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Frauen, Männer
oder was?
Genderforschung:
Wissenschaft wider das Schubladendenken
FORSCHUNG
ab Seite 22
Foto: Friedhelm Albrecht / Universität Tübingen
4 Genderforschung bringt
Selbstverständlichkeiten ins Wanken
Wie hat sich die Geschlechterforschung
in Deutschland entwickelt? Wie die Universität
Tübingen Gleichstellung
6 Neue Rollen fordern Frauen wie auch Männer heraus umsetzt
Männer kämpfen mit Stereotypen, an die sie selbst
glauben GLEICHSTELLUNG
ab Seite 28
8 Girls‘ Day & Co. Foto: Friedhelm Albrecht / Universität Tübingen
IM GESPRÄCH
ab Seite 32
Foto: Friedhelm Albrecht / Universität Tübingen
INHALTSVERZEICHNIS
Wissenschaft wider
das Schubladendenken
EDITORIAL
EDITORIAL |1
Der Auszug aus dem
Gender-Ghetto
VON INA SCHABERT
Foto: iStock.
Die Relativierung der Geschlechterdifferenz
Frauen möchten in der Regel ihre Literatur so verstanden
und gelesen haben, wie es für Männer selbstverständ-
lich ist, nämlich als eine Botschaft, die alle angeht. Die
Frauenforschung übersieht nicht länger, dass Autorinnen Das Gleiche, aber ganz anders
keinesfalls nur ‚Frauenthemen‘ behandeln, sondern sich Es mag scheinen, dass die Genderforschung schließlich
häufig mit den gleichen Anliegen wie ihre männlichen das erkannt hat, was ihre Skeptiker in Frankreich und
Kollegen befassen. Sie haben sich nicht nur in ‚weiblichen‘ anderswo immer schon wussten: Autorinnen schreiben
Gattungen wie dem Roman, der Autobiografie, der Liebes- nicht grundsätzlich anders als Autoren, und kooperative
lyrik, nicht nur in frommen Versen und pädagogischen Modelle sind dem krassen Geschlechterantagonismus
Schriften geäußert; auch in ‚männlichen‘ Bereichen haben vorzuziehen. Doch während innerhalb der maskulinen
sie deutliche Spuren hinterlassen: im Drama zum Beispiel, Literatur- und Forschungstradition ein solches Denken der
in der Satire und der Pamphletliteratur, in journalistischen Selbstbestätigung diente, hat die Kategorie Gender die
Texten und in der Geschichtsschreibung. Den rationalen Motivation dafür geliefert, weibliches literarisches Schaf-
Diskurs der Aufklärung wussten sie ebenso zu schätzen fen wahrzunehmen und auf seine potenzielle Andersheit
wie die für sie gender-typischen gefühlsbestimmten hin zu untersuchen. Wenn jetzt das Geschlecht zu einer
Werte der Empfindsamkeit und der mitmenschlichen Erklärungskategorie unter mehreren relativiert wird, führt
Sympathie. das zu neuartigen, komplex angelegten Biografien und
Monografien, die zeigen, dass sich Frauen in jeweils indivi-
Die von der Geschlechterforschung zuvor aufgerichtete
duellen, ebenso vielfältigen und kreativen Weisen aktiv in
Grenze zwischen weiblicher Privatsphäre und männlicher
das gesellschaftliche, intellektuelle und literarische Leben
Öffentlichkeit wird wieder durchlässig, wenn jetzt die
eingebracht haben wie männliche Schriftsteller. Der Lite-
gekonnte Professionalität von Autorinnen und ihr energi-
raturkanon ist reicher geworden, und Literaturgeschichte
sches schriftstellerisches Engagement für nationale Anlie-
lässt sich als Dialog männlicher und weiblicher Stimmen
gen, für parteipolitische, theologische und philosophische
spannender erzählen.
Streitfragen entdeckt und erläutert werden. Frauen, so er-
kennt man, sobald man die Gender-Brille wieder absetzt,
haben sich nicht nur als Frauen verstanden und geäußert,
Literatur zum Thema:
sondern als Vertreter ihrer Nation, als Anhänger der Tory-
Betty A. Schellenberg, „Writing Eighteenth-Century
Partei, als Gegner des Sklavenhandels, als Angehörige
Women‘s Literary History, 1986 to 2006“, Literature
des Landadels, als Kennerinnen von Shakespeare oder als
Compass 4/6 (2007) 1538-1560.
Nachfolgerinnen von John Milton. Untersuchungen von
Joan W. Scott, „Parité! Sexual Equality and the Crisis of
literarischen Netzwerken, in denen Autorinnen ebenso
French Universalism“, Chicago 2005.
wie Autoren engagiert waren, oder auch vergleichende
Arbeiten von ähnlich gesinnten schreibenden Männern
und Frauen gehören zum aktuellen paritätischen For-
schungsprogramm, an dem sich selbstverständlich auch
wieder Wissenschaftler beiderlei Geschlechts beteiligen.
TOPTHEMA 2|3
Genderforschung bringt
Selbstverständlichkeiten
ins Wanken
VO N K ATJ A H E R I C KS
4|5 TOPTHEMA
Ein Ergebnis der stärkeren disziplinären Fokussierung war
die Präzisierung des Blicks auf die wissenschaftlichen
Prämissen der Einteilung der Geschlechter, ihrer historischen
und epistemologischen Ursprünge statt einer pauschalisie-
renden Kritik an ‚androzentrischer‘ Wissenschaft. Diese
Forschung blickt(e) zum Beispiel aus einer historischen
Perspektive auf die Medizin, aus soziologischer auf die
Biologie, aus ethnologischer auf die techno sciences, aus
naturwissenschaftlicher Perspektive auf die alltagsweltliche
Annahme, dass Geschlecht natürlich sei. Die Ideen zur
TOPTHEMA 4|5
Foto: Friedhelm Albrecht / Universität Tübingen
Neue Rollen fordern Frauen
wie auch Männer heraus
Viele Väter würden gerne weniger arbeiten, glaubt Dr. Marc Gärtner, wären da nicht alte Rollenbilder
und die Erwartungen der Chefs. Wirtschaft und Gesellschaft denken zwar langsam um – aber die
Quote oder eine gesetzliche Familienarbeitszeit könnten hier Beschleuniger sein.
attempto!: Herr Gärtner, sind Sie eher Genderforscher Gesellschaft so zu gestalten, dass Menschen ihre Potenziale
oder eher Gleichstellungsexperte? besser erschließen und frei von Stereotypen und Diskrimi-
Marc Gärtner: Ich würde sagen beides. Ich habe Kultur- nierung leben können. Das kann für soziale Gruppen ge-
und Sozialwissenschaften studiert und mich während des nauso interessant sein wie für Politik oder Unternehmen.
Studiums mit Fragen der sozialen Ungleichheit ausein-
andergesetzt. Gender war ein Aspekt, neben Fragen der Sie haben die „Rolle der Männer“ in der Gleichstellung
unterschiedlichen Verteilung von Ressourcen und Macht und in verschiedenen Ländern erforscht – welches Fazit
in der Gesellschaft. Deshalb sind mir Gender und Diversity ziehen Sie?
wichtige Aspekte. In Sachen Gleichstellungspolitik ist Deutschland ambivalent.
Beim Gender-Pay-Gap, der Differenz zwischen männlichen
Und die Gleichstellung hat sich daraus ergeben? und weiblichen Einkommen zuungunsten der Frauen, liegt
Ich habe ein politisches Verständnis von Wissenschaft. Es es im europäischen Maßstab mit 22 Prozent im hinteren
geht darum, zu gesellschaftlichen Lösungen zu kommen, Feld (europäischer Durchschnitt: 16 Prozent). Die Ambi-
auch im normativen Sinne, und sich zu fragen, wie mehr valenz kommt aus sehr konservativen Strukturen, gerade
Gleichheit und Geschlechterdemokratie möglich sind – da in Westdeutschland, die auf den männlichen Alleinverdiener
ist Gleichstellungspolitik ein wichtiger Hebel. setzen. Das schlägt sich nieder in mangelnder Kinderbe-
treuung, in der Lohnlücke, in der schlechten Repräsentation
Was interessiert Sie am Thema Gender und von Frauen in Führungspositionen, in einer späten Gleich-
Gleichstellung besonders? stellungspolitik. Es hat sich in den letzten Jahren aber
Gender ist ein zentraler Ansatz im gesamten Diversity- auch einiges getan. Mit der Elternzeit für Väter wurde
Management. Es geht darum, die Vielfalt in unserer versucht, neue männliche Orientierungsmuster politisch
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umzusetzen. 2006 nahmen 3,5 Prozent der Väter Eltern- oft Dinge vermischt. Wenn man von fehlenden Identifi-
zeit, inzwischen sind es fast 30 Prozent. Das macht deut- kationsfiguren für Jungen in der Schule spricht, mag das
lich: Wenn man Gesetze entsprechend ändert, sind viele teilweise stimmen. Aber die traditionelle männliche Rolle,
Männer bereit, einen Beitrag zu leisten. Wir haben konser- die auf Außenorientierung angelegt ist, bricht sich eben
vative Strukturen, aber das Potenzial ist da, Männer noch auch mit der Disziplinaranstalt Schule, wo man ruhig sein
sehr viel stärker in Gleichstellungspolitik einzubeziehen. und viel lernen soll. Früher wurde dies mit dem Rohrstock
durchgesetzt, heute müssen die Schüler diese hohe Auf-
Müssen sich zuerst die Strukturen ändern oder beginnt nahmefähigkeit selbst herstellen. Und wer da rausfällt,
das in den Köpfen? gilt dann oft als „hyperaktiv“ oder „Störenfried“.
Die Strukturen müssen sich ändern. Gerade Erwerbsarbeit
und Nichterwerbsarbeit, also Arbeiten zuhause oder im Sie beraten ja Unternehmen zur Vereinbarkeit von
Ehrenamt, sind sehr ungleich zwischen Männern und Frauen Familie und Beruf. Haben Sie das Gefühl, man ist bereit
verteilt. Vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung umzudenken?
kam der Vorschlag für eine staatlich geförderte „Fami- Unterschiedlich: Traditionelle Männer fühlen sich möglicher-
lienarbeitszeit“, 32 Stunden für Männer wie für Frauen. weise bedroht, wenn sie die Unternehmenskultur ändern
Eine tolle Idee, die versucht, Mütter aus der „Teilzeitfalle“ sollen. Viele Führungskräfte erkennen aber: Schon um neue
zu befreien und Väter zu entlasten – die wollen nämlich Märkte zu erschließen oder gut qualifiziertes Personal zu
weniger arbeiten. halten, müssen wir uns verändern. Die gut ausgebildete
„Generation Y“ erwartet, dass sich Arbeit und das Familien-
Aber sie haben Schwierigkeiten, das durchzusetzen? bzw. Privatleben gut verbinden lassen. Die steht nicht um
Männlichkeit und Arbeit waren kulturell in den letzten jeden Preis für hochqualifizierte Jobs zur Verfügung, hier
Jahrhunderten stark miteinander verwoben. Seit der hat ein Kampf um die Köpfe begonnen, Männer wie Frauen.
Erwerbsarbeit der Moderne funktioniert Männlichkeit vor Idealerweise geht es zuerst darum, welche Qualifikationen
allem über Außenorientierung und darüber, dass Männer jemand mitbringt – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe
das Geld nach Hause bringen. Tun sie es nicht, kann das oder sexueller Orientierung. Im zweiten Schritt geht es
Dr. Marc Gärtner
einen Verlust von Männlichkeit bedeuten. Männer wollen aber um Fragen wie „Passförmigkeit“ und das erzeugt oft
ist Gender- und Diversity-
weniger arbeiten, aber die Leitbilder schreiben anderes Reibung mit der Unternehmenskultur. Aber die Wirtschaft Experte bei der
vor. Umgekehrt wird eine arbeitende Mutter als „Raben- entwickelt sich hier weiter und muss das auch, wenn sie „Europäischen Akademie
mutter“ bezeichnet, zu diesem Begriff gibt es in anderen im Zuge der Globalisierung mithalten möchte. für Frauen in Politik und
Sprachen gar kein Pendant. Wirtschaft Berlin e.V.“
(EAF). Er beschäftigt sich
Das spannt den Bogen zur Diversität oder geht es
seit 20 Jahren politisch
Das klingt nun doch, als ob sich zuerst unsere immer noch primär um die Frauen-Männer-Thematik? und wissenschaftlich mit
Rollenbilder ändern müssen? Die ist darin aufgehoben. Wenn wir das Potenzial gut Männern und Männlich-
Ich meine, viele Männer wollen bereits diese Veränderungen. ausgebildeter Frauen nutzen wollen, müssen Männer er- keit(en) im Kontext der
Aber vor allem die Wirtschaft muss sich umorientieren, kennen, dass sie nicht mehr den alten Stiefel „Wir Männer Geschlechterverhältnisse.
Als Trainer zum Thema
die Unternehmen verlassen sich noch darauf, dass männ- unter uns“ durchziehen können, sondern unterschiedliche Diversity und Gleich-
liche Arbeitskräfte stets verfügbar sind. soziale Gruppen besser integrieren müssen. Dass viele stellung beriet er unter
dies wollen, zeigen mir meine Erfahrungen, gerade mit anderem das Bundes-
Mit welchen Schwierigkeiten kämpfen Männer jüngeren Führungskräften. familienministerium,
die Europäische Kommis-
in ihrer Rolle noch?
sion, Hochschulen,
Ganz häufig mit Stereotypen, die sie selbst glauben. Sich Was würde Ihrer Ansicht nach ein Umdenken Gewerkschaften und
immer als stark und unverletzlich beweisen zu müssen, unterstützen – die Quote? Verwaltungen.
zum Beispiel, bricht sich stark mit den Unklarheiten und Ich finde die Quote gut, sie hat auch einen symbolischen
Krisen, die sie erleben. Männer können nicht mehr, wie in Effekt. Es ist wichtig, Strukturen weiter aufzubrechen, auch
den 70er Jahren, davon ausgehen, dass sie in der Industrie mit gesetzlichen Vorgaben – freiwillige Vereinbarungen
bzw. Erwerbsarbeit auf jeden Fall gebraucht werden, son- haben wenig gebracht. Ich sehe Männer nicht als Quoten-
dern sind mit struktureller Arbeitslosigkeit konfrontiert. opfer. Zwar ist richtig, dass sie das eine oder andere Privileg
lassen müssen. Aber sie profitieren von der Quote, denn
Müssen Männer ihre Rolle also neu definieren? in Führungsetagen sitzt vor allem der Typus Mann, der
Ja. Dazu kommen Herausforderungen wie die Frauenbewe- wenig bis keine aktive Familienverantwortung übernimmt.
gungen und der Feminismus, die tradierte Geschlechter- Gehe ich davon aus, dass sich Männer heute neu orientieren,
rollen hinterfragen. Das kann dazu führen, dass Männer hier dann ist ein guter Teil dieser Männer in den Führungsetagen
gekränkt reagieren oder sich sehr in Frage gestellt fühlen. bisher nicht repräsentiert.
Was sagen Sie zu der Befürchtung, die Jungen blieben Wo sehen Sie Deutschland in zehn Jahren,
in der Schule hinter den Mädchen zurück, hätten also was wünschen Sie sich?
inzwischen das Nachsehen? Trotz vieler Widerstände gibt es eine Kontinuität der
Heute sind Männer und Jungen in ihren Problemen zuneh- Gleichstellungspolitik, die darf ruhig noch gestärkt werden.
mend „sichtbar“, das sind zum Teil keine neuen Probleme, Ich wünsche mir mehr Männerstimmen, die für Gleichstel-
über Männergesundheit hätte man auch schon vor 100 lung eintreten – aus guten Gründen, die auch sie selbst
Jahren diskutieren können. Aber es musste erst ein betreffen. Es wäre wichtig, Initiativen zu „Männer und
Bewusstsein entstehen, Männer und Jungen als Gruppe Gleichstellung“ zu stärken, etwa das Bundesforum Männer. Das Interview führte
mit spezifischen Problemen zu sehen. Das ist auch ein Und man darf nie locker lassen! Antje Karbe.
Verdienst der Frauenbewegung, die Geschlecht in den
Vordergrund gerückt hat. Was die Schule betrifft, werden
TOPTHEMA 6|7
Girls’ Day & Co.
VON ANJA SCHMID-THOMAE
Um den Zugang von Mädchen zu Technik und Handwerk Gelegenheiten für eine Reproduktion von Geschlechter-
zu verbessern und deren Einstieg in technisch-handwerk- zuschreibungen und für eine Aufrechterhaltung der
lich Berufe zu fördern, werden junge Frauen aktuell mit Verknüpfung von Männlichkeit und Technik.
einer Vielfalt an gleichstellungspolitisch motivierten
Aus diesem Grund ist es wichtig, dass das projektdurch-
Berufsorientierungsprojekten konfrontiert. Diesem Boom
führende Personal über Genderkompetenz verfügt. Dieser
an MINT-Projekten steht auf der anderen Seite eine nur
Aspekt rückt jedoch auf Grund knapper finanzieller und
geringe Veränderung des Geschlechterproporz im tech-
personaler Ressourcen häufig in den Hintergrund: „also
nisch-handwerklichen Berufsbereich gegenüber, wodurch
die ham ja auch teilweise, kein, kein ausgebildetes Personal
die Frage nach der Wirksamkeit derartiger Berufsorientie-
für, für Geschlechter-, äh, - theorien […] irgendjemand
rungsmaßnahmen zunehmend in den Vordergrund rückt.
Dr. Anja Schmid-Thomae
muss das dann halt machen und ich weiß nicht, ob da,
promovierte am Lehrstuhl Kampagnen wie zum Beispiel der Girls’ Day oder soge- also, wie man das dann umsetzen könnte, dass das dann
Soziologie der Geschlech- nannte Technikparcours für Mädchen sind mittlerweile da geschlechtersensibel wird“, erklärte eine regionale
terverhältnisse an der der breiten Öffentlichkeit ein Begriff, und es gehört für Projektkoordinatorin eines Girls’ Days im Interview. Damit
Universität Tübingen und
Bildungsinstitutionen und Betriebe zum guten Ton, sich läuft man allerdings Gefahr, dass es letztendlich nicht
forscht zu Prozessen der
sozialen Konstruktion von
an derartigen Projekten zu beteiligen. Es ist zu vermuten, selten „sehr dem Zufall und dem Goodwill überlassen
Geschlecht, insbesondere dass dies zwar nicht unwesentlich dazu beiträgt, für die [ist], was dann da passiert“, so die Projektkoordinatorin
zur Ko-Konstruktion von Schräglage in der Geschlechterverteilung im technisch- eines Berufsparcours.
Geschlecht und Technik handwerklichen Bereich zu sensibilisieren. Inwieweit jjedoch
sowie zur interaktiven
Geschlechtergrenzen durch Berufsorientierungsmaßnahmen
Herstellung von Geschlecht.
Der Beitrag basiert auf für Mädchen im technisch-handwerklichen Bereich aufge-
ihrer Publikation „Berufs- weicht, überschreitbar(er) gemacht oder dagegen aktuali-
findung und Geschlecht. siert und damit reproduziert werden, ist eine empirisch zu
Mädchen in technisch- klärende Frage: Nimmt man die konkrete soziale Praxis
handwerklichen Projekten“
des Projektalltags in den Blick, so wird deutlich, dass eine
(Wiesbaden 2012).
gute Projektidee nicht zwingend eine entsprechende Praxis
erzeugt. Da die Herstellung von Geschlecht im Verhalten
verankert ist, bieten sich im Projektalltag zahlreiche
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Ob der eigenständige Geschlechtsreiz, der von ‚Frauen-
berufen’ auf Mädchen ausgeht, in solchen Projekten aus-
gesetzt werden kann oder nicht, hängt zudem davon ab,
inwieweit Berufsorientierung von Geschlecht entkoppelt
wird. Eine geschlechtskonforme Berufswahl kann als
Option verstanden werden, den stereotypen Vorstellungen
einer geschlechterkodierten Gesellschaft zu entsprechen
und sich mit dieser im System der Zweigeschlechtlichkeit
zu verorten. Technisch-handwerkliche Berufe bieten damit
für die an den Projekten teilnehmenden Mädchen die
Gelegenheit zur geschlechtlichen Inszenierung, indem sie Entscheidend ist ab
aber,
ber,
sich von diesen Berufen abgrenzen. dass die Projektteilnneh-
Projektteilneh-
menden unabhängi
unabhängig g
Damit Berufsfindung im Rahmen von Technikprojekten für
von Geschlecht eine en
einen
Mädchen nicht an erster Stelle ein Identifikationsangebot
Projektrahmen vorfi finden,
für Geschlecht ist, sondern durch andere Aspekte – zum
in dem ein Bezug zw wischen
zwischen
Beispiel individuelle Interessen oder schulische Qualifika-
individueller Berufs suche
Berufssuche
tion – geleitet wird, ist es wichtig, dass das Geschlecht im
und den in den Proj ekten
Projekten
Projektalltag insofern entdramatisiert wird, als die Teil-
verhandelten Beruf en
Berufen
nehmerinnen als Berufssuchende und nicht als Mädchen
hergestellt wird.
behandelt werden. Ist hingegen eine stereotyp gesetzte
Dies scheint banal – ist es
Grenze zwischen Mädchen und Technik Dreh- und Angel-
aber insofern nicht, als genau
punkt von Projekten, besteht die Gefahr, dass entsprechend
dieser Aspekt in zah hlreichen
zahlreichen
verallgemeinernd und zum Teil auch essentialisierend auf
Mädchenförderproj ekten
Mädchenförderprojekten
die Geschlechtszugehörigkeit der Teilnehmerinnen abge-
im technisch-handw werklichen
technisch-handwerklichen
hoben wird: Strategien der Gegensteuerung, die beispiels-
Bereich in den Hinteergrund
Hintergrund
weise an einer den Mädchen unterstellten Technikdistanz
tritt.
ansetzen, bleiben in Alltagsklischees (etwa von einer quasi
‚naturgegebenen’ männlichen Technikkompetenz) verhaf-
tet und tragen so letztendlich nicht zu einem Aufweichen,
sondern zu einer Reproduktion der Geschlechterdifferenz
bei.
So kann ein vermeintlich mädchengerechtes Heranführen
an Technik im Projektalltag zum Beispiel dazu führen, dass
die Nutzung der Autokupplung „mit G’fühl“ zum für die
Teilnehmerinnen relevanten Wissen erhoben wird, während
gleichzeitig stillschweigend vorausgesetzt wird, dass
Technikbeherrschung bzw. das Verfügen über technisch-
handwerkliches Fachwissen eine Sache männlicher Technik-
experten sei.
Projekte, die davon ausgehen, dass die Grenze zu männer-
dominierten, technisch-handwerklichen Berufen an erster
Stelle als Grenze zwischen Frauen und Technik / Handwerk
zu verstehen ist, können also den nicht beabsichtigten
Effekt haben, diese Grenze im Projekt zu ziehen und
Geschlechterstereotype damit zu verfestigen. Gerade den
Projekten, die an der Geschlechtszugehörigkeit ansetzen,
ist daher entgegenzuhalten, dass die Herstellung einer
Vereinbarkeit von Beruf und Geschlecht zwar durchaus ein
wichtiges Element zur Erweiterung des Berufswahlspekt-
Fotos: Friedhelm Albrecht /
rums von Mädchen ist. Universität Tübingen
TOPTHEMA 8|9
Von den Stellschrauben
in den Köpfen
Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Fächern, aus der Medizin und der Lateinischen Philologie,
haben aber als Wissenschaftlerinnen eine Gemeinsamkeit: Ingeborg Krägeloh-Mann
und Anja Wolkenhauer haben beide ihre Karriere bis zur Professur fortgesetzt.
attempto!: Hat es in Ihrer wissenschaftlichen Geht es nur, wenn der Partner zurücksteht?
Karriere eine Rolle gespielt, Frau zu sein? Wolkenhauer: Ja, mein Mann hat stark zurückgesteckt
Krägeloh-Mann: Man muss sich positiv mit dem Klischee und eine sehr gute Stelle in Hamburg aufgegeben. Er ist
auseinandersetzen. Mich hat am Anfang der Karriere geär- derjenige, der den Preis für die Familie zahlt. Die Dual-
gert, dass jeder angenommen hat, eine Frau in der Medizin Career-Förderung ist eng angelegt, sie passt nur bei zwei
müsse in die Kinderheilkunde gehen. Wegen eines faszi- akademischen Karrieren. Was mich außerdem getragen
nierenden Lehrers bin ich dann tatsächlich dort gelandet. hat, war die mit sechs Jahren lange Befristung der Assis-
Professorin Dr. Wolkenhauer: Frau zu sein, war erst ein Problem, als ich tenzstelle und ein Netzwerk von Eltern, Verwandten und
Ingeborg Krägeloh-Mann
Kinder hatte. Es gab Kollegen, die sehr offensiv gesagt Freunden bei der Kinderbetreuung.
ist seit 1997 an der
Tübinger Universitäts- haben, kümmere dich erst einmal darum. Andererseits Krägeloh-Mann: Es gibt Zeiten, in denen man sich ab-
klinik für Kinder- und waren die Kinder Stimulans. Ich glaube, ohne sie hätte ich spricht, wer zum Zuge kommt. Ich habe teilweise nur halb
Jugendmedizin und leitet meine Habilitation immer noch nicht. Häufig werden die gearbeitet, als mein Mann seine Habilitation vorbereitete.
als Ärztliche Direktorin Kinder aber auch positiv wahrgenommen: ‚Sie haben zwei Beruflich halte ich es für zentraler, ob man sich als Frau
die Abteilung Kinderheil-
Kinder, dann schaffen Sie das auch noch.‘ mit einer vollen Karriere identifiziert. Dann gibt es fast
kunde III mit den Schwer-
punkten Neuropädiatrie,
Entwicklungsneurologie
und Sozialpädiatrie.
An einen „Dual-Career-
Service“ war bei ihrer
Berufung noch nicht zu
denken. Ihr Mann hat eine
Professur für Psychiatrie
am ZI in Mannheim inne.
Sie pendeln.
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Was findet sich in unseren Denk-Schubladen?
Welche Rollenmodelle prägen uns?
TOPTHEMA 10 | 11
12 | 13 TOPTHEMA
in den Gremien herangezogen, all das strapaziert die Was würden Sie Ihren jungen Studentinnen auf den Weg
knappe Zeit und macht es unnötig schwer. geben für eine Karriere in der Wissenschaft?
Krägeloh-Mann: Man braucht mehr Teilzeitmodelle. Es Krägeloh-Mann: Wer Interesse und Begabung hat, sollte
muss in den Köpfen der Chefs ankommen, dass zwei halbe an sich selbst glauben. Das ist eine wichtige Botschaft,
Stellen sich sehr gut ergänzen können. Die Verwaltung ist das kann nicht nur von außen kommen. Sicherlich braucht
überhaupt nicht das Problem, sie macht alle Modelle mit. man aber auch Vorbilder.
Wolkenhauer: Wenn ein Kind da ist, müssen Eltern den Wolkenhauer: Im Kern würde ich das genauso sagen.
Rollenvertrag neu verhandeln. Zu der Zeit sind die Frauen Wenn es jemand wirklich will und kann, dann werde ich
oft nicht im besten Zustand, haben vielleicht drei Wochen es mit aller Kraft unterstützen. Aber, und das ist wichtig:
lang nicht durchgeschlafen, dann sind Verhandlungen Mach‘ einen Plan B und einen Plan C, und vielleicht sogar
schwierig. Es kann aber auch positiv laufen, und da noch weitere Pläne. Damit du nicht, wenn das Projekt
bewundere ich die Männer. Ich glaube, dass mein Mann Uni scheitern sollte, und das klärt sich bei Geisteswissen-
die höhere Emanzipationsleistung bringen muss. Denn schaftlerinnen mit Anfang oder Mitte Vierzig, ins Boden-
mir wird immer schon angerechnet, dass ich ja zwei lose fällst.
Kinder habe, er hingegen muss begründen, weshalb er Krägeloh-Mann: Es gibt in der medizinischen Therapie
bestimmte Elternpflichten wahrnimmt. Jungen Frauen die Vorstellung, dass Therapieziele schrittweise definiert
wird es immer noch leichter gemacht, in das klassische werden. Jemand mit einer spastischen Lähmung sollte
Rollenbild der Hausfrau und Mutter hineinzugehen, dieser sich nicht das Ziel setzen, sofort laufen zu wollen. So kann
Weg ist gebahnt. Welcher Weg der richtige war, zeigt sich man auch die Karriere sehen. Natürlich muss man eine
erst nach zehn oder 20 Jahren. Jeder bezahlt einen Preis Vision haben, aber sich erst mal konkret für den nächsten
– es ist immer etwas da, das als Lebensmöglichkeit nicht Schritt engagieren.
realisiert wird. Wolkenhauer: Manches ist auch schon wieder schwieriger
geworden. Als ich studiert habe, stand mir alles offen.
Was haben Sie international für Erfahrungen gemacht? Vielleicht war das auch mein Weg. Meine Studentinnen
Krägeloh-Mann: Ich war in Dänemark und Frankreich. haben viel geschlossenere Ziele, den weiten Horizont
Da gibt es ganz starke Unterschiede zu Deutschland. Ich nutzen sie nicht. Ich erlebe sie als sehr sicherheitsfixiert.
habe für eine Studie mit ehemaligen Frühgeborenen in Anders als meine eigene Generation, in der allerdings
Dänemark Kinder nachuntersucht. Und wo habe ich die auch viele heute noch keine feste Stelle haben.
gefunden? In den Betreuungseinrichtungen, ohne die Krägeloh-Mann: Das war für mich auch wichtig, die Vision,
Eltern. Das erinnert mich an die Entwicklung in Deutsch- dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, die man wahr-
land, an die frühere Familienministerin Lehr unter Kanzler nehmen kann, hat Freiheitsgrade aufgezeigt. Auch ohne
Kohl, die sich für mehr Kindergarten- und Krippenplätze dass eine Möglichkeit genau vorprogrammiert war, findet
auch für ganz kleine Kinder engagiert hat. Die ist schier man einen Job und eine Perspektive. Dieses Vertrauen
auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Erst Ministerin findet man heute weniger. Das spiegelt wahrscheinlich
von der Leyen hat das zwei Jahrzehnte später durchge- den höheren Erwartungsdruck und die Stellensituation an
kriegt. den Unis.
Wolkenhauer: In der Lateinischen Philologie ist ein wich-
tiges Bezugsland Italien. Die meisten meiner italienischen
Kolleginnen haben keine Kinder, und zwar gegen ihren
Das Gespräch
Willen. Es gibt keine institutionelle Kinderbetreuung, und
führten Antje Karbe
die Bezahlung ist geringer, sie können das also auch nicht
und Janna Eberhardt.
selbst schultern. Universitäre Führungspositionen sind
rein männlich besetzt.
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Neue Perspektiven: Sigma
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Und immer wieder
gender …?!
V O N E LV I R A M A R T I N
Montags, früher Nachmittag im Leibniz-Kolleg Tübingen: gewohnter Bahnen, sich mit persönlicher Erfahrung und
fünf erwartungsvolle Gesichter und meine 27. Studien- persönlichem Bezug.
gemeinschaft Gender Studies in diesem Haus. Auch dieses
Studienjahr ist der Kurs wieder einer derjenigen, der – Das Private ist politisch
anders als vielleicht die Kurse Politik, Germanistik, Biochemie Mit dem kurzen und griffigen Slogan „Das Private ist poli-
oder Physik – aus einer kleinen Gruppen Studierender be- tisch“ gelang es der zweiten Frauenbewegung in Deutsch-
steht. Dafür steht er aber unter besonderer Beobachtung land das – vermeintlich – Private in den öffentlichen Blick
des gesamten Jahrgangs. Was macht ihr da? „Emanzen“- zu nehmen und laut und vernehmlich politisch durchzu-
Kurs? Brauchen wir das noch? Trotz oder wegen dieses setzende Veränderungen zu fordern.
öffentlichen Interesses am Kursgeschehen steht am Ende Der in diesem Slogan für die meist kaum zwanzig Jahre
Elvira Martin des Studienjahres für die Teilnehmenden nicht selten das alten Kursmitglieder identifizierbare Blick auf die „Norma-
studierte Germanistik,
Resümee, an einem der intensivsten und erkenntnisreichs- lität“ des Privaten setzt dann in der Regel spannende
Biologie und Erziehungs-
wissenschaft in Tübingen.
ten Kurse teilgenommen zu haben. Was geht da vor sich? Erkenntnisprozesse in Gang. Die Aktualität des Themas ist
Sie unterrichtet Gender damit zunächst einmal eine persönliche Aktualität.
Die Zahl der Teilnehmenden ist selten zweistellig. Überwie-
Studies am Leibniz Kolleg
Tübingen und ist im gend Studentinnen, aber mit zunehmender Beharrlichkeit Wir unterfüttern den Diskurs im weiteren Verlauf des Semi-
Hauptberuf tätig in der auch immer einige männliche Kommilitonen treffen sich nars mit Einblicken in die Entstehungsgeschichten der uns
kommunalpolitischen einmal wöchentlich. Da punktet natürlich auch die Qualität so normal erscheinenden Geschlechterverhältnisse und
Interessenvertretung der Arbeit in kleinen Gruppen, das Erleben und Mitgestalten die jeweiligen Begründungszusammenhänge. Wir folgen
behinderter Menschen
intensiven gemeinschaftlichen Lernens. Aber noch etwas den Spuren, Verdecktes sichtbar zu machen und nehmen
(FORUM & Fachstelle
INKLUSION im SOZIAL- anderes spielt in Gender Studies eine Rolle: Selten verbin- die Möglichkeit in Anspruch, zu anderen Bewertungen zu
FORUM TÜBINGEN e.V.) det eine Thematik ein Denken mit weitem geistigen kommen und manches neu zu denken. Das Nachvollziehen
Horizont, bisweilen auch gegen den Strich und außerhalb der Konstruktion lenkt den Blick direkt auf die Frage der
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Dekonstruktion und auf mögliche Strategien zur Herstel-
lung von Geschlechtergerechtigkeit und zum Abbau von
Diskriminierung.
Spätestens an dieser Stelle rückt bisweilen mit voller
Wucht die Frage in den Mittelpunkt: Wie weit reicht denn Disability Studies – Behinderung ist kein Defizit
nun eigentlich unsere soziale Praxis von Geschlecht? Bleibt Der Blick über den Tellerrand von Gender Studies erschließt
da nicht doch irgendwo ein Bodensatz von Natur und Einblicke in die soziale Praxis anderer gesellschaftlicher
natürlicher Bestimmung? Die Erkenntnis der Konstruktion Konstruktionen, die im traditionellen Verständnis sich
treibt die Neugier an. Das, was undenkbar war, öffnet sich im persönlichen körperlichen, geistigen oder seelischen
im Diskurs: Was wäre, wenn es gar keine in der Natur zu Schicksal einer Person abspielen.
identifizierende Eindeutigkeit von Geschlecht gäbe, kein So stellen Disability Studies radikal in Frage, dass „Behin-
Grundmuster, an das sich soziale Praxis unausweichlich derung“ ein körperliches, geistiges oder seelisches Defizit
binden könnte? einer Person sei. Sie fragen folgerichtig nach den gesell-
Die Wucht der Frage verpufft und gewährt Raum für neue schaftlichen Regulationsmechanismen und Machtverhält-
Fragen. nissen, die es erlauben, dass gesellschaftliches Denken und
Handeln, Strukturen und Organisationsformen Barrieren
errichten, an denen Menschen als dadurch „Behinderte“
Können wir mit der alten Sprache Neues denken? an Teilhabe gehindert werden.
Das kritische Potenzial von Gender Studies gegenüber wis-
senschaftlichem Erkenntnisgewinn und dessen Reflexion Die gemeinsame Basis von Disability Studies und Gender
ist ein aufregender Streckenabschnitt im Kursgeschehen. Studies ist identifizierbar als de/konstruktivistische
Mit welcher Sprache können wir überhaupt über diese Forschungs-, Ent-Deckungs- und Denkperspektive.
Dinge sprechen, die es neu zu denken gilt: „Die Grenzen Aus der politischen Praxis kommend spielt in den Disability
meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“. Da Studies der Begriff der Inklusion eine aktivierende Rolle. Er
ist hilfreich, wenn Ludwig Wittgensteins berühmter Satz verweist auf die Vielfalt von Identitäten und Kompetenzen
im Kurs Wissenschaftstheorie am Leibniz Kolleg parallel und repräsentiert das Ziel, mittels theoretischer und
verhandelt wird. Ganz interdisziplinär fragen wir uns, politischer Interventionen die kulturellen Deutungsmuster
mit welcher Sprache wir über Konstruktion und Dekons- einer Gesellschaft zu entwickeln unter Partizipation der
truktion von Geschlecht sprechen können, wenn wir den Betroffenen: „Nichts über uns ohne uns“. Damit geht er
Gegenstand nicht mehr als dual, polar und hierarchisch möglichweise über dekonstruierende Prozesse hinaus,
im Sinne einer eindeutigen Männlichkeit und Weiblichkeit die zunächst auf die Destabilisierung von Konstrukten
verhandeln wollen? abzielen.
Jetzt wird das Thema zum Spagat oder auch zu einer Art Spannend bleibt, ob und wie es mit einer inklusiven
Quadratur des Kreises. Die Dekonstruktion von Geschlecht Haltung und mit inklusivem Handeln gelingen kann, den
legt die Auflösung dieser Kategorien und ihre Bedeutung komplexen Verflechtungen von Geschlecht, Behinderung
in der sozialen Praxis nahe. und anderen gesellschaftlichen Konstrukten (Intersek-
Gleichzeitig findet aber in der sozialen Praxis unter Bezug tionalität) Rechnung zu tragen durch die Erkennung und
auf die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ Ungleichbe- Anerkennung von Vielfalt als komplexes und interdepen-
handlung und Diskriminierung statt – und dies durchaus dentes Geschehen.
in erheblichem Ausmaß. Der Blick für die politische Aktuali- Wieder zurück ins Leibniz Kolleg: Wir sind gedanklich in
tät des Themas schärft sich aus der Dramatik sozialer Praxis, großen Höhen und Weiten, aber dennoch bleibt darin nah
seien es Zugänge zu Erwerbsarbeit und gleichem Lohn, und spürbar die Verantwortung für das eigene Handeln in
Karriereverläufe, aber auch die praktizierten Geschlechter- diesen komplexen Verhältnissen in Wissenschaft, Politik
verhältnisse in Prostitution und Pornografie. und im eigenen Leben. Da schließt sich der Kreis wieder
Auf all dieses gilt es zu reagieren. an der Stelle der persönlichen Aktualität.
Als politische Strategie ist der Ansatz der Dekonstruktion So verlasse ich dann montags nach dem Kurs regelmäßig
insofern nur begrenzt tauglich, weil noch langwieriger das kleine Kämmerchen unter dem Dach mit dem pompösen
als jede politische Intervention. Schon die Strategie des Namen „Studiengemeinschaftsraum“, in dem um einen
Gender Mainstreamings arbeitet mehr mit der Vorstellung unförmigen von den Jahren gezeichneten Holztisch alters-
eines – notwendigen – Bewusstseinswandels und einer schwache Holzstühle zum aufrechten Sitzen (und Denken?)
Sensibilisierung als mit effektiven und direkten politi- zwingen, zwänge mich durch die Privatheit dichtgedrängt
schen Maßnahmen wie Quotenregelungen, Nachteilsaus- stehender übervoll behängter Wäscheständer zur Treppe
gleichen, Diskriminierungsverboten und ähnlichem. und gehe die knarrenden Stiegen hinunter – nicht daran
Zwischenbilanz: Wir sind also mittendrin. Ob jeder gegen- zweifelnd, auch zum 28. Mal diesen Kurs in diesem Haus
derte Text als gelungen durchgeht, – aktuell: Grundgesetz, wieder anbieten zu wollen.
Straßenverkehrsordnung – mag dahin gestellt sein.
Gesprächs- und Denkstoff bieten sie allemal. Wichtiger
mag aber dabei die Anstrengung sein, über eine präzise
Sprache und mit starkem Ausdruck Vorgänge zu benennen
und aus dem Dunkel der Normalität ans Licht zu holen.
TOPTHEMA 16 | 17
Männerdomänen –
Frauendomänen
„
Welche Rolle spielt die Geschlechterverteilung während des Studiums? attempto! hat Frauen
befragt, die in Männerdomänen arbeiten und Männer, die in ihrem Fach zur Minderheit gehören.
INFORMATIK:
Die Informatik war eine Männerdomäne
Britta Dorn, 34 Jahre, hat in Mathematik
promoviert. Als Postdoktorandin war sie in der
Theoretischen Informatik in Tübingen und als
Dozentin für Mathematik an der Universität Ulm
tätig. Seit einem Jahr ist sie Juniordozentin bei
SPANISCH, ITALIENISCH,
GESCHICHTE:
Die kleinen Prinzen
der Romanistik
Als männlicher Student
„
gehört Johannes Eisel in
Spanisch und Italienisch zu
den Informatikern der Universität Tübingen.
einer Minderheit, in seinem
Sie unterrichtet in einer Männerdomäne, aber
ersten Hauptfach Geschichte
diese verändert sich langsam.
aber zur Mehrheit. Der
Ich habe Mathematik mit Nebenfach Informatik 26-jährige Lehramtsstudent
studiert, da gab es wenige Frauen. Es kam mir nicht als schildert die Vorteile des Studiums in einer weiblichen
Männerdomäne vor, weil die Frauen aus dem Lehramts- Domäne – bis hin zum Staatsexamen.
studium mit uns in der Vorlesung saßen. Aber ich wurde
Bei der Wahl des Studienfachs war mir nicht klar, dass
in meinem ganzen Studium in Tübingen von keiner
dieses Geschlechterverhältnis besteht. Für meine Ent-
Professorin unterrichtet – es gab keine. Meine Doktorar-
scheidung waren persönliche Gründe ausschlaggebend,
beit wurde dann von einer Professorin mitbetreut. Eine
besonders das Interesse an Spanien.
erfolgreiche Wissenschaftlerin aus Slowenien mit zwei
Kindern, die für mich ein großes Vorbild wurde. Ich habe es nie als problematisch wahrgenommen, unter
Frauen zu studieren, eher im Gegenteil. Die Vorteile als
Es gab öfters Situationen, in denen klar wurde, dass Frauen
Hahn im Korb äußern sich aber eher subtil: Im Gespräch
in der Mathematik oder Informatik bisher eher die Aus-
oder im Seminar hat man oft das Gefühl, dass das, was
nahme sind. Auf Konferenzen wurde ich mehrmals von
ein Mann sagt, mehr Gewicht hat. Dabei würde ich nicht
anderen Teilnehmern gefragt, ob ich Kaffee bringen könne.
sagen, dass die Frauen sich kleiner machen, aber man
Sie gingen automatisch davon aus, dass ich zu den Be-
fällt eben mehr auf, wird stärker wahrgenommen. Wenn
dienungen gehöre. Als ich in Ulm meine erste Vorlesung
ich mit Kommilitoninnen spreche, merke ich, dass sie die
hielt, saß in der ersten Reihe ein älterer Student, und viele
Situation ähnlich wahrnehmen. Eine Mit-Studentin be-
haben darauf gewartet, dass er die Vorlesung hält und
zeichnete uns mal als „die kleinen Prinzen der Romanistik“.
waren überrascht, als ich dann aufstand.
Das Lernen ist im Vergleich zu meinem anderen Hauptfach,
Am Anfang meines Informatikstudiums wurde, eben weil
der Geschichte, die männlich geprägt ist, schon anders. In
es so wenig Studentinnen gab, eine Frauenübungsgruppe
einer Lerngruppe mit Frauen ist die Arbeit assoziativer als
eingerichtet, die von einer Frau unterrichtet wurde. Ich
ich es aus der Geschichte kenne, wo sich die Männergruppen
fand das im Nachhinein schlecht, weil die anderen dachten,
viel mehr auf einen Punkt fixieren. In der Frauengruppe
wir bräuchten mehr Unterstützung oder Gesprächszeit
bin ich dann oft derjenige, der darauf dringt, dass man
oder wollten unter uns sein. Die Dozenten waren aber
wieder zum Punkt kommt. Das ist ein Geben und Nehmen:
immer sehr neutral und machten keinen Unterschied
Frauen diskutieren die Themen breiter, und Männer wollen
zwischen männlichen und weiblichen Studenten.
schnell fertig werden. In Spanisch war ich in dem Semester
Es hat sich in den letzten Jahren viel verändert. Anstren- der einzige männliche Examenskandidat und habe genau
gungen wurden unternommen, um Frauen für ein Informa- davon profitiert.
tik- oder Mathematikstudium zu begeistern – mit Erfolg.
Es ist eine schwierige Frage, wie man dieses Geschlechter-
Außerdem hat ein Generationenwechsel stattgefunden,
verhältnis ändern könnte. Eine Männerquote? Da wird
es gibt viele junge Dozenten und inzwischen auch Dozen-
man früher ansetzen müssen. Ich denke, es liegt eher
tinnen. Heute sagen mir Erstsemesterstudentinnen der
daran, dass wir schon in der Schule erzählt bekommen,
Informatik, dass sie beruhigt waren, als sie mich sahen,
Männer seien eher die Naturwissenschaftler und Frauen
weil sie dann wussten, dass eine Frau das auch kann.
eher die sprachlichen Typen. Da müsste die Wahrnehmung
grundsätzlich geändert werden.
18 | 19 TOPTHEMA
PHARMAZIE:
„
Nur Frauen fände ich
auch nicht gut
PHYSIK:
„
Die Physik ist weder
männlich noch weiblich
Simon Peter Henkes ist 28 Jahre alt und stammt aus Nicole Reindl ist 28 Jahre
Saarbrücken. Er studiert im 8. Semester Pharmazie alt und promoviert gerade
an der Universität Tübingen. In dem Fach liegt das in der Astrophysik. Ihren
Verhältnis von Frauen zu Männern bei etwa 70 zu 30. Bachelor hat sie in Siegen
gemacht, für den Master
Dass ich im Pharmaziestudium hauptsächlich Kommiliton- kam sie nach Tübingen.
innen haben würde, war mir vor Studienbeginn nicht be- Sie beschäftigt sich mit
wusst. Es spielt auch keine Rolle, ich war das gewöhnt. Ich der Spektralanalyse von
war auf einem ehemaligen Mädchengymnasium, da waren Sternen, um deren Entwicklung zu erforschen.
die Jungen immer in der Unterzahl. Nach dem Abitur habe Für sie spielt Geschlecht als Kategorie keine Rolle.
ich ein Freiwilliges Soziales Jahr als Rettungssanitäter
gemacht und bin dabei vom geplanten Medizinstudium Ich habe in Siegen mein Studium der Physik begonnen,
abgekommen. Ein Heilberuf sollte es aber sein. In der Aus- und damals war ich die einzige Frau. Zum Master ging
bildung zum Pharmazeutisch-Technischen Assistenten, für ich dann nach Tübingen, denn in Siegen gab es keine
die ich mich entschieden habe, waren die Frauen noch viel Astrophysik. Hier sind vielleicht 20 Prozent der Studenten
stärker in der Mehrheit als jetzt im Studium, wir waren weiblich. In Siegen hatte ich auch weibliche Übungsleiter,
vier Männer unter 30 Frauen. Das Berufsumfeld in der in Tübingen waren meine Dozenten alle männlich. Aber
Apotheke hat mir gut gefallen, aber bereits nach einem ich habe nie schlechte Erfahrungen gemacht. Meine
halben Jahr hatte ich Lust auf neue Herausforderungen. Professoren haben immer schnell eine gute Meinung
von mir gehabt und mir zum Beispiel eine Bachelorarbeit
Jetzt im Pharmaziestudium, wenn wir bei den Laborprak- angeboten. Die Physik ist weder männlich noch weiblich.
tika in Gruppen zusammenarbeiten, sind wir als Männer Und die Lehre fand ich immer gut. Mir haben schon in der
und Frauen vollkommen gleichberechtigt. Es ist nicht so, Schule Mathe und Physik gut gefallen, und ich könnte mir
dass immer das eine Geschlecht den Ton angibt. In der ein Leben ohne diese Schwerpunkte nicht vorstellen. Ich
Gruppe kommt es für mich auf die Zusammensetzung habe mich auch nie unwohl gefühlt, weil ich teilweise die
an. Prinzipiell arbeite ich gern mit Frauen zusammen. Ich einzige Studentin in meinem Semester war, aber ich habe
selbst gerate schnell in Stress. Frauen können das besser auch vor allem männliche Freunde. Über Mode, Make-up
abpuffern, sie arbeiten oft strukturierter und fleißiger. oder Liebesbekanntschaften zu reden, das ist nicht meins.
Ich bin verheiratet und nicht auf Partnersuche, vielleicht So ein Studiengang wie die Astrophysik zieht auch eine
macht das die Zusammenarbeit unkomplizierter. Doch nur bestimmte Art von Menschen an.
Frauen fände ich auch wieder nicht gut.
Ein paar Machos gibt es immer und überall, aber die sind
In meiner bisherigen Laufbahn habe ich mich nie diskrimi- wirklich die Ausnahme. Denen habe ich teilweise Nachhilfe
niert gefühlt. Sicher gibt es schon einmal schnippische gegeben, und ich wusste dann, dass ich deren Sprüche
Kommentare über Frauen- und Männerklischees. Aber ich nicht ernst nehmen muss.
kann da viel ab und teile auch aus. Es ist keine Geschlech-
terfrage, mit wem sich ernsthaft zusammenarbeiten lässt. Mir hat ein Professor in Siegen gesagt, wenn ich bei ihm
Dass man als Apotheker später Beruf und Familienleben die Doktorarbeit schreiben würde, würde er für mich mehr
vielleicht ganz gut miteinander vereinbaren kann, war bei Geld bekommen als für einen Mann. Aber ich weiß nicht,
mir keine Motivation für das Pharmaziestudium. Jetzt, ob das hier so ist. Niemand würde jemanden einstellen,
mit Ende 20, kommt es mir aber gelegen, zumal meine von dem er fachlich nicht überzeugt ist. Meiner Erfahrung
Frau, die Betriebswirtschaftslehre studiert hat, beruflich nach wird man als Frau weder diskriminiert noch bevor-
Karriere macht. zugt. Ich habe mich auch schon für eine Summerschool
beworben und wurde nicht genommen, es liegt also nicht
am Geschlecht.
TOPTHEMA 18 | 19
Raus aus der Uni, rein in die Kulturbahn.
Mit bis zu 5 Leuten für 23 Euro*
1 Tag lang mobil.
Ingrid Hornberger-Hiller
RECHTSANWÄLTIN
Tätigkeitsschwerpunkte:
Vertragsrecht
Familienrecht
Markenrecht
Stöcklestr. 20,
72070 Tübingen,
www.hornberger-hiller.de,
Telefon 07071/44515,
Telefax 07071/410 808
span(n)end
d um
r un
www. .net
sucht. Während sich ein Herzinfarkt Männern in der Phase direkt nach
bei Männern häufig über stechende dem Infarkt eine erhöhte Sterberate
Schmerzen in der Brust oder im linken auf, sie sind unterversorgt. Christine
Arm bemerkbar macht, verspüren Meyer-Zürn will durch die Studie zur
Frauen eher Übelkeit oder Bauch- Risikostratifizierung Hochrisikopati-
schmerzen. Diese weiblichen Symp- entinnen nach Myokardinfarkt erken-
tome sind sehr unspezifisch und nen, die von einer engmaschigen kar-
Foto: Universitätsklinik Tübingen
22 | 23 FORSCHUNG
60 Jahre Geschichtliche
Landeskunde in Tübingen
Schon immer interdisziplinär und über Epochengrenzen hinweg
FORSCHUNG 22 | 23
Forschung
gendert sich
nicht von
selbst!
Neues Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung vernetzt Wissenschaftler aus allen Fachbereichen
Mütter auf der Karriereleiter, Väter in Es gibt sie also, die Tübinger Gender- Tübingen begleiten. „Wie wirksam
Elternzeit und ein drittes Geschlecht: forschung – aber meist blieben die ist beispielsweise die Anwerbung
Dass Bilder von „typischen“ Männern Disziplinen unter sich, sagen die von internationalen Studierenden
und Frauen heute hinterfragt werden, Wissenschaftlerinnen. „Es kann Jahre oder wie binden wir Studierende mit
ist auch Verdienst der „Genderfor- dauern, bis du einen neuen Kollegen Migrationshintergrund ein?“
schung“. Sind also nach 40 Jahren aus einem anderen Fach triffst“, sagt
Der Genderbegriff soll deshalb nicht
alle wissenschaftlichen Fragen dazu Hotz-Davies. Das Zentrum will Tübinger
verdrängt werden, wie Hotz-Davies
geklärt? „Ganz und gar nicht“, finden Genderforscher und -forscherinnen
betont. „Eine Aufgabe wird sein, das
die Professorinnen Regina Ammicht- zusammenbringen und vernetzen,
UND im Titel des Zentrums auszutes-
Quinn und Ingrid Hotz-Davies. das war eines der Anliegen der
ten.“ Denn als Forschungsthema gelte
Gemeinsam haben sie die Leitung des Gründer(innen). In Workshops sind
Gender doch immer noch als „Nische“
neuen Zentrums für Gender- und Di- die Mitglieder dabei, gemeinsame
und müsse weiter eingefordert werden.
versitätsforschung an der Universität Themen zu etablieren. Idealerweise
„Forschung gendert sich nicht von
Tübingen übernommen – und blicken, ergäben sich so Kooperationsprojekte,
selber“, sagt die Literaturwissen-
gutgelaunt, auf einen Berg Arbeit. langfristig eventuell ein eigener Dritt-
schaftlerin. „Mein Verdacht: Sobald
mittelantrag. Im Sommer präsentiert
wir uns nicht mehr engagieren, ver-
sich das Zentrum in der Öffentlichkeit,
Was machen solche Kategorien schwindet diese Forschungsarbeit.“
mit einer Studium Generale-Reihe zu
mit unserem Denken und unserem
der Frage, warum wir Kategorien wie Deshalb gilt es, auch in kommenden
Leben?
Ethnie, Sexualität oder Geschlecht im- Generationen, das Interesse für Gender-
mer wieder als „natürlich“ empfinden. und Gleichstellungsthemen wach zu
halten. Viele gingen davon aus, dass
Die Universität Tübingen arbeitet seit Das Hinterfragen von Zuweisungen
hier alles geklärt sei. „Dabei ist der
Jahren daran, Gleichstellung in allen und Kategorien ist also gemeinsames
Druck zur Geschlechternorm allgegen-
Bereichen umzusetzen. Und auch die Forschungsinteresse. Das beziehe
wärtig“, sagt Hotz-Davies. „Man kann
Forschung thematisiert Gender in ver- sich nicht nur auf die duale Einteilung
keine Illustrierte aufschlagen, ohne
schiedensten Fachbereichen. So unter- in „Frau“ und „Mann“, wie Ammicht-
daran erinnert zu werden, wie Frauen
sucht Anglistin Ingrid Hotz-Davies eng- Quinn sagt, sondern ließe sich beliebig
und Männer zu sein haben.“ Dazu
lische Literatur meist auch mit Blick auf fortführen: weiß-schwarz, behindert-
komme eine veränderte Wahrneh-
Gender-Fragen. Regina Ammicht-Quinn nichtbehindert, arm-reich. „Eine Frage
mung: „Wer diskriminiert wird, so
beschäftigt sich am Internationalen ist: Was machen solche Kategorien
eine verbreitete Meinung, ist selber
Zentrum für Ethik in den Wissenschaf- mit unserem Denken und unserem
schuld“, erzählt Ammicht-Quinn. Ihr
ten unter anderem mit Diskursen Leben?“, so die Ethikerin. „Wo sind
Wunsch für die Zukunft: „Dass Gender
zu Gender oder Sexualität und mit die Grenzen durchlässig, wie kann
und Diversität für Studierende irgend-
feministischer Ethik. man neu damit arbeiten, damit unser
wann selbstverständlicher Bestandteil
Ein Forschungskolleg thematisierte Denken nicht erstarrt?“ Im Gegensatz
ihres wissenschaftlichen Arbeitens
„Gendergrenzen“, Soziologen beschäf- zur Genderforschung müsse sich die
sind.“ KA
tigen sich mit Geschlechterunterschie- Diversitätsforschung hier erst einen
den im Bildungsverhalten und die Theoriefundus erarbeiten. Letztlich
medizinische Versorgungsforschung gehe es auch um Fragen der Gerechtig- Kontakt:
nimmt Geschlechterfragen in den keit. Konkret könnte Forschung hierzu info@zgd.uni-tuebingen.de
Blick. Diversitäts-Projekte der Universität
24 | 25 FORSCHUNG
Hilfe durch den Uni-Dschungel
Arbeite
ArbeiterKind.de unterstützt und berät Studierende, die als Erste in ihrer Familie
Weg an die Universität wagen
den We
Was bringt
bring mir ein Studium? Kann ich hat eine Ahnung, wie man Stipendien dagegen zunächst Kosten, die sich
es mir üb
überhaupt leisten? Und was ist bekommt und weiß, was ein Bachelor erst viel später rechnen. Tauber be-
ein Prose
Proseminar? Das können große oder ein Hauptseminar ist. Die Koordi- richtet von einer Studentin, die wegen
Fragen sesein, stammt man nicht aus natoren der Tübinger Gruppe von genau dieses Problems Konflikte mit
einer Aka
Akademikerfamilie. Stella Tauber ArbeiterKind.de wollen den Studieren- ihren Eltern bekam. „Fehlt die Unter-
und Tobia
Tobias Scheu wollen denen, die den, die diesen familiären Hintergrund stützung der Eltern, wird es schwierig.“
als Erste aus
a ihrer Familie ein Studium nicht haben, „durch den Dschungel
ArbeiterKind.de wurde 2008 von
beginnen
beginnen, ihre eigenen Erfahrungen helfen“: Dafür sind Netzwerke wichtig,
Katja Urbatsch und vier Kollegen in
weitergeb
weitergeben. Deshalb engagieren sie die sie nach und nach aufbauen. Wie
Gießen gegründet. Die Initiative hat
sich in de
der Initiative ArbeiterKind.de. zum Beispiel der Student Hub am
bereits etwa 5000 Ehrenamtliche und
„Wir möch
möchten anderen Arbeiterkindern Weltethos Institut der Universität
Ableger in allen großen Universitäts-
das Leben einfacher machen“, sagt Tübingen: Studentische Initiativen
städten. Allerdings ist das Netzwerk
Scheu. sehr unterschiedlicher Ausprägung
im Norden und Westen Deutschlands
arbeiten hier zusammen. Die Gruppe
Beide stammen aus Arbeiterfamilien dichter als im Süden. Die Initiative
ist dabei in ständigem Austausch mit
und können die Schwierigkeiten nach- finanziert sich durch Spenden und aus
den anderen Arbeiterkind-Regional-
vollziehen, die Studierenden aus die- Landes- und Bundesmitteln. 2010
gruppen Süddeutschlands.
sem Milieu begegnen. Häufig geht es gründete sich die Gruppe für Tübingen
darum, wie sich ein Hochschulstudium ArbeiterKind besucht auch Gymnasien, und Reutlingen. Ihr Kern besteht aus
finanzieren lässt. Eltern haben oft Realschulen und Werkrealschulen. zehn Ehrenamtlichen, darunter Studie-
nicht die Mittel, um die Kinder zu unter- Dort kann besonders Stella Tauber von rende, Doktoranden und Absolventen.
stützen. Der Bafög-Antrag sei „eine eigenen Erfahrungen berichten: Sie Sie sind stolz darauf, dass sie bei den
Wissenschaft für sich“, sagt Tauber. hat die Hauptschule besucht, danach Prorektoren und in der Studienbera-
Die Erfahrung des Unterschiedlich-Seins die Mittlere Reife gemacht und eine tung längst bekannt sind. Neben ihren
kann in vielen Situationen auftreten. Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin Auftritten in Schulen, bei Studientagen
Wer wie Stella Tauber das Abitur auf begonnen. Neben ihrer Arbeit erwarb und auf Messen treffen Sie sich jeden
dem zweiten Bildungsweg macht oder sie im Abendgymnasium das Abitur. ersten Dienstag im Monat im Bierkeller
vor dem Studium arbeitet, ist einige unter der Mensa Wilhelmstraße. Dort
Tobias Scheu dagegen hat ganz normal
Jahre älter als die Kommilitonen und sind alle willkommen, die Hilfe brau-
das Abitur gemacht und dann, im
ein Exot. Oder kommt nicht mehr in chen oder sich engagieren wollen. JS
Gegensatz zu vielen anderen Arbeiter-
den Genuss von Vergünstigungen bei
kindern, ein Studium begonnen. Nach
der Krankenversicherung: Manche www.arbeiterkind.de
dem Bachelor in Soziologie und Verwal-
Arbeiterkinder haben bei Unklarheiten Kontakt zur Gruppe Tübingen/Reutlingen:
tungswissenschaften in Konstanz
Angst, nachzufragen, um sich nicht www.arbeiterkind.opennetworx.org/toro/resource/
g Human-
studiert er nun in Tübingen
bloßzustellen. Bisweilen bremst auch html#!entity.8671
geographie. Sein Studium hält für ihn
falscher Respekt vor dem Professoren-
finanzielle Herausforderungen
titel. Oder man kommt sich komisch
bereit: Er muss an teuren Engagiert bei
vor, wenn die Kollegen von Vätern er-
Exkursionen teilnehmen und ArbeiterKind Tübingen:
zählen, die Akademiker sind, während Tobias Scheu (l.) und
Praktika absolvieren – meist
der eigene eben „nur“ Bäckermeister Stella Tauber.
schlecht oder gar nicht bezahlt.
ist.
„Wenn man nicht gerade
Ziel von ArbeiterKind.de ist es, zum Medizin oder Jura studiert,
Thema Finanzierung, aber auch bei den ist es schwierig, den
vielen anderen Fragen Hilfestellung Eltern zu erklären,
zu geben. Die Initiative unterstützt was man genau
aber auch bei der Studienauswahl, macht“, sagt er.
vermittelt Beratung und bietet ein Sind die finan-
Mentoring an. „Wir wollen Hilfe zur ziellen Möglich-
Selbsthilfe bieten“, sagt Scheu. keiten begrenzt,
Immer wieder betonen die beiden die wird häufig er-
unterschiedlichen Ausgangsbedingun- wartet,dass die
gen, die Kinder durch ihre Eltern und Kinder nach der
deren Bekanntenkreis bekommen. Wer Schule Geld ver-
selbst studiert hat, kennt die Abläufe dienen. Ein Stu-
bei Bewerbung und Einschreibung, dium verursacht
en
Slavischen Seminar entwickelt und
seit kurzem federführe
federführend koordiniert:
„TransStar“. Es hat auc
auch einen sehr
Übersetzungswerkstatt
praxisbezogenen Ansat
Ansatz und verbindet
der tschechisch-deutschen
Gruppe, geleitet von
Übersetze mit inter-
literarisches Übersetzen
Kristina Kallert aus Kulturman
nationalem Kulturmanagement. Es
Regensburg wird vom Programm für f lebenslanges
Europäisch Union geför-
Lernen der Europäischen
dert und ist auf drei Ja
Jahre angelegt.
Die Grundüberlegung zu diesem Projekt
war „wie können wir d das literarische
Übersetzen mit kleine
kleinen Sprachen ver-
knüpfen und diese SprSprachen auf der
europäischen Landkart
Landkarte sichtbarer
Foto: privat machen“, erläutert ClaClaudia Dathe,
wissenschaftliche Mitarbeiterin im
Slavischen Seminar und Übersetzerin,
Seit einem Jahr gibt es in Tübingen gangs, dabei werden auch Workshops die für die Koordination zuständig ist.
einen neuen Masterstudiengang: die von renommierten literarischen Über- „Für diese kleinen Sprachen gibt es
Deutsch-Polnischen transkulturellen setzern und Übersetzerinnen aus dem nämlich keinen Studiengang und dies
Studien. Das Besondere daran ist, dass Polnischen angeboten. Workshops hätte auch nicht genügend Bedarf auf
nicht nur Tübingen, sondern auch die zum kreativen Schreiben, zum Text- dem Arbeitsmarkt. Wir haben mit
Universität in Warschau, seit vielen lektorat und zur Literaturkritik ergän- „TransStar“ eine Zwischenlösung
Jahren Partneruniversität von Tübin- zen das wissenschaftliche Programm. gefunden.“
gen, daran beteiligt ist. Das Studium Die Studierenden werden somit auf
findet abwechselnd in Tübingen und eine Tätigkeit im deutsch-polnischen
Warschau statt, aber nicht nur dort, Kulturbereich vorbereitet, haben aber Literarische Kostproben unter:
denn zum Studium gehört auch in auch die Möglichkeit, eine wissen- www.transstar-europa.com
starkem Maße der Praxisbezug. Alle schaftliche Karriere einzuschlagen.
Studierenden müssen ein Praktikum
Von der deutschen und der polnischen
in einer Kulturinstitution absolvieren. Sechs Länder sind daran beteiligt:
Seite können jeweils maximal acht
„Wir versuchen, unseren Studierenden Studierende an dem Studiengang teil- Deutschland, Polen, Tschechien, Kroa-
den Weg in die Praxis zu ebnen, ihnen nehmen. Da sie gleichzeitig entweder tien, Slowenien und die Ukraine. Auch
die Möglichkeit zu geben, in eine in Tübingen oder Warschau studieren, das Literaturbüro in Freiburg, das
Kulturinstitution reinzuschnuppern werden auch weiterreichende Kontakte Goetheinstitut in Kiew oder die Villa
und Kontakte zu knüpfen“, sagt geknüpft und transkulturelle Kompe- Decius in Krakau, weil die Studierenden
Schamma Schahadat, Professorin für tenzen erworben. selbst Veranstaltungen mit Autoren
Slavistik. Der Studiengang entwickelte und zu Entwicklungen der Literaturen
In der Kombination von Internationali- in den jeweiligen Ländern planen und
sich aus dem Projekt „Textabdrücke“,
tät mit anwendungsorientierter Lehre durchführen und so als zukünftige
dessen Fokus auf dem literarischen
ist der deutsch-polnische Doppelmaster Kulturvermittler Erfahrungen sammeln.
Übersetzen lag, aber der neue binatio-
bislang einzigartig in der deutschen Demnächst treffen sich in Krakau
nale Doppelmaster ist noch breiter
Universitätslandschaft. Er wird vom über 50 der Beteiligten aus den ver-
angelegt. „Ich kam darauf, dass ich
Deutschen Akademischen Austausch- schiedenen Ländern. Sie erhalten dort
viele Studenten – bei uns vor allem
dienst (DAAD) und von der Deutsch- von erfahrenen Kulturvermittlern
Studentinnen – hatte, die mir nach
Polnischen Wissenschaftsstiftung eine Einführung in das europäische
ihrem Examen sagten, ich werde jetzt
gefördert. Kulturmanagement und präsentieren
Übersetzerin,“ erklärt Schahadat.
Das Übersetzen in Theorie und Praxis dem polnischen Publikum erste
Ein weiteres europäisches Projekt, das
ist Teil des viersemestrigen Studien- Arbeitsergebnisse. ECZ
ostmittel- und südosteuropäische
Sprachen, ihre Literaturen und Kulturen
in den Mittelpunkt rückt, wurde vom
Eine Kreuzfahrt kann man mit einem in den Häfen organisieren. Diese wer- Im Jahr 2012 fusionierte sie mit dem Andere Menschen und
Drink am Pool verbringen, man kann den in einem Seminar vorbereitet, die Tübinger Institut für Friedenspäda- Kulturen kennenler-
nen und so Konflikten
sich auf ihr aber auch mit Vergangen- Dozenten kommen aus dem Institut gogik, mit dem sie vorher schon eng
vorbeugen ist das Ziel
heitsbewältigung und Konfliktforschung für Politikwissenschaft und, wie Anne kooperiert hatte. Die Stiftung unter- des Peace Boats.
beschäftigen. Letzteres geht besonders Romund, von der Berghof Foundation. stützt die Tour auch finanziell, ebenso
eindrücklich auf dem „Peace Boat“. Das wichtigste Thema ist jeweils die wie der Unibund und der DAAD.
Drei Mal im Jahr fährt dieses Schiff um deutsche Vergangenheitsbewältigung, Trotzdem bleiben für jeden Teilneh-
die Welt, alle zwei Jahre sind Tübinger da die mehrheitlich japanischen Fahr- mer Kosten von rund 700 Euro. Diese
Studierende auf Etappen dabei. gäste einen so offenen Umgang mit werden mit kreativen Aktionen wei-
Im August 2013 stiegen wieder 20 der eigenen Geschichte aus ihrer Heimat ter reduziert: Die Teilnehmer buken
Tübinger auf das Peace Boat und reis- nicht kennen. Zusätzlich werden zu in der Vorbereitungszeit Waffeln,
ten von der Türkei über Griechenland den angefahrenen Häfen Schwerpunkt- organisierten Partys oder stellten
und Malta bis nach Rom. themen erarbeitet. In diesem Jahr ging gegen eine Spende ihre Arbeitskraft
Die Nichtregierungsorganisation es um die Flüchtlingsproblematik im zur Verfügung – sie mähten Rasen
Peace Boat entstand in Japan. In den Mittelmeer an den Außengrenzen der oder räumten nach Partys auf.
1980er Jahren fragten sich japanische Europäischen Union. Die Studierenden Für die Studierenden sei es wertvoll,
Studenten, wie ihr Land bei seinen nehmen im Vorfeld Kontakt mit einmal die Universität mit ihren
Nachbarn wahrgenommen wird. Um potentiellen Gesprächspartnern auf, Modellen und Theorien zu verlassen
das herauszufinden, charterten sie häufig Nichtregierungsorganisationen. und das wahre Leben zu sehen, sagt
ein Schiff und fuhren nach Korea und Vor Ort schildern diese ihre Arbeit Maike Hans. „Man sieht, wie sich
China. Die Idee wuchs und entwickelte oder organisieren Gespräche, etwa Theorien in der Realität anwenden
sich zu einer „Kreuzfahrt mit friedens- mit Flüchtlingen. Diese berichten von lassen und wo sie an ihre Grenzen
politischem Anspruch“, wie es Anne ihren Lebensbedingungen zu Hause, stoßen“, so die Politikstudentin. Die
Romund von der „Berghof Foundation“ von ihrer Flucht und ihrer Situation in Tour habe sie neu motiviert und ihr
in Tübingen beschreibt. Die meisten dem fremden Land. „Man kann viele den Sinn ihres Studiums vor Augen
Passagiere heute stammen noch Berichte und Statistiken lesen, aber geführt. Im Rückblick sagt Hans:
immer aus Japan und buchen primär wenn man mit Menschen spricht, hat
„Man lernt unglaublich viel über sich
eine Kreuzfahrt. Sie bekommen aber das eine andere Dimension“, beschreibt
selbst und über andere. Das wird
ein umfangreiches und vielfältiges Romund ihre Erfahrungen.
mich auf Dauer beschäftigen und
Bildungs- und Dialogprogramm zur Die Berghof Foundation wurde von auch meine Berufswahl beeinflussen.“
Friedens- und Konfliktforschung mit dem Tübinger Physiker Georg Zundel
dazu. JS
gegründet. Sie hat ihren Sitz in Berlin
Im Jahr 2005 hatten das Tübinger und beschäftigt sich mit
Institut für Friedenspädagogik, das edens- und Konflikt-
Friedens-
heute Teil der Berghof Foundation rschung.
forschung.
Fotos: Benedikt Keinath (2),
ist, und das Institut für Politikwissen- Stacey Hughes (3)
Wissenschaft versteht sich als merito- Sie erhielten – trotz gleicher Leistung – Doch obwohl die Hochschulen von
kratisches System, das heißt als ein nicht dieselben positiven Rückmeldun- tatsächlicher Chancengleichheit für
System, das auf dem Prinzip der gen und materiellen Unterstützungen Männer und Frauen noch deutlich
Bestenauslese basiert. Somit sind wie männliche Kollegen. Diese Prozesse entfernt sind, gibt es immer wieder
Benachteiligungen, beispielsweise betrafen Frauen mit und ohne Versuche, dieses Ziel in Frage zu
aufgrund des Geschlechts, katego- Kinder(wunsch) gleichermaßen, was stellen.
risch ausgeschlossen – sie würden deutlich macht, dass sich das Thema
Ein spannendes Thema für die Gender-
dem Prinzip der Bestenauslese wider- „Gleichstellung“ keinesfalls auf das
forschung wäre vor diesem Hinter-
sprechen. „Vereinbarkeitsthema“ reduzieren
grund beispielsweise, warum das
Susanne Weitbrecht Die Diskrepanz zwischen diesem lässt. Ein zweites Beispiel dafür, wie
Ansinnen, Frauen und Männer in der
hat Erziehungswissen- Selbstverständnis der Wissenschaft Benachteiligung im System Wissen-
schaft, Soziologie und
deutschen Sprache gleichermaßen
und der Praxis von Förderung und schaft eingeschrieben ist, lieferte eine
Empirische Kultur- „sichtbar“ zu machen, oft heftigste
Rekrutierung des wissenschaftlichen in der Zeitschrift „nature“ (1997)
wissenschaft an der und sehr emotionale Abwehrreaktio-
Universität Tübingen
Personals ist Ursache und Ansatzpunkt veröffentlichte Studie. Sie beschrieb
nen auslöst. Interessant wäre auch,
studiert. Seit 1996 ist der Gleichstellungspolitik an Hoch- den sogenannten „Gender gap“ bei
warum in wissenschaftlichen Diszipli-
sie Gleichstellungsrefe- schulen. Historisch betrachtet ist die Peer Review-Verfahren: Identische
rentin an der Universi-
nen, die inzwischen einen Studentin-
Anerkennung der Menschen-, Bürger- Forschungsanträge wurden positiver
tät Tübingen. Ihre Auf- nenanteil von deutlich über 50 Prozent
und damit auch Bildungsrechte für beurteilt, wenn die Gutachterinnen
gaben: Unterstützung haben, darüber diskutiert wird, wie
der Universitätsgleich- Frauen noch jung. Die Institution Uni- und Gutachter davon ausgingen, sie
der Gefahr der „Verweiblichung“ des
stellungsbeauftragten versität ist deutlich älter. Ihr Selbst- seien von Männern gestellt worden.2
Faches entgegengewirkt werden
und der Universitätslei- verständnis der Bestenauslese galt
tung bei der Umsetzung Vor diesem Hintergrund überrascht kann – gleichzeitig aber die sich zäh
somit ursprünglich exklusiv für Männer:
des gesetzlichen es nicht, dass eine zentrale Erkenntnis haltende „Vermännlichung“ zahlreicher
gut 400 Jahre lang galt an Universi-
Gleichstellungsauf- aus inzwischen 20 Jahren Gleich- Disziplinen (und Hierarchieebenen)
trags, konzeptionelle täten die 100-Prozent-Männerquote.
stellungspraxis an Hochschulen ist, nicht als Gefahr für die Wissenschaft
Entwicklung von Gleich- Dieser Sachverhalt ist bis heute tief
dass Gleichstellungsdefizite immer wahrgenommen wird.
stellungsmaßnahmen, in der Institution, ihren Strukturen,
Umsetzung von Gleich- auf Struktur- und Modernisierungs-
Kommunikationsformen und ihrem Um zurück zum Ausgangspunkt zu
stellungsmaßnahmen, defizite der Institution und ihrer
Selbstverständnis verwurzelt. kommen: Wissenschaft sieht sich
Monitoring, Beratung. Funktionsweise zurückzuführen sind.
selbst als dem meritokratischen Prin-
Die Genderforschung hat in den letzten Hinzu kommen die Vorurteile in den
zip verpflichtet. Bestenauslese und
20 Jahren in zahlreichen Studien unter Köpfen von Männern und Frauen, die
exzellente Wissenschaft kann nur un-
anderem aufgezeigt, wie offene und sich bewusst oder unbewusst auf
ter der Voraussetzung tatsächlicher
subtile Formen der Benachteiligung von Wahrnehmung und Entscheidungen
1 Allmendinger, Jutta et al: Chancengleichheit funktionieren. Mit
Eine Liga für sich? Berufliche Frauen in der Institution Hochschule auswirken. Gleichstellungsmaßnah-
Werdegänge von Wissen-
Gleichstellung in einer „Lightversion“
funktionieren. So beschrieb zum Bei- men sind somit Maßnahmen, die zu
schaftlerinnen in der Max- darf sich die Wissenschaft und dürfen
Planck-Gesellschaft. spiel die Soziologin Jutta Allmendinger Strukturverbesserungen führen und
In: Neusel, Aylâ/Wetterer, sich die Hochschulen folgerichtig
Angelika (Hg.): Vielfältige in einer Studie über Nachwuchswissen- die Hochschule der Umsetzung ihres
nicht abfinden. Es liegt noch viel
Verschiedenheiten. schaftlerinnen an Max-Planck-Institu- meritokratischen Selbstverständnisses
Geschlechterverhältnisse in Arbeit vor uns: attempto!“
Studium, Hochschule und ten, wie Frauen durch unterschiedlich- näher bringen. Die Umsetzung des
Beruf, Frankfurt a. M. 1999
2 Christine Wennerås & Agnes ste Formen direkter und indirekter Be- Menschenrechts auf gleichberech-
Wold, Nepotism and sexism nachteiligung in sogenannte „Cooling tigte Teilhabe an Bildung ist eine Susanne Weitbrecht,
in peer-review, Nature 387,
341-343 (22 May 1997) out-Prozesse“ gerieten, das heißt sich Voraussetzung für die Weiterent- Gleichstellungsreferentin an der
innerlich schrittweise von der Karriere wicklung der Wissenschaft, für die Universität Tübingen
in der Wissenschaft verabschiedeten.1 Optimierung ihrer Leistungs- und
Innovationsfähigkeit.
28 | 29 GLEICHSTELLUNG
GLEICHSTELLUNG 28 | 29
Mammutbäume
auf den Härten
Bei Kusterdingen findet man heute noch das Erbe der Tübinger Forstwissenschaften.
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Wie Missverständnisse
verstanden werden können
Kulturelle Diversität ist bereichernd – doch manchmal auch
verwirrend. In der „interkulturellen Sprechstunde“ gibt es Rat.
UNIKULTUR 30 | 31
Ein diskussionsreicher Haufen
auf der Suche nach Utopie
Ingrid Hotz-Davies ist seit vielen Jahren Professorin für Gender
Studies und Englische Literaturwissenschaft in Tübingen.
Grund genug für attempto! einmal nachzufragen, womit sie sich
eigentlich beschäftigt.
attempto!: Wie kamen Sie dazu, sich klar wird, dass die ganze Kultur nichts kontinuierlich gegen eine Naturalisie-
mit Gender zu beschäftigen? besseres zu tun zu haben scheint, als rung des Geschlechts anargumentie-
Hotz-Davies: Ich bin auf ein Mädchen- kontinuierlich das Geschlecht herzu- ren muss. Wenn man das nicht immer
gymnasium gegangen und mit einer stellen. Sobald ich das Haus verlasse, macht, dann hat sich das gleich
alleinerziehenden Mutter aufgewach- merke ich doch, dass ich als Frau wieder so eingeschnackelt, dass alle
sen. Die Erkenntnis, dass Frauen wahrgenommen werde. Menschen glauben zu wissen, was
grundsätzlich etwas nicht können, was Männer sind und was Frauen. Die An-
andere können, die hatte ich damals Wo genau liegt Ihr Erkenntnis- nahme der Heterosexualität und der
nicht. Dass wir an das Geschlecht interesse und wie gehen Sie vor? Zweigeschlechtlichkeit ist so mächtig,
glauben, das war damals keine Ich suche etwas Utopisches, da ist die dass man kaum daran rütteln kann.
selbstverständliche Überzeugung. Literatur sehr gut, weil dort die Autoren
Ich wollte dann später wissen, wie relativ frei verschiedene Geschlechter- Wie wurde Gender Ihr Forschungs-
das Geschlecht hergestellt wird und rollen ausprobieren können. Ich will gebiet?
warum andere daran glauben. Ich also die Texte finden, in denen das Das hat mit Gerechtigkeit zu tun. Alle
habe erst an der Uni gemerkt, dass Überraschende passiert. Zum Beispiel Literaturgeschichten kennen fast nur
ich einen anderen Ort im Universum besprachen wir vor kurzem den männliche Autoren. Ich habe mich in
zu bewohnen schien als der Rest der bekannten Roman von Jeannette die Autorinnen verliebt und die Frage,
Menschheit. Die anderen waren alle Winterson „Written on the body“. Da wie sie es überhaupt geschafft haben,
der Meinung, dass es so etwas wie ist die Erzählinstanz sehr verliebt in zu schreiben. Die Erkenntnis, welcher
männliche und weibliche Eigenschaften eine Frau, aber sie sagt es nicht und ungeheure Bergaufkampf das war, die
gäbe. Also zum Beispiel diese Über- man weiß nicht, ist sie weiblich oder Frage, welche Thematiken ihnen offen
zeugungen, einige sind gut in Mathe männlich? Man denkt natürlich die standen und welche nicht, wie sie
andere nicht. Und die, die gut in Autorin ist weiblich, also müssen auch sich an Restriktionen vorbeischreiben
Mathe sind, sind gut, weil sie ein ihre Figuren weiblich sein, dies ist konnten oder auch nicht. Da ist die
spezifisches Geschlecht haben. aber eine außerliterarische Verführung. englische Literatur ein Gottesgeschenk,
Im Seminar probierten wir dann unsere weil es sehr viele Autorinnen gibt und
Hat diese überwiegend von Frauen Geschlechterstereotypen aus, um man immer wieder neue und auch
beeinflusste Sozialisation sich auf dieses Problem zu lösen. Irgendwann Überraschendes entdecken kann.
Ihr Forschungsinteresse ausgewirkt? sagten dann einige Studierende, es
Mich interessieren in der Forschung wäre ihnen jetzt egal, ob die Erzählin- Fragen Sie sich also, wie die Kate-
und der Lehre auch – vielleicht hat das stanz männlich oder weiblich ist, das gorie des Geschlechtes sich in den
mit meiner Sozialisation zu tun – die ist ja schon ein Schritt. verschiedenen historischen Kontex-
Darstellung von eingeschlechtlichen ten zeigt?
Räumen. Also Seefahrerromane oder Kann es sein, dass wir einmal in Ja, ob man als Frau oder als Mann
weibliche Gemeinschaften, wo die einer Zukunft aus diesen Zuschrei- etwas tun kann, was nicht vorgesehen
Geschlechterdifferenz herausgenom- bungen herauskommen und die ist. Das interessiert mich nicht nur bei
men ist. Vielleicht, weil es keine gibt Geschlechterstereotypen auflösen? den Frauen, sondern auch für Männer.
oder weil man sich schwer tut, sie zu Kann es sein, dass sich die Gender- Gender Studies ist die Richtung, die
konstruieren. Mich interessiert, ob wissenschaft einmal selbst auflöst? versucht, mit theoretischen Mitteln
das Geschlecht auch anders als binär Ich glaube nicht, dass wir in nächster das Geschlecht selber zum Gegen-
zu denken ist. Andererseits weiß ich, Zeit so weit kommen werden, dass stand der Untersuchung zu machen.
dass das Geschlecht ein großer gesell- das Geschlecht seine Fähigkeit ver- Also auch die Prozesse, durch die
schaftlicher Glaube ist, man kann nicht lieren wird, kulturelle und soziale Ge- Geschlechterdifferenz hergestellt
zum Zahnarzt gehen und eine Illust- gebenheiten zu schaffen. Gender ist wird, sind Gegenstand der Unter-
rierte aufschlagen, ohne dass einem eine so mächtige Kategorie, dass man suchung.
32 | 33 IM GESPRÄCH
Foto: Friedhelm Albrecht / Universität Tübingen
Ingrid Hotz-Davies (rechts), Professorin
für Englische Literaturen und Gender Stu-
dies im Gespräch mit Eva Christina Zeller.
IM GESPRÄCH 32 | 33
Stabwechsel beim Universitätsbund:
Der bisherige Vorsitzende, Staatssekretär a.D.
Hubert Wicker (Mitte) übergab an
Friedrich Herzog von Württemberg (links).
Rechts der Rektor der Universität Tübingen,
Professor Dr. Bernd Engler.
34 | 35 UNIBUND
Neu im Unibund
UNIBUND 34 | 35
IMPRESSUM
attempto! ist eine Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
Studenten-
Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V. (Universitätsbund).
Sie wird vom Rektor der Universität herausgegeben und erscheint zweimal jährlich. futter für
ISSN: 1436-6096
attempto! im Internet:
www.uni-tuebingen.de/aktuelles/veroeffentlichungen/attempto.html
den Kopf.
Redaktion: Antje Karbe (KA, verantwortlich), Eva Christina Zeller (ECZ), Fachliteratur fürs
Janna Eberhardt (JE) und Jörg Schäfer (JS), Sören Stange 5VWFKWOƂPFGP5KG
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Adresse: Eberhard Karls Universität Tübingen, Hochschulkommunikation,
Wilhelmstr. 5, 72074 Tübingen Fachbücher und E-Medien
Telefon 07071/ 29-76789 zu allen Themengebieten
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Redaktionsbeirat: Prof. Dr. Heinz-Dieter Assmann (Vorsitzender),
Prof. Dr. Jürg Häusermann, Frido Hohberger, Prof. Dr. Herbert Klaeren,
Prof. Dr. Joachim Knape, Dietmar Koch, Sigi Lehmann, Prof. Dr. Udo Weimar 0QEJPÀJGTBestellen Sie
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36 | 37 IMPRESSUM
Max-Planck-Institut
für biologische Kybernetik
Die Hochfeld-Magnetresonanz-Abteilung beschäftigt sich mit der methodischen Entwicklung und Optimierung
bildgebender Verfahren. Neben der klassischen Bildgebung zur Darstellung anatomischer Strukturen gilt der
3CHWERPUNKTÏ AUCHÏ DERÏ FUNKTIONELLENÏ -AGNETRESONANZTOMOGRAlÏEÏ F-24 Ï DIEÏ DIEÏ !KTIVITÇTÏ IMÏ 'EHIRNÏ SICHTBARÏ
MACHENÏ KANNÏ (IERF¿RÏ STEHENÏ DENÏ 7ISSENSCHAFTLERNÏ NEBENÏ DEMÏ
4ESLA
-24
3YSTEMÏ AUCHÏ ZWEIÏ 5LTRAHOCHFELD
-AGNETRESONANZTOMOGRAlÏESYSTEMEÏMITÏÏUNDÏÏ4ESLAÏZURÏ6ERF¿GUNGÏ
Die Abteilung Physiologie kognitiver ProzesseÏ ERFORSCHTÏ DIEÏ NEURONALENÏ 'RUNDLAGENÏ DIEÏ DERÏ BEWUSSTEN
7AHRNEHMUNGÏ ZUGRUNDEÏ LIEGENÏ $IEÏ 7ISSENSCHAFTLERÏ UNTERSUCHENÏ ANÏ WELCHENÏ 3TELLENÏ IMÏ 'EHIRNÏ SENSORISCHE
7AHRNEHMUNGENÏKODIERTÏWERDENÏWIEÏSIEÏSICHÏINÏNEURONALERÏ!KTIVITÇTÏWIDERSPIEGELNÏUNDÏWIEÏSICHÏDIESERÏ6ORGANGÏDURCHÏ
,ERNENÏ VERÇNDERNÏ KANNÏ 5NTERSUCHTÏ WERDENÏ DIESEÏ &RAGESTELLUNGENÏ MITTELSÏ %XPERIMENTENÏ DIEÏ 0SYCHOPHYSIKÏ %LEKTRO
PHYSIOLOGIEÏUNDÏ-AGNETRESONANZTOMOGRAlÏEÏKOMBINIERENÏ
Thema der Abteilung Wahrnehmung, Kognition und HandlungÏ SINDÏ DIEÏ ELEMENTARENÏ 0ROZESSEÏ DERÏ MENSCHLICHEN
7AHRNEHMUNGÏ 7IEÏ WERDENÏ /BJEKTEÏ IMÏ 'EHIRNÏ ABGESPEICHERTÏ SOÏ DASSÏ WIRÏ SIEÏ WIEDERERKENNENÏ 7IEÏ WERDENÏ
DIEÏ )NFORMATIONENÏ VERSCHIEDENERÏ 3INNESORGANEÏ INTEGRIERTÏ UMÏ SICHÏ INÏ NEUENÏ 5MGEBUNGENÏ ZURECHTÏ ZUÏ lÏNDENÏ ODER
KOMPLEXEÏ !UFGABENÏ WIEÏ &LUGZEUGSTEUERUNGÏ ZUÏ LSENÏ (IERZUÏ WERDENÏ -ETHODENÏ AUSÏ DERÏ KLASSISCHENÏ 0SYCHOPHYSIKÏ
MITÏMODERNSTERÏ#OMPUTERGRAlÏKÏUNDÏ6IRTUELLERÏ2EALITÇTÏKOMBINIERTÏ
Das Klinikum Christophsbad bietet attraktive Möglichkeiten des Erwerbs von Facharztkompetenzen
in unterschiedlichen Bereichen vollständig oder teilweise an:
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Ê Bereitschaftsdienste werden mit Stufe C abgegolten
Ê Möglichkeit zur Forschung und Promotion
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