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Nr. 27 • Sommer 2000


Der zweite Tschetschenienkrieg
WeltTrends 121

Behrooz Abdolvand / Harald Etzbach

Der zweite Tschetschenienkrieg


Ergebnis lokaler Phänomene oder regionaler Ausdruck eines globalen
Konflikts?

Anfang August 1999 drangen 2.000 bewaffnete Mitglieder der Wahhabiten-Sekte1


unter der Führung des tschetschenischen Feldkommandanten Schamil Bassajew und
des Jordaniers Emir Chattab in Dagestan ein. Hierbei bedienten sie sich einer Tak-
tik, die auch bei der jüngsten pakistanischen Invasion in den indischen Teil Kaschmirs
angewandt wurde: Mudschaheddin riefen die „Islamische Republik Dagestan“ aus
und proklamierten deren Unabhängigkeit. Da sich Tschetschenien seit 1994 als un-
abhängiger Staat versteht und Dagestan unbestritten Teil der Russischen Föderation
ist, gilt das Vorgehen der Tschetschenen nach internationalem Recht als Invasion.
Bassajew begründete den „Separatismus-Export“ mit dem „Ruf nach brüderlicher
Hilfe“ von seiten Dagestans. Laut Bassajew hatten sich die Invasoren zum Ziel ge-
setzt, „die Unabhängigkeit des gesamten Nordkaukasus“ zu erkämpfen und eine
„große Föderation“ mit Zugang zum Kaspischen Meer und den dortigen großen
Ölvorkommen zu errichten.2 Es war kein Zufall, daß die Wahhabiten gerade Dagestan
als Operationsfeld ausgewählt haben. Dagestan befindet sich in Rußlands Wohlstands-
statistik unter allen 89 Provinzen auf dem drittletzten Platz.3 Darüber hinaus stehen
in diesem Land vitale russische Interessen auf dem Spiel: Dagestan bildet eine stra-
tegische Landverbindung über Aserbaidschan zum Iran. Es erstreckt sich entlang
des Kaspischen Meeres und verbindet Rußland mit den dortigen Ölfeldern. Auch
die Ölpipeline von Aserbaidschan zur russischen Schwarzmeerküste verläuft durch
Dagestan.
Es ist keinesfalls nur Rußland, das Probleme mit dem Wahhabismus hat. Auch in
China haben sich die Uiguren, die von den Wahhabiten unterstützt werden, in der
Provinz Sinkiang gegen die Zentralregierung erhoben.4 Tschetschenien und Sinkiang

1 Der Wahhabismus ist ursprünglich eine puritanische Bewegung des Islam aus dem 18.
Jahrhundert. Er ist heute die Staatsideologie Saudi-Arabiens.
2 Mettke, J. R., Jelzins gehorsamer Soldat, in: Der Spiegel, 33/1999, S. 125.
3 Neff, Ch., Wir bitten nicht um Gnade, in: Der Spiegel, 36/1999, S. 180-181.
4 Vagt, S., Die Uiguren von Sinkiang sollen zu Chinesen werden, in: Le Monde Diplo-
matique, September 1997, S. 14-15; Davis, A., Xinjiang learns to live with resurgent
Islam, in: Janes Intelligence Review, September 1996, S. 417; Uiguren appellieren an
Schröder, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 237, 13.9.1999, S. 9.
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sind keine isolierten Einzelfälle. Im August 1999 drangen etwa 200 wahhabitische
Rebellen aus Tadschikistan in Kirgisistan ein. Nicht nur Kirgisistans Präsident Akajew
vertritt die Ansicht, daß es den Rebellen nicht allein um den Religionskampf, son-
dern auch um die Schaffung eines Korridors für den Transport afghanischer Drogen
nach Europa geht.5 Diese grenzüberschreitende Terroraktion gewann durch ihren
Zeitpunkt an zusätzlicher Brisanz. Sie erfolgte nur einen Tag vor dem Gipfeltreffen
der Staatspräsidenten Rußlands, Chinas, Kasachstans, Kirgisistans und Tadschikistans
(der „Shanghai-Gruppe“6) in Bischkek, der Hauptstadt Kirgisistans. Themen dieser
Zusammenkunft waren grenzüberschreitende Sicherheitsfragen, Aktionen multina-
tionaler Rebellengruppen, die sich durch Drogenhandel finanzieren, sowie wirtschaft-
liche Zusammenarbeit.7 Allein in Afghanistan wurden nach UNO-Angaben 1999
rund 4.600 Tonnen Opium produziert, das vorwiegend für den europäischen Markt
bestimmt ist.8 Angebaut wird es vor allem in den von den Taliban kontrollierten
Gebieten. Der Kaukasus gilt als Brückenkopf für den Rauschgiftschmuggel von
Afghanistan nach Europa.9 In welchem Maße regionale politische Strukturen mit
Drogenkartellen verwoben sind, macht die Situation in Georgien klar: „Eduard
Schewardnadse ... hatte nach westlichen Geheimdienstangaben 1992 mit finanziel-
ler Hilfe des georgischen Drogenbarons Tengiz Kitovani georgischer Staatspräsi-
dent werden können.“10 Kitovani war darauf von 1992 bis 1994 Außenminister.
Neben der Drogenmafia machen die jeweiligen Regierungen auch ausländische Ein-
flüsse für die regionalen Unruhen verantwortlich. So entging der usbekische Präsident
Anfang 1999 nur knapp einem Bombenanschlag, dessen Drahtzieher im Lager der
Wahhabiten vermutet wurden.11 Als später zwei Terroristen zugaben, von der Türkei
unterstützt worden zu sein, und die Türkei die Auslieferung eines weiteren Attentäters
an Usbekistan verweigerte, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den beiden
Staaten dramatisch.12 Auch Rußland schließt die Beteiligung ausländischer Regierun-
gen an den Ereignissen in Tschetschenien nicht aus. Der ehemalige russische Innenmi-
nister Ruschalio beschuldigte „certain circles“ in den Vereinigten Arabischen Emiraten,
in Saudi-Arabien, in der Türkei und in Pakistan, die tschetschenischen Rebellen zu un-
terstützen.13 Daraufhin forderte Rußland die Türkei in einer diplomatischen Protestnote
auf, die Unterstützung für tschetschenische Rebellen zu unterlassen.14
5 Neue Zürcher Zeitung, Nr. 249, 26.10.1999, S. 2.
6 Benannt nach dem Ort des ersten Gipfels im Jahre 1996.
7 Vgl. hierzu Dziciolowski, Z./ Schakirow, M., Die GUS Connection, in: Focus 9/1995, S.
95-100.
8 Neue Zürcher Zeitung, Nr. 212, 13.9.1999, S. 6.
9 Ulfkotte, U., Verschlußsache BND, München 1998, S. 342.
10 Ebenda, S. 341.
11 Süddeutsche Zeitung, 17.2.1999, S. 8.
12 Vgl. Ettella’at (persisch), Nr. 21652, 22.5.1999, S. 16.
13 Kilani, S./Colver, Ch., Islam’s holy warriors join a crusade against Russian power in the
Caucasus, in: Financial Times, 26.8.1999, S. 6.
14 Vgl. Ettella’at (persisch), Nr. 21703, 22.8.1999, S. 16.
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Obwohl die Rebellen von Drittländern unterstützt werden, haben die extremen
Islamisten ihre Ziele bislang verfehlt. Es ist der russischen Regierung gelungen, durch
Medienmanipulation eine Mehrheit der Bevölkerung für den Krieg zu gewinnen.
Die Abenteurer aus Tschetschenien lieferten dafür hervorragende Begründungen:
der Überfall auf Dagestan, verschiedene Geiselnahmen, die Wohnhausexplosionen
in Moskau. (Obwohl bisher keine schlüssigen Beweise vorliegen, daß tatsächlich
Tschetschenen diese Sprengstoffanschläge verübt haben. Es kann ebensowenig aus-
geschlossen werden, daß Anschläge auf das Konto des russischen Geheimdienstes
gehen.) Dennoch ist der russische Feldzug aufgrund des wirtschaftlichen, religiösen
und ethnischen Sprengstoffs in der Region keine Garantie dafür, daß sich solche
Vorgänge wie die im letzten Jahr nicht wiederholen können. Daher bedarf es einer
Politik, die auf die Eigenheiten der Bevölkerung Rücksicht nimmt und Perspektiven
einer friedlichen Entwicklung aufzeigt. Die Vermutung aber, daß von außen eine
Infiltration erfolgt, macht es erforderlich, der Frage nachzugehen, ob es sich bei
Ereignissen wie dem Krieg in Tschetschenien um ein Ergebnis lokaler Phänomene
oder um den regionalen Schauplatz eines globalen Konflikts handelt.

Eine Anatomie des politisierten Wahhabismus

Die islamischen Bewegungen im Kaukasus haben ihren Ursprung im Afghanistan


der 80er Jahre, als die Bevölkerung im Kampf gegen die sowjetische Invasion von
„heiligen Kriegern“ aus der islamischen Welt unterstützt wurde. Zu jener Zeit ent-
stand so etwas wie eine „islamische Internationale“, die die Russen nun im eigenen
Land zu spüren bekommen. Damals wurde mit der Carter-Doktrin eine massive fi-
nanzielle Unterstützung für die Mudschaheddin mobilisiert. Die saudischen und
pakistanischen Geheimdienste (und damals auch die CIA) rekrutierten junge Muslime
für den Krieg in Afghanistan. Diese Zusammenarbeit wird bis heute fortgeführt,
wobei die Förderung der Wahhabiten ein besonderes Anliegen dieser Koalition ist.15
„Was seine gemeinsamen Wurzeln im Widerstand gegen die einstige sowjetische
Besatzung Afghanistans hat und nun im russischen Nordkaukasus so etwas wie eine
Fortsetzung findet, hätte ohne pakistanische Unterstützung und saudi-arabische Fi-
nanzierung kaum solche Auswüchse erreichen können.“16 Im Laufe der Zeit hat sich
zwischen den Taliban und dem Staat Pakistan eine „wahhabitische Allianz“ entwik-
kelt, die vor allem von den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien
unterstützt wird. In der Provinz Punjab haben die Wahhabiten ein Ausbildungslager
für 40.000 Mann übernommen, das die Amerikaner in den 80er Jahren für afghani-
sche Mudschaheddin finanziert hatten. Nach Angaben pakistanischer Menschen-
15 Adkin, M./ Yousaf, M., Die Bärenfalle. Der Kampf der Mudschaheddin gegen die Rote
Armee, Düsseldorf 1992; Chimelli, R., Eine ganz explosive Geschichte, in: Süddeutsche
Zeitung, Nr. 219, S. 3.
16 Adam, W., Wurzeln des Terrorismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 301,
27.12.1999, S. 1.
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rechtsorganisationen sind dort rund 500.000 Kämpfer für die Taliban ausgebildet
worden.17 Diese Kämpfer werden dort eingesetzt, „wo es kriselt: Tschetschenien,
Bosnien, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Algerien, Ägypten, Sudan und
Kaschmir“.18 Sie sind größtenteils mittellose Menschen, die im „Heiligen Krieg“ ihr
wirtschaftliches Heil suchen, wobei viele ihr Leben opfern.
Wie offenkundig die Verbindung der tschetschenischen Kämpfer mit dem wah-
habitischen Netzwerk in Afghanistan und Pakistan ist, zeigt der Waffenstillstands-
appell der tschetschenischen Diaspora in Moskau, in dem die russische Regierung
aufgefordert wird, den Krieg zu beenden. Kämpfer, die keine Kriegsverbrechen
begangen haben, sollten amnestiert, den „Unversöhnlichen“ die Ausreise aus Tsche-
tschenien nach Afghanistan, Pakistan und in andere Länder ermöglicht werden.19
Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß das Taliban-Regime die tschetschenische
Regierung anerkennt.20 Saudi-Arabien „ist bis heute neben reichen Islamisten aus
Pakistan und Ägypten der größte Geldgeber für die religiöse Renaissance zwischen
Aralsee und Tienschan-Gebirge“.21
Washington hieß die pakistanische Partnerschaft mit den Taliban von Anfang an
gut, denn die USA interessieren sich für die Bodenschätze Zentralasiens. Da Öl und
Gas aber weder über den Iran noch über Rußland vermarktet werden sollen, kam
man zusammen mit Pakistan auf die Idee, eine Pipeline durch Afghanistan zu füh-
ren. Voraussetzung hierfür war Frieden - den sollten die Taliban herbeischießen.
Vielfach wird behauptet, daß die USA nicht mit der Fanatisierung der Taliban ge-
rechnet hätten. Tatsache ist, daß die afghanischen Taliban und die tschetschenischen
Wahhabiten für die US-amerikanische Politik durchaus akzeptabel sind, solange sie
sich nicht gegen US-Interessen wenden. „Terrorismus ist weder das geopolitische
noch das moralische Problem, um das es hier geht. Es spielt eigentlich nur am Rande
eine Rolle.“22
Aber auch die Regierung Blair ist der Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang
eine Erklärung schuldig. Nach Angaben des „Sunday Telegraph“ vom 7. November
1999 hatte die „Internationale Islamische Front“ (IIF) für den 12. November eine
öffentliche Versammlung in London angekündigt. Die „Telegraph“-Reporter Hast-

17 Venzky, G., Kaschmir ist nur der Anfang, in: Die Zeit, Nr. 27, 1.7.1999, S. 8.
18 Ebenda.
19 Quiring, M., Mokaus tschetschenische fünfte Kolone, in: Die Welt, 26.11.1999, S. 5.
20 Lerch, W. G., Tschetschenische Glaubenskrieger, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
Nr. 21, 26.1.2000, S. 16. Wie der Radiosender „Schariat“ aus Kabul berichtete, haben
die tschetschenischen Rebellen am 23. Januar 2000 eine Botschaft in Afghanistan eröff-
net, nachdem die dort regierenden Taliban Tschetschenien eine Woche zuvor als unab-
hängige Republik anerkannt hatten.
21 Pick, U., Noch sind die „Wahhabis“ friedlich, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 226,
29.9.1997, S. 6.
22 Brzezinski, Z., Russland will Tschetschenien ganz und gar zerstören, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, Nr. 262, 10.11.1999, S. 10.
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ling und Berry berichteten, Freiwillige erhielten in Großbritannien in Lagern der IIF
eine militärische Ausbildung, um nach Tschetschenien geschickt zu werden. Der
Bericht führte zu einem Protest des ersten Stellvertreters des russischen Außenmini-
sters.23 Ein weiterer Reibungspunkt im russisch-britischen Verhältnis ist der zum
Islam konvertierte britische Staatsbürger Salih Brandt, der sich nach Angaben des
russischen Fernsehsenders „ORT“ vom 19. November 1999 bei der tschetschenischen
OSZE-Delegation in Istanbul befand. Er ist der Vertreter Tschetscheniens in Lon-
don.24

Der Tschetschenienkrieg als regionaler Schauplatz eines globalen


Konflikts

Die USA, Großbritannien und ihre regionalen Verbündeten pflegen Verbindungen


zum wahhabitischen Terrorismus. Um überprüfen zu können, welche Auswirkun-
gen dies im Tschetschenien-Konflikt hat, soll nun die Vorgehensweise des Westens
im Zusammenhang mit der aktuellen Krise betrachtet werden:
Die globale Dimension des Tschetschenien-Konflikts wird deutlich, wenn man
die strategische Lage dieser Region betrachtet. Der US-Kongreß definierte im Jahre
1997 die kaspische Region als „Zone von nationalem Interesse für die Vereinigten
Staaten“.25 Derartige Ansprüche führten geradezu zwangsläufig zu Spannungen mit
Rußland. Einen Nutzen für die eigene Entwicklung konnte Tschetschenien zwar
hieraus nicht ziehen, jedoch konnte das Gebiet als Störfaktor instrumentalisiert wer-
den.
Im Mai 1997 unterzeichneten die Präsidenten Rußlands und Tschetscheniens einen
Friedensvertrag, der die Hoffnung nährte, daß Präsident Maschadow gegenüber sei-
nen innenpolitischen Rivalen gestärkt würde und es zu einer Konsolidierung Tsche-
tscheniens kommen könnte. Diese Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht. Alexan-
der Tscherkassow, Mitarbeiter des russischen Instituts für Menschenrechte, beschreibt
die Lage folgendermaßen: „Im Januar 1997 gab es in Tschetschenien Parlaments-
und Präsidentschaftswahlen. Sie fanden unter Teilnahme vieler internationaler Be-
obachter, auch aus dem Westen, statt. So hätte man vermuten können, daß es dort
sowohl ein Parlament als auch einen Präsidenten und irgendwelche administrativen
Strukturen gibt. In der Realität gelang das leider nicht. Während des ersten Krieges
simulierte die tschetschenische Seite mit Erfolg die Existenz einer Staatlichkeit mit
einheitlicher Führung, um offizielle Konfliktpartei zu werden. ... Als man dann die
Funktionen der Staatsmacht ausüben mußte, entstand etwas Mittelalterliches: Ver-
23 Vgl. auch „Wir sind zum vollständigen Sieg verurteilt“, Interview mit Alexander Awdejew,
Erster Stellvertreter des russischen Außenministers, in: Die Welt, 18.11.1999, S. 7.
24 Martan, A., Russische Truppen melden weitere Eroberungen, in: Neue Zürcher Zeitung,
Nr. 287, 9.12.1999, S. 3.
25 De la Gorce, P.-M., Die NATO und ihre Südosterweiterung, in: Le Monde Diplomatique,
März 2000, S. 10f., Zitat S. 11.
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schiedene Militärkommandeure, anders gesagt: Freiherren und Barone mit ihren


Gefolgen erhielten verschiedene Branchen des Staatswesens zu ihrer Verfügung. ...
Irgendwer wurde zur Grenzpolizei, irgendwer zur Zollbehörde, irgendwer zur Steu-
erbehörde. ... Die Abteilung für Staatssicherheit beschäftigte sich mit der Festnah-
me von Geschäftsleuten und ihrer späteren Freilassung, natürlich gegen Geld.“26
Wenn die Staatssicherheit selbst an den Geiselnahmen beteiligt gewesen war, kann
man auch davon ausgehen, daß Präsident Maschadow informiert gewesen ist. Es ist
auch nicht verwunderlich, daß Feldkommandanten Staatseigentum für ihre Ziele
benutzt haben und sich Privatpersonen gefügig machten. Präsident Maschadow spielte
ein doppeltes Spiel: Zunächst behauptete er, die Dagestan-Aktion sei das Werk aus-
ländischer Geheimdienste, dann erklärte er, nur einige „Privatpersonen“ aus Tsche-
tschenien beteiligten sich an den Kämpfen. Später jedoch ernannte Maschadow eine
dieser „Privatpersonen“, den ehemaligen Premier- und Verteidigungsminister Bas-
sajew, zum Kommandanten des östlichen Frontabschnitts.
Die Eskalation des bewaffneten Konflikts zwang mehr als 500.000 Menschen,
Tschetschenien zu verlassen. Die tschetschenische Gesellschaft spaltete sich. In der
religiösen und politischen Elite Tschetscheniens brachen tiefgreifende Meinungs-
unterschiede auf. So weigerte sich der höchste geistliche Führer Tschetscheniens,
Mufti Ahmad Hadschi Kadyrow, den Heiligen Krieg gegen Rußland auszurufen,
worauf ihn Präsident Maschadow zum Verräter erklärte. Kadyrow organisierte spä-
ter die kampflose Übergabe der Stadt Gudermes.27 In mehreren Orten vertrieben
kriegsmüde Tschetschenen aus Angst vor russischen Bombardements die Rebellen.28
Jene wiederum reagierten brutal gegenüber allen „Kollaborateuren“. In den „Sicher-
heitszonen“ Nordtschetscheniens brachten tschetschenische Freischärler Zivilisten
wegen Kollaboration mit den russischen Truppen um.
Sowohl Tschetschenen wie auch Russen haben in diesem Krieg eindeutig ihre
Mißachtung der Menschenrechte demonstriert. Die westliche Presse erweckt hinge-
gen oft den Anschein, daß im wesentlichen nur die russische Seite Menschenrechts-
verletzungen begangen hätte. Dadurch spielt sie aber der russischen Diplomatie
geradezu in die Hände. Diese behauptet, die Menschenrechtsfrage sei „ein Trojani-
sches Pferd, mit dem die NATO weltweit die Integrität souveräner Staaten aufbre-
chen will“.29
Der Westen hat in dieser Situation eine Politik praktiziert, die aus Drohungen
und Belohnungen bestand. Einerseits boten die USA den Russen die Dienste ihrer
Sicherheitsexperten zur Terroristenbekämpfung an.30 Andererseits wurde das mili-
26 Internationaler Arbeitskreis e.V. i.Gr. (IAK e.V.), Interview mit Alexander Tscherkasow
(Mitarbeiter der Moskauer Stiftung „Memorial“) vom 1.1.2000 in Uljana, unveröffent-
lichtes Manuskript; zitiert mit freundlicher Genehmigung des IAK e.V.
27 Wolkowa, I., Moskau ließ Vollebaek abblitzen, in: Neues Deutschland, 1.12.1999, S. 2.
28 Die Welt, 9.11.1999, S. 7.
29 Thumann, M., Wie der Stahl gehärtet wird, in: Die Zeit, Nr. 49, 2.12.1999, S. 11.
30 Neue Zürcher Zeitung, Nr. 210, 10.9.1999, S. 2.
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tärische Vorgehen der russischen Armee gegen die tschetschenischen Rebellen mit
dem Argument verurteilt, Terroristen seien nicht mit der Armee, sondern mit poli-
zeilichen Mitteln zu bekämpfen. Die EU drohte gar mit der Annullierung des Partner-
schaftsvertrages mit Rußland. Dann aber berichtete der ehemalige russische Pre-
mierminister Stepaschin von der Zustimmung westlicher Politiker für die russi-
sche Unterdrückungspolitik.31 Wie läßt sich dies erklären?
Der Widerspruch löst sich auf, wenn man versucht, den „roten Faden“ in der
westlichen Diplomatie zu finden. Trotz aller Bedenken rund um die Mißachtung der
Menschenrechte erklärte NATO-Generalsekretär Robertson zum Tschetschenien-
krieg: „... an sich ist es keine Angelegenheit, welche die Allianz betrifft: Es ist ein
Konflikt innerhalb Rußlands, mit dem unsere Beziehungen vertraglich ... geregelt
sind.“32 Doch die regionalen Machtansprüche Rußlands veranlassen die NATO, die
Grenzen ihrer Toleranz zu demonstrieren: „Die NATO hat wissen lassen, daß sie im
Falle eines Falles Baku und Tiflis helfen werde.“33 Zbignew Brzezinski hat die In-
teressen und das Vorgehen der USA sehr offen dargelegt: „Darüber hinaus wird
dieser Konflikt, sollte er nicht bald zu Ende sein, vermutlich auch die südkaukasische
Region destabilisieren. ... Ein militärischer Erfolg in Tschetschenien wird vermut-
lich die Falken in Moskau anspornen, sich Schewardnadse gefügig zu machen oder
ihn zu eliminieren und damit gleichzeitig Georgien zu unterwerfen. Zusätzlich wür-
de dadurch die amerikanische Politik im Südkaukasus und in Zentralasien nachtei-
lig berührt werden. Ein unterworfenes Georgien bedeutete, ... daß Moskau die poli-
tische Kontrolle über die Erdölleitung von Baku nach Supsa gewönne.“34 Manche
westeuropäischen Beobachter argumentieren in ähnlicher Weise: „Auch bei der In-
vasion Tschetscheniens ging es nicht um abstrakte völkerrechtliche Prinzipien. ...
Es ging um die Kontrolle der über russisches Gebiet führenden Ölleitung von Baku
über Grosny nach Noworossijsk, dem einzigen Rußland verbliebenen Schwarzmeer-
hafen.“35 Auch auf der russischen Seite werden die Interessen deutlich formuliert.
So bekannte Sergej Karaganow, der außenpolitische Chefberater des damaligen
Präsidenten Jelzin, die Ausübung von politischem und wirtschaftlichem Druck auf
Georgien und Aserbaidschan sei „traditionelle russische Politik“. Die USA betrach-
teten ja auch Lateinamerika als ihren „Hinterhof“.36 Angesichts dieser Logik ist klar,
daß sich Rußland nicht in seine Kaukasuspolitik hineinreden läßt und keine Ver-
mittlung von außen dulden wird.

31 Vgl. Berliner Zeitung, Nr. 293, 15.12.1999, S. 8.


32 Vgl. Focus, 46/1999, S. 376.
33 Wehner, M., Wird sich der Konflikt in Tschetschenien zu einem Flächenbrand auswei-
ten? in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 266, 15.11.1999, S. 2.
34 Brzezinski, Z., (Anm. 22), S. 10.
35 Kirsch, B., Vielvölkerstaat mit starken Minderheiten, in: Das Parlament, Nr. 34, 20.8.1999,
S. 15.
36 Ebenda.
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128 Behrooz Abdolvand / Harald Etzbach

Während der Westen bestrebt ist, die kaukasische Region über Institutionen wie
die OSZE in den gewünschten Rahmen zu integrieren und dabei Rußland in seinem
Aktionsradius zu begrenzen, unternimmt Rußland den Versuch, durch imperiale
Machtausübung die Entwicklungen in der Region zu beeinflussen. Dabei kann Ruß-
land zweifellos auch diplomatische Erfolge vorweisen. So heißt es in der Tsche-
tschenien-Erklärung des OSZE-Gipfels in Istanbul: „Wir unterstreichen nachdrück-
lich, daß wir die territoriale Integrität der Russischen Föderation voll und ganz aner-
kennen und den Terrorismus in allen seinen Formen verurteilen.“37 Aber am Rande
dieser Konferenz haben die Präsidenten von Aserbaidschan, Georgien und der Tür-
kei auch einen Vertrag über eine Pipeline von Baku zum türkischen Mittelmeerha-
fen Ceyhan unterzeichnet, die 2004 fertiggestellt sein soll. An ihrem Bau sind als
vierter Partner die USA interessiert. Der Verlauf der Pipeline schließt eine russische
Einflußnahme aus. Rußlands Verteidigungsminister Sergejew hat daraufhin den
beteiligten Staaten vorgeworfen, sie versuchten sein Land aus dem Transkaukasus
und aus Zentralasien zu verdrängen.38
Dieses Projekt war nicht die erste Niederlage Rußlands. Im April 1999 wurde im
georgischen Hafen Supsa eine Pipeline eingeweiht, mit der Erdöl aus Aserbaidschan
nach Westeuropa geliefert werden kann, ohne Rußland zu durchqueren. Diese Pipe-
line gilt als Teil des NATO-Sicherheitssystems und stellt eine Alternative zu jener
dar, die Baku via Tschetschenien mit Noworossijsk verbindet.39 Trotz der Versiche-
rung des US-amerikanischen Sicherheitsberaters Sandy Berger, „das Abkommen
richte(t) sich in keiner Weise gegen Rußland“40, erklärte der russische Außenmini-
ster Iwanow, „in der kaspischen Region und im Kaukasus vollzieht sich ein offen-
sichtlicher Kampf um Einflußzonen. Amerika versucht, Rußland und Iran aus der
Region zu verdrängen.“ Dieses Pipelineprojekt sei nicht rentabel und werde nur
„wegen des starken politischen Drucks der Vereinigten Staaten“ verwirklicht, so
Iwanow.41 Daß Iwanow recht behalten kann, zeigt eine Analyse des „Economist“.
Dort heißt es: „...no significant new oil reserves have been found offshore in Azer-
baijan ... and now some of the consortia searching for the stuff are packing up and
going home.“42 Warum also setzen sich die USA für diese wirtschaftlich zweifelhaf-
te Pipeline so ein? Die Antwort liegt nicht in der Eigenschaft des Öls als Energie-
ressource an sich, sondern in seiner weltwirtschaftlichen Bedeutung.

37 Grobe, K., An Moskau vorbei, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 271, 20.11.1999, S. 2.
38 Ebenda.
39 Radvanyi, J., Russischer Wahlkampf im Kaukasus, in: Le Monde Diplomatique, No-
vember 1999, S. 4; Süddeutsche Zeitung, Nr. 89, 19.4.1999, S. 27.
40 Neue Zürcher Zeitung, Nr. 270, 19.11.1999, S. 2.
41 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 280, 1.12.1999, S. 2.
42 The Caspian’s Black holes, in: The Economist, 13.3.1999, S. 86.
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Kaspisches Öl als geopolitisches Phänomen

Die Erschließung neuer Energiequellen berührt die Binnenwirtschaft der produzie-


renden Länder wie auch deren Außenhandel und damit auch ihre Bündnis- und
Außenpolitik. Einer der wichtigsten Indikatoren bei der Energieproduktion ist die
Exportquote, die sich aus der Differenz zwischen der Produktion eines Landes und
dem Verbrauch der Energieressourcen im Land selbst errechnet. Als die Sowjetuni-
on noch existierte, besaßen die Länder der Region nur eine geringe Überschuß-
produktion. Aserbaidschan etwa produzierte im Jahre 1988 13,7 Millionen Tonnen
Rohöl43 und verbrauchte 8,3 Millionen Tonnen44, was eine jährliche Überschuß-
produktion von 5,4 Millionen Tonnen bedeutete - die durchschnittliche Export-
kapazität Saudi-Arabiens an einem Tag.
Der Eigenverbrauch an Öl in den Ländern Mittelasiens und des Kaukasus hat
sich seit Ende der 80er Jahre drastisch vermindert45, was auf den Abbau industriel-
ler Kapazitäten nach dem Zerfall der UdSSR zurückzuführen ist. Hierbei handelt es
sich also nur um eine temporäre Steigerung der Exportkapazitäten, die bei einer
Reaktivierung der regionalen Wirtschaft wieder zurückgehen würde, was die Be-
deutung der zentralasiatischen Ölreserven für die Diversifizierung der Energieimporte
in die Industrieländer reduziert. Außerdem exportierte die Sowjetunion früher jähr-
lich 100 Millionen Tonnen Erdöl in andere osteuropäische Länder.46 Trotz der der-
zeitigen Drosselung fossiler Energieimporte47 gelten diese Länder ebenso wie die
ressourcenarmen ehemaligen Sowjetrepubliken (z.B. die Ukraine) aufgrund der
bestehenden Infrastruktur und der geographischen Nähe als potentielle Märkte für
die Öl- und Gasüberschüsse aus der kaukasischen Region.
Auch die Erdgasproduktion der beiden regionalen Großproduzenten Aserbai-
dschan und Kasachstan hat sich dramatisch reduziert. Die aserbaidschanische Pro-
duktion ist von zehn Millionen Tonnen im Jahre 1988 auf 4,7 Millionen Tonnen im
Jahre 1998 gesunken. Turkmenistans Produktion sank im gleichen Zeitraum sogar
von 74,1 Millionen auf 10,5 Millionen Tonnen. Während Aserbaidschans Gas-
produktion etwa den Eigenverbrauch deckt, besitzt Turkmenistan durchaus Kapazi-
täten für eine Produktionssteigerung.48 Die Produktionsverminderung, besonders in
Turkmenistan, ist durch ein spezifisches Vermarktungsproblem bei Erdgas bedingt:
zuerst müssen Abnehmer gefunden werden, erst dann kann die Förderung beginnen.
Bis zum Zerfall der UdSSR hatte Turkmenistan sein Erdgas in andere Sowjetrepu-
bliken geliefert. Danach begann es, die russischen Gasleitungen für den Export in
43 BP Amoco Statistical Review of World Energy, June 1999, S. 6.
44 Ebenda, S. 9.
45 Ebenda.
46 Vgl. Die Energiefrage in der Sowjetunion, in: Österreichische militärische Zeitschrift 5/
1981, S. 409.
47 Massarrat, M., Das Dilemma der ökologischen Steuerreform, Marburg 1998.
48 BP Amoco Statistical Review of World Energy, June 1999, S. 22.
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130 Behrooz Abdolvand / Harald Etzbach

die Ukraine und nach Westeuropa zu nutzen. Wegen der schlechten Zahlungsmoral
der Ukraine und der hohen Transitkosten in Rußland mußte Turkmenistan seine Pro-
duktion jedoch drosseln. Allerdings verfügt es nur über knapp zwei Prozent der
weltweiten Gasvorkommen, ein im Vergleich zu Rußland (33 Prozent) und dem
Iran (16 Prozent) bescheidener Anteil.49
Die Ölreserven der Region sind von relativ geringer Bedeutung. In Aserbaidschan
(sieben Milliarden Tonnen) und Kasachstan (acht Milliarden Tonnen) lagern nur
jeweils 0,7 bzw. 0,8 Prozent der weltweiten Ölvorkommen, während beispielsweise
auf den Persischen Golf 64 Prozent entfallen.50 Es stellt sich die Frage, warum vor
allem die US-Regierung mit solchem Eifer von einem „Jahrhundertgeschäft“ spricht,
obwohl aus energiewirtschaftlicher Sicht eine derartige Begeisterung kaum zu recht-
fertigen ist. Wozu braucht der Weltölmarkt kaspisches Öl, wenn problemlos auf die
irakische Ölproduktion mit einen Tagessatz von drei Millionen Tonnen und Reser-
ven von über 90 Milliarden Barrel verzichtet werden kann?
Hinter den scheinbar wirtschaftlichen Interessen bestimmen macht- und geopo-
litische Ambitionen das amerikanische Vorgehen: „Öl aus Aserbaidschan zu pum-
pen ermöglicht uns, die westlichen Interessen direkt in das Staatensystem der frühe-
ren Sowjetunion auszudehnen. Verbunden damit sind die Ziele, den Iran zu isolie-
ren und die Energieressourcen zu sichern - auch vor China.“51 Der einstige US-Di-
plomat W. Merry äußerte besorgt, seine Regierung habe ihre Projekte mit völlig
unnötigen Provokationen der regionalen Mächte Rußland und Iran durchgezogen.52
Die USA versuchen, die Länder der kaspischen Region sowohl politisch als auch
wirtschaftlich von Rußland zu lösen, um eine neue Union unter russischem Einfluß
zu verhindern: „Sollte es Moskau gelingen, die Oberherrschaft am Kaspischen Meer
zu erlangen“, schrieb der ehemalige US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger,
„so wäre dieser Sieg für den Westen vielleicht bedeutsamer als die NATO-Erweite-
rung.“53
Welches Ziel soll mit dieser Strategie erreicht werden? Sollen der Iran, Rußland
und China aus der Region ferngehalten werden? Verbergen sich hinter diesem vor-
dergründigen Ziel latente Widersprüche, die man coram publico nicht diskutieren
möchte? Die weltweite Durchsetzung des neoliberalen Freihandels, wie sie von den
USA angestrebt wird, macht die oben beschriebene Strategie geradezu erforderlich.
Nach dem Ende der Sowjetunion hat sich der Antagonismus zwischen „real existie-
rendem Sozialismus“ und „Kapitalismus“, der sich militärisch in der Konfrontation

49 Ebenda, S. 20.
50 Ebenda, S. 4.
51 Bülent, Aliriza, Washingtoner Berater des Ölkonzerns Amoco, zitiert bei Schmidt-Häuer,
Ch., Willkommen im Kalten Krieg, in: Die Zeit, Nr. 49, S. 10.
52 Ebenda.
53 International Herald Tribune, 10./11.5.1997, zitiert nach Cheterian, V., Kaukasische
Pipelinenetze und politische Knotenpunkte, in: Le Monde Diplomatique, Oktober 1997,
S. 20.
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Der zweite Tschetschenienkrieg 131

von NATO und Warschauer Pakt manifestierte, aufgelöst. Statt dessen hat sich der
Nordatlantikpakt nach dem Zerfall des östlichen Militärbündnisses in Richtung Osten
erweitert, zum einen durch die Aufnahme neuer Mitglieder und zum anderen im
Rahmen des Konzepts „Partnership for Peace“. Die neue Strategie der NATO er-
laubt es ihr, sich auch über das Bündnisgebiet hinaus militärisch einzusetzen, wenn
es ihr erforderlich scheint. Der Krieg im Kosovo war ein erster Ausdruck dessen.
Offensichtlich ist der Kapitalismus nicht mehr von außen bedroht, vielmehr be-
drohen ihn die systemimmanenten Gegensätze. Eine Erweiterung der NATO nach
Osten soll vor diesem Hintergrund die Basis für das Management jener Krisen er-
möglichen, die der Kapitalismus in seiner neoliberalen Gestalt hervorruft. Die USA
sahen sich nach dem Ende des Kalten Kriegs mit der Herausforderung konfrontiert,
das neoliberale Modell und damit ihre Vorherrschaft als führender Finanzmarkt gegen
merkantilistische und staatsinterventionistische Widerstände weltweit auszudehnen.
Durch die Erweiterung der NATO ist es den USA gelungen, potentielle Herausfor-
derer entweder zu integrieren (Deutschland) oder in Schach zu halten (Rußland).
Obwohl momentan viel vom Wirtschaftsboom in den USA geschwärmt wird, ist
klar, daß bei steigenden Handelsbilanzdefiziten (1998: 262 Milliarden US-Dollar),
schleppenden Produktivitätsfortschritten, unzureichenden Investitionen in Industrie
und Infrastruktur, der beispiellosen privaten Verschuldung und nicht zuletzt der
gewaltigen Finanzblase an der Börse weder die Kontrolle über die NATO noch die
militärische Dominanz helfen kann, wenn es darum geht, sich gegenüber den wirt-
schaftlichen Rivalen in Europa und Ostasien zu behaupten. Deshalb werden Instru-
mente benötigt, um die US-amerikanischen Interessen gegenüber den „verbündeten
Rivalen“ durchsetzen zu können. Eines dieser wirtschafts- und machtpolitischen
Instrumente besteht in der Kontrolle über die weltweiten Energieressourcen, zumal
die EU und Japan ganz erheblich vom Import fossiler Rohstoffe abhängig sind. Ei-
nerseits soll die Vermarktung von Öl und Gas vorrangig über US-amerikanisch kon-
trollierte Leitungen und Häfen erfolgen. Andererseits sollen Öl und Gas internatio-
nal hauptsächlich per US-Dollar gehandelt werden. Seit der Ölkrise der 70er Jahre
ist klar, wie dramatisch eine globale Ölknappheit die Weltmarktpreise steigen läßt.
Da die Ölgesellschaften der USA den Weltmarkt seit 1945 fest in der Hand haben,
ist es üblich, internationale Ölrechnungen in US-Dollar zu bezahlen. So steigt mit
dem Ölpreis auch die Nachfrage nach dem Dollar, was den von Handelsbilanzdefiziten
induzierten Abwertungsdruck von der US-Währung nimmt. Die Bedeutung des
Dollars als internationales Zahlungsmittel für den Erhalt der USA-Hegemonie wird
von Altvater / Mahnkopf ausdrücklich betont: „... das nationale Geld ist zugleich als
Weltgeld internationales Kaufmittel. ... Die Doppelfunktion des Dollars als nationa-
les und als Weltgeld erlaubt es den USA, durch ihre Geld- und Kreditschöpfung
Ansprüche auf das Wertprodukt anderer Volkswirtschaften zu produzieren ... Die
Optionen der USA sind allerdings nur so lange offen, wie der Dollar wirklich als
Weltgeld, in dem die internationalen Kontrakte denominiert werden, akzeptiert
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132 Behrooz Abdolvand / Harald Etzbach

wird.“54 Verlöre der Dollar seine Weltgeldfunktion an andere Währungen (an den
Yen oder den Euro), verlören die USA ihre Möglichkeiten, die Seignorage-Vorteile
zu akquirieren. „Daher balanciert die Politik der geld- und fiskalpolitischen Instan-
zen der USA auf dem Grat zwischen Abwertungsoption, die Schuldenentlastung
bedeutet, und Versuchen der Wertsicherung des Dollars, die die Seignorage-Vortei-
le der Hegemonialwährung erhält und das System insgesamt stabilisiert.“55 Zur Sta-
bilisierung des Dollars brauchen die USA eine weltweite Kontrolle über jene strate-
gischen Rohstoffe, die nicht nur für die Zahlungswährung Dollar finanzpolitisch
relevant sind, sondern ohne die auch der materielle Produktionsprozeß gelähmt würde.
Solch ein strategischer Rohstoff ist Öl. Wie entschieden diese Politik verfolgt wird,
zeigt der letzte Kontrollakt der USA im Persischen Golf.56
Ab März 1999 stieg der Ölpreis aufgrund einer saudisch initiierten Drosselung
der Ölproduktion durch die OPEC (sie hatte ihre Tagesproduktion um 1,7 Millionen
Tonnen reduziert), wodurch der US-Dollar gestärkt und Euro sowie Yen geschwächt
wurden. Wenn der Irak täglich, wie die UNO es gestattet hat, zwei Millionen Ton-
nen Rohöl exportiert, wird der Ölpreis rasch nachgeben. Der Druck, den die Öl-
preiserhöhungen auf den Euro und den Yen ausübten, würde nachlassen. Nach dem
Ölpreisanstieg von 1999 sprachen Analytiker von Inflations- und Rezessionsgefahren,
so daß die amerikanische wie die europäische Zentralbank eine Veränderung der
Leitzinsen vornahm. „Doch solche Befürchtungen und Warnungen gehen an der
Wirklichkeit vorbei, weil dabei weder die Preisentwicklung, bezogen auf einen fi-
xen Dollarpreis, berücksichtigt wird noch die erheblichen Umwälzungen der Welt-
wirtschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten und schon gar nicht der deutliche
Rückgang des Anteils, den das Öl im Welthandel ausmacht. ... Im Unterschied zu
Westeuropa und Japan verfügen die USA über Energiequellen, die ihnen langfristig
eine Selbstversorgung für den Notfall ermöglichen. Und sie können sich aufgrund
ihrer priviligierten Position auf dem globalen Energiemarkt in Krisenzeiten wesent-
lich leichter ,bedienen‘ als alle anderen Staaten. ... Diverse Signale, die von den
USA wie von den ihnen verbundenen Förderländern (Saudi-Arabien, Venezuela und
Mexiko) ausgehen, lassen vermuten, daß der Ölpreisanstieg von 1999 den Beginn
einer neuen Phase markiert. Die drei genannten Länder haben eine führende Rolle
bei den Abkommen über die Begrenzung der Fördermenge gespielt, wobei sie of-
fenbar die Rückendeckung der amerikanischen Regierung genossen, die jedenfalls
keine Einwände geltend machte. ... Die USA müssen damit wohl oder übel Ölpreise
akzeptieren, die hoch genug sind, um Anreize für Investitionen in die Erschließung
54 Altvater, E./ Mahnkopf, B., Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Poli-
tik in der Weltgesellschaft, Münster, 1997, S. 426.
55 Ebenda.
56 Die US-Marine hatte Anfang Februar 2000 in einer spektakulären Operation einen russi-
schen Tanker, der nach US-Angaben unter Verdacht stand, irakisches Erdöl geschmug-
gelt zu haben, aufgebracht und das geladene Öl später in den Arabischen Emiraten ver-
steigert, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 29, 4.2.2000, S. 3.
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Der zweite Tschetschenienkrieg 133

und Ausbeutung von Ölvorkommen zu bieten - in den USA wie in anderen Teilen
der Welt, wie aktuell vor allem in der kaspischen Region. Das war ihre Strategie
bereits Anfang der 70er Jahre und dann wieder nach dem Preisverfall von 1985/
86.“57
Natürlich sind sich auch die westeuropäischen Regierungen dieser Mechanis-
men bewußt. Daher betreiben sie unausgesprochen eine andere Politik als die USA.
Das zeigt sich auch in der kaspischen Region. Während die USA danach streben, die
Energieressourcen der kaspischen Region über die Türkei zu vermarkten, damit die
US-Mittelmeerflotte die Transporte überwachen kann, sind die Europäer für eine
Diversifizierung der Routen. Auch hat die EU einen Vertrag für die Energieressourcen
der Region durchgesetzt, der niemanden ausschließt und der für Entwicklung und
Entspannung in der Region sorgen soll.58 Freilich sind es keineswegs altruistische
Motive, welche die westeuropäische Politik gegenüber Zentralasien und dem Kau-
kasus bestimmen. Westeuropa ist schon aufgrund seiner größeren geographischen
Nähe erheblich stärker von Destabilisierungstendenzen in der Region betroffen, etwa
in Form von Fluchtbewegungen. Die Westeuropäer sehen die Region vorwiegend
aus energiepolitischer Sicht. Sie wissen, daß der Ausschluß Rußlands und des Irans
politische Krisen verursachen kann, die von den USA, der NATO und der EU nicht
einseitig zu bewältigen sind. Demgegenüber streben die USA nach einer traditionel-
len machtpolitischen Hegemonie. Auch wenn dieses Ziel nicht mehr vollkommen
realisierbar ist, bewirkt der US-amerikanische Einfluß auf multilaterale politische
Entscheidungen (speziell der G-7), daß fast alle beteiligten Staaten gleiche diploma-
tische Formulierungen gebrauchen, tatsächlich aber unterschiedlich denken und
handeln. Die realen Interessendifferenzen führen zu politischen Reibungen. Dies
hat sich im Kosovokrieg und jetzt auch in Tschetschenien gezeigt. Die amerikani-
sche Politik kommt zunehmend mit jener integrativen Rolle in Konflikt, die Ruß-
land sich selbst zugedacht hat. Wie dies auf Mittelasien und den Kaukasus wirkt,
soll im folgenden dargestellt werden.

„Atmosphärische Kollateralschäden“ im Verhältnis zwischen der


NATO und Rußland

Auch bei jenen, die in den letzten Jahren dazu neigten, Rußlands Interessen und
seinen weltpolitischen Beitrag für belanglos zu halten, hat sich in jüngster Zeit ein
Sinneswandel vollzogen. Dieser erfolgte, nachdem Rußland auf die Gefährdung
seiner nationalen Einheit und gegenüber westlichen Eindämmungsversuchen mit
einem harten Vorgehen in Tschetschenien, einer veränderten Sicherheitsdoktrin und
57 Sarkis, N., Die nächste Ölkrise kommt bestimmt, in: Le Monde Diplomatique, März 2000,
S. 1 und S. 16.
58 Vgl. Erler, G., Zukunftsregion Kaspisches Meer. Deutsche Interessen und Europäische
Politik in der transkaukasischen und zentralasiatischen Region, http://www.gernot-
erler.de/htm1/ot/ot1.htm1.
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134 Behrooz Abdolvand / Harald Etzbach

einer verstärkten militärischen Kooperation mit China und Indien reagiert hatte. Mit
der neuen russischen Sicherheitsdoktrin wird erstmals seit dem Ende der Sowjetuni-
on wieder in einem offiziellen Dokument der Westen beschuldigt, die militärische,
wirtschaftliche und politische Schwächung Rußlands anzustreben.59 Das Dokument
ist Ausdruck eines grundlegenden Wandels der russischen Politik gegenüber dem
Westen nach dem NATO-Einsatz im Kosovo.60
Der Kosovo-Konflikt zeigt exemplarisch die Befindlichkeiten im russisch-ame-
rikanischen Verhältnis, wie auch der Moskau-Besuch von NATO-Generalsekretär
Robertson im Frühjahr 1999 verdeutlicht hat.61 Im gemeinsamen Kommuniqué ver-
sicherte man einander, „sich an das Völkerrecht zu halten, namentlich an die UN-
Charta, die Helsinki-Schlußakte und OSZE-Charta über europäische Sicherheit“.62
Ob die NATO damit zugegeben hat, daß sie während der Luftangriffe auf Jugosla-
wien gegen die UN-Charta verstieß? Die Formulierung des Kommuniqués läßt ah-
nen, daß beide Seite einen Zusammenhang zwischen dem NATO-Krieg im Kosovo
und dem russischen Vorgehen in Tschetschenien sehen. In der Tschetschenienfrage

59 Vgl. Safranchuk, I., Atomare Abrüstung und die russischen Interessen, in: WeltTrends,
Nr. 26, 2000, S. 41-57.
60 Einen Einblick in die außenpolitischen Vorstellungen, die diesem Dokument zugrunde
liegen, gab der Duma-Abgeordnete Rogozin: „Wir wollen die Festigung der Position
Russlands als Supermacht, als eines der einflußreichen Zentren in einer multipolaren
Welt.“ Eine Priorität seien dabei die Beziehungen zu den Nachbarländern der GUS. Be-
sonders die Anbindung Weißrußlands solle vorangebracht werden. Rogozin zufolge könn-
ten sich an einem neuen Bundesstaat mit Weißrußland später auch Armenien und ein
zentralasiatisches Land anschließen. Rogozin unterstrich auch die andauernde Relevanz
der russischen Atomwaffen-Arsenale. Die NATO habe mit ihrem Einsatz im Kosovo
außerhalb der Bündnisgrenze gehandelt und zudem konkrete Interessen in der Region
des Kaspischen Meers deutlich gemacht. Daher müsse sich Rußland auf sein nukleares
Potential als einziges zuverlässiges Mittel der Abschreckung stützen. Unversöhnlich war
Rogozin auch in der Tschetschenienfrage. „Der Westen und speziell die USA wollen mit
ihrem lautstarken Protest gegen die Aktion in Tschetschenien bloß von ihrem Vorgehen
im Kosovo-Krieg ablenken.“ Rußland habe die Aufgabe, mit dem Kaukasus-Feldzug die
Verbreitung des Banditentums in der Region zu verhindern. Heimann, D., Russland muss
seine Position als Großmacht festigen, in: Der Tagesspiegel, Nr. 16967, 17.2.2000, S. 9.
61 Auf einer Pressekonferenz mit Außenminister Igor Ivanov erklärte Robertson, dies sei
„ein sehr wichtiger Tag“ für die Beziehungen zwischen West und Ost. Pikanterweise
hatten zuvor hochrangige russische Militärs versucht, auf eine Ausladung des NATO-
Generalsekretärs hinzuwirken. Ihrer Ansicht nach mache „ein Treffen... keinen Sinn,
solange Brüssel sich nicht für den Einsatz auf dem Balkan und den ,Bombenterror’ ent-
schuldigt.” Demgegenüber betonte Robertson im offensichtlichen Bestreben, die atmo-
sphärischen Kollateralschäden in den beiderseitigen Beziehungen zu beheben, daß russi-
sche und NATO-Soldaten im Kosovo ,Seite an Seite’ operierten. „Aus der Kosovo-Krise
haben beide Seiten, die NATO genau so wie Russland, ihre Lehren gezogen.“ Hatman,
J., Russland und NATO wieder im Dialog, in: Die Welt, 17.2.2000, S. 9.
62 Neue Zürcher Zeitung, Nr. 40, 17.2.2000, S. 2.
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Der zweite Tschetschenienkrieg 135

hatte Robertson Verständnis für das Moskauer Vorgehen geäußert.63 Auch US-Prä-
sident Clinton wählte moderate Worte.64 Wie nachgiebig sich die westliche Diplo-
matie mittlerweile gegenüber Rußland verhält, zeigen ebenso Äußerungen deutscher
Politiker.65
Die Umschuldungsverhandlungen über die verbliebenen Verbindlichkeiten aus
der Zeit der Sowjetunion in Höhe von 31,8 Milliarden US-Dollar mit dem Londoner
Club der Kreditbanken am 13. Februar 2000 liefen ebenfalls reibungslos. 10,6 Mil-
liarden US-Dollar wurden völlig erlassen, der Rest mit niedrigen Sätzen verzinst.
Die Vereinbarung wird vor allem für jene enttäuschend sein, die finanziellen Druck
auf Rußland als Strafmaßnahme für den Tschetschenienkrieg befürwortet hatten.66
Der Westen ist offenbar trotz empörter Erklärungen nicht gewillt, entschieden ge-
gen Rußland vorzugehen, aber auch nicht in der Lage dazu. Die demonstrative Kür-
zung der jährlichen EU-Hilfe im Rahmen des TACIS-Hilfsprogramms von 250 auf
80 Millionen DM blieb nur eine gegenstandslose Demonstration, da die EU das Geld
in humanitäre Projekte in Tschetschenien fließen läßt, was eine Entlastung Ruß-
lands im Zusammenhang mit den tschetschenischen Flüchtlingen bedeutet. Im übri-
gen finanziert Rußland seinen Feldzug primär durch die stark gestiegenen Erlöse
seiner Erdölexporte.

Georgien - der nächste Konfliktschauplatz?

Faktisch wird Rußland wieder zunehmend als Großmacht anerkannt. Strafaktionen


sind nur gegen kleine, militärisch schwache Länder möglich. Hinter Moskaus rück-

63 Der Tagesspiegel, Nr. 16963, 13.2.2000, S. 7.


64 Während Rußland in Tschetschenien bombte, sagte Clinton in einem Interview mit CNN
am 14. Februar 2000 über Interimspräsident Putin: „Meiner Ansicht nach können die
USA mit diesem Mann Geschäfte machen...“ Bezüglich Tschetscheniens räumte er ein:
„Rußland hat das Recht, gegen paramilitärische, terroristische Kräfte vorzugehen.“ Auf
die Frage, warum sich die westlichen Länder im Falle Tschetscheniens nicht ebenso ver-
hielten wie im Kosovo-Konflikt, antwortete Clinton: „Ich denke nicht, daß die Situatio-
nen gleich sind.“ Auszüge aus diesem Interview sind in der International Herald Tribune,
15.2.2000, S. 4, veröffentlicht worden.
65 Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping erklärt in Moskau: „Deutschland darf
seine Beziehung zu Russland nicht allein im Lichte des Tschetschenien-Konflikts be-
trachten.“ Zudem habe Rußland das Recht, seine territoriale Integrität zu verteidigen und
gegen Terrorismus vorzugehen. Scharping lobte die Zusammenarbeit der russischen und
westlichen KFOR-Truppen im Kosovo und äußerte den Wunsch, daß die russischen Ein-
heiten nicht aus dem Kosovo abgezogen werden. Außenminister Joseph Fischer kam den
Russen einen noch größeren Schritt entgegen und erklärte: „Es darf nicht zu einer Unter-
stützung des islamischen Terrorismus kommen.“ Hannoversche Allgemeine Zeitung, Nr.
18, 22.1.2000, S. 2.
66 Neue Zürcher Zeitung, Nr. 37, 14.2.2000, S. 7.
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136 Behrooz Abdolvand / Harald Etzbach

sichtsloser Aktion in Tschetschenien steht jedoch eine Nuklearmacht. Diese Erkennt-


nis hat nicht nur bei manchen Falken im Westen zu einem Sinneswandel geführt,
sondern auch bei einigen politischen Führern in der Region. Auf dem letzten Gipfel-
treffen der GUS-Staaten beschuldigte die russische Regierung Georgien, tsche-
tschenische Rebellen zu unterstützen und ihnen Möglichkeiten zur Beschaffung von
Waffen und Kämpfern zu geben.67 Umgekehrt sprach das georgische Parlament von
einem „Angriff auf die Souveränität und Unabhängigkeit Georgiens“, nachdem rus-
sische Einheiten bei Verfolgungsoperationen gegen Tschetschenen georgische Ort-
schaften bombardiert hatten.68 Dann bestätigte aber der ehemalige Außenminister
Georgiens, Kitovani, daß sich mindestens 1.500 tschetschenische Kämpfer in Ge-
orgien befinden und von dort aus militärische Operationen in Tschetschenien pla-
nen. Diese Aussagen bekräftigte auch der ehemalige georgische Verteidigungsmi-
nister.69 Rußland verlangte daraufhin von Georgien, die Kontrolle über die gemein-
same Grenze den Russen zu überlassen. Bereits zuvor hatte Rußland mit der Aufhe-
bung des Waffenembargos gegen Abchasien ein Warnsignal an Tiflis gesendet. Kurz
darauf, am 1. Oktober 1999, fanden in Abchasien Präsidentschaftswahlen und ein
Unabhängigkeitsreferendum statt, wobei die große Mehrheit den Rußland-freund-
lichen Abchasenführer Ardsindba in seinem Amt bestätigte und für die Unabhän-
gigkeit von Georgien stimmte.70 Abgesehen von Abchasien verlor Georgien schon
die Kontrolle über Südossetien, Adscharien und das georgisch-türkisch-armenische
Grenzgebiet Achalkalaki.71 Die wirtschaftlichen Probleme Georgiens machen Ruß-
land optimistisch, seine Interessen durchsetzen zu können. In Georgien leben 70
Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze, die Regierung zahlt keine regelmä-
ßigen Löhne und der georgische Staat schuldet seinen Bürgern 50 Millionen US-
Dollar. Der Energiemangel ist so katastrophal, daß selbst Ministerien nicht mit Strom
versorgt werden können. Trotz dieser Probleme werden tschetschenische Rebellen
weiterhin unterstützt. Verwundete Kämpfer werden in den Krankenhäusern von Tiflis
behandelt. Tschetschenische Einheiten bewegen sich im Grenzgebiet, ohne behin-
dert zu werden.72 Das alles bietet Moskau vielfältige Möglichkeiten, Druck auszu-
üben.73 So mußte schließlich Präsident Schewardnadse seine Bereitschaft erklären,
Rußland im Kampf gegen „Terrorismus“ und „Extremismus“ zu unterstützen.74 Er
67 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 300, 24.12.1999, S. 1.
68 Ebenda.
69 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 305, 31.12.1999, S. 4.
70 Bacia, H., Ungelöster Konflikt in Georgien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 240,
15.10.1999, S. 3.
71 Neff, Ch., Gift von großen Bruder, in: Der Spiegel, 8/2000, S. 226-230.
72 Ebenda.
73 „Schon drohen die Moskauer den Gashahn zuzudrehen, Zollvergünstigungen zu strei-
chen, für hunderttausende georgische Gastarbeiter ein Einreiseverbot zu verhängen und
generell die Visapflicht.“ Ebenda, S. 228.
74 Vgl. Interview mit der japanischen Zeitung „Asahi Shimbun“, 13.2.2000, http://
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Der zweite Tschetschenienkrieg 137

akzeptierte gemeinsame Operationen von russischen und georgischen Truppen an


der tschetschenischen Grenze. Neuerdings wird auch die russisch-aserbaidschanische
Grenze von binationalen Kommandos überwacht.75 Aber diese Erfolge in Georgien
verdanken die Russen auch der Spaltung der georgischen Gesellschaft. Viele sind
von der Unabhängigkeit enttäuscht, da diese ihrer Ansicht nach außer Bürgerkrieg
und Armut nicht viel gebracht habe. Diese Spaltung zeigt sich auch in der Zusam-
menarbeit von Georgiern und in Georgien lebenden Armeniern mit dem russischen
Militär.76
Offenbar sind Moskau einige Erfolge im Kampf um die Neuordnung des post-
sowjetischen Raumes gelungen. In der Tat hat Rußland nun auch in Georgien freie
Hand, da sich seine Hebel als wirkungsvoller erwiesen haben als diejenigen seiner
Gegenspieler: „So statteten hochrangige Vertreter der US-Streitkräfte ... Sche-
wardnadse in Tiflis einen seltsamen Besuch ab: Sie wünschten, Georgien möge sei-
ne früher bekundete Loyalität zum Westen erneuern, aber sie konnten den Georgiern
im Austausch dafür nichts Greifbares bieten.“77 Inzwischen bereitet die NATO in
Georgien gemeinsame Manöver im Rahmen der „Partnership for Peace“ vor. Fer-
ner hat der US-Botschafter in Georgien, Kenneth Yalowitz, am 6. Januar 2000 eine
Finanzhilfe von 120 Millionen US-Dollar angekündigt, die zur Bekämpfung der
Wirtschaftskrise und zur Absicherung der tschetschenisch-georgischen Grenze ver-
wendet werden soll.78 Damit deutet sich an, daß Georgien das nächste Laboratorium
für ein geostrategisches Kräftemessen sein wird.

Ausblick

In Tschetschenien wird auch künftig geschossen, bombardiert und getötet. Noch


einmal wird an einem kleinen Land ein Exempel statuiert, das auf alle, die diese
Gewaltorgie beobachten, eine abschreckende Wirkung haben soll. Tschetschenien
hätte sich aber diesen vernichtenden Schlag ersparen können, wenn die politische
Führung des Landes die Grenzen ihres Spielraums nicht überschritten hätte. Die
Naivität der tschetschenischen Führung ging so weit, auf die Unterstützung der USA
und anderer westlicher Länder zu bauen. Dabei wurde übersehen, daß derartige di-
plomatische Aktivitäten in Rußland ein Gefühl der Einkreisung durch den Westen
und Besorgnisse um die staatliche Einheit hervorrufen, wodurch letztlich das ge-
waltsame Vorgehen in Tschetschenien legitimiert werden konnte.

75 Wahl, J., Konkurrenz am Kaukasus, in: Neues Deutschland, 21.2.2000, S. 7; Herold, F.,
Moskau gewinnt Boden im Kaukasus, in: Berliner Zeitung, Nr. 41, 18.2.2000, S. 4.
76 Bis zu zwei Drittel der in den russischen Militärbasen auf georgischem Territorium sta-
tionierten Soldaten sind Georgier, von denen einige auch am Krieg gegen die tsche-
tschenischen Rebellen teilnehmen. Vgl. Neff, Ch., (Anm. 71).
77 Herold, F., (Anm. 75).
78 Vgl. http:// www.startfor.com, 13.2.2000.
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138 Behrooz Abdolvand / Harald Etzbach

Der Tschetschenienkrieg hatte ein militärisches Vorspiel. Im Juni 1999 fand in


Rußland mit „Sapad (Westen) 99“ das größte Militärmanöver seit 1985 statt.79 Daß
an den „Sapad“-Manövern auch nordkaukasische Truppen und die kaspische Flotte
teilnahmen, zeigte, wo Rußland mögliche Krisengebiete und mögliche Reibungs-
punkte mit der NATO sieht. In diesem Zusammenhang erklärte Wilfried A. Herr-
mann von der Führungsakademie der Bundeswehr: „Die Vereinigten Staaten nutzen
für ihre sicherheitspolitischen Aktivitäten auch das Netzwerk der ,Partnership for
Peace‘ (PfP) intensiv aus, ... Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte die NATO
ihre PfP auch in die Kaspische Region erweitert, wo alle Staaten mit Ausnahme
Tadschikistans der Kooperation beitraten. Bisher duldete Rußland - teilweise mit
nachträglicher Beteiligung an den Manövern - die NATO-Aktivitäten im eigenen
,Hinterhof’, doch zeigen sich zunehmend kritische Stimmen, die die intensiven mi-
litärischen Kontakte vor allem Zentralasiens mit der NATO mit Skepsis betrach-
ten.“80 Die Auseinandersetzungen um den Tschetschenienkrieg sind nur der bishe-
rige Tiefpunkt eines mehrjährigen Entfremdungsprozesses zwischen Rußland und
dem Westen. Ob während der Irak-Krise im Winter 1998, im Zuge der NATO-Ost-
erweiterung im März 1999 oder während des Kosovo-Krieges - die einstige Super-
macht Rußland sah sich vom Westen nicht nur politisch ignoriert, sondern überli-
stet. Man sollte deshalb nicht der Versuchung erliegen, das jetzige Vorgehen Ruß-
lands allein dem neuen Kabinett unter Premierminister Putin anzulasten. Putin rea-
lisiert nur das, was die Moskauer Elite seit langem plant.
Schon 1996, als die Debatte über eine eventuelle NATO-Osterweiterung begann,
hatte Rußland eine Änderung seiner Militärdoktrin im Sinne einer „Konterstrategie“
in Aussicht gestellt.81 Bei der Suche nach Verbündeten für ein politisch-militäri-
sches Gleichgewicht mit der erweiterten NATO wurde eine Annäherung an China,

79 In diese Übung waren fünf Militärbezirke (Moskau, Leningrad, Nordkaukasus, Wolga,


Ural) sowie die Nordflotte, die baltische Flotte, die Schwarzmeerflotte und Teile der
kaspischen Flotte involviert. Der hypothetische Gegner wurde nicht genannt, jedoch
machte der Übungsablauf klar, daß es sich nur um die NATO handeln konnte. Rußland
wollte hier vor allem die Fähigkeit demonstrieren, auch auf einen konventionellen An-
griff atomar zu reagieren. Der Zeitpunkt der Manöver deutet darauf hin, daß es sich um
eine Antwort auf die Kosovo-Operation der NATO handelte. Der damalige Präsident
Jelzin erklärte, dass die Operation auch im Hinblick auf mögliche regionale Konflikte
durchgeführt wurde. Der Chef der Operativabteilung des Generalstabes, Generaloberst
Juri Balujewski, merkte an, daß die Übung im Rahmen des ,Ausbildungsplanes der Streit-
kräfte für 1999‘ stattfand. Es sollen dabei auch Erfahrungen aus der NATO-Operation
,Allied Force‘ gegen Jugoslawien eingeflossen sein. Ministerpräsident Sergej Stepaschin
wies die Seestreitkräfte an, „nach dem Schema der jugoslawischen Ereignisse ... Maß-
nahmen gegen jede aggressive Tätigkeit ...von NATO-Kräften auf dem Balkan“ vorzu-
bereiten. Österreichische militärische Zeitschrift, 5/99, S. 642.
80 Hermann, W. A., Das Kaspische Meer - Krisenregion der Zukunft? in: Europäische Si-
cherheit, 11/1999, S. 45-49.
81 Österreichische militärische Zeitschrift, 1/96, S. 91-98.
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Der zweite Tschetschenienkrieg 139

Iran und Indien vorgeschlagen, was vor allem umfangreiche Waffenlieferungen bis
zum Export von Kernwaffen umfassen sollte.82 Die zunehmende militärische Zu-
sammenarbeit zwischen China, Indien und Rußland läßt ahnen, in welche Richtung
sich das internationale System bewegt. Rußlands Strategie zielt auf die Schaffung
einer multipolaren Welt. Der Beitrag, den Rußland hierzu leistet, besteht im Augen-
blick hauptsächlich in Waffenverkäufen und militärischem Techologietransfer. Die
Qualität der militärischen Zusammenarbeit zwischen Rußland, Indien und China
deutet darauf hin, daß die USA im Pazifik und im Indischen Ozean nicht nur mit
russischer Militärpräsenz rechnen müssen, sondern auch mit der chinesischen und
indischen Marine.
Westliche Experten vertreten die Ansicht, daß China nicht wirklich zu einer stra-
tegischen Zusammenarbeit mit Rußland bereit sei. Schließlich betrug der Handel
zwischen beiden Ländern im Jahr 1998 gerade einmal 5,5 Milliarden US-Dollar,
währenddessen die chinesischen Exporte in die Vereinigten Staaten ein Volumen
von 70 Milliarden US-Dollar erreichten.83 Daher werde Peking die Beziehungen
mit dem Westen nicht ernsthaft auf die Probe stellen. Tatsächlich hat jedoch die
Zusammenarbeit zwischen Rußland und China schon längst eine strategische Di-
mension angenommen. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums
wollen beide Länder bis zum Jahr 2005 etwa fünf bis sechs Milliarden US-Dollar in
gemeinsame militärische Entwicklungen investieren.84 Daher ist es kein Wunder,
daß sich Jelzin bei seiner letzten offiziellen Reise gerade aus Peking mit atomaren
Drohgebärden zu Wort meldete. Rußland und China befürworten eine „multipolare
Welt“. In dieses Bild paßt auch, wie Putin nach seiner Wahl zum Präsidenten dem
chinesischen Staatsoberhaupt Jiang Zemin zusicherte, Moskau werde Peking unbe-
irrbar weiter darin unterstützen, daß Taiwan ein Teil des chinesischen Mutterlandes
bleibe, so wie Tschetschenien zur Russischen Föderation gehöre.85
Die Auseinandersetzungen um Tschetschenien erinnern stark an die Zeiten der
Ost-West-Konfrontation. Solange die NATO sich um ehemalige sowjetische Satel-
litenstaaten erweitert und die USA mit einem neuen Raketenabwehrsystem versu-
chen, die strategische Balance zu kippen, wird sich die Situation weiter verschärfen.
Besonders werden darunter die Menschen in jenen Ländern zu leiden haben, die in
den 90er Jahren unabhängig geworden sind. Denn diese Länder sind in Gefahr, Opfer
einer neuen Form der Blockkonfrontation zu werden.
Die gewaltsame Reintegration Tschetscheniens in die Russische Föderation ist
im Grunde nicht mehr aufzuhalten. Für diese Entwicklung ist auch die tschetsche-
82 Vgl. dazu: Krüger, J., Rußland und China: Eine strategische Partnerschaft? in: WeltTrends,
Nr. 24, 1999, S. 169-180.
83 Strittmatter, K., Schultern klopfen, Sprüche klopfen, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 286,
10.12.1999, S. 3.
84 Süddeutsche Zeitung, Nr. 134, 15.6.1999, S. 13.
85 Tichomirowa, K./ Mrozek, G., Zwei Raketen für den Präsidenten, in: Berliner Zeitung,
28.3.2000, S. 3.
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140 Behrooz Abdolvand / Harald Etzbach

nische Führung mitverantwortlich. Rußland ist gut beraten, wenn es auch seine
Verantwortung für den zerbombten wiedergewonnenen Landesteil übernimmt und
sich materiell im gleichen Umfang, wie zuvor für seine militärischen Operationen,
für eine zivilisierte Staatlichkeit und den wirtschaftlichen Wiederaufbau einsetzt.
Zur Zeit besteht die reale Gefahr, daß der tschetschenische Konflikt auch auf die
Nachbarländer, insbesondere Aserbaidschan und Georgien, übergreift. Daher ist es
empfehlenswert, daß die politischen Führer dieser Länder die realen Kräfteverhält-
nisse in der Region im Auge behalten, statt daß sie auf die Hilfe des Westens bauen
oder gar an der Eingangstür der NATO um Einlaß bitten. Und schließlich sollte die
Europäische Union dem „Patienten“ nicht, wie bisher geschehen, die „Medizin“ erst
dann verabreichen, wenn er bereits „unheilbar krank“ ist. Tschetschenien hätte wäh-
rend der letzten drei Jahre seiner de-facto-Unabhängigkeit, koordiniert mit dem Ein-
verständnis Rußlands, jene Gelder erhalten können, die jetzt im Rahmen von TACIS
als Hilfeleistung an das zerstörte Land gezahlt werden. Dies sollte künftig bei
Georgien und Aserbaidschan bedacht werden. Sicherheit in der mittelasiatisch-kau-
kasischen Region ist ohne Rußland genauso wenig vorstellbar wie in Europa. Dafür
gilt es eine Entspannungspolitik zu betreiben, die Rußland ernsthaft integriert und
nicht isoliert.
Die Kaukasusregion mit den beiden Erdölleitungen von Baku nach Noworossijsk
und Supsa und dem Projekt einer neuen Leitung zum türkischen Mittelmeerhafen
Ceyhan (unterbrochene Linie)

© WeltTrends / KK

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