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Jorge Luis Borges (1899 – 1986)

Die Bibliothek von Babel


By this art you may contemplate the variation of the 23 letters…
The Anatomy of Melancholy, part 2, sect. II, mem. IV.

Das Universum, das andere die Bibliothek werden; mein Grab wird die unauslotbare Luft
nennen, setzt sich aus einer undefinierten, wo- sein; mein Leib wird immer tiefer sinken und
möglich unendlichen Zahl sechseckiger Galeri- sich in dem von dem Sturz verursachten Fall-
en zusammen, mit weiten Entlüftungsschäch- wind zersetzen und auflösen. Ich behaupte, daß
ten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Gelän- die Bibliothek kein Ende hat. Die Idealisten
dern eingefaßt sind. Von jedem Sechseck aus argumentieren, daß die sechseckigen Säle eine
kann man die unteren und oberen Stockwerke notwendige Form des absoluten Raums sind,
sehen: grenzenlos. Die Anordnung der Galerien oder zumindest unserer Anschauung vom
ist unwandelbar dieselbe. Zwanzig Bücherre- Raum. Sie geben zu bedenken, daß ein drei-
gale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verde- eckiger oder fünfeckiger Saal unfaßbar ist.
cken alle Seiten außer zweien: ihre Höhe, die (Die Mystiker behaupten, daß die Ekstase ih-
sich mit der Höhe des Stockwerks deckt, über- nen ein kreisförmiges Gemach offenbart, mit
trifft nur wenig die Größe eines normalen Bib- einem kreisförmigen Buch, dessen Rücken
liothekars. Eine der freien Wände öffnet sich rund um die Wand läuft; doch ist ihr Zeugnis
auf einen schmalen Gang, der in eine andere verdächtig; ihre Worte sind dunkel; dieses zyk-
Galerie, genau wie die erste, genau wie alle, lische Buch ist Gott.) Für jetzt mag es genügen,
einmündet. Links und rechts am Gang befinden wenn ich den klassischen Spruch zitiere: Die
sich zwei winzigkleine Kabinette. In dem einen Bibliothek ist eine Kugel, deren eigentlicher
kann man im Stehen schlafen, in dem anderen Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck ist, und
seine Notdurft verrichten. Hier führt die spiral- deren Umfang unzugänglich ist. Auf jede Wand
förmige Treppe vorbei, die sich abgrundtief jedes Sechsecks kommen fünf Regale; jedes
senkt und sich weit empor erhebt. In dem Gang Regal faßt zweiunddreißig Bücher gleichen
ist ein Spiegel, der den äußeren Schein verdop- Formats; jedes Buch besteht aus einhundert-
pelt. Die Menschen schließen gewöhnlich aus zehn Seiten, jede Seite aus vierzig Zeilen, jede
diesem Spiegel, daß die Bibliothek nicht un- Zeile aus achtzig Buchstaben von schwarzer
endlich ist (wäre sie es in der Tat, wozu diese Farbe; Buchstaben finden sich auch auf dem
scheinhafte Verdoppelung?); ich gebe mich lie- Rücken jeden Buches; doch bezeichnen diese
ber dem träumerischen Gedanken hin, daß die Buchstaben nicht, deuten auch nicht im voraus
polierten Oberflächen das Unendliche darstel- an, was die Seiten sagen werden. Ich weiß, daß
len und verheißen… Licht spenden ein paar dieser fehlende Zusammenhang zuweilen mys-
kugelförmige Früchte, die den Namen »Lam- teriös angemutet hat. Bevor ich die Lösung,
pen« tragen. Es gibt deren zwei in jedem deren Entdeckung trotz ihrer tragischen Aus-
Sechseck, seitlich angebracht. Das Licht, das wirkungen wohl der Hauptgegenstand der Ge-
sie aussenden, ist unzureichend, unaufhörlich. schichte ist, in gedrängter Form wiedergebe,
Wie alle Menschen der Bibliothek bin ich in will ich ein paar Axiome ins Gedächtnis zu-
meiner Jugend gereist; ich habe die Fahrt nach rückrufen. Erstes Axiom: Die Bibliothek exis-
einem Buch angetreten, vielleicht dem Katalog tiert ab aeterno. An dieser Wahrheit, aus der
der Kataloge; jetzt können meine Augen kaum unmittelbar die künftige Ewigkeit der Welt
mehr entziffern, was ich schreibe; ich bin im folgt, kann kein denkender Verstand zweifeln.
Begriff, nur ein paar Meilen von dem Sechs- Der Mensch, der unvollkommene Bibliothekar,
eck, wo ich geboren ward, zu sterben. Wenn mag vom Zufall oder von den böswilligen Dä-
ich tot bin, wird es nicht an mitleidigen Hän- monen bewirkt sein; das Universum, so elegant
den fehlen, die mich über das Geländer werfen ausgestattet mit Regalen, mit rätselhaften Bän-
den, mit unerschöpflichen Treppen für den um- le, ist richtig, aber vierhundertundzehn Seiten,
herwandernden und mit kleinen Stufen für den auf denen unwandelbar M C V wiederkehrt,
sitzenden Bibliothekar, kann nur durch einen können mit keiner auch noch so mundartlichen
Gott bewirkt sein. Um die Kluft, die zwischen oder unentwickelten Sprache in Zusammen-
dem Menschlichen und dem Göttlichen liegt, hang stehen. Einige wollten wissen, daß jeder
so recht zu ermessen, braucht man nur die zitt- Buchstabe auf den nächstfolgenden Einfluß
rigen Zeichen, die meine hinfällige Hand auf nähme, und daß der Stellenwert von M C V in
den Einband eines Buches krakelt, mit den or- der dritten Zeile auf Seite 71 nicht der ist, den
ganischen Lettern im Inneren zu vergleichen: dieselbe Buchstabenreihe in anderer Stellung
gestochen, feingeschwungen, tiefschwarz, un- auf einer anderen Seite haben kann; aber diese
nachahmlich symmetrisch stehen sie da. vage These fruchtete nicht. Andere dachten an
Zweites Axiom: Die Anzahl der orthographi- Kryptogramme; diese Deutung hat sich allge-
schen Symbole ist fünfundzwanzig (1). Diese mein durchgesetzt, wenn auch nicht in der Be-
Feststellung ermöglichte es vor dreihundert deutung, wie ihre Erfinder sie verstanden. Vor
Jahren, die allgemeine Theorie der Bibliothek fünfhundert Jahren stieß der Chef eines höhe-
in Worte zu fassen, und das Problem, das keine ren Sechsecks (2) auf ein Buch, das so verwor-
Konjektur entschlüsselt hatte, befriedigend zu ren war wie die anderen, das jedoch fast zwei
lösen: die formlose und chaotische Beschaf- Bogen gleichartiger Zeilen aufwies. Er zeigte
fenheit nämlich fast aller Bücher. Eines, das seinen Fund einem ambulanten Entzifferer, der
mein Vater in einem Sechseck des Umgangs zu ihm sagte, sie seien auf Portugiesisch ab-
fünfzehnhundertvierundneunzig erblickte, be- gefaßt; andere sagten dagegen, auf Jiddisch;
stand aus den Buchstaben M C V, die sinnlos bevor ein Jahrhundert um war, konnte die
von der ersten bis zur letzten Seite wiederkehr- Sprachform bestimmt werden: es handelte sich
ten. Ein anderes (das in dieser Zone sehr ge- um einen samojedisch-litauischen Dialekt mit
fragt war) ist ein reines Buchstabenlabyrinth, einem Einschlag von klassischem Arabisch.
aber auf der vorletzten Seite steht: Oh Zeit, Auch der Inhalt wurde entschlüsselt: es waren
deine Pyramiden. Man ersieht hieraus: auf eine Begriffe der kombinatorischen Analysis, darge-
einzige verständliche Zeile oder eine richtige stellt an Beispielen sich unbegrenzt wiederho-
Bemerkung entfallen Meilen sinnloser Kako- lender Variationen. Diese Beispiele setzten ei-
phonien, sprachlichen Kauderwelschs, zusam- nen genialen Bibliothekar instand, das Funda-
menhanglosen Zeugs. (Ich weiß von einer wil- mentalgesetz der Bibliothek zu entdecken. Und
den Region, in der die Bibliothekare die aber- zwar stellte dieser Denker fest, daß sämtliche
gläubische und eitle Jagd nach dem Sinn in Bücher, wie verschieden sie auch sein mögen,
Büchern verschmähen und die Lektüre auf die aus den gleichen Elementen bestehen: dem
gleiche Stufe mit Traumdeuterei und Handle- Raum, dem Punkt, dem Komma, den zweiund-
sekunst stellen ... Sie geben zwar zu, daß die zwanzig Lettern des Alphabets. Auch führte er
Erfinder der Schrift die fünfundzwanzig Natur- einen Umstand an, den alle Reisenden bestätigt
symbole nachgeahmt haben; sie behaupten je- haben: In der ungeheuer weiträumigen Biblio-
doch, daß diese Anwendung zufällig sei und thek gibt es nicht zwei identische Bücher. Aus
die Bücher an sich nichts bedeuteten. Diese diesen unwiderleglichen Prämissen folgerte er,
Anschauung geht, wie man sehen wird, nicht daß die Bibliothek total ist und daß ihre Regale
völlig fehl.) alle irgend möglichen Kombinationen der
Lange Zeit hindurch war man des Glaubens, zwanzig und soviel orthographischen Zeichen
daß diese undurchdringlichen Bücher in ver- (deren Zahl, wenn auch außerordentlich groß,
gangenen oder fernabliegenden Sprachen ihre nicht unendlich ist) verzeichnen, mithin alles,
Entsprechung hätten. Allerdings haben die frü- was sich irgend ausdrücken läßt: in sämtlichen
hesten Menschen, die ersten Bibliothekare, ei- Sprachen.
ne von der heute gesprochenen recht verschie- Alles: die bis ins einzelne gehende Geschichte
dene Sprache benutzt; richtig ist auch, daß ein der Zukunft, die Autobiographien der Erzengel,
paar Meilen weiter nach rechts die Sprache den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende
mundartlich und daß sie neunzig Stockwerke und Abertausende falscher Kataloge, den
höher unverständlich ist. All das, ich wiederho- Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der
Falschheit des echten Katalogs, das gnostische ihres Amtes walteten: sie machen immer einen
Evangelium von Basilides, den Kommentar zu strapazierten Eindruck, sie sprechen von einer
diesem Evangelium, den Kommentar zum Treppe ohne Stufen, die sie um ein Haar getö-
Kommentar dieses Evangeliums, die wahr- tet hätte; sie sprechen von Galerien und Trep-
heitsgetreue Darstellung deines Todes, die Ü- pen mit dem Bibliothekar; manchmal greifen
bertragung jeden Buches in sämtliche Spra- sie nach dem Buch, das ihnen am nächsten zur
chen, die Interpolationen jeden Buches in allen Hand ist und blättern darin auf der Suche nach
Büchern. ruchlosen Wörtern. Offensichtlich hofft nie-
Als verkündet wurde, daß die Bibliothek alle mand, irgend etwas zu entdecken.
Bücher umfasse, war der erste Eindruck ein Auf die überschwengliche Hoffnung folgte
überwältigendes Glücksgefühl. Alle Menschen ganz natürlich übermäßige Verzagtheit. Die
wußten sich Herren über einen unversehrten Gewißheit, daß irgendein Regal in irgendeinem
und geheimen Schatz. Es gab kein persönli- Sechseck kostbare Bücher berge, daß aber die-
ches, kein Weltproblem, dessen beredte Lösung se Bücher unzugänglich seien, erschien nahezu
nicht existierte: in irgendeinem Sechseck. Das unerträglich. Eine Lästerersekte schlug vor,
Universum war gerechtfertigt, das Universum man solle die Suche einstellen, alle Menschen
bemächtigte sich mit einem Schlag der schran- sollten Buchstaben und Zeichen so lange
kenlosen Dimensionen der Hoffnung. In dieser durcheinanderwürfeln, bis sie auf Grund eines
Zeit war viel die Rede von »Rechtfertigun- unwahrscheinlichen Zufalls diese kanonischen
gen«: apologetische und prophetische Bücher Bücher zusammenbrächten. Die Behörden sa-
rechtfertigten für immer die Taten jedes Men- hen sich gezwungen, strenge Anordnungen zu
schen auf Erden, hüteten wundersame Arcana erlassen. Die Sekte verschwand, aber in meiner
für seine Zukunft. Tausende, die es nach Recht- Kindheit sah ich alte Männer, die lange auf
fertigung gelüstete, verließen ihr trautes Hei- dem Abtritt verweilten, mit ein paar Metall-
matsechseck und jagten die Treppen empor, scheiben in einem verbotenen Würfelbecher,
von dem eitlen Vorsatz getrieben, Rechtferti- kraftlos bemüht, der göttlichen Unordnung zu
gung zu finden. steuern.
Diese Pilger disputierten in den engen Gängen, Andere waren umgekehrt der Meinung, zual-
stießen dunkle Verwünschungen aus, erwürgten lererst müßten die überflüssigen Bücher aus-
sich auf den göttlichen Stiegen, schleuderten gemerzt werden. Sie brachen in die Sechsecke
die gleisnerischen Bücher auf den Grund der ein, zeigten nicht immer falsche Beglaubi-
Tunnels, starben, hinabgestürzt von den Men- gungsschreiben vor, blätterten verdrossen in
schen weit entlegener Regionen. Andere wur- einem Band und verdammten ganze Regale.
den wahnsinnig... Die Rechtfertigungen exis- Ihr hygienischer Asketeneifer trägt die Schuld
tieren: ich habe zwei gesehen, die sich auf daran, daß Millionen Bücher sinnlos vernichtet
künftige Personen, auf womöglich nicht bloß wurden. Heute sind ihre Namen ein Greuel;
imaginäre Personen beziehen, aber die Sucher wer aber die Thesauri beklagt, die ihrer Wut
bedachten nicht, daß die Chance, daß ein zum Opfer fielen, übersieht zwei allbekannte
Mensch die seine oder eine schnöde Spielart Tatsachen; die eine: die Bibliothek ist so ge-
der seinen findet, gleich Null ist. Auch erhoffte waltig an Umfang, daß jede Schmälerung
man sich Aufschluß über die Grundgeheimnis- durch Menschenhand verschwindend gering
se der Menschheit: den Ursprung der Biblio- ist. Die andere: jedes Exemplar ist zwar einzig,
thek und der Zeit. Wahrscheinlich lassen sich unersetzlich, aber da die Bibliothek total ist,
diese gewichtigen Mysterien in Worten erläu- gibt es immer einige Hunderttausende unvoll-
tern; wenn die Sprache der Philosophen nicht kommener Faksimiles, und zwar von Werken,
ausreicht, mag die Bibliothek die unerhörte die nur in einem Buchstaben oder Komma
Sprache, die dazu erforderlich ist, hervorge- voneinander abweichen. Entgegen der allge-
bracht haben, sowie die Wörterbücher und meinen Anschauung wage ich die Vermutung,
Grammatiken dieser Sprache. Schon vier Jahr- daß die Folgen der von diesen Säuberern ver-
hunderte lang durchstöbern die Menschen ver- übten Plünderungen wegen des Entsetzens über
geblich die Sechsecke ... Es gibt amtliche Su- diese Fanatiker zu hoch eingeschätzt worden
cher, Inquisitoren. Ich habe gesehen, wie sie sind. Sie waren von dem Wahn getrieben, die
Bücher des scharlachroten Sechsecks zu ero- zig orthographischen Symbole möglichen Vari-
bern: Bücher kleineren Formats als die natürli- ationen, aber nicht einen absoluten Unsinn. Es
chen: allmächtig, erlaucht und magisch. Auch erübrigt sich zu bemerken, daß der beste Band
wissen wir von einem anderen Aberglauben der vielen Sechsecke, die ich verwalte, Ge-
jener Zeit: dem an den Mann des Buches. In kämmter Donner betitelt ist, und ein anderer
irgendeinem Regal irgendeines Sechsecks (so Gipskrampf und wieder ein anderer Axaxas
dachten die Menschen) muß es ein Buch ge- Mlö. Diese auf den ersten Blick unzusammen-
ben, das Inbegriff und Auszug aller ist: ein Bib- hängenden Wortfügungen entbehren gewiß
liothekar hat es geprüft und ist Gott ähnlich. In nicht einer kryptographischen oder allegori-
der Sprache dieser Zone haben sich noch Spu- schen Rechtfertigung; diese Rechtfertigung
ren des jenem zeitentfernten Beamten geweih- verbaler Art figuriert — ex hypothesi — bereits
ten Kults erhalten. Viele begaben sich auf Pil- in der Bibliothek. Ich kann nicht etliche
gerschaft nach ihm. Ein Jahrhundert lang Schriftzeichen kombinieren
schlugen sie umsonst die verschiedensten
d h c m r l c h t d j,
Richtungen ein. Wie sollte man auch das ver-
ehrte Geheim-Sechseck orten, das ihn beher- die nicht die göttliche Bibliothek bereits vo-
bergte? Jemand schlug eine regressive Metho- rausgesehen hat und die in irgendeiner ihrer
de vor: um das Buch A zu lokalisieren, muß Geheimsprachen einen furchtbaren Sinn ber-
man zuvor ein Buch B heranziehen, das den gen. Niemand vermag eine Silbe zu artikulie-
Ort von A angibt; um das Buch B zu lokalisie- ren, die nicht voller Zärtlichkeiten und Schauer
ren, muß man zuvor ein Buch C und so ins Un- ist, die nicht in irgendeiner dieser Sprachen der
endliche… Mit dergleichen Abenteuern habe gewaltige Name eines Gottes ist. Sprechen
ich meine Jahre verschleudert und verzehrt. Ich heißt in Tautologien verfallen. Diese überflüs-
halte es nicht für unwahrscheinlich, daß es in sige und wortreiche Epistel existiert bereits in
irgendeinem Regal des Universums ein totales einem der dreißig Bände der fünf Regale eines
Buch gibt (3), ich flehe zu den unerkannten der unzähligen Sechsecke — und auch ihre
Göttern, es möge einen Menschen geben — Widerlegung. Eine Zahl möglicher Sprachen
einen einzigen, und habe er vor tausend Jahren verwendet den gleichen Wortschatz: in einigen
gelebt -, der es untersucht und gelesen hat. läßt das Symbol Bibliothek die korrekte Defini-
Wenn Ehre, Weisheit und Glück nicht für mich tion zu: überall vorhandenes und fortdauerndes
sind, mögen sie es für andere sein. Möge der System sechseckiger Galerien, aber Bibliothek
Himmel existieren, auch wenn mein Ort die ist Brot oder Pyramide oder irgend etwas ande-
Hölle ist. Mag ich beschimpft und zunichte res, und die sieben Wörter, die sie definieren,
werden, aber möge in einem Augenblick, in haben einen anderen Bedeutungswert. Bist du,
einem Sein Deine ungeheure Bibliothek ihre Leser, denn sicher, daß du meine Sprache ver-
Rechtfertigung finden. stehst? Die methodische Schrift zieht mich von
Die Pietätlosen behaupten, daß in der Biblio- der gegenwärtigen Verfassung der Menschen
thek der Unsinn an der Tagesordnung ist und ab. Die Gewißheit, daß alles geschrieben ist,
daß das Vernunftgemäße (ja selbst das schlicht macht uns zunichte oder zu Phantasmen. Ich
und recht Zusammenhängende) eine fast wun- kenne Bezirke, in denen die Jungen sich vor
dersame Ausnahme bildet. Sie sprechen (ich den Büchern niederwerfen und mit ungezügel-
weiß es) von der »fiebernden Bibliothek«, de- ter Wildheit die Seiten küssen, aber nicht einen
ren Zufallsbände ständig in Gefahr schweben, Buchstaben verstehen. Die Epidemien, die ket-
sich in andere zu verwandeln und alles behaup- zerischen Zwistigkeiten, die Pilgerzüge, die
ten, leugnen und durcheinanderwerfen wie eine unvermeidlich in Freibeuterei ausarten, haben
delirierende Gottheit. Diese Worte, die nicht die Bevölkerung dezimiert. Ich glaube, ich
nur die Unordnung entlarven, sondern sie mit sprach schon von den Selbstmorden, die jedes
einem Beispiel belegen, liefern einen notori- Jahr häufiger werden. Vielleicht spielen mir
schen Beweis ihres grundschlechten Ge- Alter und Ängstlichkeit einen Streich: aber ich
schmacks und ihrer verzweifelten Unwissen- hege die Vermutung, daß die Menschenart —
heit. In der Tat birgt die Bibliothek alle Wort- die einzige, die es gibt — im Aussterben be-
strukturen, alle im Rahmen der fünfundzwan- griffen ist, und daß die Bibliothek fortdauern
wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkom- 4. Letizia Alvarez de Toledo hat angemerkt,
men, unbeweglich, gewappnet mit kostbaren daß die ungeheure Bibliothek überflüssig
Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim. ist; strenggenommen würde ein einziger
Ich schrieb: unendlich. Nicht aus rhetorischer Band gewöhnlichen Formats, gedruckt in
Gewohnheit ist mir dieses Adjektiv in die Fe- Corpus neun oder zehn, genügen, wenn er
der geflossen; ich sage, es ist nicht unlogisch, aus einer unendlichen Zahl unendlich dün-
zu denken, daß die Welt unendlich ist. Wer sie ner Blätter bestände. (Cavalieri sagt zu An-
für begrenzt hält, postuliert, daß an weit ent- fang des 18. Jahrhunderts, daß jeder feste
fernten Orten die Gänge und Treppen und Körper die Überlagerung einer unendlichen
Sechsecke auf unfaßliche Art aufhören, was Zahl von Schichten ist.) Die Handhabung
absurd ist. Wer sie für schrankenlos hält, der eines derart seidendünnen Vademecums wä-
vergißt, daß die mögliche Zahl der Bücher re nicht leicht; jedes anscheinende Einzel-
Schranken setzt. Ich bin so kühn, die folgende blatt würde sich in andere gleichgeartete
Lösung des alten Problems zu bedenken zu ge- zweiteilen; das unbegreifliche Blatt in der
ben: Die Bibliothek ist schrankenlos und peri- Mitte hätte keine Rückseite.
odisch. Wenn ein ewiger Wanderer sie in ir-
gendeiner beliebigen Richtung durchmessen
würde, so würde er nach Ablauf einiger Jahr-
hunderte feststellen, daß dieselben Bände in Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel, Er-
derselben Unordnung wiederkehren (die, wie- zählungen, Stuttgart: Reclam, 1974, S. 47 – 57.
derholt, eine Ordnung wäre, der Ordo). Meine
Einsamkeit gefällt sich in dieser eleganten
Hoffnung (4).

1941, Mar del Plata.

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l.
Das Originalmanuskript enthält weder Kurs-
ivschrift noch Majuskeln. Die Interpunktion
ist auf Komma und Punkt beschränkt wor-
den. Diese beiden Zeichen, der Raum und
die dreiundzwanzig Buchstaben des Alpha-
bets, sind die 25 ausreichenden Symbole,
die der Unbekannte aufzählt.
2. Ursprünglich kam auf je drei Sechsecke ein
Mann. Fälle von Selbstmord und Lungen-
krankheit haben diese Proportion zerstört.
Unsagbar schwermütige Erinnerung:
manchmal bin ich nächtelang über blanke
Gänge und Treppen geirrt, ohne einen einzi-
gen Bibliothekar zu finden.
3.
Ich wiederhole: die bloße Möglichkeit eines
Buches ist hinreichend für sein Dasein. Nur
das Unmögliche ist ausgeschlossen. Zum
Beispiel: kein Buch ist zugleich eine Trep-
pe, obwohl es bestimmt Bücher gibt, die
diese Möglichkeit erörtern, leugnen oder
beweisen, und andere, deren Struktur einer
Treppe entspricht.

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