Dass einmal die Gelegenheit kommen würde Bibliothekar einer
Bibliothek zu werden, damit hätte ich noch rechnen können. Dass ich allerdings Bibliothekar einer der gewaltigsten Machwerke der Menschheitsgeschichte sein werde, in meinen kühnsten träumen hätte ich dies nicht zu hoffen gewagt. Nun da ich gefangener tausender Worte bin, die sich rings um meinen Körper tummeln, eingebettet in ihre schläfrigen Betten, in ihrer wartenden Position, als Gelegenheit, für den schmachtenden Wissensdurstigen, der sich ihrer Bedienen wird. Als Gefangener drehe ich mich in diesem Kreise. Im gewaltigen Palast der Myriaden Augen, die auf mich herab blicken, mich für unwürdig erklären ihnen dienen zu dürfen. In ihrer Gegenwart spüre ich dass Joch der Welt. Ich spüre, man könnte es vielleicht so ausdrücken, das Leid dass die Worte zum sprudeln brachte. All die Gedanken, Thesen, Antithesen, die Verse, Dichtungen und Verdichtungen, die Hymnen, Gebete, Preisungen, die Liebesbezeugungen, Schwüre, Theorien, Sprachen, Phantasien, epochalen Meisterwerke, Malereien, Phantastereien und all der Sinn und Unsinn. Als käme der eine um den anderen aufzuheben, um dass gesagte zu relativieren und um die Relativierung wieder ad absurdum zu führen. Gesagtes wird zurückgenommen und von einem anderen der es noch nicht verstanden hat als wahr eingestuft. Das mentale Organ wirkt hier eingeschläfert. Obgleich es soviel zu sagen und zu meinen hat, ist es still. Obgleich so laut, ist diese Kommunikation anscheinend ihres Organs beraubt. Ich fühle mich plötzlich so beengt. Eingesperrt in dieser Halle der Ewigkeit. Bevor ich nun fortfahre den Inhalt dieser Bibliothek zu beschreiben, wäre es vielleicht Lohnenswert die Hülle zu betrachten. Nicht etwa das Außen, nicht etwa die Mauern dieser Wissensfestung meine ich, nein, vielmehr die Stockwerke, den Knochenbau der die Innereien stützt. Elf Stockwerke umfasst dieser unhistorische Bau, der in leichten Strahlenbündeln die Sonne abzufangen versucht, die durch die kleine Fensterluke des Daches, der Krone des Gesamten, einzudringen versucht. Hier und da berührt das kräftigende Licht eines der Meisterwerke eines Unbedeutenden oder auch Bedeutenden Mannes. Eigenartig nur, dass die Stockwerke oppositionell angeordnet sind Im dritten Stockwerk erblicke ich ein kleines Büchlein auf der rechten Seite. Es ist also das dritte Stockwerk von oben – rechts. Jenes kleine Büchlein, abgefasst angeblich vom Stammvater Abraham, in einer Zeit vor der Zeit, als die Menschen gerade begannen aufrecht zu gehen und ihm aus diesem Grunde das Attribut der Gerechtigkeit zugeschrieben wurde, wird bestrahlt von einem eigentümlichen Licht. Dieses Licht, gefärbt in einem blauen, fast violetten Ton fällt geradezu wie ein Fingerzeig auf dies kleine Büchlein um dann anschließend gleich weiter reflektiert zu werden auf ein Buch auf der linken Seite eben dieses Stockwerkes. Eigentlich ist es dort vielmehr eine ganze Buchreihe die von eben diesem Licht berührt, in hellem roten Glanz aufleuchtet. So als wollte es auf sich aufmerksam machen. Studier mich, lies mich, und verstehe mich. Unten stehe ich, während ich all dieses beobachte und werde von einem dünnen Strahl getroffen der wohl von mehr als 32 Metern auf mich hinabstrahlt. In der Mitte des Bauwerkes schwebt die elfte Etage, jene Bibliothek des Wissens, die nur einem bestimmten Kreis, einer man könnte sagen, kleinen aber feinen Elite zugänglich ist, die sich den Schlüssel zu diesem Raum des Innersten verdient haben. Leider ist es mir bisher nicht gelungen das Geheimnis dieser Weisen zu lüften, um endlich auch Zugang zu diesem Hort, dem Wissensraum zu bekommen. Einige Besucher erzählten mir das dieser Raum mehr als fünftausend Jahre alt ist. Wieder andere sprachen von zehn oder gar zwanzigtausend Jahre. Warum denn nicht fünfzehn Milliarden Jahre? Warum nicht gleich so alt wie die Schöpfung selbst? Aber da gibt es durchaus legitime geteilte Meinungen. Sicher ist sich da keiner. Und ich glaube dass eine Entmystifizierung eines solchen Raumes ohne Raum durchaus nicht der Gelehrigkeit dient. Lieber soll unsere Neugierde auf mehr gestärkt werden, um die nicht ganz so mutigen, die Wissenschaftler eben, zu bestärken und in ihrer besonderen Arbeit zu fördern. Ich vermute einen gewissen Schutz in der Entfernung von der Religiosität der Massen um vermeintlichen Fanatismus im Bann halten zu können. Leider blieb unsere Bibliothek, gerade in diesen Zeit, nicht verschont von den Anschlägen einzelner fanatischer Menschen, die behaupteten die Lehren dieser heiligen Hallen seien eigentlich ein Konvolut von heidnischen Völkern, die sich durch theologische Meisterleistungen einen Gegenbeweis zu ihrer Gottestheorie haben vorenthalten können. Während ich die Pfade der Weisheit durchschreite dringt ein Ehrerbietiges Gefühl in mir hoch, welches mich dazu veranlasst langsameren Schrittes zu gehen, um nicht des Genusses verlustig zu werden, die rundgeschliffenen Mahagonibetten zu betrachten. Diese Hüllen der Hüllen verwunden stück für Stück, Meter um Meter mein Herz so tief, dass ich mir eine Träne nicht verkneifen kann. Hier die Platoniker, dort der Rationalismus und Empirismus. Große Namen und noch größere Wörter die sie umgeben. Die mich umgeben. Dann plötzlich die französische und deutsche Aufklärung. Die Himmel lichten sich. Die Demokratie wird irgendwann sicherlich Einzug halten. Unsere Welt beherrschen. Europa beherrschen. Dann die kommunistischen Werke. Die phantastischen Ideen, Ideologien, verkehrte Welten. Vernichtende Kräfte. Fast assoziativ entwickelt sich ein Bild von meuchelmordenden Reiterschwaden. Blutrünstige Kosakenhorden, im Auftrag der russischen Herren. Arme Sklaven anderer Menschenherren. Die strafe ist die Auslöschung ihrer Historie. Denn über ihr gewaltiges Kulturerbe finde ich hier nichts. Außer von irgendwelchen Donkosaken, die zur Belustigung ihres Publikums wieder einmal auf der Bühne umherhopsen. Dann schießen mir zahlen in den Kopf. Fast unwirkliche Zahlen. Gewaltig wie die Schätzung des alters der elften Etage. Tausend. Zehntausend. Hunderttausend. Zweihunderttausend. Viele ausgelöschte Buchstaben einer Bibel, viele Universen, viele Leuchten und viel Zukunft. Wie aus dem Nichts ertönt eine innere Stimme. Es ist, ich kenn diese Stimme, die der Isemene. Und was du arme, kann ich.... Mit meinem Tun und Lassen daran ändern. Nichts natürlich. Denn nur im Traum ist die Vergebung anwesend. Nur dort ist dieses Möglich. Nur dort ist meine Bibliothek frei und Denkbar. Wäre ich doch nur frei und könnte ihr entkommen. Plötzlich erscheint in einer Leseecke das Antlitz eines jungen Mannes im alten Kleid. Einer den man als Weinreb kennt. Der sich verständlich zeigte. Die Zeichen der Christen jüdisch zu verstehen. Noch ein Sprachtheoretiker, denke ich mir. Fragend blickt er mich an, ob der Mensch noch eine Zukunft hat. Ich halte inne und schüttele einen Augenblick, fast unbemerkt den Kopf. Weiter unten, im sechsten Stock versammeln sich die Vorsokratiker. Murmelnd begeben sie sich aus ihren Verstecken. Ihre Zeiten sind auch schon längst vergessen. Lachend denke ich an Xenophanes. So mancher Violinist denkt mit und erkennt den Zusammenhang und mir war so als ob ich für einen kurzen Moment Ivan Galamian entdecke. Mir schwebt natürlich seine, des Xenophanes, Heimatstadt vor. Denn mit ihr pflegte ich meinen Bogen von der Spitze bis zum Frosch unter den strengen Augen meiner Geigenlehrerin zu bearbeiten. Nun, wie mir scheint bewegen sich auch gerade unter den Vorsokratikern einige, man mag sie als Pythagoräer bezeichnen, die sich in besonderem Maße mit der Musik auseinander setzten. Und hört man nicht auch (oder gerade) hier die gewaltigen Weltenklänge, die Saiten der Sphären, die nicht einzeln, nicht im Akkord, sondern alle auf einmal erklingen. Wie ein Donnern und Poltern aus Gottes Posaunen ertönen die Stimmen aus allen Zeiten. Vom einfachen Wort, bis zur Fähigkeit des Erkennens, alles scheint hier enthalten zu sein. Und was diese Bibliothek von anderen zu unterscheiden vermag, ist die unvergleichliche Spannweite ihres Speichervorrates. Eine Art von Superdisk, ein Pentium 5783. Vom ersten Wort bis zum letzten, alles scheint hier enthalten zu sein. Und was sagt ein Wort nicht anderes, als alles andere. Vom Wunder des Wortes bis zum wunderbaren Worte. Von Vergessenen bis zu längst Vergessenem. Hier tritt ein Max Brod nicht bloß als simpler Entdecker und Europäisches Pendant zu Jorge Luis Borges auf, der zufälligerweise Kafka als phantastischen Erzähler aus Prag zu erkennen vermochte. Hier wird er selbst entdeckt. Als Poet, als Philosoph, als trauernder, der die schönsten Worte seines Zeit seiner verstorbenen Frau widmete, der wunderbares über wunderbares zu erzählen vermochte. Hier wird er nie vergessen sein. Die jüdische Seele würde ihm entgegenschleudern, dass er bereits Anteil hat an der kommenden Welt. Der Philosoph entdeckt ihn in der Ewigkeit. Und bei Kierkegaard verbindet er sich im Universum des Wortes mit all den anderen Trauernden. Hier wird nicht bloß der Tractatus Logico Philosphicus als Standartwerk für Zweitsemester verschiedenster Disziplinen des Geistes missbraucht. Hier erscheint er in seinem geordneten Durcheinander. Hier bleibt ein jedes Wort. Egal welche Farbe ihm zugeordnet wurde, egal ob es plötzlich eine Wiener Ausgabe gib. Hier wo die Grenzen des wittgensteinschen Universums durchbrochen werden. Dies wäre der Ort den Wittgenstein gehasst hätte. An dem er jedoch geliebt wird. Und auch er wird ab und an in diesen himmlischen Hallen beobachtet. Heimlich guckt ihm Locke vom Stockwerk weiter oben aufs Haupt. Manchmal blitzt ein lächeln aus dem faltigen Gesicht dieses Denkers. Und er bleibt einsam unter den Einsamen aller Völker und Zeiten. Einsam und Unfähig zu handeln. Gerade jetzt ist er unfähiger denn je. Denn wie sonst sollte sich wohl ein denkender Geist bewegen als gar nicht. Schon gar nicht, wenn er einen Teil des Ganzen erfasst zu haben scheint. Man könnte es auch so beschreiben. Wie würdest du wohl reagieren, wenn nächsten Mittwoch der Messias vor deiner Haustür steht. Mit einem offenem Mund, gekräuselter Stirn und völligem Stillstand des Körpers, wenn nicht gar des Herzens mit eingeschlossen. In der jüdischen Überlieferung kennt man diesen Gedanken. Man soll handeln solange man in der Vorhalle, im Sein eben gefangen ist. Dem Ägypten unseres Lebens. Nicht still stehen soll man in diesem Leben, nicht zurückschauen, vorwärtsgehen und die Taue ergreifen die uns Gott ständig zuschmeißt. Erkenntnis kann uns aus diesem Dilemma heraus helfen. Der Grund warum dieses Gedankengebäude, diese Bibliothek des Wunderbaren existiert. Wer im Leben zurückblickt der endet wie Lots Frau. Der ist schon Tod bevor er gelebt hat. Leidet, weint, jammert. Tut alles was uns nicht mehr nützt.. Uns! Den Lebenden. Und später, so sagt die Überlieferung weiter, wenn wir eingehen in die Ewigkeit der Zeitlosigkeit, aus der auch diese Räume hier bestehen, werden wir zu handeln aufhören. Wir werden nicht mehr essen wie zu Jom Kippur, wir werden nicht mehr schreiben, wir werden nicht mehr lesen, wie zu den Zeiten der Bücherverbrennung. Wir werden still stehen, da wir unsere Position in der Ewigkeit eingenommen haben. Ja in meiner Bibliothek ist noch Zeit für entflammende Seelenbrände. Ein schönes Wort. Ein seltenes noch dazu.
Gesammelte Werke: Essays + Aufsätze + Satiren + Kritiken + Autobiografische Schriften: Über 600 Titel in einem Buch: Goethes Wahlverwandtschaften + Ein Drama von Poe entdeckt + Baudelaire unterm Stahlhelm + Brechts Dreigroschenroman + Berliner Kindheit um Neunzehnhundert…
Gesammelte philosophische Werke: Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele + Philosophische Gespräche + Über die Frage: was heißt aufklären? + Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes und mehr
Verwirrung der Gefühle und andere Novellen: Der Stern über dem Walde, Die Liebe der Erika Ewald, Vergessene Träume, Geschichte in der Dämmerung, Angst, Untergang eines Herzens, Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau...