsreform, die Normautoren des klassischen Stils wieder
einem breiteren Publikum zugänglich gemacht zu haben. Eine Voraussetzung dafür
war, wie Ulrich Eigler gezeigt hat, das neue Interesse an Augustinus und anderen
Kirchenvätern, die immer wieder auf antike Autoren Bezug nahmen. Das Studium der
Kirchenväter führte zwangsläufig zu einer Auseinandersetzung mit deren sprachli-
chem Hintergrund. Horaz, Vergil, Cicero und Terenz erlangten nun als Normautoren
des klassischen Stils neue Bedeutung. So kam es zur Entstehung eines grammatisch-
rhetorischen Sprachstils und zur Rückkehr zum Kulturwissen der Spätantike. Auf
dieser Basis rekonstruierte man, und das ist das eigentlich Neue, sprachlich eine alte
Kultur, welche als Norma rectitudinis verpflichtend wurde.18 Ein identitätsstiftender
Sprach- und Lektürestandart wie zur Zeit des Sidonius Apollinaris entstand aufgrund
der andersartigen gesellschaftlichen Voraussetzungen zwar nicht mehr, aber immer-
hin lassen sich in der literarischen Produktion des späten 8. und des 9. Jahrhunderts
wieder intertextuelle Bezüge mit antiken und patristischen Autoren sowie eine neue
Themenvielfalt erkennen.
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Die Idee der Norma rectitudinis hatte weitreichende Konsequenzen, denn ent-
sprechend sollten nun die Abschriften von Texten sorgfältig und genau sein, wie

15 Concilia Galliae (Statuta ecclesiae antiqua), ed. Munier, can. 5, 167.


16 Vgl. Heinzelmann 2010, passim.
17 Leodegar von Autun, Passio, ed. Krusch, c. 1, 283: fuisset strinue aenutritus et ad diversis studiis,
quae saeculi potentes studire solent …; zur Überlieferung vgl. Heinzelmann 2010, 50–51 mit Anm. 105.
18 Vgl. Fleckenstein 1953, 52–53; vgl. auch den Artikel von Julia Becker in diesem Band.

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280   Sebastian Scholz

es Karl der Große und seine Berater mehrfach forderten. In der möglicherweise 787
geschriebenen Epistola de litteris colendis heißt es: „Es sei … bekannt, dass wir mit
unseren Getreuen überlegt haben, dass nützlicherweise in den Bistümern und Klös-
tern, die durch Gottes Gnade unserer Leitung anvertraut wurden, diejenigen, die
durch das Geschenk des Herrn lernen können, ein jeder nach seinem Auffassungsver-
mögen, ihre Lernanstrengungen außer auf die Vorschrift des geregelten Lebens und
die Lebensweise des heiligen Glaubens auch auf die Beschäftigung mit der Literatur
richten sollen. Und ebenso, wie die regelhafte Norm die Ehre der Sitten regeln soll,
soll der Eifer des Lehrens und Lernens die Reihenfolge der Wörter regeln und schmü-
cken, damit die, welche sich bemühen, Gott durch ein rechtes Leben zu gefallen, es
nicht vernachlässigen, ihm auch durch richtiges Reden zu gefallen. Es steht nämlich
geschrieben: ‚Entweder wirst du aufgrund deiner Worte gerechtfertigt, oder du wirst
aufgrund deiner Worte verdammt werden‘ (Mt 12,37). Obgleich es nämlich besser ist,
gut zu handeln als etwas gut zu kennen, ist es doch nötig, erst etwas gut zu kennen als
es zu tun. Es soll also ein jeder lernen, was er zu tun wünscht, damit sein Geist umso
reichlicher das erkennt, was er tun soll, damit sich seine Stimme umso mehr ohne die
Hindernisse der Täuschungen zum Lob Gottes erhebt. … Denn weil in diesen Jahren
von etlichen Klöstern öfters Schreiben an uns gerichtet wurden, in denen uns mitge-
teilt wurde, dass die Brüder ebendort unser in ihren heiligen und frommen Gebeten
gedenken, haben wir in sehr vielen der genannten Zuschriften dieser sowohl eine
richtige Ansicht als auch eine ungebildete Sprache gefunden. Was die fromme Demut
innerlich treu vorsagte, das konnte die ungebildete Sprache wegen der Vernachlässi-
gung des Lernens äußerlich nicht ohne Tadel ausdrücken. Deshalb begannen wir zu
fürchten, dass vielleicht, so wie ziemlich wenig Kenntnis beim Schreiben vorhanden
war, noch viel weniger Kenntnis, als in der Tat erlaubt wäre, beim Verständnis der
heiligen Schriften vorhanden sei. Und wir wissen alle gut, dass, wenn auch die Irrtü-
mer bei den Worten gefährlich sind, die Irrtümer bei den Ansichten umso gefährlicher
sind.“19
Papst Gregor der Große (590–604) hatte im Widmungsschreiben zu seinem Werk
Moralia in lob noch erklärt, er meide die Verwirrung der Barbarismen nicht und halte
es für völlig unwürdig, die Worte der himmlischen Weissagung unter die Regeln des
Grammatikers Donat zu zwingen, da diese auch nicht von den Interpreten der Autori-
tät der heiligen Schrift beachtet worden seien.20 Doch in der karolingischen Renovatio
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wurde das richtige Verständnis der Heiligen Schrift und anderer Texte zur Voraus-
setzung für den richtigen Glauben. Das Wissen um die korrekte Grammatik und der

19 Epistola de litteris colendis, Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Stengel, 251–252, Nr. 166; Über-
setzung: S. Scholz; zur Datierung vgl. Bullough 2004, 336–346, der davon ausgeht, dass Alkuin die
Zeit nach 781 auf Reisen und in York verbrachte und erst 786 an Karls Hof kam.
20 Gregor der Große, Registrum Epistularum, ed. Ewald/Hartmann, Reg. V, 53a, c. 5, 357; vgl. Eigler
2013, 412.

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Zusammenfassung   281

richtige Glauben waren nun nicht mehr voneinander zu trennen. Wer die Worte der
Schrift nicht richtig verstand und falsch wiedergab, der war aufgrund seiner Missver-
ständnisse der Häresiegefahr ausgeliefert.21
Doch das richtige Verständnis der Bibel oder anderer Texte war unter anderem
auch davon abhängig, ob man die Vorlage gut lesen konnte. Im 8. Jahrhundert wurden
ganz verschiedene Minuskelschriften, die Halbunziale und die Capitalis rustica
nebeneinander benutzt. Eine gute Lesbarkeit der Schriften war oft nicht gegeben.
Man hat deshalb stets angenommen, die Entwicklung und Verbreitung der karolingi-
schen Minuskel sei im Rahmen der karolingischen Renovatio unter Karl dem Großen
erfolgt. Tino Licht konnte jedoch zeigen, dass in einer Handschrift, die in Corbie unter
Abt Leutchar zwischen 762 und 769 entstand, auf zwei Seiten statt der sonst benutzten
Halbunziale eine karolingischen Minuskel verwendet wurde.22 Es handelte sich offen-
bar um ein Experiment, doch erwies sich die neue Schrift als äußerst erfolgreich. Im
Kloster Lorsch scheint man die neue Schrift sehr schnell, spätestens wohl 774 über-
nommen zu haben.
Mit diesem Ergebnis stellt sich allerdings die grundsätzliche Frage nach den
Anfängen der karolingischen Renovatio. In seinem Brief an die Lektoren (786–800)
hatte Karl erklärt, durch die Nachlässigkeit seiner Vorfahren sei die „Werkstatt der
Wissenschaft“ beinahe ausgelöscht worden.23 Die hier vorgenommene Analyse der
Bildungsentwicklung hat jedoch gezeigt, dass von einem radikalen Bildungsverlust
keine Rede sein kann. Wenn man zwischen 762 und 769 in Corbie mit der karolin-
gischen Minuskel experimentierte, deutet dies vielmehr darauf hin, dass es in den
bedeutenden Bildungszentren des fränkischen Reichs schon unter Karls Vater Pippin
Überlegungen zu einer Verbesserung der Wissensvermittlung gab. Unter Karl wurden
diese Überlegungen gebündelt und gewannen dadurch erheblich an Dynamik.
Die Norma rectitudinis wurde zur grundlegenden Voraussetzung für den richtigen
Glauben und die richtige Kultausübung und damit letztlich für das Wohl des Reiches.
„Eindeutigkeit“ und die richtige Tradierung von „Wissen“ standen im Mittelpunkt
der karolingischen Bildungsreform. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum es den
Skriptorien der karolingischen Klöster nicht nur darum gehen konnte, Schriftzeug-
nisse, besonders patristische Schriften, zu vervielfältigen und weiterzugeben. Julia
Becker hat gezeigt, wie im Skriptorium des Klosters Lorsch intensive Korrektur- und
Ergänzungsarbeiten an den Texten vorgenommen wurden, um so ganz im Sinne der
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karolingischen Bildungsreform „richtige“ Texte herzustellen, die für den Benutzer


nicht die Gefahr der Täuschung boten. Durch die Bereitstellung und Weitergabe von
„richtigem“ Wissen mittels „korrigierter“ Handschriften schufen die karolingischen

21 Vgl. auch Steckel 2011, 84–85.


22 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Theol. lat. fol. 354, fol. 1v (CLA VIII, 1067a).
23 MGH Capit. 1 (Epistola generalis), 80, Nr. 30.

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282   Sebastian Scholz

Klöster einen enormen Wissensspeicher, der den seit Jahrhunderten tradierten Wis-
sensbestand durch immer neue Abschriften und Korrekturen bewahrte.
Tatsächlich lässt sich auch der Korrekturvorgang in einigen Handschriften nach-
verfolgen, weil die Korrektoren ihre Kontrolle eines abgeschriebenen Textes durch
entsprechende Vermerke sichtbar machten. Kirsten Wallenwein hat gezeigt, dass es
sich dabei um die Übernahme einer spätantiken Praxis handelte, welche den Text als
zuverlässig ausweisen sollte. In der Wiederaufnahme dieser Praxis wird ebenso wie
in der neuen vertieften Beschäftigung mit den klassischen und spätantiken Autoren
ein neuer Umgang mit den Grundlagen des Wissens deutlich. Die Kontrollvermerke
sind somit wertvolle Zeugen der Rezeptionsgeschichte und können als ein wichtiger
Baustein für die Rekonstruktion der Textgeschichte dienen.
Auf einen anderen Aspekt der Textkontrolle hat Natalie Maag hingewiesen. Der
auf der Reichenau geschriebene Codex mit dem von Augustinus verfassten Werk De
Genesi contra Manichaeos enthält ein nachträglich eingeheftetes Blatt, dessen Text in
den 830er Jahren in jüngerem Lorscher Stil geschrieben wurde. Der Text des Blattes
ergänzt eine im Codex versehentlich ausgelassene Textstelle. Eine Anweisung am
Ende des Blattes gibt an, wo das Blatt eingefügt werden soll. Offenbar hatte man in
Lorsch den auf der Reichenau geschriebenen Codex kontrolliert und war dabei auf die
Textauslassung gestoßen. Die Stelle wurde ergänzt und der Codex auf das Inselklos-
ter zurückgeschickt. Somit zeigt sich hier das Bemühen um vollständige und korrekte
Texte im Sinne der karolingischen Correctio.
Die Vorgaben der karolingischen Bildungsreform hatten nur den Kernbestand der
Bibliotheken festgelegt, der neben der Bibel und den Bibelkommentaren die exegeti-
schen Schriften der Kirchenväter umfasste. Welche Werke sonst noch in die Bibliothe-
ken gelangten, war unter anderem von den Erfordernissen des Unterrichts und von
den persönlichen Vorlieben und Kontakten der Mitglieder des Konvents abhängig.
Diese Kontakte ermöglichten es, dass Bücher zirkulierten, wodurch die Möglichkeit
stieg, an einem Ort ein breites Angebot an Literatur zu finden. Ob und in welchem
Maße diese Literatur dann rezipiert wurde, war jedoch stark von den individuellen
Lesern abhängig. Aber war es überhaupt richtig und nötig, dass alles gelesen werden
konnte? Galt die Vorgabe, die Bischöfe sollten keine klassischen Autoren lesen, nicht
mehr?
Eine Antwort findet man im Carmen 45 des Bischofs Theodulf von Orléans, das
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Carmen Cardelle de Hartmann analysiert hat. Theodulf geht in diesem Gedicht auf
seine bevorzugte Lektüre ein, worunter sich auch Vergil und Ovid befinden. In dem
Gedicht wird eine für die karolingische Zeit einmalige Definition von Wissenskultur
sichtbar. Sein Thema ist die Lektüre, die als ein Aneignungs- und Auslegungspro-
zess durch den Leser dargestellt wird. Erst im Leser werde Wissenskultur zu Wissen,
womit die Bedeutung des einzelnen Lesers stark betont wird. Theodulf stellt die
korrekte Lektüre und Auseinandersetzung des Lesers mit den Büchern vor, wobei
es ihm besonders um die Unterscheidungsmöglichkeit von falsa et vera durch den
Leser geht. Wahres und Falsches sei in ein- und demselben Text zu finden, doch die

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Zusammenfassung   283

sophi, die gebildeten Leser, seien in der Lage, dies zu unterscheiden. Theodulf zeigt in
seinem Gedicht, wie eine verständige Lektüre auszusehen hat und bietet damit eine
Anweisungen für die korrekte Lektüre heidnischer Dichter, bei der die Geisteskraft
des Lesers das Falsche entlarven muss. Der Dichter weist also dem Leser die Verant-
wortung zu und schließt ihn somit nicht von den Texten der heidnischen Antike aus.
Diese Forderung nach einem freizügigeren Umgang mit den heidnischen Autoren ist
ein wichtiges Element der karolingischen Renovatio.
Hrabanus Maurus vertrat sicher den Typus des von Theodulf von Orléans gefor-
derten sophus, des kompetenten Lesers, der über genügend sapientia verfügte, um
Wahres von Falschem zu unterscheiden. Seiner Meinung nach konnte man nämlich
auch in den Büchern der Heiden Nützliches finden.24 Allerdings war die Auseinan-
dersetzung mit der antiken Literatur für ihn zweitrangig. Ihm ging es um die Erkennt-
nis- und Wissensvermittlung durch Exegese, wie Sita Steckel zeigt. Seiner Meinung
nach mussten die Geistlichen Wissen um die göttliche Wahrheit besitzen, um ihr
Lehr- und Hirtenamt ausfüllen zu können. Für das Verständnis der Heiligen Schrift
und der gelehrten Traditionen war ein breites Wissen notwendig, das allein jedoch
nicht ausreichte, denn für ein wahrhaftes Verständnis bedurfte es der Vermittlung
durch den Heiligen Geist. Die Bedeutung des Exegeten wurde durch diese Vorstellung
stark aufgewertet, denn er beschäftigte sich mit einer Materie, in der sich die mensch-
liche und die göttliche Sphäre überschnitten. Wenn es seine Weisheit zuließ, und nur
dann, wirkte in ihm auch die göttliche Weisheit. Damit war aber ein breites Wissen,
das sich keinesfalls nur auf die Kenntnis der Heiligen Schrift und der patristischen
Texte beschränken durfte, Voraussetzung, um überhaupt in diesen Prozess einzutre-
ten. Hrabanus Maurus und der von ihm entworfene Typus des Exegeten bedurften
ganz besonders einer umfangreichen Bibliothek mit möglichst „korrekt“ abgeschrie-
benen Texten. Nur auf der Basis eines solchen Wissensreservoirs konnte Hrabanus als
Ordner von gelehrtem Wissen auftreten.
Die für Hrabanus Maurus als Mönch geltende Benediktregel war allerdings für
diese Form der Wissensaneignung nicht sehr hilfreich, denn in ihr ging es um die
Verinnerlichung der Bibel. Der Mönch sollte kein Buch, kein Täfelchen und keinen
Griffel besitzen.25 Schreiben, aber wohl auch die selbständige Lektüre, sind Tätigkei-
ten, die sich der Verfügungsgewalt des einzelnen Mönchs entzogen. Aber nicht nur in
der Person des Hrabanus Maurus, der eigene Libelli und natürlich auch einen eigenen
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Griffel besaß, zeigen sich Abweichungen von den Vorgaben der Benediktsregel. Mat-
thias Becher hat darauf hingewiesen, dass in vielen Bereichen eine Diskrepanz zwi-
schen der Norm der Benediktsregel, an die immer wieder auf Synoden und in den

24 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III. 2, 439: Ac ideo ad unum terminum cunc-
ta referenda sunt, et quae in libris gentilium utilia et quae in scripturis sacris salubria inveniuntur, ut
ad cognitionem perfectam veritatis et sapientiae perveniamus, qua cernitur et tenetur summum bonum.
25 Benediktsregel 1982, 197, c. 33,3.

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Kapitularien der Karolinger erinnert wurde, und ihrer Umsetzung bestand. Offenbar
nahm man diese Diskrepanz aber nur dann wahr, wenn dadurch das korrekte Gebet
für den Herrscher und das Reich gefährdet schien. Damit ein Gebet wirksam war,
durfte es nicht von unwürdigen Mönchen gesprochen werden und es musste korrekt
gesprochen werden. So dienten die Regulierung der mönchischen Lebensweise und
die Maßnahmen zur Verbesserung der Bildung letztlich demselben Ziel.
Ähnlich wie Hrabanus Maurus lassen auch die Nutzer tironischer Noten, die
durch ihre in dieser Kurzschrift abgefassten Kommentare eine inhaltliche Auseinan-
dersetzung mit den Texten bezeugen, einen eigenständigen Umgang mit den Texten
erkennen. Martin Hellmann hat aufgezeigt, dass die Bemerkungen, die in tironischen
Noten in die Handschriften geschrieben wurden, Exzerpte und inhaltliche Urteile
festhielten, aber auch der textlichen Strukturierung dienten. Gerade tironische Noten
mit inhaltlichen Urteilen waren freilich keine Neuerung der karolingischen Renova-
tio, sondern lassen sich schon im 7. oder 8. Jahrhundert in Bobbio in der Handschrift
Vat. lat. 5758 nachweisen, die Notizen zu den Augustinus-Predigten enthält. Wie groß
oder, vielleicht besser, wie klein der Kreis der Mönche und gelehrten Spezialisten
war, die sich solcher Techniken bedienen konnten, entzieht sich allerdings unserer
Kenntnis. Es ist aber zu bedenken, dass der Brief Karls des Großen De litteris colendis
forderte, die litterarum studia nicht zu vernachlässigen, um dadurch die Geheimnisse
der heiligen Bücher besser durchdringen zu können.26 Und auch Alkuin forderte in
seinem Brief an Rado, die Brüder sollten die heiligen Schriften möglichst sorgfältig
lesen und dabei auf die Einsicht in die Wahrheit vertrauen, damit man denen, die der
Wahrheit widersprächen, Widerstand leisten könne.27 Dies setzte eine organisierte
Wissensvermittlung innerhalb der Klosterschulen voraus, die den Lernenden genau
jene Kompetenzen vermitteln sollte, die wir bei Hrabanus Maurus und den Nutzern
der tironischen Noten wiederfinden. In dem Moment, in dem die korrekte Weitergabe
von Wissen als Grundlage für die korrekte christliche Lebensweise und das richtige
Verständnis der Bibel verstanden wurden, musste dies auch zu einem neuen Konzept
von Wissen und Wissensaneignung führen. Denn die richtig verstandene Verinnerli-
chung der Bibel war von einem breiten, korrekt überlieferten Wissen abhängig.
Die von Michael Embach behandelten Glossatoren, die im 11. und 12. Jahrhun-
dert in verschiedenen Benediktinerabteien tätig waren, scheinen in dieser Tradition
zu stehen. Sie wurden der Forderung Theodulfs nach verständiger Lektüre durchaus
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gerecht. Die Glossen, die sie unter anderem in den Handschriften mit Texten antiker
Autoren hinterließen, machen eine besondere Form der Wissensaneignung sichtbar.
Die aus der Lektüre und der Auseinandersetzung mit dem Text gewonnenen Erkennt-

26 Epistola de litteris collendis, Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Stengel, 251–252, Nr. 166.
27 Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 117, Nr. 74; vgl. den Artikel von Julia Becker (in diesem Band),
74–75.

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Zusammenfassung   285

nisse wurden vermerkt und mitgeteilt und zwar nicht nur in Latein, sondern auch in
Althochdeutsch. Hier wird die Aneignung von Wissen in der Sicht des Lesers sichtbar.
Es war bereits davon die Rede, dass die karolingischen Klöster durch die Bereit-
stellung und Weitergabe von Handschriften einen enormen Wissensspeicher schufen.
Auch für die Überlieferung von Kanonessammlungen war dieser Speicher von erheb-
licher Bedeutung wie Wilfried Hartmann gezeigt hat. Vor allem die systematischen
Sammlungen vetus Gallica und Hibernesis sind durch Handschriften überliefert, die
in Klöstern entstanden. Aber die Kenntnis und Verfügbarkeit von kanonistischem
Material reichte weit über diese Sammlungen hinaus. Das macht unter anderem die
von Zechiel-Eckes nachgewiesene Herstellung der großen, unter dem Namen Pseudo-
Isidor bekannten Fälschung im Kloster Corbie deutlich.28 Die Herstellung dieser Fäl-
schung setzt einmal mehr den von Theodulf geforderten sophus als Leser voraus, der
das Material selbständig ordnen und erfassen konnte, auch wenn er hier nicht Fal-
sches von Wahrem trennte, sondern Wahres und Falsches gekonnt vermengte. Aller-
dings lässt sich nicht feststellen, wie das klösterliche Wissensreservoir in der synoda-
len Praxis genutzt wurde. Wer auf den Synoden in welcher Form daran mitwirkte, das
Textmaterial für die Erstellung der Synodalkanones zu beschaffen und bereitzustel-
len, kann aufgrund der schwierigen Quellenlage nicht beantwortet werden.
Bei den Bemühungen der Karolinger, den Gesang der päpstlichen Liturgie in
Rom (cantus romanus) im fränkischen Reich einheitlich und flächendeckend ein-
zuführen, besaßen die Klöster unzweifelhaft ebenfalls eine wichtige Funktion. Sie
waren zugleich Orte der Rezeption und Verschriftlichung sowie der Ausbildung in
den Gesängen. Stefan Johannes Morent hat allerdings gezeigt, dass die einheitliche
und korrekte Ausübung des liturgischen Gesangs im späten 8. und im 9. Jahrhundert
zwar ein wichtiges Anliegen war, die Wege der Rezeption der Gesänge und der Einfüh-
rung von Neumenschriften, die als Hilfe bei der praktischen Musikausübung dienten,
bisher aber nur bruchstückhaft rekonstruiert werden konnten.
Etwas besser lässt sich die Vermittlungsfunktion der Klöster bei der epigraphi-
schen Produktion zeigen. Karl der Große beauftragte anlässlich des Todes seiner Frau
Hildegard 783 Paulus Diaconus, für sie ein Epitaph zu verfassen. Paulus verfasste
nicht nur das Grabgedicht für Hildegard, sondern auch Epitaphien für Karls bereits
verstorbene Schwestern Rothaid und Adelheid sowie für seine Töchter Adelheid und
Hildegard, die alle in St. Arnulf in Metz bestattet worden waren.29 Damit führte er
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die epigraphische Tradition der Langobarden am fränkischen Hof ein. Natürlich war
auch nördlich der Alpen die epigraphische Tradition nie abgebrochen und die Klöster
haben die Produktion der Inschriften schon lange vor Karl dem Großen beeinflusst.
Die insular geprägten Skriptorien einer Reihe von Klöstern haben ihre Spuren in den

28 Zechiel-Eckes 2001.
29 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus, ed. Kempf, 78–84.

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286   Sebastian Scholz

Schriftformen der Inschriften hinterlassen.30 Doch unter dem Einfluss der Langobar-
den am Hofe Karls erhielt die epigraphische Produktion neue Impulse, wie Florian
Hartmann gezeigt hat. In Klöstern wie St. Riquier, Corbie oder Lorsch bemühte
man sich um Mustersammlungen von Inschriften oder legte sie sogar neu an. Diese
Inschriftensammlungen, die teils antike, teils mittelalterliche Inschriften aus Italien
enthielten, dürften zumindest teilweise als Musterbeispiele und Lehrwerke gedacht
gewesen sein. Durch sie wurde es möglich, den Aufbau und Inhalt älterer Inschriften
kennen zu lernen und auf dieser Basis Inschriftentexte auf einem sprachlich guten
Niveau zu verfassen. Mit Hilfe der Sammlungen wurde in den karolingischen Klös-
tern das Wissen weitergegeben, das man brauchte, um vor allem für die Totenme-
moria geeignete Inschriften zu verfassen, aber auch, um politische Aussagen mittels
Inschriften dauerhaft zu vergegenwärtigen.31
Die auf diese Weise sichtbar werdende Vermittlerfunktion der Klöster lässt
sich ebenso im Zusammenhang mit der Ausbildung von Priestern belegen. Steffen
Patzold hat dargelegt, dass die Klöster auch für jene Weltgeistlichen zu wichtigen
Ausbildungsstätten geworden waren, die später als Gemeindepriester wirkten. Dafür
sprechen die Schul- und Lehrbücher im Bestand der Klosterbibliotheken. Denn um
die Correctio in die Gemeinden hineintragen zu können, brauchten die Pfarrer eine
gute Ausbildung und geeignete Bücher. Beides konnten sie in den Klöstern erhalten.
Um das Wissen der Priester überprüfen zu können und so die Correctio zu sichern,
wurden Priesterexamina entwickelt, mit denen ihre Fähigkeiten kontrolliert werden
sollten. Bischof Theodulf von Orléans wies in seinem wohl noch vor 813 entstandenen
1. Kapitular, das sich an die Priester seiner Diözese richtete, auf die zentrale Aufgabe
der Gemeindepriester bei der Ausbildung des Nachwuchses hin: „Die Priester sollen
in den kleinen Orten und in den Dörfern Schulen unterhalten. Wenn irgendeiner
der Gläubigen ihm seine kleinen Kinder zum Lesenlernen anvertrauen will, sollen
sie diese aufnehmen und sich nicht weigern, sie zu unterrichten … Wenn sie also
diese unterrichten, sollen sie dafür keine Belohnung fordern und sie sollen nichts
von ihnen annehmen außer das, was ihnen die Eltern der Kinder freiwillig und aus
freundlicher Zuneigung darbringen.“32
Die in den Klöstern ausgebildeten Priester waren also ihrerseits wieder in die
Ausbildung junger Menschen eingebunden und damit in doppelter Hinsicht wich-
tige Akteure bei der Vermittlung der karolingischen Correctio. Einerseits sollten sie
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dem Volk die christliche Lebensweise nahebringen. Bezeichnenderweise forderte die

30 Koch 2007, 98–102.


31 Vgl. etwa das Gedicht Abt Fardulfs an Karl den Großen: Fardulf, Carmina, ed. Dümmler, 353, Nr. 1
und dazu Scholz 2011, 99–100 sowie das Epitaph für Papst Hadrian I., vgl. Scholz 1997, 376–386.
32 MGH Capit. episc. 1, c. 20, 116: Presbyter per villas et vicos scolas habeant. Et si quilibet fidelium
suos parvulos ad discendas litteras eis commendare vult, eos suscipere et docere non rennuant … Cum
ergo eos docent, nihil ab eis pretii pro hac re exigant nec aliquid ab eis accipiant excepto, quod eis pa-
rentes caritatis studio sua voluntate obtulerint; Übersetzung: S. Scholz.

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Zusammenfassung   287

Synode von Tours 813, die Predigt habe entweder in der Lingua Romana rustica (Früh-
romanisch) oder in der „Thiotisca“ zu erfolgen, denn nur so war das Volk wirklich
zu erreichen.33 Andererseits dienten die Gemeindepriester der Correctio, indem sie
als Lehrer für einen bestimmten Ausbildungsstand der Kinder sorgten. Es ist inso-
fern nicht verwunderlich, wenn sich zahlreiche Kapitularien Karls des Großen mit der
Ausbildung und dem Kenntnisstand der Kleriker beschäftigen. Zu wichtig war ihre
Stellung innerhalb der Bemühungen um die Correctio, als dass man ihre Ausbildung
hätte vernachlässigen können. Zu denken gibt hier allerdings der von Steffen Patzold
vorgestellte Befund, dass die Handbücher für den Pfarrklerus zum Teil erhebliche
orthographische und grammatikalische Mängel aufweisen, obwohl es doch gute und
fehlerlose Bücher sein sollten. Wie dieser Befund zu interpretieren ist und welche
Folgerungen er zulässt, werden künftige Forschungen zeigen müssen.
Überblickt man die hier skizzierte Entwicklung, dann zeigt sich, dass es bereits
in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts innerhalb der Kirche Bestrebungen gab, die
Ausbildung des Klerus und der Bischöfe von der antiken Bildungstradition abzukop-
peln und sie stärker an dem Idealbild einer weltabgewandten Geistlichkeit und den
Anforderungen der geistlichen Ämter auszurichten. Da die Kirche ab dem 6. Jahrhun-
dert verstärkt Ausbildungsaufgaben übernahm, konkurrierte bald ein neues christ-
liches Bildungskonzept mit dem herkömmlichen. Für die Kirche war dabei wichtig,
eine gute Grundausbildung zu sichern, da es von höchster Wichtigkeit war, dass
gerade die höheren Weihegrade wie Diakone und Priester gut lesen konnten. Denn
um den Sinngehalt der Heiligen Schrift zu vermitteln, war es notwendig, diese selbst
lesen zu können. Auch mussten die Priester die Anordnungen für die unterschiedli-
chen Arten der Messen kennen. Zudem war die gesamte Organisation der Kirche auf
Schriftlichkeit aufgebaut. Die Kenntnis der kirchenrechtlichen Vorschriften war für
die Ausübung des priesterlichen Amtes ebenso wichtig wie die Kenntnis der Bibel
und der Gebete, da es darum ging, alle Kleriker auf eine Norm, eine einheitliche Aus-
legung des Glaubens zu verpflichten. Nur diese durfte dem Volk gepredigt und vermit-
telt werden. Wer dagegen verstieß, war in der Gefahr zum Häretiker zu werden und die
Gemeinschaft mit der Kirche zu verlieren. Die karolingische Renovatio ist somit Ergeb-
nis einer Entwicklung, die bereits im 6. Jahrhundert einsetzte. Durch die Schaffung
der Norma rectitudinis und durch das große Interesse des Hofes an einer verbesserten
Bildung von Klerus und Laien gab die Renovatio aber wesentliche und neue Impulse.
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Die Klöster waren von Anfang an in diese Entwicklung eingebunden. So war etwa im
Kloster Lérins vom 5. bis zum 7. Jahrhundert die traditionelle antike Bildung mit aske-
tisch-monastischen Vorstellungen verbunden worden. Da dort zahlreiche Geistliche
ausgebildet wurden, die im gesamten Frankenreich als Bischöfe wirkten, verbreitete
sich so die Bildungstradition Lérins auch im Norden des fränkischen Reiches.34 Unter

33 MGH Conc. 2,1 (Synode von Tours 813), can. 17, 288.
34 Prinz 1988, 47–87.

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288   Sebastian Scholz

Karl dem Großen wurden die Klöster zu wichtigen Trägern der Renovatio. Da ihre
Skriptorien für die neuen korrekten, an der römischen Überlieferung ausgerichteten
Texte zu sorgen hatten, und ihre Bibliotheken die Verfügbarkeit dieser Texte garan-
tierte, waren sie von entscheidender Bedeutung für eine erfolgreiche Umsetzung der
Reformen. Denn von der Qualität der dort hergestellten Texte hing die Gnade Gottes
und damit das Wohl der Reiches in doppelter Weise ab: Sie waren sowohl die Vor-
aussetzung für einen sprachlich und liturgisch korrekten Kultvollzug als auch für die
adäquate Ausbildung der Geistlichen, denen die Ausübung des Kultes oblag.

Quellen:
Alkuin, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 4 (Epistolae Karolini Aevi II), Berlin 1895
(Nachdruck 1994), 1–481.
Benediktsregel (²1982): Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben. Der vollständige
Text der Regel lateinisch-deutsch. Übersetzt und erklärt von Georg Holzherr, Abt von Einsiedeln,
Zürich.
Caesarius von Arles, Sermones, ed. Germain Morin, CCSL 103, Bd. 1, Turnhout 1963.
Concilia Galliae: A 314–A. 506, ed. Charles Munier, CCSL 148, Turnhout 1963.
Concilia Galliae: A. 511–A. 695, ed. Charles de Clercq, CCSL 148 A, Turnhout 1963.
Desiderius von Cahors, Epistulae, ed. Dag Norberg, Studia Latina Stockholmiensia 6, Stockholm
1961.
Fardulf, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1881 (Nachdruck 1964,
1978, 1997), 352–354.
Gregor der Große, Registrum Epistularum, ed. Paul Ewald/Ludwig M. Hartmann, MGH Epistolae 1 und
2, Berlin 1891/1899.
Gregor von Tours, Liber vitae patrum, ed. Bruno Krusch, MGH SS rer. Merov. 1,2, Hannover 1885,
211–294.
Hrabanus Maurus, De institutione clericorum libri tres. Studien und Edition, ed. Detlev Zimpel,
Frankfurt a. M. u.a. 1996.
Leodegar von Autun, Passio, ed. Bruno Krusch, MGH SS rer. Merov. 5, Hannover-Leipzig 1910,
249–324.
MGH Capit. 1: Capitularia regum Francorum I, ed. Alfred Boretius, MGH Capitularia 1, Hannover 1883
(Nachdruck 1984).
MGH Capit. episc. 1: Capitula episcoporum, ed. Peter Brommer, MGH Capitula episcoporum 1,
Hannover 1984.
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MGH Conc. 2,1: Concilia aevi Karolini, ed. Albert Werminghoff, MGH Concilia 2,1, Hannover/Leipzig
1906.
Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus = Paul the Deacon, Liber de episcopis Mettensibus,
Edition, Translation and Introduction, ed. Damien Kempf, Dallas Medieval Text and Translations
19, Paris/Leuven/Walpole, MA 2013.
Sidonius Apollinaris, Epistulae = Sidoine Apollinaire, lat.-frz., Bd. 3, ed. und übers. von André Loyen,
Paris 1970.
Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Edmund E. Stengel, Bd. 1 (Die Zeit der Äbte Sturmi und
Baugulf), Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 10,1,
Marburg 1958.

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Zusammenfassung     289

Literatur:
Abel (1974): Anne- Marie Abel, „La pauvreté dans la pensée et la pastorale de Saint Césaire d’Arles“,
in: Michel Mollat (Hg.), Etudes sur le histoire de la pauvreté, Paris, 111–121.
Bullough (2004): Donald A. Bullough, Alcuin, Achievement and Reputation, Education and Society in
the Middle Ages and Renaissance 16, Leiden, 336–346.
Eigler (2013): Ulrich Eigler, „Gallien als Literaturlandschaft. Zur Dezentralisierung und Differen-
zierung lateinischer Literatur im 5. und 6. Jahrhundert“, in: Steffen Diefenbach/Gernot Michael
Müller (Hgg.), Gallien in Spätantike und Frühmittelalter. Kulturgeschichte einer Region, Berlin/
Boston, 399–419.
Gaudemet (1985), Jean Gaudemet, Les sources du droit de l’église en occident du IIe au VIIe siècle,
Paris.
Godding (2001): Robert Godding, Prêtres en Gaule mérovingienne, Subsidia hagiographica 82,
Brüssel.
Fleckenstein (1953): Josef Fleckenstein, Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der
Norma rectitudinis, Bigge, Ruhr.
Heinzelmann (2010): Martin Heinzelmann, „L’hagiographie mérovingienne. Panorama des
documents potentiels“, in: Monique Goullet/Martin Heinzelmann/Christiane Veyrard-Cosme
(Hgg.), L’hagiographie mérovingienne à travers ses réécritures, Beihefte der Francia 71,
Ostfildern, 27–82.
Illmer (1979): Detlef Illmer, Erziehung und Wissensvermittlung im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zur
Entstehungsgeschichte der Schule, Kastellaun.
Koch (2007): Walter Koch, Inschriftenpaläographie des abendländischen Mittelalters und der frühen
Neuzeit. Früh- und Hochmittelalter, Wien/München.
Munier (1960): Charles Munier, Les Statuta Ecclesiae Antiqua, Paris.
Prinz (1988): Prinz, Friedrich, Frühes Mönchtum im Frankenreich: Kultur und Gesellschaft in Gallien,
den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jahrhundert),
Darmstadt, 2., durchges. und erg. Auflage.
Riché (1989): Pierre Riché, Ecoles et enseignement dans le Haut Moyen Age. Fin du Ve siècle – milieu
du XIe siècle, Paris.
Scholz (1997): Sebastian Scholz, „Karl der Große und das Epitaphium Hadriani. Ein Beitrag
zum Gebetsgedenken der Karolinger“, in: Rainer Berndt (Hg.), Das Frankfurter Konzil von
794: Kristallisationspunkt karolingischer Kultur, Teil II: Kultur und Theologie, Quellen und
Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 80, Mainz, 373–394.
Scholz (2011): Sebastian Scholz, „Herrscheraufenthalte in Klöstern im Frühmittelalter und das
Problem der Klosterpfalzen“, in: Hans Rudolf Sennhauser (Hg.), Pfalz – Kloster – Klosterpfalz St.
Johann in Müstair, Zürich.
Schwitter (2013): Raphael Schwitter, „Briefe, Bildung und Identitäten im merowingischen Gallien –
Zum Briefcorpus des Desiderius von Cahors“, Jahrbuch für Antike und Christentum 56 (im
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Druck).
Steckel (2011): Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter. Autorität, Wissens-
konzepte und Netzwerke von Gelehrten, Köln/Weimar/Wien.
Zechiel-Eckes (2001): Klaus Zechiel-Eckes, „Ein Blick in Pseudo-Isidors Werkstatt“, Francia 28,1,
71–88.

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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 82, fol. 134v
Abb. 2: Rom, BAV, Pal. lat. 285, fol. 59r
Abb. 3: Trier, Stadtbibliothek, Hs. 2209/2328 2°, Bd. 2, fol. 1r
Abb. 4: Trier, Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars, Hs. 61, fol. 39r
Abb. 5: Herrad von Hohenburg, Hortus Deliciarum; aus: Green/Evans 1979, Bd. 2, 57, Abb. 33
Abb. 6: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 8v: Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis
Abb. 7: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8108, fol. 29r: Rhabani Mauri expositionis super
epistolam S. Pauli ad Romanos libri V–VIII, aus Fulda, Mitte des 9. Jahrhunderts
Abb. 8: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14384, fol. 15r: Hrabanus Maurus, In libros
Regum, aus St. Emmeram in Regensburg, 3. Viertel des 9. Jahrhunderts
Abb. 9: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6260, fol. 55v: Hrabanus Maurus, In Genesin,
Freising, um 860
Abb. 10: Rom, BAV, Pal. lat. 200, fol. 138v (Ausschnitt der linken Spalte); Lorsch, ca. a. 800
Abb. 11: Rom, BAV, Pal. lat. 1753, fol. 47v (Ausschnitt); Lorsch, saec. VIII ex.
Abb. 12: Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Kaiserurkunden Hersfeld, 775 VIII 3 (ChLA XII, 535):
Litterae elongatae Rados im Diplom aus dem Jahr 775
Abb. 13: Paris, Archives Nationales, K 6, no 1A (ChLA XV, 612): Kontextschrift Rados im Diplom aus
dem Jahr 772
Abb. 14: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 1394, p. 34
Abb. 15: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 1v; Lorsch, saec. VIII ex.
Abb. 16: Rom, BAV, Pal. lat. 1449, fol. 27v; ante a. 838
Abb. 17: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 21218, fol. 1r; Handschrift im Lorscher Spätstil
(saec. IX ex.)
Abb. 18: Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. I.2.4° 1, fol. 2v (Ausschnitt), „Lorscher Sakramentar“
(saec. IX ex.)
Abb. 19: St. Gallen, Stiftsarchiv I 23 (ChLA I, 57); a. 761
Abb. 20: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 94, fol. 2v; ca. a. 830
Abb. 21: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 56r; saec. VIII–IX; Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis
Abb. 22: Rom, BAV, Pal. lat. 218, fol. 58v; saec. VIII–IX; Augustinus, In Iohannis epistulam ad Parthos
tractatus X
Abb. 23: Rom, BAV, Pal. lat. 245, fol. 2r; saec. VIII–IX; Gregorius Magnus, Moralia in Iob
Abb. 24: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt www.e-codices.unifr.ch
Abb. 25: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt www.e-codices.unifr.ch
Abb. 26: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 171, p. 139, Ausschnitt www.e-codices.unifr.ch
Abb. 27: Rom, BAV, Pal. lat. 246, fol. 15r, Ausschnitt
Abb. 28: Rom, BAV, Pal. lat. 211, fol. 19r, Ausschnitt
Abb. 29: Rom, BAV, Ottob. lat. 259, fol. 1r
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Abkürzungsverzeichnis

a. anno
AH Analecta hymnica medii aevi
BA Biblioteca Ambrosiana
BAV Biblioteca Apostolica Vaticana
BI Bibliothèque interuniversitaire
BL British Library
BM Bibliothèque municipale
BnF Bibliothèque nationale de France
BR Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek
BSB Bayerische Staatsbibliothek
can. Canon
CCCM Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis
CCSL Corpus Christianorum. Series Latina
ChLA Chartae Latinae Antiquiores
CLA Codices Latini Antiquiores
Clm Codex latinus Monacensis
CLRE Consuls of the Later Roman Empire
CNT Commentarii Notarum Tironianarum
CSEL Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum
DStiBi Domstiftsbibliothek
epist. Epistula
fl. floruit
fol./foll. folio/folia
JE Jaffé/Löwenfeld/Kaltenbrunner/Ewald, Regesta pontificum Romanorum
KFH Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts
MGH Monumenta Germaniae Historica
Capit. Capitularia
Capit. episc. Capitula episcoporum
Conc. Concilia
DD Diplomata
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SS Scriptores
SS rer. Germ. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum
SS rer. Merov. Scriptores rerum Merovingicarum
ND Neudruck
N. F. Neue Folge
N. S. Neue Serie
ÖNB Österreichische Nationalbibliothek
PCBE Prosopographie chrétienne du Bas-Empire
PLRE The Prosopography of the Later Roman Empire

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Abkürzungsverzeichnis     293

RBSL Real Biblioteca de San Lorenzo de El Escorial


RNB Russische Nationalbibliothek
StiBi Stiftsbibliothek
ThLL Thesaurus Linguae Latinae
UB Universitätsbibliothek
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Autorenverzeichnis

Matthias Becher: Geboren 1959, Studium der Geschichte und der Politischen Wissen-
schaften an der Universität Konstanz, Promotion 1990 in Konstanz, Habilitation 1995
in Paderborn, seit 1998 Professor für Mittelalterliche und Neuere Geschichte an der
Universität Bonn; seit 2013 Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wis-
senschaften und der Künste. Forschungsgebiete: Geschichte des frühen und hohen
Mittelalters, insbesondere politische und Verfassungsgeschichte des Frankenreiches
und des werdenden Deutschen Reiches.

Julia Becker: Geboren 1977 in Heidelberg. Studium der Fächer Mittlere und Neuere
Geschichte, Alte Geschichte und Soziologie an den Universitäten Passau und Cassino,
1998-2002. Promotion an der Universität Passau, 2005. Von 2006 bis 2010 wissen-
schaftliche Mitarbeiterin am DHI Rom. Von 2010 bis 2011 Forschungsstipendiatin der
„Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland“. Seit
Juli 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 933 „Materiale Textkulturen“ an der
Universität Heidelberg, Teilprojekt A04. Forschungsschwerpunkte: normannische
Herrschaftsbildung in Süditalien im Hochmittelalter, lateinische und griechische
Diplomatik und Paläographie.

Carmen Cardelle de Hartmann: Carmen Cardelle de Hartmann studierte Klassische


Philologie in Santiago de Compostela, promovierte in Saarbrücken und habilitierte
sich in München mit einer Schrift über Dialogliteratur (Lateinische Dialoge 1200-
1400. Literaturhistorische Studie und Repertorium) für das Fach Lateinische Literatur
der Antike und des Mittelalters. Sie war Akademische Rätin an der Universität Heidel-
berg und hat seit 2008 den Lehrstuhl für Lateinische Philologie des Mittelalters und
der Neuzeit sowie Historische Hilfswissenschaften an der Universität Zürich inne. Sie
arbeitet unter anderem über antijüdische Polemik, Klassikerrezeption und literari-
sche Parodie.
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Ulrich Eigler: Geboren 1959. Studium der Fächer Geschichte, Latein, Griechisch und
Mittellatein an den Universitäten Freiburg, Kiel, Wien, Pittsburgh und Rom. Seit 2005
Professor für Klassische Philologie (Latinistik) an der Universität Zürich. Promotion
an der Universität Freiburg/Brsg., 1986, Habilitation Universität Bamberg, 1994. Von
1995 bis 1998 Professor für Klassische Philologie an der Universität Freiburg/Brsg.,
von 1998 bis 2005 Professor für Klassische Philologie an der Universität Trier. For-
schungsschwerpunkte: Literatur der augusteischen Epoche, der frühen Kaiserzeit
und der Spätantike, Antikenrezeption insbesondere in der modernen Literatur und

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296   Autorenverzeichnis

im Film, Überlieferung der antiken Literatur und ihre medialen Bedingungen, Antike
Sklaverei in antiker und moderner Literatur und Kunst.

Michael Embach: Prof. Dr. Michael Embach ist Leiter der Stadtbibliothek und des
Stadtarchivs Trier. Nach einem Studium der Katholischen Theologie und der Germa-
nistik in Trier und Freiburg i. Br. folgten die Promotion und die Habilitation in den
Fächern „Neuere Deutsche Literatur“ und „Ältere deutsche Philologie“. Die wissen-
schaftlichen Publikationen des Verfassers betreffen in erster Linie das Werk Hilde-
gards von Bingen, die deutsche und lateinische Literatur des ehemaligen Erzbistums
und Kurfürstentums Trier sowie die Buch- und Bibliotheksgeschichte des Mittelalters.

Florian Hartmann: Florian Hartmann studierte Geschichte, Latein und Erziehungs-


wissenschaften in Berlin und Bonn. Nach der Promotion 2005 in Bonn mit einer Arbeit
über Papst Hadrian I. (772–795) war er drei Jahre Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Deutschen Historischen Institut in Rom. Mit seiner in Rom verfassten Studie zur Ars
dictaminis (11.–13. Jh.) wurde er 2012 habilitiert. Es folgten Lehrstuhlvertretungen in
Chemnitz und Aachen.

Wilfried Hartmann: Geboren 1942, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2007 an der
Universität Tübingen. Seit 1993 ordentliches Mitglied der Zentraldirektion der Monu-
menta Germaniae Historica in München. Wichtige Veröffentlichungen zur Karolin-
gerzeit: Edition: Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 843-911 (3 Bände, MGH
Concilia 3-5, Hannover 1984, 1998, 2012). Monographien: Ludwig der Deutsche
(Darmstadt 2002), Kirche und Kirchenrecht um 900 (Schriften der MGH 58, Hannover
2008), Karl der Große (Stuttgart 2010).

Martin Hellmann: Martin Hellmann wurde 1969 in Landau in der Pfalz geboren. Er
studierte in Heidelberg Mathematik und Physik, sowie Lateinische Philologie des Mit-
telalters und der Neuzeit. Bei Walter Berschin promovierte er über „Tironische Noten
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in der Karolingerzeit“. Zur Zeit unterrichtet er am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in


Wertheim. Die Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit liegen im Bereich
der Textedition.

Tino Licht: PD Dr. Tino Licht war nach Studium der Geschichte, Germanistik und des
Mittel- und Neulatein bis 2008 Assistent am Mittellateinischen Seminar in Heidelberg.
(2004 Promotion mit „Untersuchungen zum biographischen Werk Sigeberts von Gem-
bloux“). Im Jahr 2008 bekleidete er eine Studiendozentur für „Abendländische Litera-

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Autorenverzeichnis   297

tur- und Kulturgeschichte“ am Germanistischen Seminar und übernahm im Winterse-


mester 2008/09 die Leitung der Abteilung Mittellatein am Historischen Seminar. Seit
2006 ist er auch Dozent für Paläographie und Mittellatein beim SCRIPTO-Programm
der Universität Erlangen. 2013 erfolgte die Habilitation (Venia legendi: Historische
Grundwissenschaften und Mittellatein). Sein Forschungsschwerpunkt ist die lateini-
sche Kultur des Früh- und Hochmittelalters.

Natalie Maag: Natalie Maag studierte Lateinische Philologie des Mittelalters und der
Neuzeit und Germanistik an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg und an der
Università degli Studi „Tor Vergata“ in Rom. Seit August 2011 ist sie Akademische Mit-
arbeiterin im Teilprojekt A04 des Sonderforschungsbereiches 933 ‚Materiale Textkul-
turen‘ in Heidelberg. Im Februar 2013 wurde sie mit einer Arbeit zur frühen Schriftkul-
tur im Bodenseeraum und Voralpenland promoviert.

Stefan Morent: Prof. Dr. Stefan Morent studierte Musikwissenschaft und Informa-
tik an der Universität Tübingen (dort Promotion 1995 und Habilitation 2004) sowie
Blockflöte und Historische Aufführungspraxis in Trossingen und Musik des Mittel-
alters bei Andrea von Ramm und Sterling Jones. Er lehrte in Trossingen, Hamburg,
Wien, Mannheim, Köln und Berkeley und nahm Professurvertretungen in Heidelberg,
Saarbrücken und Detmold wahr. Umfangreiche Konzerttätigkeit mit seinem Ensem-
ble „Ordo virtutum“ für Musik des Mittelalters. Forschungsinteressen: Musik des Mit-
telalters (Aufführungspraxis und Rezeption), Musikgeschichte im deutschen Südwes-
ten, Musik im 19. Jahrhundert in Frankreich, Digital Musicology.

Steffen Patzold: Steffen Patzold hat Geschichte, Kunstgeschichte und Journalistik


in Hamburg studiert und lehrt mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswis-
senschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Arbeitsschwerpunkte
liegen im Früh- und Hochmittelalter. Er hat zur mediävistischen Konfliktforschung,
zur Kirchengeschichte, zu Wahrnehmungs- und Deutungsmustern und zum Lehns-
wesen publiziert. Zur Zeit arbeitet er gemeinsam mit Kollegen an einer Neuedition der
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Kapitularien der Karolingerzeit.

Sebastian Scholz: Geboren 1962 in Münster/Westfalen, Studium der Geschichte und


der lateinischen Philologie in Münster und Köln, 1991 Promotion, von 1990 bis 2007
wissenschaftlicher Angestellter der Inschriften-Kommission der Akademie der Wis-
senschaften und der Literatur, Mainz, 2003 Habilitation in Mainz, 2007 Berufung auf
einen Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte des Mittelalters/Schwerpunkt Frühmittel-
alter an der Universität Zürich.

Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
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298   Autorenverzeichnis

Sita Steckel: Sita Steckel studierte Mittlere Geschichte, Neue Geschichte und Eng-
lische Sprachwissenschaft an der LMU München. Sie promovierte dort 2006. Die
Dissertation erschien als Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter Autori-
tät, Wissenskonzepten und Netzwerken von Gelehrten. Nach Tätigkeit an der WWU
Münster und Harvard University ist sie seit 2012 Juniorprofessorin für die Geschichte
des Hoch- und Spätmittelalters an der WWU Münster und Dilthey Fellow der Volks-
wagen Stiftung.

Kirsten Wallenwein, geb. Tobler: Geboren 1983 in Zug (Schweiz). Studium der Fächer
Geschichte, Mathematik und Historische Grundwissenschaften an den Universitäten
Heidelberg und Paris, ab 2008 auch der Lateinischen Philologie des Mittelalters und
der Neuzeit sowie der Romanistik. Seit August 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin
im SFB 933 „Materiale Textkulturen“ an der Universität Heidelberg, Teilprojekt A04
(Zusatzprojekt). Promotion 2014 in Heidelberg bei Walter Berschin mit einer Arbeit
über „Corpus subscriptionum. Verzeichnis der Beglaubigungen von spätantiken und
frühmittelalterlichen korrigierten Textabschriften“.

Stefan Weinfurter: Geboren 1945 in Prachatitz und aufgewachsen in München, lehrt


seit 1999 als Ordinarius an der Universität Heidelberg Mittelalterliche Geschichte und
ist dort auch Direktor der Forschungsstelle für Geschichte und Kulturelles Erbe sowie
Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Unter anderem leitet er im
Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 ein Projekt zum Wissenstransfer in der
Epoche Karls des Großen. Zu seinen erfolgreichen Veröffentlichungen zählen u. a.
„Das Reich im Mittelalter“ und „Canossa. Entzauberung der Welt“.
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Handschriftenregister
Albi, Bibliothèque municipale 218
–, Ms. 38 bis 249 Einsiedeln, Stiftsbibliothek
–, Ms. 43 243, 249 –, Cod. 168 154
Amiens, Bibliothèque municipale –, Cod. 121 137
–, Ms. 11 146 –, Cod. 182 154
–, Ms. 88 81 Épinal, Bibliothèque municipale, Ms. 149 (68)
Amorbach, Fürstlich Leiningensches Archiv, 34
Schublade 1, Fragment 23 Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana,
138 Ashburnham 82 218
Augsburg, Universitätsbibliothek, Frankfurt, Universitätsbibliothek, Ms. Barth. 64
Cod. I.2.4° 1 159 218
Bamberg, Staatsbibliothek Freiburg, Universitätsbibliothek, Ms. 8
–, Can. 2 218 218
–, Class. 39 (M. V. 16) 26 Fulda, Hochschul– und Landesbibliothek,
–, Msc. Bibl. 37 18 Bonifatianus I 24
–, Msc. Bibl. 93 8 Gent, Rijksuniversiteit, Centrale Bibliotheek,
–, Msc. Patr. 86 154 Ms. 506 239f., 249
Basel, Universitätsbibliothek, F III 15e Gotha [/Erfurt], Universitäts– und Forschungsbi-
249 bliothek, Chart. B 61 25
Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Hamburg, Staats– und Universitätsbibliothek
Kulturbesitz –, Cod. 53b in scrin. 25
–, Phill. 1790 244 –, Cod. 141a in scrin. 218
–, Theol. lat. fol. 58 140 Heidelberg, Universitätsbibliothek
–, Theol. lat. fol. 354 147, 281 –, Pal. lat. 864 132, 141, 169
–, Theol. lat. quart. 150 (z.Zt. in Krakau) –, Pal. lat. 894 145, 157
182 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek
–, Hamilton 132 216 –, Aug. perg. 18 213, 221
Bern, Burgerbibliothek –, Aug. perg. 19 222
–, Cod. 109 175 –, Aug. perg. 73 26f.
–, Cod. 289 249 –, Aug. perg. 82 28f.
–, Cod. 363 84 –, Aug. perg. 94 167
–, Cod. 611 175 –, Aug. perg. 103 218
Brüssel, Bibliothèque Royale de Belgique –, Aug. perg. 105 19, 141
–, Ms. 9565–9566 26 –, Aug. perg. 187 80, 169
–, Ms. 9776–9778 25 –, Aug. perg. 194 180
Bukarest, Biblioteca Naţională României, Kiel, Universitätsbibliothek, Cod. ms. KB 144
Ms R II 1 145 176, 188
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Cambrai, Bibliothèque municipale Köln, Erzbischöfliche Diözesan– und Dombib-


–, Ms. 204 221 liothek
–, Ms. 300 32 –, Cod. 115 218
Chartres, Bibliothèque municipale, Ms. 47 –, Cod. 116 218
137 –, Cod. 117 218
Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. 88 –, Cod. 118 223
25 Laon, Bibliothèque municipale
Den Haag, Museum Meermanno– –, Ms. 239 137
Westreenianum, 10 D 10 221 –, Ms. 288 242f., 246f., 249
Düsseldorf, Universitätsbibliothek, E.2 Leiden, Universiteitsbibliotheek

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300   Handschriftenregister

–, B.P.L. 28 25 –, Clm 14729 26


–, B.P.L. 36 26 –, Clm 14776 217
–, B.P.L. 87 26 –, Clm 18524b 217
–, Voss. lat. O 16 184 –, Clm 19416 222
London, British Library –, Clm 21218 157f.
–, Addit. 19725 249 –, Clm 27246 219
–, Egerton 2831 33 New York, Columbia University Library, G.A.
–, Harley 2685 26 Plimpton Coll. Ms. 59 159
London, Victoria and Albert Museum, Inv.–Nr. Novara, Biblioteca Capitolare, LXXI
138–1866 145 215, 219
Lyon, Bibliothèque municipale, Ms. 466 Orléans, Bibiothèque municipale
182 –, Ms. 116 250
Madrid, Real Biblioteca de San Lorenzo de El –, Ms. 191 (168) 26
Escorial, L. III. 8 243, 249 Oxford, Bodleian Library
Mailand, Biblioteca Ambrosiana –, Ms. Hatton 48 55
–, Cimelio 1 28 –, Ms. Laud. Lat. 118 140
–, L 28 sup. 249 –, Ms. Laud. misc. 126 32
Marburg, Hessisches Staatsarchiv, –, Ms. Laud. misc. 276 141
Kaiserurkunden Hersfeld, 775 VIII 3 152 –, Ms. Laud. misc. 436 217
Merseburg, Domstiftsbibliothek, Cod. 136 Oxford, Queen‘s College, Ms. 202
249 25
Montecassino, Archivio e Biblioteca Paris, Archives Nationales, K 6, n° 1A
dell’Abbazia, 19 32 152
Montpellier, Bibliothèque interuniversitaire, Paris, Bibliothèque Nationale de France
Méd. 387 249 –, Lat. 1008 243, 246, 250
Monza, Museo del Duomo, Inv. Nr. 88 –, Lat. 1012 239, 242f., 248,
133 250
München, Bayerische Staatsbibliothek –, Lat. 1154 140
–, Clm 3851 223 –, Lat. 1248 250
–, Clm 5508 182 –, Lat. 1572 182
–, Clm 5541 223 –, Lat. 2291 140
–, Clm 6260 91, 120-122 –, Lat. 3851 216
–, Clm 6261 91, 122 –, Lat. 5516 219
–, Clm 6262 91, 122 –, Lat. 7900A 25
–, Clm 6242 218 –, Lat. 7972 25
–, Clm 6245 219, 221 –, Lat. 8216 25
–, Clm 6298 222 –, Lat. 8508 239
–, Clm 6324 249 –, Lat. 8670 26
–, Clm 6325 250 –, Lat. 10741 250
–, Clm 6355 218 –, Lat. 11611 30
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–, Clm 8108 90f. –, Lat. 12161 33


–, Clm 14008 218 –, Lat. 12226 81-83
–, Clm 14384 91, 108f. –, Lat. 13440 242f.
–, Clm 14410 250 –, Nouv. acq. lat. 1203 146
–, Clm 14461 250 –, Nouv. acq. lat. 1595 175
–, Clm 14468 222 –, Nouv. acq. lat. 1597 33
–, Clm 14492 221 Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana
–, Clm 14508 250 –, Barb. lat. 130 26
–, Clm 14517 218 –, Ottob. lat. 259 184, 186, 191
–, Clm 14540 217 –, Pal. lat. 46 23

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Handschriftenregister   301

–, Pal. lat. 50 133, 145 –, Vat. lat. 1146 222


–, Pal. lat. 170 169 –, Vat. lat. 1341 216
–, Pal. lat. 175 133, 154 –, Vat. lat. 3827 219
–, Pal. lat. 183 80 –, Vat. lat. 5757 179
–, Pal. lat. 195 169 –, Vat. lat. 5758 179, 284
–, Pal. lat. 200 18, 148-150, 160 –, Vat. lat. 7222 218
–, Pal. lat. 202 31f., 80
–, Pal. lat. 207 75, 78f., 154f., St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg 312
166-169, 171 25
–, Pal. lat. 211 82, 181f., 190 St. Gallen, Stiftsarchiv
–, Pal. lat. 218 167, 169f. –, Bremen 2 163
–, Pal. lat. 220 142 –, I 23 165
–, Pal. lat. 235 138, 141
–, Pal. lat. 238 148, 169 St. Gallen, Stiftsbibliothek
–, Pal. lat. 241 136 –, Cod. 40 243, 250
–, Pal. lat. 245 170-172 –, Cod. 70 164
–, Pal. lat. 246 180f., 189 –, Cod. 165 80
–, Pal. lat. 249 181, 189 –, Cod. 171 177f., 188
–, Pal. lat. 253 221 –, Cod. 176 217
–, Pal. lat. 260 222 –, Cod. 210 170
–, Pal. lat. 261 222 –, Cod. 225 164
–, Pal. lat. 281 135 –, Cod. 238 164
–, Pal. lat. 285 33f. –, Cod. 243 213, 221
–, Pal. lat. 293 90 –, Cod. 267 60
–, Pal. lat. 485 139, 227f., 241, –, Cod. 278 216
248, 250 –, Cod. 296 211
–, Pal. lat. 487 79, 168f. –, Cod. 359 137
–, Pal. lat. 560 169 –, Cod. 381 136
–, Pal. lat. 575 215 –, Cod. 390/391 137
–, Pal. lat. 578 218 –, Cod. 446 222f.
–, Pal. lat. 579 217 –, Cod. 626 28
–, Pal. lat. 814 28, 169 –, Cod. 677 217
–, Pal. lat. 822 30, 75, 79, 150, –, Cod. 727 218
160, 169 –, Cod. 728 60
–, Pal. lat. 829 19 –, Cod. 731 34
–, Pal. lat. 833 141, 263 –, Cod. 733 222
–, Pal. lat. 1341 136f. –, Cod. 899 217
–, Pal. lat. 1344 137 –, Cod. 907 164
–, Pal. lat. 1449 154, 156 –, Cod. 1394 153
–, Pal. lat. 1579 18 St. Petersburg, Publichnaja Biblioteka
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–, Pal. lat. 1581 140 –, F.V.I.6 147


–, Pal. lat. 1746 137, 169 –, Q.V.I.34 249
–, Pal. lat. 1753  75, 79, 149, 151, Sélestat, Bibliothèque municipale
160, 168f. –, Ms. 14 (104) 218
–, Pal. lat. 1877 26, 75, 77, 82f., –, Ms. 132 241, 250
133 Trier, Bibliothek des Bischöflichen Priester-
–, Reg. lat. 118 183 seminars, Hs. 61 63f.
–, Reg. lat. 423 217 Trier, Stadtbibliothek/Stadtarchiv
–, Reg. lat. 1535 26 –, Hs. 22 59
–, Reg. lat. 1987 26 –, Hs. 2209/2328 2° 57f.

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302   Handschriftenregister

–, Hs. 1093/1694 gr. 2° 62 –, Cod. 2232 222


Turin, Biblioteca nazionale universitaria, I.VI.2 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek
25 –, Cod. 496a Helmst. 133
Wien, Österreichische Nationalbibliothek –, Cod. 842 Helmst. 217
–, Cod. 751 215 –, Weiss. 3 218
–, Cod. 795 217 –, Weiss. 91 31, 243
–, Cod. 914 222 Würzburg, Universitätsbibliothek
–, Cod. 1043 136, 138, 142 –, M. p. th. f. 28 222
–, Cod. 1118 244 –, M. p. th. f. 72 218
–, Cod. 1370 242, 250 Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Car. C 131
–, Cod. 2147 32   7f.
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Personenregister   303

Personenregister
Adalung, Abt von Lorsch 18, 74, 148, 151, 142, 148, 150, 154, 157, 167f., 175-177, 179,
15422, 263 181, 184, 216, 24382, 275, 282, 284, 290
Adalhard von Corbie 83, 8379, 146, Aurelius von Karthago 31f.
201, 203f., 262f., 267f., 270 Avian 61
Adelheid 285 Avitus von Vienne 41, 76f.
Adelperga 261 Baugulf von Fulda 71
Adeodatus II., Papst 3448 Basilius, Anicius Faustus Albinus
Aeneas 19, 40 24-26, 244
Aelberht von York 4111 Basilius, Caecina Decius Maximus
Aethelwolds von Winchester 55 25
Agobard von Lyon 212f., 231f., 234, Becher, Matthias 283
23541 Becker, Julia 27918, 281, 28427
Agyricus 34, 3448 Beda Venerabilis 33, 59f., 76, 81,
Albani, Alessandro 132 84, 903, 93, 99-102, 10036, 10138, 10241, 105,
Alberich von Reims 120 10558, 10661, 107, 115-118, 11592, 11695, 11899,
Aldhelm 120 103, 120, 122, 122113, 220, 222, 258
Alkuin von York 1120, 16-18, 1738, Belting, Hans 260
4111, 13, 4218, 59, 74-76, 7642, 84, 8486, 89f., Benedikt von Aniane 55, 1965, 201,
93, 106, 10661, 116-120, 118103, 119107, 120111, 203f.
122, 141, 14810, 15423, 182, 200, 217, 257, Benedikt von Nursia 54-56, 66f., 135,
261, 263f., 266, 26662, 26770, 268, 26874f., 198, 200, 204
28019, 284 Benedict Biscop 258
Allacci, Leone 131 Benedictus Levita 214
Amalarius von Metz/Trier 59,216 Bern von Reichenau 137
Ambrosius von Mailand 7, 12, 41, 59, 76, Bernhard 83
89, 90², 10035, 101, 117-119, 11899, 119105 Bernhard von Clairvaux 120
Ambrosius Autpertus 120 Bernhard von Vienne 231
Angelomus von Luxueil 102-104, 10349, Bernt, Günter 26874
110, 112, 11281 Berschin, Walter 89, 1465, 170
Angilbert von St. Riquier 3, 200, 262f., Bertfrid 24270
265-268, 26661, 26874, 270 Bertha 200
Angilram von Metz 152, 266, 26661 Bischoff, Bernhard  1016, 1120, 26-28,
Ansa 260 3346, 77, 80f., 8273, 132, 145f., 148f., 154,
Ansegis von Fontenelle 60, 218 157, 15724, 160, 164, 166-168, 171, 172, 176,
Anselm von Laon 120 182-184, 18218, 244, 24489, 263f., 269
Arator 41, 61, 77 Boethius 60f., 135-138,
Arianus Candidus 76 140
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Arichis von Benevent 260, 26030, 35, Bonifatius 7215, 11695, 198
270 Bretzigheimer, Gerlinde 40, 45, 4527, 29
Aris, Marc-Aeilko 107 Brommer, Peter 23746
Aristoteles 61 Bruckner, Albert 163, 179
Athanasius von Alexandrien 55, 59 Burchard von Würzburg 199
Audoald 256 Cagnat, René 264
Augustinus von Hippo 912, 13f., 1431, Caedwalla 261
16-18, 31f., 41, 44, 4527, 46, 4630, 59, 76-83, Caesarius von Arles 15f., 26, 29, 71,
7642, 8273, 89, 90², 95, 9518, 100, 10035, 104, 220, 222, 276
107, 110, 112-114, 117-119, 11899, 119105, 122, Cameron, Alan 25

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304   Personenregister

Cancor 73 26770, 268


Cantelli Berarducci, Silvia 92f., 104, 10558, Embach, Michael 284
107, 109, 113, 11489, 116 Epiphanius 75
Cardelle de Hartmann, Carmen Eugippius 216f.
282 Eusebius von Cäsarea 30, 75, 81, 89,
Cassian 112 90², 119
Cassiodor 11f., 16, 41, 72, Everett, Nick 255f., 263f.,
76, 78, 95, 10558, 107 26981
Cathwulf 200 Ewig, Eugen 206
Chaidocus 265 Fardulf von Saint-Denis 261, 28631
Chance, Jane 40, 405 Favreau, Robert 265
Châtelain, Émile 176 Felten, Franz 195, 197
Childerich II. 34 Ferreolus 13
Childerich III. 34 Fichtenau, Heinrich 263
Chlothar 278 Flavius Josephus 28, 75, 81
Christina von Schweden 184 Fleckenstein, Josef 7215
Chrodegang von Metz 73f., 7427, 132, Florus von Lyon 119
134 Fortunatianus 89, 90²
Cicero 8, 11f., 1431, 16f., Fortunatus 41
405, 4111, 48, 4839, 76, 98, 276, 279 Frechulf von Lisieux 76, 106
Claudius von Turin 100-102, 10037, Fredegar 132, 141
104, 107 Freeman, Ann 42
Cresconius 216f. Friedrich von Salzburg 21728
Curtius, Ernst Robert 92 Friedrich V. von der Pfalz 132
Cyprian von Karthago 12, 41f., 89, 90², Fürbeth, Frank 53
183 Fulgentius Mythographus 44, 4424, 4529
Cyprian von Toulon 28-30, 3029 Fulgentius Planciades 1841
Cyprianus Gallus 76f. Fulgentius von Ruspe 4424, 89, 90²
Daniel, Pierre 184 Fulrad von Saint-Denis 199
David 3 Ganshof, François Louis 202
De Jong, Mayke 93, 106 Gasnault, Pierre 3448
De Rossi, Johannes Baptista 263f., 26346 Gautbert 120
Desiderius 260f., 26030 Gennadius 119
Desiderius von Cahors 278 Gerbert von Aurillac 61
Desiderius von Vienne 276 Gerward 83
Deuterius 27 Ghaerbald von Lüttich 227, 23432, 23746
Dido von Poitiers 279 Godesscalc 146, 1476, 148
Didymus Alexandrinus 7 Gorman, Michael 99, 101f., 104
Dionysius Exiguus 212 Gottschalk von Orbais 119107
Donadeus 148-150, 160 Gregor der Große, Papst 1533, 31, 41, 55,
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Donatus, Aelius 41, 4113, 4217 57, 59, 76, 8165, 89, 90², 97, 10035, 11281,
Dracontius, Blossius Aemilius 4214 117-120, 11899f., 119105, 122, 135, 170f., 180,
Drotculf von Ravenna 261 214, 220, 222, 267, 276, 280, 290
Dümmler, Ernst 40, 4425, 4630, Gregor II., Papst 215
266 Gregor IX., Papst 131
Ebo von Reims 213f. Gregor XV., Papst 131f.
Egbert von Trier 55, 57 Gregor von Nazianz 89, 90², 141
Eggihard 267, 269 Gregor von Tours 75, 81, 132, 141,
Eigler, Ulrich 275, 279 2779
Einhard 1737, 76, 233, Grimalt von St. Gallen 170, 177, 211

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Personenregister   305

Gundeland, Abt von Lorsch 134, 195 Ildefons von Arx 153
Hadrian 120 Irenäus von Lyon 30f.
Hadrian I., Papst 212, 259, 266, Isidor von Sevilla 12, 405, 41,
268, 28631 45-47, 4630f., 33, 35, 59f., 76, 95, 101, 107, 119,
Hadrian II., Papst 238 122, 134-136, 143, 184, 242
Hadoard von Corbie 17
Häse, Angelika 88, 26, 75, 184 Jahn, Otto 25
Haimerad 24270 Johann t‘Serclaes Graf von Tilly
Haimo von Auxerre 59, 120 131
Haistulf von Mainz 89, 891 Johannes der Täufer 112, 141
Haito von Basel 220, 223 Johannes Chrysostomus 41, 59, 89, 90²,
Halitgar von Cambrai 235, 23537, 239, 118, 11899
247 Johannes Cochlaeus 21628
Hartmann, Florian 286 Johannes Diaconus 135
Hartmann, Wilfried 239, 285 Johannes Trithemius 54, 544, 66
Hegesippus 75, 81 Jonas von Orléans 232
Heinzer, Felix 85, 8589 Jonathan 23
Hellmann, Martin 8267, 73, 284 Julian von Toledo 169
Herrad von Hohenburg 65f., 290 Justinian I. 54
Heilrad 133 Justinus 4111
Heimerich 195 Juvenal 61
Heiric von Auxerre 157 Juvencus 41, 60
Helena 98 Kaczynski, Bernice 115
Hieronymus 7-9, 75, 911f., 12f., Karl der Dicke 140
16f., 19, 30, 41, 59, 72 , 76f., 7642, 80, 89,
12
Karl der Große 3-5, 16f., 55,
90², 100, 10035f., 117-119, 11899, 119105, 122, 5918, 71-74, 7215, 7432, 79, 93, 110, 116, 131,
141, 15423, 166, 182, 24382 133-135, 146, 170, 187, 195, 198, 200-203,
Hilarius von Poitiers 76, 89, 90² 206, 212, 217, 237, 241, 245, 248, 256-262,
Hildegard, Gemahlin Karls des Großen 25928, 267f., 280f., 28019, 284-288, 28631
146, 261, 285 Karl der Kahle 204
Hildegard, Tochter Karls des Großen Karlmann 198-201, 259
285 Karl Martell 83, 197-199
Hildegard von Bingen 55 Kautz, Michael 184, 2271
Hilduin von Saint-Denis 106, 11072, 115 Keefe, Susan 241f., 244, 248
Hilgert, Markus 4f. Kéry, Lotte 202, 206
Hinkmar von Reims 119, 2113, 214, Klaes, Falco 62
234f., 238, 242 70
Kloos, Rudolf 255
Hoffmann, Hartmut 57, 132 Klopsch, Paul 43f.
Horaz 8, 13f., 1431, 16, Köhler, Wilhelm 157
25, 258, 405, 4633, 61, 83f., 8481, 275, 279 Kottje, Raymund 927
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Hosia 75 Kurze, Dietrich 237


Hrabanus Maurus 11f., 59f., 74, Kwakkel, Erik 9414
89-99, 891, 927-9, 9312f., 9725f., 102-122, Lambert von Saint Omer 60
10458, 10661, 11385, 11489, 11796, 118103, 119105, Le Blant, Edmond 264
120111, 122113, 266, 26770, 283f., 290 Lehmann, Paul 92
Hucbald von St. Amand 137 Lendinara, Patrizia 43
Hugo von Rouen 197 Leo I., Papst 4217, 84, 89, 90²,
Hungaer 164 214
Iacob 3446 Leobard 2779
Iesse von Amiens 15423 Leodegars von Autun 279

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306   Personenregister

Leonardi, Claudio 26 Ottericus 235


Leutchar von Corbie 147f., 1478, 281 Ottheinrich von der Pfalz 131
Licht, Tino 2723, 84, 16615, Ottoboni, Pietro 184
24693, 262, 281 Ovid 39, 41, 43-45,
Lindsay, Wallace M. 2719, 80 4425, 4633, 266, 282
Liutprand 255-257, 260 Paschalis I., Papst 264
Livius 1431, 19, 145³, 157 Paschasius Radbertus 97-99, 9728, 102,
Livulf 238 112, 117, 213, 257
Lothar I. 11072, 11488, 119, Patzold, Steffen 286f.
205, 238, 267 Paulinus 24, 26f.
Ludwig der Deutsche 140, 170, 205 Paulinus von Aquileia 187, 18724, 191,
Ludwig der Fromme 83, 140, 1965, 261
203-206, 213, 230, 245, 259 Paulinus von Nola 41, 4112, 138
Lukan 405, 46, 61 Paulinus von Pella 4112
Lukas 59, 99-101, Paulinus von Périgueux 4112
10035f., 118 Paulus 94f., 11074, 111,
Lul von Mainz 195 113, 177, 179, 240
Lupus von Ferriéres 110, 11074, 112, Paulus Diaconus 257, 260-262,
268 267f., 285
Maag, Natalie 282 Paxton, Frederick 227f.
Mabillon, Jean 40, 163 Pelagius 114
Macrobius, Ambrosius Theodosius Persius 61
44, 4527, 136 Petavius, Alexander 184
Maffei, Scipione 163 Petavius, Paulus 184
Martianus Capella 24, 26, 9415, 112, Petrus von Pisa 257, 261, 268
140 Petrus Chrysologus 76
Martin von Braga 220f. Phaedrus 20
Martin von Tours 198 Pippin der Jüngere 74, 134, 13416, 18,
Matthäus 89, 90², 97, 99, 198-201, 206, 262, 281
105, 11796 Pippin der Mittlere 197, 206
Maurdramnus von Corbie 8165, 146, 1476 Plektrud 197
Maximilian I. von Bayern 131f. Plinius 4111, 122
Meier-Staubach, Christel 89 Pokorny, Rudolf 220, 23746, 241
Meyer, Carla 89 Pompeius Grammaticus 41, 4113, 4217
Mitchell, John 256 Pompeius Trogo 4111, 13
Monfrin, Jacques 26560 Pomponius Porphyrio 83f., 8481
Mordek, Hubert 239 Pontius Pilatus 247
Morent, Stefan 285 Possidius von Calama 175f., 188
Morin, Germain 29 Préaux, Jean 2615
Munk Olsen, Birger 43 Priscian 61
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Napoleon Bonaparte 132 Prudentius 13f., 1431, 41f.,


Nazarius 132, 141f., 171 275
Neff, Karl 269 Raaijmakers, Janneke 89
Nees, Lawrence 40, 404 Rado 74, 7432f., 79,
Nikolaus I., Papst 215 79 , 149-152, 149 , 160, 284, 290
55 16

Notker Balbulus 135f., 141 Radulf von Bourges 235


Origenes 13, 1840, 76, 113f. Raginfrid von Rouen 198
Oresius 276 Ratchis 260
Orosius 912, 19, 75, 81, Reginbert von der Reichenau 15423, 165-167,
89, 90², 122 169

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Personenregister   307

Renswoude, Irene van 89, 9415 Theodor 120


Rhijn, Carine van 230f., 249101 Theodulf von Orléans 12, 1226, 39-49,
Richbod, Abt von Lorsch 18, 74, 7429, 84, 405, 4113, 4214, 4426, 4631, 220, 223, 227,
148, 150, 263 232, 236, 239, 248, 257, 282-286
Richulf von Mainz 24168 Theutmirus von Psalmodi 101
Rothad von Soissons 214 Thomas von Aquin 119
Rothaid 285 Tilly → Johann t‘Serclaes
Rufinus von Aquileia 13, 1840, 30 Timotheus 240
Rusticus Diaconus 3031 Tischler, Matthias 184
Sallust 1431 Treffort, Cécile 264f.
Samuel, Abt von Lorsch 18, 74, 205 Trisingus 238
Schaller, Dieter 40 Tuotilo von St. Gallen 142
Scherrer, Gustav 217 Ulrich von Augsburg 141f.
Schieffer, Rudolf 257f. Uodalrich, Abt von Lorsch 13733
Schmuki, Karl 169 Urban VIII., Papst 131
Schwitter, Raphael 27813 Valerian von Cimiez 184
Securus Melior Felix 24, 258, 26f., 2615 Varro 13f., 1431, 17f.,
Sedulius 60 44, 44 , 46 , 275
22 33

Sedulius Scottus 83f., 102 Venantius Fortunatus 4217, 43


Semmler, Josef 196, 201, 206 Vergil 8, 12, 1431, 16f.,
Seneca 76 19, 39, 41, 43-45, 4425, 49, 61, 84, 276, 279,
Servius Honoratius, Maurus 44f., 4426, 4529, 282
4630f., 48f., 60, 84 Vettius Agorius Basilius Mavortius
Severus von Malaga 76f. 258
Seznec, Jean 40 Vezin, Jean 3448
Shanzer, Danuta 25 Victor von Capua 24f., 243f.
Sidonius Appollinaris 9, 13-18, 275f., Victorinus von Pettau 89, 90²
278f. Wala von Corbie 204
Silvester II., Papst → Gerbert von Aurillac Walahfrid Strabo 134, 169, 205,
Sirmond, Jacques 40 220, 222, 26874
Smaragd von St. Mihiel 59, 9933, 10036, Wallenwein, Kirsten 282
102, 10244, 120 Waltcaud von Lüttich 227, 24168
Statius, Publius Papinius 61 Wandalgar 34, 3449f.
Staubach, Nikolaus 40, 45 Wattenbach, Wilhelm 30
Steckel, Sita 283 West, Charles 23957
Steinová, Evina 89, 9415 Wibald von Stablo 119f.
Stephan 28-30 Widerad von Flavigny 197
Stephan II., Papst 134, 13418 Wilhelm von Champeaux 120
Strecker, Karl 26353, 26455 Willibrord 197
Stutz, Ulrich 229, 22913, 15, Williswinth 73
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231, 235, 237 , 238, 249


48
Winithar 163-165, 1647
Tatto 8059, 169 Zacharias, Papst 7215
Teeuwen, Mariken 89, 9415, 112, Zechiel-Eckes, Klaus 9313, 213, 216,
11383 285
Terenz 75, 8, 10, 13, 16, Zeuxis von Croton 98
19, 61, 279 Zimpel, Detlef 92, 9517, 103f.,
Tertullian 76 107
Thegan von Trier 169, 204 Zur Nieden, Andrea 61

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