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Der Lehrer und die Atome

John Dalton war ein glücklicher Mann. Er hatte immer unterrichten wollen, obgleich dies im 18.
Jahrhundert ein wenig ungewöhnlich war für jemanden mit seinem sozialen Status. Er war der
Sohn eines Webers, der ein Stückchen Land besaß, und wie viele Kinder seiner Zeit musste John
bereits sehr früh mitarbeiten. Dennoch hatte er es schließlich geschafft: Seit ein paar Jahren oder,
um genauer zu sein, seit dem Jahr 1793, hatte er schließlich eine Position als Lehrer für Mathematik
und Naturphilosophie am neu gegründeten College von Manchester. Kurz nach seiner Anstellung
war er auch ein Mitglied der Manchester Literary and Philosophical Society geworden, einer der
hervorragendsten englischen wissenschaftlichen Gesellschaften am Ende des 18. Jahrhunderts.
Dalton liebte es zu unterrichten, er hatte bereits im Alter von zwölf Jahren damit begonnen in einer
Provinzschule Unterricht zu geben. Aber er liebte auch die Wissenschaften, und seine neue Position
bot ihm die Gelegenheit, beide Leidenschaften zu kombinieren.
Vor allem mochte Dalton die Chemie. In einem thematischen Wissenschaft. Die Studenten
Labor zu stehen und Experimente durchzufüh- schien dies nicht zu interessieren. Dalton spür-
ren, bei denen neue Substanzen hergestellt und te, dass er sich etwas darüber ärgerte, aber
analysiert wurden, war eine der Sachen, bei dann hob Smythe, ein Junge, der in der ersten
denen er wirklich gut war, und wo er wirklich Reihe saß und einer der klügsten und interes-
glücklich war. siertesten Studenten in seinem Chemieunter-
Vor kurzem hatte es in der Chemie deutliche richt war, seinen Arm:
Veränderungen gegeben, Luft hatte sich als “Sir, Entschuldigung, darf ich eine Frage stel-
eine Mischung einiger Gase herausgestellt, statt len?”
ein Element zu sein zu sein. Der Franzose Anto- “Natürlich”, antwortete Dalton, der neugierig
ine Lavoisier hatte ein neues chemisches Sys- war, was für eine Frage sich aus diesen einfa-
tem vorgestellt, das verbunden war mit der chen Zahlenverhältnissen, die er gerade disku-
Durchführung von quantitativen Experimenten tierte, stellen könnte.
und der Verwendung von extrem empfindli- “Warum gibt es diese festen Verhältnisse der
chen Waagen. Damit wurden chemische Reak- Massen der Elemente bei den chemischen Re-
tionen nicht nur im Hinblick auf die Substanzen aktionen?”, fragte Smythe.
analysiert, die sich zu neuen Stoffen kombinie- „Warum?“ – diese Frage hatte sich Dalton nie
ren ließen, sondern auch in einer quantitativen gestellt. „Warum?“ Dalton stand stumm im
Art und Weise. Obwohl viele Chemiker noch Raum und dachte nach. „Warum?“ Keine der
dieses neue System und diese neue Methode Arbeiten der modernen Chemiker beschäftigte
ablehnten, war Dalton begeistert davon. Die sich mit dieser Frage. Chemische Anweisungen
Kombination der chemischen Manipulation und in diesen Arbeiten waren ein wenig wie Koch-
der mathematischen Genauigkeit war etwas, rezepte, wenn er ihnen folgte, erhielt er die
das sein Interesse und seine Kompetenzen traf. beabsichtigten Ergebnisse. „Warum?“
Und mit diesem neuen Ansatz hatte Dalton Schließlich richtete Dalton sich auf und lächelte
neue Einsichten gewonnen, die er im Begriff Smythe müde an: „Dieses ist eine ausgezeichne-
war, zum ersten Mal in seinem Unterricht zu te Frage, aber die chemische Theorie ist noch
verwenden. nicht an dem Punkt, an dem wir eine solche
Er richtete sich auf und öffnete die Tür zu sei- Frage beantworten können. Z.Z. sammeln wir
nem Klassenzimmer. Wie üblich saßen dort die Daten und Erfahrungen, und es wird eine der
Studenten, und sie erhoben sich, als Dalton den zukünftigen Aufgaben sein, ein Verständnis der
Raum betrat. Wie üblich waren im Raum Che- diesen empirischen Ergebnissen zugrunde lie-
mikalien, und Apparate standen auf dem Tisch. genden Gesetzmäßigkeiten zu entwickeln. Sie
Jedoch würde dieses Mal der Unterricht anders sehen, Chemie ist noch keine abgeschlossene
als üblich sein. Wissenschaft.“ Der Junge schien nicht mit die-
Dalton begann zu sprechen, und er sprach über ser Antwort zufrieden zu sein, jedoch war er
das neue, quantitative Konzept in der Chemie: intelligent genug um zu wissen, dass er keine
Er betonte, dass es immer feste Beziehungen bessere Antwort erhalten würde.
zwischen den Massen der zwei Substanzen Schließlich war die Unterrichtsstunde zu Ende,
geben würde, die in einer chemischen Reaktion aber Dalton war immer noch frustriert, und er
eine neue Substanz bilden. Unter diesem Ge- konnte diese eine Frage nicht aus seinem Kopf
sichtspunkt wurde die Chemie zu einer ma- bekommen: "Warum?" Was eine Demonstrati-

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on des Potenzials der neuen Chemie von Lavoi- schen Substanzen aus Elementen mit festen
sier und des Potenzials des damit verbundenen Zahlenverhältnissen aufgebaut, und warum
quantitativen Ansatzes sein sollte, hatte sich als hatten diese Zahlen zueinander ein bestimmtes
eine Enttäuschung herausgestellt. "Warum?" – Verhältnis?
Dalton beschlich das Gefühl, dass es sich tat- Das Durchsuchen der Arbeiten früherer Che-
sächlich um eine Frage handelte, die mehr miker hatte ihn nicht weitergebracht, – Lavoi-
Nachdenken erfordern und nicht leicht zu be- sier war zweifellos der Forscher, der den
antworten sein würde. Grundstein zur Art und Weise gelegt hatte, wie
Einige Jahre später dachte Dalton immer noch in der modernen Chemie geforscht werden
an diese Episode, aber seine Perspektive hatte sollte. In seinen Veröffentlichungen fand sich
sich von anfänglicher Frustration zur Faszina- jedoch keine Erklärung für dieses Verhalten.
tion entwickelt. In der Zwischenzeit hatte er Und dann stieß er eines Tages beim flüchtigen
seine Position als Lehrer aufgegeben. Mittler- Durchblättern einiger älterer Bücher in der
weile war er ein unabhängiger Chemiker, der Bibliothek auf ein Argument von Aristoteles,
seinen Lebensunterhalt durch die Erziehung der einen anderen griechischen Philosophen
von Kindern der wohlhabenden Industriellen kritisierte, einen Mann namens Demokrit, der
Manchester verdiente – weniger Lehrverpflich- sich Atome vorgestellt hatte, kleinste, untrenn-
tung, bessere Bezahlung und mehr Zeit für die bare Partikel, die alle Stoffe bilden sollten. Als
Forschung. Und jetzt saß er gerade in einer er diese Passagen las, wurde die Lösung für
Kutsche nach London, wo er einen Vortrag in Dalton sofort kristallklar – das war es, hier war
der renommierten Royal Institution halten die Erklärung, nach der er gesucht hatte. Wenn
würde, einen Vortrag, der die Ergebnisse seiner es Atome gibt, dann würden diese das quantita-
Forschungen der letzten Jahre zusammenfass- tive Verhalten erklären. In den folgenden Mo-
te, Forschungen, die von dieser Frage ausgelöst naten überdachte Dalton diese Erklärung im-
worden waren, die der Schüler Smythe ihm mer wieder, wiederholte einige seiner Experi-
gestellt hatte. mente nochmals und prüfte deren Ergebnisse
Dalton hatte viel im Labor gearbeitet, aber er und entwickelte seine Interpretation weiter.
untersuchte nicht mehr die Stoffe, die aus an- Am Ende war Dalton in der Lage, einige einfa-
deren Stoffen hergestellt werden können oder che Aussagen zu formulieren, die alle seine
in andere Stoffe zersetzt werden konnten. chemischen Ergebnisse erklärten:
Stattdessen versuchte er, mathematischen Re-
geln in den chemischen Reaktionen zu finden, 1. Atome können nicht hergestellt oder
so dass diese über das Rezept hinausgingen. zerstört werden.
Die einfachste Regel (die schon länger bekannt
war) bestand darin, dass chemische Substan- 2. Alle Atome des gleichen Elements sind
zen immer in einem gewissen Massenverhält- identisch.
nis der Ausgangsstoffe reagieren. Darüber hin-
aus war es noch viel bemerkenswerter, dass es 3. Verschiedene Elemente haben ver-
mehr quantitative Beziehungen gab, als er es schiedene Arten von Atomen.
zunächst erwartet hätte: So hatte er festge-
stellt, dass 2g Wasserstoff mit 16g Sauerstoff 4. Chemische Reaktionen liegen vor, wenn
reagieren, die gleiche Menge würde auch mit Atome sich neu zueinander orientieren.
32g Schwefel reagieren. 56g Eisen würden auch
mit 16g Sauerstoff reagieren, und die gleiche 5. Verbindungen entstehen aus Atomen
Menge Eisen würde auch mit 32g Schwefel rea- der sie bildenden Elemente.
gieren. Darüber hinaus gab es zwei Substanzen,
die aus Schwefel und Sauerstoff gebildet wer- Diese fünf Sätze bildeten die Basis seiner neuen
den könnte - eine bestand aus 1g Schwefel und chemischen Theorie, und er ging noch einmal
1g Sauerstoff, die andere aus 2g Schwefel und das Manuskript des Vortrags durch, den er an
3g Sauerstoff. Es gab noch andere chemische der Royal Institution halten sollte. Dann kam
Substanzen, bei denen er ähnliche Verhältnisse die Kutsche schließlich in London an, Dalton
gefunden hatte, und Dalton hatte das Gefühl, es stieg aus und schaute sich um. Er war bereit,
müsse eine verborgene Wahrheit in der Natur den Chemikern und allen anderen Zuhörern
geben, die als Erklärung dieser Verhältnisse seines Vortrags seine neue Theorie vorzustel-
dienen könnte. Warum waren diese chemi- len und zu erläutern.

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Am nächsten Tag stand Dalton im Vortragsaal Vortrag, auf den er so viele Hoffnungen gesetzt
der Royal Institution – die Sitzplätze im Raum hatte, ein kompletter Fehlschlag gewesen war.
waren gut besetzt. Dalton begann, seine ersten „Vielen Dank, meine Herren, für Ihre Zeit und
Experimente zu beschreiben, gab die Zahlen Ihre Aufmerksamkeit“, war alles, was er noch
der quantitativen Analyse an und stellte murmeln konnte, und dann verließ er den Vor-
schließlich seine erste Schlussfolgerung vor: lesungssaal hastig.
„Materie besteht aus Atomen, Teilchen, die
nicht zerstört werden oder hergestellt werden Obgleich Daltons Theorie von einigen Che-
können.“ Er nahm etwas Irritation im Publikum mikern sehr schnell angenommen wurde, wie-
war, aber er fuhr mit seiner Darstellung fort. sen andere sie zurück. Ein Schlüsselproblem
Allerdings hatte er mehr und mehr das Gefühl, war die Annahme, dass jedem Element ein an-
dass sein Publikum zunehmend irritiert war. deres Atom zukam, infolgedessen gab es zu
Schließlich formulierte er seine abschließende Beginn des 19. Jahrhunderts ungefähr dreißig
Schlussfolgerung: „Das Modell der Atome ist in verschiedene Atome, und ihre Zahl erhöhte sich
der Lage, das chemische Verhalten von Sub- weiter. Anstatt die Struktur zu vereinfachen,
stanzen zu erklären, soweit wir es heutzutage machte Daltons Atomtheorie die Natur schein-
kennen, und es ist ein wertvolles Werkzeug für bar komplexer. Bis mehr als 60 Jahre nach Dal-
die zukünftige Forschung.“ Nachdem Dalton tons Tod dauerten die Kontroversen über die
geendet hatte, herrschte zunächst Ruhe im Gültigkeit der von ihm formulierten Atomtheo-
Raum, dann stellte ein älterer gelehrt ausse- rie an.
hender Mann eine Frage, die anscheinend die
meisten Personen im Publikum bewegte: „Herr .
Dalton, haben Sie überhaupt jemals ein Atom
gesehen?“
Es herrschte gespannte Stille im Raum, dann
antwortete Dalton: „Ähm, nein, nein, natürlich Der Lehrer und die Atome was edited by Panagiotis Kok-
kotas and it is based, in part, on Historical Background:
nicht, aber…“ Atome written by Peter Heering and on Biography: An-
Der Mann unterbrach ihn: „Gut, Herr Dalton, toine Laurent Lavoisier written by Grazyna Drazkowska.
vielen Dank für Ihre … Hypothese, aber Sie wis-
sen, hier in London beschränken wir unsere Der Lehrer und die Atome was written by Peter Heering
wissenschaftliche Arbeit ausschließlich auf with the support of the European Commission (project
wahrnehmbare Tatsachen…“ 518094-LLP-1-2011-1-GR-COMENIUS-CMP) and The
Dalton stieg das Blut in seinen Kopf, und wäh- University of Flensburg, Germany. This publication re-
flects the views only of the author, and the Commission
rend er seinen Blick über die Gesichter im Pub- cannot be held responsible for any use which may be
likum schweifen ließ, wurde ihm klar, dass der made of the information contained therein.

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