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Die Bibliothek

von
SHLOMO MANEA

Dass einmal die Gelegenheit kommen würde Bibliothekar einer


Bibliothek zu werden, damit hätte ich noch rechnen können. Dass
ich allerdings Bibliothekar einer der gewaltigsten Machwerke der
Menschheitsgeschichte sein werde, in meinen kühnsten träumen
hätte ich dies nicht zu hoffen gewagt. Nun da ich gefangener
tausender Worte bin, die sich rings um meinen Körper tummeln,
eingebettet in ihre schläfrigen Betten, in ihrer wartenden Position,
als Gelegenheit, für den schmachtenden Wissensdurstigen, der sich
ihrer Bedienen wird. Als Gefangener drehe ich mich in diesem
Kreise. Im gewaltigen Palast der Myriaden Augen, die auf mich
herab blicken, mich für unwürdig erklären ihnen dienen zu dürfen.
In ihrer Gegenwart spüre ich dass Joch der Welt. Ich spüre, man
könnte es vielleicht so ausdrücken, das Leid dass die Worte zum
sprudeln brachte. All die Gedanken, Thesen, Antithesen, die Verse,
Dichtungen und Verdichtungen, die Hymnen, Gebete, Preisungen,
die Liebesbezeugungen, Schwüre, Theorien, Sprachen, Phantasien,
epochalen Meisterwerke, Malereien, Phantastereien und all der Sinn
und Unsinn. Als käme der eine um den anderen aufzuheben, um dass
gesagte zu relativieren und um die Relativierung wieder ad
absurdum zu führen. Gesagtes wird zurückgenommen und von
einem anderen der es noch nicht verstanden hat als wahr eingestuft.
Das mentale Organ wirkt hier eingeschläfert. Obgleich es soviel zu
sagen und zu meinen hat, ist es still. Obgleich so laut, ist diese
Kommunikation anscheinend ihres Organs beraubt. Ich fühle mich
plötzlich so beengt. Eingesperrt in dieser Halle der Ewigkeit. Bevor
ich nun fortfahre den Inhalt dieser Bibliothek zu beschreiben, wäre
es vielleicht Lohnenswert die Hülle zu betrachten. Nicht etwa das
Außen, nicht etwa die Mauern dieser Wissensfestung meine ich,
nein, vielmehr die Stockwerke, den Knochenbau der die Innereien
stützt. Elf Stockwerke umfasst dieser unhistorische Bau, der in
leichten Strahlenbündeln die Sonne abzufangen versucht, die durch
die kleine Fensterluke des Daches, der Krone des Gesamten,
einzudringen versucht. Hier und da berührt das kräftigende Licht
eines der Meisterwerke eines Unbedeutenden oder auch
Bedeutenden Mannes. Eigenartig nur, dass die Stockwerke
oppositionell angeordnet sind Im dritten Stockwerk erblicke ich ein
kleines Büchlein auf der rechten Seite. Es ist also das dritte
Stockwerk von oben – rechts. Jenes kleine Büchlein, abgefasst
angeblich vom Stammvater Abraham, in einer Zeit vor der Zeit, als
die Menschen gerade begannen aufrecht zu gehen und ihm aus
diesem Grunde das Attribut der Gerechtigkeit zugeschrieben wurde,
wird bestrahlt von einem eigentümlichen Licht. Dieses Licht, gefärbt
in einem blauen, fast violetten Ton fällt geradezu wie ein Fingerzeig
auf dies kleine Büchlein um dann anschließend gleich weiter
reflektiert zu werden auf ein Buch auf der linken Seite eben dieses
Stockwerkes. Eigentlich ist es dort vielmehr eine ganze Buchreihe
die von eben diesem Licht berührt, in hellem roten Glanz
aufleuchtet. So als wollte es auf sich aufmerksam machen. Studier
mich, lies mich, und verstehe mich. Unten stehe ich, während ich all
dieses beobachte und werde von einem dünnen Strahl getroffen der
wohl von mehr als 32 Metern auf mich hinabstrahlt. In der Mitte des
Bauwerkes schwebt die elfte Etage, jene Bibliothek des Wissens, die
nur einem bestimmten Kreis, einer man könnte sagen, kleinen aber
feinen Elite zugänglich ist, die sich den Schlüssel zu diesem Raum
des Innersten verdient haben. Leider ist es mir bisher nicht gelungen
das Geheimnis dieser Weisen zu lüften, um endlich auch Zugang zu
diesem Hort, dem Wissensraum zu bekommen. Einige Besucher
erzählten mir das dieser Raum mehr als fünftausend Jahre alt ist.
Wieder andere sprachen von zehn oder gar zwanzigtausend Jahre.
Warum denn nicht fünfzehn Milliarden Jahre? Warum nicht gleich
so alt wie die Schöpfung selbst? Aber da gibt es durchaus legitime
geteilte Meinungen. Sicher ist sich da keiner. Und ich glaube dass
eine Entmystifizierung eines solchen Raumes ohne Raum durchaus
nicht der Gelehrigkeit dient. Lieber soll unsere Neugierde auf mehr
gestärkt werden, um die nicht ganz so mutigen, die Wissenschaftler
eben, zu bestärken und in ihrer besonderen Arbeit zu fördern. Ich
vermute einen gewissen Schutz in der Entfernung von der
Religiosität der Massen um vermeintlichen Fanatismus im Bann
halten zu können. Leider blieb unsere Bibliothek, gerade in diesen
Zeit, nicht verschont von den Anschlägen einzelner fanatischer
Menschen, die behaupteten die Lehren dieser heiligen Hallen seien
eigentlich ein Konvolut von heidnischen Völkern, die sich durch
theologische Meisterleistungen einen Gegenbeweis zu ihrer
Gottestheorie haben vorenthalten können. Während ich die Pfade der
Weisheit durchschreite dringt ein Ehrerbietiges Gefühl in mir hoch,
welches mich dazu veranlasst langsameren Schrittes zu gehen, um
nicht des Genusses verlustig zu werden, die rundgeschliffenen
Mahagonibetten zu betrachten. Diese Hüllen der Hüllen verwunden
stück für Stück, Meter um Meter mein Herz so tief, dass ich mir eine
Träne nicht verkneifen kann. Hier die Platoniker, dort der
Rationalismus und Empirismus. Große Namen und noch größere
Wörter die sie umgeben. Die mich umgeben. Dann plötzlich die
französische und deutsche Aufklärung. Die Himmel lichten sich. Die
Demokratie wird irgendwann sicherlich Einzug halten. Unsere Welt
beherrschen. Europa beherrschen. Dann die kommunistischen
Werke. Die phantastischen Ideen, Ideologien, verkehrte Welten.
Vernichtende Kräfte. Fast assoziativ entwickelt sich ein Bild von
meuchelmordenden Reiterschwaden. Blutrünstige Kosakenhorden,
im Auftrag der russischen Herren. Arme Sklaven anderer
Menschenherren. Die strafe ist die Auslöschung ihrer Historie. Denn
über ihr gewaltiges Kulturerbe finde ich hier nichts. Außer von
irgendwelchen Donkosaken, die zur Belustigung ihres Publikums
wieder einmal auf der Bühne umherhopsen. Dann schießen mir
zahlen in den Kopf. Fast unwirkliche Zahlen. Gewaltig wie die
Schätzung des alters der elften Etage. Tausend. Zehntausend.
Hunderttausend. Zweihunderttausend. Viele ausgelöschte
Buchstaben einer Bibel, viele Universen, viele Leuchten und viel
Zukunft. Wie aus dem Nichts ertönt eine innere Stimme. Es ist, ich
kenn diese Stimme, die der Isemene. Und was du arme, kann ich....
Mit meinem Tun und Lassen daran ändern. Nichts natürlich. Denn
nur im Traum ist die Vergebung anwesend. Nur dort ist dieses
Möglich. Nur dort ist meine Bibliothek frei und Denkbar. Wäre ich
doch nur frei und könnte ihr entkommen. Plötzlich erscheint in einer
Leseecke das Antlitz eines jungen Mannes im alten Kleid. Einer den
man als Weinreb kennt. Der sich verständlich zeigte. Die Zeichen
der Christen jüdisch zu verstehen. Noch ein Sprachtheoretiker,
denke ich mir. Fragend blickt er mich an, ob der Mensch noch eine
Zukunft hat. Ich halte inne und schüttele einen Augenblick, fast
unbemerkt den Kopf. Weiter unten, im sechsten Stock versammeln
sich die Vorsokratiker. Murmelnd begeben sie sich aus ihren
Verstecken. Ihre Zeiten sind auch schon längst vergessen. Lachend
denke ich an Xenophanes. So mancher Violinist denkt mit und
erkennt den Zusammenhang und mir war so als ob ich für einen
kurzen Moment Ivan Galamian entdecke. Mir schwebt natürlich
seine, des Xenophanes, Heimatstadt vor. Denn mit ihr pflegte ich
meinen Bogen von der Spitze bis zum Frosch unter den strengen
Augen meiner Geigenlehrerin zu bearbeiten. Nun, wie mir scheint
bewegen sich auch gerade unter den Vorsokratikern einige, man mag
sie als Pythagoräer bezeichnen, die sich in besonderem Maße mit der
Musik auseinander setzten. Und hört man nicht auch (oder gerade)
hier die gewaltigen Weltenklänge, die Saiten der Sphären, die nicht
einzeln, nicht im Akkord, sondern alle auf einmal erklingen. Wie ein
Donnern und Poltern aus Gottes Posaunen ertönen die Stimmen aus
allen Zeiten. Vom einfachen Wort, bis zur Fähigkeit des Erkennens,
alles scheint hier enthalten zu sein. Und was diese Bibliothek von
anderen zu unterscheiden vermag, ist die unvergleichliche
Spannweite ihres Speichervorrates. Eine Art von Superdisk, ein
Pentium 5783. Vom ersten Wort bis zum letzten, alles scheint hier
enthalten zu sein. Und was sagt ein Wort nicht anderes, als alles
andere. Vom Wunder des Wortes bis zum wunderbaren Worte. Von
Vergessenen bis zu längst Vergessenem. Hier tritt ein Max Brod
nicht bloß als simpler Entdecker und Europäisches Pendant zu Jorge
Luis Borges auf, der zufälligerweise Kafka als phantastischen
Erzähler aus Prag zu erkennen vermochte. Hier wird er selbst
entdeckt. Als Poet, als Philosoph, als trauernder, der die schönsten
Worte seines Zeit seiner verstorbenen Frau widmete, der
wunderbares über wunderbares zu erzählen vermochte. Hier wird er
nie vergessen sein. Die jüdische Seele würde ihm
entgegenschleudern, dass er bereits Anteil hat an der kommenden
Welt. Der Philosoph entdeckt ihn in der Ewigkeit. Und bei
Kierkegaard verbindet er sich im Universum des Wortes mit all den
anderen Trauernden. Hier wird nicht bloß der Tractatus Logico
Philosphicus als Standartwerk für Zweitsemester verschiedenster
Disziplinen des Geistes missbraucht. Hier erscheint er in seinem
geordneten Durcheinander. Hier bleibt ein jedes Wort. Egal welche
Farbe ihm zugeordnet wurde, egal ob es plötzlich eine Wiener
Ausgabe gib. Hier wo die Grenzen des wittgensteinschen
Universums durchbrochen werden. Dies wäre der Ort den
Wittgenstein gehasst hätte. An dem er jedoch geliebt wird. Und auch
er wird ab und an in diesen himmlischen Hallen beobachtet.
Heimlich guckt ihm Locke vom Stockwerk weiter oben aufs Haupt.
Manchmal blitzt ein lächeln aus dem faltigen Gesicht dieses
Denkers. Und er bleibt einsam unter den Einsamen aller Völker und
Zeiten. Einsam und Unfähig zu handeln. Gerade jetzt ist er unfähiger
denn je. Denn wie sonst sollte sich wohl ein denkender Geist
bewegen als gar nicht. Schon gar nicht, wenn er einen Teil des
Ganzen erfasst zu haben scheint. Man könnte es auch so
beschreiben. Wie würdest du wohl reagieren, wenn nächsten
Mittwoch der Messias vor deiner Haustür steht. Mit einem offenem
Mund, gekräuselter Stirn und völligem Stillstand des Körpers, wenn
nicht gar des Herzens mit eingeschlossen. In der jüdischen
Überlieferung kennt man diesen Gedanken. Man soll handeln
solange man in der Vorhalle, im Sein eben gefangen ist. Dem
Ägypten unseres Lebens. Nicht still stehen soll man in diesem
Leben, nicht zurückschauen, vorwärtsgehen und die Taue ergreifen
die uns Gott ständig zuschmeißt. Erkenntnis kann uns aus diesem
Dilemma heraus helfen. Der Grund warum dieses
Gedankengebäude, diese Bibliothek des Wunderbaren existiert. Wer
im Leben zurückblickt der endet wie Lots Frau. Der ist schon Tod
bevor er gelebt hat. Leidet, weint, jammert. Tut alles was uns nicht
mehr nützt.. Uns! Den Lebenden. Und später, so sagt die
Überlieferung weiter, wenn wir eingehen in die Ewigkeit der
Zeitlosigkeit, aus der auch diese Räume hier bestehen, werden wir
zu handeln aufhören. Wir werden nicht mehr essen wie zu Jom
Kippur, wir werden nicht mehr schreiben, wir werden nicht mehr
lesen, wie zu den Zeiten der Bücherverbrennung. Wir werden still
stehen, da wir unsere Position in der Ewigkeit eingenommen haben.
Ja in meiner Bibliothek ist noch Zeit für entflammende
Seelenbrände. Ein schönes Wort. Ein seltenes noch dazu.

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