Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Materiale Textkulturen
Herausgegeben von
Ludger Lieb
Wissenschaftlicher Beirat:
Jan Christian Gertz, Markus Hilgert,
Bernd Schneidmüller, Melanie Trede und
Christian Witschel
Band 4
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Karolingische
Klöster
Herausgegeben von
Julia Becker, Tino Licht und Stefan Weinfurter
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
DE GRUYTER
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
ISBN 978-3-11-037123-9
e-ISBN (PDF) 978-3-11-037122-2
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038614-1
ISSN 2198-6932
www.degruyter.com
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Vorwort
Mit der Auflösung des weströmischen Reiches zerfiel im 5./6. Jahrhundert auch die
Einheit des lateinischen Kulturraums. Wechselnde Herrschaftsbildungen auf dem
Boden des ehemaligen Imperium Romanum führten zu einer Segmentierung, deren
Auswirkungen bis in die Buchkultur hinein erkennbar sind. Politisch und kulturell
wurde dieser Prozess erst in karolingischer Zeit aufgefangen und umgekehrt. Man
versuchte, auch in den Wissenschaftsdisziplinen an die Verhältnisse vor dem Zusam-
menbruch des Imperiums anzuknüpfen. Bis auf Ausnahmen ist von der antiken, teil-
weise sogar von der spätantiken Literatur nur das erhalten, was die karolingischen
Gelehrten bei Hof und in den Bildungszentren des Reiches überliefern konnten und
wollten. Sie erschlossen die Reste des spätantiken Wissensreservoirs, ergründeten
entlegene und vergessene Bestände, sammelten und sicherten das Schrifttum durch
eine intensive Kopiertätigkeit in den karolingischen Skriptorien, sorgten für Kommen-
tare und philologische Kontrolle der gewonnenen Texte. Der Wechsel von Papyrus zu
Pergament begünstigte diesen Transfer entscheidend, da ‚Wissen‘ von nun an ‚dauer-
haft‘ bereitgestellt werden konnte: Die europäische Wissensgesellschaft basiert auf
der Synthese von antiker Bildungstradition und frühmittelalterlicher Schriftlichkeit
in den karolingischen Klöstern.
Die Untersuchung dieses Wissens- und Kulturtransfers stand im Mittelpunkt
der internationalen Tagung, die das im Heidelberger SFB 933 „Materiale Textkultu-
ren“ angesiedelte Teilprojekt A04 „Wissenstransfer von der Antike ins Mittelalter.
Bedingungen und Wirkungen dauerhafter Verschriftlichung am Beispiel des Klosters
Lorsch“ vom 31. Oktober bis 2. November 2012 im Museumszentrum Lorsch veranstal-
tet hat. Der Tagungsort war nicht zufällig gewählt, denn unter den Bibliotheken des
Karolingerreiches hat die alte Klosterbibliothek von Lorsch den Moment der Wieder-
gewinnung antiken und spätantiken Erbes besonders deutlich bewahrt. Die Reichs-
abtei wies in karolingischer Zeit eine einzigartige Bibliothek auf und repräsentierte
einen Idealbestand vor allem des spätantiken Wissens.
Die Referenten waren von den Tagungsorganisatoren eingeladen worden, in
ihren Ausführungen vor allem die Materialität der Textträger, die im Zentrum des
Forschungsprogramms des SFB 933 stehen, zu berücksichtigen. Der SFB geht von
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
der Prämisse aus, dass die überlieferten Texte und die Deutung ihrer Inhalte nicht
genügen, um den kulturellen Zuschreibungen historisch gerecht zu werden. Wichtige
Informationen über ihre ursprüngliche Funktion liefert vielmehr die Materialität und
Anordnung der texttragenden Artefakte. Daher standen die Analyse der Textträger,
das Layout der Handschriften und die an den Artefakten vorgenommenen Rezep-
tionspraktiken im Mittelpunkt der vier Sektionen: Die erste hatte die literarischen
Rezeptionspraktiken in karolingischer Zeit zum Gegenstand. Hier wurde der Aspekt
der Entstehung der karolingischen Literatur aus dem antiken und spätantiken Reser-
voir, insbesondere die Frage nach der Reintegration der antik-klassischen Autoren
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
VI Vorwort
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Inhalt
Stefan Weinfurter
Wissenstransfer und kulturelle Innovation in karolingischer Zeit – Einleitung 3
Ulrich Eigler
Überlieferung durch die Hintertür? Die Tradition klassischer lateinischer Autoren
als Rekonstruktion des Wissenshintergrunds der Kirchenväter 7
Kirsten Wallenwein
Subscriptiones in karolingischen Codices 23
Michael Embach
Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum. Kanonizität und strukturelle
Mobilisierung 53
Julia Becker
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen. Lorsch als „patristische
Zentralbibliothek“ 71
Sita Steckel
Von Buchstaben und Geist. Pragmatische und symbolische Dimensionen der
Autorensiglen (nomina auctorum) bei Hrabanus Maurus 89
Stefan Morent
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch. Aspekte der Überlieferung und
Rekonstruktion 131
Tino Licht
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Natalie Maag
Alemannische Spuren in Lorsch 163
Martin Hellmann
Stenographische Technik in der karolingischen Patrologie 175
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Matthias Becher
Ut monasteria … secundum ordinem regulariter vivant. Norm und Wirklichkeit in den
Beziehungen zwischen Herrschern und Klöstern in der Karolingerzeit 195
Wilfried Hartmann
Äbte und Mönche als Vermittler von Texten auf karolingischen Synoden 211
Steffen Patzold
Correctio an der Basis. Landpfarrer und ihr Wissen im 9. Jahrhundert 227
Florian Hartmann
Karolingische Gelehrte als Dichter und der Wissenstransfer am Beispiel der
Epigraphik 255
Sebastian Scholz
Bemerkungen zur Bildungsentwicklung im Frühen Mittelalter.
Zusammenfassung 275
Abbildungsverzeichnis 291
Abkürzungsverzeichnis 292
Autorenverzeichnis 295
Handschriftenregister 299
Personenregister 303
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Stefan Weinfurter
Wissenstransfer und kulturelle Innovation in
karolingischer Zeit – Einleitung
Lass’ Deine Stimme ertönen, Flöte, und mache süße Verse für meinen Herrn.
David liebt Verse! Erhebe Dich und lass’ Verse erklingen!
David liebt Dichter. Kommt alle zusammen
Und singt meinem David süße Lieder.
David liebt Dichter, David ist der Ruhm der Dichter.
(…)
David liebt es, die geheiligten Gedanken der Alten zu erkunden,
Die Reichtümer der Alten kundigen Herzens zu durchstreifen.
Er frohlockt, wenn er die Geheimnisse der heiligen Weisheit erforscht.
(…)
David sehnt sich danach, Gelehrte und kluge Köpfe um sich zu haben,
Zur Zierde und zum Lob einer jeden Wissenschaft an seinem Hof,
Um die Weisheit der Alten durch gelehrten Geist wiederherzustellen.“1
Diese Verse stammen von dem Franken Angilbert, dem Laienabt von St. Riquier, nie-
dergeschrieben vor mehr als 1200 Jahren. Und sie führen uns mitten hinein in die Welt
der Bildungs- und Wissensoffensive unter Karl dem Großen, der hier wie in anderen
Quellen als David erscheint: „David sehnt sich danach, Gelehrte und kluge Köpfe
um sich zu haben“! Um diese ungewöhnliche Bildungs- und Wissensoffensive geht
es in unserer Tagung über „Karolingische Klöster. Wissenstransfer und kulturelle
Innovation“.2 Damit wird ein Forschungsprojekt vorgestellt, das unter dem Titel „Wis-
senstransfer von der Antike ins Mittelalter. Bedingungen und Wirkungen dauerhafter
Verschriftlichung am Beispiel des Klosters Lorsch“ steht und dem Heidelberger Son-
derforschungsbereich 933 (Materiale Schriftkulturen) angehört. Es kann als „Schar-
nier“ für den kulturellen Übergang vom Altertum in die Welt Europas gelten.
Mit dieser Tagung stellen wir unser Projekt zum ersten Mal umfassend zur Dis-
kussion. Das Kloster Lorsch steht im Mittelpunkt. Aber es soll auch als Exempel zu
verstehen sein für den gewaltigen Transfer antiken Wissens und antiker Wissens- und
Wissenschaftsmethoden in karolingischer Zeit. Es geht um Wissensbeschaffung, Wis-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
© 2015, Weinfurter.
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
4 Stefan Weinfurter
lingischen Klöstern übernahm? Nach welchen Kriterien hat man die Vorlagen ausge-
schrieben, neu geordnet oder zusammengestellt? Gab es gezielte Schwerpunktfelder
der Texte und Literatur in bestimmen Klöstern und wie ist Lorsch hier einzuordnen?
Wie weit ist das Bildungsprogramm in die Bevölkerung eingedrungen? Welche neuen
Texte sind in jüngerer Zeit entdeckt worden und wie sind sie zu bewerten? Und nicht
zuletzt: Welche Rolle spielte Karl der Große selbst bei diesen Vorgängen?
Solche Fragen führen uns auch immer wieder zurück zu dem Normen- und Wer-
tegefüge, von dem das Denken und Handeln der Menschen dieser Epoche geleitet
war. In der geistigen und politischen Führungselite waren es Begriffe wie rectitudo,
norma, iustitia und veritas, aber auch fides und oboedientia, mit denen die Grund-
pfeiler der Gesellschaftsordnung markiert wurden. Sie stehen in einer Wechselbezie-
hung zu den Texten, die in den Skriptorien für bedeutsam und relevant angesehen
wurden. Damit ist auch ein wesentlicher methodischer Ansatz für unser Projekt ange-
sprochen: Text- und Buchproduktion der Karolingerzeit, deren Gestaltung und Ord-
nungsprinzipien nur im Verbund mit der vorherrschenden Ordnungskonfiguration
erschlossen werden können. Diese lenkte die Auswahl aus den Vorlagen der Antike,
auch der Väterschriften, und vor allem die Auszeichnung, Gliederung und Gesamt-
komposition der Abschriften.
Grundsätzlich wird man zu beachten haben, dass Präzision, Korrektheit und Ein-
deutigkeit die Normierung der „Rechtheit“ – die norma rectitudinis – gewährleisten
sollten. Dazu mussten die Methoden und das Instrumentarium der Kommunikation
verfeinert werden: Sprache, Begrifflichkeit und Schrift. Nur die Eindeutigkeit der
„Artefakte“ und die Sicherheit im Umgang mit ihnen – so könnte man es allgemein
formulieren – garantierte ihre Wirksamkeit. Daraus entstand nicht zuletzt die ein-
deutigste aller Schriften, die karolingische Minuskel,4 die wir heute noch benutzen.
Dass es auch ganz andere Zielsetzungen in Schrift und Sprache früher Kultu-
ren gab, hat der Heidelberger Assyrologe Markus Hilgert gezeigt.5 Sein Beispiel sind
die mesopotamischen Keilschriftzeichen. Hier kann man erkennen, dass es sich um
Schriftzeichen, also „Grapheme“, handelt, die als Wortzeichen („Logogramme“) oder
als Silbenzeichen („Phonogramme“) verstanden werden konnten. Darüber hinaus
war es möglich, sie auch als stumme, nicht ausgesprochene Klassifikationen zu ver-
wenden. Ein Beispiel: Das Graphem gis bedeutete als Logogramm das sumerische
Wort für Holz. In der Verwendung als Silbenzeichen stand es für die Silbe /is/ und
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
wurde im Akkadischen als „Los“ oder „Anteil“ übersetzt. Als einem Wort vorange-
stellter Klassifikator schließlich bekam das Zeichen im Sumerischen die Bedeutung
„Keule“ oder „Waffe“.
Dies macht deutlich, dass Schrift im Zweistromland völlig anders eingesetzt
wurde als im Reich Karls des Großen. Mit den sumerischen und akkadischen Schrift-
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Wissenstransfer und kulturelle Innovation in karolingischer Zeit 5
Quellen
Angilbert, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1881 (Nachdruck
1964, 1978, 1997).
Literatur
Fleckenstein (1953): Josef Fleckenstein, Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
6 Ebd., 307.
7 Fleckenstein 1953.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
6 Stefan Weinfurter
Licht (2012): Tino Licht, „Die älteste karolingische Minuskel“, Mittellateinisches Jahrbuch 47,
337–346.
Weinfurter (22014): Stefan Weinfurter, Karl der Große. Der heilige Barbar, München.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Ulrich Eigler
Überlieferung durch die Hintertür? Die
Tradition klassischer lateinischer Autoren als
Rekonstruktion des Wissenshintergrunds der
Kirchenväter1
In der Zürcher Zentralbibliothek befindet sich ein Lorscher Codex (Ms. Car. C 131),
geschrieben Mitte des 9. Jahrhunderts im jüngeren Lorscher Stil,2 welcher die circa
387 von Hieronymus angefertigte Übersetzung der Schrift des Didymus Alexandrinus
De spiritu sancto unvollständig enthält.3 Schlägt ein Leser die Handschrift auf, ist er
unmittelbar mit Hieronymus’ Polemik gegen den Übersetzungsversuch der Schrift
des Didymus durch Ambrosius konfrontiert, mit der Hieronymus sich von ihm ohne
Namensnennung im Prolog (fol. 1v) distanziert. Er kritisiert die cuiusdam libellos vor
allem deswegen, weil die Übersetzung aus dem Griechischen so schlecht sei:
Legi dudum de spiritu sancto cuiusdam libellos et iuxta comici sententiam ‘ex grecis bonis Latina
vidi non bona’ [Ter. Eun. prol. 7–8] nihil ibi dialecticum, nihil virile atque districtum, quod lectorem
vel gratis in adsensum trahat… Dydymus vero meus oculum habens sponsae de cantico canticorum
[cant. 1, 14; 4 1. 9; 6, 4] et illa lumina, quae incandentes segetes sublimari Iesus praecepit [Joh.
4, 35].
Wie für viele Schriften der Kirchenväter typisch, die der sowohl traditionell als auch
christlich orientierten Bildungskultur entstammen,4 werden im Prolog5 zwei verschie-
dene Corpora aufgerufen: spezifisch christliche beziehungsweise biblische Texte, die
genauer zitiert werden durch den Verweis auf das Hohelied oder eine Äußerung Jesu
sowie – meist ohne klare Herkunftsnennung – die klassische Bildungsliteratur, die
hier durch ein wörtliches Zitat mit dem unbestimmten Beleg iuxta comici sententiam
vertreten ist. In beiden Fällen dienen derartige Bezugnahmen, produktionsästhe-
tisch betrachtet, gegenüber dem zeitgenössischen Publikum der Autoritätsstiftung
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
1 Die Ausführungen in den Abschnitten 2–4 beruhen auf früheren Arbeiten (Eigler 2003 und beson-
ders Eigler 2013), da hier wie dort mit dem gleichen Modell zu Textüberlieferung und Wissenskultur
gearbeitet wird. Die älteren Arbeiten mögen zu einer umfassenden Einordnung herangezogen wer-
den. Längere Passagen sind besonders aus Eigler 2013 übernommen, wurden aber überarbeitet und
gedanklich weiterentwickelt.
2 Bischoff 1989, 52, 134–135; Häse 2002, Nr. 270–271.
3 Zum Zusammenhang der Schrift genauer: Mülke 2008, 199–201; Gemeinhardt 2007, 444.
4 Vgl. dazu besonders Hagendahl 1958; 1967; 1983.
5 Hieronymus zitiert zum Beispiel auch im Prolog zu seinem Kommentar zu Hosia dieselbe Terenz-
passage: Hieronymus, Commentariorum in Osee Prophetam, II, ed. Adriaen, 55.
© 2015, Eigler.
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
8 Ulrich Eigler
und Legitimation, fordern und bekräftigen zugleich die Kenntnis der Herkunftstexte,
die in unterschiedlichen Kontexten kanonischen Status beanspruchen dürfen, hier
aber nebeneinander stehen. Der Bezug auf die klassische Bildungstradition verlangt
keinen besonderen Ausweis, die biblischen Texte werden dagegen pietätvoll spezifi-
scher zitiert.
In rezeptionsästhetischer Sicht, das heißt in diachroner Perspektive, bedeutet
dies allerdings, dass im Zuge des Rückgangs der traditionellen Kultur derartige Klas-
sikerzitate zu einem vagen Memento an einen vergangenen Text- und Wissenshinter-
grund degenerierten, der unter Umständen überhaupt nicht mehr wahrgenommen
wurde. Im vorliegenden Fall wurde dann wohl die Textgemeinschaft der Komödien
des Terenz mit der Bibel nicht mehr realisiert; gleichwohl erfolgte mit dem Hierony-
mustext eine indirekte Überlieferung von Verweisen auf den klassischen Bildungs-
hintergrund der Kirchenväter.6
Nachweislich ging aber auch die sprachlich anspruchsvolle Kirchenväterlektüre
auf dem Kontinent zurück und erlebte bekanntlich erst Ende des achten Jahrhunderts
eine signifikante Wiederbelebung – und mit ihr implizit der Bildungshintergrund, vor
dem diese Texte entstanden waren.7 Dies betraf den allgemein sprachlich-gramma-
tischen Charakter ihrer Schriften wie die in ihnen enthaltenen indirekt überliefer-
ten Reminiszenzen an klassische Autoren wie Terenz, aber auch Vergil, Horaz oder
Cicero. Es erfolgte eine Überlieferung durch die Hintertür.8
Diese ist im Falle der Zürcher Handschrift auch äusserlich zu erkennen.9 Das
Deckblatt präsentiert nämlich ein ganzseitiges incipit in roter breit auseinander-
geschriebener Capitalis Rustica, wie es sich beispielsweise auch zu Beginn einer
zeitgleich entstandenen Lorscher Handschrift des Johannesevangeliums findet
(Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 93, fol. 79v).10 Auch hier wird implizit ein
Merkmal spätantiker Klassikerhandschriften – man denke an den Vergilius Mediceus
(fol. 61v) – tradiert, das an prominenter Stelle mit einem durchaus zu überlesenden,
unter bestimmten Gegebenheiten aber auch aktualisierbaren Signal auf die Herkunft
aus seiner spätantiken Bildungskultur verweist. Diese Deckblattgestaltung verband
traditionelle und christliche Texte,11 bildet für Spätere ebenfalls ein Memento an die
Zeit, in der christliche Literatur in der traditionellen Schriftkultur eingebettet war.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
6 Grundsätzlich zur impliziten Vermittlung von Wissen in der spätantiken literarischen Kultur vgl.
Eigler 1999 (hier philosophisches Wissen).
7 Brown 1975, 263.
8 Häse 2002, 5 bringt diesen Gedanken für die Lorscher Bibliothek des 8./9. Jahrhunderts ganz ähn-
lich zum Ausdruck: „Die heidnischen Schriften waren aber eher ein Nebenprodukt des fleißigen Sam-
melns der Lorscher Mönche, das auf ein Erfassen der patristischen Literatur zielte.“
9 Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Car. C 131, fol. Iv.
10 Bischoff 1989, 45–46. Zur Titelseite in den Lorscher Handschriften vgl. den Beitrag von Tino Licht
(in diesem Band), 153–157.
11 Zu einem ähnlichen incipit (allerdings mit etwas gedrungener, schwarzer Capitalis) im Vergilius
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Überlieferung durch die Hintertür? 9
Wir wollen im Folgenden daher – freilich nur skizzenhaft – der Frage nachgehen,
welche Rolle die impliziten Verweise auf den spätantiken Bildungshintergrund in Kir-
chenväter- und verwandten Handschriften12 spielten. Dessen Wahrnehmung rückte
auch materiell in einer Bibliothek die als Memento innerhalb der Texte auftretenden
Autoren wieder in die Nähe der Träger dieser Appelle. Wir stellen also die Frage, wie
in einem Kloster, in dem man sich verstärkt – dem Zug der Zeit entsprechend – der
Kirchenväterabschrift widmete, auch den Bildungsautoren der Spätantike wieder
größere Bedeutung zukam, die sich auch in einer erkennbaren Bibliotheksgemein-
schaft niederschlug. Ich gehe davon aus, dass die besondere Pflege der Kirchenväter
die Rückkehr von antiken Autoren stimulierte, die seit dem 6. Jahrhundert in den Hin-
tergrund traten, ja in Vergessenheit gerieten. Ich sehe in diesem Vorgang eine Mög-
lichkeit, Wissenstransfer und kulturelle Innovation in der Karolingerzeit zu beschrei-
ben.
Dazu sollen zunächst (1.) einige Bemerkungen zum Potential der Kirchenväter-
Literatur als Auslöser der Beschäftigung mit ihrem spätantiken Bildungshintergrund
gemacht werden. Ein zweiter Abschnitt ist der materiellen Nachbarschaft der Kir-
chenväterschriften, wie sie sich in einer Bibliotheksvision des Sidonius Apollina-
ris ausdrückte, gewidmet (2.). Es soll damit ein Modell bibliothekstechnischer und
epistemischer Nähe entwickelt werden, das in karolingischen Handschriften noch
spürbar ist, wenn man beispielsweise an die behandelte Hieronymus-Übersetzung
denkt, das in der Bibliothek als Ganzes, wie das Beispiel Lorsch zeigt, in anderem
Rahmen wiedergewonnen wird. In einem kurzen Abschnitt (3.) soll daher ein Blick
auf die Bedingungen geworfen werden, welche die Kirchväterrezeption blockierten.
Im vierten Abschnitt (4.) muss dagegen illustriert werden, wie denn bei Wiederauf-
nahme der Kirchenväterlektüre die Einlösung des ihnen inhärenten Appells vorstell-
bar, das Potential einlösbar, das heißt der Wissenstransfer möglich wurde. Anschlie-
ßend seien unsere sehr allgemeinen Überlegungen anhand einiger Beispiele aus
Lorsch durchgespielt (5.) und kurz eingeordnet.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Mediceus vgl. die Abbildung in Giardina 1986, Tav. 44. Ein ebenso gestaltetes Eingangsblatt findet
sich in der Lorscher Abschrift von Hieronymus’ Kommentar In ecclesiasten. Die direkte Abschrift von
einem spätantiken Exemplar ist durchaus vorstellbar. Zur Wahrscheinlichkeit, dass zahlreiche Lor-
scher Handschriften dieser Zeit direkt von spätantiken Vorlagen abgeschrieben wurden vgl. McKit-
terick 2003, 171.
12 Man muss zu den von Kirchenvätern verfassten theologischen Schriften auch historiographische
Werke zur Kirchengeschichte oder Chroniken hinzuzählen, zumal sie wie im Falle des Hieronymus
von diesen selbst verfasst oder wie die Weltgeschichte des Orosius durch Augustinus angeregt sind.
Aus dieser Nähe resultiert das Problem der genauen Benennung christlicher Historiographie in der
Spätantike, die man sinnvoll zunächst nur von heidnischer Geschichtsschreibung abgrenzt. Vgl.
McKitterick 2003, 160.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
10 Ulrich Eigler
13 Zu den historischen Werken, die in Lorsch im 8./9. Jahrhundert abgeschrieben wurden, stellt
McKitterick 2003, 171–174 ganz ähnlich diese Frage.
14 Zu Begriffen und Formen der Sinn- und Textpflege vgl. Assmann 1987, 12–15.
15 Ausdruck dieses Zustands sind die Kataloge. Vgl. dazu Häse 2002.
16 Bischoff 1989, 61 betont zu Recht: „Denn einmal geschaffen, hat die Bibliothek sich weniger als
andere erneuert, und da Lorsch nur spärliche literarische Dokumente hinterlassen hat, erhalten
selbst bescheidene Spuren der späteren Generationen, die sich in den Codices niedergeschlagen
haben, erhöhten Wert.“
17 Ich folge hier dem Einladungstext.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Überlieferung durch die Hintertür? 11
fakte“ präzise belegen, die Funktion des Materiellen als „Aktant“ und „Instrument“
genau trennen ließe.18
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Gedichtzeilen des Hrabanus
Maurus zum Stand des Klosters in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts (Hrabanus
Maurus, Carmen 23, 3–6):
Neben den pia verba scripturae sanctae steht quicquid sapientia mundi protulit in
medium temporibus variis, was eine duale Wissenssystematik, jedoch keine Gegen-
überstellung evoziert. Neben den scripturae sanctae steht das Wissen aller Zeiten,
legitimiert durch den einleitend genannten Willen Gottes. Übertragen auf die Lorscher
Bibliothek, könnte man die Kataloge als repräsentativ für diesen Befund ansehen: Die
biblischen Schriften stehen zusammen mit einem enormen Fundus von patres, was die
Bibliothek zum Zeugnis der Wiederbelebung der Autorität der patres als Garanten des
Wissens aller Zeiten (quicquid sapientia mundi / Protulit in medium temporibus variis)
macht.20 Dazu gehörte aber auch sprachlich-kulturelles Wissen der Antike, welches,
wie auch Cassiodor betonte, die Kirchenväter auszeichnete. So ordnet er diese in der
Doppelfunktion als christliche Autoren wie auch als antike Redner respektvoll in eine
als ill[e] chor[us] sanctissim[us] atque facundissim[us] Patrum bezeichnete Sonder-
gruppe ein.21 Das Attribut sanctissimus qualifiziert sie als herausragende christliche
Autoren, die Bezeichnung facundissimus gesellt sie antiken Autoren wie Cicero als
Schriftsteller höchster sprachlich-rhetorischer Qualität bei. Als chorus sanctissimus
führen sie zur genaueren Bibellektüre:
18 Vgl. Konzept der Jahreskonferenz des SFB 933 „Wissen in materialen Textkulturen. Zum episte-
mischen Status von Geschriebenem in vergangenen und heutigen Gesellschaften“ (13. /14. 06. 2013):
http://www.materiale-textkulturen.de/dokumente/kalender/2013-06_SFB_933_Programm_Jahresta-
gung_2013.pdf (Stand 10. 3. 2014): „Aktuelle Tendenzen der Wissenschaftstheorie werden nach ihrer
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
12 Ulrich Eigler
Difficile quoque dictu est, quam frequenti occasione reperta Scripturas sanctas locis aptissimis
potenter aperient, ut subito transiens discas, quod te neglegenter praeterisse cognosces.22
Dieselben Autoren führen als chorus facundissimus aber auch sprachlich, was
ornatus, Zitate und Syntax betrifft, zu den klassischen Normautoren Vergil, Cicero
et cetera, nur wird das von Cassiodor nicht weiter thematisiert. Immerhin betont er
im selben Kapitel die andere Sprache der Kirchenväter, die neben Belehrung auch
ein ästhetisches Vergnügen bereitet: cum quo suavissime colloquaris.23 Wie die ästhe-
tische Qualifizierung deutlich macht, ist Cassiodor der ständige Appell bewusst, der
bei der Lektüre der Kirchenväter den spätantiken Bildungsraum eröffnet.
Die Kirchenväter machen eine Gemeinschaft von Autoren möglich und führen zu
Autoren zurück, die nun nicht mehr unverstandene Mementos hinterlassen haben,
sondern in einem gewissen Maße gesucht und den Kirchenvätern bibliothekarisch
beigesellt werden. So finden sich in der Lorscher Bibliothek Klassikerhandschriften,
wie diese auch im Gedicht Theodulfs De libris quos legere solebam… im unmittelba-
ren Anschluss an die Kirchenväter begegnen.24 Auf die Nennung von Hieronymus,
Ambrosius, Isidor oder Cyprian folgt nämlich die Bemerkung:
Wichtig ist hier wie auch in dem eingangs genannten Beispiel der Hieronymus-Hand-
schrift in Zürich zu bemerken, dass die Referenz auf die christliche Literatur spezifisch
vorgenommen wird, diejenige auf die gentilia scripta nur allgemein.26 Dies akzentuiert
die nachgeordnete Bedeutung der spätantiken traditionellen Kultur, deren Präsenz
aber latent anerkannt und in Erinnerung gehalten wird. Theodulf beschreibt so wenig
wie Hrabanus Maurus oder Cassiodor eine bibliothekarische Anordnung der Bücher,
sondern eine epistemische, die den Wissenskosmos der Zeit umschreibt und struktu-
riert. Dieser konvergiert mit dem der christlichen Spätantike, welchem der folgende
Abschnitt gewidmet ist.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Überlieferung durch die Hintertür? 13
sic tamen quod, qui inter matronarum cathedras codices erant, stilus his religiosus inveniebatur,
qui vero per subsellia patrumfamilias, hi cothurno Latiaris eloquii nobilitabantur; licet quaepiam
volumina quorumpiam auctorum servarent in causis disparibus dicendi parilitatem: nam similis
scientiae viri, hinc Augustinus, hinc Varro, hinc Horatius, hinc Prudentius lectitabantur. Quos inter
Adamantius Origenes Turranio Rufino interpretatus sedulo fidei nostrae lectoribus inspiciebatur;
pariter et, prout singulis cordi, diversa censentes sermocinabamur...
Und es war so, dass in den Büchern (codices), die sich zwischen den Sitzen (cathedrae) der
Frauen befanden, ein religiöser Stil (stilus religiosus) zu finden war, die aber, die bei den Sitzen
(subsellia) der Herren standen, durch den hohen Stil lateinischer Sprache geadelt wurden (hi
cothurno Latiaris eloquii nobilitabantur); [war es doch so, dass] jede Rolle beliebiger Autoren
(licet quaepiam volumina), wenn auch in verschiedenen Angelegenheiten, den gleichen Stil
(dicendi parilitatem) wahrte. Denn Autoren gleicher sprachlicher Gewandtheit (similis scientiae
viri), Varro und Augustinus, Horaz und Prudentius wurden da gelesen. Unter diesen wurde fleis-
sig von Lesern unseres Glaubens Origenes in der Übersetzung des Rufinus konsultiert. Obwohl
unterschiedlicher Meinung, diskutierten wir in ausgeglichener Atmosphäre und wie dem Einzel-
nen der Sinn stand...
Hier verhält es sich freilich anders als in den bisher behandelten Fällen von Bücher-
ordnungen. Der noch ganz in der traditionellen Kultur verhaftete Aristokrat bleibt,
was die spezifisch christlichen Bücher betrifft, unklar. Sie werden allgemein als
Gruppe von libri charakterisiert, die wegen ihres stilus religiosus hervorgehoben, aber
auch optisch durch die Codexform identifiziert sind. Es liegt also genau die gegentei-
lige Situation wie in den christlichen Texten vor, die wir bisher behandelt haben. Dort
wurden die biblischen Bezüge genau benannt, Reminiszenzen an die traditionelle
Literatur, wie zum Beispiel an Terenz bei Hieronymus, blieben unbestimmt. Sidonius
lässt dagegen die ‚spezifisch’ christliche Literatur unklar, nimmt aber die Kirchen-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
14 Ulrich Eigler
Verstärkung durch die suggestive Buchmetaphorik. Sidonius platziert die Frauen vor
den codices und wählt damit für die ihnen zugeordneten Bücher eine Mediengestalt,
die man mit christlicher Literatur assoziiert.28 Entsprechend werden die Männer vor
volumina, das heißt Buchrollen, gesetzt, die einen materiellen Kontrast konstituieren,
der für diese Zeit bereits anachronistisch ist,29 da sich der Codex als Buchform schon
generell durchgesetzt hat. Sidonius inszeniert eine Differenz traditionell-lateinischer
und christlicher Literatur gegenüber spezifisch christlichen Texten.
Die erste Gruppe befindet sich im Regal vor den Herren. Dort stehen Autoren, die
durch den gemeinsamen hohen Stil verbunden sind. Varro rangiert auf einer Stufe
mit Augustinus, Prudentius mit Horaz. Prosa und poetische Sprache sind vertreten:
Hi cothurno Latiaris eloquii nobilitabantur. Die im Herrenregal versammelten Bücher
sind der kanonischen literarischen ‚spätantiken’ Kultur verpflichtet, die im Westen
des römischen Reiches etabliert ist und die gemeinsame sprachliche Grundlage (pari-
litas dicendi) der Kirchenväter-Literatur wie auch der Schulautoren bildet. Ebenso gilt
Prudentius wegen der steten Präsenz seines Vorbilds Horaz als christlicher Horaz und
ist diesem gleichgestellt. Im Herrenregal ist also Literatur für Christen enthalten, eine
Unterscheidung der Regale nach heidnischen Klassikern und christlichen Büchern
greift zu kurz.30
Den Texten im hohen Stil steht im Frauenregal eine Gruppe von libri gegenüber,
die einerseits wegen ihres stilus religiosus hervorgehoben, andererseits optisch durch
die Codexform identifizierbar ist. Im Sprachniveau liegt denn auch, folgt man der
antithetischen Ordnung, der Unterschied gegenüber den libri religiosi des Frauenre-
gals. Diese müssen dem klassischen Kanon und seiner christlichen Transformation
stilistisch und inhaltlich entgegengesetzt sein. So können wir vermuten, dass es sich
um Schriften handelt, deren Inhalt in der Lektüre unmittelbar evident ist, das heißt
der religiösen Praxis entspricht oder lokale Themen wie Heiligenviten bietet. Sie sind
sprachlich einfach gehalten und setzen nicht den Besuch des Grammatikunterrichts
beziehungsweise die Vermittlung einer elaborierten Sprache oder Wissen um Inter-
texte oder antike Geschichte beziehungsweise Mythologie voraus.31 Dies erklärt auch,
warum Sidonius keinen alternativen Kanon formuliert, die Frage nach dem Inhalt des
Frauenregals offen lässt. Die dortigen codices sind noch nicht durch eine Institution
kanonisch allgemein fixiert.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
28 Vgl. Jochum 1999, 52 zum Zeichencharakter von Codex und Rolle in der Unterscheidung von
christlicher und heidnisch-traditioneller Literatur.
29 Roberts 1970, 57 geht davon aus, dass an der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert 73,95 % der heid-
nischen Literatur in Codexform vorlag. Allgemein vgl. Cavallo 1999, 99–133.
30 Dies macht beispielsweise Manguel 2000, 155, der den Inhalt der beiden Regale als „lateinische
Klassiker für Männer, Gebetbücher für Frauen“ charakterisiert.
31 Dies ist zum Beispiel für Prudentius’ allegorische Dichtungen und allemal für Horaz der Fall,
ebenso für Augustinus, der die Kenntnis von Livius, Varro, Sallust, Vergil und Cicero für das Verständ-
nis von De civitate Dei voraussetzt und sich deshalb auch im Herrenregal mit diesen Autoren befindet.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Überlieferung durch die Hintertür? 15
Aristokratische Villen besaßen wohl durchweg derartige Bibliotheken,32 die eine spä-
tantike Reichskultur reflektieren, mit deren Schwinden aber lokale Interessen in den
Vordergrund treten und das Herrenregal an Boden verliert. Der innertextliche Appell
der Kirchenväter, nach den Regalgenossen zu greifen, wird nicht mehr vernommen.
Zugleich aber schwindet mit der traditionellen literarischen Bildung die Kompetenz,
mitunter auch der Wille, sich der Weisheit der Kirchenväter zu bedienen und sich
sprachlich oder wie auch immer geartet dem impliziten Appell auszusetzen, sich die
spätantike Bildungskultur als Voraussetzung dieser Texte zu vergegenwärtigen.
Si expositiones sanctarum scripturarum eo ordine et illo eloquio, quo a sanctis patribus sunt expo-
sitae, caritatis vestrae auribus voluerimus intimare, non nisi ad paucos scolasticos cibus doctrinae
poterit pervenire, reliqua vero populi multitudo ieiuna remeabit; et ideo rogo humiliter, ut conten-
tae sint eruditae aures verba rustica aequanimiter sustinere, dummodo totus grex domini simplici
et, ut ita dixerim, pedestri sermone pabulum spirituale possit accipere.
Wenn wir die Auslegungen der Heiligen Schriften in dieser Ordnung und jenem Stil, in dem
dies die heiligen Väter getan haben, Euren geschätzten Ohren vermitteln wollen, dann wird die
Speise des Wissens nur zu wenigen, die Schulbildung genossen haben, gelangen, die übrige
große Schar des Volkes wird hungrig davon gehen; und darum bitte ich demütig, dass die gebil-
deten Ohren sich damit zufrieden geben, gleichmütig bäurische Worte zu ertragen, solange nur
die ganze Herde des Herrn die geistliche Speise in einfachem und sozusagen Fußgängerstil auf-
nehmen kann.
Die Schriften der Kirchenväter zeichnen sich durch einen gebildeten, nur für die aures
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
32 Vgl. auch Vessey 2001 zur Reminiszenz an einen Bibliotheksbesuch in einer gallischen Villa in
einem Brief des Rusticus an Eucherius.
33 Vgl. zur ‚Bildungsfeindlichkeit‘ Gregors des Grossen ausführlicher Eigler 2013, 411–414. Es wären
auch die canones der lokalen Konzilien heranzuziehen.
34 Caesarius von Arles, Sermones, ed. Morin, 353.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
16 Ulrich Eigler
Lektüre durch die Hintertür antikes Wissen zurückbrachten. So schreibt Alkuin 799 in
einem an Karl den Großen gerichteten Brief:36
Legitur quendam veterum dixisse poetarum, cum de laude imperatorum Romani regni, si rite
recordor, cecinisset, quales esse debuissent, dicens: Parcere subiectis et debellare superbos [Verg.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Überlieferung durch die Hintertür? 17
Aen. 6, 853] quem versiculum beatus Augustinus in libro de civitate Dei [Aug. civ. 1, 6] multa laude
exposuit.
Man liest, dass einer der alten Dichter, als er, wenn ich mich recht erinnere, zum Ruhme der
Kaiser des römischen Reiches ein Gedicht verfasste, gesagt habe – er sprach nämlich darüber,
wie sie sein sollten: „Schonen die Unterworfenen und bekämpfen die Hochmütigen“. Diesen
Vers behandelte in großartiger Weise der Heilige Augustinus in einem Buch seines Werks De
civitate Dei.
Die Beschäftigung mit dem Thema der misericordia des christlichen Königs lässt
Alkuin an das Kapitel 6 des ersten Buches von Augustins De civitate Dei (Quod ne
Romani quidem ita ullas ceperint civitates, ut in templis earum parcerent victis) denken,
zumal Karl genau diese Schrift sehr schätzte.37 Dies führt zum berühmten Vergilzitat
aus dem sechsten Aeneisbuch gleichsam durch die Hintertür. Es begegnet dieselbe
Praxis, die wir bereits eingangs bei Hieronymus beobachten konnten. Der heidnische
Autor wird nur ganz allgemein als quidam veterum poetarum genannt, obwohl Alkuin
ihn bestens kannte.38
Damit wird Karl also mit dem Appell konfrontiert worden sein, sich mit Vergil zu
beschäftigen. Zu Augustinus gesellt sich damit zunächst virtuell Vergil, als Hinter-
grund des Augustinus, rückt aber auch bibliothekstechnisch näher. Gleichsam durch
den Kirchenvater legitimiert erhält nun Vergil wieder Heimatrecht in derselben Bib-
liothek. Sidonius hatte Varro und Augustinus’ De civitate in ein Regal gestellt, um die
Nähe antiker Bildung zu den Kirchenvätern zu illustrieren, bei Alkuin wird das ima-
ginäre Regal mit dem quidam veterum poetarum bestückt, von dem aber mittlerweile
jeder wieder weiß, wer er ist.
Dies gilt auch für die Gemeinschaft verschiedener Autoren im Codex. Hadoard
stellte zum Beispiel in Corbie Florilegien zusammen aus Augustinus und Cicero.39
Nebeneinander und in derselben Schrift, der karolingischen Minuskel, werden die
römischen Autoren mit den christlichen abgeschrieben, ja in Miscellanhandschrif-
ten zusammengebunden. Auch kodikologisch wird die Wiedergewinnung der Regal-
gemeinschaft dokumentiert, wenn die Regula Benedicti in derselben karolingischen
Minuskel abgeschrieben wird wie die Aeneis Vergils.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
37 Einhard vermerkt in der Vita Caroli Magni: Legebantur ei [sc. Carolo] historiae et antiquorum res
gestae. Delectabatur et libris sancti Augustini, praecipueque his qui de civitate Dei praetitulati sunt.
Einhard, Vita Caroli Magni, ed. Holder-Egger, 29.
38 In der von einem unbekannten Verfasser in den 20er Jahren des 9. Jahrhunderts geschriebenen
Vita Alcuini heisst es von Alkuin, er sei Virgilii amplius quam psalmorum amator gewesen. Heinzer
2012, 95 weist darauf hin, dass der Vitenschreiber „sich der Zäsur, die der karolingische Reformabt
markiert, ... bewusst“ gewesen sei. Vgl. auch Berschin 1991, 176–177.
39 Bischoff 1975, 71.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
18 Ulrich Eigler
40 Auch Origenes begegnet wieder in der Übersetzung des Rufinus wie zum Beispiel die Homiliae in
librum Iudicum aus dem zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts (Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl.
37).
41 Der Codex Rom, BAV, Pal. lat. 1579 umfasst am Anfang die aus dem 9. Jahrhundert stammende
Abschrift der Expositio Virgilianae continentiae secundum philosophos moralis des Fulgentius Plan-
ciades (ca. 500).
42 Vgl. zum Eintrag im Katalog Häse 2002, 60.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Überlieferung durch die Hintertür? 19
grund des Augustinus hervorgehoben und konnte bei entsprechender Motivation wie
beim Vergilzitat in Alkuins Brief aktualisiert werden.
Der Appell, der von der Kirchenväter-Lektüre ausgeht, ihrer alten ‚Regalgenossen’
vielleicht auch nur im Sinne einer allgemeinen Akzeptanz zu gedenken, muss für den
gründlichen Leser oft deutlich spürbar gewesen sein. Der in der eingangs besproche-
nen Zürcher Hieronymus-Handschrift zu lesende implizite Verweis auf Terenz (iuxta
comici sententiam) konnte noch überlesen werden, die massive Intertextualität, die
aber zum Beispiel die Briefe des Hieronymus auszeichnet, drängte die Regalgenossen
geradezu auf, insbesondere, wenn die Auflösung des Zitats für das Verständnis des
Briefes unabdingbar war. Las man zum Beispiel in der ebenfalls im jüngeren Stil ver-
fassten Lorscher Handschrift der Briefe des Hieronymus seine epistola 2 (Karlsruhe,
Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 105), so wurde man am pointiert formulier-
ten Ende mit der kunstvollen Verwendung einer Aeneis-Passage durch Hieronymus
konfrontiert: nunc me novis diabolus retibus ligat, nunc nova impedimenta proponens‚
maria undique et undique pontum [Verg. Aen. 5, 9; vgl. aber auch 3, 193], nunc in medio
constitutus elemento nec regredi volo nec progredi possum.43 Hieronymus veranschau-
licht seine innere Zwangslage durch den Vergleich mit Aeneas, der sich auf seinen
Irrfahrten zwischen Italien und Africa befindet. Das tiefere Verständnis für Hiero-
nymus in einer Entscheidungssituation als alter Aeneas ergibt sich erst, ist man mit
Vergils Aeneis vertraut. Zugleich gibt derjenige, der bei der Lektüre der Handschrift
an Vergil denkt, diesem Heimatrecht im Kreise des Kirchenvaters. Der Wunsch nach
dessen Verständnis provoziert einen Lernprozess, dessen Ergebnis auch durch eine
Vergilhandschrift repräsentiert sein kann.
Ein weiterer Weg zum spätantiken Hintergrund eröffnete sich bei der Lektüre
von kirchenhistorischen Schriften. Als abschließendes Beispiel sei hier der Lorscher
Orosius (Rom, BAV, Pal. lat. 829) aus dem 8. / 9. Jahrhundert genannt, der auf den foll.
1r–113r den Beginn der Historia adversum paganos (Oros. hist. 1–4, 1, 1) enthielt und,
soweit seine Darstellung die Anfänge Roms betraf, mit Livius- und besonders Aeneis-
zitaten durchdrungen war.44 Der Raub der Sabinerinnen wird zum Beispiel mit Hilfe
Vergils kurz abgehandelt (Oros. hist. 2, 4, 2):
Cuius regnum continuo Romulus parricidio imbuit, parique successu crudelitatis, sine more raptas
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Sabinas’ [Verg. Aen. 8, 635], inprobis nuptiis confoederatas maritorum et parentum cruore dota-
vit.45
43 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 105, fol. 41v (=Hieronymus, Epistola 2,4).
44 Eigler 2003, 216–224.
45 Orosius, Historia, ed. Zangemeister, 88.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
20 Ulrich Eigler
Dass diese Form der Aneignung, die bereits auch spätantike Modelle besitzt, in
Lorsch reflektiert wurde, belegt die praefatio der Defensio artis medicinae im Lorscher
Arzneibuch:46
Quod ipsi non ad dei sed ad suum favorem fecere, vos ad dei gloriam omnipotentis agite. Itaque
quando in scriptis eorum aliquid utile sumitur, quasi aurum, quod sepe contigit, in sterquilinio rep-
peritur, sicut quidam vir dei interrogatus, cur gentilem legeret, ostendit dicens: aurum in sterquili-
nio quaero [Phaedr. 3, 12].
Der Verfasser rechtfertigt damit seine Verwendung (spätantiken) Wissens, das auch
in der christlichen Wissenswelt seinen Platz haben sollte, wobei er klar zwischen
erlaubtem, edlem Wissen (aurum) und wertlosem (sterquilinium) unterscheidet.
Durch die Hintertür tritt allerdings nicht nur das Wissen, sondern mit dem Fabeldich-
ter Phaedrus auch derjenige antike Autor ein, der diese Sentenz geprägt hat (Phaedr.
3, 12 Pullus ad Margaritam), wobei aber das Zitat durch Verweis auf die vermittelnde
Instanz eines vir quidam dei legitimiert wird. So wird aber die Möglichkeit eröffnet,
das Memento in seiner Komplexität zu begreifen und eventuell einmal den ganzen
Kontext bei Phaedrus nachzusehen. Das Zitat wird vom Memento zum impliziten
Appell, diesen zu suchen:
Rückblickend muss man allerdings bemerken, dass es in Lorsch vor allem die Kir-
chenväter waren, aus denen man Perlen beziehungsweise Gold fischte. Sie bildeten
keinesfalls eine Textumgebung, die sich mit Mist vergleichen ließe. Als viri Dei per se
sanktionierten und empfahlen sie alles in ihnen enthaltene Wissen. Man musste in
Lorsch Anfang des 9. Jahrhunderts nur die Regale entlang gehen und ihre Handschrif-
ten aufschlagen. Bibliothekarische und epistemische Ordnung spielten einander in
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
die Hände, repräsentiert in der bloßen Materialität der Codices oder im Rahmen des
impliziten Mementos. In diesem Prozess zeigt sich eine Wissens-Ordnung, die dieje-
nige von Katalogen ergänzt, dieser unter Umständen überlegen ist und dieser auch
konkurrierend gegenübersteht.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Überlieferung durch die Hintertür? 21
Quellen
Alkuin, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 4 (Epistolae Karolini Aevi II), Berlin 1895
(Nachdruck 1994), 1–481.
Cassiodor, Institutiones: Cassiodor, Institutiones divinarum et saecularium litterarum. Einführung
in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften, übers. und eingel. von Wolfgang Bürsgens,
Fontes Christiani 39/1–2, Freiburg u.a. 2003.
Caesarius von Arles, Sermones, ed. Germain Morin, CCSL 103, Bd. 1, Turnhout 1963.
Einhard, Vita Caroli Magni, ed. Oswald Holder-Egger, MGH SS rer. Germ. 25, Berlin 1911.
Hieronymus, Commentariorum in Osee Prophetam, ed. Marc Adriaen, CCSL 76, Turnhout 1970,
1–158.
Hrabanus Maurus, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 2, Berlin 1884,
154–258.
Orosius, Historiarum adversum paganos libri VII, ed. Karl Zangemeister, CSEL 5, Wien 1882.
Phaedrus, Fabeln, Texte établi et traduit par Alice Brenot, Paris 1924.
Sidonius Apollinaris, Epistulae = Sidoine Apollinaire, lat.-frz., Bd. 2, ed. und übers. von André Loyen,
Paris 1970.
Theodulf, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1881 (Nachdruck
1964, 1978, 1997).
Literatur
Assmann (1987): Aleida Assmann/Jan Assmann (Hgg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie
der literarischen Kommunikation II, München.
Berschin (1991): Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 3:
Karolingische Biographie 750–920 n. Chr., Quellen und Untersuchungen zur lateinischen
Philologie des Mittelalters 10, Stuttgart.
Bischoff (1975): Bernhard Bischoff, „Paläographie und frühmittelalterliche Klassikerüberlieferung“,
in: La cultura antica nell’occidente latino del VII all’XI secolo, Settimane di studio del CISAM 22,
Spoleto, 59–86.
Bischoff (²1989): Bernhard Bischoff, Die Abtei Lorsch im Spiegel ihrer Handschriften, Geschichts-
blätter Kreis Bergstrasse, Sonderband 10, Lorsch.
Brown (1975): Thomas Julian Brown, „An Introduction to the Use of Classical Latin Authors in the
British Isles from the Fifth to the Eleventh Century“, in: La cultura antica nell’occidente latino
del VII all’XI secolo, Settimane di studio del CISAM 22, Spoleto, 237–293.
Cavallo (1999): Guglielmo Cavallo, „Vom Volumen zum Codex. Lesen in der römischen Welt“,
in: Roger Chartier/Guglielmo Cavallo (Hgg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
22 Ulrich Eigler
Gemeinhardt (2007): Peter Gemeinhardt, Das lateinische Christentum und die antike pagane
Bildung, Studien und Texte zu Antike und Christentum 41, Tübingen.
Giardina (1986): Andrea Giardina, Società Romana e impero tardoantico IV: Tradizione dei classici
trasformazioni della cultura, Bari.
Häse (2002): Angelika Häse, Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus dem Kloster Lorsch.
Einleitung, Edition und Kommentar, Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 42, Wiesbaden.
Hagendahl (1958): Harald Hagendahl, Latin Fathers and the Classics, Studia Graeca et Latina
Gothoburgensia 6, Stockholm.
Hagendahl (1967): Harald Hagendahl, Augustine and the Latin Classics, Studia Graeca et Latina
Gothoburgensia 20,1/2, Göteborg.
Hagendahl (1983): Harald Hagendahl, Von Tertullian zu Cassiodor, Studia Graeca et Latina
Gothoburgensia 44, Göteborg 1983.
Heinzer (2012): Felix Heinzer, „Vergilii amplius quam psalmorum amator. Klösterliche Intellektualität
zwischen Weltflucht und Wissenskultur“, in: Christian Heizmann/Monika E. Müller (Hgg.), Einen
Platz im Himmel erwerben. Bücher und Bilder im Dienste mittelalterlicher Jenseitsfürsorge,
Wolfenbütteler Hefte 32, Wiesbaden, 91–112.
Jochum (1999): Uwe Jochum, Kleine Bibliotheksgeschichte, Stuttgart.
Manguel (2000): Alberto Manguel, Eine Geschichte des Lesens, Hamburg.
McKitterick (2003): Rosamond McKitterick, „The Writing and Copying of History in Carolingian
Monasteries“, in: Flavia De Rubeis/Walter Pohl (Hgg.), Le Scritture dai monasteri, Atti del
secondo seminario internazionale di studio „I monasteri nell’Alto Medioevo“, Acta Instituti
Romani Finlandiae, Rom, 157–177.
Mülke (2008): Markus Mülke, Der Autor und sein Text, Berlin.
Roberts (1970): Colin Henderson Roberts, Books in the Graeco-Roman World and in the New
Testament, The Cambridge History of the Bible I, Cambridge.
Stoll (1992): Ulrich Stoll, Das ‚Lorscher Arzneibuch’. Ein medizinisches Kompendium des 8.
Jahrhunderts (Codex Bambergensis Medicinalis 1). Text, Übersetzung und Fachglossar,
Studhoffs Archiv, Beihefte 28, Stuttgart.
Vessey (2001): Mark Vessey, „The Epistula Rustici ad Eucherium: From the Library of Imperial
Classics to the Library of the Fathers“, in: Ralph W. Mathisen/Danuta Shanzer (Hgg.), Society
and Culture in Late Antique Gaul. Revisiting the Sources, Aldershot/Burlington/Singapore/
Sydney.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Kirsten Wallenwein
Subscriptiones in karolingischen Codices
Hört man den Begriff subscriptio, öffnet sich ein weites Bedeutungsspektrum. Man
versteht „Unterschrift“ und denkt an Unterschriften in Urkunden, die sich in der
Signums- und Rekognitionszeile am Ende des rechtlichen Dokuments finden; viel-
leicht erinnert man sich aber auch an Unterschriften und Vermerke von Schreibern,
die diese nach getaner Arbeit unter den von ihnen abgeschriebenen Codex setzten
und den Leser nicht selten zur Fürbitte aufrufen. Für letztere findet man die Bezeich-
nung „Kolophon“. Und eine begriffliche Abgrenzung ist in der Tat notwendig.
Wer nicht schreiben kann, glaubt, das sei keine Arbeit: Drei Finger schreiben, zwei Augen sehen,
eine Zunge spricht und der ganze Körper plagt sich ab. Und alle Arbeit hat ein Ende, aber der
Lohn dafür ist unendlich. So lieb, wie dem Segelnden der beste Hafen, so lieb ist dem Schrei-
ber die letzte Zeile. Ich, der Kleriker Jonathan, habe mich mit dem Beistand des Herrn bemüht,
diesen Codex abzuschreiben. Bete für mich, den Schreiber, wenn du Gott zum Beschützer hast.
Amen.1
Dieses Beispiel eines Kolophons findet sich im Pal. lat. 46, der sich einst im Besitz der
Lorscher Klosterbibliothek befand. Der Schreiber thematisiert die Anstrengungen,
die die Abschrift eines Codex mit sich bringt, nennt sich beim Namen und bittet um
ein Gebet. Derartige Äußerungen von Schreibern sind hier nicht gemeint; in diesem
Beitrag werden unter subscriptiones allein Vermerke der Textkontrolle in Handschrif-
ten verstanden. An ihnen soll das Nachwirken der antiken Qualitätssicherung und des
antiken Schriftwesens in der karolingischen Überlieferung sichtbar gemacht werden.
Subscriptiones sind als Praxis der Spätantike und des Frühmittelalters der For-
schung seit längerer Zeit bekannt. In ihnen wird über eine Kontrolle des Textes
Rechenschaft abgelegt, wobei idealerweise Ort, Datum und Namen desjenigen, der
die Überprüfung durchgeführt hat, genannt sind. Liegen sie im Original vor, liefern
sie Anhaltspunkte zum Datieren und Lokalisieren der Handschriften und sind her-
vorragende Zeugnisse für die Schriftentwicklung. Datierte Handschriften gelten als
„Rückgrat“, „Lebenselixier“ und „Meilensteine“ der Paläographie.2
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
1 Rom, BAV, Pal. lat. 46, fol. 137v: Qui scribere nescit, nullum putat se esse laborem. Tres digiti scribunt,
duo oculi vident, una lingua loquitur, totum corpus laborat. Et omnis labor finem habet et praemium eius
non habet finem. Quam dulcius [sic] est naviganti optimus portus, ita sriptori [sic] novissimus versus.
Ego Ionatham clericus domino opitulante hunc codicem scribere studui. Ora pro me scriptorem, si deum
habeas protectorem. Amen. Vgl. auch Colophons III, 11984.
2 CLA VII, VI: „Since dated manuscripts are the backbone of palaeography“; CLA VIII, VIII: „Dated
and placed manuscripts are the life-blood of palaeography“ und CLA XI, IX: „Dated manuscripts are
of prime interest to the palaeographer. […] milestone in palaeography“.
© 2015, Wallenwein.
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
24 Kirsten Wallenwein
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Subscriptiones in karolingischen Codices 25
in Frage.7 Bereits Otto Jahn wies in seiner grundlegenden Studie „Über die Subscrip-
tionen in den Handschriften römischer Classiker“ von 1851 auf die Möglichkeit zweier
Datierungen – 498 und 535 (sic) – hin. Er entschied sich, vor allem weil in der nach
527 entstandenen subscriptio zu Horaz ein Felix, orator urbis Romae belegt ist, für die
spätere von beiden.8 Cameron dagegen votiert wegen des fehlenden Zusatzes iunior
für 498.9 Eine Gegenüberstellung der beiden Standpunkte findet sich bei Shanzer,
die sich Jahns Entscheidung anschließt und dessen Argumentation bekräftigt, indem
sie nochmals ausdrücklich auf die Übereinstimmung dreier Elemente in den beiden
subscriptiones hinweist: Name, Ort und Amt.10 Auch wenn sich die Frage nach der
exakten Datierung in diesem Fall nicht mit letzter Sicherheit beantworten lässt, spre-
chen mehrere Punkte für das Jahr 534:
Erstens die Übereinstimmungen mit und die zeitliche Nähe zur Horaz-subscrip-
tio, zweitens die Möglichkeit, dass der Verfasser den Zusatz iunior nicht als notwen-
dig erachtete und drittens gibt es Parallelfälle, die genau dies belegen, da in ihnen
ein Zusatz iunior möglich, wenn nicht mit Cameron zu erwarten gewesen wäre:
„There can be no doubt that the consuls of 480 [Caecina Decius Maximus Basilius]
and 541 [Anicius Faustus Albinus Basilius] were both styled iunior in the western
documents“.11 In der oben zitierten subscriptio des Victor von Capua wird nach dem
Konsulat des letzten Jahreskonsuls – ohne Verwechslungsgefahr und ohne iunior –
datiert. Dem könnte man kritisch entgegnen, dass die Datierung post consulatum
(zumal quinquies) und die zusätzliche Angabe der Indiktion diesen Zusatz nicht erfor-
dern würden, die letzten Zweifel wären dadurch nicht beseitigt. So kann das Vorkom-
men von iunior zwar eine zusätzliche Datierungssicherheit gewähren, das Fehlen hin-
College, Ms. 202, fol. 88v (saec. XII in.); Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 7972, fol. 83v
(saec. X); Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 8216, fol. 73r (saec. XII2); Turin, Biblioteca
nazionale universitaria, I.VI.2, fol. 30r (saec. XI/XII). Es gibt Hinweise, dass sie, wenn auch als Beiga-
be, einst im Cheltenhamensis Phillippsianus 16392 membranaceus (heute Cologny, Fondation Martin
Bodmer, 88) enthalten war. Vgl. Keller 21899, XXVI und LXVII. Des Weiteren wurde vermutet, dass die
17. Epode samt Korrekturvermerk von St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg 312 einem Subskriptio-
nensammler zum Opfer gefallen sein könnte. Vgl. Keller 1879, 416; ders. 21899, XL; ihm folgend Bick
1906, 4.
9 Cameron 1986, 320–324.
10 Shanzer 1986, 8–12.
11 Cameron 1984, 165 und CLRE, 44.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
26 Kirsten Wallenwein
gegen nicht, wie die Herausgeber der Consuls of the Later Roman Empire einräumen:
„All inscriptions by Basilius, without iun., have been listed under this year; but it is
possible that the omission of iun. is a scribal error in some cases, in which event 480
or 541 would be possible“.12 Warum sollte das nicht auch im Falle Paulinus gelten?
Und in der Tat lässt sich ein Beispiel anführen: Caesarius von Arles unterschreibt
seine Statuta sanctarum virginum und datiert sub die X kalendas iulii Paulino consule
tempore.13 Im Vorwort seiner Nonnenregel nennt er sich episcopus. Dies ist erst unter
dem Konsulat von Paulinus iunior, 534, möglich.
Nicht nur die früheste Überlieferung dieser Textkontrolle, sondern auch die frü-
heste Überlieferung von De nuptiis Philologiae et Mercurii überhaupt stammt aus dem
9. Jahrhundert. Daher hat die subscriptio des Securus Melior Felix seit jeher das Inte-
resse der Forschung auf sich gezogen und wurde zur approximativen Datierung des
spätantiken Werks herangezogen.
Claudio Leonardi hat 1960 in einem mehrteiligen Beitrag in der Zeitschrift Aevum
eine Liste von 241 Handschriften aufgestellt.14 27 von ihnen überliefern die subscrip-
tio15 – darunter elf Handschriften aus dem 9. Jahrhundert.16 Dass Lorsch in der zweiten
Hälfte des 9. Jahrhunderts im Besitz eines Martianus Capella-Exemplars war, wissen
wir aus einem der im Pal. lat. 1877 enthaltenen Lorscher Bibliothekskataloge. Auf
fol. 2v findet sich unter den Nachträgen der Eintrag Liber Felicis Capellae. Bernhard
Bischoff und Angelika Häse identifizieren „das Buch des Felix Capella“ mit der Leide-
ner Handschrift, die in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Lorsch entstanden
ist.17 Leonardis Vermutung, dass die Handschrift im Lorscher Skriptorium entstanden
sei,18 konnte durch die paläographische Analyse Bischoffs über die Identifizierung
12 CLRE, 461.
13 Caesarius von Arles, Statuta sanctarum virginum, ed. de Vogüé/Courreau, c. 73, 272.
14 Die Handschriftenliste findet sich bei Leonardi 1960, 1–99 und 411–524. Diesen beiden Teilen ging
1959 ein Beitrag in der gleichen Zeitschrift voraus, in dem Leonardi 23 Handschriften angibt, die die
subscriptio überliefern, vgl. ders. 1959, 446, Anm. 8. Dieser Auflistung fügt er selbst Rom, BAV, Barb.
lat. 130, fol. 9r hinzu; vgl. ders. 1960, 458.
15 Jean Préaux hat die Auflistung der subscriptiones um drei auf 27 erhöht und den Kontrollvermerk
des Securus Melior Felix anhand von zwölf Handschriften kritisch ediert; vgl. Préaux 1975, 103–104
und 1978, 77–78.
16 Bamberg, Staatsbibliothek, Class. 39 (M. V. 16), fol. 19r (saec. IX3/4, Umkreis von Fleury?); Brüssel,
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Bibliothèque royale de Belgique, Ms. 9565–9566, fol. 28r (saec. IX ex., Bodenseegebiet); Karlsruhe,
Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 73, fol. 9v (saec. IX2/4, Lorsch?); Leiden, Universiteitsbibliothe-
ek, B. P. L. 36, fol. 11v (saec. IX ex., Lorsch); Leiden, Universiteitsbibliotheek, B. P. L. 87, foll. 15r–v (saec.
IX ex., Ostfrankreich?); London, British Library, Harley 2685, fol. 44r (saec. IX ex., Ostfrankreich?);
München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14729, fol. 83v (saec. IX ex., Bodenseegebiet: St. Gallen?);
Orléans, Bibliothèque municipale, Ms. 191 (168), p. 272 (saec. IX4/4); Paris, Bibliothèque nationale de
France, Lat. 8670, fol. 11r (saec. IX2, Corbie); Rom, BAV, Reg. lat. 1535, fol. 10v (saec. IX3/4, Auxerre);
Rom, BAV, Reg. lat. 1987, fol. 12v (saec. IX2/4, Nordfrankreich?).
17 Leiden, Universiteitsbibliotheek, B. P. L. 36. Bischoff 21989, 54; Häse 2002, 179.
18 Leonardi 1960, 61. Korrekturen hd/hl: foll. 21r, 49v etc.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Subscriptiones in karolingischen Codices 27
Lorscher Hände und das Aufspüren des Verweispaares hd/hl (hic deest/hic lege), das
als Lorscher Ohrmarke gilt,19 bestätigt werden.20 Im Text wird die Auslassung durch
ein hic deest – „hier fehlt“ – kenntlich gemacht, am unteren Rand wird die fehlende
Textpartie nach hic lege – „hier lies“ – ergänzt.
Bischoff hielt bereits 1989 die Entstehung einer weiteren Handschrift im Lorscher
Skriptorium für denkbar. Der heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe
liegende Augiensis LXXIII wird von ihm als wichtigster Textzeuge charakterisiert.21
Auf fol. 9v findet sich die subscriptio von Securus Melior Felix:22
Securus Melior Felix, vir spectabilis, comes consistorianus, rethor urbis Romae ex mendosissimis
exemplaribus emendabam contralegente (ms. contralegenae)23 Deuterio scolastico, discipulo meo
Romae ad portam Capenam consulatu (ms. consist) Paulini viri clarissimi sub nonarum martiarum
Christo adiuvante.
Ich, Securus Melior Felix, vir spectabilis, Mitglied des kaiserlichen consistorium und Rhetor der
Stadt Rom habe aus höchst fehlerhaften Vorlagen heraus verbessert, während mein Schüler, der
gelehrte Deuterius, gegenlas. In Rom bei der Porta Capena während des Konsulats des vir claris-
simus Paulinus am Tag der Nonen des März, mit Christi Hilfe.
Nahezu alles, was wir über Securus Melior Felix wissen, wurde uns durch diese
subscriptio überliefert. Dass er als Mitglied des kaiserlichen Staatsrates der zweiten
senatorischen Rangstufe angehörte und Redner der Stadt Rom war, teilt der Subskri-
bent uns ebenso mit, wie den Ort und das Datum der Korrektur, die er nicht alleine
zu verantworten hatte. So bieten subscriptiones, wenn sich in ihnen der Korrektor
mit seiner Ämterlaufbahn nennt, Informationen, die für die Personengeschichte von
Bedeutung sind.
Die Kopisten – vielleicht beeindruckt von der Aufzählung der prestigeträchtigen
Ämter24 – tradieren die subscriptiones. Durch das in ihnen beglaubigte Vergleichen
mit und das Verbessern nach der Vorlage erfolgte eine gewisse Qualitätssicherung.25
Derjenige, dem ein subskribiertes Exemplar vorlag, konnte sich sicher sein, eine
Handschrift, die bestimmten Maßstäben genügte oder zu genügen versuchte, vor sich
zu haben. Vermutlich auch aus diesem Beweggrund und nicht nur aus bloßem Unver-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
19 Wallace M. Lindsay machte die Lorscher Ohrmarke als „best criterion of Lorsch products“ ausfin-
dig, vgl. Lindsay 1924, 43–44; demgegenüber kritisch Bischoff 21989, 30.
20 Bischoff 21989, 54.
21 Bischoff 21989, 83–84, Anm. 49a.
22 Die kopialüberlieferte subscriptio der Handschrift Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug.
perg. 73 (saec. IX2/4, Lorsch?) lässt sich online einsehen unter: http://digital.blb-karlsruhe.de/blbhs/
content/pageview/208081.
23 Bereits Licht sprach sich in Anlehnung an ThLL IV, 765 für die Lesart contralegente aus: vgl. ders.
2006, 115, Anm. 20. Vgl. dagegen contra legente in der Edition bei Préaux 1975, 104.
24 Cameron 2011, 492.
25 Licht 2006, 114.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
28 Kirsten Wallenwein
2 prompto] promto (S) ǁ vellę] vellae (A) ǁ plane] planae (A) 3 Quodque] Quoque (A) 7 correxi] corexi
korrigiert zu conrexi (A) ǁ distinguendoque] distingendo korrigiert zu distinguendo (A, S) 8 quęque]
quaequę (A) 10 placidus] placi ds korrigiert zu placi dus (S) 11 amoenus] amenus korrigiert zu amo-
enus (S)
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
26 Bischoff 21989, 32. Den radierten Vermerk von Rom, BAV, Pal. lat. 814, fol. 145r findet man in digita-
lisierter Form unter: www.bibliotheca-laureshamensis-digital.de/bav/bav_pal_lat_814/0299.
27 Im Papyruscodex Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cimelio 1 (saec. VI, Norditalien: Mailand?)
findet sich lediglich zweimal der Vermerk contuli in Verbindung mit der Lagensignatur: vgl. Reiffer-
scheid 1872–1873, 3, einmal auf p. 56; vgl. CLA III, 304.
28 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 82, fol. 134v (saec. IX in., Sigle: A); St. Gallen,
Stiftsbibliothek, Cod. 626, p. 312 (saec. IX in., Sigle: S). Letztere ist online zugänglich unter: http://
www.e-codices.unifr.ch/de/csg/0626/312.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Subscriptiones in karolingischen Codices 29
Abb. 1: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 82, fol. 134v (Ausschnitt).
Sieh, gütiger Vater, ich habe deine Befehle, so gut ich konnte, ausgeführt, eher freilich voll guter
Absicht, als im Stande dazu. Was immer vertrauend auf deine heiligen Gebete von mir bewirkt
wurde, und welches Urteil auch immer im Herzen gefasst werden wird, ich bitte, dass mir alle
Fehler angelastet werden – schließlich bin ich ohne Vorlage den Text durchgegangen und habe
ihn mir nochmals vorgenommen. Ich habe [ihn], wie ich es vermochte, korrigiert, gegliedert,
zweideutige Stellen habe ich gekennzeichnet, und sie, nachdem ich sie markiert habe, stehen
lassen. Anzuzeigende Besonderheiten habe ich am Rand kurz angegeben. Ich bete, dass diese
Arbeit gefällt und von Herzen angenommen wird, dass du mir dankbar und immer gewogen bist,
auf dass dein Geist auch von himmlischer Gabe noch mehr angefüllt werde, weil du, heiliger
Stephan, heiter die besten Geheimnisse verkündest, und weil sich auch dein Diener Cyprian der
Taten erfreut. Die Verse sind zu Ende. Feliciter.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
30 Kirsten Wallenwein
Korrektur des Bellum Iudaicum erfolgt sein soll.29 Wenn Cyprian sich an den heiligen
Stephan wendet, sei als Schutzpatron von Arles der Erzmärtyrer Stephan gemeint.30
Die subscriptio zeigt auf beeindruckende Weise den Versuch, den Inhalt, den
man auch einfacher beispielsweise mit – … contuli, annotavi, distinxi. Deo gratias.31 –
hätte fassen können, in eine höhere Stilform zu transponieren. Dass es hier bei einem
Versuch blieb und Cyprian von Toulon „mehr gut gemeinte als metrisch lobenswerthe
Verse“ verfasst hat, merkte Wilhelm Wattenbach an;32 und in der Tat passen in einigen
Fällen Längen und Kürzen nicht ins Versmaß. Dennoch ist die subscriptio eines der
seltenen Zeugnisse, die eine Überprüfung des Textes in Versform attestieren.
Forderungen nach einer solchen Überprüfung – ob ihre Beglaubigung nun in
metrischer Form erfolgte oder nicht – werden in adiurationes, admonitiones oder
obtestationes laut, mit denen der Schreiber dazu angehalten werden soll, nach der
Abschrift die Kopie mit der Vorlage zu vergleichen. Eine in ihrem Wortlaut auf Irenäus
von Lyon († 202) zurückgehende adiuratio, ist bei Eusebius von Cäsarea († 339/340)
überliefert. Hieronymus († 419/420), der mit den Werken des Eusebius vertraut war
und dessen Chronik ins Lateinische übertrug, führt sie in seinem bio-bibliographi-
schen Werk De viris illustribus unter dem Eintrag zu Irenäus an.33 Rufinus von Aqui-
leia († 411/412) transportiert sie durch seine Übersetzung der Kirchengeschichte ins
lateinische Schrifttum.
Diese Ermahnung hat Eingang in die karolingischen Handschriften gefunden;
wir finden sie beispielsweise im Pal. lat. 822, der um 800 in Lorsch entstanden ist.
Der Schreiber setzte die adiuratio in insularer Majuskel unter das Explicit des fünften
Buches der Kirchengeschichte von Rufinus von Aquileia:
Ich beschwöre dich, der du diesen Band abschreiben möchtest, bei unserem Herrn Jesus Chris-
tus und bei seiner ruhmvollen Wiederkehr, bei der er kommt, um die Lebenden und Toten zu
richten, dass du, was du abgeschrieben hast, vergleichst und nach den Vorlagen korrigierst von
denen du abgeschrieben hast, und all dies mit Sorgfalt tust. Auch diese Art von Beschwörung
sollst du auf gleiche Weise kopieren und sie so in den Codex, den du abschreibst, übertragen.34
29 Der Bischof Cyprian von Toulon gilt als Hauptverfasser der Autorenkollektiv entstandenen Vita S.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Caesarii; vgl. Berschin 1986, 249. Zur Vita vgl. ebd., 249–258.
30 Holder 1906, 224 und Morin 1921–1928, 157–158.
31 Vgl. beispielsweise eine der kopialüberlieferten subscriptiones des Rusticus Diaconus zu seinen
redigierten Akten des Konzils von Chalcedon in Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 11611,
fol. 97r, hier distincti.
32 Wattenbach 31896, 332.
33 Hieronymus, De viris illustribus, ed. Ceresa-Gastaldo, c. 35, 5, 130.
34 Rom, BAV, Pal. lat. 822, fol. 88r: Adiuro te quicumque hos descripseris libros per dominum nostrum
Iesum Christum et gloriosum eius adventum in quo veniet iudicare vivos et mortuos, ut conferas quod
descripseris et emendes ad exemplaria ea de quibus transscripseris diligenter; et hoc adiurationis genus
similiter transscribas et transferas in eum codicem quem descripseris.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Subscriptiones in karolingischen Codices 31
Derselbe Irenäus verfasste auch noch eine Schrift über die Achtzahl. … Dieser Schrift hat er
eine sehr feinsinnige Bemerkung angefügt (subscriptionem satis eleganter adfixam), die ich für
würdig erachte, hier zu zitieren.35
35 Ebd., fol. 83r. Rufinus/Eusebius, Historia ecclesiastica, ed. Mommsen, lib. V, 20, 1–2, 481–483.
36 Bischoff 42009, 63, Anm. 28.
37 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Weiss. 91, fol. 159r.
38 Rom, BAV, Pal. lat. 202, fol. 6v: Peto sane, ut hanc epistolam seorsum quidem sed tamen ad caput
eorundem librorum iubeas anteponi. Ora pro me.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
32 Kirsten Wallenwein
1. Zum einen auf der Ebene der Skriptorien: Die Kopisten werden zu sorgfältiger
Abschrift aufgerufen; ist diese abgeschlossen, soll die Kopie mit der oder den Vor-
lagen, nach denen sie angefertigt wurde, verglichen werden.
2. Dies kann vom Autor oder aber anonym – unter oder ohne Berufung auf eine
Autorität – gefordert werden.
3. Der zitierte Augustinus-Brief zielt zusätzlich auf eine Authentifizierung ab. Die
Übernahme der Epistula 174 erbringt den Nachweis, dass es sich bei der jeweili-
gen Handschrift um eine vom Verfasser autorisierte Abschrift handelt.
Der Pal. lat. 202 gehört zu den vier ältesten – noch dazu fast gleichzeitigen – Text-
zeugen, die uns den Brief an Aurelius im Verbund mit De trinitate überliefern.39 Wie
Augustinus es erbeten hatte, wurde dem Codex das ursprüngliche Begleitschreiben
vorangestellt. Die Handschrift ist gleichfalls ein Zeuge dafür, dass auch zeitgenös-
sische Korrektoren in karolingischen Codices ihre Spuren hinterlassen. Auf fol. 175v
findet sich der mit Kreuz markierte Vermerk hucusque relegi. Die korrespondierende
Textstelle wurde ebenfalls mit einem Kreuz gekennzeichnet. Über 100 Seiten zuvor
hatte eine andere Hand am linken oberen Rand bereits usque hic notiert.40 Beide Ein-
träge bezeugen eine Durchsicht des Codex, die in mindestens zwei Schritten erfolgte.
Eine weitere Beobachtung lässt sich in der gleichen Handschrift machen: Nach
dem fünften Buch von Augustinus De trinitate wurde der Vermerk contulit, wenn
auch nicht vollständig, getilgt.41 Vermerke wie contuli („ich habe verglichen“) oder
emendavi („ich habe verbessert“) – mit oder ohne feliciter – attestieren ebenso wie
die ausführlicheren subscriptiones eine Kontrolle, die ursprünglich in den Skriptorien
der Spätantike stattgefunden hat. Über die Abschrift einer spätantiken Vorlage finden
auch sie bisweilen Eingang in spätere Handschriften. Im gerade erwähnten Beispiel
sah man den übernommenen contulit-Vermerk als überflüssig an und beschloss, ihn
zu entfernen.
Das Gleiche, nämlich die Tilgung des contuli, lässt sich an der Handschrift Cod.
2147 der Österreichischen Nationalbibliothek zeigen.42 Doch hat man in diesem Codex
die Vermerke auch einfach stehen lassen oder graphisch hervorgehoben, indem man
sie bisweilen eingerahmt oder umkreist hat.43
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
39 Die anderen drei sind Oxford, Bodleian Library, Laud. misc. 126 (saec. VIII med., Chelles; CLA
2II, *252), Cambrai, Bibliothèque municipale, Ms. 300 (282) (saec. VIII ex., Umgebung von Meaux;
CLA VI, 739) und Montecassino, Archivio e Biblioteca dell’Abbazia, Ms. 19 (saec. VIII/IX, Spanien;
CLA III, 373).
40 Lindsay 1896, 60.
41 Rom, BAV, Pal. lat. 202, fol. 75r.
42 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2147, fol. 209r.
43 So beispielsweise ebd., foll. 190v und 211v.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Subscriptiones in karolingischen Codices 33
Eine Kuriosität aus der Lorscher Klosterbibliothek soll am Ende dieses Beitrags
stehen:
Abb. 2: Rom, BAV, Pal. lat. 285, fol. 59r (Ausschnitt). © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
In einer Handschrift aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts findet sich nach dem
Ende des zweiten Buches von Bedas Hoheliedkommentar ein Zeichen, das durch
seine „bienenkorbähnliche Gestalt“ an ein Rekognitionszeichen erinnert, welches
sich im Eschatokoll von Urkunden findet und die Rekognitionszeile beschließt.44
In ihr wird der Kanzler, der überprüft (recognovit) und unterzeichnet hat (subscrip-
sit), genannt. Ursprünglich bestand dieses Zeichen selbst aus tironischen Noten, die
diesen Vorgang bezeichneten. Erst im Laufe der Zeit wurde die Herkunft des Zeichens
aus dem Wort subscripsi unkenntlich.45
In Tours vermerkte man im Frühmittelalter den Korrekturvorgang am Lagenende
mittels tironischer Noten und brachte so beispielsweise nach der Lagensignatur den
Vermerk requisitum oder requisitum est an.46 In einer Handschrift – Épinal, Biblio-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
44 In den Handschriften Paris, Bibliothèque nationale de France, Lat. 12161 (saec. VII/VIII) und
Nouv. acq. lat. 1597 (saec. VIII/IX) findet sich bisweilen am Ende eines Kapitels oder Abschnittes „a
curious flourish like a monogram of SS“, vgl. CLA V, 624 und 687.
45 Vgl. beispielsweise Worm 2004, v. a. 76, 143–152 und 159.
46 Vgl. hierzu CLA VI, XXVIII–XXVIIII und vor allem Bischoff 1966, 9–14, dem es nicht zuletzt durch
die „eigenartige Sitte der tironischen Kollationsvermerke“ (ebd., 13) gelang, eine Handschriftengrup-
pe zusammenführen. Die Vermerke finden sich in CLA V, 682, 683; VI, 762; VIII, 1157; IX, 1394; X, 1571,
1584. Nach Bischoff „wohl auch in London, B. M. Egerton 2831“, vgl. ebd., 10, Anm. 31. Im dazuge-
hörigen Eintrag CLA 2II, 196a werden zwar Notae Tironianae (foll. 19v, 56v, 91v) vermerkt, nicht aber
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
34 Kirsten Wallenwein
thèque municipale, Ms. 149 (68) (CLA VI, 762) – nennt sich zusätzlich der Korrek-
tor am Ende einiger Lagen in tironischen Noten, zum Beispiel nach Lage VIIII (fol.
70v) und XVII (fol. 134v). Die Herausgeber der CLA identifizieren ihn als „an abbot
Aricus who himself collated the manuscript and noted the fact in the familiar Tours
manner“ und datieren die Handschrift mit Hilfe eines kopialüberlieferten Auftrag-
vermerks „<A>ricus hunc librum scribere abba rogavit anno III regni Childirici regis.“
auf 744 / 74547. Nimmt man allerdings das dritte Regierungsjahr Childerichs II. (und
nicht Childerichs III.) nicht in Austrasien, sondern in Neustrien beziehungsweise im
Gesamtreich an, ergibt sich eine Datierung in das Jahr 675. Im gleichen Zeitraum ist
für Tours ein Abt namens Agyricus (Agiricus / Aegiricus) belegt.48 Dies und der paläo-
graphische Befund der ligaturenreichen Minuskel, die der Halbkursive nahesteht,
sprechen für eine frühere Datierung und erlauben die Identifizierung des Korrektors.
Bei unserem Beispiel lädt eine Handschrift der St. Galler Stiftsbibliothek zum
direkteren Vergleich ein: Im Codex 731 wurde vom Schreiber Wandalgarius ein Rekog-
nitionszeichen an das Ende seines Kolophons gesetzt.49 Weil Wandalgar das Zeichen
an dieser Stelle platzierte, ist von den Herausgebern der CLA angenommen worden,
dass er selbst wahrscheinlich Kanzleibeamter war.50 Vielleicht trifft das auch für den
Schreiber des Pal. lat. 285 zu.
Vermerke von Schreibern und Korrektoren lassen sich sowohl inhaltlich, als auch
begrifflich deutlich voneinander abgrenzen. Im Kolophon nennt sich der Schreiber,
in der subscriptio der Prüfer einer Handschrift. Subscriptiones beglaubigen die Durch-
in Verbindung mit dem Lagenende gebracht. Das Gegenteil ist bei der Anfang des 9. Jahrhunderts
entstandenen Handschrift CLA V, 528 der Fall: Hier nennt sich der Schreiber (wie die Herausgeber der
CLA vermuten) gleich viermal jeweils am Ende einer Lage nach deren Signatur in tironischen Noten
(Iacob auf foll. 52v, 60v, 68v, 76v). In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts finden sich die tironischen
Prüfvermerke auch in anderen französischen Skriptorien. Bischoff 1966, 10, Anm. 31.
47 Der Vermerk findet sich auf fol. 208v.
48 Vgl. die Auflistung der Äbte von St. Martin in Gallia christiana XIV, 159–160. Das von Papst Adeo-
datus II. (672–676) verliehene Privileg der Exemption „Aequitatis nos admonet“ nennt Aegiricus reli-
giosus presbyter et abbas monasterii S. Martini; ebd., instr. III, 5. Es wird hier um 674 datiert, vgl. auch
JE 2105 (1621). Zu Agyricus vgl. besonders die „Documents comptables“ aus Tours (ChLA XVIII, 659 I,
VI, VII, XII), die 1975 erstmals von Pierre Gasnault herausgegeben und von Jean Vezin paläographisch
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
beschrieben wurden.
49 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 731, p. 342: Expleto libro tertio die veneris kalendas novembris
anno XXVI rigni domno nostro Carolo regi. Deus domine, tu ho [sic] qui legis hunc librum istum vel hanc
pagina [sic] ora in pro [sic] Vandalgario scriptore, quia nimium peccabilis sum. Vandalgarius. Vgl. auch
Colophons V, 18623. Während im Kolophon die Fertigstellung der Handschrift auf das Jahr 793 datiert
wird, ist ihre Lokalisierung bis heute umstritten. Bischoff verortet die Handschrift paläographisch
nach Burgund, möglicherweise in die Westschweiz. Bischoff 1981, 19. Wegen der Namensgleichheit
mit einem im Reichenauer Verbrüderungsbuch auftauchenden Wandalgar sind zunächst Besançon
und zuletzt Lyon angenommen worden. Schott 1993, 305.
50 CLA VII, 950: „where he adds the recognition sign in the manner of notaries“ und weiter „Wandal-
garius, presumably a notary, to judge by the recognition sign“.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Subscriptiones in karolingischen Codices 35
sicht einer Abschrift; bisweilen wird in ihnen ein mehrteiliger Korrekturprozess the-
matisiert. Originalüberlieferte subscriptiones bieten einerseits einen Anhaltspunkt
für Entstehungsort und -zeit ihrer Überlieferungsträger, andererseits können sie
als paläographisches Vergleichsmaterial zur Datierung oder Lokalisierung anderer
Handschriften dienen. Subscriptiones enthalten Informationen, die sowohl für die
Personen- als auch Kulturgeschichte aufschlussreich sein können. Die mikroskopi-
schen Textzeugen überliefern biographische Angaben zu den in ihnen genannten
Personen, die oftmals nur in dieser Form erhalten sind. Durch ihre Datierungen oder
Lokalisierungen sind subscriptiones selbst in Kopialüberlieferung unverzichtbare
Zeugen für die Rezeptionsgeschichte eines Textes. Dessen Überlieferungsprofil lässt
sich durch sie skizzieren, durch sie erhält man zum Teil direkten, zum Teil indirekten
Zugang in die Skriptorien der Spätantike und des Frühmittelalters. Schriftlich festge-
haltene Textkontrollen sind ein Reservoir ersten Ranges bei der Rekonstruktion der
Überlieferungsgeschichte. Subscriptiones illustrieren im Kleinen den Wissenstrans-
fer, der am Übergang von der Spätantike ins Frühmittelalter stattfand. Ihre Über-
nahme in karolingische Abschriften verdeutlicht, auf welche Vorlagen noch in dieser
Zeit zurückgegriffen werden konnte.
Quellen
Caesarius von Arles, Statuta sanctarum virginum, ed. Adalbert de Vogüé/Joël Courreau, Sources
chrétiennes 345, Paris 1988, 170–272.
Hieronymus, De viris illustribus, Biblioteca patristica 12, ed. Aldo Ceresa-Gastaldo, Florenz 1988.
Rufinus/Eusebius, Historia ecclesiastica, Eusebius Werke 2,1/Die griechischen christlichen Schrift-
steller der ersten drei Jahrhunderte 9,1, ed. Theodor Mommsen, Leipzig 1903.
Literatur
Berschin (1986): Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 1: Von
der Passio Perpetuae zu den Dialogi Gregors des Großen, Quellen und Untersuchungen zur
lateinischen Philologie des Mittelalters 8, Stuttgart.
Bick (1906): Josef Bick, Horazkritik seit 1880, Leipzig/Berlin.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Bischoff (1966): Bernhard Bischoff, „Ein wiedergefundener Papyrus und die ältesten Handschriften
der Schule von Tours“, in: ders., Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur
Schriftkunde und Literaturgeschichte, Bd. 1, Stuttgart, 6–16.
Bischoff (1981): Bernhard Bischoff, „Panorama der Handschriftenüberlieferung aus der Zeit Karls
des Großen“, in: ders., Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und
Literaturgeschichte, Bd. 3, Stuttgart, 5–38.
Bischoff (²1989): Bernhard Bischoff, Die Abtei Lorsch im Spiegel ihrer Handschriften, Geschichts-
blätter Kreis Bergstrasse, Sonderband 10, Lorsch.
Bischoff (42009): Bernhard Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendlän-
dischen Mittelalters, Grundlagen der Germanistik 24, Berlin.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
36 Kirsten Wallenwein
Cameron (1984): Alan Cameron, „Junior consuls“, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 56,
159–172.
Cameron (1986): Alan Cameron, „Martianus and his first editor“, Classical Philology 81, 320–328.
Cameron (2011): Alan Cameron, The last pagans of Rome, Oxford/New York.
ChLA: Albert Bruckner/Robert Marichal/Hartmut Atsma u.a. (Hgg.), Chartae Latinae Antiquiores, Bd.
1 ff., Olten/Lausanne/Dietikon-Zürich 1954 ff.
CLA: Elias A. Lowe[/Bernhard Bischoff] (Hgg.), Codices Latini Antiquiores. A palaeographical guide
to Latin manuscripts prior to the ninth century, 11 Bde. und Suppl., Oxford 1934–1972 und
Bernhard Bischoff/Virginia Brown (Hgg.), „Addenda to Codices Latini Antiquiores [I]“, Medieval
Studies 47, 1985, 317–366 und Bernhard Bischoff/Virginia Brown/James J. John (Hgg.),
„Addenda to Codices Latini Antiquiores II“, Mediaeval Studies 54, 1992, 286–307.
CLRE: Roger S. Bagnall/Alan Cameron/Seth R. Schwartz u.a. (Hgg.), Consuls of the Later Roman
Empire, Philological monographs of the American Philological Association 36, Atlanta 1987.
Colophons: Bénédictins du Bouveret (Hgg.), Colophons de manuscrits occidentaux des origines au
XVIe siècle, Spicilegii Friburgensis subsidia 2–7, 6 Bde., Fribourg 1965–1982.
Corssen (1909): Peter Corssen, „Die Subskriptionen des Bischofs Victor in dem Codex Fuldensis“,
Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und Kunde des Urchristentums 10, 175–177.
Gallia christiana: Barthélemy Hauréau (Hg.), Gallia christiana in provincias ecclesiasticas distributa,
Bd. 14: Ubi de provincia Turonensi agitur, Paris 1856, ND Westmead 1970.
Gasnault/Vezin (1975): Pierre Gasnault/Jean Vezin (Hgg.), Documents comptables de Saint-Martin de
Tours à l‘époque mérovingienne, Collection de documents inédits sur l‘histoire de France, Paris.
Häse (2002): Angelika Häse, Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus Kloster Lorsch. Einleitung,
Edition und Kommentar, Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 42, Wiesbaden.
Hausmann (1992): Regina Hausmann, Die theologischen Handschriften der Hessischen Landesbi-
bliothek Fulda bis zum Jahr 1600. Codices Bonifatiani 1–3. Aa 1–145a, Die Handschriften der
Hessischen Landesbibliothek Fulda 1, Wiesbaden.
Holder (1906): Alfred Holder, Die Reichenauer Handschriften, Bd. 1: Die Pergamenthandschriften,
Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe 5, Leipzig, ND Wiesbaden 1970.
JE: Philipp Jaffé (Hg.), Regesta pontificum Romanorum ab condita ecclesia ad annum post Christum
natum MCXCVIII, Bd. 1, Berlin 1851, 2. Aufl. bearb. von Samuel Löwenfeld/Ferdinand Kalten-
brunner/Paul Ewald, Leipzig 1885, ND Graz 1956.
Jahn (1851): Otto Jahn, „Über die Subscriptionen in den Handschriften römischer Classiker“, Berichte
über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig.
Philologisch-historische Classe 3, 327–383.
Keller (1879): Otto Keller, Epilegomena zu Horaz. Erster Theil, Leipzig.
Keller (²1899): Otto Keller (Hg.), Q. Horati Flacci Opera, Bd. 1: Carminum libri IIII. Epodon liber.
Carmen saeculare, Leipzig 1864, Leipzig.
Leonardi (1959): Claudio Leonardi, „I codici di Marziano Capella“, Aevum 33, 443–489.
Leonardi (1960): Claudio Leonardi, „I codici di Marziano Capella“, Aevum 34, 1–99 und 411–524.
Licht (2006): Tino Licht, „Horazüberlieferung im Frühmittelalter“, in: Matthias Eitelmann/Nadyne
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Subscriptiones in karolingischen Codices 37
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Carmen Cardelle de Hartmann
Bücher, Götter und Leser:
Theodulfs Carmen 45
Wenn wir über das Wissen einer Epoche sprechen, meinen wir eine abstrakte Größe,
nämlich die Summe aller Kenntnisse, die in dieser Zeit verfügbar waren und rezi-
piert wurden. Allerdings ist uns bewusst, dass der Zugang zum Wissen sich an jedem
Ort und in jeder sozialen Gruppe unterschiedlich gestalten kann und dass es erst in
jedem einzelnen Rezipienten zum konkreten Wissen wird und so die Möglichkeit der
Innovation entfaltet. In der karolingischen Zeit konzentrierten sich die Literaturre-
zeption und die Wissensvermittlung auf einige Orte: den Hof, bestimmte Bischofskir-
chen und einige Klöster, in denen Bibliotheken unterhalten wurden. Die Verbindun-
gen zwischen diesen Zentren ermöglichten die Zirkulation von Büchern und somit
die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, an einem einzelnen Ort ein breites Angebot
an Literatur zu finden. Die Bestände der Bibliotheken wurden aber von ihren Benüt-
zern nicht in gleichem Maße rezipiert: Manches Werk war lange verfügbar, ohne dass
man danach gegriffen hätte oder der Schritt zu einer praktischen Umsetzung oder zu
einem Weiterdenken der dort vermittelten Ideen getan worden wäre. Die Auswahl der
gelesenen Texte war von den Prioritäten der Zeit beeinflusst, von der Sorge um einen
reinen Glauben und um eine reibungslose Kommunikation innerhalb des Reiches.
Ein einzelner Leser konnte aber diese Auswahl erweitern und wenig beachtete Texte
berücksichtigen oder gar zu einer häufigen Lektüre machen. In diesem Aufsatz möchte
ich ein Gedicht Theodulfs von Orléans interpretieren, in dem der Dichter seine bevor-
zugten Lektüren vorstellt und dabei auch Vergil und Ovid, heidnische Autoren, die
in seiner Zeit nur von wenigen gelesen wurden, präsentiert. Dies führt ihn zu einer
Verteidigung der Allegorese, die eine Überlegung über die Rolle des Lesers und die
besondere Wahrheit der Dichtung impliziert.
Das Carmen 451 Theodulfs von Orléans ist auf den ersten Blick ein Doppelge-
dicht mit zwei unterschiedlichen Themen, nämlich die Bücher, die der Dichter früher
gelesen hatte, (vv. 1–20) und die allegorische Interpretation von Dichtung (vv. 21–64).
Beide Teile scheinen nur lose zusammenzuhängen; der zweite Teil wirkt außerdem
wenig kohärent, denn darin werden Beispiele von verschiedenen Spielarten allegori-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
1 Theodulf, Carmina, ed. Dümmler, 543–544. Text von Dümmler abgedruckt in: Godman 1985, 168–171
(mit englischer Übersetzung), und Klopsch 1985, 114–121 (mit deutscher Übersetzung und Kommentar
471–473), s. auch Anhang.
2 Genaue Diskussion der verschiedenen Modi der Allegorese, die im Gedicht gezeigt werden, bei Bret-
zigheimer 2004, 200.
© 2015, de Hartmann.
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
40 Carmen Cardelle de Hartmann
Seznec wies auf dieses Gedicht als Beispiel einer Verteidigung der Allegorese hin3.
In einer allzu hastigen Lektüre interpretierte Nees es hingegen als eine Warnung vor
der Lektüre heidnischer Autoren.4 Wenig später las Chance c. 45 wiederum als eine
Verteidigung der Klassikerlektüre, wobei sie auch darin eine Dämonisierung des
Mythos zu entdecken glaubte: Der Leser – der von Herkules symbolisiert wird – geht
durch die Hölle der heidnischen Götter (Amor), um dank seiner moralischen Quali-
täten mit Aeneas zu entkommen.5 Auf Nees antwortete Staubach und zeigte, „dass
Theodulf die Allegorese als ein Instrument der Rehabilitierung und Aneignung des
Mythos schätzt und empfiehlt“6 und dass das ganze Gedicht als Verteidigung der alle-
gorischen Lektüre, die von einem der angeführten Beispiele, Proteus, symbolisiert
wird, verstanden werden soll.7 Einige wertvolle Hinweise für die Interpretation des
Gedichtes hat Bretzigheimer 2004 gegeben, die Staubachs Ansatz folgt. In derselben
Linie soll hier die Einheitlichkeit des Gedichtes gezeigt werden, denn sein eigentli-
ches Thema ist die Lektüre, die als ein Auslegungsprozess durch den Leser dargestellt
wird; nicht nur Proteus, sondern alle angeführten Beispiele beziehen sich darauf.
Der Titel De libros quos legere solebam et qualiter fabulae poetarum mystice per-
tractentur kündigt ein Gedicht mit zwei Themen an: die Lektüren des Dichters und die
allegorische Interpretation von Dichtung, oder genauer, von Erdichtungen. Ob dieser
Titel auf Theodulf zurückgeht, ist allerdings ungewiss. Zwei Codices mit einer Samm-
lung von Theodulfs Gedichten waren in der Frühen Neuzeit bekannt und wurden
von Sirmond und Mabillon ediert beziehungsweise teilediert, sind aber heute ver-
schollen.8 Für einige Gedichte Theodulfs gibt es eine Einzelüberlieferung, Carmen 45
zählt jedoch nicht zu ihnen: Es ist für uns nur in Sirmonds Edition aus dem Jahr 1646
greifbar, die von Dümmler im ersten Band der Poetae so gut wie unverändert nachge-
druckt wurde. An der Echtheit des Gedichtes besteht allerdings kein Zweifel. Schaller
fand in seiner sorgfältigen Untersuchung von Theodulfs Gedichten außerdem keinen
Anlass, den Text Dümmlers in irgendeiner Form zu verändern.9
der ‚Lüge’ zur ‚Wahrheit’ und die ethische Wertigkeit der jeweils durch ihn bezeichneten Tugenden
oder Laster, also des Signifikats“. Staubach 1994, 389.
5 Chance 1994. Trotz guter Beobachtungen krankt ihre Interpretation an einer wenig sorgfältigen Lek-
türe (z.B. listet sie unter den von Theodulf in diesem Gedicht genannten Dichter auch Horaz, Lukan
und Cicero auf) und an der mangelnden Differenzierung zwischen Isidors und Theodulfs Einstellung
gegenüber dem Mythos.
6 Staubach 1994, 389.
7 Dazu auch Staubach 1998, 683–685.
8 Kurze Darstellung der Textüberlieferung bei Schaller/Brommer 1995, 766, ausführlicher bei Schaller
1962, 17–19.
9 Schaller 1962, 22.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45 41
Bereits der erste Vers macht klar, dass das lesende Ich in seiner Auseinanderset-
zung mit den Büchern im Mittelpunkt des Gedichtes steht:
Er beschäftigte sich häufig mit ihnen, worauf nicht nur suetus und frequenter im
ersten Vers hinweisen, sondern auch die nachdrückliche Wiederholung von saepe
am Anfang und Ende des dritten Verses. In v. 2 fügt Theodulf hinzu, dass diese Arbeit
(labor) Tag und Nacht in Anspruch genommen habe. Daraufhin werden die gelese-
nen Autoren spezifiziert. Als erste werden Gregor der Große und Augustinus genannt,
gefolgt von Hieronymus, Ambrosius, Isidor, Johannes Chrysostomus, Cyprianus
sowie andere, die der Dichter unerwähnt lässt. In einem weiteren Distichon (vv. 9–10)
erwähnt er heidnische Gelehrte aus verschiedenen Wissensgebieten, ohne sie jedoch
namentlich zu nennen. Es bleibt in der Schwebe, wer diese Gelehrten waren. Der
Leser kann an die Fachschriften denken, die in vorkarolingischer Zeit als fast einzige
antike Schriften und noch in karolingischer Zeit eifrig abgeschrieben wurden (Schrif-
ten über die Artes, über Medizin oder Recht).10 Deren Studium galt nach Augustinus
und Cassiodor als nützlich für die Auslegung der Bibel und war deshalb unumstrit-
ten. Es ließe sich aber auch an andere Texte denken, wie zum Beispiel historiographi-
sche Schriften.11 Anschließend geht Theodulf zu den Dichtern über, von denen zuerst
die Christen aufgezählt werden: Paulinus,12 Arator, Avitus, Fortunatus, Juvencus
und schließlich Prudentius, den er als seinen Verwandten (parens) bezeichnet. Die
Liste der Dichter wird von zwei Grammatikern unterbrochen, Donatus und seinem
Kommentator Pompeius13, und endet mit zwei heidnischen Dichtern, Vergil und dem
gesprächigen Ovid (Naso loquax).
Carmen 45 gehört zu den Gedichten, die man zur Gewinnung von Informatio-
nen über Theodulfs Leben herangezogen hat. Das Ich, das in dem Gedicht spricht,
hat einiges mit dem historischen Theodulf gemeinsam: Es erinnert sich an eine Zeit
torik) an (Godman 1982, lxxi–lxxii und 122–127, kritische Diskussion dieser Verse mit Berücksichti-
gung anderer Quellen in Bullough 2004, 252–293). Zu den antiken Texten, die im 7. und 8. Jahrhundert
kopiert wurden, siehe Holtz 1998, 1095–1099.
12 Mit Paulinus ist Paulinus von Nola gemeint, dessen Werk weit verbreitet war (so identifiziert von
Godman 1985, p. 168, Anm. zu vv. 13–14, und Klopsch 1985, 472). Die Werke von Paulinus von Pé-
rigueux und Paulinus von Pella waren weniger verbreitet und in mittelalterlichen Bibliothekskatalo-
gen häufig für Werke des Paulinus von Nola gehalten.
13 Bei Pompeius ließe sich zwar an die Epitome des Pompeius Trogo (wie im Fall von Alkuin, Bull-
ough 2004, 259–260 und 283) denken, viel wahrscheinlicher ist es im Zusammenhang von Theodulfs
Gedicht, dass es sich um den Grammatiker Pompeius, der die Ars maior des Donatus kommentierte,
handelt (so identifiziert von Godman, 1985, 169, Anm. zu v. 17, und Klopsch 1985, 472).
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
42 Carmen Cardelle de Hartmann
der intensiven Lektüre, die nun abgeschlossen ist, weil es wohl andere, dringlichere
Dinge beschäftigen; es nennt außerdem Autoren, die Theodulf häufig zitiert,14 als
seine Lektüre und bezeichnet Prudentius, den spätantiken Dichter aus der provin-
cia Tarraconensis, als noster et ipse parens, was eine Herkunft aus dem Gebiet dieser
römischen Provinz nahelegt, die für den Westgoten Theodulf möglich ist. Ann
Freeman hat vermutet, dass Theodulf aus Caesaraugusta stammte, woraus etliche
Christen in den Jahren 778–782 ins Frankenreich flohen.15 In Caesaraugusta dürfte es
zu dieser Zeit eine gut bestückte Bibliothek gegeben haben, denn dort hatte der bele-
sene Braulio etwa 150 Jahre früher gearbeitet. Auf diese Bibliothek, so Freeman, habe
sich Theodulf im Carmen 45 bezogen.16 Freemans Vorschlag zu Theodulfs Herkunft ist
gut argumentiert und plausibel. Für die Interpretation des Gedichtes ist aber wichtig,
dass darin keinesfalls eine real existierende Bibliothek angedeutet wird: Es gibt keine
deutlichen Hinweise auf einen konkreten Ort, genauso wenig auf die historische
Zeit, in der der Dichter sich mit diesen Autoren beschäftigte. Eine Lektüre, die sich
über viele Jahre und verschiedene Orte erstreckte, wäre durchaus mit dem Gedicht
vereinbar. Die Schriften, die darin vorkommen, sind erinnerte Schriften, von denen
nur in der Vergangenheitsform gesprochen wird; da sie oft gelesen wurden, können
wir weiter sagen, dass sie in doppeltem Sinne im Gedächtnis des Dichters anwesend
sind, nämlich als Erinnerung an die Lektüre und als verinnerlichte Schriften, als eine
Art innere Bibliothek. Der Dichter hat nicht nur die Werke dieser Autoren gelesen,
wie der Hinweis auf andere, nicht genannte Autoren, sowohl christliche (vv. 7–8)
als auch heidnische (vv. 9–10) zeigt, aber sie werden vom ihm als besonders wichtig
erachtet. Einige dieser Autoren überraschen uns nicht: Die Kirchenväter, der Märtyrer
Cyprian und die spätantiken christlichen Dichter wurden zu Theodulfs Zeit häufig
abgeschrieben und werden in Bibliothekskatalogen aus der Karolingerzeit erwähnt.17
Die zwei Grammatiker sind an sich nicht befremdlich, eher schon ihre Positionierung
im Gedicht, zwischen den christlichen und den heidnischen Dichtern.18 Sie weisen
14 Die Zitate aus älterer Dichtung in Theodulfs Gedichten werden in der Edition Dümmler 1881 nach-
gewiesen, Nachträge in MGH Poetae 2, ed. Dümmler, 694–697, Manitius 1886, 561–563 und Schaller
1962. Der einzige Dichter, der von Theodulf häufig zitiert und in Carmen 45 nicht genannt wird, ist
Dracontius.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45 43
auf eine Zeit der Ausbildung hin und daher suggerieren dem Leser, dass die dar-
auffolgenden heidnischen Dichter wegen ihrer Sprache gelesen wurden. In einem
anderen Gedicht (c. 44, Cur modo carmina non scribat) wird die Lektüre antik-heid-
nischer Autoren mit diesem Argument, das hier nur angedeutet wird, gerechtfertigt.
Die Erwähnung Vergils ist in diesem Zusammenhang zu erwarten: Er wurde ja häufig
von den antiken Grammatikern, die in karolingischer Zeit zur Erlernung des Lateins
herangezogen wurden, zitiert und gehört überhaupt zu den römischen Autoren, die
im 8. Jahrhundert gelesen und abgeschrieben wurden.19 Ovid hingegen hat keinen so
sicheren Status. Einerseits war die Beschäftigung mit seinen Werken dadurch sank-
tioniert, dass viele christliche Autoren bis hin zu Venantius Fortunatus ihn häufig
zitierten, wohl, wie Klopsch vermutet, wegen seiner rhetorischen Qualitäten. Ande-
rerseits sind es in der Hauptsache nur zwei Werke aus Ovids umfangreichen Oeuvre,
die herangezogen wurden, nämlich die Fasti und die Metamorphosen.20 Für die karo-
lingische Zeit schätzt Munk Olsen wegen der wenigen erhaltenen Handschriften und
der seltenen Erwähnungen in Bibliothekskatalogen, dass Ovid kaum in den Schulen
gelesen wurde.21 Obwohl Lendinara 1998 dieses Bild durch den Fund zweier Glossare
zum ersten Buch der Metamorphosen etwas korrigiert hat, kann man weiterhin davon
ausgehen, dass die Beschäftigung mit Ovids Werken weitaus seltener als die Lektüre
Vergils war.
In den zwei folgenden Distichen wird die Lektüre heidnischer Autoren mit dem
Argument gerechtfertigt, dass auch in ihren Werken Wahres gefunden werden könne.
Wir lesen sie genau, denn der Text ist nicht frei von Ambiguitäten.
Die Verse 19 und 20 lauten:
Das nächste Distichon scheint vorerst eine Korrektur daran anzubringen. Während v.
20 Wahres und Falsches in einem einzigen Text verortet, trennt Theodulf im nächsten
Vers das Falsche, das die Dichter vorbringen, vom Wahren, was die sophi schreiben:
Falsa poetarum stilus affert, vera sophorum. Im nächsten Vers (v. 22) sagt Theodulf:
falsa horum in verum vertere saepe solent. Klopsch übersetzt beide Verse: „Irrtum trägt
der Griffel der Dichter auf, Wahres der der Denker, und sie wenden die Irrtümer jener
oft zur Wahrheit“. Vers 22 macht wieder klar, dass Wahres und Falsches im selben
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Text zu finden sind, doch geht beides nicht gleichermaßen auf die Dichter zurück: Die
Dichter fabulieren, die sophi hingegen sind in der Lage, in diesen Erdichtungen das
Wahre zu finden. Wen hat nun Theodulf mit sophi gemeint? Es könnten die heidni-
19 Holtz 1985.
20 Klopsch 1986, 99-100.
21 Munk Olsen 1987, passim, und 1992, 198 (= 1995, 36).
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
44 Carmen Cardelle de Hartmann
schen Kommentatoren sein, die eine allegorische Interpretation der Dichter aufzeigen
(z. B. Servius und Macrobius, die zu Theodulfs Zeit bekannt waren) oder auch allge-
mein die Philosophen, die Mythen interpretierten (zum Beispiel Varro, den Augusti-
nus in De civitate Dei in diesem Zusammenhang erwähnt).22 Die Vorstellung, dass die
Philosophen das Wahre im Werk der Dichter finden, hat ihre Wurzeln in der Antike,
sie wurde allerdings von den christlichen Apologeten ins Negative gewendet: Die
Interpretation der Philosophen finde in den Erdichtungen eine Wahrheit, die in ihnen
gar nicht angelegt sei; sie sei deshalb auch eine Lüge und diene nur dazu, die Mythen
zu rechtfertigen.23 Diese Rigorosität wurde später abgemildert, nachdem das Heiden-
tum keine reale Gefahr mehr darstellte, so dass ein christlicher Autor wie Fulgentius
Mythographus allegorische Interpretationen mit Hinweis auf die Philosophen weiter
tradieren konnte.24 Wie mir scheint, nimmt Theodulf hier indirekt Stellung in dieser
Diskussion. Die sophi, mit denen wohl allgemein die verständigen Leser gemeint sind,
finden durchaus eine Wahrheit hinter den Lügen. Die allegorischen Interpretationen,
die er im Folgenden als Beispiele vorbringt, zeigen ferner, wie diese verständige
Lektüre vorgehen muss.
Die drei ersten Beispiele für versteckte Wahrheiten, die Theodulf vorbringt –
Proteus, Virgo (das Sternbild, das Dike oder Astraea darstellt) sowie Herkules und
Cacus – geben die Schlüssel zu einer weisen Lektüre. Das erste Beispiel, Proteus,
ist Vergil entnommen (Georgica 4, 387–414), das zweite und dritte, Vergil oder Ovid
(Virgo: Vergil, Eclogae 4, 6; Ovid, Metamorphoses 1, 149–150; Herkules: Vergil, Aeneis
8, 184–272, Ovid, Fasti 1, 543–586).25 Proteus, sagt Theodulf, stelle die Wahrheit dar,
die sich unter tausend Lügen verbirgt, aber ihre Gestalt dann zeigen muss, wenn man
sie fest im Griff hält.26 Die Jungfrau repräsentiere den Gerechten, den der Ungerechte
nicht zu besudeln vermag. Bei Herkules und Cacus stellt sich ein kleines Interpreta-
tionsproblem ein. Vers 29 lautet: Gressibus it furum fallentum insania versis, Klopsch
übersetzt „Mit den umgedrehten Füßen trügerischer Diebe schreitet die Unvernunft“.
Die Übersetzung ist plausibel, trotzdem möchte ich eine andere vorschlagen. Wenn
22 Zur Diskussion der Mythen-Allegorie bei Varro siehe Pépin 1976, 236–307; zu seiner Verwendung
durch Augustinus in De civitate Dei, Pépin 1976, 280–289.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45 45
man den Vers vorträgt, lädt die Zäsur dazu ein, fallentum zu insania zu beziehen:
„Mit den umgedrehten Schritten der Diebe schreitet die Unvernunft der Lügner“.
Bretzigheimer hat gezeigt, dass mit Proteus und Cacus zwei verschiedene Formen
der Lüge aufgezeigt werden: Proteus stellt einen unschädlichen Betrug dar, hinter
dem eine Wahrheit steckt; Cacus hingegen den böswilligen.27 Aber auch böswillige
Lügner können besiegt werden, wie Theodulf vv. 31–32 sagt: Die Geisteskraft vermag
sie bloßzustellen, so dass ihre Bosheit offensichtlich wird. Staubach hat als erster
darauf hingewiesen, dass Proteus für eine die Allegorie aufdeckende Lektüre steht:
„Mit der Gestalt des Proteus hat Theodulf sogar – wie es scheint – eine durch die
Tradition nicht vorgegebene neue Deutung, nämlich gleichsam eine Allegorie der
Allegorese kreiert“.28 Meines Erachtens gibt Theodulf nicht nur mit Proteus, sondern
mit allen drei Beispielen Anweisungen für die korrekte Lektüre: Der christliche Leser,
der sich heidnischen Texten zuwendet, soll in der Lage sein, mit seinem Geist die
verborgene Wahrheit zu erfassen, ohne sich von den oberflächlichen Lügen beirren
zu lassen; moralisch kann er nicht von diesen Erdichtungen besudelt werden, wenn
er ein Gerechter ist; ferner soll er die rein lügnerischen Erfindungen als solche offen-
legen können.29
Es folgen zwei Beispiele, welche die Ergebnisse einer die Wahrheit aufdeckenden
Lektüre zeigen: der Gott Amor und die zwei Tore der Träume. Letzteres bezieht sich
erneut auf Vergil (Aeneis 6, 893–896). Die Deutung des Gottes Amor wird von den
Beispielen aus Vergil eingeschlossen. Vergil war der heidnische Autor, der bereits als
Lektüre akzeptiert war. Amor hingegen verweist schon mit seinem Namen auf Ovids
Amores, die Theodulf kannte und in seinen Gedichten mehrmals zitiert. Die morali-
sche Interpretation von Amor soll nahelegen, dass es möglich ist, auch Ovids Amores
einer moralischen Lektüre zu unterziehen.
Die moralische Deutung von Amor konnte Theodulf sowohl bei Servius (Commen-
tarius in Vergilii Aeneida I, 663) als auch bei Isidor (Etymologiae 8, 11, 80) in ihren
27 Bretzigheimer 2004, 201–203. Sie weist in diesem Zusammenhang auf Augustins Unterscheidung
zwischen fallax und mendax: ... omnis fallax appetit fallere, non autem omnis vult fallere qui mentitur:
nam et mimi et comoediae et multa poemata mendaciorum plena sunt, delectandi potius quam fallendi
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
voluntate, et omnes fere, qui iocantur, mentiuntur (Soliloquia 2, 9, 16, zitiert in Bretzigheimer 2004, 203,
Anm. 60). Es ließe sich auch an Macrobius denken, der in seinem Commentum in somnium Scipio-
nis I,2,7-21 zwischen rein lügnerischen Mythen und Mythen, die eine Wahrheit verstecken, unterschei-
det (dazu Pépin 1976, 210–214).
28 Staubach 1998, 684.
29 Astraea als Allegorie des Gerechten ist naheliegend, da sie die Gerechtigkeit darstellt. Hercules
wurde von Fulgentius Mythographus als die virtus interpretiert (im zweiten Buch der Mitologiae, c.
2–4). Vis mentis ist jedoch präziser und hat einen Bezug zum intellektuellen Vermögen, nicht zur
moralischen Qualität. In dieser Deutung sieht Bretzigheimer 2004, 203, Anm. 65 den Einfluss von Ser-
vius, Commentarius in Vergilii Aeneida, VI, 395: Hercules a prudentioribus mente magis quam corpore
fortis inducitur. Servius, Commentarius II, Thilo/Hagen, 60; Jeunet-Mancy 2012, 104.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
46 Carmen Cardelle de Hartmann
Grundzügen finden, er entwickelt sie allerdings weiter.30 Theodulf scheint hier vor
allem Isidor gefolgt zu sein, denn sein Text steht demjenigen Isidors näher.31 Es ist auf-
schlussreich zu sehen, inwieweit sich die Deutung des Cupido und der heidnischen
Götter allgemein zwischen Isidor und Theodulf verschoben hat. Isidor gesteht den
Dichtern in einem anderen Kapitel desselben Buches (Etymologiae 8, 7, 10) zu, auch
Wahres zu vermitteln: Officium autem poetae in eo est ut ea, quae vere gesta sunt, in
alias species obliquis figurationibus cum decore aliquo conversa transducant.32 Isidor
scheint sich hier vor allem auf die poetische Wiedergabe von res gestae in der Epik
zu beziehen, was die anschließende Nennung von Lukan, der auf Fiktives verzichte
und deshalb als historicus zu gelten habe, bestätigt. In dem Kapitel, in dem Isidor
Amor behandelt (Etymologiae 8, 11 über die heidnischen Götter), weht hingegen ein
Geist des Misstrauens gegen die Dichter.33 Isidor lehnt sich eng an Augustinus in De
civitate Dei an34 und interpretiert die Götter euhemeristisch als Menschen, die wegen
ihrer herausragenden Qualitäten verehrt wurden. Die Dichter sind an deren Vergött-
lichung mitschuldig.35 So in Etymologiae 8, 11, 2: In quorum etiam laudibus accesse-
runt et poetae, et conpositis carminibus in caelum eos sustulerunt.36 Eine Schuld trifft
auch die Bildhauer, die Statuen dieser Menschen bildeten. Die Teufel profitierten von
der Vorarbeit der menschlichen Künstler und bemächtigten sich dieser Statuen, um
die Menschen zu täuschen und sie zu ihrer Anbetung und Verehrung zu bewegen.
Die Aufdeckung philosophischer Wahrheiten in den Mythen sieht Isidor – hier auch
Augustinus folgend – ebenfalls als Täuschung, die eine nicht existierende Wahrheit
in reinen Lügengeschichten finden will. So in Etymologiae 8, 11, 29:
30 Auf Isidor wies Dümmler hin, auf Servius Staubach 1998, 684, Anm. 34. Staubach erwähnt in
diesem Zusammenhang auch Augustinus, Contra Faustum 20,9, darin ist jedoch eine viel knappere
Anspielung.
31 Isidor erklärt die fax, Servius nicht. Außerdem sagt Isidor wie Theodulf, dass Cupido als Kind dar-
gestellt wird, weil er unvernünftig sei; Servius erklärt dies mit der stockenden Sprache der Liebende
... item quia imperfectus est in amantibus sermo, sicut in puero, ut incipit effari mediaque in voce resistit.
Servius, Commentarius I, Thilo/Hagen, 190.
32 Übersetzung: „Die Aufgabe des Dichters besteht darin, das, was wirklich geschehen ist, durch
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45 47
Quaedam autem nomina deorum suorum gentiles per vanas fabulas ad rationes physicas conan-
tur traducere, eaque in causis elementorum conposita esse interpretantur. Sed hoc a poetis totum
fictum est, ut deos suos ornarent aliquibus figuris, quos perditos ac dedecoris infamia plenos fuisse
historiae confitentur.37
Nach dieser Behauptung findet sich eine ganze Reihe von Interpretationen, welche
die Eigenschaften der einzelnen Götter auf die Eigenschaften der Naturphänomene,
Vorgänge oder menschlichen Tätigkeiten, die sie darstellen sollen, zurückführen.
Isidor hat aber ausgeführt, dass diese Erklärungen sekundär sind: Die Götter waren
nur Menschen und werden wegen der Mitwirkung der Teufel verehrt. Im Fall von Juno
unterscheidet er sogar zwischen einer philosophischen Interpretation – aufgrund der
Etymologie ihres Namens – und einer poetischen, in der die Geschwister und Gatten
Jupiter und Juno jeweils die Elemente Feuer und Luft (Jupiter) sowie Erde und Wasser
(Juno) darstellen (Etymologiae 8, 11, 69). Im Fall von Amor stellt der erste Satz klar,
dass er nicht einmal ein verdorbener Mensch gewesen ist, sondern der Teufel der Flei-
scheslust selbst:
Cupidinem vocatum ferunt propter amorem. Est enim daemon fornicationis. Qui ideo alatus pin-
gitur, quia nihil amantibus levius, nihil mutabilius invenitur. Puer pingitur, quia stultus est et inra-
tionabilis amor. Sagittam et facem tenere fingitur. Sagittam quia amor cor vulnerat; facem, quia
inflammat. (Etymologiae 8, 11, 80).38
Theodulf kehrt die Reihenfolge um: Er legt zuerst die Attribute Amors dar und iden-
tifiziert ihn erst dann mit dem Teufel der Unzucht. Das letzte Distichon (vv. 51–52)
legt sogar nahe, dass die Liebe kein echter Teufel ist, sondern dass sie die Macht, die
Wirkung und die Gewohnheiten eines solchen hat. Während für Isidor der heidnische
Gott Cupido ein höchst realer Teufel ist und die Auslegung seiner Eigenschaften ledig-
lich den Versuch darstellt, ihn zu verharmlosen, zeigt Theodulf umgekehrt, wie in den
Werken der Dichter eine Warnung vor der – in ihren Eigenschaften teuflischen – Liebe
entdeckt werden kann. Allerdings kann diese Warnung nur vernommen werden,
wenn der Leser seine Vernunft gebrauchen kann und gerecht – also frei von Sünde –
ist, wie die vorangehenden Beispiele (Proteus, Virgo und Hercules) gezeigt hatten. Da
die Liebe den Liebenden der Vernunft beraubt (vv. 43–44), darf man schlussfolgern,
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
37 Übersetzung: „Die Heiden versuchen einige Namen ihrer Götter mit Hilfe von eitlen Erdichtungen
auf eine natürliche Ursache zurückzuführen. Aber dies wurde alles von den Dichtern erlogen, um ihre
Götter, von denen die Geschichte bekennt, dass sie verdorben und voll schändlicher Laster waren, mit
einigen Redefiguren zu schmücken.“
38 Übersetzung: „Es heißt, Cupido werde so (d. h. Begierde) wegen der Eigenschaften der Liebe ge-
nannt, denn er ist der Teufel der Unzucht. Er wird beflügelt dargestellt, weil sich nichts Leichtsinnige-
res und Wankelmütigeres als die Liebenden findet. Er wird als Kind dargestellt, weil Liebe dumm und
unvernünftig ist. Man bildet sich ein, er trage einen Pfeil und eine Fackel. Einen Pfeil, weil die Liebe
das Herz verletzt, eine Fackel, weil sie das Herz in Brand setzt.“
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
48 Carmen Cardelle de Hartmann
dass Liebende diese Gedichte nicht lesen dürfen, denn ihnen fehlt in ihrem Zustand
die Geisteskraft, die in den Texten verborgene Warnung zu entschlüsseln.
Das letzte Beispiel schließlich fasst den Inhalt des Gedichtes zusammen. Es
handelt sich um die zwei Tore der Träume. Eines ist aus Horn und lässt wahre Träume
durch, das andere ist aus Elfenbein, wodurch die falschen Träume kommen. Theodulf
folgt hier dem Servius-Kommentar, in dem das erste Tor als das Auge, das zweite als
der Mund interpretiert wird:
Physiologia vero hoc habet: per portam corneam oculi significantur, qui et cornei sunt coloris et
duriores ceteris membris: nam frigus non sentiunt, sicut et Cicero dicit in libris de deorum natura.
per eburneam vero portam os significatur a dentibus. et scimus quia quae loquimur falsa esse
possunt, ea vero quae videmus sine dubio vera sunt.39
Theodulf nimmt die Idee auf: os fert falsa, oculus nil nisi vera vidit, ohne die Lügen
dem Dichter ausdrücklich anzulasten. Dieser Vers fungiert als Schluss und fasst das
Vorherige zusammen: Der Mund der Dichter bringt Lügen hervor, das Auge des Lesers
kann aber die darin verborgene Wahrheit entdecken.
Im Carmen 45 streift Theodulf einige wichtige Themen: Die Bedeutung heidni-
scher Mythen, ihre allegorische oder naturkundliche Auslegung, die Rolle der Dichter
in ihrer Entstehung, die mögliche Anwesenheit von Wahrheit in der heidnischen Dich-
tung. Im zweiten Teil des Gedichtes zeigt er die Möglichkeit, diese Wahrheit zu ent-
hüllen, und rechtfertigt so die Lektüre der Werke heidnischer Dichter, doch ist diese
Rechtfertigung nicht das Ziel des Gedichtes. Argumente dafür, die er ausdrücklich
in Carmen 44 Cur modo carmina non scribat vorbringt – die Schönheit der Sprache
und ihr Wert für die Bildung von jungen Leuten – werden hier höchstens angedeutet.
Theodulf verlagert dezidiert die Verantwortung für die Aufdeckung der Lüge und die
Entdeckung der Wahrheit auf den Leser. Deshalb sind der Leser und seine Lektüre das
zentrale Thema des Gedichtes, das ihm seine Einheit verleiht. Im ersten Teil geht es
um die persönliche Auswahl, nämlich um die Texte, die häufig gelesen und deshalb
zum Wissensbestand des einzelnen Lesers werden. Während einige dieser Texte die
Wahrheit als klaren und offenen Gegenstand haben, findet sich diese in anderen nur
verborgen. Wie der Leser sie enthüllen kann, ist das Thema des zweiten Teils. Die
richtige Art des Lesens hängt von den Eigenschaften des Lesers ab, von seiner Geis-
teskraft, seiner Vernunft, seinem moralischen Sinn, der ihn vor der Sünde bewahrt.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Ein solcher Leser wird sogar erotische Dichtung lesen können und in ihr die Warnung
39 Servius, Commentarius in Vergilii Aeneida VI, 893. Übersetzung: „Die Naturkunde aber bringt dies
zutage: Das Tor aus Horn bedeutet die Augen, welche die Farbe des Horns haben und härter sind als
die anderen Glieder, denn sie spüren die Kälte nicht, wie Cicero in den Büchern über die Natur der
Götter sagt. Das Tor aus Elfenbein bezeichnet durch die Anspielung auf die Zähne den Mund. Und wir
wissen, dass das, was wir reden, falsch sein kann, dass hingegen das, was wir sehen, zweifellos wahr
ist.“ Servius, Commentarius II, Thilo/Hagen, 122–123; Jeunet-Mancy 2012, 200.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45 49
vor der verheerenden Wirkung der Liebe finden. Das Gedicht lässt sich zwar nicht auf
eine Rechtfertigung der Lektüre von heidnischer Literatur reduzieren, in der dezidier-
ten Art, wie Theodulf dem Leser die Verantwortung zuweist, findet sich aber die beste
Verteidigung für die Lektüre aller verfügbaren Texte, auch derjenigen, die aus der
heidnischen Antike stammen. Diese Aufwertung des Lesers, der vom passiven Rezi-
pienten zum sophus (wie in v. 21) und Erforscher der Wahrheit werden soll, impliziert
außerdem, dass auch den zeitgenössischen Dichtern die Möglichkeit zu Fabulieren
zugestanden wird. Sie müssen in ihren Erdichtungen zwar eine Wahrheit verstecken,
aber es ist nicht an ihnen, sondern an den verständigen Lesern, sie zu entdecken.
In diesem Zusammenhang ist die zuletzt evozierte Szene der Aeneis wichtig, denn
Aeneas und die Sibylle gehen durch die elfenbeinerne Tür heraus, durch die in der
Aeneis die falschen Träume in die Welt kommen und die in der naturkundlichen Aus-
legung den Mund bezeichnet, durch den ja die Lügen hervorgebracht werden. Dazu
beobachtet Servius: et poetice apertus est sensus: vult autem intellegi falsa esse omnia
quae dixit („die poetische Bedeutung ist klar: Er möchte verständlich machen, dass
alles, was er sagt, erdichtet ist“).40 Diese Überlegung nimmt Theodulf zwar nicht
ausdrücklich auf, sie wird aber einem Leser, der die Aeneis kennt, nahegelegt: Vergil
warnt damit den Leser und Theodulf tut es auch. Auch er bedient sich nämlich in
diesem Gedicht der Allegorie und zeigt so, dass die Freiheit des Dichters, sich durch
Bilder zu äußern, noch aktuell ist. Diese Freiheit – sich der Allegorie zu bedienen,
dunkel, ja zweideutig zu sein – nahm Theodulf bekanntlich auch in anderen Gedich-
ten für sich in Anspruch.
40 Servius, Commentarius II (VI, 893), ed. Thilo / Hagen, 122–123; Jeunet-Mancy 2012, 200.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
50 Carmen Cardelle de Hartmann
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Bücher, Götter und Leser: Theodulfs Carmen 45 51
Quellen
Theodulf, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1881 (Nachdruck
1964, 1978, 1997).
Theodulf, Carmina, Addenda ad tomum I, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae latini aevi Carolini 2,
Nachträge zu MGH Poetae latini aevi Carolini 1, Berlin 1884 (Nachdrucke 1964, 1978, 1999),
694–697.
Servius, Commentarius I: Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Vol. I.
Aeneidos librorum I–V commentarii, ed. Georg Thilo/Hermann Hagen, Leipzig 1881.
Servius, Commentarius II: Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Vol. II.
Aeneidos librorum VI–XII commentarii, ed. Georg Thilo/Hermann Hagen, Leipzig 1884.
Literatur
Bretzigheimer (2004): Gerlinde Bretzigheimer, „Der Herkules-Mythos als Gefässdekor: eine
‚descriptio’ des Theodulf von Orléans“, Mittellateinisches Jahrbuch 39, 183–205.
Bullough (2004): Donald Bullough, Alcuin. Achievement and Reputation, Education and Society in
the Middle Ages and Renaissance 16, Leiden.
Chance (1994): Jane Chance, Medieval Mythography. From Roman North Africa to the School of
Chartres, a.D. 433–1177, Gainesville.
Demats (1973): Paule Demats, Fabula. Trois études de mythographie antique et médiévale, Genève.
Fontaine (1989): Jacques Fontaine, „Le ‚sacré’ antique vue par un homme du VII siècle: le livre VIII
des Etymologies d’Isidore de Séville“, Bulletin de l’Association Guillaume Budé 48, 394–405.
Freeman (1990): Ann Freeman, „Theodulf of Orléans: A Visigoth at Charlemagne’s Court“, in: L’Europe
héritière de l’Espagne wisigothique (Colloque internationale du CNRS tenu à la Fondation
Singer-Polignac), Paris, 185–194, jetzt in: Ann Freeman, Theodulf of Orléans: Charlemagne’s
Spokesman against the Second Council of Nicaea, Aldershot 2003, VIII.
Godman (1982): Alcuin. The Bishops, Kings, and Saints of York, edited by Peter Godman, Oxford.
Godman (1985): Peter Godman, Poetry of the Carolingian Renaissance, London.
Häse (2002): Angelika Häse, Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus dem Kloster Lorsch.
Einleitung, Edition und Kommentar, Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 42, Wiesbaden.
Hays (2003): Gregory Hays, „The Date and Identity of the Mythographer Fulgentius“, Journal of
Medieval Latin 13, 163–252.
Holtz (1985): Louis Holtz, „La redécouverte de Virgile aux VIIIe et IXe siècles d’après les manuscrits
conservés“, in: Lectures médiévales de Virgile, Roma, 9–30.
Holtz (1998): Louis Holtz, „Vers la création des bibliothèques médiévales en Occident“, in:
Morfologie sociali e culturali in Europa fra Tarda Antichità e Alto Medioevo, Settimane di studio
del CISAM 45, Spoleto, 1059–1106.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Jeunet-Mancy (2012): Servius. Commentaire sur l‘Enéide de Virgile. Livre VI, texte établi, traduit et
commenté par Emmanuelle Jeunet-Mancy, Paris.
Klopsch (1985): Lateinische Lyrik des Mittelalters, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Paul
Klopsch, Stuttgart.
Klopsch (1986): Paul Klopsch, „Die Christen und Ovid“, in: Irene Vaslef/Helmut Buschhausen (Hgg.),
Classica et Mediaevalia: Studies in Honour of Joseph Szövérffy, Washington/Leyden, 91–102.
Korte (2012): Petra Korte, Die antike Unterwelt im christlichen Mittelalter. Kommentierung – Dichtung
– philosophischer Diskurs, Tradition – Reform – Innovation 16, Frankfurt a. M. u. a.
Lehmann (1918): Paul Lehmann, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz.
1. Band. Die Bistümer Konstanz und Chur, München.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
52 Carmen Cardelle de Hartmann
Lendinara (1998): Patrizia Lendinara, „Mixed Attitudes to Ovid. The Carolingian Poets and the
Glossographers “, in: Luuk A. J. R. Houwen/Alasdair A. MacDonald (Hgg.), Alcuin of York:
Scholar at the Carolingian Court (Proceedings of the Third Germania Latina Conference held at
the University of Groningen, May 1995), Groningen, 171–213.
MacFarlane (1980): Katherine Nell MacFarlane, „Isidore of Seville and the Pagan Gods (Origines
VIII.11)“, Transactions of the American Philosophical Society, new series 70, 3–40.
Manitius (1886): Max Manitius, „Zu karolingischen Gedichten“, Neues Archiv 11, 553–563.
Milde (1968): Wolfgang Milde, Der Bibliothekskatalog des Klosters Murbach aus dem 9. Jahrhundert.
Ausgabe und Untersuchung von Beziehungen zu Cassiodors Institutiones, Heidelberg.
Munk Olsen (1987): Birger Munk Olsen, „Ovide au Moyen Âge“, in: Guglielmo Cavallo (Hg.), Le strade
del testo, 65-96.
Munk Olsen (1992): Birger Munk Olsen, „Les poètes classiques dans les écoles au IXe siècle“, in:
De Tertullien aux Mozarabes. Mélanges offerts à Jacques Fontaine. Tome II: Antiquité tardive
et christianisme ancien (VIe–IXe siècles), Paris, 197–210, jetzt auch in: Birger Munk Olsen, La
réception de la littérature classique au Moyen Âge (IXe–XIIe siècle), Copenhagen 1995, 35–46.
Nees (1991): Lawrence Nees, A Tainted Mantle. Hercules and the Classical Tradition at the
Carolingian Court, Philadelphia.
Pépin (1976): Jean Pépin, Mythe et allégorie: les origines grecques et les contestations judéo-
chrétiennes, Paris.
Schaller (1962): Dieter Schaller, „Philologische Untersuchungen zu den Gedichten Theodulfs von
Orléans“, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 18, 13–91.
Schaller/Brommer (1995): Dieter Schaller/Peter Brommer, „Theodulf von Orléans“, in: Die deutsche
Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 9, Berlin/New York 1999, 764–772.
Seznec (1980): Jean Seznec, La survivance des dieux antiques. Essai sur le rôle de la tradition
mythologique dans l’humanisme et dans l’art de la Renaissance, Paris (deutsche Übersetzung
von Heinz Jatho: Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus
und in der Kunst der Renaissance, München 1990).
Staubach (1994): Nikolaus Staubach, „Herkules an der ‚Cathedra Petri’“, in: Hagen Keller/Nikolaus
Staubach (Hgg.), Iconologia sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und
Sozialgeschichte Alteuropas. Festschrift für Karl Hauck zum 75. Geburtstag, Berlin/New York,
383-402.
Staubach (1998): Nikolaus Staubach, „Herkules in der Karolingerzeit“, in: Claudio Leonardi (Hg.),
Gli umanesimi medievali (II Congresso dell’„Internationales Mittellateinerkomitee“. Firenze,
Certosa del Galluzzo, 11–15 Settembre 1993), Firenze, 673–690.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Michael Embach
Die Bibliothek des Mittelalters als
Wissensraum
Kanonizität und strukturelle Mobilisierung
1 Vorbemerkungen
Wenn man sich dem Thema „Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum“ nähert,
dann sind zunächst zwei Vorbemerkungen zu machen, die den Gegenstandsbereich
genauer in sich abgrenzen und schärfer ausprofilieren können.1
Erstens gilt, dass der Begriff „Wissensraum“ eine Schöpfung der Neuzeit ist. Eine
Bildung wie spatium scientiae oder spatium rationis ist für das Mittelalter nicht belegt,
und nach Äquivalenten zu suchen, dürfte schwierig sein. Selbst die Umschreibung
des Teilbegriffs Wissen birgt für das Mittelalter Probleme in sich. Begriffe dieser Art
haben nicht selten einen längeren Bedeutungswandel durchlaufen, der ihre termi-
nologische Fixierung kaum möglich erscheinen lässt. Insofern liegt mit dem Begriff
„Wissensraum“ eine epistemologische Kategorie vor, der zumindest in diachronischer
Hinsicht kein unmittelbar fassbarer Inhalt zugeordnet werden kann.
Zweitens sei hervorgehoben, dass an dieser Stelle ausschließlich der Typus der
mittelalterlichen Klosterbibliothek thematisiert werden soll. Eine Untersuchung ent-
sprechender Phänomene für den Bereich der Amts-, Adels- oder Universitätsbiblio-
thek kann hier nicht geleistet werden. Ich verweise stattdessen auf entsprechende
Forschungen von Frank Fürbeth zu den Sachordnungen der Bibliotheken des Mittel-
alters.2
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
© 2015, Embach.
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
54 Michael Embach
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum 55
ten des Alten Testaments beziehungsweise Teilen daraus. So berichtet die Perikope
Lk 4,16, Jesus habe in der Synagoge von Nazareth vorgelesen, und zwar aus dem Buch
Jesaja.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
56 Michael Embach
Hinsichtlich des Themas Wissen, genauer gesagt hinsichtlich der Punkte Schrei-
ben und Lesen, äußert sich die Regula Benedicti vor allem in ihrem 48. Kapitel.10 Hier
wird, angepasst an den natürlichen Jahresablauf von Sommer und Winter und das
liturgische Tagesoffizium, ein Lektüreprogramm ausgebreitet, das sich zeitlich zwar
recht ausgreifend, inhaltlich jedoch eher eng, und zwar vollständig auf den Bereich
der Bibel bezogen, darstellt. Neben dem Alten und Neuen Testament werden Erklä-
rungen zu den biblischen Büchern genannt, die „von anerkannt rechtgläubigen
katholischen Vätern“11 stammen sollten, ansonsten nur noch der Psalter und der Text
der Regula Benedicti selbst.12 Und wenn Benedikt von der scola oder der bibliotheca
spricht, so geschieht auch dies nicht in einem wissensspezifischen Sinn. Vielmehr
meint scola das Kloster als Schule des Herrn (dominici scola servitii) und bibliotheca
die Heilige Schrift als das Buch der Bücher. Wie streng dieser Lektürekanon im monas-
tischen Alltag beobachtet wurde, beweist die Tatsache, dass während der Fastenzeit
zwei Brüder im Kloster umhergehen mussten und darauf zu achten hatten, dass die
Lesung auch tatsächlich erfolgte. War dies nicht der Fall, so drohte Strafe.13
Die gesamte monastische Conversio zielte demgemäß auf die Kenntnis und Verin-
nerlichung der Bibel ab. Eine nach heutigem Verständnis autonome, auf Sachlitera-
tur, Wissensaneignung oder Antikenrezeption gemünzte Lektüre war dagegen nicht
vorgesehen.
Noch drastischer fällt der Befund aus, wenn man die Bestimmungen der Bene-
diktsregel zu den Schreibutensilien in den Blick nimmt. So heißt es in Kapitel 33, das
über die Frage handelt, ob die Mönche Eigentum besitzen dürften: „Keiner nehme
sich heraus, ohne Geheiß des Abtes etwas wegzugeben oder zu empfangen oder
etwas zu eigen zu besitzen, durchaus nichts“ – und dann weiter „weder Buch, noch
Täfelchen, noch Griffel, nein, überhaupt nichts.“14 Diese Regelung wird in Kapitel
55, Vers 18–19 im Zusammenhang des Sonderbesitzes der Mönche noch einmal wie-
derholt: „Um dieses Laster des Sonderbesitzes mit der Wurzel auszurotten, stelle der
Abt alles Notwendige zur Verfügung, nämlich Kukulle, Tunika, leichtes und schweres
Schuhwerk, Gürtel, Messer, Griffel, Nadel, Tüchlein, Täfelchen, damit sich keiner ent-
schuldigen kann, es fehle ihm etwas Notwendiges.“15 Damit ist klar, dass auch das
Schreiben und Anfertigen von Texten als eine Tätigkeit betrachtet wurde, die sich der
Verfügungsgewalt des einzelnen Mönchs entzog. Sie besaß keinen autonomen, sub-
jektiven Status, sondern wurde gewissermaßen offiziell vom Kloster beziehungsweise
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum 57
dem Abt an den einzelnen Schreiber delegiert und bedurfte von daher der Genehmi-
gung der Klosteroberen.
Soweit die in puncto Wissensaneignung doch recht restriktiven Bestimmungen
der Benediktsregel. Schauen wir nun, in welcher Weise sich dieser frühe Bildungsiko-
noklasmus auf die Zusammensetzung und die geistige Ausrichtung benediktinischer
Bibliotheken des Mittelalters ausgewirkt hat.
Ein in der Trierer Handschrift 2209/2328 2°, Bd. 2 (fol. 1r) niedergelegter Bibliotheks-
katalog der Abtei Trier-St. Maximin aus der Zeit um 1125 weist im Ganzen 151 Codices
nach.16
Der nachträglich in die Handschrift eingetragene Katalog findet sich auf der Rec-
toseite von fol. 1 des zweiten Bandes. Beide Bände zusammen enthalten eine aus dem
dritten Viertel des 10. Jahrhunderts stammende Abschrift der Moralia in Iob Gregors
des Großen. Der mit reichhaltigen Verzierungen ausgestattete Text gilt Hartmut Hoff-
mann zufolge als „das Hauptwerk des Skriptoriums von St. Maximin in der Zeit vor
dem Egbertcodex“.17 Die Initialkunst der beiden Bände weist deutliche Spuren einer
Beeinflussung durch das Skriptorium von Tours auf. Die Systematik und die aufge-
zählten Schriften des Maximiner Katalogs geben noch sehr deutlich die grundlegen-
den Vorschriften der Regula Benedicti zu erkennen. Im Zentrum stehen die Bibel und
ihre Kommentierungen, während der Bereich der profanen Wissensliteratur nahezu
vollständig ausgeblendet bleibt. Der Bestand der Bibliothek ist in neun Sachgruppen
eingeteilt, von denen acht im Katalog über entsprechende Rubriken auch terminolo-
gisch ausgewiesen sind. Nur die letzte Abteilung versammelt ohne eigene Überschrift
Schriften heterogenen Inhalts. Sie könnte unter der Rubrik „Quodlibetica“ zusam-
mengefasst werden.
Zu Beginn erscheinen die Libri de armario Sancti Maximini. Hierbei handelt es sich
um besonders geschützte und separat aufgestellte Codices, die Ausgaben der Bibel
oder biblischer Bücher enthalten. Im Einzelnen werden aufgeführt: zwei Pandekten
(Bibliothecae due maiores perfectae), eine Ausgabe des Alten Testaments mit den Pau-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
lusbriefen (item alia minor in qua vetus tantum testamentum cum epistolis Pauli), ein
16 Kentenich 1910, 158–159. Der Maximiner Katalog ist ediert bei Kraus 1869, Becker 1885, 178–181 (Nr.
76) sowie bei Knoblich 1996, 120–124 mit Abb. 147. Zur Bibliothek von St. Maximin vgl. auch Knoblich
1999, 1040–1041.
17 Hoffmann 1986, 497.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
58 Michael Embach
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Abb. 3: Trier, Stadtbibliothek, Hs. 2209/2328 2°, Bd. 2, fol. 1r: Bibliothekskatalog von Trier-St.
Maximin, ca. 1125.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum 59
Textus evangelii unus auro scriptus, hinter dem sich das berühmte Ada-Evangeliar der
Stadtbibliothek Trier (Hs 22) verbergen dürfte, sowie fünf weitere Evangeliare.18
Als nächste Hauptkategorien folgen die Schriften der vier westlichen Kirchen-
väter Augustinus, Hieronymus, Ambrosius und Gregor der Große (Augustiniani
Libri, Ieronimiani Libri, Ambrosiani Libri, Gregoriani Libri). Sie beinhalten das, was
die Benediktsregel unter die Erklärungen der Bibel durch „anerkannt rechtgläubige
katholische Väter“ zählt. Die weiteren Rubriken sind zunächst zwei bedeutenden
Vermittlern spätantiken Wissens an das Mittelalter gewidmet, Beda Venerabilis (ca.
672–735) und Isidor von Sevilla (ca. 560–636). Bei Beda, der mit stattlichen 14 Codices
vertreten ist, überwiegen die Bibelkommentare (von der Apokalypse bis zu Markus
und Lukas), gefolgt von den komputistischen Schriften (De temporibus tres) und der
Geschichte des englischen Volkes. Isidor erscheint mit einem Kommentar zu den
fünf Büchern Mose, den Etymologien und einem nicht genauer zu identifizierenden
Werk scottice scriptus. Es folgen homiletische und exegetische Schriften des Johannes
Chrysostomus und des Haimo von Auxerre (Jesaja-Kommentar) sowie eine circa 50
Nummern starke Abteilung gemischten Inhalts. Sie besteht aus historischen Schrif-
ten (Historia Romana, Historia tripartita, Gesta Karoli et eius successorum), anderen
Ordensregeln (Smaragd von St. Mihiel, Diadema monachorum; Glosae super regulam
sancti Benedicti), liturgischen Texten (Ordo romanus, Amalarius [?], Liber de officiis
ecclesiasticis), weiteren Vätertexten (Vitas patrum) sowie einigen wenigen Abhand-
lungen zur Theologie (Athanasius, De sancta trinitate). Zu erwähnen sind ferner eine
Expositio Psalterii scottice scripta und ein singulärer Liber theutonicus. Bei letzterem
könnte es sich um ein noch heute in der Stadtbibliothek Trier liegendes Fragment der
althochdeutschen Lex salica handeln.19
Die Literatur des Mittelalters ist außer durch Beda Venerabilis und Amalarius von
Trier (Metz) nur durch zwei weitere „moderne“ Autoren vertreten, Hrabanus Maurus
(De ecclesia catholica) und Alkuin (Johannes-Kommentar). Kein einziger Autor jen-
seits der karolingischen Renaissance ist vorhanden, und die zeitgenössische Literatur
des 11. und frühen 12. Jahrhunderts bleibt vollständig ausgeblendet.
Damit erweist sich der Maximiner Bestand als extrem konservativ, oder, um beim
Thema zu bleiben, den Anweisungen der Regula Benedicti konform, eine Aussage, die
naturgemäß unter dem Vorbehalt steht, dass die Bibliothekstopographie eines mittel-
alterlichen Klosters durch Aufsplitterung der Bestände nach spezifischen Standorten
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
gekennzeichnet war. So müssen wir mit eigenen Buchbeständen in der Sakristei, der
18 Zum Ada-Evangeliar vgl. Embach 2010. Das um 795/810 entstandene Ada-Evangeliar gilt als das
typenbildende Hauptwerk der Hofschule Karls des Großen. Die Handschrift enthält den ganz in Gold
geschriebenen Text der vier Evangelien. Berühmt sind die vier Bilddarstellungen der Evangelisten.
Der Name Ada-Evangeliar leitet sich von einer angeblichen Schwester Karls des Großen her, die den
Codex gestiftet und in Auftrag gegeben haben soll.
19 Embach 2012, 426–427.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
60 Michael Embach
20 Zur Bibliothek der Abtei Trier-St. Matthias (Eucharius) vgl. Becker 1996, 76–240, sowie Embach/
Moulin 2012.
21 Beschreibung der Handschrift vgl. Scherrer 1875, 233–235. Die Handschrift ist mittlerweile in di-
gitaler Form über das Portal e-codices. St. Gallen, Stiftsbibliothek benutzbar. Der Bibliothekskatalog
wurde mehrfach ediert. Vgl. Becker 1885, 43–53 (Nr. 22) und Lehmann 1918, 66–82 (Nr. 16). Vom Bib-
liothekskatalog der Handschrift 728 wurde gegen Ende des 9. Jahrhunderts eine Abschrift hergestellt,
die sich im Codex St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 267 erhalten hat. Zur Systematik des Kataloges vgl.
Umstätter/Wagner-Döbler 2005, 26–30.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum 61
Gallens (Libri scottice) aufführt, vermutlich eben deshalb, weil diese gegen Ende des
9. Jahrhunderts aufgrund ihrer altertümlichen Schriftart nicht mehr gut lesbar waren.
Möglicherweise sollten sie zur Makulierung ausgesondert und durch neue Abschrif-
ten ersetzt werden, möglicherweise besaßen sie aber auch einen besonderen Status,
da sie auf die iro-fränkische Gründung St. Gallens zurückverwiesen. Wie dem auch
sei, es ist damit zu rechnen, dass die „moderne“ Klosterbibliothek St. Gallens mit den
„Non-Scottica“ noch sehr viel stärker an der Antike und der aufsprießenden Wissens-
literatur der Zeit orientiert war als dies für die Libri scottice galt. In diesem Zusammen-
hang hat Andrea Zur Nieden darauf hingewiesen, dass die Bibliothek von St. Gallen
ihren stärksten Aufschwung im 9. Jahrhundert erfahren hat. Ebenso wie das Kloster
Reichenau habe auch St. Gallen zu dieser Zeit bereits „das Doppelte von 200 Bänden,
die als Richtgröße für eine große frühmittelalterliche Bibliothek angesetzt wurden“22,
besessen. Dabei falle auf den ersten Blick der hohe Anteil an Klassikerausgaben auf,
der insbesondere zum Studium in der Schule gedient habe.23
Wie manifest das Thema Bildung und Wissen im Laufe der Zeit tatsächlich in
die Bestandsprofile benediktinischer Bibliotheken einbrechen konnte, beweisen die
Bestände der Bibliotheken von Trier-St. Matthias (Eucharius) und Echternach. Sie
machen deutlich, dass gegen Ende des 10. und zu Beginn des 11. Jahrhunderts ein
kräftiger Aufschwung in den akademischen Studien eintrat, der vermutlich mit der
Einführung der Benediktsregel zusammenhing. Ein in Trier derzeit laufendes Projekt
zur Digitalisierung und virtuellen Rekonstruktion der Bibliothek von St. Matthias
(Eucharius) eröffnet die Möglichkeit, sich hierüber einen detaillierten Einblick zu
verschaffen (www.stmatthias.uni-trier.de).
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Aufschwung der Bibliotheken von St.
Matthias und Echternach mit der Entwicklung der Klosterschulen zusammenhing,
mögen daneben auch andere Gründe wie die inner-benediktinische Reform des 10.
Jahrhunderts (Gorze und St. Maximin) oder der Einfluss Gerberts von Aurillac (ca.
950–1003), des späteren Papstes Silvester II., hinzukommen.24 Die Echternacher
Klassikergruppe mit ihren kommentierten Ausgaben des Vergil, Horaz, Arator, Avian,
Persius, Juvenal, Lukan, Statius, Terenz und vieler anderer mehr spricht hier für
sich.25 Hinzu kommen Grammatiken des Priscian, die Disticha Catonis, Kommentar-
werke des Boethius zu Aristoteles sowie zahlreiche Schriften zu einzelnen Disziplinen
der Septem artes liberales.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
22 Zu Bibliothek und Skriptorium von St. Gallen: Zur Nieden 2008, 281–304, hier 284.
23 Zum Kanon der mittelalterliche Schullektüre vgl. Glauche 1970. Henkel 1988, insbesondere 56–64
(Verzeichnis lateinischer Texte, die im Mittelalter im deutschen Sprachraum als Schultexte verwendet
wurden).
24 Zur Schule und zum geistigen Leben in der Abtei Trier St. Matthias vgl. Becker 1996, 456–476.
25 Zu den Echternacher Klassiker-Handschriften vgl. Schroeder 1975.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
62 Michael Embach
Doch ist es keineswegs nur der Bestand der Bibliothek, der sich ändert und erwei-
tert. Entscheidende Bedeutung besitzen, und damit komme ich zum Begriff der struk-
turellen Mobilisierung von Wissen, die intensiven Eingriffe in den Grundtext einer
Handschrift, die sich in Form von Glossen, Scholien und Kommentierungen äußern.
Ich sehe in diesen Eingriffen eine potenzierte Form der Wissensaneignung bezie-
hungsweise Wissensvermittlung, da es durch sie zur Herausbildung eines ergänzen-
den semantischen Systems kommt, innerhalb dessen auf eine „wissenschaftliche“
Weise Meinungen artikuliert, Standpunkte ausgetauscht und neue Erkenntnisse for-
muliert werden. Der Rezipient beginnt, sich als eigenständiges Erkenntnissubjekt von
der alleinigen Autorität des Autors oder eines normsetzenden Masterminds, dessen
Kommentierungen als kanonisch angesehen werden, zu emanzipieren und sich
Wissen in einer ihm gemäßen Form anzueignen, mögen die Glossen und Scholien
auch häufig noch in schulmäßiger Weise tradiert worden sein. Der Text und das in
ihm zugrunde gelegte Wissen entwickeln sich zu einer Art Aktivpotenzial, das einen
höheren Grad von Wirkung zu entfalten vermag als die „nackte“ Vorlage allein. Nicht-
glossierende und glossierende Textlektüre unterscheiden sich daher nicht nur gra-
duell, sie unterscheiden sich systematisch voneinander. Während erstere primär mit
dem Autor dialogisiert, ist letztere auf ein zusätzliches Referenzsystem unterschiedli-
cher Meinungen und Inhaltsebenen bezogen, deren Berücksichtigung die Lektüre in
den Rang einer „Wissenschaft“ erhebt. Damit ist zugleich gesagt, dass diese Wissen-
schaft ein Hortus conclusus ist, der nur den Eingeweihten, das heißt den Gebildeten
oder Lateinkundigen, offenstand.
Es wäre reizvoll, diese Gesichtspunkte anhand einer großen Glossenhandschrift,
etwa des aus Echternach stammenden Trierer Codex, Hs. 1093/1694 gr. 2°, einer
bedeutenden Schulhandschrift mit zentralen Texten der lateinischen Antike sowie
zahlreichen lateinischen und deutschen Glossen, näher zu beleuchten.26 Aus Raum-
gründen muss dies hier unterbleiben. Ich verweise stattdessen auf eine kurz vor dem
Abschluss stehende Dissertation von Falco Klaes (Universität Trier/Ältere Deutsche
Philologie) über die althochdeutsche Glossographie in Handschriften aus dem Raum
Trier.
An dieser Stelle sollen zumindest kurz zwei weitere Sachverhalte angesprochen
werden, die mir im Hinblick auf eine genauere Umschreibung des Begriffs „Wissens-
raum“ im Mittelalter wichtig erscheinen.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Zum einen sei hervorgehoben, dass die Glossatoren der antiken Texte ihre Tätig-
keit keineswegs nur in lateinischer Sprache verrichtet haben. Gerade am Beispiel der
eben genannten Glossenhandschrift lässt sich zeigen, dass die Praxis des Glossierens
auch in der Volkssprache stattfand. Der Codex enthält circa 780 Glossen in althoch-
deutscher Sprache. Dies bedeutet zugleich, dass die Glossatoren wortschöpferisch
aktiv waren. Nicht selten waren sie Pioniere in der Herausbildung einer volkssprach-
26 Zur Handschrift 1093/1694 gr. 2° vgl. Keuffer 1931, 22–26 sowie Embach/Nolden 2010, 18–19.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum 63
Wir sind damit bei der Frage angekommen, wo die Grenzen einer solchen Form wis-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
sensbasierter Aktivitäten lagen. Waren die Bibliotheken, Skriptorien und Schulen der
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
64 Michael Embach
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Abb. 4: Trier, Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars, Hs. 61, fol. 39r: Runenschrift
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum 65
Klöster jener Zeit embryonale Vorstufen der Universitäten des späten Mittelalters und
der Frühen Neuzeit oder gab es Mauern, die nicht mehr zu überspringen waren?
Noch problematischer stellt sich die Situation im 15. Jahrhundert dar, als der
auf das Ziel der Bildung hin fokussierte Humanismus geistlicher Kreise manche
Klosterstube in ein rein weltliches Studierzimmer zu verwandeln drohte. Es ist
31 Green/Evans 1979, Bd. 1, 33. Die Originalhandschrift des Hortus Deliciarum wurde von den preu-
ßischen Truppen im Krieg von 1870/71 bei einem Bombardement der Stadt Straßburg zerstört. Auf
der Grundlage zuvor erstellter Abbildungen konnten jedoch weite Teile der Handschrift rekonstruiert
werden.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
66 Michael Embach
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Abb. 5: Herrad von Hohenburg, Hortus Deliciarum; aus: Green/Evans 1979, Bd. 2, 57, Abb. 33: Minia-
tur der Septem artes liberales
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum 67
Quellen
Benediktsregel (²1982): Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben. Der vollständige
Text der Regel lateinisch-deutsch. Übersetzt und erklärt von Georg Holzherr, Abt von Einsiedeln,
Zürich.
Literatur
Arnold (²1991): Klaus Arnold, Johannes Trithemius (1462–1516), Quellen und Forschungen zur
Geschichte des Hochstifts Würzburg 23, Würzburg.
Becker (1885): Gustav Becker, Catalogi bibliothecarum antiqui, Bonn.
Becker (1996): Petrus Becker, Die Benediktinerabtei St. Eucharius-St. Matthias vor Trier, Germania
Sacra, 34, 8, Berlin/New York.
Bergmann/Stricker (2005): Rolf Bergmann/Stefanie Stricker, Katalog der althochdeutschen und
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
68 Michael Embach
Embach (2000): Michael Embach, „Skriptographie versus Typographie: Johannes Trithemius’ Schrift
De laude scriptorum“, Gutenberg-Jahrbuch 75, 132–144.
Embach (2007): Michael Embach, Trierer Literaturgeschichte. Das Mittelalter, Geschichte und Kultur
des Trierer Landes 8, Trier.
Embach (2012): Michael Embach, „Fragment einer althochdeutschen Lex-Salica-Übersetzung“, in:
Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike bis zum Mittelalter (Ausstel-
lungskatalog), Magdeburg, 426–427.
Embach/Moulin (2013): Michael Embach/Claudine Moulin (Hgg.), Die Bibliothek der Abtei St.
Matthias in Trier – Von der mittelalterlichen Schreibstube zum virtuellen Skriptorium, Trier.
Embach/Nolden (2010): Michael Embach/Reiner Nolden, Kostbare Handschriften und Urkunden
aus Echternach und Trier. Eine Ausstellung der Stadtbibliothek und des Stadtarchivs Trier. Mit
Leihgaben aus der Nationalbibliothek Luxemburg und dem Domschatz Trier (Ausstellungs-
kataloge Trierer Bibliotheken, 42), Trier.
Fürbeth (2008): Frank Fürbeth, „Sachordnungen mittelalterlicher Bibliotheken als Rekonstruk-
tionshilfen“, in: Andrea Rapp/Michael Embach (Hgg.), Rekonstruktion und Erschließung
mittelalterlicher Bibliotheken, Mainz, 87–103.
Fürbeth (2009): Frank Fürbeth, „Deutsche Privatbibliotheken des Spätmittelalters und der Frühen
Neuzeit. Forschungsstand und –perspektiven“, in: Andrea Rapp/Michael Embach (Hgg.), Zur
Erforschung mittelalterlicher Bibliotheken. Chancen – Entwicklungen – Perspektiven. Frankfurt
a. M., 185–208.
Glauche (1970): Günter Glauche, Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des
Lektürekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt, Münchener Beiträge zur Mediävistik und
Renaissance-Forschung 5, München.
Green/Evans (1979): Rosalie Green/Michael Evans/Christine Bischoff/Michael Curschmann (Hgg.),
Herrad of Hohenbourg, Hortus Deliciarum, Studies of the Warburg Institute 36, 2 Bde., Leiden.
Henkel (1988): Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung
und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Münchener Texte und Untersuchungen
zur deutschen Literatur des Mittelalters 90, München.
Hoffmann (1986): Hartmut Hoffmann, Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen
Reich. Bd. 1: Textband, Schriften der MGH 30, Stuttgart.
Jochum (2010): Uwe Jochum, Geschichte der abendländischen Bibliotheken, Darmstadt.
Kentenich (1910): Gottfried Kentenich, Die ascetischen Handschriften der Stadtbibliothek zu Trier,
Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften der Stadtbibliothek zu Trier 6, Trier.
Keuffer (1931): Max Keuffer, Die philologischen Handschriften, Beschreibendes Verzeichnis der
Handschriften der Stadtbibliothek zu Trier 19, Trier.
Knoblich (1996): Isabel Knoblich, Die Bibliothek des Klosters St. Maximin bei Trier bis zum 12.
Jahrhundert, Trier.
Knoblich (1999): Isabel Knoblich, „Bibliotheksgeschichte [Trier-St. Maximin]“, in: Friedhelm
Jürgensmeier (Hg.), Die Männer- und Frauenklöster der Benediktiner in Rheinland-Pfalz und
Saarland, Germania Benedictina 9, St. Ottilien, 1039–1042.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Kraus (1869): Franz Xaver Kraus, „Die Bibliothek von St. Maximin bei Trier im XI./XII. Jahrhundert“,
Intelligenz-Blatt zum Serapeum 15, 113–116.
Lehmann (1918): Paul Lehmann, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz.
Bd. 1: Die Bistümer Konstanz und Chur, München.
Marx (1912): Josef Marx, Handschriftenverzeichnis der Seminar-Bibliothek zu Trier, Trier.
Müller (2003): Rosemarie Müller (Hg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 25,
Berlin/New York.
Müller (2006): Harald Müller, Habit und Habitus. Mönche und Humanismus im Dialog, Spätmit-
telalter und Reformation, Neue Reihe 32, Tübingen.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum 69
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Julia Becker
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen
Lorsch als „patristische Zentralbibliothek“
1 Einleitung
Quamvis enim melius sit bene facere quam nosse, prius tamen est nosse quam facere.1
Dieses ursprünglich aus der vierten Predigt des Erzbischofs Caesarius von Arles (502–
542) stammende Zitat findet sich in gekürzter Form in der Epistola de litteris colendis,
die Karl der Große wohl um das Jahr 787 zunächst an Abt Baugulf von Fulda (779–802)
richtete, um sie später als Rundschreiben an alle Bischöfe und Äbte seines Reiches zu
vermitteln.2 Darin ist kurz und knapp das Motto der karolingischen Bildungsreform
auf den Punkt gebracht. Diese wurde durch die zentralen und richtungweisenden
Kapitularien Karls des Großen – die Epistola de litteris colendis (um 787), die Admo-
nitio generalis von 7893 und die Epistola generalis (zwischen 786 und 800)4 – einge-
leitet.5 Ihr Inhalt scheint zunächst allgemein auf die Förderung der „Wissenschaften“
(litterarum studia)6 beziehungsweise auf das Studium der artes liberales abzuzielen.7
Doch Karl dem Großen und seinen gelehrten Ratgebern ging es grundsätzlich nicht
nur um die Wiederbelebung der Wissenschaften, sondern vor allem um die Richtig-
keit und die korrekte Weitergabe von „Wissen“.8 Aus diesem Grunde sollten fehler-
hafte Bücher korrigiert9 beziehungsweise die fehlerhafte Ausfertigung von Büchern
1 MGH Capit. 1, 78–79, Nr. 29: Obwohl es nämlich besser ist, was richtig ist, zu tun, als es zu wissen,
kommt dennoch das Wissen vor dem Handeln.
2 Zur Epistola de litteris collendis vgl. Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Stengel, 251–254, Nr. 166;
Berschin 1991, 101–113.
3 Jüngst kritisch ediert und übersetzt von Mordek/Zechiel-Eckes/Glatthaar 2012.
4 MGH Capit. 1, 80–81 Nr. 30.
5 Vgl. auch Berschin 1991, 101.
6 Quamobrem hortamur vos litterarum studia non solum non neglegere, verum etiam humillima et deo
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
placita intentione ad hoc certatim discere … MGH Capit. 1, 79, Nr. 29.
7 Igitur quia curae nobis est, ut nostrarum ecclesiarum ad meliora semper proficiat status, oblittera-
tam pene maiorum nostrorum desidia reparare vigilanti studio litterarum satagimus officinam, et ad
pernoscenda studia liberalium artium nostro etiam quos possumus invitamus exemplo. MGH Capit. 1,
80, Nr. 30.
8 … ut, qui Deo placere appetunt recte vivendo, ei etiam placere non negligant recte loquendo. […] Et
bene novimus omnes, quia, quamvis periculosi sint errores verborum, multo periculosiores sunt errores
sensuum. MGH Capit. 1, 79, Nr. 29.
9 Inter quae iam pridem universos veteris ac novi instrumenti libros, librariorum imperitia depravatos,
Deo nos in omnibus adiuvante, examussim correximus. MGH Capit. 1, 80, Nr. 30. Ähnlich auch in der
Admonitio generalis: Psalmos, notas, cantus, compotum, grammaticam per singula monasteria vel epi-
© 2015, Becker.
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
72 Julia Becker
scopia et libros catholicos bene emendate; quia saepe, dum bene aliqui Deum rogare cupiunt, sed per
inemendatos libros male rogant. MGH Capit. 1, 60, Nr. 22.
10 Et pueros vestros non sinite eos vel legendo vel scribendo corrumpere; et si opus est evangelium,
psalterium et missale scribere, perfectae aetatis homines scribant cum omni diligentia. MGH Capit. 1,
60, Nr. 22.
11 … ut facilius et rectius divinarum scripturarum mysteria valeatis penetrare. MGH Capit. 1, 79, Nr. 29.
12 Cassiodor, Institutiones I, 15 (Sub qua tutela relegi debeat caelestis auctoritas), 11, 204–205: Quod si
tamen aliqua verba reperiuntur absurde posita, aut ex his codicibus quos beatus Hieronymus in editione
septuaginta interpretum emendavit, vel quos ipse ex Hebreo transtulit, intrepide corrigenda sunt.
13 Zum Begriff der „Eindeutigkeit“ vgl. Weinfurter 2012, 73–74.
14 Vor allem die ältere Forschung sprach von der karolingischen Renaissance: vgl. Burdach 1918;
Patzelt 1924. Der Begriff der Renaissance wird den Zielen der Bewegung aber nicht gerecht, denn es
ging weniger um eine Wiederbelebung der klassischen Antike, sondern die gelehrte Tradition sollte
gewahrt und ihr neue Anwendungsfelder erschlossen werden. Vgl. hierzu Kintzinger 2007, 92; Hart-
mann 2010, 204.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
15 Bereits Papst Zacharias (741–752) hatte in seinem Brief an Bonifatius im Jahr 744 gefordert: … stude
ad normam rectitudinis reformare. Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, ed. Tangl, 108, Nr. 58.
Nach Josef Fleckenstein stand hinter dem dreifachen Bemühen Karls des Großen, die Irrtümer zu
korrigieren (errata corrigere), das Überflüssige abzutrennen (superflua abscindere) und das Richtige
zu bekräftigen (recta cohartare) die norma rectitudinis als Wertmaßstab: vgl. Fleckenstein 1953, 52–53.
16 Vgl. Fleckenstein 1953, 84-85; Steckel 2011, 80–81.
17 „Die sieben freien Künste verloren, das folgt daraus, durch Karls Zugriff ihre Freiheit; sie waren
zielgerichtet, einem Zweck unterworfen. Gleichwohl legitimierte dieser Freiheitsverlust, die Rezepti-
on der religionsfernen Künste. […] Denn die sieben „Artes“ stärkten den Glauben und führten zu Gott;
sie, die einst unchristlichen, halfen nun mit, das Reich zu verchristlichen.“ Fried 1997, 37.
18 Vgl. Schieffer 1997, 16.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen 73
von gelehrtem Wissen und religiöser Lehre erzielt werden.19 Doch inwieweit können
der handschriftliche Bestand und die Organisation der Lorscher Bibliothek über die
Wissensvorstellungen der Zeit und die zentralen Forderungen der karolingischen
Bildungsreformer Auskunft geben? Für die Klärung dieser Frage sollen vor allem die
Untersuchungsmethoden des Heidelberger Sonderforschungsbereichs 933 „Materiale
Textkulturen“ hinsichtlich der Materialität der in Lorsch entstandenen und aufbe-
wahrten Artefakte sowie deren Rezeptionspraktiken fruchtbar gemacht werden. Denn
wenn wir die Lorscher Codices als „kulturgeschichtlich relevante Quellen“ betrachten
und uns die Frage stellen, welche Bedeutung den Artefakten in ihrem „ursprüngli-
chen sozial-kulturellen Umfeld“ zugeschrieben wurde, können wir wertvolle Infor-
mationen über die kulturhistorischen Gegebenheiten und die „Wissensordnungen“
der karolingischen Zeitgenossen in Erfahrung bringen.20
Denn der Zugang zum Wissen war vom sozialen und kulturellen Kontext abhän-
gig und konnte sich erst im jeweiligen Rezipienten zu konkretem Wissen entfalten.
Die gelehrte Vermittlung von Bildung und Wissen war in der Karolingerzeit vor allem
die Aufgabe der Klöster und monastischen Gemeinschaften.21 Denn in den karolingi-
schen Klöstern befand sich die „Bildungselite“ beziehungsweise die Sondergruppe
derjenigen Personen, die sich speziell der Aufgabe verschrieben hatten, der Wahrheit
zu dienen, wie es ebenfalls in der Epistola de litteris colendis heißt.22 Die Vervielfäl-
tigung von Schriftzeugnissen durch die Tätigkeit der klösterlichen Skriptorien führte
zur Weitergabe eines seit Jahrhunderten tradierten Wissensbestandes und zu einer
dauerhaften Verschriftlichung von Wissensinhalten. Dabei dienten die Klöster als
Wissensspeicher, auf deren Wissensreservoir die karolingische Elite zurückgreifen
und ihre Reformmaßnahmen umsetzen konnte.23 Um die Qualität der Wissensvermitt-
lung in den Klöstern zu steigern, wurden meist namhafte Persönlichkeiten aus dem
Gelehrtenzirkel um Karl den Großen in die klösterlichen Gemeinschaften geschickt.24
So auch im Reichskloster Lorsch, das wohl bereits um das Jahr 763 als adeliges Eigen-
kloster von Graf Cancor und seiner Mutter, der Witwe Williswinth am Fluss Weschnitz
gegründet und bald darauf ihrem Verwandten Bischof Chrodegang von Metz über-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
74 Julia Becker
tragen wurde.25 Die Klostergründung diente zunächst einmal der Sicherung des See-
lenheils der Gründerfamilie. Mit Chrodegang von Metz, der zu den engen Vertrauten
König Pippins gehörte und bei der Neuorganisation der fränkischen Kirche eine ent-
scheidende Rolle spielte, erhielt das Kloster einen einflussreichen Förderer.26 Im Jahr
765 wurde das mit Benediktinermönchen aus Gorze besiedelte und nach der römisch-
fränkischen Kirchenreform ausgerichtete Kloster mit der Nazariusreliquie ausgestat-
tet, wie die Fortsetzung der Annales Petaviani und der Annales Laurissenses minores
belegen.27 Im Jahr 772 wurde Lorsch zur Reichsabtei erhoben und unter königlichen
Schutz gestellt. Damit waren die engen Beziehungen zum karolingischen Königshof
im Folgenden vorgezeichnet. Lorsch blieb bis ins Jahr 1232 Reichsabtei.28
Die Lorscher Handschriftenproduktion begann wohl bereits vor Abt Richbod
(784–804), der unter dem Pseudonym „Macharius“ Teil des Gelehrtenkreises um Karl
den Großen und ein Schüler Alkuins von York (735–804) war.29 Enge Beziehungen
zum karolingischen Hof unterhielt auch Adalung, der der Abtei von 804 bis 834 als
Abt vorstand und dem ab dem Jahre 808 auch noch die Abtei Saint-Vaast bei Arras
in Personalunion anvertraut wurde.30 Unter ihm, wie auch unter seinem Nachfolger
Abt Samuel (837–856), einem Freund des Hrabanus Maurus und später Bischof von
Worms, wurde der Bestand der Lorscher Bibliothek weiter ausgebaut.31 Sowohl über
die engen Beziehungen seiner Äbte zum karolingischen Hof als auch durch die Bereit-
stellung von Wissen, das vor allem dem richtigen Verständnis der heiligen Schriften
und der patristischen Werke dienen sollte, hatte Lorsch Anteil an der karolingischen
Reform. Dabei ging es neben der Korrektheit von Wissen vor allem auch um die Rein-
heit des Glaubens, wie es Alkuin von York in einem Brief an Rado, den Vorgänger des
Adalung als Abt von Saint-Vaast (790–808) und Erzkanzler Karls des Großen (776–
795), auf den Punkt brachte.32 Er schrieb an Rado, der ebenfalls mit dem Skriptorium
von Lorsch eng verbunden war:33
Gorzia, sanctum Naborem in monasterio alio quod dicitur Novacella, sanctum vero Nazarium in mo-
nasterio nostro Lauresham. Annales Laurissenses minores, ed. Pertz, 117. Vgl. Annales Petaviani, ed.
Pertz, 11.
28 Vgl. Scholz 2004, 798.
29 … substituitur Richbodo, vir plane dilectus deo et hominibus, simplex et sapiens, atque tam in divinis
quam in secularibus disciplinis adprime eruditus. Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, 288.
30 Bischoff 1989, 62; Scholz 2004, 773–774.
31 Vgl. Deutinger 2004, 79–87.
32 Rado ist zwischen 772 und 784 in Urkunden Karls des Großen für das Kloster Lorsch als Invenient
belegt: vgl. Codex Laureshamensis, ed. Glöckner, 276 und 283–285.
33 Ergänzungen in der charakteristischen Handschrift Rados finden sich vor allem in Codices, die in
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen 75
Fordere die Brüder auf, dass sie die heiligen Schriften sehr gewissenhaft lesen. Sie mögen nicht
auf das mündliche Wissen vertrauen, sondern auf die Erkenntnis der Wahrheit, damit sie gegen-
über denen, die der Wahrheit widersprechen, Widerstand leisten können. Wir leben in gefährli-
chen Zeiten, wie es die Apostel prophezeit haben, denn es treten viele falsche Gelehrte auf – und
neue Sekten entstehen, die danach streben, die Reinheit des „rechten“ Glaubens durch frevel-
hafte Behauptungen zu besudeln. Daher braucht die Kirche viele Verteidiger, die nicht nur durch
die Heiligkeit des Lebens, sondern auch durch die Lehre der Wahrheit die Festungen Gottes tat-
kräftig zu verteidigen verstehen.34
Alkuin betont in seinem Brief die Bedeutung des Geschriebenen für die Reinheit des
Glaubens, der nur über das richtige Verständnis und die richtige Auslegung der heili-
gen Schrift bewahrt werden könne. Und dazu benötigte man einen „idealen“ Bestand
an Bibelversionen, Bibelkommentaren und exegetischen Schriften der Kirchenväter.
der frühen Produktionsphase des Skriptoriums, d.h. im älteren Lorscher Stil angefertigt wurden: so in
Pal. lat. 207 (Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis), Pal. lat. 822 (Eusebius-Rufinus, Historia
ecclesiastica) und Pal. lat. 1753 (Marius Victorinus, Grammatica, etc.), die sich alle drei heute in der
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Biblioteca Apostolica Vaticana in Rom befinden. Zu Rado vgl. auch den Beitrag von Tino Licht (in
diesem Band), 149–151.
34 Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 117, Nr. 74: Fratres quoque cohortare, ut sanctas diligentissime le-
gant scripturas. Non confidant in linguae notitia, sed in veritatis intellegentia, ut possint contradicen-
tibus veritati resistere. Sunt tempora periculosa, ut apostoli praedixerunt, quia multi pseudodoctores
surgent, novas introducentes sectas, qui catholicae fidei puritatem impiis adsertionibus maculare nit-
untur. Ideo necesse est ecclesiam plurimos habere defensores, qui non solum vitae sanctitate, sed etiam
doctrina veritatis castra Dei viriliter defendere valeant. (Übersetzung d. Verf.).
35 Vgl. Häse 2002. Im Folgenden wird sich an der von Angelika Häse vorgenommen Einteilung der
Kataloge in A, B, Ca und Cb, D orientiert, die von der Zählung bei Bischoff 1989 (I–IV) abweicht.
36 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 1–34. Vgl. Häse 2002, 38.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
76 Julia Becker
tinus, Hieronymus, Gregor der Große, Beda Venerabilis, Ambrosius und Origenes)
und verschiedene Theologen und frühmittelalterliche Gelehrte (Cassiodor, Isidor
von Sevilla, Hilarius von Poitiers, Alkuin etc.).37 Danach folgen ohne eine erkenn-
bare feste Ordnung Briefsammlungen und antike Autoren (wie beispielsweise Seneca,
Cicero, aber auch Tertullian und Petrus Chrysologus), Grammatiker, wieder antike
Autoren (vermischt mit Arianus Candidus, Einhard und Frechulf von Lisieux), christ-
liche Dichtung (u. a. Severus von Malaga, Avitus von Vienne, Cyprianus Gallus), asze-
tische Literatur, Gesetzbücher und Canones, Glossare und Hagiographie.38 Auffallend
ist bei dieser Einteilung vor allem, dass die kirchenhistorischen Schriften direkt nach
den Büchern der Bibel und noch vor den Kirchenvätern aufgeführt werden. Dies ist
dadurch zu erklären, dass die historia sacra im Mittelalter selbst als Exegese der Heili-
gen Schrift verstanden wurde.39 Denn seit Origenes hatten sich vor allem drei Formen
der Bibelexegese (historisch, moralisch, allegorisch-pneumatisch) durchgesetzt, von
denen die historia an erster Stelle stand.40 Rosamond McKitterick vermutete auf-
grund der hohen Konzentration der kirchenhistorischen Schriften außerdem, dass
die karolingischen Bildungsreformer in der Frühphase vor allem diese historiogra-
phischen Werke stark „beworben“ hätten, womit uns ein weiteres Indiz dafür vorlie-
gen würde, dass Lorsch mit dem Zentrum der karolingischen Reform eng verbunden
war.41 Anhand der einzelnen Kataloge können wir die „Entwicklung“ der Lorscher
Bibliothek gut erkennen, deren größte Wachstumsperiode zwischen der Erstellung
des zweiten und dritten Kataloges (B und C) anzusetzen ist.42 Allerdings muss dabei
beachtet werden, dass im frühesten Katalog nicht alle Schriften registriert und diese
of the Eusebius-Rufinus Historia ecclesiastica and the Historia tripartita across the Carolingian em-
pire, could reflect the deliberate promotion of these books at an early stage of the Carolingian reform
movement.“
42 Der früheste Lorscher Bibliothekskatalog A, um 830 zu datieren, verzeichnete etwa 30 Augustinus-
Titel, der auf ihm aufbauende Katalog B (um 830-840) bereits 70, der ausführlichste dritte Katalog (Ca
und Cb) sogar etwa 85 und der vierte, etwas weniger ausführliche Katalog D nur noch ca. 73, wobei
sich darunter jedoch viele Zweitexemplare befinden. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Hierony-
mus-Bänden: in Katalog A finden sich nur drei Hieronymus-Titel, in B schon 25, in Ca und Cb 32 und in
D nur noch 26. Machen wir eine Stichprobe bei einem nicht-patristischen Autor, z. B. Alkuin von York,
ergibt sich ein ganz ähnliches Bild: Katalog A nennt drei Einträge zu Alkuin, Katalog B bricht vorher
ab, Katalog Ca und Cb führt elf und Katalog D nur noch neun Schriften Alkuins auf.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen 77
dann teilweise zum ersten Mal in Katalog B aufgenommen wurden.43 Schauen wir
detaillierter in die einzelnen Abteilungen, lassen sich einige Lorscher „Spezialitäten“
erkennen: Das Hauptaugenmerk lag sicherlich im Bereich der patristischen Autoren.
Die Werke des Augustinus waren um die Mitte des 9. Jahrhunderts fast vollständig
vertreten, und hierin übertraf Lorsch fast alle anderen wichtigen Klöster der Zeit, zu
nennen sind nur die Reichenau, St. Gallen, Murbach, Bobbio, Fulda und Corbie.44
Eine weitere Besonderheit, die sich unter der Rubrik Grammatici des Lorscher Kata-
logs Ca entdecken läßt, ist unter anderem die Tatsache, wie stark christliche Dichtung
aus der Spätantike in Lorsch vertreten war, die sich in etwas geringerer Konzentration
nur noch in Murbach und St. Gallen findet.45 Leider haben sich heute, außer einigen
Fragmenten, so gut wie keine Handschriften mit den Werken des Severus von Malaga,
Arator, Avitus von Vienne oder Cyprianus Gallus mehr erhalten.46 Während Leges und
karolingische Kapitularien in St. Gallen stark vertreten sind, sucht man hingegen in
Lorsch Handschriften, die säkulare Rechtstexte enthalten, fast vergebens. Außer dem
Eintrag der Lex Gothorum in uno codice und Lex Ripuaria et Lex Salica in uno codice im
dritten Katalog scheinen in Lorsch keine Leges vertreten gewesen zu sein.47
Bei dem Blick in die Handschriften der ersten drei Bibliothekskataloge fällt auf,
dass jeweils nach den Einträgen zu Augustinus – bevor die Aufzählung der Werke
des Hieronymus beginnt – eine größere Lücke gelassen wurde, was bei den anderen
Autoren nicht der Fall ist.48 Vielleicht hatte man absichtlich diesen Platz für „Nach-
träge“ gelassen, da man hier zum Zeitpunkt der Katalogerstellung noch den größten
Zuwachs der Bibliothek erwartete. Leider hat sich ausgerechnet die Handschrift der
Retractationes des Augustinus aus dem Lorscher Bestand nicht mehr erhalten,49 so
dass nicht mehr überprüft werden kann, wie diese von den Verfassern der Lorscher
Kataloge rezipiert wurde und ob sie noch in der Bibliothek fehlende Stücke dort ver-
merkten, wie Bernhard Bischoff dies für Mainz und Murbach nachweisen konnte.50
Allerdings ist feststellen, dass sich keiner der Kataloge bei der Anordnung der Augus-
tinus-Werke an der Reihenfolge, wie diese in den Retractationes wiedergegeben
werden, orientiert.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
78 Julia Becker
Vergleicht man den Lorscher Bestand mit den Vorstellungen Cassiodors von einer
„idealen“ Bibliothek wird deutlich, dass Lorsch bei den von Cassiodor geforderten
Augustinusschriften fast die doppelte Menge vorzuweisen hatte und auch bei den
übrigen Kirchenvätern und anderen christlichen Autoren gut mit den Forderungen
Cassiodors Schritt halten konnte.51 Bei der profanen Literatur jedoch, vor allem bei
den von Cassiodor genannten Autoren der artes liberales und den historiographi-
schen Werken fallen viele Lücken ins Auge. Hier sieht man deutlich, dass das Kloster
Vivarium von Cassiodor als Schulkloster konzipiert war, welche Funktion im Fall von
Lorsch wesentlich unwichtiger gewesen zu sein scheint. Außerdem hatte sich die Aus-
gangssituation seit der Gründung von Vivarium, wo Cassiodor noch an die spätanti-
ken Wissensideale anknüpfen konnte, inzwischen grundlegend verändert. Abgese-
hen davon konnte die Präsenz des Wissens, das die Lorscher Klosterbibliothek Mitte
des 9. Jahrhundert vor allem hinsichtlich der patristischen Schriften zu bieten hatte,
durchaus – wenn auch eine gewisse Zeitverzögerung festzustellen ist – den Anliegen
der karolingischen Bildungsreformer gerecht werden und es mit den anderen monas-
tischen Wissenszentren seiner Zeit aufnehmen.
lium Iohannis wurde an mehreren Stellen durch Lorscher Schreiber korrigiert, so etwa
auf fol. 8v, wo die Phrase caput enim omnium peccatorum superbia am Rand korrekter-
weise in caput omnium morborum superbia est, quia caput omnium peccatorum super-
51 Zum Bestand des Klosters Vivarium vgl. Cassiodor, Institutiones, 488–500; Troncarelli 1998.
52 Vgl. Bischoff 1989, 31, 33, 35.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen 79
bia verbessert wurde.53 Am Ende des gleichen Blattes wurde eine weitere ergänzende
Änderung durch dieselbe Hand, die dem bereits erwähnten Rado zuzuschreiben ist,
vorgenommen. Charakteristisch für die Handschrift des Rado sind die ausgeprägten
Ober- und Unterlängen, die schlaufenförmigen Verdickungen an den Oberlängen,
das über die Zeile geführte e und die knospenartigen Verdickungen am Ansatz des f.
Eingefügt ist eine im Text der Handschrift ausgelassene Passage, die jedoch für das
richtige Verständnis der Stelle von zentraler Bedeutung ist.54
Abb. 6: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 8v: Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis.
© [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
Rado, zunächst Erzkanzler am Hof Karls des Großen, war also auch im Lorscher Skrip-
torium nicht als einfacher Schreiber, sondern in leitender Funktion tätig und kontrol-
lierte die korrekte Ausführung und Weitergabe der patristischen Texte.55
54 Nach der Phrase: ergo quia humilitatem docet deus, dixit: non ueni facere uoluntatem meam, sed
eius uoluntatem qui me misit, ist eingefügt: haec enim commendatio humilitatis est. Superbia quippe
facit uoluntatem suam; humilitas facit uoluntatem dei. Ideo qui ad me uenerit, non eiciam foras. Quare?
quia non ueni facere uoluntatem meam, sed uoluntatem eius qui me misit. Danach geht es wieder kor-
rekt oben im Text weiter mit: humilis ueni, humilitatem docere ueni … Augustinus, Tractatus in evange-
lium Iohannis, 25, 16, ed. Willems, 257.
55 In Rom, BAV, Pal. lat. 822 (Eusebius-Rufinus, Historia ecclesiastica) hat Rado, wie es dem Lei-
ter eines Skriptoriums zustand, einige Kapitelüberschriften geschrieben (vgl. foll. 121v, 125v, 126v). In
Rom, BAV, Pal. lat. 1753 (Marius Victorinus, Grammatica, etc.) stammen ganze Passagen aus seiner
Hand (vgl. foll. 21r, 40r-42v, 43v-47v) wie auch in Pal. lat 487 (Ordo Romanus), wo er foll. 20r–24r ge-
schrieben hat.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
80 Julia Becker
Durch die für Lorsch in dieser Zeit typischen Korrekturmerkmale – hl (hic lege)
und hd (hic deest) mit Kreuzstrich durch den Schaft von hd und hl –, die Wallace
Lindsay als Lorscher „Ohrmarke“ bezeichnet hat, lassen sich Verbesserungen durch
das Lorscher Skriptorium oder durch Lorscher Schreiber auch in Handschriften aus
anderen Bibliotheken nachweisen.56 So beispielsweise in der in St. Gallen entstande-
nen Handschrift (Codices Sangallenses 165) mit dem Psalmenkommentar des Augus-
tinus, die zahlreiche Lorscher Korrektureinträge hic lege und hic deest enthält und die
daher entweder in Lorsch oder durch einen Lorscher Schreiber korrigiert wurde.57 Um
ein ganzes Doppelblatt wurde der Reichenauer Augustinus-Codex De Genesi contra
Manichaeos ergänzt, der heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe auf-
bewahrt wird.58 Der Augustinus-Handschrift fehlte zum richtigen Verständnis sogar
eine längere Passage des ersten Buches, die auf einem im jüngeren Lorscher Stil aus-
gefertigten Doppelblatt nachgetragen und dann – wenn auch an falscher Stelle – in
den Reichenauer Codex eingefügt wurde.59 Aber auch bei Handschriften, die nicht in
Lorsch produziert, sondern „nur“ für die dortige Bibliothek erworben wurden, war
die richtige Ausführung der Texte wichtig. Dies belegen beispielsweise die Korrektu-
ren im Codex Pal. lat. 183 (Hieronymus, Quaestiones Hebraicae), der wohl im ersten
Viertel des 9. Jahrhunderts in der Loire-Gegend entstanden war und wenig später in
Lorsch korrigiert wurde,60 oder im Codex Pal. lat. 202 (Augustinus, De trinitate), der
um 800 in einem deutsch-angelsächsischen Skriptorium geschrieben und kurz darauf
durch Lorscher Hände in der Benediktinerabtei an der Weschnitz berichtigt wurde.61
Der Blick in die Handschriften belegt, dass die korrekte Weitergabe patristischen
Wissens für die karolingischen Gelehrten eine zentrale Rolle spielte und sich andere
zeitgenössische Skriptorien (St. Gallen, Reichenau) durchaus am Wissensstand der
Lorscher Bibliothek orientierten. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit das Lorscher
Skriptorium auf die Produktion von korrekten patristischen Handschriften speziali-
siert war oder diese vorwiegend korrigierte? Von den circa 25 Codices, die Bernhard
Bischoff dem älteren Lorscher Stil zuordnete, handelt es sich nur bei neun Handschrif-
ten um patristische Texte, vor allem Werke des Augustinus und Hieronymus. Daneben
57 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 165 (Augustinus in psalmos), foll. 56, 66, 79, 86, 92, 120, 124, 140,
144, 152, 157, 169, 172, 177, 195, 214, 234, 275.
58 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Aug. perg. 187, foll. 11r–v.
59 Der Nachtrag, der mit sic fortasse endet, hätte allerdings erst nach fol. 12r eingeordnet werden
dürfen. Diese Lorscher Korrektur muss vor dem Jahr 847 entstanden sein, da am Ende des Nachtrags
noch ein Gruß an den Reichenauer Lehrer Tatto (Vale frater, fidelissime Datto) angefügt ist, der im
Jahre 847 starb. Vgl. auch Bischoff 1989, 47. Der im jüngeren Lorscher Stil ausgefertigte Nachtrag weist
bereits mehrere Merkmale des Lorscher Spätstils auf (unziales D, tiefgespaltene re-Ligatur) und kün-
digt daher einen nahenden Stilwechsel im Skriptorium an.
60 Rom, BAV, Pal. lat. 183, foll. 4r, 10r, 11r, 18v, 28r, 32v, 33r. Vgl. Bischoff 1989, 60.
61 Rom, BAV, Pal. lat. 202, foll. 6v, 14r, 14v, 23r. Vgl. Bischoff 1989, 60; CLA I, 83.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen 81
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
82 Julia Becker
800 im Umkreis des Hofes vermutete, um 800 bereits in das Skriptorium von Corbie
eingedrungen war.66 Ein karolingischer Rezipient, dessen Identität leider nicht mehr
endgültig festzustellen ist, hat diese Handschrift besonders intensiv gelesen und an
fast allen Stellen, an denen ein neuer Augustinusbrief beginnt, in tironischen Noten
vermerkt,67 ob er über diesen Brief bereits verfügte (ibi est)68 oder noch nicht (non
habemus in aliis69 oder non habemus in aliis et est inferius in isto).70 In einem Fall
notierte er auch, wo der eine Augustinusbrief endet und der folgende beginnt (hic
deest finis istius epistulae et principium sequentis).71 Aus welchem Umfeld dieser
aufmerksame und in den tironischen Noten geschulte Leser kam, kann nicht mehr
eindeutig geklärt werden. Es ist jedoch anzunehmen, dass er aus dem westfränki-
schen Kontext stammte, da die Verwendung der tironischen Noten bisher vor allem
für diesen Bereich nachgewiesen werden konnte.72 Die Tatsache, dass der Vermerk
non habemus hier im Plural und nicht im Singular steht, wie dies in der heute in der
Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrten Handschrift Pal. lat. 211 der Fall ist,73
könnte dahingehend interpretiert werden, dass die Corbier Augustinus-Briefsamm-
lung von einem Skriptoriumsleiter oder Bibliothekar gezielt auf in seiner Klosterbi-
bliothek noch fehlende oder bereits vorhandene Texte durchgesehen wurde. Daher
ist es besonders interessant, dass die Kataloge B74 und Ca75 der Lorscher Bibliothek,
(foll. 121r und 124v) ist am Rand in tironischen Noten non habeo vermerkt. Bei diesen, dem gelehrten
Leser noch unbekannten Augustinus-Titeln kann man nachvollziehen, dass sie ganz intensiv studiert
wurden. Denn am Rand wird – wiederum in tironischen Noten vermerkt – bis wohin der Rezipient
gelesen hatte, wo er aufhören mußte, dimisi (foll. 5r, 90r, 98v, 104v, 106r, 109v, 113v, 118r, 121v,122r,124r),
und wo er wieder angefangen hat, incipe (foll. 18r, 20r, 22v, 24r, 26r, 30r, 33r). Vgl. dazu den Beitrag von
Martin Hellmann (in diesem Band), 181–182. Bernhard Bischoff, der fälschlicherweise non habemus
las, folgerte daraus, dass diese Handschrift im gleichen Zentrum wie Paris, Bibliothèque nationale
de France, Lat. 12226, auf fehlende Texte durchgesehen wurde (vgl. Bischoff 1989, 39). Dies ist jedoch
aufgrund des ganz anderen Anmerkungssystems zu bezweifeln. Vgl. auch Hellmann 2000, 13–14.
74 Rom, BAV, Pal. lat 1877, foll. 60v–61r. Vgl. Häse 2002, 125–126.
75 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 15r–v. Vgl. Häse 2002, 148.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen 83
5 Fazit
Die gezeigten Beispiele lassen deutlich werden, dass die karolingischen Zeitgenossen
durchaus ein Gespür für die einzigartige Präsenz des Wissens besaßen, das die Lor-
scher Klosterbibliothek – vor allem hinsichtlich der patristischen Werke – aufzuwei-
sen hatte und dieses auch dementsprechend rezipierten.
Doch die Lorscher Bibliothek wurde nicht nur wegen ihrer patristischen Werke
konsultiert. Der irische Gelehrte Sedulius Scottus († ca. 860) beispielsweise schätzte
den Lorscher Bestand vor allem für den Horazkommentar des Pomponius Porphyrio
(Anfang 3. Jahrhundert): Lies die Auslegung des Pomponius zu Horaz, die ich in Lorsch
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
gesehen habe, empfahl der Ire seinem Schülerkreis, wie eine heute in Bern liegende
76 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, foll. 67ra–79vb. Vgl. Häse 2002, 60; Bischoff 1989, 26.
77 Vgl. Häse 2002, 230–232, Nr. 141.
78 Dies vermutete bereits David Ganz: vgl. Ganz 1990, 45.
79 Zu Adalhards Hofnähe und Bemühen, die Bestände der Corbier Klosterbibliothek anzureichern,
vgl. Kasten 1986, 63–68.
80 Vgl. Häse 2002, 75; McKitterick 1989, 190.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
84 Julia Becker
81 Bern, Burgerbibliothek, Ms. 363, fol. 25v: Lege Pomponii expositionem in Oratium, quam vidi in
Lorashaim. Zu einer ausführlichen Beschreibung der Handschrift vgl. Licht 2006, 122–124. Außerdem
Bischoff 1989, 65.
82 Vgl. hierzu Licht 2006, 124; Häse 2002, 34.
83 Vgl. Häse 2002, 165 und 309, Nr. 345.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
84 „Verzeichnet ist also der (leider nicht erhaltene) Lorscher Horazcodex, nicht aber der (dort ja mit
Sicherheit befindliche) Kommentar, er gehörte eben dazu oder war sogar in die Handschrift inte-
griert.“ Licht 2006, 125.
85 Hinter dem Eintrag zu den Epistulae Austrasiacae im Lorscher Katalog A ist – wohl vom Verfasser
des Katalogs selbst – der ursprüngliche Fundort dieser Briefsammlung vermerkt: Liber epistularum
diversorum patrum et regum, quas Treveris inveni, in uno codice XLIII, um die dann die Lorscher Bib-
liothek angereichert wurde. Vgl. Häse 2002, 98; Bischoff 1989, 21 und 75.
86 Omeliam sancti Leonis et tractatum beati Baedae in Tobia, deprecor, ut ad horam prestes nobis.
Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, Nr. 191, 318 (der Brief Alkuins ist zwischen die Jahre 796 und 800 zu
datieren).
87 Vgl. Häse 2002, 136.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen 85
von den persönlichen Vorlieben und Kontakten der Klöster und vor allem ihrer Äbte
abhängig.88 Die These von Felix Heinzer, dass „Zeiten geistlicher Reform im Mittelal-
ter immer auch Epochen intensiver Pflege von Schriftlichkeit seien“, findet beim Blick
auf die Entwicklung der Lorscher Bibliothek im 9. Jahrhundert Bestätigung.89 Die enge
Verbindung der Lorscher Äbte zum karolingischen Hof bestimmte letztendlich den
Anteil des Lorscher Skriptoriums am Reformvorgang und trug damit, wenn auch mit
einer gewissen Zeitverzögerung, zur einzigartigen Präsenz von patristischem Wissen
in der Lorscher Klosterbibliothek bei.
Quellen
Die Admonitio generalis Karls des Großen, ed. Hubert Mordek/Klaus Zechiel-Eckes/Michael
Glatthaar, MGH Leges, Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum separatim editi 16,
Hannover.
Alkuin, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 4 (Epistolae Karolini Aevi II), Berlin 1895
(Nachdruck 1994), 1-481.
Annales Laurissenses minores, ed. Georg Heinrich Pertz, MGH SS 1, Hannover 1826 (Nachdruck
Stuttgart 1976), 112-123.
Annales Petaviani continuatio, ed. Georg Heinrich Pertz, MGH SS 1, 11-13.
Augustinus, Tractatus in evangelium Iohannis, ed. Radbod Willems, CCSL 36, Turnhout 1954.
Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus, ed. Michael Tangl, MGH Epistolae selectae 1, Berlin
1916.
Cassiodor, Institutiones: Cassiodor, Institutiones divinarum et saecularium litterarum. Einführung
in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften, übers. und eingel. von Wolfgang Bürsgens,
Fontes Christiani 39/1-2, Freiburg u.a. 2003.
CLA I: Codices Latini Antiquiores, Bd. I: The Vatican City, hg. von Elias Avery Lowe, Oxford 1934.
CLA V: Codices Latini Antiquiores, Bd. 5: France: Paris, hg. von Elias Avery Lowe, Oxford 1950.
Codex Laureshamensis, Erster Band: Einleitung, Regesten, Chronik, ed. Karl Glöckner, Darmstadt
1929.
MGH Capit. 1: Capitularia regum Francorum I, ed. Alfred Boretius, MGH Capitularia 1, Hannover 1883
(Nachdruck 1984).
Urkundenbuch des Klosters Fulda, ed. Edmund E. Stengel, Bd. 1 (Die Zeit der Äbte Sturmi und
Baugulf), Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 10,1,
Marburg 1958.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
86 Julia Becker
Literatur
Becker (1885): Gustav Becker, Catalogi bibliothecarum antiqui, Bonn.
Berschin (1991): Walter Berschin, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 3:
Karolingische Biographie 750–920 n. Chr., Quellen und Untersuchungen zur lateinischen
Philologie des Mittelalters 10, Stuttgart.
Bischoff (²1989): Bernhard Bischoff, Die Abtei Lorsch im Spiegel ihrer Handschriften, Geschichts-
blätter Kreis Bergstrasse, Sonderband 10, Lorsch.
Bischoff (42009): Bernhard Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendlän-
dischen Mittelalters, Berlin.
Bischoff/Schetter (1994): Bernhard Bischoff/Willy Schetter (Hgg.), „Severi Episcopi ‚Malacitani (?)‘“,
in: Evangelia Libri XII. Das Trierer Fragment der Bücher VIII–X, unter Mitwirkung von Reinhart
Herzog, bearbeitet von Otto Zwierlein, München.
Burdach (1918): Konrad Burdach, Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abhandlungen über
die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst, Berlin.
Deutinger (2004): Roman Deutinger, „Zur Biographie Bischof Samuels von Worms“, Archiv für mittel-
rheinische Kirchengeschichte 56, 79–87.
Diem (1998): Albrecht Diem, „The emergence of monastic schools. The role of Alcuin“, in: Luuk A.
J. R. Houwen/Alasdair A. MacDonald (Hgg.), Alcuin of York. Scholar at the carolingian court,
Groningen, 27–44.
Fleckenstein (1953): Josef Fleckenstein, Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der
Norma rectitudinis, Bigge-Ruhr.
Fried (1997): Johannes Fried, „Karl der Große, die Artes liberales und die karolingische
Renaissance“, in: Paul Butzer/Max Kerner/Walter Oberschelp (Hgg.), Karl der Grosse und sein
Nachwirken. 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa, Turnhout, 25–43.
Ganz (1990): David Ganz, Corbie in the Carolingian renaissance, Sigmaringen.
Goetz (1985): Hans-Werner Goetz, „Die ‚Geschichte‘ im Wissenschaftssystem des Mittelalters“, in:
Franz-Josef Schmale, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung, Darmstadt.
Hartmann (2010): Wilfried Hartmann, Karl der Große, Stuttgart.
Häse (2002): Angelika Häse, Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus Kloster Lorsch. Einleitung,
Edition und Kommentar, Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 42, Wiesbaden.
Heinzer (2002): Felix Heinzer, „Exercitium scribendi – Überlegungen zur Frage einer Korrelation
zwischen geistlicher Reform und Schriftlichkeit im Mittelalter“, in: Hans-Jochen Schiewer/Karl
Stackmann (Hgg.), Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften, Tübingen, 107–127.
Hellmann (2000): Martin Hellmann, Tironische Noten in der Karolingerzeit am Beispiel eines Persius-
Kommentars aus der Schule von Tours, Hannover.
Hilgert (2010): Markus Hilgert, „‚Text-Anthropologie‘: Die Erforschung von Materialität und Präsenz
des Geschriebenen als hermeneutische Strategie“, in: ders. (Hg.), Altorientalistik im 21.
Jahrhundert. Selbstverständnis, Herausforderungen, Ziele, Mitteilungen der Deutschen Orient-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Präsenz, Normierung und Transfer von Wissen 87
zu Wort- und Stoffgeschichten. Festschrift zum 70. Geburtstag von Theo Stemmler, Anglistische
Forschungen 370, Heidelberg, 109–134.
Licht (2008): Tino Licht, „Aratoris fortuna. Aufgang und Überlieferung der Historia apostolica“, in:
Andrea Jördens/Harns Armin Gärtner/Herwig Görgemanns/Adolf Martin Ritter (Hgg.), Quaerite
faciem eius semper. Studien zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike
und Christentum als Dankesgabe für Albrecht Dihle aus dem Heidelberger „Kirchenväterkol-
loquium“, Hamburg, 163–179.
Lindsay (1924): Wallace Martin Lindsay, „The (early) Lorsch Scriptorium“, in: ders. (Hg.), Palaeo-
graphia latina, Bd. 3, St. Andrews University publications 19, Oxford/London/Edinburgh u. a.,
5–48.
McKitterick (1989): Rosamond McKitterick, The Carolingians and the written word, Cambridge.
McKitterick (2004): Rosamond McKitterick, History and memory in the Carolingian world,
Cambridge.
Patzelt (1924): Erna Patzelt, Die karolingische Renaissance. Beiträge zur Geschichte der Kultur des
frühen Mittelalters, Wien.
Schieffer (1997): Rudolf Schieffer, „Vor 1200 Jahren: Karl der Große läßt sich in Aachen nieder“, in:
Paul Butzer/Max Kerner/Walter Oberschelp (Hgg.), Karl der Grosse und sein Nachwirken. 1200
Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa, Turnhout, 3–21.
Scholz (2004): Sebastian Scholz, „Lorsch. Geschichtlicher Überblick“, Germania Benedicta 7,
768–798.
Steckel (2011): Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter. Autorität, Wissens-
konzepte und Netzwerke von Gelehrten, Köln/Weimar/Wien.
Troncarelli (1998): Fabio Troncarelli, Vivarium. I libri, il destino, Instumenta Patristica 33, Turnhout.
Weinfurter (2012): Stefan Weinfurter, „Eindeutigkeit – Motor von Innovation im Mittelalter?“, in:
Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 2011, Heidelberg 2012, 73–74.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Sita Steckel
Von Buchstaben und Geist
Pragmatische und symbolische Dimensionen der Autorensiglen
(nomina auctorum) bei Hrabanus Maurus
Ich habe sorgfältig beschaut und im Folgenden also hier versammelt, was die bedeutendsten
und würdigsten Künstler der heiligen Lesungen in ihren Werken über die Worte des seligen
Matthäus gedacht und geschrieben haben. Ich nenne Cyprian und Eusebius, Hilarius, Ambro-
sius, Hieronymus, Augustinus, Fulgentius, Victorinus, Fortunatianus, Orosius, Leo, Gregor von
Nazianz, Gregor den römischen Papst, Iohannes Chrysostomus, und die übrigen Väter, deren
Namen im Buch des Lebens stehen. So gut ich konnte, war ich ihrer Lektüre ergeben, insofern
mir das zwischen den unzähligen Belastungen des monastischen Dienstes möglich war – und
neben der Belehrung der Kleinen, die uns nicht wenig Mühe kostet und Lesezeit verbraucht.
Mir selbst als Diktator, Notar und Bibliothekar dienend, ließ ich auf Zettel schreiben, was ich
an Auslegungen auffand, entweder in ihren eigenen Worten oder auch einmal aus Gründen der
Kürze in meinen eigenen. Da es mühevoll war, jeweils einzeln die Worte einzusetzen und zu
zeigen, was wörtlich von welchem Autor gesagt war, hielten wir es für bequemer, immerhin am
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Im Rahmen der in diesem Band dokumentierten Lorscher Tagung erhielt ich für diesen Beitrag wert-
volle Hinweise und Anregungen von Mariken Teeuwen, Irene van Renswoude, Janneke Raaijmakers,
Evina Steinová, Carla Meyer und Walter Berschin, für die herzlich gedankt sei. Genauso bedanke ich
mich bei Christel Meier-Staubach für die Überlassung eines unveröffentlichten Vortragsmanuskripts
zur mittelalterlichen Ambiguitätstoleranz.
1 Vgl. zu Leben und Werk des Hrabanus Maurus grundlegend Kottje/Zimmermann 1982; Kottje 1991;
Schaller 1971; sowie zuletzt Raaijmakers 2012, 175–265. Zu Hrabans Widmungen an Haistulf vgl. auch
Steckel 2011b; Steckel 2014a.
© 2015, Steckel.
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
90 Sita Steckel
Rand die ersten Buchstaben der Namen einzutragen und so einzeln mitzuteilen, wo jeweils eine
Aussage der Väter beginnt und wo der Ausschnitt, den ich übertragen habe, endet. So habe ich
dafür gesorgt, dass man mir nicht nachsagen kann, ich hätte die Aussagen der Großen gestohlen
und quasi als meine eigenen ausgegeben. [...] Ohne anderen etwas absprechen zu wollen, füge
ich aber hinzu, dass ich auch einiges eingetragen habe, das mir der Quell des Lichts selbst zu
eröffnen geneigt war und das ich zur Bezeichnung meiner eigenen Arbeit, wo passend, durch die
Notiz meines Beinamens gekennzeichnet habe.2
Hrabanus Maurus sammelte also in Fulda die Aussagen der Väter, stellte sie neu
zusammen und ergänzte sie. Das so zusammengestellte Wissen versah er dann zwar
nicht mit Fußnoten, aber sozusagen mit Fußspuren, meist geradezu buchstäblichen
vestigia patrum, Spuren der Kirchenväter in Form von Autorensiglen wie AG, B, GG,
HR, ISD.3 Diese hochinteressanten symbolischen Markierungen sind vielfach heute
noch sichtbar, da in einer ganzen Reihe von Handschriften Siglen der von Hrabanus
benutzten Autoritäten im Randbereich eingetragen sind. Unter ihnen ist auch der
Buchstabe M durchaus häufig, also die Sigle, die Hrabanus für eigene Formulierun-
gen unter dem von seinem Lehrer Alkuin verliehenen Beinamen Maurus4 verwendete.
Ein schönes Beispiel ist die soeben in der Bibliotheca Laureshamensis digital zugäng-
lich gemachte vatikanische Handschrift Rom, BAV, Pal. lat. 293 aus Lorsch oder der
ebenfalls dort einsehbare Codex München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8108 aus
Fulda, der direkt auf Exemplare Hrabanus’ zurückgehen dürfte. Weitere Handschrif-
ten lassen sich leicht auffinden und mittlerweile auch vielfach digital einsehen.5
2 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 389–390: Adgregatis igitur hinc inde insignissimis sacrae
lectionis atque dignissimis artificibus, quid in opusculis suis in beati Mathei verbis senserint, quid dixer-
int, diligentius inspicere curavi: Cyprianum dico atque Eusebium, Hilarium, Ambrosium, Hieronimum,
Augustinum, Fulgentium, Victorinum, Fortunatianum, Orosium, Leonem, Gregorium Nazanzenum, Gre-
gorium papam Romanum, Iohannemque Crisostomum et ceteros patres, quorum nomina sunt scripta in
libro vitae. Horum ergo lectioni intentus, quantum mihi pro innumeris monasticae servitutis retinaculis
licuit, et pro nutrimento parvulorum, quod non parvam nobis ingerit molestiam et lectionis facit iniu-
riam, ipse mihi dictator, simul notarius et librarius, existens, in scedulis ea mandare curavi, quae ab eis
exposita sunt vel ipsis eorum syllabis vel certe meis breviandi causa sermonibus. Quorum videlicet quia
operosum erat vocabula interserere per singula, et quid a quo auctore sit dictum nominatim ostendere,
commodum duxi eminus e latere primas nominum litteras inprimere, perque has viritim, ubi cuiusque
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
patrum incipiat, ubi sermo quem transtuli desinat, intimare, sollicitus per omnia, ne maiorum dicta
furari et haec quasi mea propria componere dicar. [...] Preter haec quoque nonnulla, ut sine laesione
aliorum dicam, quae mihi auctor lucis aperire dignatus est, proprii sudoris indicia per notas vocabuli
agnominisque mei, ubi oportunum videbatur adnexui [...]. (Übersetzung d. Verf.).
3 Das Wortspiel Fußnote – Fußspur im Bezug auf Beda schon bei Hill 2006, 228–229.
4 Vgl. zum Beinamen Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 402 sowie Judic 2010.
5 Die Handschrift Rom, BAV, Pal. lat. 293 (Hrabanus Maurus, Commentarium in libros Regum I–IV) ist
auf der Seite der Bibliotheca Laureshamensis unter der persistenten URL http://bibliotheca-lauresha-
mensis-digital.de einzusehen. Vgl. in der Bibliotheca Laureshamensis sowie beim Digitalisierungs-
zentrum der Bayerischen Staatsbibliothek (http://www.digitale-sammlungen.de) auch München,
Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8108 (Commentarium in epistulam beati Pauli ad Romanos V–VIII),
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 91
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Abb. 7: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8108, fol. 29r (Rhabani Mauri expositionis super
epistolam S. Pauli ad Romanos libri V–VIII), aus Fulda, Mitte des 9. Jahrhunderts.
nur in München, Clm 14384 (Hrabanus Maurus, In libros Regum), Clm 6260 (In Genesin), Clm 6261 (In
librum Numerorum), Clm 6262 (In libros Paralipomenon).
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
92 Sita Steckel
zuletzt ein Verzeichnis der Handschriften mit Werken Hrabans vorgelegt, Kottje 2012. Überlegungen
zu Hrabans exegetischem Werk und zu seiner Arbeitsweise bes. in Zimpels Edition (De institutione
clericali, ed. Zimpel 1996) und Cantelli 2006 sowie bei den Beiträgern in Depreux 2010; Felten/Nicht-
weiß 2006, insbesondere Felten 2006; Dreyer 2006 und Aris 2006; den Beiträgern in Schrimpf 1996,
insbesondere Aris 1996 und Enders 1996; De Jong 1995, 2000, 2001; Spilling 1992; Richenhagen 1989;
Rissel 1976; Müller 1973; Heyse 1969.
8 Die Bezeichnung „Hrabanus Maurus, der öde Kompilator“ bei Curtius 1948, 93.
9 Vgl. zum Konzept des Plagiats in Bezug auf Hrabanus Cardelle de Hartmann 2000, 93-95 sowie die
Stellungnahmen von Brunhölzl 1982; Kottje 1975; Lehmann 1954. Allgemein Ziolkowski 2001; Cons-
table 1983, 26–40.
10 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 7–124 sowie Zimpel in Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 93
stellte sich Hrabanus mit seiner sammelnden Arbeitsweise bewusst in eine spezi-
fische Tradition Bedas und Alkuins:11 Schon seit seinen ersten Werken verfolgte er
den bereits aus der Zeit der Bildungsreformen Karls des Großen stammenden Plan
eines ‚colligere in unum’. Die vorliegenden Auslegungen der Väter zur gesamten Bibel
sollten gesichert, zusammengeführt und, wo nötig, durch weitere Auslegung ergänzt
werden.
Diesen Plan setzte Hrabanus im Laufe seines Lebens weitgehend in die Tat um,
wobei er ein zunehmend eigenständiges exegetisches Profil entwickelte. Sowohl in
seinen sammelnden collectanea wie in einigen vorrangig von ihm selbst kommentier-
ten Büchern der Bibel zeigt sich starkes Interesse für die allegorische Auslegung und
eine intensive Beschäftigung mit der Einheit der Kirche und dem Konzept der Häresie.
Wie zudem Mayke De Jong hervorhebt, positionierte Hrabanus’ starker Bezug auf
die Bibel als ‚Gesetz’ und auf deren traditionsorientierte Auslegung ihn an einer für
das 9. Jahrhundert essentiellen Quelle politischer und intellektueller Legitimität. Er
schreckte gerade in politisch aufgeladenen Situationen auch nicht davor zurück, aus
ihr innovative Deutungen zu schöpfen.12
Während Hrabanus’ Ruf als Gelehrter somit hinreichend etabliert erscheint, ist
das Phänomen der Autorensiglen (nomina auctorum, signa nominum) bislang meist
nur als Beweis für die Tatsache zitiert worden, dass Hrabanus Maurus selbst sich der
Gefahr des Plagiats bewusst war. Gerade das große Repertorium Fontium Cantellis zu
Hrabanus’ exegetischem Werk setzt sich zwar punktuell mit den Siglen auseinander,
geht aber nicht auf das Phänomen selbst ein. Insbesondere fehlt daher ein direkter
Vergleich der von Cantelli erschlossenen Quellen Hrabanus’ mit den handschriftlich
überlieferten Siglen.13
Doch scheint die gesamte Praxis derartigen ‚Zitierens’ im 9. Jahrhundert überra-
schend weit verbreitet und wir kennen Vorbilder und Parallelen zunehmend genauer.
Es liegt also nahe, die nomina auctorum mit zeitgenössischen Vorstellungen zu Wissen
und Erkenntnis, mit der materiellen Entstehung der Werke Hrabanus’ und nicht
zuletzt seinem Selbstverständnis als Exeget im Rahmen der patristischen Tradition in
Verbindung zu bringen. Die vorliegende Skizze möchte Anregungen für solche Quer-
verbindungen geben. Sie kann anhand weniger Stichproben an den Handschriften
lediglich Fragen für künftige Forschungen aufwerfen. Dies mag aber angesichts des
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Zimpel 1996, 37-95; an älteren Studien vgl. zum Umgang mit Quellen spezifisch Blumenkranz 1977;
Rissel 1976; Heyse 1969.
11 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 7-14 und 79–124. Zur Charakteristik von collectanea siehe nochmals unten.
12 De Jong 1995, 2000. Hrabans starke Fokussierung auf die Bibel ist schon früher hervorgehoben
worden, etwa von Kottje 1975, 538; Brunhölzl 1982, 4.
13 Auf die Möglichkeit, anhand des Repertorium fontium bei Cantelli 2006 nach ‚Arbeitshandschrif-
ten’ Hrabanus’ zu suchen, wies etwa Klaus Zechiel-Eckes in seiner Rezension hin, vgl. Zechiel-Eckes
2008.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
94 Sita Steckel
aktuell wachsenden Interesses an der Materialität von Texten14 und speziell an karo-
lingerzeitlicher Gelehrsamkeit und deren materiellem Niederschlag legitim sein.15
Als Zugang soll hier der Gedanke verfolgt werden, dass im 9. Jahrhundert keines-
wegs nur eine Logik der literarischen Originalität zur Erklärung gelehrter Arbeitstech-
nik bemüht werden darf. Ihr stand vielmehr offensichtlich schon für die Zeitgenos-
sen eine Logik der authentischen Wiedergabe höherer Wahrheit gegenüber. Vielen
älteren, grundlegend auf moderne, säkular gedachte Wissenschaft ausgerichteten
Forschungen erschien diese eindeutig religiöse Aufladung gelehrter Kultur des Früh-
mittelalters weniger interessant.16 Doch Hrabanus Maurus gewann seine Bedeutung
als Exeget vor den Zeitgenossen nicht im Kontext heutiger Wissenschafts- und Indi-
vidualitätsvorstellungen. Seine Marginalsiglen müssen im Gegenteil im Spannungs-
feld frühmittelalterlicher Logiken gelehrten Wissens und religiöser Weisheit veror-
tet werden: Jenseits der hinreichend diskutierten anachronistischen Vorwürfe von
Plagiat und Kompilation ist zu fragen, wie zeitgenössische, möglicherweise stark
sakral aufgeladene Konzepte der Ordnung und Vermittlung von Wissen mit der Mate-
rialität der Texte interagierten. Welcher Geist spricht, um das im 9. Jahrhundert gern
verwendete Paulus-Zitat (2 Kor 3,6) zu adaptieren, aus den litterae am Rande der
Codices? Zur Beantwortung dieser Frage soll im Folgenden zunächst auf Vorstellun-
gen der Erkenntnis und die Rolle des Exegeten bei Hrabanus Maurus und anderen
Exegeten (2.) sowie auf die konkrete Arbeitsweise frühmittelalterlicher Bibelkommen-
tatoren (3.) eingegangen werden. Dies soll helfen, technische und symbolische Nut-
zungen der Autorensiglen (4.) genauer zu deuten, bevor abschließend Funktionen der
Autorensiglen und offene Fragen zusammengefaßt werden (5.).
14 Vgl. exemplarisch für aktuell laufenden Projekte etwa Hilgert 2010 aus dem Heidelberger Sonder-
forschungsbereich 933 ‚Materiale Textkulturen’; Kwakkel 2012, darin bes. McKitterick 2012, aus dem
niederländischen VIDI-Projekt „Turning over a new leaf“ an der Universität Leiden, geleitet von Erik
Kwakkel.
15 Vgl. das VIDI-Forschungsprojekt „Marginal scholarship. The practice of learning in the early
Middle Ages (c. 800 – 1000)“ von Mariken Teeuwen (Leitung), Irene van Renswoude und Evina Stein-
ová am Huygen ING. Vgl. auch Teeuwen 2011a und den Berichtband eines Vorgängerprojekts zur karo-
lingischen Kommentartradition zu Martianus Capella Teeuwen/O’Sullivan 2011.
16 Vgl. so die Grundüberlegung meiner Dissertation (Steckel 2011a), aus der hier Gedanken weiter-
entwickelt werden. Siehe aber auch Aris 1996; Enders 1996; Dreyer 2006.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 95
Werk De institutione clericali. Dieses wohl 819 für die Fuldaer Brüder wie für ein brei-
teres Publikum angefertigte Handbuch zu Fragen der Klerikerausbildung entstand im
Nachgang der Aachener Reformen von 816–819 und behandelte viele der dort disku-
tierten Fragen.17 Doch fasste Hrabanus auch die für ihn wichtigsten Überlegungen
zur Wissensvermittlung zusammen, wofür er vielfach auf Überlegungen Augustins,
Cassiodors und Isidors von Sevilla zum Erwerb christlichen Wissens zurückgriff.
Wie Hrabanus deutlich herausstellte, mussten Geistliche – und zumal solche im
geistlichen Lehr- und Hirtenamt – vorrangig Wissen um die göttliche Wahrheit besit-
zen. Dieses Wissen umfasste vielerlei scientia, die im Umgang mit der Heiligen Schrift
und sonstigen gelehrten Traditionen nötig war, blieb aber auf veritas und sapientia
gerichtet. Ihr Verständnis konnte man gerade nicht an den Buchstaben allein gewin-
nen, sondern nur durch Vermittlung des Heiligen Geistes. Mit Paulus gesprochen war
es der Geist, der belebte, während der Buchstabe allein tötete. Wie Augustinus formu-
lierte, war es Gott selbst, der im Innern des Menschen lehrte.18 Hrabanus fasste in De
institutione clericali zusammen:
Fundament, wahrer Zustand und Vollendung der Klugheit aber ist das Wissen der Heiligen
Schriften. Es fließt aus jener ewigen und unveränderlichen Weisheit hervor, die aus dem Munde
des Allerhöchsten hervorgeht, ja, die als seine Erstgeborene vor der geschöpften Kreatur erschaf-
fen wurde. Sie leuchtet durch die Zuteilungen des Heiligen Geistes durch die Gefäße der Schrif-
ten als unauslöschliches Licht und erhellt wie durch Lampen den ganzen Erdkreis. Und wenn es
noch weiteres gibt, was zu Recht mit dem Namen Weisheit bezeichnet werden kann, ist es aus
demselben Quell der Weisheit abgeleitet und erblickt in ihr den Ursprung.19
17 Vgl. zum Handbuch und seinen Kontexten die Studie von Detlev Zimpel in seiner Edition Hraba-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
96 Sita Steckel
Was immer nämlich an Wahrem von jemandem aufgefunden wird, ist bekanntlich nur durch
die Wahrheit und in Abhängigkeit von ihr wahr [...]. Und auch jenes, was in den Büchern der
Gelehrten dieser Welt an Wahrheit und Weisheit zu finden ist, darf nichts Anderem als der
Wahrheit und Weisheit selbst zugeschrieben werden. Denn diese Dinge sind nicht zuerst von
denen festgelegt worden, in deren Äußerungen man sie liest. Sie wurden vielmehr aus dem von
Ewigkeit her Feststehenden entdeckt, soweit die Lehrerin und Erleuchterin aller, die Wahrheit
und Weisheit selbst, die Fähigkeit zur Entdeckung zugestand. Und daher ist auf einen einzigen
Ausgangspunkt zurückzuführen, was in den Büchern der Heiden als nützlich und was in der
Heiligen Schrift als heilsam gefunden wird [...]. 21
Mit der engen Verbindung, die Hrabanus Maurus durch diese Überlegungen zwischen
der Ebene der göttlichen Wahrheit und derjenigen des menschlichen Wissens kons-
truierte, wird die Rolle des Exegeten stark aufgewertet und sakralisiert. Autoren und
Autorinnen, die mit dem Text der Heiligen Schriften und deren Auslegungen umgin-
gen, arbeiteten an einem Ort der Vermittlung zwischen göttlicher und menschlicher
Sphäre. Sie lasen oder hörten nicht nur Worte, sondern nahmen – wenn die Weisheit
ihnen dies ‚zugestand’ (concessit)! – an einem Prozess teil, durch den Gott in ihnen
wirkte und ihnen göttliche Weisheit und Liebe direkt, offenbar körperlich, einschrieb.
Wie die christliche Liebe (caritas) wurde der Heilige Geist im 9. Jahrhundert meist
als einströmend gedacht. Er erschien als Inspiration, teils aber auch als Illumination
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
letzter Zeit als Forschungsproblem behandelt worden, vgl. etwa Kiening 2009, bes. 7-9; Bedos-Rezak
2012.
21 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III, 2, 438–439: Quicquid enim veri a quo-
cumque reperitur, a veritate verum esse per ipsam veritatem dinoscitur [...]. Nec enim illa, quae in libris
prudentium huius saeculi vera et sapientia reperiuntur, alii quam veritati et sapientiae tribuendae sunt,
quia non ab illis haec primum statuta sunt, in quorum dictis haec leguntur, sed ab aeterno manentia
magis investigata sunt, quantum ipsa doctrix et inluminatrix omnium veritas et sapientia eis investigare
posse concessit. Ac ideo ad unum terminum cuncta referenda sunt, et quae in libris gentilium utilia et
quae in scripturis sacris salubria inveniuntur, ut ad cognitionem perfectam veritatis et sapientiae perve-
niamus, qua cernitur et tenetur summum bonum.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 97
und Öffnung der inneren Augen.22 Der Tugend des Menschen kam daher eine ent-
scheidende Rolle als Voraussetzung für die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit zu.23
Wer nur Wissen besaß, die göttlichen Gebote aber nicht in seinem Verhalten
verwirklichte, konnte also keine Teilhabe an der Weisheit haben. Wer dagegen am
richtigen, zur Auslegung der Schriften befähigenden Geist teilhatte, verfügte über
sapientia und bekleidete eine nicht nur intellektuelle, sondern auch religiöse Autori-
tätsposition. Als ‚Gelehrte’ mochten Exegeten des 9. Jahrhunderts damit Spezialisten
für bestimmte Wissensbestände sein. Sie erscheinen heute zu Recht als Experten mit
ansatzweise funktional ausdifferenzierten Rollen. Sie wurden von den Zeitgenossen
allerdings stets auch als religiöse Experten gesehen, denen man ein spezifisches
Charisma zuschrieb.24 Nicht aus sich selbst, sondern durch besondere Begnadung
konnten sie aus der göttlichen Wahrheit schöpfen und die Vielfalt des in der Heiligen
Schrift enthaltenen Sinns ausdeuten – denn dabei ging es ja auch darum, Auslegun-
gen im richtigen Geist von solchen ohne diesen zu unterscheiden.25 Auch Hrabanus
Maurus sah sich als Exeget offenbar in spezieller Weise vom Heiligen Geist geleitet.
Wie sich aus verschiedenen Werken schließen lässt, sah er seine Tätigkeit als Bibel-
kommentator (im Gegensatz zum Unterricht der parvuli) nicht als Aufgabe eines
bloßen Lehrers (doctor). Im Anschluss an Gregor den Großen und andere erschien
ihm die Schriftauslegung vielmehr als besondere Aufgabe innerhalb der Kirche und
als eine Art Fortsetzung des alttestamentlichen Prophetentums.26
Doch wie beeinflussten derartige Konzeptionen von Autorität und Autorschaft27
die Art und Weise, in der sich Exgeten wie Hrabanus Maurus zur Tradition positi-
onierten? Spezifische Vorstellungen dazu wurden nicht nur von Hrabanus Maurus
entwickelt, sondern auch von anderen karolingerzeitlichen Gelehrten, die teils expli-
ziter ihre eigene Position innerhalb der Tradition ansprachen. Abt Paschasius Rad-
bertus von Corbie (ca. 790–865) legitimierte etwa sehr ausführlich seine Autorität als
Exeget. Er fügte seinem Matthäuskommentar nicht nur eine Widmung, sondern eine
richtiggehende Autorisierungserzählung an.28 In ihr berichtete er zunächst über den
22 Vgl. zum Konzept der Inspiration Thraede 1998; Evans 1998, 66–77; Grosse 2009; Frey 2009; eine
genauere Untersuchung zum Konzept der Inspiration im Frühmittelalter fehlt leider.
23 Vgl. Steckel 2011a, 116–124.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
24 Charisma hier verstanden im paulinischen Sinne der Begnadung. Vgl. für ausführlichere Bestim-
mung des Begriffs Ratschow 1981; Andenna u.a. 2005; Rychterová u.a. 2008.
25 Vgl. so etwa Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, III, 12, 456–457. Zur Gesamtein-
schätzung Hrabans auch Dreyer 2006, 43–47.
26 Vgl. zu Hrabans Konzeption der Prophetie und seiner Rolle als Prophet Pollheimer 2010; Schlosser
2000, 200–201; zu gelehrter Autorschaft als Fortsetzung alttestamentlicher Prophetie insbesondere
Meier 2014a.
27 Vgl. zur Erforschung von Autorschaftskonzepten zuletzt die Beiträge in Meier/Wagner-Egelhaaf
2011, für die Karolingerzeit Steckel 2011a, 531–569; 602–650; zu Autorität im Zusammenhang mit Ma-
terialität vgl. auch Garipzanov 2008.
28 Vgl. zu Paschasius Radbertus Ganz 1990, 82–83; De Jong 2009, 102-111; zu seinem Autorschaftskon-
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
98 Sita Steckel
Schreibanlass und demonstrierte dabei eine auf Gott, die Erkenntnis der Weisheit
und die Erbauung seiner Mitbrüder ausgerichtete, äußerst demütige Einstellung, wie
sie auch Hrabanus in Vorreden meist sorgfältig anzeigte.
Paschasius verteidigte jedoch dann in dieser Vorrede recht offensiv sein Recht
zur Bibelauslegung in ‚modernen Zeiten’. Er nahm dabei ähnlich wie Hrabanus auf
eine als ewig und unveränderliche gedachte Wahrheit Bezug, die von verschiedenen
Exegeten aufgefunden und vermittelt würde:
[I]ch habe dies nicht aus Unbesonnenheit entschieden, sondern aus Liebe zur Religion, in dem
Wunsch, von der Gnade Christi benetzt die Vorsätze der Väter weiterzuführen. Tatsächlich hat ja
kein Lehrer bislang ausgeschlossen, dass Künftigen die Gabe des Heiligen Geistes und Geistes-
schärfe zuteil wird; niemand hat verboten, die himmlischen Lehren zu befolgen. [...] Auch wir
müssen also nicht schweigen. Denn die Schriftsteller der verschiedenen Kirchen haben in ihren
Erwiderungen klar deutlich gemacht, dass es nützlich ist, wenn viele verschiedene Bücher von
Verschiedenen geschrieben werden, in unterschiedlichem Stil, doch im selben Glauben, so dass
die eine, einheitliche Lehre des Heiligen Geistes verkündet an viele dringen soll, an die einen so,
an die anderen aber so. Und es ist auch nicht anzunehmen, dass in unserer Zeit gar niemand das
Verständnis dazu gewährt würde [...]. 29
Wissen konnte in den irdischen Vermittlungen, in denen es vorlag, also immer wieder
neu entdeckt werden und war dann in seinen unterschiedlichen Formen anzueignen
und weiterzugeben. Die historischen Exegeten, in deren Tradition Hrabanus oder
Paschasius sich stellten, hatten an der Wahrheit quasi immer von neuem teil und
konnten sie ihrem Publikum in spezifischen, besonders klug ausgewählten, zeitge-
mäßen oder nützlichen Selektionen präsentieren.
Paschasius stellte seine Rolle innerhalb dieses Prozesses sehr selbstbewusst dar.
Er schmetterte nicht nur Vorwürfe der Tätigkeit ultra terminos patrum mit dem kühlen
Hinweis ab, es gebe ja kein Verbot der Auslegung. Er fand bei Cicero auch eine fas-
zinierende Metapher für seine Tätigkeit, das er ausdrücklich nicht als ‚Kompilation’
angesehen haben wollte (nec compilator veterum appellandus). Wie der Maler Zeuxis
von Croton nämlich nicht eines, sondern vielmehr fünf schöne Mädchen auswählen
ließ, um aus ihren Zügen ein Porträt der schönen Helena herauszudestillieren, so
wählte auch Paschasius das Beste aus den Schriften der Alten aus und fügte es so zu
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 99
einem neuen Ganzen zusammen.30 Er folgte wie andere vor ihm also den Fußspuren
der Lehrer und Autoren, suchte aber auch selbst, für den Heiligen Geist ‚Frucht zu
erbringen’. Die Rolle des Exegeten wurde also wesentlich dadurch definiert, die Tra-
dition zu durchdringen, auf Wahrheits- und Weisheitsgehalt zu beurteilen, und aus
ihr für ein zeitgenössisches Publikum auszuwählen.
30 Paschasius Radbertus, Epistolae, ed. Dümmler, 141: Nec ideo profecto compilator veterum appel-
landus, quando, ut Tullius refert, ipse rex eloquentiae quendam Eleusynum est imitatus, qui ex omnibus
Crotoniensium virginibus quinque delegit pulchriores, quas statuit coram oculis, dum Elenae imaginem
illis petentibus mirabile opus pingeret, ut quod uni earum minus esset pulchritudinis, ex his decorosius,
quicquid singillatim in se pulcrius exprimerent, totum picturae suae coloribus conferret: ita praefatus
orator insignis, sicut in suo testatur opere, ex omnibus qui ante se fuerunt filosophis, coram se constitu-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
100 Sita Steckel
34 Vgl. Gorman 2002, 260 und insges. 258–261; Kaczynski 2001, 20–23.
35 Vgl. Beda Venerabilis, In Lucae Evangelium Expositio, ed. Migne, Sp. 304C–305A: Aggregatisque
hinc inde quasi insignissimis ac dignissimis tanti muneris artificibus, opusculis Patrum, quid beatus
Ambrosius, quid Augustinus, quid denique Gregorius vigilantissimus (juxta suum nomen) nostrae gentis
apostolus, quid Hieronymus sacrae interpres historiae, quid caeteri Patres in beati Lucae verbis senser-
int, quid dixerint, diligentius inspicere sategi; mandatumque continuo schedulis, ut jussisti, vel ipsis
eorum syllabis, vel certe meis, breviandi causa, sermonibus, ut videbatur, edidi. Quorum quia operosum
erat vocabula interserere per singula, et quid a quo auctore sit dictum nominatim ostendere, commo-
dum duxi eminus e latere primas nominum litteras imprimere, perque has viritim ubi cujusque Patrum
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
incipiat, ubi sermo quem transtuli desinat, intimare, sollicitus per omnia, ne majorum dicta furari, et
haec quasi mea propria componere dicat. Multumque obsecro, et per Dominum legentes obtestor, ut
si qui forte nostra haec qualiacunque sunt opuscula transcriptione digna duxerint, memorata quoque
nominum signa, ut in nostro exemplari reperiunt, affigere meminerint. Nonnulla etiam quae (ut verbis
tuae sanctitatis loquar) mihi auctor lucis aperuit, proprii sudoris indicia, ubi opportunum videbatur,
annexui [...].
36 Vgl. die Abbildung der ältesten erhaltenen Handschrift des Lukaskommentars mit den Randsiglen
bei Gorman 2002, 383. Wie Rädle 1974, 141, bemerkt, führte diese Technik im Werk Smaragds von St.
Mihiel zu fälschlichen Verwendungen der Randsigle ‚R’, die bei Beda das Ende eines Hieronymus-
Zitats markiert, aber als Autorenbezeichnung missverstanden wurde.
37 Vgl. zu Claudius und seiner Verweis- und Arbeitstechnik Gorman 1997; allg. Boulhol 2002.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 101
[D]er Leser liest hier nicht meine, sondern ihre Worte, denn wie schöne Blüten habe ich ihre
Worte aus den diversen Feldern zusammengesucht und es ist ihre Auslegung in meiner Schrift.
Und damit ich nicht von anderen als anmaßend und tollkühn beurteilt werde, weil ich Waffen
aus dem Schrank eines anderen genommen habe, habe ich jeweils den Namen eines jeden
Lehrers mit seinen Anfangsbuchstaben unten annotiert, so wie es auch der selige Priester Beda
getan hat.38
Claudius bezeichnete dabei auch selbstverfasste Passagen, und zwar mit dem Kürzel
CLN oder NCL, was Gorman als Claudii nota oder nota Claudii auflöst. 39
Doch Claudius’ idyllische Blütenlese geriet bald in technische Schwierigkeiten.
Eine seiner Hauptquellen, die auch die zitierte Passage seines Widmungsbriefes fast
wörtlich inspirierte, war Isidor von Sevilla († 636). Isidor hatte in Spanien – ähnlich
wie Beda im nordhumbrischen England – von einer guten Überlieferungssituation
profitieren können und bemühte sich erfolgreich, eine Auswahl der wichtigsten
älteren Schriften in eigenen Zusammenstellungen zu tradieren. Doch Isidor scheint
keine gewissenhaften Randsiglen genutzt zu haben und dies führte zu einem bei heu-
tigen Editoren gut bekannten Problem: Wie Claudius konstatieren musste, stellten
sich Passagen Isidors als unmarkierte Zitate aus anderen, älteren Werken heraus,
vor allem aus Werken des Augustinus und Ambrosius. Anscheinend darüber verun-
sichert, kombinierte er Isidors Namen zunächst mit dem des Ambrosius, in Abkür-
zungen wie ysd et ambrosi. 40 Doch schließlich ließ er den Namen des von ihm sehr
ausführlich benutzten Isidor zunehmend weg. Teils verwies er stattdessen noch auf
dahinterstehende Quellen. In einer weiteren, späteren Widmung, in der er auf den
Wunsch seines Schülers Theutmirus von Psalmodi nach einem ausführlich mit Auto-
ritäten bezeichneten Kommentar reagierte, schrieb Claudius aber schließlich ernüch-
tert:
Da Du aber befiehlst, in unseren Auslegungen die Sätze eines jeden Lehrers auf der Seite zu mar-
kieren: Ich habe von niemandem gelesen, der das getan hat, außer dem seligen Beda, und dieser
führte es über zwei Bücher hinaus (nämlich die Auslegung der Evangelisten Markus und Lukas)
nicht weiter. Ich habe es also unterlassen, denn ich fand bald heraus, dass die Sätze von einigen,
die ich zunächst unter bestimmten Namen annotiert hatte, sich bei genauerer Nachforschung als
Sätze von anderen herausstellten. 41
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
38 Claudius von Turin, Epistolae, ed. Dümmler, 592: Has autem rerum gestarum sententias de mysticis
thesauris sapientium inquirendo et investigando in unum codicem conpendio brevitatis coartavi, in qui-
bus l(ector) non mea legit, sed illorum relegit, quorum ego verba quae illi dixerunt veluti speciosos flores
ex diversis pratis in unum collegi et meae litterae ipsorum expositio est. Et ne ab aliquibus praesumptor
et temerarius diiudicarer, quod (ab) alieno armario sumpserim tela, uniuscuiusque doctoris nomen cum
suis characteribus, sicut et beatus fecit presbiter Beda, subter in paginis adnotavi. Vgl. zur Überliefe-
rung dieses Widmungsbriefs die Bemerkungen von Gorman 1997, 288 mit Anm. 45.
39 Gorman 1997, 315.
40 Nachweis ebd.
41 Claudius von Turin, Epistolae, ed. Dümmler, 603: Quod vero sententiam uniuscuiusque doctoris
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
102 Sita Steckel
Claudius stellte also den Verweis auf Autoritäten am Rand ein. Interessanterweise
wissen wir von ihm auch, dass er teils – allerdings vermutlich nur aus Zeitmangel
– auf den Arbeitsschritt einer Verzettelung der exzerpierten Zitate verzichtete. Einen
Kommentar schrieb er ganz direkt aus seinen Codices der Bibel und Kirchenväter
zusammen und entschuldigte sich dann für den etwas unordentlichen Text – er habe
dieses Mal ohne Exzerpte auf Wachstafeln (tabellae) und Anordnung auf Zetteln
beziehungsweise losen Blättern (scedulis digesta) gearbeitet.42
Weitere Variationen des Umgangs mit nomina auctorum können mangels sys-
tematischer Forschungen nur grob skizziert werden. Sedulius Scottus († nach 858)
benutzte Randsiglen in seinen Collectanea in Epistolas Pauli.43 Smaragd von St. Mihiel
(fl. 809–819) benutzte Randsiglen für die Kirchenväter in seinem Liber Comitis, das
Bibelperikopen mit patristischen Exzerpten zusammenstellte; auch er übernahm die
Praxis direkt von Beda.44 Paschasius Radbertus von Corbie kündigte in seinem Mat-
thäuskommentar an, Randsiglen nutzen zu wollen, wiewohl de facto keinerlei Hand-
schriften mit Randsiglen von seinen Werken erhalten sind.45
Paschasius wollte allerdings anders als Beda, Claudius von Turin und Hrabanus
offenbar seinen eigenen Namen nicht mit eingeschlossen haben. Möglicherweise steht
dies mit seinem Autorschaftskonzept als kreativer ‚Auswähler’ in engem Zusammen-
hang.46 Deutlicher lässt sich dies für Angelomus von Luxueil (fl. 825–855) postulieren:
Gorman rekonstruiert, dass er eine mit Autoritätenverweisen versehene Arbeitskopie
seiner Auslegungen besessen haben muss.47 In der Widmung seines Hoheliedkom-
mentars verzichtete Angelomus aber bewusst auf die Verzeichnung von Autoritäten
am Rand.48 Stattdessen stellte er sich im Text durch vielfache Verweise auf die Autori-
in paginis adnotare praecipis in expositionibus nostris: neminem hoc fecisse legi, excepto beatissimum
Bedam; quod quidem nec ille amplius quam in duobus codicibus fecit, in expositione videlicet evangelis-
tarum Marci et Lucae. Quod ego ideo omisi facere, quia sententias quorundam, quas adnotaveram prius
sub nomine aliorum, diligentius perquirens, aliorum eas esse repperi postea.
42 Claudius von Turin, Epistolae, ed. Dümmler, 595: Quod vero quaedam minus ordinata quam decet
in hoc codice multa repperiuntur, non omnia tribuas imperitiae, sed quaedam propter paupertatem,
quaedam ignosce propter corporis infirmitatem et meorum oculorum inbecillitatem, quia non fuerunt in
tabellis excepta vel scedulis digesta, sed ut a me inveniri vel disseri potuerunt, ita in hoc adfixa codice
sunt. Date itaque veniam inprudentiae meae, quam extorsistis.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 103
täten wie durch Angebote eigener allegorischer Deutungen selbst als Ausleger in den
Vordergrund, der für Leser und Hörer eine Palette an ‚Medikamenten’ und ‚Gewürzen’
zusammengestellt hatte.49 Gerade bei Angelomus gewinnt man den Eindruck, dass er
keinen besonderen Wert auf die umständliche wörtliche Wiedergabe der Autoritäten
legte, sondern eher deren Sinn zusammenfassen wollte.50
Vor diesem Hintergrund lassen sich die Intentionen des Hrabanus Maurus bereits
genauer einordnen: Schon die knappen Kommentare zu seiner eigenen Arbeitsweise
führen vor allem eine intensive ‚Zettelwirtschaft’ vor Augen, die karolingerzeitliche
Gelehrsamkeit vielleicht stärker auszeichnete als bislang wahrgenommen.51 Aus
mehreren seiner Widmungsbriefe geht etwa hervor, dass Hrabanus kürzere Texte und
exzerpierte Passagen aus den Kirchenvätern auf schedulae notiert hatte. Ein gutes
Beispiel ist sein De institutione clericali: Zwar hat Zimpel für dieses Werk eine sehr
spezifische Schreibabsicht im Zusammenhang mit den Reformen von 816–819 fest-
gestellt, die Hrabanus in der Widmung glatt unterschlug. Doch wird man seinen
einleitenden Worten soweit glauben dürfen, als das Werk offensichtlich auch auf
gestückelte Informationen zurückging, die Hrabanus anlässlich von Anfragen einzel-
ner Fuldaer Kleriker herausgesucht und teils bereits schriftlich als Antworten notiert
hatte. Unter anderem handelte es sich um folia, auf denen er offenbar Zitate und Pro-
blemlösungen situationsgebunden festhielt und die er dann für das Gesamtwerk neu
zusammenstellte und ergänzte.52
Wie Zimpel argumentiert, muss dieses Arbeiten mit Zetteln dann der in De insti-
tutione clericali beobachtbaren Tatsache zugrundeliegen, dass Hrabanus zwar Pas-
sagen aus den Kirchenvätern komplett verwertete, dabei aber völlig neu zusammen-
49 Vgl. Gorman 1999b für Bemerkungen zu Angelomus’ Autorschaftskonzept (567–568) und zu sei-
nem verweisenden Duktus (589–592). Die Metaphern des Darreichens von Medikamenten und Gewür-
zen in Angelomus’ zitiertem Widmungsbrief (vorige Anm.).
50 Siehe seine Überlegungen zu Kürzungen in der gerade zitierten Stelle.
51 Ich hoffe, zum Umgang mit schedulae in der karolingerzeitlichen Wissensvermittlung demnächst
weitere Überlegungen vorzulegen, da sich dieses Thema in der Tagungsdiskussion als besonders wei-
terführend erwies. Schedulae und Einzelblätter sind im Rahmen codicologischer Forschungen zwar
behandelt worden, etwa schon von Lehmann 1936, doch sind mir aktuell keine Arbeiten zu Zetteln
als Medium der Wissenorganisation für das Frühmittelalter bekannt, anders als für die Neuzeit. Hier
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
wäre also einiges zu tun; vgl. z.B. Blair 2010, 210, die zu bezweifeln scheint, dass Zettel im Mittelalter
überhaupt öfters zu Kompilationszwecken genutzt worden seien.
52 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 385: Quaestionibus ergo diversis fratrum nostrorum, et
maxime eorum, qui sacris ordinibus pollebant, respondere conpellebar, qui me de officio suo et variis ob-
servationibus, quae in aecclesia Dei decentissime observantur, saepissime interrogabant. Et aliquibus
eorum tunc dictis, aliquibus vero scriptis, prout oportunitas loci ac temporis erat, secundum auctorita-
tem et stilum maiorum ad interrogata respondi, sed non in hoc satisfacere potui, qui me instantissime
postulabant, immo cogebant, ut omnia haec in unum volumen congererem, ut haberent quo aliquo modo
inquisicionibus suis satisfacerent, et in uno codice simul scriptum repperirent, quod antea non simul,
sed speciatim singuli, prout interrogabant, in foliis scripta habuerant. Quibus consensi et quod rogabant
feci quantum potui. Nam de hoc tres libros edidi.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
104 Sita Steckel
stellte, ohne einzelne Sätze zu wiederholen. Auch der Blick über die anwachsende
Reihe seiner späteren Bibelkommentare lässt den Eindruck entstehen, dass Hraba-
nus Maurus inmitten eines anwachsenden Zettelkastens biblischer und patristischer
Weisheiten arbeitete. Wie Silvia Cantelli zeigt, setzte Hrabanus etwa häufig Querver-
weise auf andere biblische Bücher und parallele patristische Auslegungen ein.53 Sie
nimmt auch an, dass er möglicherweise eine Arbeitskopie seiner anwachsenden Zahl
von Bibelkommentaren in Fulda behielt,54 die aus losen Blättern bestanden haben
könnte. Auch andere Exegeten der Zeit arbeiteten offenbar mit Hilfsmitteln wie sche-
dulae und tabellae, „the 3 × 5 cards and Post-it notes of their day“ (Gorman).55 Tat-
sächlich scheint es, dass Zettel und Leim für seine Zusammenstellungen zunehmend
die Rolle spielten, die Papier, Schere und Kleber auch noch im 20. Jahrhundert für die
Erstellung von wissenschaftlichen Arbeiten zukam – und die erst aktuell weitgehend
vom digitalen Copy and paste und von Listen- und Zettelverwaltungsprogrammen wie
Evernote abgelöst wird.56
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 105
zeitiger imitierender Verwendung typischer Stilelemente z.B. von Beda und Cassiodor betont auch
Cantelli 2006, Bd. 1, 120–122.
59 Vgl. Ferrari 1999.
60 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 383: rogo, ut quicumque textum huius operis perspexerit
[...] si velit et possit, legat et oculo sanae fidei intuendo atque per auctoritatem divinarum scripturarum
diiudicando, quod in eo catholice et recte repperierit disputatum, ei hoc tribuat, a quo est omne bonum.
Si quid autem minus recte atque inconsiderate invenerit prolatum, magis meae inperitiae quam malitiae
deputet, qui catholicae fidei quantum possum rectitudinem semper desidero et inhianter disco, eiusque
iura, quantum superna gratia concedit, servare contendo.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
106 Sita Steckel
sein Vorbild für diese Technik war (und nicht, wie in einigen Arbeiten angenommen,
Alkuin61). Hrabanus erklärte sie an dieser Stelle nicht weiter. In seinen nächsten Wid-
mungen finden wir dagegen eine leicht präzisierte Erklärung: An Bischof Frechulf
von Lisieux (fl. 825–852) widmete er einen Kommentar zur Genesis mit der Erläute-
rung, er habe auf dessen Wunsch einzelne Auffassungen der Väter zur Bibel zusam-
mengestellt:
[I]ch habe sie inseriert, wobei deren Namen vorher auf der Seite angemerkt sind. Wenn aber
die göttliche Gnade mir Unwürdigem selbst etwas zu erleuchten geneigt war, habe ich dies am
nötigen Ort gleich mit einem Zeichen meines Namens bezeichnet. So weiß der Leser, was er aus
der Tradition der Väter hat, und was er nur von unserer Wenigkeit, in ungeschliffener Sprache
aber doch, wie ich glaube, in katholischem Sinn, ausgelegt findet.62
61 Gorman 1997, 313; Aris 1996, 451, Anm. 88; Hill 2006, 231 behaupten, dass Hrabanus die Ver-
wendung von Siglen von Alkuin gelernt habe, was allerdings auf einer Fehlübersetzung zu beruhen
scheint: Hraban erläutert an der von ihnen stets zitierten Stelle (hier unten in Anm. 64 zitiert), Alkuin
habe ihm den Beinamen Maurus beigelegt (nomen ... quod meus magister beatae memoriae Albinus
mihi indidit). Dass Hrabanus die Technik aus Bedas Schriften lernte, ist dagegen mit guten Gründen
anzunehmen, da er dessen Texte kannte und bei den meisten anderen Autoren des 9. Jahrhunderts
sogar explizite Bezüge auf Beda auftreten (und da schließlich von Alkuin keine Bibelkommentare mit
Autorensiglen überliefert sind).
62 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 394: Feci enim sicut postulasti, et sanctorum patrum
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
libros, in quibus rebar aliquid de sententiis legis expressum esse, quantum licuit perlegi et singula se-
cundum oportunitatem loci, prout mihi satis esse videbatur, inserui, eorum nominibus ante in pagina
praenotatis. Si quid vero gratia divina indigno mihi elucidare dignata est, in locis necessariis simul cum
nota agnominis mei interposui, quatinus sciret lector, que ex patrum traditione haberet, et que ex par-
vitate nostra, licet sermone rustico, tamen ut credo sensu catholico exposita inveniret.
63 De Jong 2000, 203–204.
64 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 14, 402: Quorum omnium sententias aut, sicut ab ipsis
conscripte sunt, posui aut sensum eorum meis verbis breviando explanavi. Praenotavique in marginibus
aliquorum eorum nomina, ubi sua propria verba sunt; ubi vero sensum eorum meis verbis expressi aut
ubi iuxta sensus eorum similitudinem, prout divina gratia mihi concedere dignata est, de novo dictavi,
M litteram Mauri nomen exprimentem, quod meus magister beatae memoriae Albinus mihi indidit, pra-
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 107
also ganz direkt eine Autoritätenhierarchie an, die er selbst als Hüter des Wissens
handhabte und den Lesern darbot. Er erläuterte jedoch auch – wiederum mit Anklän-
gen an Worte und Arbeitstechniken Bedas –, dass es sich bei den mit Autorensiglen
bezeichneten Stellen um wörtliche Zitate handele. Es geht also nicht nur um Autori-
tät, sondern auch um textuelle Authentizität.
Dieser Wunsch, die Worte der Väter sogar wörtlich wiederzugeben, verdient,
festgehalten zu werden.65 Marc-Aeilko Aris hat bereits hervorgehoben, dass in Hra-
banus’ intensivem Bemühen um „Wahrheitssicherung“ durch genauen Umgang mit
den Texten der Tradition letztlich sein „Wissenschaftsverständnis“ zu suchen ist.66
Wiewohl das 9. Jahrhundert streng genommen einen ausgebildeten Begriff von Wis-
senschaft höchstens im Zusammenhang mit religiöser Weisheit entfaltete, erweist
sich Hrabanus’ Arbeit in diesem Aspekt tatsächlich als stark regelgeleitet und ‚metho-
disch’, im Sinne stringenter, durchgehaltener Arbeitsweise. Nicht nur entwickelte
Hrabanus im Verlauf seiner exegetischen Tätigkeit immer deutlicher eine Neigung,
aus der Bibel bestimmte Normen zu abstrahieren und diese als Leitprinzipien für die
Auslegung bislang ungeklärter Stellen einzusetzen, ging also zunehmend systema-
tisierend vor.67 Er investierte auch beträchtliche Mühen, um die Authentizität der
exzerpierten Textpassagen durch Siglen gewissermaßen zu beglaubigen.
Wenn man Randbemerkungen Zimpels und Cantellis zu Hrabanus’ Arbeitsweise
Ernst nimmt, drängt sich tatsächlich der Eindruck auf, dass Hrabanus von dem
Problem, das Claudius von Turin hatte verzweifeln lassen, lediglich zu Höchstleistun-
gen angespornt wurde: Wiewohl auch Hrabanus die Intertextualität der patristischen
Tradition nicht vollständig entwirren konnte, versuchte er doch zumindest, nicht nur
Quellen anzugeben, sondern auch deren Quellen. Wie Cantelli bemerkt, notierte Hra-
banus etwa offenbar Randsiglen und Querverweise bereits aus seinen Vorlagen mit.68
Zimpel stellt es (offenbar noch unter dem Eindruck moderner Plagiatsvorwürfe) dann
teils sogar als ‚vorgetäuschte Belesenheit’ Hrabanus’ dar, dass dieser viele nament-
lich genannte Quellen seines De institutione clericali indirekt aus wenigen Hauptquel-
len wie Augustinus, Cassiodor und Isidor bezog. Zimpel gibt jedoch gleichzeitig zu
bedenken, dass Hrabanus in einigen Fällen deren Verweise offenbar gewissenhaft
nachschlug und teils ergänzte.69 Dass Hrabanus somit offenbar bemüht war, die
ursprüngliche Quelle einer Aussage aufzufinden, und Zitate aus Zitaten sorgfältig
benannte (zumindest zum Teil, denn für die Exegese haben wir dazu leider keine sys-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
tematischen Beobachtungen), spricht für ein Verständnis von Textualität, das man
enotare curavi, ut diligens lector sciat, quid quisque de suo proferat quidve in singulis sentientum sit,
decernat.
65 Vgl. auch Cantelli 2006, Bd. 1, 65-66 mit Hinweisen auf weitere Stellen.
66 Aris 1996, 445.
67 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 87–124, bes. 123.
68 Vgl. so Cantelli 2006, Bd. 1, 68, Anm. 263.
69 Zimpel in Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, 89–94, bes. 93–94.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
108 Sita Steckel
eigentlich erst im 11. und 12. Jahrhundert erwarten würde. Als sichtbare Markierun-
gen, die einen fortlaufenden, äußerlich kontinuierlichen Text in Stücke unterschied-
licher Qualität gliederten, dürften die Autorensiglen zeitgenössischen Lesern zumin-
dest eine Ahnung der dahinterstehenden Probleme vermittelt haben.
Hrabanus’ Hochschätzung wörtlicher Zitation bildet zudem die Basis für die
anderen Bedeutungsebenen der Autorensiglen, die auch auf seine eigene Rolle hin-
führen. Für die mit seinem eigenen Namen Maurus bezeichneten Stellen gab er etwa
eine noch genauere Erklärung, die zu epistemologischen Überlegungen zurückführt:
Seine Aussagen waren entweder der Kürze halber in eigenen Worten zusammenge-
fasst, enthielten aber eine Bedeutung, die von den Vätern vorgegeben wurde – oder
sie enthielten eine Bedeutung, deren Erkenntnis Hrabanus selbst von der göttlichen
Gnade ‚zugestanden‘ worden war, die aber derjenigen der Väter ähnlich sei und von
ihm lediglich neu formuliert werde.70 Befragt man die Passage auf zeitgenössisches
Wissensverständnis und nicht auf moderne Vorstellungen von Originalität, zeigt sich,
dass Hrabanus sich hier wiederum in eine Gemeinschaft der begnadeten Ausleger
einschrieb: Nicht nur stand sein Name, in nichts von den ihren unterschieden, mit
auf einem Blatt und beglaubigte seinen Text im Wortlaut – deutlich zu sehen etwa
auf Folio 15r des Codex München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14384 (Abb. 8).
Hrabanus schrieb auch ganz explizit, dass er (wie er hoffte) durch dieselbe Instanz,
nämlich die göttliche Gnade, an derselben Wahrheit teilhatte. Er war buchstäblich
Kind desselben Geistes, der auch die Kirchenväter inspiriert hatte. Wie sie „brachte“
er eine sakralisierte Wahrheit „aus dem Seinen hervor“ (de suo proferat).
Da er eine übergeordnete, transzendente Wahrheit annahm, die sich durch
verschiedene Akteure in mannigfaltiger Weise manifestierte, aber letztlich mit sich
identisch blieb, wenn der Exeget nur voll an der göttlichen Gnade teilhatte, zielte
Hrabanus bei aller Demut also hoch: Er versprach nicht nur nebenbei, das Alte wo
nötig neu zu formulieren (de novo dictavi) – in seinem Insistieren, mit Hilfe der Gnade
nur Aussagen zu machen, die dem Sinn der Kirchenväter ähnlich seien (iuxta sensus
eorum similitudinem), verortete er sein eigenes Schreiben gleichzeitig auf der höchs-
ten denkbaren Ebene: Genauso wie aus den Worten der Kirchenväter sprach aus
seinen Worten letztlich Gott, die veritas und sapientia selbst. Nicht nur seine unter-
geordnete Autorität, sondern unterschwellig auch der sakrale Status seiner eigenen
Worte wurde wiederum durch die Sigle M am Rand materiell herausgehoben. Mit der
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Bezeichnung forderte Hrabanus den Leser auf, das Geschriebene zu beurteilen – und
es, wo es nicht abzulehnen war, im vorliegenden Wortlaut zu approbieren und so mit
den Aussagen der Kirchenväter auf eine Ebene zu stellen. Die symbolisch herausge-
stellte sakrale Dimension des Auswählens als Vermittlung zwischen göttlicher Wahr-
heit und menschlichem Wissen durchdringt also die pragmatische Arbeitstechnik der
bearbeitenden und ergänzenden Kompilation.
70 Vgl. hier und für die folgenden Zitate oben Anm. 64.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 109
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Abb. 8: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14384, fol. 15r (Hrabanus Maurus, In libros
Regum), aus St. Emmeram in Regensburg, 3. Viertel des 9. Jahrhunderts.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
110 Sita Steckel
displicere, cum cognoveritis me ad hoc laborare velle, ut sanctorum patrum dicta, quae de predicto libro
exposita in pluribus exemplaribus dispersa sunt, in unum ob commoditatem legentis colligerem.
73 Vgl. Raaijmakers 2012, 189-198; Aris 2006; Spilling 1982.
74 In seiner Widmung des Pauluskommentars an Lupus von Ferrières, vgl. Hrabanus Maurus, Epis-
tolae, ed. Dümmler, 429–430: Unde necessarium reor, ut intentus auditor per lectorem primum recitata
singulorum auctorum nomina ante scripta sua audiat, quatenus sciat, quid in lectione apostolica unus-
quisque senserit, sicque in mentem suam plurima coacervans possit de singulis iudicare, quid sibi utile
sit inde sumere.
75 Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, II, 52, 411–412 (mit Isidor von Sevilla, De
ecclesiasticis officiis): Nec putes parvam nasci utilitatem ex lectionis auditu; siquidem oratio ipsa fit
pinguior, dum mens recenti lectione saginata per divinarum rerum, quas nuper audivit, imagines currit.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 111
und Hörer dürften aus den Mönchen aus Fulda und anderen Klöstern, aus Klerikern
wie denjenigen im Umfeld der zahlreichen bischöflichen Widmungsempfänger und
möglicherweise sogar aus weltlichem Adel im Umkreis der königlichen Dedikatare
bestanden haben.
Die nährende Fülle der Auslegungen sollte Hörer und Leser zudem noch selbst
zum Denken und Meditieren anregen, und dabei war Aufmerksamkeit geboten: Wie
Hrabanus ausdrücklich in der Widmung zu seinem Pauluskommentar insistierte, gab
es bereits viele Schriften der Alten. Nun ging es darum, aus dieser Vielzahl für sich
Nutzen zu ziehen. Daher war die relative Autorität der Väter wichtig:
Ich ermahne den, der meine Lesungen nutzen will, die Namen der Autoren, deren Worte ich aus
ihren Büchern exzerpiert und außen an der Seite mit ein, zwei oder drei Buchstaben gekenn-
zeichnet habe, auch beim Lesen vor anderen immer dort laut mit auszusprechen, wo er sie findet.
So wird er den Leser nicht verwirren, der vielleicht nicht weiß, wer dies oder jenes vorgebracht
hat, und es dann für Worte eines anderen hält, obwohl die Wahrheit anders liegt. Denn ihre
Auslegungen stimmen in einigem überein, weichen aber in einigem auch voneinander ab. Daher
halte ich es für notwendig, dass dem aufmerksamen Hörer durch den Leser zuerst die Namen der
jeweiligen Autoren vorgelesen werden, bevor er deren Text hört, denn so wird er wissen, was ein
jeder über die apostolische Lesung dachte, und kann so selbst im Geist mehreres ansammeln
und schließlich beurteilen, was er selbst Nützliches für sich herausziehen kann.76
Diese Passage führt weniger den Gelehrten ‚im Gehäus‘ oder die kleine Lehrer-Schü-
ler-Gruppe vor Augen als vielmehr den Alltag der Klostergemeinschaft, deren Mitglie-
der in der Liturgie, anlässlich von Lesungen bei Tisch oder an Sonntagen sowie in
individueller Lektüre, besonders in der Fastenzeit, ebenfalls die Bibel hörten oder
lasen und angehalten waren, über sie zu meditieren.77
Die von Hrabanus angedeutete Interpretationsoffenheit und der problemlose
Umgang mit widersprüchlichen Aussagen der Väter mögen übrigens für denjenigen
überraschend wirken, der das Frühmittelalter als Periode traditionshöriger, eng auf
Orthodoxie orientierter Auslegung einstuft, etwa im Vergleich mit der stärker speku-
lativen, dialektischen Theologie der Frühscholastik oder den problemorientierten
Standardwerken des 13. Jahrhunderts. Doch da die karolingerzeitliche Exegese nicht
die wörtlichen und sprachlogischen Aussagen der Bibel und Väterschriften systema-
tisieren, sondern zunächst deren normativen Gehalt sichern wollte, konnte sie eine
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
76 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 429: Illum autem, qui lectione nostra uti elegit, admo-
neo, ut ubicumque conspexerit auctorum nomina, quorum dicta ex libris suis excerpsi, forinsecus in
pagina singulis literis aut binis seu etiam ternis praenotata non pigeat eum in legendo coram aliis illa
pronunciare, ne forte auditorem confundat, cum nescierit, quis hoc vel illud ediderit, et alterius scripta
arbitretur, quam se veritas habet. Sunt enim eorum sensus in aliquibus concordantes, in aliquibus vero
discrepantes, und weiter wie Anm. 74.
77 Vgl. für monastische Lesungen hier nur Cochelin 2011.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
112 Sita Steckel
ganz eigene Signatur des Umgangs mit Diversität, Widersprüchen und Innovation
entwickeln.
Zunächst lässt sich auf den Spuren von Autoritäten wie Augustinus und Cassian
eine Hochschätzung der Bedeutungsvielfalt der schier unerschöpflichen Bibel und
ihrer gewissermaßen ‚changierenden‘ Auslegungen auffinden.78 In De institutione cle-
ricali schrieb Hrabanus Maurus etwa mit Augustinus, dass gerade die Vielfältigkeit
möglicher Bedeutungen der Bibel die Macht und den Reichtum der göttlichen Vorse-
hung belegte.79 Paschasius Radbertus hatte, wie oben geschildert, formuliert, dass es
positiv sei, wenn die Wahrheit immer wieder diverso quidem stilo, sed non diversa fide
erklärt würde. Sogar in einer Frage spekulativer Theologie hielt der Hrabanusschüler
Lupus von Ferrières († nach 862) fest, dass innerhalb der Grenzen des Glaubens das
Vertreten unterschiedlicher Standpunkte (diversa sentire) kaum eine Sünde darstel-
len könne.80 Darüberhinaus wurden Widersprüche im Bereich des Sprachlichen oder
des bloß profanen Wissens anscheinend nur selten als problematisch empfunden.
Angelomus von Luxueil erklärte etwa, dass es kaum einen Unterschied mache, ob
Johannes der Täufer (Joh 3, 23) nun in ‚Salem’ oder ‚Salim‘ getauft habe.81 Auch im
brieflichen Austausch unter Gelehrten ließ man Probleme teils offen stehen oder
verhandelte Meinungsverschiedenheiten, wofür karolingerzeitliche Autoren übri-
gens richtiggehende Vorsichts- und Höflichkeitsregeln entwickelten.82 Materiellen
Niederschlag solcher Diskussionen hat aktuell Mariken Teeuwen in ihren detaillier-
ten Untersuchungen karolingerzeitlicher Glossentraditionen zu Martianus Capella
genauer identifiziert. Wie sie betont, ließ man in der gelehrten Auseinandersetzung
mit seinem Werk, das Schwierigkeiten in fast allen Wissensgebieten aufwarf und
intensive Nutzung aller möglichen Referenztexte auslöste, einander widersprechende
Lösungen und Verweise teils unverbunden in Randglossen stehen.83 Wie Hrabanus’
est […].
81 Vgl. Angelomus von Luxueil, Commentarius in Genesin, ed. Migne, 176 B: Inde dicit Joannes evange-
lista: Erat Joannes baptizans in Ennon juxta Salim, quia multae sunt ibi aquae (Joan. III, 23). Nec differt
utrum Salem an Salim dicatur, cum vocalibus in medium perraro utuntur Hebraei, et pro voluntate lec-
torum ac diversitate regionum eadem verba diversis sonis et accentibus proferunt [Z., proferuntur]. Nos
enim opiniones diversorum ponimus; sed prudenti lectori, quid horum verius elegerit, derelinquimus.
Gorman 1999, 599, zieht diese Stelle und v.a. die letzte Zeilen her, schließt jedoch ohne Bezug auf
die verhandelte Thematik (nämlich bloß die Lautung eines Worts), dass Angelomus Interpretationen
generell gerne offen gelassen habe.
82 Vgl. Steckel 2011a, 584–589.
83 Teeuwen 2011b, bes. 32–33. Inwiefern dies auf Gebrauchskontexte außerhalb der ‚Schule’ schlie-
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 113
Bemerkung suggeriert, scheint man derartige offene Fragen eher als Bereicherung
denn als Problem empfunden zu haben.
Der geschilderten Offenheit steht jedoch ein weiteres, ebenso wichtiges Kennzei-
chen karolingerzeitlicher Exegese gegenüber, das wiederum die Rolle des Auslegers
als Auswähler entscheidend definiert: Bei aller Begeisterung für den unerschöpfli-
chen Bedeutungsreichtum der Bibel und die nährende Wirkung der Meditation über
ihre unterschiedlichen Auslegungen hielten karolingerzeitliche Exegeten doch eine
ständige, strikte Grenzziehung zwischen Orthodoxie und Heterodoxie für nötig.
Die Betonung dieser Grenze ist bei Hrabanus Maurus, wie Cantelli meint, fast
„obsessiv“. Tatsächlich entwickelt er ein sehr breites Konzept der Häresie, die er
neben der unrichtigen Auslegung der Heiligen Schrift auch mit Abweichungen von
der Einheit der Kirche in Zusammenhang bringt.84 Doch auch die oben diskutier-
ten erkenntnistheoretischen Problematiken dürften zu Buche schlagen: Da die zwi-
schen Gott und Menschen vermittelnde Auswahl der Wahrheit durch Exegeten von
deren göttlicher Begnadung abhing und verlustig gehen konnte, blieb die Exegese
ein gewagtes Geschäft. Die Möglichkeit von Fehlinterpretationen war stets präsent,
etwa in Anlehnung an Augustinus, der insbesondere vor falscher wörtlicher bzw.
übertragener Auslegung warnte.85 Da das Frühmittelalter antike Konzepte mensch-
licher Wissenschaft dezidiert einer christlichen Dichotomie göttlicher Wahrheit und
menschlichen Irrtums unterordnete, bedeutete eine Fehlinterpretation zudem nicht
nur Unrichtigkeit, sondern Irrtum und, falls dieser verteidigt wurde, Häresie.86
Hrabanus Maurus zog entsprechend besonders in seinen früheren Werken die
Möglichkeit eigener Irrtümer stets in Betracht und suchte ihr unter anderem durch
die Autorensiglen vorzubeugen. Seine sorgfältigen Erläuterungen zu möglichen Irr-
tümern, die ja sogar bei Kirchenvätern anzutreffen seien, rückten jedoch gleichzeitig
stets die Tatsache in den Vordergrund, dass er selbst für die Wahrheit der ausgewähl-
ten Passagen garantierte. In seiner Erläuterung zum Pauluskommentar, in dem Hra-
banus Lesern und Hörern teils unterschiedliche Meinungen der Väter zur Meditation
vorsetzte, fügte er etwa vorsorglich hinzu:
Die Lehrer selbst waren nämlich alle katholisch, außer Origenes, von dem ich jedoch nur Sen-
tenzen ausgewählt habe, die er in katholischem Sinn vorgebracht hat, während ich die anderen
außen vor gelassen habe. Tatsächlich habe ich im vorliegenden Werk auch gar nicht besonders
viel von meinen eigenen Anschauungen vorgebracht, wie ich dies in anderen kleinen Werken
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
ßen lässt, wie Teeuwen argumentiert, wäre eine interessante Frage, da dies weitgehend von der De-
finition von ‚Schule’ abhängt. Es wäre etwa zwischen der Lektüre jugendlicher Schüler und fortge-
schrittener Schüler von ca. 20 Jahren und aufwärts zu unterscheiden.
84 So Cantelli 2006, Bd. 1, 124 (Zitat) und 102–106.
85 Vgl. etwa Hrabans ausführliche Zitate aus De doctrina Christiana in De institutione clericali, ed.
Zimpel, III, 6–15, 446–463.
86 Vgl. mit Verweisen auf die weitere Literatur Steckel 2011a, 571–673.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
114 Sita Steckel
tat, denn ich glaubte, dass dem ernsthaften Leser genügt, was er in den Sentenzen der Väter
vorgebracht findet.87
Demut und Selbstaufwertung werden hier von Hrabanus Maurus eng verschränkt:
Seine Beteuerung, kaum Eigenes vorzubringen, leistet einem Eindruck bloßen Kom-
pilierens Vorschub und rückt seine selbstlose Rolle als demütiger Schüler der Väter
in den Vordergrund. Dies dürfte den Lesern nicht zuletzt demonstriert haben, dass
Hrabanus Maurus die nötigen Voraussetzungen zum Empfang göttlicher Begnadung
mitbrachte, nämlich Demut und ein auf Gott und nicht etwa den eigenen Ruhm aus-
gerichtetes Schreibinteresse. In diesem Sinne stellte sich Hrabanus Maurus noch
öfters dar, etwa wo er sich gegen den Anwurf verteidigte, kaum Eigenes zu schrei-
ben.88 Doch im zitierten Absatz erklärte Hrabanus auch, dass er höchstpersönlich
ausgewählt habe, welche Stellen des zweifelhaften Kirchenvaters Origenes katholisch
seien. Die moderne Forschung hat allzu oft nur die eine Hälfte dieser Selbstdarstel-
lung als ‚Kompilator‘ wahrgenommen und kaum bemerkt, dass die Selbststilisierung
Hrabanus’ als begnadeter Grenzwächter der Orthodoxie für zeitgenössische Vorstel-
lungen wohl wichtiger war.89 Gerade sie hebt die Tätigkeit des Exegeten als Auswähler
des Sinnvollen, Erbaulichen und Orthodoxen über die rein menschliche und profane
Ebene eines Wissenschaftlers oder Literaten hinaus.
Diese symbolische Konstruktion von Autorität war zudem bei weitem nicht ‚bloß’
symbolisch: Hrabanus Maurus arbeitete ja an verschiedenen Stellen auch de facto an
den Grenzen der catholica fides. Neben dem problematischen Kirchenvater Origenes
nutzte er beispielsweise auch den als Häretiker verurteilten Augustinus-Gegner Pela-
gius – unter seinem eigenen Namen Maurus und ohne Leser darauf hinzuweisen.90
Für seinen Kommentar zu den Königsbüchern wählte er zudem zu substantiellen
Teilen aus einem später als Pseudo-Hieronymus bekannten Werk aus, das ein gewis-
ser Ebraeus moderni temporis verfasst hatte, wie wir seit Längerem wissen, offenbar
87 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 430: Doctores enim ipsi omnes catholici fuerunt excepto
Origene, cuius tamen sententias tantummodo, quas catholico sensu prolatas credidi, sumpsi, caeteras
autem praetermisi. Nec ex meo sensu in hoc opere plura protuli, sicut in aliis opusculis meis feci, credens
sobrio lectori sufficere quod in patrum sententiis editum repererit.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
88 Vgl. etwa an Kaiser Lothar Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 477: Nec etiam illud silen-
dum arbitror, quod quibusdam narrantibus comperi, quosdam sciolos me in hoc vituperasse, quod ex-
cerptionem faciens de sanctorum patrum scriptis, eorum nomina prenotarem, sive quod aliorum sen-
tentiis magis innisus essem, quam propria conderem; quibus ad hoc facile respondere possum. Quid
enim peccavi in hoc, quod magistros aeclesie veneratione dignos iudicabam et eorum sententias, prout
ipsi eas protulerant, oportunis locis simul cum nota nominum eorum in opusculis meis interposueram?
Magis enim mihi videbatur salubre esse, ut humilitatem servans sanctorum patrum doctrinis inniterer,
quam per arrogantiam, quasi propriam laudem quaerendo, mea indecenter proferrem [...].
89 Auch Cantelli 2006, Bd. 1, 123–124, hebt Hrabans Beschäftigung mit dem Konzept der Häresie zwar
stark hervor, deutet sie aber kaum als Teil seiner Autoritätskonstruktion.
90 Vgl. Heil 2003, 83.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 115
ein konvertierter Jude, der aus der Tradition der jüdischen Exegese schöpfte.91 Obwohl
Hrabanus dem Leser anheimstellte, diese Passagen selbst zu beurteilen, nahm er sie
doch in seine Auswahl auf. Sie waren allerdings wiederum sorgfältig gekennzeichnet,
mit der Sigle EB für Ebraeus (Abb. 8) sowie oft auch im Text selbst.
Wenn Hrabanus beispielsweise dem einflussreichen Abt Hilduin von St. Denis
diesen Kommentar widmete, beurteilte er damit vor prominentem Publikum die
Rechtgläubigkeit eines Wissens, das nicht aus der Quelle der Kirchenväter oder des
Beinahe-Kirchenvaters Beda stammte. Damit machte Hrabanus sich zum Richter über
eine Autoritätenhierarchie, die von den sancti patres bis zu einer von ihm selbst oft
als zweifelhaft gekennzeichneten jüdischen Auslegungstradition reichte. Hrabanus’
Urteil über diese Hierarchie war als Ordnungsleistung sein wesentlicher Beitrag zur
doctrina. Es zeigte eine deutlich übergeordnete Stellung des Exegeten an – und gerade
diese über den Autoritäten schwebende Position Hrabanus’ wurde an den Autorensi-
glen sehr augenfällig zu Pergament gebracht.
verwies die Präsenz der Buchstabengruppen auf der Buchseite nicht nur auf eine
Form von Autorität, sondern machte die komplexe frühmittelalterliche Formation
verschiedener Wissensebenen insgesamt materiell greifbar und anschaulich. Letzt-
lich dienten die Autorensiglen auf der Textseite als Verankerung für einen eigenen
Rezeptionsrahmen, der die Leser und Hörer von vornherein auf ein gestuftes, ins-
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
116 Sita Steckel
93 Vgl. so öfter Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler 1899, 394, 395 (an Frechulf von Lisieux)
u.ö.
94 Vgl. Cantelli 2006, Bd. 1, 14–22.
95 Zur Bedeutung Bedas in Fulda seit Bonifatius vgl. Hill 2006, 230–232.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 117
Gelehrter auf der Suche nach Querverweisen durch die als Sachindex lesbaren aus-
führlichen durchgezählten Capitula erschließen (auf die Hrabanus etwa eigens und
etwas umständlich hinwies).96 Die gesuchte Bibelpassage innerhalb des optisch mar-
kierten und durchgezählten Kapitels war dann leicht zu finden, da der Bibeltext, wie
in einem St. Emmeramer Codex aus dem dritten Viertel des 9. Jahrhunderts, durch
rote Hervorhebung und Zitatmarkierungen am Rand gekennzeichnet war (Abb. 8).
Anhand der Siglen konnte man dann zum gewünschten Kirchenvater vorstoßen oder
die von Hrabanus Maurus sorgfältig zusammengestellte Überlieferung zu wörtlicher
und übertragener Bedeutung der Passage insgesamt befragen.
Auch die eher Erbauung suchenden Leser oder Hörer, oder gar Anfänger unter
ihnen, wurden durch Hrabanus’ auf Vollständigkeit zielende Arbeitsweise bis zu
einem gewissen Grad in das vergleichende, problemorientierte Vorgehen eingeführt.
Gerade solche Rezipienten dürften in erster Linie aber etwas Grundlegenderes mitge-
nommen haben: das Wissen um die ungeheure Wichtigkeit der Autoritäten, die die
Bibel erst erschlossen und erklärten – und das Wissen um die Notwendigkeit und
Bedeutung des Auslegers. Die von Hrabanus anvisierten Lesungen, in denen Rezipi-
enten systematisch die unterschiedlichen Überlegungen der Kirchenväter zu wörtli-
chen und übertragenen Bedeutungsebenen einzelner Textpassagen erklärt wurden,
dürften nicht nur diese als ‚Autoritäten’ vor Augen gestellt haben: Einerseits hörte
man von den großen Auslegern und Erläuterern der Spätantike, die bei Beda meist in
der Vierzahl Hieronymus, Ambrosius, Augustinus und Gregor erschienen,97 in Texten
wie dem sogenannten Decretum de libris recipiendis et non recipiendis verzeichnet
waren oder aus älteren gelehrten Schriften entnommen werden konnten. Anderer-
seits waren es nun aber auch Ausleger wie Beda, Alkuin und Hrabanus Maurus selbst,
die auf deren Spuren wandelten und deren Präsenz auf der Buchseite – ganz buch-
stäblich in einem ‚Raum’ der Autoritäten – sie mit ihnen auf eine Ebene stellte.
Solche jüngeren Autoren, die moderni doctores der Karolingerzeit, erschienen
zwar nicht als neue Kirchenväter. Doch sie waren nur eine Nuance von den Kirchen-
vätern entfernt, denn sie positionierten sich selbst typischerweise als ‚Schüler’ der
Väter. Paschasius Radbertus schrieb etwa, er behaupte nicht, an das Wissen oder die
Verdienste der Väter heranzureichen, doch er freue sich, von ihnen den Glauben und
die Wahrheit gelernt zu haben und ein Zögling ihrer Lehre zu sein.98 Damit stellte er
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
96 Vgl. zu exegetischen Capitula mit weiteren Verweisen Gorman 2002, 263–270; Hrabanus fügt eine
lange Erläuterung zur Benutzung von durchgezählten Capitula (die ihm offenbar als Errungenschaft
erscheinen) in den Widmungsbrief seines Matthäuskommentars ein, vgl. Hrabanus Maurus, Episto-
lae, ed. Dümmler, 390.
97 Vgl. Kaczynski 2001; Kaczynski 2006.
98 Paschasius Radbertus, Epistolae, ed. Dümmler, 140: Veruntamen, etsi ita loquar, non adeo fastum
iactantiae diligo, ut me ad eorum scientiam aut merita attigisse polliceam, sed quod fidem, quam ipsi
docuerunt, et veritatem adprehendisse ipsorumque doctrina enutritum me esse gaudeo.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
118 Sita Steckel
sich sozusagen als letzten einer nicht abreißenden Reihe von Autoritäten vor, die er in
seinem Widmungsbrief übrigens von den Kirchenvätern bis zu Beda führte:
[A]lle Lehrer zogen es vor, den Spuren der katholischen Vorgänger zu folgen und durch ihren
Geist den Strom der Lehre auszuweiten [...]. Ihnen folgend habe ich die hervorragenden aus-
gewählt, Hieronymus, Ambrosius, Augustinus und den seligen Gregor sowie Bischof Johannes
[Chrysostomus] von Konstantinopel und als ihren letzten den Priester Beda, und glaube, ihren
Spuren folgend von ihnen in nichts abgewichen zu sein, auch wenn ich ab und an der Wahrheit
Gemäßes von anderswo eingefügt habe.99
Hrabanus Maurus sah sich offenbar sehr ähnlich. Er formulierte in einem seiner Kom-
mentare:
„[I]ch habe dies nämlich nicht als ein Nachfolger Papst Gregors getan, oder als Prediger des Got-
tesvolks [...], sondern nur quasi als Nachahmer und Schüler, der nicht nur den Fußspuren des
genannten Papstes, sondern auch denen der anderen heiligen Doktoren folgt“. 100
99 Ebd., 141: doctorum […] omnes praedecessorum catholicorum sequi maluerunt vestigia et suis ampli-
are semper ingeniis fluenta doctrinae Christi, ut quod in divinis litteris occultatur necessarium, Dei rese-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
rante gratia copiosius patesceret ad fructum. Quos ego secutus elegi egregios Hieronimum, Ambrosium,
Augustinum et beatum Gregorium necnon Iohannem Constantinopoleos episcopum eorumque ultimum
Bedam presbiterum, quorum adherens vestigiis, ab eorum sensibus credo me in nullo deviasse, licet ex
aliis interdum veritatis concordi nonnulla interponerem.
100 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 476–477: feci enim non quasi successor papae Gregorii
et predicator plebis Dei [...], sed quasi imitator et discipulus, non solum ipsius memorati papae, sed et
aliorum sanctorum doctorum vestigia sequendo.
101 Vgl. die beiden Stellen hier oben, Anm. 1 und 35.
102 Vgl. dazu Aris 2006, 57–61.
103 Vgl. zu Hrabans Imitation von Beda und Alkuin als highest form of compliment die Überlegungen
von Ziolkowski 2001.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 119
Statur heranwachsen wie die Väter und Lehrer. Wenn man die Rezeption der Zeit-
genossen miteinbezieht, erweist sich die Demut der karolingerzeitlichen Ausleger
tatsächlich als Grundlage späterer Hochschätzung durch ihr Publikum, das sie oft
in Parallele zu den Kirchenvätern wahrnahm oder sie in eine Genealogie orthodo-
xer Auslegung einordnete. Solche Traditionsketten imaginierte Alkuin etwa als longa
series ecclesiasticae eruditionis. 104
Noch zu seinen Lebzeiten gelang es Hrabanus Maurus, von niemand Geringerem
als Kaiser Lothar die Stellung zugewiesen zu bekommen, die er sich selbst nur symbo-
lisch zuschreiben konnte: Wie Lothars Schreiben formulierte, hatten seine Vorgänger
unter den Kaisern zwar als Ratgeber Hieronymus, Augustinus, Ambrosius und Gregor
gehabt. Ihm aber habe Gott Hrabanus Maurus zugewiesen, einen Lehrer von glei-
chem Verdienst und Wissen.105 Zwar wurde Hrabanus auch Kritik zuteil – im Kontext
des Prädestinationsstreits wurde er vom schlagkräftigen Polemiker Florus von Lyon
(† ca. 860) hart angegriffen, interessanterweise mit dem Argument, er habe irrele-
vante Stellen ausgewählt und renne daher offene Türen ein, benutze außerdem auch
eine gefälschte, nämlich pseudo-augustinische Schrift als echt.106 Das musste einen
Experten für die Auswahl von Text schmerzhaft treffen. Andere Teilnehmer des Streits
verteidigten Hrabanus jedoch als Gewährsmann der Orthodoxie. Hinkmar von Reims
(† 882) zitierte ihn etwa als ‚ehrwürdigen Vater und katholischen Schriftsteller’, der
vom großen, orthodoxen Lehrer Alkuin mit der Milch der orthodoxen Lehre genährt
worden sei.107
Die letztere Wahrnehmung sollte sich auf lange Sicht durchsetzen. Tatsächlich
wurde Hrabanus Maurus – wie übrigens auch Alkuin – bis ins Hochmittelalter häufig
als Autorität angeführt, unter anderem noch von Thomas von Aquin († 1274).108 Es fällt
sogar auf, dass karolingerzeitliche Autoren im Hochmittelalter deutlich als Fortsetzer
der christlichen Tradition der Spätantike verstanden wurden, denen man nachzuei-
fern trachtete und in deren schriftstellerische Tradition man sich stellte. Abt Wibald
von Stablo und Corvey († 1158) schrieb um 1140 etwa, dass er selbst nur auf den Spuren
der Alten wandele, unter denen er nach Eusebius, Hieronymus, Isidor und Gennadius
105 Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Dümmler, 504: inmensas omnipotenti Deo laudes gratiasque re-
pendimus, qui [...] non dispari nos quoque quam predecessores nostros doctrinae suae iubare inradiare
dignatus est. Nam si illis Hieronimum, Augustinum, Gregorium Ambrosiumque et ceteros quam plurimos
prebuit, et nobis idem opifex eiusdem meriti et scientiae contulit Rhabanum Maurum.
106 So Zechiel-Eckes 1999, 322.
107 Hinkmar von Reims, Epistolae, ed. Perels, 14, in der Anklage Gottschalks von Orbais, der gegen
Hrabanus geschrieben hatte: [Erg.: Gotescalcus scripsit] contra Rhabanum venerabilem archiepisco-
pum et iam aevosum in sancta religione patrem et catholicum scriptorem – ut videlicet ab ortodoxo et
magno doctore domno Alchuino in sanctae ecclesiae utilitatibus uberibus ipsius catholico lacte nutritum
[...].
108 Vgl. Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, 130–133.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
120 Sita Steckel
dann Beda, Ambrosius Autpertus, Haimo von Auxerre und Hrabanus Maurus nannte.
Wiederum als deren Fortsetzer erschienen Wibald die frühscholastischen Theologen
seiner Zeit, Anselm von Laon († 1117), Wilhelm von Champeaux († 1121) oder Albe-
rich von Reims († 1141), als Höhepunkt der Reihe empfahl er schließlich Bernhard
von Clairvaux († 1153).109 Das Einsetzen solcher teils definitorisch-kanonisierenden,
teils genealogischen Reihungen ist bereits im frühen 10. Jahrhundert zu verzeich-
nen. Ein gewisser Gautbert stellte eine ‚Erbfolge der Grammatiker’ (Grammaticorum
Diadoké) auf.110 Er führte darin die Gelehrsamkeit seiner Zeit bis zu Hadrian und
Theodor zurück, den im Lateinischen und Griechischen versierten Gelehrten, die im
7. Jahrhundert von Papst Gregor dem Großen zu den Angelsachsen geschickt worden
waren. Von ihnen aus konstruiert er eine Reihe, in der auf Aldhelm und Beda direkt
Hrabanus Maurus folgt, bevor weitere karolingerzeitliche Gelehrte sich anschließen.
Interessanterweise ist Alkuin, Hrabanus’ Lehrer, in der Grammaticorum Diadoké aus
Versehen zu seinem Schüler geworden – vielleicht insofern nicht ganz unpassend, als
Hrabanus das Bild Alkuins stark mitgeprägt und geformt hat.111
Die derart intensiv wahrgenommene Autorität der ‚Lehrer’ und Ausleger, die als
Nachfolger der Propheten und Kirchenväter göttliche Wahrheit an das menschliche
Wissen ihrer Zeit vermitteln konnten, ist eine der wichtigsten kulturellen Innovati-
onen der Karolingerzeit. Gerade die häufige Zitierung karolingerzeitlicher Gelehrter
bei Hrabanus und bei anderen Autoren des 9. Jahrhunderts wie Smaragdus von St.
Mihiel lässt den Eindruck entstehen, dass wir es beim Autoritätenkanon des Früh-
und Hochmittelalters weniger mit einem ‚patristischen’ Autoritätenkanon als mit
einer fortgesetzten Reihe kirchlicher Gelehrsamkeit zu tun haben. Für solche Vorstel-
lungen einer longa series ecclesiasticae eruditionis dürften die von Beda, Hrabanus,
Smaragd und anderen verwendeten Autorensiglen wichtige materielle Verankerun-
gen dargestellt haben.
Es wäre insofern als Desiderat auszuweisen, dass wir anscheinend keine hand-
schriftenbasierte Gesamtdarstellung des Phänomens der Randsiglen haben, während
einige Fragen durchaus offen bleiben. Neben Beda, dessen Aufstieg zum ‚Kirchen-
vater ehrenhalber’ von der anglophonen Forschung intensiv beleuchtet wurde,112 ist
beispielsweise nicht nur Hrabanus Maurus, sondern auch sein Lehrer Alkuin in den
autoritativen Rändern frühmittelalterlicher Bibelkommentare präsent. Eine Stich-
probe an der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6260, einer
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Freisinger Abschrift von Hrabanus’ Kommentar zum Buch Genesis (um 860, einem
von drei erhaltenen Freisinger Hrabanus-Kommentaren mit relativ sorgfältigen Rand-
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 121
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Abb. 9: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6260, fol. 55v: Hrabanus Maurus, In Genesin,
Freising, um 860.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
122 Sita Steckel
siglen113) zeigt aber, dass Alkuin, wiewohl nur in Ergänzung der älteren Kirchenväter
verwendet, immerhin 18-mal mit Sigle aufgeführt wird (vgl. Abb. 9).
Beda erhält mit 19 nur wenig mehr Siglen, Hrabanus selbst wie Gregor der Große
29, also viel weniger als die häufiger zitierten Autoritäten Hieronymus (83), Isidor (84)
und Augustinus (97), aber mehr als die nur einmal erwähnten Autoren Orosius und
Plinius. So drängt sich die Frage auf, ob Hrabanus seinen Lehrer Alkuin, dessen noch
zu ‚junge’ Autorität er in De institutione clericali öfter einmal durch seinen eigenen
Namen verdeckte, 114 in seinen Bibelkommentaren stärker als Autorität etablierte –
oder ob Abschreiber den Namen hervorhoben.
Wenn wir solche Fragen beantworten könnten, wäre nicht nur für die Untersu-
chung frühmittelalterlicher Wissenstransfers einiges gewonnen. Eine Beschäftigung
mit der Frage, wie genau es Hrabanus Maurus und andere Autoren der Karolingerzeit
mit dem wortwörtlichen Zitieren von Autoritäten wirklich hielten und welches Ver-
ständnis von Textualität sich darin offenbart, wäre auch für diachron-vergleichende
Untersuchungen hochgradig relevant. Tatsächlich ist ‚Autorität’ ein immer noch zu
vage operationalisierter Begriff, wenn man die Innovativität karolingerzeitlicher Wis-
senskultur nuanciert beschreiben oder sie sogar mit den Umwälzungen des 11. und 12.
Jahrhunderts genauer in Bezug setzen möchte.
Denn dass etwa zwischen der sammelnden und abgleichenden Arbeit der karo-
lingerzeitlichen Gelehrten und der begrifflich-definitorischen Klärung der mit der
frühen Glossa ordinaria zur Bibel befassten frühscholastischen Theologen enge
Bezüge bestehen, ist nur zu deutlich.115 Doch die graduellen Verschiebungen früh-
und hochmittelalterlicher Wissenskulturen verschwimmen, wo man sie in ein line-
ares, modernisierungstheoretisch beeinflusstes Schema eines ‚autoritätshörigen’,
wenig originellen Frühmittelalters und eines ‚rationalen’ Hochmittelalters presst. Es
bleibt also viel zu erforschen, wenn man die Handschriften nicht nur auf ihren Text-
gehalt, sondern auch auf Materialität, technische Kontexte und symbolische Bedeu-
tungsebenen befragte. Dies kann gleichzeitig nicht nur gelehrte und literarische,
sondern auch religiöse Formen von Autorität als kulturelles Phänomen erschließen.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
113 Vgl. zu den Handschriften München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6260, 6261, 6262 Bischoff
1960, 118, 122. Clm 6260 scheint zu zeigen, dass der Schreiber das Siglensystem erst lernen musste:
Eine erste Sigle mit B für Beda, der jedoch zunächst keine weitere folgt, da Hrabanus Beda über Seiten
hin ausschrieb, ließ der Schreiber weg oder übersah sie. Vom hinteren Teil von Buch I an werden die
Siglen dann jedoch aufgeführt, teils übrigens als volle Namen (Albinus vs. ALB).
114 Vgl. Hrabanus Maurus, De institutione clericali, ed. Zimpel, 50–51.
115 Sichtbar etwa an den karolingerzeitlichen glossierten Psaltern; vgl. Gibson 1994 sowie zur Glossa
ordinaria Smith 2009.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 123
Quellen
Alkuin, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 4 (Epistolae Karolini Aevi II), Berlin 1895
(Nachdruck 1994), 1–481.
Angelomus von Luxueil, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 5, Berlin 1899, 619–630.
Angelomus von Luxueil, Commentarius in Genesin, ed. Jean-Paul Migne, Patrologia Latina 115, Paris
1852, Sp. 107–243.
Aurelius Augustinus, De Magistro liber unus, ed. Klaus-Detlev Daur, CCSL 29, Turnhout 1970,
139–203.
Beda Venerabilis, In Lucae Evangelium Expositio, ed. Jean-Paul Migne, Patrologia Latina 94, Paris
1850, Sp. 301–633.
Claudius von Turin, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 4, Berlin 1895, 586–613.
Hinkmar von Reims, Epistolae, Teil 1, ed. Ernst Perels, MGH Epistolae 8, Hannover 1939 (ND 1985).
Hrabanus Maurus, Carmina, ed. Ernst Dümmler, MGH Poetae 2, Berlin 1884, 154–258.
Hrabanus Maurus, De institutione clericorum libri tres. Studien und Edition, ed. Detlev Zimpel,
Frankfurt a. M. u.a. 1996.
Hrabanus Maurus, Enarrationes in Epistolas Beati Pauli, ed. Jean-Paul Migne, Patrologia Latina 112,
Paris 1852, Sp. 9–834.
Hrabanus Maurus, Epistolae, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 5, Berlin 1899 (ND München 1978),
379–516.
Hrabanus Maurus, In honorem sanctae crucis, ed. Michel Perrin, CCCM 100, Turnhout 1997.
Lupus von Ferrières, Epistolae, ed. Peter K. Marshall, Bibliotheca Teubneriana, Leipzig 1984.
Paschasius Radbertus, Epistolae variorum, ed. Ernst Dümmler, MGH Epistolae 6, Berlin 1925,
127–206.
Wibald von Stablo, Das Briefbuch Abt Wibalds von Stablo und Corvey, ed. Martina Hartmann, MGH
Briefe der deutschen Kaiserzeit 9, 3 Bde., Hannover 2012.
Literatur
Andenna u.a. (2005): Giancarlo Andenna/Mirko Breitenstein/Gert Melville, „Vorbemerkungen“,
in: Dies. (Hgg.), Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter. Akten des 3. Interna-
tionalen Kongresses des „Italienisch-deutschen Zentrums für Vergleichende Ordensgeschichte“
in Verbindung mit Projekt C „Institutionelle Strukturen religiöser Orden im Mittelalter“ und
Projekt W „Stadtkultur und Klosterkultur in der mittelalterlichen Lombardei. Institutionelle
Wechselwirkung zweier politischer und sozialer Felder“ des Sonderforschungsbereichs 537
„Institutionalität und Geschichtlichkeit“ (Dresden, 10.–12. Juni 2004), Vita regularis. Ordnungen
und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter 26, Münster, XI–XX.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Aris/Bullido del Barrio (2010): Marc-Aeilko Aris/Susana Bullido del Barrio (Hgg.), Hrabanus Maurus
in Fulda: Mit einer Hrabanus Maurus-Bibliographie (1979–2009), Fuldaer Studien 13, Frankfurt
a. M.
Aris (1996): Marc-Aeilko Aris, „Nostrum est citare testes. Anmerkungen zum Wissenschaftsver-
ständnis des Hrabanus Maurus“, in: Gangolf Schrimpf (Hg.), Kloster Fulda in der Welt der
Karolinger und Ottonen, Fuldaer Studien 7, Frankfurt a. M., 437–464.
Aris (2006): Marc-Aeilko Aris, „Hrabanus Maurus und die Bibliotheca Fuldensis“, in: Franz J. Felten/
Barbara Nichtweiß (Hgg.), Hrabanus Maurus. Gelehrter, Abt von Fulda und Erzbischof von
Mainz, Mainz, 51–69.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
124 Sita Steckel
Aris (2010): Marc-Aeilko Aris, „Einleitung“, in: Ders./Susana Bullido del Barrio (Hgg.), Hrabanus
Maurus in Fulda: Mit einer Hrabanus Maurus-Bibliographie (1979–2009), Fuldaer Studien 13,
Frankfurt a. M., 25–32.
Bedos-Rezak (2012): Brigitte M. Bedos-Rezak, „Semiotic Anthropology: The Twelfth-Century
Approach“, in: Thomas F. X. Noble/John H. van Engen (Hgg.), European Transformations:
The Long Twelfth Century, Notre Dame Conferences in Medieval Studies, Notre Dame, Ind.,
426–467.
Berschin (1980): Walter Berschin, Griechisch-lateinisches Mittelalter, Bern/München.
Bischoff (1960): Bernhard Bischoff, Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der
Karolingerzeit, Teil 1: Die bayrischen Diözesen, Wiesbaden.
Blair (2010): Ann M. Blair, Too Much To Know. Managing Scholarly Information before the Modern
Age, New Haven/London.
Blumenkranz (1977): Bernhard Blumenkranz, „Raban Maur et saint Augustin: Compilation ou
adaptation? À propos du latin biblique“, in: ders., Juifs et Chrétiens, Patristique et Moyen Âge,
Variorum Collected Studies Series 70, London, 97–110.
Boulhol (2002): Pascal Boulhol, Claude de Turin: un évêque iconoclaste dans l’occident carolingien:
étude suivie de l’édition du ‘Commentaire sur Josué’, Collection d’études augustiniennes 38,
Paris.
Boynton/Reilly (2011): Susan Boynton/Diane J. Reilly (Hgg.), The Practice of the Bible in the Middle
Ages, New York.
Brunhölzl (1982): Franz Brunhölzl, „Zur geistigen Bedeutung des Hrabanus Maurus“, in: Raymund
Kottje/Harald Zimmermann (Hgg.), Hrabanus Maurus. Lehrer, Abt und Bischof (Symposium der
Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, 18.–20. September 1980), 1–17.
Butzmann (1964): Hans Butzmann, „Der Ezechiel-Kommentar des Hrabanus Maurus und seine
älteste Handschrift“, Bibliothek und Wissenschaft 1, 1–22; wieder in: ders., Kleine Schriften.
Festgabe (der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, hrsg. V. Wolfgang Milde) Zum 70.
Geburtstag, Studien Zur Bibliotheksgeschichte 1, Graz, 1973, 104–119.
Cantelli (2006): Silvia Cantelli Berarducci, Hrabani Mauri Opera Exegetica. Repertorium Fontium,
Instrumenta patristica et mediaevalia 23, 3 Bde., Turnhout.
Cardelle de Hartmann (2000): Carmen Cardelle de Hartmann. „Fures Verborum. Plagiat im
Mittelalter”, in: Christiane Henkes/Harald Saller/Thomas Richter (Hgg.), Text und Autor:
Beiträge aus dem Venedig-Symposium 1998 des Graduiertenkollegs „Textkritik“ (München),
Tübingen, 85–95.
Chazelle/Edwards (2003): Celia Chazelle/Burton van Name Edwards (Hgg.), The study of the Bible in
the Carolingian era, Medieval Church Studies 3, Turnhout.
Cochelin (2011): Isabelle Cochelin, „When Monks were the Book: The Bible and Monasticism (6th –
11th centuries)“, in: Susan Boynton/Diane J. Reilly (Hgg.), The Practice of the Bible in the Middle
Ages: Production, Reception, & Performance in Western Christianity, New York.
Contreni (1992): John J. Contreni, Carolingian Learning, Masters and Manuscripts, Variorum
Collected Studies Series 363, Hampshire/Brookfield/VT.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Contreni (2011): John J. Contreni, Learning and Culture in Carolingian Europe, Variorum Collected
Studies Series 974, Farnham/Burlington/VT.
Contreni/Casciani (2002): John J. Contreni und Santa Casciani (Hgg.), Word, Image and Number.
Communication in the Middle Ages, Micrologus’ Library 8, Florenz.
Curtius (1948): Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern.
De Jong (1995): Mayke De Jong, „Old Law and New-Found Power: Hrabanus Maurus and the Old
Testament“, in: Jan Willem Drijvers/Alasdair A. MacDonald (Hgg.), Centres of Learning. Learning
and Location in Pre-Modern Europe and the Near East, Brill’s Studies in Intellectual History 61,
Leiden/New York/Köln, 162–176.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 125
De Jong (1996): Mayke De Jong, In Samuel’s image. Child oblation in the Early Medieval West, Brill’s
Studies in Intellectual History 12, Leiden/New York/Köln.
De Jong (2000): Mayke De Jong, „The Empire as ecclesia: Hrabanus Maurus and Biblical Historia for
Rulers“, in: Yitzhak Hen/Matthew Innes (Hgg.), The Uses of the Past in the Early Middle Ages,
Cambridge, 191–226.
De Jong (2001): Mayke De Jong, „Exegesis for an empress“, in: Dies./Esther Cohen (Hgg.), Medieval
Transformations. Texts, Power, and Gifts in Context, Cultures, Beliefs and Traditions 11, Leiden/
Boston/Köln, 69–100.
De Jong (2009): Mayke De Jong, The Penitential State. Authority and Atonement in the Age of Louis
the Pious, 814–840, Cambridge.
Depreux (2010): Philippe Depreux u.a. (Hgg.), Raban Maur et son temps, Collection Haut Moyen-Âge
9, Turnhout.
Dreyer (2006): Mechthild Dreyer: „Alkuin und Hrabanus Maurus: Wozu Wissen?“, in: Franz J. Felten/
Barbara Nichtweiß (Hgg.), Hrabanus Maurus. Gelehrter, Abt von Fulda und Erzbischof von
Mainz, Mainz, 35–49.
Eco (1999): Umberto Eco, „Riflessioni sulle tecniche di citazione nel medioevo“, in: Ideologie
et pratiche del reimpiego nell’alto medioevo, Settimane di studio del CISAM 46, Spoleto,
461–483.
Enders (1996): Markus Enders, „Die Bestimmung der wahren Philosophie bei Hrabanus Maurus in
ihrem geschichtlichen Zusammenhang“, in: Gangolf Schrimpf (Hg.), Kloster Fulda in der Welt
der Karolinger und Ottonen, Fuldaer Studien 7, Frankfurt a. M., 465–480.
Evans (1998): Gillian R. Evans, Getting it wrong. The medieval epistemology of error, Studien und
Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 63, Leiden/Boston.
Felten/Nichtweiß (2006): Franz J. Felten/Barbara Nichtweiß (Hgg.), Hrabanus Maurus. Gelehrter, Abt
von Fulda und Erzbischof von Mainz, Mainz.
Felten (2006): Franz J. Felten, „Hrabanus Maurus – Mönch, Gelehrter, Abt von Fulda und Erzbischof
von Mainz (ca. 780–856). Zur Einführung“, in: ders./Barbara Nichtweiß (Hgg.), Hrabanus
Maurus. Gelehrter, Abt von Fulda und Erzbischof von Mainz, Mainz, 9–19.
Ferrari (1999): Michele C. Ferrari, Il ‚liber sanctae crucis‘ di Rabano Mauro. Testo – immagine –
contesto, Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 30, Bern.
Ferrari (2006): Michele C. Ferrari, „Dichtung und Prophetie bei Hrabanus Maurus“, in: Franz J.
Felten/Barbara Nichtweiß (Hgg.), Hrabanus Maurus. Gelehrter, Abt von Fulda und Erzbischof
von Mainz, Mainz, 71–91.
Freise (1982): Eckhard Freise, „Zum Geburtsjahr des Hrabanus Maurus“, in: Raymund Kottje/Harald
Zimmermann (Hgg.), Hrabanus Maurus: Lehrer, Abt und Bischof, Akademie der Wissenschaften
und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Einzelveröf-
fentlichungen 4, Mainz, 18–74.
Frey (2009): Jörg Frey, „Vom Windbrausen zum Geist Christi und zur trinitarischen Person. Stationen
einer Geschichte des Heiligen Geistes im Neuen Testament“, in: Martin Ebner u.a. (Hgg.),
Heiliger Geist/Jahrbuch für Biblische Theologie 24 (erschien 2011), Göttingen, 121–154.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Gameson (2009): Richard Gameson, The Early Medieval Bible: Its Production, Decoration and Use,
Cambridge Studies in Palaeography and Codicology 2, Cambridge/New York.
Ganz (1990): David Ganz, Corbie in the Carolingian Renaissance, Beihefte der Francia 20,
Sigmaringen.
Gardt u.a. (2011): Andreas Gardt/Mireille Schnyder/Jürgen Wolf (Hgg.), Buchkultur und Wissensver-
mittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin/New York.
Garipzanov (2008): Ildar H. Garipzanov, The Symbolic Language of Authority in the Carolingian
World (c. 751–877), Brill’s Series on the Early Middle Ages 16, Leiden/Boston.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
126 Sita Steckel
Gibson (1994): „Carolingian Glossed Psalters“, in: Richard Gameson (Hg.), The Early Medieval
Bible. Its Production, Decoration and Use, Cambridge Studies in Paleography and Codicology,
Cambridge, 78–100.
Gorman (1997): Michael M. Gorman, „The Commentary on Genesis of Claudius of Turin and Biblical
Studies under Louis the Pious“, Speculum 72 (2), 279–329.
Gorman (1999a): Michael M. Gorman, „Bede’s VIII Quaestiones and Carolingian Biblical
Scholarship“, Revue Bénédictine 109 (1–2), 32–74 (wieder in: Gorman [2007]).
Gorman (1999b): Michael M. Gorman, „The Commentary on Genesis of Angelomus of Luxueil and
Biblical Studies under Lothar“, Studi medievali 40, 559–631 (wieder in: Gorman [2007]).
Gorman (2002): Michael M. Gorman, „Source Marks and Chapter Divisions in Bede’s Commentary on
Luke“, Revue Bénédictine 112 (3), 246–290 (wieder in: Gorman [2007]).
Gorman (2007): Michael M. Gormann, The Study of the Bible in the Early Middle Ages, Firenze.
Grosse (2009): Sven Grosse, „Geist und Buchstabe. Varianten eines biblischen Themas in der
Theologiegeschichte“, in: Martin Ebner u.a. (Hgg.), Heiliger Geist/Jahrbuch für Biblische
Theologie 24 (erschien 2011), Göttingen, 157–178.
Heil (2003): Johannes Heil, „Labourers in the Lord’s Quarry: Carolingian Exegetes, Patristic
Authority, and Theological Innovation, a Case Study in the Representation of Jews in
Commentaries on Paul“, in: Celia Chazelle/Burton van Name Edwards (Hgg.), The study of the
Bible in the Carolingian era, Medieval Church Studies 3, Turnhout, 75–96.
Heyse (1969): Elisabeth Heyse, Hrabanus Maurus’ Enzyklopaedie ‚De rerum naturis‘: Untersu-
chungen zu den Quellen und zur Methode der Kompilation, Münchener Beiträge zur Mediävistik
und Renaissance-Forschung 4, München.
Hilgert (2010): Markus Hilgert, „‚Text-Anthropologie‘: Die Erforschung von Materialität und Präsenz
des Geschriebenen als hermeneutische Strategie“, in: ders. (Hg.), Altorientalistik im 21.
Jahrhundert: Selbstverständnis, Herausforderungen, Ziele, Mitteilungen der Deutschen Orient-
gesellschaft 142, Berlin, 87–126.
Hill (2006): Joyce Hill, „Carolingian Perspectives on the Authority of Bede“, in: Scott DeGregorio
(Hg.), Innovation and tradition in the writings of the Venerable Bede, Morgantown, 227–249.
Iogna-Prat u.a. (1991): Dominique Iogna-Prat/Colette Jeudy/Guy Lobrichon (Hgg.), L‘école
carolingienne d‘Auxerre de Murethach à Rémi, 830–908. Entretiens d‘Auxerre 1989, Paris.
Judic (2010): Bruno Judic, „Grégoire le Grand, Alcuin, Raban et le surnom de Maur“, in: Philippe
Depreux u.a. (Hgg.), Raban Maur et son temps, Collection Haut Moyen Age 9, Turnhout, 31–48.
Kaczynski (2001): Bernice M. Kaczynski, „Bede’s Commentaries on Luke and Mark and the Formation
of a Patristic Canon“, in: Siân Echard/Gernot R. Wieland (Hgg.), Anglo-Latin and its Heritage.
Essays in Honour of A.G. Rigg on his 64th Birthday, Publications of the Journal of Medieval Latin
4, Turnhout, 17–26.
Kaczynski (2006): Bernice M. Kaczynski, „The Authority of the Fathers: Patristic Texts in Early
Medieval Libraries and Scriptoria“, The Journal of Medieval Latin 16, 1–27.
Kiening (2009): Christian Kiening, „Einleitung“, in: ders./Carla Dauwen-van Knippenberg/Cornelia
Herberichs (Hgg.), Medialität des Heils im späten Mittelalter, Medienwandel – Medienwechsel –
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 127
Kottje (2007): Raymund Kottje, „Bibel, Tradition, Seelsorge. Zu Grundlagen und Perspektiven
Hrabans“, Archa Verbi 4, 142–154.
Kottje (2012): Raymund Kottje, Verzeichnis der Handschriften mit den Werken des Hrabanus Maurus,
Monumenta Germaniae Historica. Hilfsmittel 27, Hannover.
Kwakkel u.a. (2012): Erik Kwakkel/Rosamond McKitterick/Rodney M. Thomson (Hgg.), Turning Over
a New Leaf: Change and Development in the Medieval Manuscript, Leiden.
Laistner (1933): Max L. W. Laistner, „Source-marks in Bede Manuscripts“, The Journal of Theological
Studies 34, 350–354.
Lehmann (1936): Paul Lehmann, „Blätter, Seiten, Spalten, Zeilen“, in: ders. (Hg.), Erforschung des
Mittelalters 3, Stuttgart 1960, 1–59 (urspr. 1936)
Lehmann (1954): Paul Lehmann, „Zu Hrabans geistiger Bedeutung“, in: ders. (Hg.), Erforschung des
Mittelalters 3, Stuttgart 1960, 198–212 (urspr. 1954).
Lobrichon (1999): Guy Lobrichon, „La relecture des Pères chez les commentateurs de la Bible dans
l’occident latin (IX–XII siècle)“, in: Ideologie et pratiche del reimpiego nell’alto medioevo,
Settimane di studio del CISAM 46, Spoleto, 253–282.
McKitterick (2012): Rosamond McKitterick, „Glossaries and Other Innovations in Carolingian Book
Production“, in: Erik Kwakkel/Rosamond McKitterick/Rodney M. Thomson (Hgg.), Turning over
a New Leaf: Change and Development in the Medieval Manuscript, Leiden, 21–78.
Meier (2000): Christel Meier, „Ecce auctor. Beiträge zur Ikonographie literarischer Urheberschaft im
Mittelalter“, Frühmittelalterliche Studien 34, 338–392.
Meier (2014a): Christel Meier, „Nova verba prophetae. Evaluation und Reproduktion der prophe-
tischen Rede der Bibel im Mittelalter. Eine Skizze“, in: Dies./Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.),
Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilversprechen und Gefährdung, Berlin, 71 –104.
Meier (2014b): Christel Meier, „‚Unusquisque in suo sensu abundet‘ (Rom 14,5). Ambiguitätstoleranz
in der Theologie des lateinischen Westens?“, in: Ludger Lieb (Hg.), Abrahams Erbe. Konkurrenz
– Konflikt – Koexistenz im Mittelalter (15. Symposium des Mediävistenverbandes in Heidelberg,
3.–6. März 2013), Berlin 2014 (im Druck).
Meier/Wagner-Egelhaaf (2011): Christel Meier/Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Autorschaft. Ikonen
– Stile – Institutionen, Berlin.
Mühlenberg (²1999): Ekkehard Mühlenberg, „Dogma und Lehre im Abendland. Von Augustin bis
Anselm von Canterbury“, in: C. Andresen u.a. (Hgg.), Handbuch der Theologie- und Dogmenge-
schichte, Bd. 1: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Katholizität, Göttingen, 406–566.
Müller (1973): Hans-Georg Müller, Hrabanus Maurus. De laudibus sanctae crucis. Studien zur
Überlieferung und Geistesgeschichte mit dem Faksimile-Textabdruck aus Codex Reg. Lat. 124
der vatikanischen Bibliothek, Beihefte zum Mittellateinischen Jahrbuch 11, Düsseldorf.
Partridge/Kwakkel (2012): Stephen Partridge/Erik Kwakkel (Hgg.), Author, Reader, Book. Medieval
Authorship in Theory and Practice, Toronto u.a.
Pollheimer (2010): Marianne Pollheimer, „Der Prediger als Prophet. Die Homiliensammlung des
Hrabanus Maurus für Lothar I.“ in: Richard Corradini u.a. (Hgg.), Zwischen Niederschrift und
Wiederschrift: Hagiographie und Historiographie im Spannungsfeld von Kompendienüber-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
128 Sita Steckel
Ratschow (1981): Carl Heinz Ratschow, „Art. Charisma I. Zum Begriff in der Religionswissenschaft“,
Theologische Realenzyklopädie 7, 681–682.
Riché (1984): Pierre Riché, „Instruments de travail et méthodes de l’exégète à l’époque
carolingienne“, in: Guy Lobrichon/Pierre Riché (Hgg.), Le Moyen Age et la Bible, Paris, 147–162.
Richenhagen (1989): Albert Richenhagen, Studien zur Musikanschauung des Hrabanus Maurus,
Kölner Beiträge zur Musikforschung 162, Regensburg.
Rissel (1976): Maria Rissel, Rezeption antiker und patristischer Wissenschaft bei Hrabanus Maurus,
Bern/Frankfurt.
Rychterová u.a. (2008): Pavlína Rychterová/Stefan Seit/Raphaela Veit (Hgg.), Das Charisma:
Funktionen und symbolische Repräsentationen, Berlin.
Saltman (1973): Avrom Saltman, „Rabanus Maurus and the Pseudo-Hieronymian ‚Quaestiones
Hebraicae in Libros Regum et Paralipomenon‘“, The Harvard Theological Review 66 (1), 43–75.
Schaller (1971): Dieter Schaller, „Der junge ‚Rabe‘ am Hof Karls des Großen (Theodulf. carm.
27)“, in: Johanne Autenrieth/Franz Brunhölzl (Hgg.), Festschrift Bernhard Bischoff zu seinem
65. Geburtstag, Beiträge zur Lateinischen Philologie des Mittelalters. Paläographie und
Buchmalerei, Stuttgart, 123–141.
Schlosser (2000): Marianne Schlosser, Lucerna in caliginoso loco: Aspekte des Prophetie-Begriffs
in der scholastischen Theologie, Neue Folge 43. Veröffentlichungen des Grabmann-Instituts
zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, Paderborn/München/Wien/
Zürich.
Schönbach (1903): Anton E. Schönbach, Über einige Evangelienkommentare des Mittelalters,
Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-
historische Klasse 146, Wien.
Schrimpf (1996): Gangolf Schrimpf (Hg.), Kloster Fulda in der Welt der Karolinger und Ottonen,
Fuldaer Studien 7, Frankfurt a. M.
Schumacher (2010): Lydia Schumacher, „The ‚Theo-Logic‘ of Augustine’s Theory of Knowledge by
Divine Illumination“, Augustinian Studies 41 (2), 375–399.
Shimahara (2007): Sumi Shimahara (Hg.), Etudes d’exégèse carolingienne: autour d’Haymon
d’Auxerre (Atelier de recherches, Centre d’études médiévales d’Auxerre, 25–26 avril 2005),
Collection Haut Moyen-Age 4, Turnhout.
Smith (2009): Lesley Janette Smith, The Glossa Ordinaria: The Making of a Medieval Bible
Commentary, Leiden/Boston.
Souter (1908): Alexander Souter, „Contributions to the Criticism of Zmaragdus’s Expositio Libri
Comitis“, Journal of Theological Studies 9, 584–597.
Souter (1917): Alexander Souter, „The Sources of Sedulius Scottus’ Collectaneum on the Epistles of
St Paul“, The Journal of Theological Studies 18, 184–228.
Souter (1922): Alexander Souter, „Further Contributions to the Criticism of Zmaragdus’s Expositio
Libri Comitis“, Journal of Theological Studie 23, 73–76.
Souter (1933): Alexander Souter, „A Further Contribution to the Criticism of Zmaragdus’s Expositio
Libri Comitis“, Journal of Theological Studies 34, 46–47.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Von Buchstaben und Geist 129
Steckel (2011b): Sita Steckel, „Ammirabile commertium. Die Widmungen des Hrabanus Maurus und
andere symbolische Geschenke als Gaben im Angesicht Gottes“, in: Michael Grünbart (Hg.),
Geschenke erhalten die Freundschaft. Gabentausch und Netzwerkpflege im europäischen
Mittelalter (Akten des Internationalen Kolloquiums Münster, 19.–20. November 2009),
Byzantinische Studien und Texte 1, Münster, 209–249.
Steckel (2014a): Sita Steckel, „Between censorship and patronage. Interaction between Bishops and
Scholars in Carolingian Book Dedications”, in: Evan Gatti/Sigrid Danielson (Hgg.), Envisioning
the Bishop. Images and the Episcopacy in the Middle Ages, Medieval Church Studies 29,
Turnhout, 103–126.
Steckel (2014b): Sita Steckel, „Selbstporträt mit Lehrer. Hrabanus Maurus und Alkuin im Kontext
karolingerzeitlicher Lehrer-Schüler-Bindungen“, in: Michael Grünbart (Hg.), Interaktion in Wort
und Bild. Personale Beziehungen in mittelalterlichen Quellen, Byzantinische Studien und Texte,
Münster (im Druck).
Stoll (1991): Brigitta Stoll, „Drei karolingische Matthäus-Kommentare (Claudius von Turin, Hrabanus
Maurus, Ps. Beda) und ihre Quellen zur Bergpredigt“, Mittellateinisches Jahrbuch 26, 36–55.
Sutcliffe (1926): Edmund F. Sutcliffe, „Quotations in the Venerable Bede’s Commentary on St Mark“,
Biblica 7, 428–439.
Teeuwen/O’Sullivan (2011): Mariken Teeuwen/Sinéad O’Sullivan (Hgg.), Carolingian Scholarship
and Martianus Capella: Ninth-Century Commentary Traditions on „De Nuptiis” in Context,
Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 12, Turnhout.
Teeuwen (2011a): Mariken Teeuwen, „Marginal Scholarship: Rethinking zhe Function of Latin
Glosses in Early Medieval Manuscripts“, in: Patrizia Lendinara/Lorendana Lazzari/Claudia di
Sciacca (Hgg.), Recontextualizing Glosses. New Perspektives in the Study of Late Anglo-Saxon
Glossography, FIDEM – Textes et Études du Moyen Âge 54, Porto, 19–34.
Teeuwen (2011b): Mariken Teeuwen, „Writing between the Lines: Reflections of Scholarly Debate in a
Carolingian Commentary Tradition“, in: Dies./Sinéad O’Sullivan (Hgg.) Carolingian Scholarship
and Martianus Capella: Ninth-Century Commentary Traditions on „De Nuptiis“ in Context,
Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 12, Turnhout, 11–34.
Thraede (1998): Klaus Thraede, „Art. Inspiration“, in: Reallexikon für Antike und Christentum 18,
329–364.
Van’t Spijker (2009): Ineke Van’t Spijker (Hg.), The Multiple Meaning of Scripture: The Role of
Exegesis in early-Christian and Medieval Culture, Commentaria 2, Leiden/Boston.
Zechiel-Eckes (1999): Klaus Zechiel-Eckes, Florus von Lyon als Kirchenpolitiker und Publizist. Studien
zur Persönlichkeit eines karolingischen Intellektuellen am Beispiel der Auseinandersetzung mit
Amalarius (835–38) und des Prädestinationsstreits (851–55), Quellen und Forschungen zum
Recht im Mittelalter 8, Stuttgart.
Zechiel-Eckes (2008): Klaus Zechiel-Eckes, Rez. zu Silvia Cantelli Berarducci, Hrabani Mauri Opera
Exegetica. Repertorium fontium, Instrumenta patristica et mediaevalia 23, 3. Bde., Turnhout
2006, Francia-Recensio 2008/4.
Ziolkowski (2001): Jan M. Ziolkowski, „The Highest Form of Compliment: ‚Imitatio‘ in Medieval Latin
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Culture“, in: John Marenbon (Hg.), Poetry in the Middle Ages: A Festschrift für Peter Dronke,
Mittelalterliche Studien und Texte 29, Leiden/Boston, 293–307.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Stefan Morent
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch:
Aspekte der Überlieferung und Rekonstruktion
Die Kultur mittelalterlicher Klöster, ihr geistiges Profil samt den intellektuellen Rah-
menbedingungen für Bildung und Schriftlichkeit lässt sich zu einem großen Teil
anhand ihrer Bibliotheken und Handschriften erschließen.1 Dies gilt auch für die
Musik, deren Klang längst vergangen und nur in Schriftform in liturgischen Codices
erhalten ist. Das Schicksal der Bibliotheken und ihrer Handschriften kann hierbei
völlig verschieden sein: von der fast vollständigen Bewahrung am Ort der Entstehung
bis heute, wie beispielsweise in der Stiftsbibliothek Sankt Gallen, bis zur völligen
Zerstörung, wie im Fall der Reichsabtei Corvey,2 oder zur Auflösung und Zerstreu-
ung, wie im Falle des Klosters Reichenau oder auch der Bibliothek des 764 zunächst
als Eigenkloster der Rupertiner gegründeten Lorsch, das bereits 772 unter Karl dem
Großen zur reichsunmittelbaren Abtei erhoben wurde.
Für Lorsch verteilen sich die Bestände heute auf ca. 70 Bibliotheken in Europa
und USA, wobei die meisten Handschriften immer noch im Palatina-Fonds der
Vaticana in Rom liegen, gefolgt von Beständen in der Bayerischen Staatsbibliothek
München und in der Oxford Bodleian Library, wohin die Handschriften über die Abtei
Eberbach gelangten, nachdem Lorsch 1233 unter Papst Gregor IX. mit Zisterziensern
aus Eberbach besiedelt worden war.3
Das Schicksal der Klosterbibliothek wurde um 1550 maßgeblich vom damaligen
Pfalzgrafen und nachmaligen Kurfürsten Ottheinrich beeinflusst, der, wie es die Zim-
mersche Chronik formuliert, „tanquam alter Nabucadnezar“ in das Kloster einfiel und
„die kaiserliche uralte bibliothek sampt butzen und still, wie man sagt“ abtranspor-
tieren ließ und seiner Bibliothek einverleibte.4 Dies sollte nicht die letzte unfreiwillige
Reise der Lorscher Handschriften bleiben,5 denn nachdem Heidelberg im 30-jährigen
Krieg 1622 von den Truppen Tillys eingenommen worden war, ließ sein Herr, Herzog
Maximilian I. von Bayern, die berühmte Bibliotheca Palatina Ottheinrichs ebenso
gründlich durch den päpstlichen Legaten Leone Allacci aus Heidelberg abtranspor-
tieren, um sie fast vollständig 1623 Papst Gregor XV. beziehungsweise dessen Nachfol-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
ger Urban VIII. zu überlassen, der sie dort gesondert in der Vatikanischen Bibliothek
aufstellen ließ. Nach dem Frieden von Tolentino 1797 mussten wiederum Palatini vom
© 2015, Morent.
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
132 Stefan Morent
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch 133
muss die Aufmerksamkeit des Musikhistorikers auf sich ziehen. Da Lorsch mit Fulda,
der Reichenau, Murbach und St. Gallen im 9. Jahrhundert zu den führenden Klöstern
im ostfränkischen Raum gehörte, muss ihm ebenso wie diesen die Pflege des liturgi-
schen Gesangs als eine der obersten Aufgaben gegolten haben.
Auf den ersten Blick stellt sich allerdings zunächst Ernüchterung ein: Wer etwa
auf prachtvolle musikalische Handschriften gehofft hat, wird enttäuscht.11 Dass die
Lorscher Bibliothek durchaus Handschriften von hohem künstlerischem Rang besaß,
wenn auch nicht unbedingt selbst herstellte, belegt bereits einer der vier Lorscher
Bibliothekskataloge aus der Mitte des 9. Jahrhunderts (Katalog „C“), der gleich zu
Beginn ein Evangelium pictum cum auro scriptum habens tabulas eburneas nennt,12 in
dem wohl das sogenannte „Lorscher Evangeliar“ (Rom, BAV, Pal. lat. 50) zu sehen ist,
das circa 810 in der Hofschule Karls des Großen entstanden und der Katalog-Beschrei-
bung gemäß mit prachtvollen ganzseitigen Miniaturen etwa der Evangelisten und mit
Gold und Silber geschriebenen Textseiten sowie mit Elfenbein-Platten als Einbänden
glänzt.13
Ähnlich kostbar ausgestattete Handschriften für die Gesänge der Messe, als Chry-
sographen auf mit Purpur getränktem Pergament noch ohne Notation geschrieben,
wie beispielsweise das Cantatorium von Monza aus dem 2. Drittel des 9. Jahrhun-
derts (Monza, Museo del Duomo, Inv. Nr. 88) scheinen aus Lorsch nicht überliefert zu
sein. Dass das Kloster auf jeden Fall Gesangshandschriften besessen hat, belegt der
bereits genannte Bibliothekskatalog mit den Einträgen Antifonarium integrum unum.
gradalum unum. Antifonarios .II. de cantu nocturnali.14 Auch die Bücherliste (tabula
librorum) des Lorscher Priesters Heilrad aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts
verzeichnet mehrere Exemplare eines antefonarius sowie eines gradal.15 Mit ersterem
Eintrag des Lorscher Katalogs ist wohl ein Antiphonar für die gesamten Gesangs-
texte des Stundengebets gemeint, während der letzte Eintrag auf zwei Codices mit
den Gesangstexten zur Liturgie der Vigil in der Nacht verweist. Mit gradalum könnte
entweder ein Graduale, also eine Handschrift mit den Gesangstexten für die Messe,
gemeint sein, oder – in diesem Kontext der Aufzählung – auch mit denen des Stun-
dengebets am Tage. Denn in eben dieser Formulierung gemahnt auch ein Passus aus
der berühmten Admonitio generalis Karls des Großen von 789 die vollständige und der
Ordnung gemäße Ausführung der Offiziumsgesänge für die Nacht- und Tagzeiten an
(pro nocturnale vel gradale officium).16
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
11 Erste Vorstudien zu den neumierten Handschriften aus Lorsch liegen vor von Bannister 1913 und
Münch 1993, die allerdings in Teilen stark verbesserungswürdig sind.
12 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, fol. 1r.
13 Rom, BAV, Pal. lat. 50: Darstellung des Evangelisten Johannes (fol. 67v), Beginn des Johannes-
Evangeliums (fol. 70v).
14 Rom, BAV, Pal. lat. 1877, fol. 1v.
15 Rom, BAV, Pal. lat. 175, fol. 66va.
16 Vgl. etwa Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 496a Helmst., fol. 12v: Ut cantum
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
134 Stefan Morent
Hier wird zum einen deutlich, dass ein Kloster zur Absolvierung des täglichen
Opus dei mit einem Grundbestand an Handschriften ausgestattet sein musste, der
auch für den Gründungskonvent von Lorsch aus 16 Mönchen aus Gorze unter Gun-
deland, dem Bruder Chrodegangs, anzunehmen ist (wozu, wie es später etwa die
Summa cartae caritatis der Zisterzienser formuliert, „psalteri[um], hymnari[um], …
antiphonari[um], gradal[um], regula“ und „missali“ gehörten,17 die auch im Lorscher
Bibliothekskatalog erwähnt werden). Zum anderen ist der Passus ein Zeugnis für die
karolingischen Bestrebungen, den Gesang der päpstlichen Liturgie in Rom (cantus
romanus) auch im fränkischen Reich einheitlich und flächendeckend einzuführen.
Nach der Admonitio generalis begann dieser Prozess, den man als musikalischen
Kulturtransfer oder mit einem englischen Terminus „globalization of chant“ nennen
könnte, bereits unter Karls Vater Pippin und schloss die euphemistisch als „Abschaf-
fung“ formulierte Unterdrückung bereits vorhandener Lokal-Liturgien, wie etwa der
gallikanischen, mit ein. Wie sich diese Einführung der cantilena romana, des römi-
schen Liturgiegesangs, von der auch etwa Walahfrid Strabo rückschauend auf die Zeit
Pippins und Papst Stephans II. berichtet,18 genau vollzogen hat, wirft für die musik-
bezogene Mittelalterforschung seit langem viele und im Detail bis heute ungeklärte
Fragen auf: Wie kann etwa das enorme Repertoire von mehreren tausend Gesängen
für Messe und Stundengebet übermittelt worden sein, ohne dass offenbar musikali-
sche Notation benutzt wurde? Denn vor 900 sind zumindest keine vollständig notier-
ten Gesangshandschriften überliefert, dann aber beinahe gleichzeitig praktisch aus
dem Nichts aus verschiedenen Orten des fränkischen Reiches (St. Gallen, Einsiedeln,
Laon, Chartres) und mit – bis auf kleinere Varianten in Details – identischen Fassun-
gen der Gesänge. Auch hier stellt sich die Frage, wie und woraus sich die sogenannte
Neumenschrift entwickelt hat und wie sich der Übergang von mündlicher Tradierung
zur Fixierung im Medium der Neumenschrift gestaltet hat.19
Dass Melodieverläufe zunächst als nicht aufschreibbar galten, war etwa in den
Etymologiae des Isidor von Sevilla (um 600) nachzulesen. So heißt es in der wohl in
Lorsch um 800 entstandenen Kopie dieses enzyklopädischen Werkes in Buch III, c.
15, dass die Musen Töchter des Iupiter und der Memoria seien und die Töne deshalb
vergehen, wenn sie nicht vom Menschen im Gedächtnis behalten werden, da sie nicht
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
romanum pleniter discant et ordinabiliter pro nocturnale vel gradale officium peragatur secundum quod
beate memorie genitor noster pippinus rex decertavit ut fieret quando gallicanum tulit ob unanimitatem
apostolice sedis.
17 Häse 2002, 19 Anm. 4.
18 Walahfrid Strabo, Liber de exordiis, ed. Knöpfler, c. 26, 84: Cantilenae vero perfectiorem scientiam,
quam iam pene tota Francia diligit, Stephanus papa, cum ad Pippinum, patrem Caroli magni impera-
toris, in Franciam pro iusticia Sancti Petri et Langobardis expetenda venisset per suos clericos petente
eodem Pippino invexit, indeque usus eius longe lateque convaluit.
19 Philips 2000, 529–533.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch 135
geschrieben werden können (quia scribi non possunt).20 Damit meint Isidor wohl: Die
genaue Gestaltung der Musik in der Zeit, das heisst ihr genauer Vortrag kann nicht
aufgeschrieben, sondern nur in der Erinnerung tradiert und bewahrt werden. Denn
bereits die griechische Antike kannte sehr wohl eine musikalische Notation, die aller-
dings aus dem Alphabet abgeleitet war und so auch von Boethius dem Mittelalter
überliefert und von ihm adaptiert wurde. Sie bezeichnet aus der musiktheoretischen
Reflexion kommend strukturelle Tonorte und nicht die praktisch ausgeführte melo-
dische Linie.21 Gleichzeitig wird hier schon klar, dass Notation, wenn überhaupt, als
Gedächtnisstütze verstanden wird und nicht als präskriptive Aufführungsanweisung.
Und doch war es Karl dem Großen und seinen Nachfolgern ein mit größtem Nach-
druck verfolgtes Anliegen, die Einheit mit Rom nicht nur im politischen sondern auch
im liturgischen Bereich herzustellen. Am Ende dieser als Ideal angestrebten unitas
et consonantia in regno et provincia, wie sie Notker Balbulus in seinen Gesta Karoli
Magni bezeichnet,22 steht freilich eine vom Vorbild abweichende fränkische Redak-
tion des römischen Chorals, der sogenannte „Gregorianische Choral“. Entscheidend
ist die geglaubte auctoritas Papst Gregors des Großen als des angeblichen Urhebers
der Choralmelodien, wie sie etwa im Prolog des bereits erwähnten Cantatoriums von
Monza zum Ausdruck kommt.23 Johannes Diaconus und Notker Balbulus berichten
satirisch vom Austausch römischer und fränkischer Sänger, um die neue Singweise
zu lehren und zu lernen und erklären die Differenzen in diesem „Sängerkrieg“ wech-
selweise mit der Unfähigkeit der fränkischen Sänger, die Feinheiten der cantilena
romana mit ihren barbarischen, trinkfesten Kehlen auszuführen beziehungsweise
mit der bösen Absicht der römischen Sänger, möglichst verschieden und falsch zu
singen. Diese Texte sind als Reflex auf die Schwierigkeiten beim Aufeinandertreffen
zweier musikalischer Kulturen und ihrer gegenseitigen Amalgamierung sowie auf die
Rolle Karls des Großen in diesem Prozess, der nach beiden Autoren die musikalischen
Unterschiede wahrnimmt und kritisiert, zu verstehen.24
Jedenfalls müssen wir uns Europa im 8. und 9. Jahrhundert in seinen kulturellen
Zentren als ein im Wesentlichen singendes Europa vorstellen, dem die einheitliche
und korrekte Ausübung des liturgischen Gesangs eines der wichtigsten Anliegen war.
Und dies passt sich ein in das allgemeine Bestreben karolingischer Kultur des corri-
gere et superflua abscindere. Nicht nur weil es politisch gewollt war, sondern auch
weil Benedikt von Nursia in seiner Regel bereits ermahnt, die Mönche sollen eines
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Herzens und mit einer Stimme singen und sich dabei immer vor Augen halten, dass
20 Quaru[m] sonus, quia sensibilis res est praeterfluit in praeteritum tempus inprimiturque memoriae.
Inde a poetis iovis et memoriae filias musas esse confictum est. Nisi enim ab homine memoria tenea[n]-
tur soni pereunt quia scribi non possunt. Rom, BAV, Pal. lat. 281, fol. 53v.
21 Hierzu Philips 2000, 549–560.
22 Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni, ed. Haefele, I, 10, 14.
23 Hierzu Stäblein 1968.
24 Vgl. Haug 2005.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
136 Stefan Morent
sie in Gegenwart der Engel (in conspectu angelorum) sängen.25 Dieser Brückenschlag
zwischen irdischer und himmlischer Liturgie ereignet sich im Sanctus der Messe,
dessen einleitende Worte lauten: una voce dicentes.
Die Musik, in ihrer mittelalterlichen Begrifflichkeit als musica den heutigen
Begriff von Musik um vieles transzendierend, hält Welt und Himmel grundlegend
zusammen. So bildet die musica auch die Quelle aller Erkenntnis. Wiederum bei Isidor
ist nachzulesen, keine disciplina sei ohne die musica vollkommen und selbst die Welt
und das Weltall seien in einer Zusammenstimmung der Klänge komponiert und sogar
der Himmel drehe sich in tönender Ordnung. Diese von Gott geschaffene Ordnung, die
Zeit und Raum bestimmt und gliedert, klingt in ihrer liturgischen Dimension etwa in
den als Probatio pennae gekennzeichneten Anfangsworten von Notkers Weihnachts-
sequenz Natus ante secula dei filius unter den Nachträgen einer in der 1. Hälfte des
9. Jahrhunderts geschriebenen Faustus-Handschrift aus Lorsch an.26 Diese Sequenz
Notkers, die mit zu seinen berühmtesten zählt und seinen Liber hymnorum eröffnet,
wie in der ältesten erhaltenen, vollständigen Handschrift dieses Werkes aus St. Gallen
aus dem 2. Viertel des 10. Jahrhunderts,27 war auch in Lorsch bekannt, wie der Beginn
eines um 1000 in Lorsch geschriebenen Sequentiars, das sich heute in Wien befin-
det, zeigt.28 Die Verse per quem fit machina caeli ac terrae verweisen hierbei auf jenes
aus antiken Vorstellungen übernommene Konzept der Sphärenharmonie, wie es in
einer Kopie des Macrobius-Kommentars zum Somnium Scipionis aus Lorsch aus der 2.
Hälfte des 9. Jahrhunderts visualisiert und auf die musikalischen Intervalle bezogen
wird.29
Die Haltung der Aneignung und gleichzeitigen Adaption antiker Lehrinhalte, die
die karolingische Kultur allgemein kennzeichnet, ist auch für die musica entschei-
dend: Die grundlegende Rolle der musiké im griechischen Denken beruht auf der
pythagoräischen Erkenntnis der Relation zwischen rationalen Zahlverhältnissen und
den musikalischen primären Konsonanzen von Einklang, Quart, Quint und Oktave.
Da die Töne so im Unterschied etwa zu den Farben als Sinneseindrücke an die ratio-
nal fassbaren Zahlen rückgebunden sind, wird ihnen im philosophischen Denken ein
höherer Rang zugesprochen. Die musica gehört deshalb auch im Wissenschaftsver-
ständnis des Mittelalters zu den quattuor matheseos disciplinae des erstmals so von
Boethius benannten Quadriviums (beziehungsweise zunächst quadruvium bei Boe-
thius) wie es eine schematische Darstellung in einer um 800 in Lorsch geschriebe-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch 137
nung griechischen Denkens hier dadurch besonders zum Ausdruck kommt, dass die
Namen der einzelnen Disziplinen mit griechischen Buchstaben geschrieben sind.
Vermittelt wird dieses Wissen dem Mittelalter durch Boethius, dessen Institutio
arithmetica zwar in der Lorscher Handschrift Pal. lat. 1341, die sich heute in der BAV in
Rom befindet, vorhanden ist, seine Institutio musica jedoch weder durch eine Hand-
schrift noch durch einen Eintrag in einem der karolingischen Bibliothekskataloge
bezeugt ist. Obwohl Boethius’ Schrift über die Musik offenbar erst generell einiges
später als die Institutio arithmetica in karolingischen Klöstern rezipiert wurde,31 ist ihr
Fehlen in Lorsch doch erstaunlich. Während der griechischen Philosophie die prakti-
sche Musikausübung als Handwerk gegenüber der gelehrten Spekulation als inferior
galt – weshalb uns auch über die Praxis antiker Musik so wenig bekannt ist – und
Boethius auch diese Wertung mit seiner Unterscheidung zwischen dem wissenden
musicus und dem nur ausübenden cantor an das Mittelalter weiter gab, sahen sich
die Kantoren karolingischer Klöster der Herausforderung gegenüber, dass sie einer-
seits diese antike Haltung der rationalen speculatio übernahmen, andererseits mit
dem Choral mitten in einer täglichen und für die Liturgie unabdingbaren Musikpraxis
standen. Die eigentliche schöpferische Leistung von Autoren wie etwa Hucbald von
St. Amand um 900 besteht darin, die tonsystematische Erkenntnis mit der gesunge-
nen Praxis zu verschränken, den Choral auf die Musiktheorie hin durchhörbar zu
machen und damit die Musik rational zu durchdringen.32 Hierhin begründet sich das
eigentliche Movens für die gesamte abendländische Musikgeschichte.
Aus Lorsch selbst sind aber keine solchen Traktate bekannt, so dass eigene Leis-
tungen in der Musiktheorie bisher nicht anzunehmen sind. Immerhin bezeugt im 11.
Jahrhundert eine Abschrift des Tonarius des Bern von Reichenau (Rom, BAV, Pal. lat.
1344) eine Rezeption dieses einflussreichen musiktheoretischen Werkes des Reiche-
nauer Abtes auch in Lorsch.33 Aber auch nach vollständigen Handschriften, die die
bereits erwähnte um 900 einsetzende Fixierung des Gesangsrepertoires für Messe
und Stundengebet in Gestalt der Neumenschrift dokumentieren, sucht man in den
erhaltenen Lorscher Beständen vergeblich: Kein einziges vollständiges Graduale oder
Antiphonar – etwa dem St. Galler Cantatorium (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 359)
und Codex Hartker (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 390/391) oder den Gradualien
von Einsiedeln (Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 121), Laon (Laon, Bibliothèque
municipale, Ms. 239) und Chartres (Chartres, Bibliothèque municipale, Ms. 47) ver-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
gleichbar, die zu den frühesten und kostbarsten Zeugen dieser ersten Phase von musi-
kalischer Schrift gehören – scheint aus Lorsch erhalten.
31 Duchez 1980.
32 Traub 1989.
33 Beziehungsweise in St. Michael, für das die Handschrift eventuell von Abt Uodalrich (1056–1075)
gestiftet wurde. Häse 2002, 24 Anm. 38.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
138 Stefan Morent
als Erweiterung bestehender Gesänge, meint. Das von einer späteren Hand hinzu-
gefügte figura deckt sich mit anderen frühen Bezeichnungen von Notationszeichen
34 Zu Konkordanzen für die Reihenfolge der Alleluias für die Sonntage XV, XVI, XVII, XXIII nach
Pfingsten vgl. die Datenbank http://www-app.uni-regensburg.de/Fakultaeten/PKGG/Musikwissen-
schaft/Cantus/Alleluia/index.html.
35 Amorbach, Fürstlich Leiningensches Archiv, Schublade 1, Fragment 23.
36 Rom, BAV, Pal. lat. 235, fol. 38v.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch 139
als figura musica. Gleichzeitig scheint diese Stelle einen genetischen Zusammenhang
zwischen den prosodischen Akzentzeichen der Grammatiker und den Neumen herzu-
stellen: Die erwähnten Akzente acutus, gravis und circumflexus rekurrieren auf Erklä-
rungen, wie sie etwa Isidor, dabei selbst Donats Ars maior paraphrasierend, bietet.37
Allerdings lassen sich die Beschreibungen des acutus (mit Verweis auf die griechische
Vorstellung oxys = spitz, scharf) und des gravis (barys= stumpf, schwer) als Verlauf
von schräg unten nach schräg oben beziehungsweise umgekehrt nur mit dem System
der sogenannten paläofränkischen Neumenschrift in Einklang bringen, die allerdings
wohl zu den ältesten Neumensystemen gehört.38 Andere Neumenschriften lassen sich
damit nicht erklären – und so bleibt die auch in der Musikwissenschaft aufgegrif-
fene sogenannte „Akzentthese“ nur eine unter mehreren Ansätzen zur Erklärung der
Genese der Neumenschrift.39
Die speziellen Charakteristika der Lorscher Neumenschrift, wie sie sich aus den
Fragment-Befunden ergeben, sind bisher nur ansatzweise erfasst:40 Sie gehört jeden-
falls zur Familie der sogenannten deutschen Neumenschriften, mit denen in der For-
schung die Neumen im deutschen Sprachgebiet in Abgrenzung zur eigenständigen
St. Galler Neumenschrift bezeichnet werden, und wozu auch etwa die Reichenau
oder Regensburg gehören, deren Differenzierung allerdings bisher relativ unscharf
bleibt.41 Erschwerend kommt hinzu, dass bei Nachträgen jeweils zu entscheiden ist,
ob der Trägercodex selbst in Lorsch entstanden ist oder nur zu einem bestimmten
Zeitpunkt in die Lorscher Bibliothek gelangte, und ob die Neumierung außerhalb
von Lorsch oder in Lorsch und jeweils ursprünglich mit dem Text oder nachträglich
erfolgte. Hier ist oft die paläographische Expertise für die Texte von entscheidender
Bedeutung.
Die folgenden Überlegungen können also nur einen ersten Überblick an aus-
gewählten Beispielen darstellen. Zu den ältesten Neumendokumenten aus Lorsch
könnte eine liturgische Sammelhandschrift aus dem 3. Viertel des 9. Jahrhunderts
gehören, die eine neumierte Passage über den Worten O mira circa nos aus dem Oster-
Exultet oder Preconium paschale (Osterankündigung) enthält.42 Obwohl der Text
offenbar nicht ursprünglich für Neumierung vorgesehen war, scheinen die Neumen
aufgrund ihrer Formgebung noch aus dem 9. Jahrhundert zu stammen.43
Einen zweifelhaften Fall stellen die neumierten Nachträge mit Carmina aus De
consolatione philosophiae von Boethius im sogenannten „Ludwigspsalter“ dar.44 Die
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
140 Stefan Morent
Trägerhandschrift, ein Psalterium gallicanum, wurde wohl in St. Omer Anfang des
9. Jahrhunderts für Ludwig den Deutschen oder Ludwig den Frommen geschrieben.
Einige Anhaltspunkte sprechen dafür, dass die Boethius-Nachträge in Lorsch Ende
des 9. Jahrhunderts entstanden sein könnten, vielleicht im Zusammenhang mit der
Abdankung Karls des Dicken zwischen 887 und 888.45 Sie würden sich damit in eine
Reihe von Neumierungen zu Boethius’ Consolatio aus dem 9. oder frühen 10. Jahr-
hundert einreihen, wie etwa in einer Handschrift mit Versus der Pariser Bibliothèque
nationale de France, die wohl in einem Martins-Kloster in Aquitanien entstand und
im 11. Jahrhundert in St. Martial in Limoges an den lokalen Usus adaptiert wurde.46
Die in Lorsch nachgewiesene Kopie der Consolatio (Rom, BAV, Pal. lat. 1581) enthält
allerdings keine Neumierungen und stammt zudem nicht aus Lorsch selbst. Insge-
samt sind allerdings die erhaltenen Neumierungen zur Consolatio mehrheitlich nicht
direkt im Text enthalten, sondern als Nachträge in Handschriften mit anderen Texten.
Die beiden Zeugnisse aus Lorsch würden damit zu den ältesten bisher bekannten Neu-
mendenkmälern überhaupt gehören. Und sie fügen sich auch insofern in das typische
Bild dieser Zeugnisse ein, als es sich nicht um größere Bestände aus dem Repertoire
der Messe oder des Offiziums handelt, sondern um einzelne Stücke, die spezielle
Texte am Rande oder gar außerhalb der Liturgie betreffen: So etwa das bis heute
wohl älteste bekannte Zeugnis für Neumenschrift, die Prosula Psalle modulamini aus
Regensburg, die das Oster-Alleluia Christus resurgens textiert, zwischen 820 und 840
datiert wird und deren Schreiber Enguldeo sich in der letzten Zeile sogar beim Namen
nennt.47 Oder ein teilweise neumiertes griechisches Gloria in paläofränkischen
Neumen, auf 875/876 datiert.48 Oder neumierte Passagen aus Martianus Capellas De
nuptiis Mercurii et Philologiae, wie etwa in einer französischen Handschrift (Oxford,
Bodleian Library, MS. Laud. Lat. 118, fol. 11v) aus dem 9. Jahrhundert, die wiederum
auf die Rezeption spätantiker Schriftsteller und ihre grundlegende Bedeutung für die
Herausbildung einer Musiktheorie verweisen.
Mit zu den frühesten dokumentierten Gattungen für Neumen gehören auch die
Erweiterungen der kodifizierten Gesänge für Messe und Offizium in Text und Musik,
die fast gleichzeitig mit der Übernahme der Repertoiregesänge entstanden sind:
Tropen, die einen Bezugsgesang, besonders den Introitus, mit textlichen und/oder
musikalischen Erweiterungen ergänzen und kommentieren und Sequenzen, die zu
einer textlosen Melodie nach dem Vorbild des Alleluia-Melismas neue Dichtungen
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
adaptieren und zu einer eigenen Gattung nach dem Alleluia und vor dem Evangelium
werden. Auf das um 1000 geschriebene Lorscher Sequentiar wurde bereits hingewie-
sen. Es bezeugt die Rezeption des St. Galler Sequenzen-Repertoires in Lorsch und ist,
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch 141
wenn auch mit nur acht Blättern, aber immerhin einem vollständigen Quaternio, die
einen Faszikel aus einer verlorenen umfangreicheren Handschrift oder eben einen
eigenständigen Libellus darstellen, das umfangreichste neumierte Dokument aus
Lorsch überhaupt.49 Einzelbeispiele bilden die in der bereits erwähnten Grammati-
schen Sammelhandschrift wohl aus dem 10. Jahrhundert stammende, auf dem letzten
Blatt nachgetragene und kaum mehr lesbare Sequenz zur Nativitas Johannis Baptistae
Sancti baptistae Christi von Notker auf das Melodiemodell Iustus ut palma maior mit
Marginal- und Interlinear-Neumierung.50 Oder die in einer Handschrift mit den Ora-
tiones des Gregor von Nazianz nachgetragene, Alkuin zugeschrieben Sequenz Summi
regis archangele Michahel aus der Zeit um 900.51 Der einzige eigene Beitrag Lorschs
zur Gattung Sequenz scheint zumindest in der Sequenz Gaudia diei celebremus auf
den Klosterheiligen Nazarius vorzuliegen, die in die Lorscher Beda-Handschrift
(Rom, BAV, Pal. lat. 833, fol. 83r) nachgetragen wurde, allerdings ohne Neumen, aber
mit Verweis auf das zugrunde liegende Melodiemodell Beatus vir qui suffert.52
In derselben Handschrift wurde auch der Tropus Hodie sanctissimi virgo zum
Introitus Vultum tuum für Mariä Himmelfahrt ebenfalls um 900 nachgetragen, der
auch aus dem St. Galler Tropenrepertoire bekannt ist.53 Ein anderer Fall liegt bei einer
um 800 in Lorsch geschriebenen Hieronymus-Brief-Handschrift vor.54 Im Inselkloster
Reichenau wurde ein Abschnitt der epistula 14 zu einem tropierenden Vers des Res-
ponsoriums Libera me aus dem Totenoffizium umgearbeitet. Nachträglich neumiert
wurde dann auch die Stelle im Brief selbst, die teilweise von der tropierenden Fassung
abweicht, und am unteren Blattrand ist die Erweiterung des Tropus nur mit den
Vokalen des Abschnitts mit Neumen versehen notiert.55 Den einzigen bisher bekann-
ten eigenen Beitrag Lorschs zur Gattung Tropus stellt der in die ganz zu Beginn vor-
gestellte Handschrift mit den Historiae Gregors von Tour und der Fredegar-Chronik
nachgetragene Tropus Hodie beatus Uodalricus auf den Heiligen Ulrich von Augsburg
dar, dem noch zwei weitere lateinische kurze hymnische Texte zur Nacht und zum
Morgen folgen.56 Der Tropus hebt mit der für Tropen fast topischen Wendung Hodie
an, die auf den wohl bekanntesten und weit verbreiteten Tropus Hodie cantandus est
zur Weihnacht des Tuotilo aus St. Gallen zurückgreift. Mit ihr wird der Introitus als
Eingangsgesang der Messe aktualisiert und ins Hier und Jetzt versetzt. Der Tropus
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
142 Stefan Morent
kommentiert nicht nur die Antiphon des für das Fest des Heiligen Ulrich vorgesehe-
nen Introitus Os iusti, deren Stichworte nur als nicht neumierte Incipits angegeben
sind, sondern setzt auch nach dem Psalmvers und dem Gloria patri an. Die Kunst des
in diesem Fall anonymen Tropendichters bestand hierbei darin, die neu verfassten
Passagen in Wort und Melodie so anzupassen, dass sie mit dem bereits Bestehenden
eine organische Einheit bilden und es neu beleuchten.
Fasst man die bisher bekannten Musikzeugnisse aus dem Kloster Lorsch über-
blicksartig zusammen, so lässt sich bisher daraus nicht ablesen, welche Rolle Lorsch
etwa bei der Aneignung und Verbreitung des Gregorianischen Chorals oder bei
dessen Erweiterungen in Dichtung und Musik und in der Musiktheorie eingenommen
hat. Vielleicht positionierte es sich im Unterschied zur Reichenau und zu St. Gallen
eher in der Bewahrung? Einschränkend muss hierzu natürlich gesagt werden, dass
uns offenbar der größte Teil der musikalischen Handschriften aus Lorsch verloren ist.
Von den erhaltenen Zeugnissen kann aber in einem gewissen Rahmen, jeden-
falls je nach Überlieferungslage, die ursprüngliche klangliche Gestalt in vielen Fällen
zumindest näherungsweise rekonstruiert werden. So ist es möglich, die bereits
erwähnte Nazarius-Sequenz über das zugrunde liegende Melodiemodell Beatus vir
qui suffert wiederzugewinnen. Die mit diesem Melodiemodell verbundene Columban-
Sequenz A solis occasu liegt neumiert im Lorscher Sequentiar (Wien, Österreichische
Nationalbibliothek, Cod. 1043, fol. 4v) vor. Freilich muss hier auf spätere und geogra-
phisch entferntere Handschriften mit Notation auf Linien als Ergänzung zurückge-
griffen werden, um den Melodieverlauf in seinen Tonhöhen wiederzugewinnen, da
aus Lorsch selbst solche Handschriften nicht erhalten sind. Im Fall des Ulrichs-Tropus
sind aber bisher keine auf Linien notierten und damit in Tonhöhen lesbaren Fassun-
gen bekannt geworden. Gewisse Wendungen, wie das einleitende Hodie, das auch
im Melodischen topische Züge in der Überlieferung annimmt, ließen sich vielleicht
rekonstruieren, während der Bezugsgesang, der Introitus Os iusti, als Bestandteil des
Standardrepertoires für die Messgesänge breit überliefert ist und aus späteren Notati-
onen auf Linien wiedergewonnen werden kann, wenn auch keine spezielle Lorscher
Überlieferung weder in Neumen noch in Linien dafür bekannt ist. Auf Linien notierte
Handschriften aus Lorsch sind überhaupt nicht überliefert, das Kloster scheint bereits
vor diesem Schritt in der Entwicklung der Notation im 11. Jahrhundert im Niedergang
begriffen gewesen zu sein.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Der am oberen Blattrand einer Handschrift mit den Sermones von Augustinus, die
um 900 nach Lorsch kam und auch den berühmten „Lorscher Bienensegen“ enthält,
nachgetragene neumierte Introitus Laudate pueri dominum57 lässt sich dagegen durch
Vergleich mit anderen zeitgenössischen Fassungen, wie etwa der im Graduale 121
der Stiftsbibliothek Einsiedeln, und späteren Liniennotationen, die die Basis für die
gedruckte Fassung im Graduale Romanum von 1908 bilden, in seinem melodischen
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Musikkultur des Mittelalters im Kloster Lorsch 143
Verlauf als spezifische Lorscher Variante rekonstruieren. Auf solche Weise gewonnene
Fassungen stehen dann der musikalischen Interpretation offen, um die verlorene
klangliche Wirklichkeit wiederzugewinnen, die vergangenen soni, von denen Isidor
spricht, wieder zum Leben zu erwecken. Damit überschreitet der Musikhistoriker die
Grenze hin zur Musikpraxis, was aber ein notwendiger Schritt ist, um die Musik des
Mittelalters in der Gesamtheit ihrer Erscheinungsweise zu verstehen.
Quellen
Notker Balbulus, Notkeri Balbuli Gesta Karoli Magni imperatoris, ed. Hans F. Haefele, MGH SS rer.
Germ., N. S. 12, Berlin 1959.
Regula Benedicti, lateinisch-deutsch, hg. von der Salzburger Äbtekonferenz, Beuron 2006.
Walahfrid Strabo, Liber de exordiis et incrementis quarundam in observationibus ecclesiasticis
rerum , ed. Aloisius Knöpfler, Veröffentlichungen aus dem Kirchenhistorischen Seminar
München 1,1, München 1899.
Literatur
Atkinson (1995): Charles Atkinson, „De accentibus toni oritur nota quae dicitur neuma: Prosodic
accents, the accent theory, and the paleofrankish script”, in: Graeme M. Boone (Hg.), Essays on
medieval music in honor of David H. Hughes, Cambridge, 17–42.
Bannister (1913): Henry Marriott Bannister, Monumenti Vaticani di paleografia musicale latina, Text
und Tafelband, Codices e Vaticanis selecti phototypice expressi XII, Leipzig.
Barack (²1881): Karl August Barack (Hg.), Zimmerische Chronik, Bd. 3, Tübingen, Stuttgart.
Berschin (1992): Walter Berschin, Die Palatina in der Vaticana: eine deutsche Bibliothek in Rom,
Stuttgart, Zürich.
Berschin (1997a): Walter Berschin, „Statt eines Vorworts: Rom und Heidelberg“, in: ders., Palatina-
Studien. 13 Arbeiten zu Codices Vaticani Palatini latini und anderen Handschriften aus der alten
Heidelberger Sammlung, Miscellanea Bibliothecae Apostolicae Vaticanae V, Studi e testi 365,
Vatikanstadt, 7–16.
Berschin (1997b): Walter Berschin, „Ein Dichterblatt des XI. Jahrhundert aus Lorsch (Heidelberg, Pal.
lat. 864)“, in: Berschin (1997a), 17–23.
Duchez (1980): Marie-Elisabeth Duchez, „Jean Scot Érigène, premier lecteur du ‚De institutione
musica‘ de Boèce?“, in: Werner Beierwalters (Hg.), Eriugena. Studien zu seinen Quellen
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
144 Stefan Morent
Haug (2005): Andreas Haug, „Der Beginn europäischen Komponierens in der Karolingerzeit. Ein
Phantombild“, Die Musikforschung 58, 225–241.
Hiley (1980): David Hiley, „Art. Notation, III,1: Western plainchant”, in: Stanley Sadie (Hg.), The New
Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 13, London, 344–354.
Jammers (1955): Ewald Jammers, „Der sog. Ludwigspsalter als geschichtliches Dokument“,
Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 103 (64), 259–271.
Klaper (2003): Michael Klaper, Die Musikgeschichte der Abtei Reichenau im 10. und 11. Jahrhundert,
Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 52, Stuttgart.
Möller (1990): Harmut Möller, „Die Prosula ‚Psalle modulamina‘ (Mü 9543): Beobachtungen und
Fragen zur Neumenschrift“, in: Claudio Leonardi/Enrico Menesto (Hgg.), La Tradizione dei tropi
liturgici (Atti dei convegni sui tropi liturgici Parigi – Perugia. Organizzati dal Corpus Troporum
sotto legida dell European Science Foundation), Spoleto, 279–296.
Möller (1997): Hartmut Möller, „Anhang: Die Neumen in Heidelberg, Pal. lat. 864“, in: Berschin
(1997a), 25–31.
Münch (1993): Christoph Münch, Musikzeugnisse der Reichsabtei Lorsch: Eine Untersuchung
der Lorscher musikalischen Handschriften in der Bibliotheca Palatina in der Vatikanischen
Bibliothek, Lorsch.
Palmer (1998): Nigel Palmer, Zisterzienser und ihre Bücher: Die mittelalterliche Bibliotheksge-
schichte von Kloster Eberbach im Rheingau unter besonderer Berücksichtigung der in Oxford
und London aufbewahrten Handschriften, Regensburg.
Paxton (1990): Frederick S. Paxton, „Bonus liber: A Late Carolingian Clerical Manual from Lorsch
(Bibliotheca Vaticana MS Pal. lat. 485)”, in: Lauren Mayali/Stephanie A. J. Tibbetts (Hgg.): The
Two Laws. Studies in Medieval Legal History Dedicated to Stephan Kuttner, Studies in Medieval
and Early Modern Canon Law 1, Washington D.C., 1–30.
Philips (2000): Nancy Philips, „Notationen und Notationslehren von Boethius bis zum 12.
Jahrhundert“, in: Michel Huglo/Charles M. Atkinson/Christian Meyer/Karlheinz Schlager/Nancy
Phillips (Hgg.): Die Lehre vom einstimmigen liturgischen Gesang, Geschichte der Musiktheorie
4, Darmstadt, 293–624.
Stäblein (1968): Bruno Stäblein, „‚Gregorius Praesul‘, der Prolog zum römischen Antiphonale.
Buchwerbung im Mittelalter“, in: Richard Baum/Wolfgang Rehm (Hgg.), Musik und Verlag. Karl
Vötterle zum 65. Geburtstag, Kassel, 537–561.
Schmalor (2009): Hermann-Josef Schmalor, „Die Zerstörung der mittelalterlichen Bibliothek der
Reichsabtei Corvey im Dreißigjährigen Krieg und die erhalten gebliebenen Handschriften“,
in: Andrea Rapp/Michael Embach (Hgg.), Zur Erforschung mittelalterlicher Bibliotheken.
Chancen – Perspektiven – Entwicklungen, Sonderbände der Zeitschrift für Bibliothekswesen
und Bibliographie 97, Frankfurt a. M., 381–393.
Traub (1989): Andreas Traub, „Hucbald von Saint-Amand: De harmonica institutione“ (Lat.-dt.
Ausgabe mit Einführung und Faksimile), Beiträge zur Gregorianik 7.
Zühlke: Hanna Zühlke, „Cod. 1043, Sequentiar“, in: Musikalische Quellen des Mittelalters
in der Österreichischen Nationalbibliothek, http://www.cantusplanus.at/cs-cz/
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Tino Licht
Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in
karolingischer Zeit
Wie kaum eine zweite karolingische Schreibschule ist das Lorscher Skriptorium
durch eine beispielhafte jüngere Monographie erschlossen worden, für die sich mit
Bernhard Bischoff der vielleicht beste Kenner der karolingischen Schriftlichkeit ver-
antwortlich zeigte.1 Man mag sich angesichts dieser Publikation fragen, was es zur
Lorscher Schriftgeschichte in karolingischer Zeit noch zu sagen gibt. Bischoffs Unter-
suchungen ermöglichen es dem Benutzer, die Lorscher karolingische Produktion in
den Bibliotheken der Welt ebenso wiederzufinden, wie die Handschriften, die in der
Lorscher Klosterbibliothek vorhanden waren, ohne dort hergestellt worden zu sein,
also wie etwa das berühmte „Lorscher Evangeliar“,2 das aus der Hofschule stammt,
zwar Lorscher Bibliotheksheimat, aber nicht Lorscher Schriftheimat hat. In einigen
Fällen mußte Bischoff hinsichtlich der Herkunft ein Fragezeichen stehen lassen, etwa
bei einem der wenigen nach Heidelberg zurückgekehrten Palatini latini.3 Bischoffs
Fragezeichen sind selten, er war sich, obwohl er nicht zu vorschnellen Urteilen neigte,
in den meisten Fällen sicher.
Wenn hier dennoch neue Beobachtungen präsentiert werden sollen, so liegt das
neben einem Neufund, der zu Anfang kurz skizziert werden soll, an den Möglichkei-
ten der digitalen Erschließung der Lorscher Bibliothek („Bibliotheca Laureshamen-
sis – digital“).4 Sie bietet Kulturhistorikern, Philologen und Paläographen nicht nur
die einzigartige Wiederherstellung einer der bedeutendsten karolingischen Biblio-
theken, sondern auch ein außerordentliches Forschungsreservoir zur Überlieferungs-
und Schriftgeschichte in karolingischer Zeit. Was nur Bernhard Bischoff einmal
gelungen ist, die Lorscher Bestände in den Bibliotheken der Welt zu erreisen, wird
nun schrittweise jedem Interessierten ermöglicht, und zwar als beliebig wiederholba-
rer Vorgang. Aus diesem Reservoir neue Erkenntnisse zu gewinnen, ist Ziel dieses Bei-
trags. Die Beobachtungen betreffen drei Komplexe: 1. Die Neudatierung des älteren
Lorscher Stils 2. Die Lorscher Titelseite 3. Den Lorscher karolingischen Spätstil als
vierte Produktionsperiode.
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
1 Bischoff 1989.
2 Das Evangeliar ist inzwischen in zwei Codexteilen und separierten Elfenbeintafeln verteilt auf die
Standorte Bukarest, Biblioteca Naţională României, Ms R II 1; London, Victoria and Albert Museum,
Inv.-Nr. 138–1866 und Rom, BAV/Museo Sacro, Pal. lat. 50.
3 Es handelt sich um den Codex Heidelberg, UB, Pal. lat. 894 mit zwei Epitomisierungen von Ab urbe
condita des Livius „großenteils von einer sicher fremden, etwas flüchtigen Hand“; Bischoff 1989, 40
und 104.
4 Abrufbar unter: http://www.bibliotheca-laureshamensis-digital.de.
© 2015, Licht.
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 Lizenz.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
146 Tino Licht
1 Anfänge
Für den ersten Teil sind einige Daten zur allgemeinen Schriftgeschichte zu korrigieren,
welche die Entwicklung der karolingischen Minuskel betreffen. Das Lorscher Skripto-
rium beginnt, auch wenn regionale, vor allem insulare (daneben auch alemannische)
Züge in den frühen Handschriften zu erkennen sind, mit dieser Schrift, über deren
Ursprung es seit langer Zeit Unsicherheiten gibt. Diese Unsicherheiten erwachsen aus
den ältesten datierten Zeugnissen, die etwa in den gleichen Zeitraum führen. Da ist
zum einen eine mehrbändige Bibel in Amiens (CLA VI, 707) deren Herstellungsort
und Datierung durch eine Auftragsnotiz im Makkabäerband Amiens, Bibliothèque
Municipale, Ms. 11, fol. 96r bestimmt werden kann: EGO MAVRDRAMNVS ABBAS
PROPTER DEI AMOREM ET PROPTER CONPENDIVM LEGENTIVM HOC VOLVMEN
FIERI IVSSI. „Ich, Abt Maurdramnus, habe um der Liebe zu Gott willen und für den
Dienst am Leser diesen Band herstellen lassen“. Der Auftraggeber Maurdramnus war
Abt von Corbie, und zwar von 772 bis 781, bis er durch den karolingischen Kandida-
ten Adalhard ersetzt wurde. Der Codex ist damit datiert und lokalisiert, Corbie zwi-
schen 772 und 781. Und man trifft auf eine karolingische Minuskel, die weit entwickelt
ist, kaum noch Ligaturen hat und die Kennbuchstaben mustergültig erkennen läßt:
unziales a, ein zum Schließen neigendes g und ein Minuskel-n. Das zweite, konkur-
rierende, datierte Zeugnis der karolingischen Minuskel ist einer der frühen Chry-
sographen, also Handschriften in Gold und Silbertinte, die in der Hofschule Karls
des Großen entstanden sind, das „Godesscalc Evangelistar“ in Paris, Bibliothèque
nationale de France, Nouv. acq. lat. 1203 (CLA V, 681). Dieses Evangelistar steht im
Hauptteil in Unziale, nur im Widmungsgedicht auf foll. 126v–127r findet sich karo-
lingische Minuskel. Aus diesem erfährt man den Namen des Schreibers Godesscalc,
man erfährt das Auftragsjahr 781, das 14. Herrschaftsjahr Karls des Großen, und man
erfährt, dass Karls Gattin Hildegard bei der Niederschrift noch am Leben war. Sie starb
783, der Codex ist damit auf die Jahre 781 bis 783 eingegrenzt. Herstellungsort ist die
Hofschule, die übrigens noch immer nicht lokalisiert werden kann. „Maurdramnus
Bibel“ zwischen 772 und 781, „Godesscalc Evangelistar“ zwischen 781 und 783, das
waren bisher die beiden ältesten datierbaren, möglicherweise gleichzeitig entstande-
nen Zeugnisse der karolingischen Minuskel. Von den beiden hat das zweite, das Hof-
exemplar, die stärkere Anziehungskraft ausgeübt, auch auf Bernhard Bischoff. Nach
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
anfänglicher Zurückhaltung spricht er später einmal von der „Hofschrift“.5 Über den
Gesamtbefund hatte sich die europäische Perspektive gelegt und nach und nach das
attraktivste Ergebnis ins Bewußtsein gerückt: Die Hauptschrift Europas entstand am
Hof von Europas Vater Karl.6
5 Bischoff 1980, 265; freundlicher Hinweis von Prof. Walter Berschin, (Heidelberg).
6 Das ist der Stand, der auch aktuell referiert wird, jüngst etwa bei Cherubini/Pratesi 2010, 368: „I
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit 147
Und doch existiert das Zeugnis, welches geeignet ist, der Hofthese den Boden
zu entziehen. Auch in dieser Handschrift ist die karolingische Minuskel nicht
Hauptschrift, sonst hätte sie nicht verborgen bleiben können, sondern nur Zusatz.
Hauptschrift ist die Halbunziale, in einem späten markanten Typ, dem sogenannten
‚Leutchar-Typ‘. Handschriften in dieser Halbunziale sind selten. Erhalten sind nur
drei, und zwei davon gleichen bis in Abmessung und Initialkunst hinein einander.
Sie sind, obwohl sie unterschiedliche Texte enthalten, ‚kodikologische Zwillinge‘:7
Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Theol. lat. fol. 354 (CLA VIII, 1067a)
und St. Petersburg, Publichnaja Biblioteka, F.v.I.6. Man gewinnt durch die St. Peters-
burger Handschrift eine Datierung und Lokalisierung, denn dort ist auf fol. 211r der
Auftraggeber genannt: Leutcharius abba iussit fieri. Beide Handschriften entstanden
also in Corbie unter Abt Leutchar, der längstens bis 769 dort gewirkt hat, mit Sicher-
heit aber im Jahr 762 Abt in dem alten Königskloster war.8 In dem „Berliner Leutchar-
codex“ nun ist für zwei Seiten die Halbunziale mit einer karolingischen Minuskel ver-
tauscht worden, ohne dass die Schrift auf Rasur steht, ohne dass die Seitengrenzen
Übergangsprobleme signalisieren, ja sogar so, dass der Wechsel nicht beim Übergang
von Blatt zu Blatt, sondern beim Übergang von der Vorder- zur Rückseite (recto/verso)
erfolgte. Die Schrift läuft durch, ein experimenteller Wechsel; die Innovationsschrift
wurde probiert, bevor man zur herkömmlichen Schrift, zur Halbunziale zurück-
kehrte. Wir sind bei vorsichtiger Datierung in den 760er Jahren, möglicherweise sogar
im Jahrzehnt davor und demnach erheblich früher, als man bisher erlauben wollte.
In dem Jahr, als Lorsch gegründet wurde, hat die karolingische Minuskel wohl schon
existiert. Corbie ist mit Sicherheit der Ort, an dem sich die entscheidenden Entwick-
lungsschritte vollzogen haben.9
primi codici in carolina sono gli Evangeliari [!] di Godes[s]calco e di Ada e il Salterio di Dagulfo, tutti
riconducibili in qualche modo agli ultimi due decenni del secolo VIII e ad ambienti di corte“. Ganz
1987, 36 entscheidet sich für die „Maurdramnus Bibel“ als „probably the earliest datable specimen
of Caroline minuscule“, vertritt aber ein merkwürdiges, analoges Entwicklungsmodell: „... Caroline
minuscule ... developed independently at various centers and was not imposed by one center upon
others“ (ebd. 24). An dieses (wenig wahrscheinliche) Modell ‚unabhängiger Analogie‘ scheint anzu-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
knüpfen Schieffer 2005, 37: „sie wurde nirgends angeordnet und ist als Leistung verschiedener Skrip-
torien allein aus dem paläographischen Befund zu erschließen“.
7 Eindrucksvoll ist dieser Zusammenhang anhand zweier identischer Initialen demonstriert bei Zim-
mermann 1916, Tafel 118.
8 Leutchar war Bischof von Amiens und Abt von Corbie in Personalunion; die Daten zu ihm muß man
nachschlagen bei Cousin 1963, 19–46, der ebd. 30 den Abbatiat auf die Jahre 750–765 festlegt; eine
erste Bestätigungsurkunde, die das belegt, datiert auf die Jahre 751/752 (ebd. 38, Anm. 61); Leutchars
Nachfolger Haddo ist für das Jahr 768 (ebd. 24) nachgewiesen; Ganz 1990, 21–22 ergänzt einen siche-
ren Nachweis für Leutchar aus dem Jahr 762 (Gebetsbund von Attigny), verschiebt aber das Zeugnis
für Haddo in das Jahr 769.
9 Ausführlich dazu Licht 2012, 337–346.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
148 Tino Licht
Welche Auswirkungen hat das auf die Schriftgeschichte in Lorsch? Das Datengerüst
der dortigen karolingischen Schreibschule nach Bischoff war bisher das folgende:
Sie beginnt mit Richbod († 804), dem Vergilliebhaber und Träger des Hofnamens
Macharius,10 Abt von Lorsch seit dem Jahr 784. Die ältesten Beispiele datiert Bischoff
immer römisch „VIII/IX“, das heißt um das Jahr 800. Unter Adalung († 837), im Jahr-
zehnt nach 804 wird ein zweiter, ein Übergangsstil erkennbar, dem die markante
stäbchenfömige Rustica als Auszeichnungsschrift fehlt. Dieser wird bald von einer
nordostfranzösischen karolingischen Minuskel begleitet, die auch in Lorsch geschrie-
ben worden ist. Dieser Stil ist der sogenannte Saint-Vaast-Stil. Er steht mit Adalung in
Verbindung, der ab 808 auch den Abbatiat der Abtei Saint Vaast in Arras innehatte.
Ab den 820ern ist das Skriptorium auf seinem Höhepunkt und tritt in die lange und
ertragreiche Phase der karolingischen Minuskel im jüngeren Lorscher Stil ein. Die
Produktion wird um 860 in dem umfangreichsten Bibliothekskatalog Ca von Lorsch
registriert und ebbt dann langsam ab.11 Älterer Lorscher Stil (784–ca. 810), Übergang-
stil (ca. 810–ca. 825), Saint-Vaast-Stil (ca. 810–ca. 825), jüngerer Lorscher Stil (ca. 825
bis zum Ende des Karolingerzeit).
Mit welchem Argument ist der Beginn des Skriptoriums unter Richbod festgelegt?
Bischoffs Begründung lautet: „Die Datierung muß sich zunächst darauf beschrän-
ken, dass ein Ansatz vor Gode[s]scalcs erstaunlicher Leistung (zwischen 781 und 783)
unwahrscheinlich ist ...“.12 Für die Datierung der ältesten Handschriften wird also mit
der ‚Hofthese‘ argumentiert, wovon man sich nun im Wissen um den „Berliner Leut-
charcodex“ und um die Existenz der karolingischen Minuskel schon in den 760ern
befreien darf. Paläographisch spricht nichts dagegen, dass das Lorscher Skriptorium
von Anbeginn produktiv gewesen ist.13 Eigentlich ist schon das Gründungsjahr 764
nicht mehr auszuschließen. Vielleicht ist es für manchen leichter, den Beginn mit
dem Bezug der neuen Konventsgebäude im Jahr 774 anzusetzen. Und es gibt zusätz-
liche Argumente.
Es sei mit einem Fall begonnen, den auch Bischoff sich nicht erklären konnte,
mit dem Fall des Schreibers Donadeus. Dieser hat einen der wenigen Kolophone hin-
terlassen, die sich in Lorscher Codices der Karolingerzeit finden. Der Codex Rom,
Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 200 ist eine Handschrift von Augustinus De
civitate Dei. In ästhetischem Wechsel von schwarz und rot und in Traubenform (bot-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
10 So spricht ihn Alkuin in Epist. 13 seines Briefcorpus an; vgl. Alkuin, Epistolae, ed. Dümmler, 38–39.
11 Die Datierungsargumentation, bei der die Paläographie durch Beobachtungen zur Personenge-
schichte gestützt wird, ist entwickelt bei Bischoff 1989, 23–24; die Signaturangabe Ca folgt der Edition
von Häse 2002, 136–167.
12 Bischoff 1989, 31.
13 Man kann den frühen Entwicklungsstand der karolingischen Minuskel etwa gut an der Hand-
schrift Rom, BAV, Pal. lat. 238 nachvollziehen (CLA I, 88), deren Schrift durch e- und r-Ligaturen,
nt-Ligaturen (als Majuskel- und Minuskelligatur auch in Wortmitte) und Doppelformen a und n ge-
kennzeichnet ist.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit 149
rionis formula)14 hat Donadeus auf fol. 138v um eine Fürbitte nachgesucht. Ora pro
me scribtore Donadeo seruo tuo si Deum habes adiutorem. ‚Wenn Du Gott zum Helfer
hast, dann bete für mich, deinen Knecht, den Schreiber Donadeus.‘ Bischoff kom-
mentiert: „Der nicht häufige Name Donadeus ist in Lorscher Urkunden zwischen 765
und 804 für Schreiber bezeugt ...; wenn alle diese Zeugnisse bis zum letzten sich auf
den einen, wohl aus Gorze stammenden Schreiber beziehen ..., kann der Donadeus
der Handschrift, der eine untadelige karolingische Minuskel und eine verständnis-
voll klassischen Mustern nachgebildete Rustica beherrscht, nicht mit ihm identisch
sein.“15 Warum war trotz des nicht häufigen Namens Donadeus dieser nicht mit
dem Urkundenschreiber zu identifizieren? Bischoffs paläographische Datierung der
Handschrift stand davor. Die Handschrift ist Zeuge des Übergangsstils. Ihre Datierung
würde nach dieser Zuordnung in die 810er fallen, da war der Urkundendonadeus ver-
stummt, und es mußte eben einen zweiten, einen jüngeren Donadeus gegeben haben.
Da sich mit der Verschiebung des älteren Lorscher Stils auch der Zeitraum nach von
verlagert, indem der Übergangsstil geschrieben worden ist, sei der Vorschlag unter-
breitet, die Handschrift neu zu datieren und die Namensidentität zu akzeptieren: Pal.
lat. 200 entstand um 800 im Übergangsstil durch den Schreiber Donadeus (Abb. 10).
Aufschlußreich könnte ein zweiter, bisher nicht diskutierter Fall sein. Zu den
Eigenheiten einiger Handschriften des älteren Lorscher Stils zählt eine eigenwil-
lige Auszeichnungsschrift, eine diplomatische Kursive. Diese diplomatische Kursive
findet sich einmal als Textabschluß bei einem Hauptschreiber des Codex Rom, BAV,
Pal. lat. 1753, fol. 47v. Auf diesem Blatt geht die Hand aus der karolingischen Minuskel
in die diplomatische Kursive über, und danach wird der Text mit einem kuriosen kon-
zentrischen Explicit abgeschlossen. Am unteren Rand gibt es noch einen Schreiber-
eintrag in diplomatischer Kursive. Die Schrift hat eine markante Eigenheit, die teils
ihre Lesbarkeit erschwert: Das l wird unter die Linie geführt und wie ein Majuskel-L
betont (Abb. 11).
Unter den karolingischen Kanzleischreibern zeigt dieses l mit Vorliebe der Schrei-
ber und spätere Kanzleileiter Rado († 808), und zwar sowohl in der Kontextschrift als
auch in den Auszeichnungszeilen der litterae elongatae.16 Weitere Auffälligkeiten in
den betreffenden Lorscher Handschriften, das gekerbte d und das doppelläufige g,
sind bei ihm ebenfalls zu belegen. Die Kombination dieser Schriftmerkmale findet
sich meines Wissens bei keinem anderen überlieferten Kanzleischreiber, so dass sich
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
hinter diesem Lorscher Kopisten der spätere Leiter der karolingischen Königskanz-
lei Rado verbergen könnte. Man liest diese diplomatische Kursive ebenfalls in den
14 So lautet der terminus technicus für die sich nach unten verjüngende Anmerkung bei Cassiodor,
Institutiones, I, 3, 1, 132.
15 Bischoff 1989, 39.
16 Zu Rado vgl. die Angaben und Bibliographie in ChLA XV, 612 (S. [75], Anm. 7); eine jüngere Arbeit
zur karolingischen Kanzlei mit Würdigung Rados liegt vor von Worm 2004, 35–44.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
150 Tino Licht
Abb. 10: Rom, BAV, Pal. lat. 200, fol. 138v (Ausschnitt der linken Spalte); Lorsch, ca. 800; am Ende
des XXII. Buches von Augustinus’ De civitate Dei hat der für mehrere Lorscher Urkunden verantwort-
liche Schreiber Donadeus einen Kolophon eingetragen. Die karolingische Minuskel weist Frühsym-
ptome auf (z.B. ‚liegende‘ nt-Ligatur Z. 2 agant) und auch die verwendete Capitalis rustica ist – man
beachte das gedeckte L (Z. 4 legis catholicae) – nur mit Abstrichen als ‚musterhaft‘ zu bewerten.
© [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Auszeichnungszeilen des Codex Rom, BAV, Pal. lat. 822 auf foll. 121v, 125v und 126v;
auch dort fallen die unter der Zeile wie Majuskelbuchstaben ausgeführten l ins Auge
(Abb. 12).
Wie könnte man sich Rados Verhältnis zu Lorsch vorstellen? Rado hat selbst für
Lorsch geurkundet. Er ist Subskribent der Königsurkunden (das ist natürlich kein
Indiz), er ist namensgleich mit einem Zeugen der Urkunden 228 und 268 aus dem Jahr
782 im „Codex Laureshamensis“ und hat vielleicht eine Schenkung an Lorsch („Codex
Laureshamensis“ 1605) unter Richbod getätigt. Bei der Beschreibung der Mark Hep-
penheim im „Codex Laureshamensis“ 6a wird erwähnt, das Rado als Königsbote
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit 151
Abb. 11: Rom, BAV, Pal. lat. 1753, fol. 47v (Ausschnitt); Lorsch, saec. VIII ex.; Abschluß eines Metrik-
traktats mit ‚konzentrischem‘ Explicit. Der Schreiber wechselt in der letzten Textzeile aus seiner
karolingischen Minuskel in eine diplomatische Kursive (Z. 3 super hoc adhuc non parua lis est). Am
unteren Rand folgt ein wohl vom Schreiber selbst (mit gleich zwei Abweichungen in der lateinischen
Formenbildung) formuliertes Kolophon: Ego me misello, qui in decurso (!) sedebam, manibus
nardum tangebo (!), digitus oculum lambebat. Auffällig sind die unter der Zeile nach Art von Majus-
kelbuchstaben abgewinkelten l (misello). Weitere Schriftmerkmale sind das doppelläufige g (ego)
und das gekerbte d (digitus). © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
(regis missus) bei der Fixierung der Gemarkung anwesend war und eine Grenzmar-
kierung vornehmen lassen hat. Wenn man die Anfangsworte der Notiz in Pal. lat.
1753, fol. 47v Ego me misello, qui in decurso sedebam... vor dem Hintergrund von Ps 136
Super flumina Babylonis illic sedimus et flevimus ... zu verstehen versucht, dann hat
der Schreiber sich an fremdem Ort befunden. Stimmt die Identifizierung, war Rado
kein Konventsmitglied, sondern in Lorsch zu Gast und hat bei diesen Gastaufenthal-
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
ten (in dem Jahr 773, in dem die Mark Heppenheim fixiert worden ist, oder im Jahr
782, wo er als möglicher Zeuge zweier Lorscher Urkunden auftaucht?) im Skriptorium
mitgewirkt. Rado war ab 790 übrigens Abt von Saint Vaast in Arras; sein Nachfolger
in diesem Abbatiat wird ab 808 der Lorscher Abt Adalung sein. Für den Codex hätten
wir dann einen terminus ante quem in Rados Todesjahr 808, einen wahrscheinlichen
terminus ante quem in der Ernennung zum Abt von Saint Vaast im Jahr 790, denn den
Abt einer nordfranzösischen Königsabtei mag man sich kaum beim Kopieren in der
Lorscher Schreibschule vorstellen (Abb. 13). Abschließend sei erwähnt, dass Bischoff
noch ein weiteres Mal über Datierungsschwierigkeiten reflektiert hat, welche die
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
152 Tino Licht
Abb. 12: Litterae elongatae Rados im Diplom Marburg, Hessisches Staatsarchiv, Kaiserurkunden
Hersfeld, 775 VIII 3 (ChLA XII, 535) aus dem Jahr 775. Markant sind das doppelläufige g (signum) und
das unter der Zeile abgewinkelte l (Caroli).
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Abb. 13: Kontextschrift Rados im Diplom Paris, Archives Nationales, K 6, no 1A (ChLA XV, 612) aus dem
Jahr 772 mit unter der Zeile abgewinkeltem l (Z. 1 nullus) und gekerbtem d (Z. 2 audiendum).
frühen Jahre des Skriptoriums betreffen, nämlich bei der Abhängigkeit der Lorscher
karolingischen Minuskel von Metzer Vorbildern: „Wenn in Metz wirklich … die Arbeit
des Skriptoriums ... mit dem Tode Angilrams 791 fast zum Erliegen kam, so müßte
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit 153
auch für Lorsch gelten, dass die Schreiber des ‚älteren Lorscher Stils‘ schon vor 790 in
voller Tätigkeit waren“.17
2 Titelseite
„Die mittelalterlichen Handschriften und die frühen Inkunabeln kannten noch kein
Titelblatt“,18 so oder ähnlich darf man es in den Lexika zum Buchwesen nachlesen.
Warum sich dagegen nicht schon längst Widerstand erhoben hat, ist kaum zu erklä-
ren.19 Jeder Handschriftenforscher ist schon einmal einer Titelseite in mittelalterli-
chen Codices begegnet. Der Charakter einer Titelseite ist erkennbar, wenn für die
Nennung des erhaltenen Werkes (und sei es auch nur in einer Incipitformel) eine
ganze Seite reserviert ist. Solche Beispiele sind schon aus der Spätantike bekannt,
etwa der berühmte „Vergilius Sangallensis“ CLA VII, 977, eine von nur drei erhalte-
Abb. 14: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 1394, p. 34; Umzeichnung (titulum in subsequenti pagina
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
sic lege) durch Ildefons von Arx († 1833) einer im 13. Jahrhundert palimpsestierten Titelseite (p. 35)
des ca. a. 500 in Italien geschriebenen „Vergilius Sangallensis“.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
154 Tino Licht
nen Handschriften in Capitalis quadrata, konkret wohl aus der Ostgotenzeit Italiens
um 500. Der Codex ist im 13. Jahrhundert, dem ‚secolo senza Roma‘,20 palimpsestiert
worden, weshalb man die Umzeichnung benötigt, um einen Eindruck vom ursprüng-
lichen Aussehen der Titelseite zu gewinnen.
Bischoff hat eine ähnliche Vorlage bei der Gestaltung einer Titelseite für den Codex
Rom, BAV, Pal. lat. 175 angenommen, die Titelseite fol. 2v abgebildet und kommentiert:
„Titelblatt nach spätantiken Vorbild“.21 Inzwischen aber kann man durch die Digita-
lisierung erfahren, dass die Titelseite eine Spezialität des Skriptoriums von Lorsch
war, dass Titelseiten seit Anbeginn der Lorscher Eigenproduktion beigegeben worden
sind und dass die spätantike Ästhetik des bei Bischoff abgebildeten Blattes eine Lor-
scher Ästhetik ist, ein Klassizismus. Schon beim gegenwärtigen, vorläufigen Stand
der Digitalisierung sind mehrere Dutzend Lorscher Codices mit Titelseiten erkennbar.
Aus ihnen erwächst die Möglichkeit, deutlicher als in den reinen Schriftveränderun-
gen den Wandel der Handschriftenästhetik sichtbar zu machen (Abb. 15).
Lorsch beginnt mehrfarbig, wenn man so will vorkarolingisch, mit manierierter
und verspielter Buchstabenpräsentation: Ligaturen, Mischalphabet, Verschränkun-
gen, Enklaven, über und untergestellte Buchstaben verdichten den Schmuck und
erschweren die Lesbarkeit. Der Augustinuscodex Rom, BAV, Pal. lat. 207 mit dem
Tractatus in Iohannem ist ein Vertreter des älteren Lorscher Stils. Im zweiten Beispiel
Rom, BAV, Pal. lat. 1449 erkennt man die Reduzierung. Nur noch ein Buchstabe ist
untergestellt, die Schrift ist einfarbig, das Alphabet unvermischt. Die Titelseite ist
übersichtlich geworden und enthält knappste Informationen; man erblickt den Klas-
sizismus des jüngeren Lorscher Stils (Abb. 16).
Der stilistische Wandel im Skriptorium ist an diesen Titelseiten leicht nachzuvoll-
ziehen. Erheblich schwieriger wäre es gewesen, denselben an den Buchstabenformen
der karolingischen Minuskel zu vermitteln. Die Lorscher Titelseiten sind das mar-
kante Reservoir zur Demonstration der Stilveränderung. Sie können darüber beleh-
ren, wie lange der karolingische Klassizismus gebraucht hat, bis er in der Wirklichkeit
der Handschriften angekommen ist. Beim zweiten Beispiel, dem Pal. lat. 1449, befin-
den wir uns schon in den späten Regierungsjahren Ludwigs des Frommen († 840).22
Die Titelseite ist, auch wenn hin und wieder andere Skriptorien Titelseiten produziert
haben,23 wegen ihres dichten Auftretens ein Lorscher Symptom. Der in Heidelberg,
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
20 So lauten Titel und Erkenntnis von Toffanin 1942 (und zahlreiche spätere Auflagen).
21 Bischoff 1989, Taf. 10.
22 Ein terminus ante quem ergibt sich daraus, daß der Tod Abt Adalungs († 837) im Kalendar der
Handschrift auf fol. 6v nachgetragen wurde.
23 Das Skriptorium der Reichenau hat unter Reginbert († 846) einen Alkuinkommentar zu drei Pau-
linischen Briefen kopiert (KFH I, 1114; Einsiedeln, Stiftsbibliothek, 182 und 168), für den Reginbert
selbst in seiner charakteristischen Capitalis rustica das Titelblatt geschrieben hat (p. 2); unter Bischof
Iesse von Amiens († 836) wurde einer im bischöflichen Skriptorium angefertigten Kopie von Hiero-
nymus’ Adversus Iovinianum (CLA VIII, 1030; KFH I, 235; Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Patr. 86)
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit 155
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Abb. 15: Rom, BAV, Pal. lat. 207, fol. 1v; Lorsch, saec. VIII ex.; dreifarbige (rot, grün, schwarz im
Wechsel) Titelseite (die erste Zeile ist ein Nachtrag) mit manierierter Buchstabenanordnung und
-formung vor allem in den vergrößerten Zeilen (Z. 2–4 AVRELII AVGVSTINI TRACTATVS AD POPVLVM
IN IOHANNEM). © [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
156 Tino Licht
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Abb. 16: Rom, BAV, Pal. lat. 1449, fol. 27v; ante a. 838; einfarbig rote Titelseite in Capitalis quadrata.
© [2014] Biblioteca Apostolica Vaticana
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit 157
3 Spätstil
Auch für den Lorscher Spätstil ist der Ausgangspunkt bei Bischoff zu nehmen, bei
dem die meisten Beobachtungen schon zusammengetragen sind, die das Profil eines
solchen entwerfen helfen. In der Buchproduktion von Lorsch gibt es etwa mit der
Erstellung des großen Katalogs um 860 (Katalog Ca nach Häse) eine Zäsur. Diese Zäsur
ist zunächst an der Quantität abzulesen, es gibt nur zehn Handschriften mit Lorscher
Schriftheimat, die in diese späte Phase zwischen den 860ern und der Jahrhundert-
wende datiert werden können, „ein schwacher Nachhall des Eifers der vorangegan-
genen Zeit“.25 Für Bischoff war diese Zehnergruppe eine Fortsetzung des jüngeren
Lorscher Stils, mit einigen, gewissermaßen uneinheitlichen Veränderungen. Doch es
gibt Gemeinsamkeiten. Man sammelt diese am leichtesten auf der Eingangsseite fol.
1r der Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 21218, die De baptismo
von Augustinus enthält. Merkmale der Hauptschrift sind Wiederkehr und Dominanz
des unzialen d, die häufigere Verwendung von Majuskel-N auch jenseits der Vernei-
nung, f und s mit einem kurzen Abschlußhaken (Bischoff spricht von ‚langhalsig‘).26
Bei den Auszeichnungsschriften erhalten die Schäfte der Capitalis quadrata gespal-
tene Basen. Die Unziale hat jetzt haarfeine Buchstabenbestandteile die bei A, E und
G erkennbar sind. Eine neue Buchstabenform taucht fast durchgängig auf, der Aus-
zeichnungsbuchstabe Q mit gebrochenem Bogen (Abb. 17).
Der Stil hat sich gewandelt; man erkennt es auch an der wieder erwachten Initial-
kunst. Dieser Wechsel im Stilempfinden ist jenseits des Lorscher Skriptoriums in zahl-
reichen weiteren Fällen belegbar: in der Literatur an den Dichtungen eines Heiric von
Auxerre, in der Schrift am St. Galler Spätstil,27 in der Buchmalerei an der sogenannten
franko-sächsischen Schule, die einen markanten Umbruch im Stil repräsentiert. Fast
schlagartig wandelt sich zwischen 860 und 870 das Stildeal vom Klassizismus zum
Manierismus.28 Am schärfsten hat der Kunsthistoriker Wilhelm Köhler angesichts
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
24 Bischoff 1989, 40 erkennt nicht die Titelseite an sich, sondern deren Capitalis rustica als charakte-
ristisch für Lorsch an: „Für Entstehung in Lorsch spricht die Titelseite 1**v mit der typischen leichten
Rustica“.
25 Ebd. 52–53.
26 Ebd. 53–54.
27 Zusammenfassend beschrieben bei Daniel 1973, 29–33.
28 Ausführlich besprochen und dokumentiert ist diese „Epochengrenze mitten in der ‚Karolinger-
zeit‘“ bei Berschin 1991, 337–341.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
158 Tino Licht
Abb. 17: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 21218, fol. 1r; Handschrift im Lorscher Spätstil
(saec. IX ex.); markant sind wiederkehrendes Majuskel-N auch außerhalb der Verneinung, die
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
langhalsigen f und s (rechte Spalte Z. 2 nobis flagitantibus) und die Wiederaufnahme des unzialen
d (rechte Spalte Z. 7 donatistae). Bei den Auszeichnungsschriften erhalten die Schäfte der Capitalis
quadrata gespaltene Basen (linke Spalte Z. 5 IN EIS LIBRIS); die Unziale hat jetzt (wieder) haarfeine
Buchstabenbestandteile bei A, E und G in der linken Spalte Z. 13/14 diligentius quęstionem bap-
tismi); eine charakteristische Buchstabenform, das Q mit gebrochenem Bogen (rechte Spalte Z. 4
Quapropter), dominiert in den Auszeichnungsalphabeten.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innovation : Wissenstransfer und kulturelle Innovation, edited by Julia Becker, et al.,
De Gruyter, Inc., 2015. ProQuest Ebook Central, http://ebookcentral.proquest.com/lib/karatekin-ebooks/detail.action?docID=1713062.
Created from karatekin-ebooks on 2022-11-02 18:52:02.
Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit 159
Abb. 18: Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. I.2.4° 1, fol. 2v (Ausschnitt), „Lorscher Sakramentar“
(saec. IX ex.); in den beiden Auszeichnungszeilen sind Merkmale des Lorscher Spätstils zu erken-
nen, besonders die hauchdünnen Buchstabenbestandteile beim unzialen A und das Capitalis-Q mit
dem gebrochenen Bogen (Z. 2 qui apostolis).
des franko-sächsischen Stils diesen Wechsel gefaßt: „Um 870 ist die karolingische
Bewegung tot in Frankreich“. In dieser Drastik ist das nicht leicht zu verdauen, und
doch bleibt auffällig, dass auch in Lorsch sich der Stilwechsel in den Handschriften
belegen läßt. Und wie andernorts besteht er zu einem gewichtigen Teil in der Wie-
deraufnahme alter, vorkarolingischer beziehungsweise frühkarolingischer Formen.
Neu ist, dass es in Lorsch nun sogar eine Buchmalerei mit einer insular beeinflußten
Ästhetik gibt. Paradebeispiel ist das sogenannte Lorscher Sakramentar, von dem nur
noch Fragmente existieren. Wenn man auf die Auszeichnungsschrift dieses Sakra-
mentars schaut, wird man die Unziale mit den Symptomen des Spätstils erkennen
und auch das Q mit gebrochenen Bogen sehen, was im Ideal einer unvermischten
Auszeichnungsschrift gar nicht zugelassen sein dürfte, denn es ist ein Capitalisbuch-
stabe. Der Stil hängt also zusammen und ergibt ein einheitliches Bild (Abb. 18).
Kann man mehr gewinnen, als nur die Beschreibung eines Spätstils des Lorscher
Skriptoriums? Die Schriftmerkmale geben Datierungs- und Lokalisierungssicherheit
und helfen, Zuweisungen kritisch zu prüfen. Erst in den letzten Jahren wurde das
Sakramentarfragment New York, Columbia University Library, G.A. Plimpton Coll.
Ms. 59 in die Liste der Handschriften mit Lorscher Schriftheimat inskribiert und die
Einschätzung gegeben, es sei von einem „Lorscher Schreiber etwa im 3. Viertel des
9. Jahrhunderts“ geschrieben worden, was sich an der Verwandtschaft zum Lorscher
Rotulus und zum Lorscher Sakramentar zeige.29 Es mangelt der Auszeichnungsschrift
aber an allen Lorscher Symptomen (gespaltene Basen, Q mit gebrochenem Bogen,
feine Buchstabenbestandteile, die insbesondere das markante unziale A formen),
Copyright © 2015. De Gruyter, Inc.. All rights reserved.
Carolingian Monasteries: Knowledge Transfer and Cultural Innova