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Liberale Ansätze zum „demokratischen


Frieden“
Andreas Hasenclever

1. Einleitung
Mitte der 1980er Jahre bemerkten die Statistiker, dass sie etwas
übersehen hatten. Bislang meinten sie, dass Demokratien in ihrer
Außenpolitik genauso gewaltbereit agieren würden wie andere
Staaten auch. Offenkundig schreckten sie weder vor militärischen
Konflikten noch vor der bewaffneten Einmischung in die inneren
Angelegenheiten fremder Länder zurück. Die USA kämpften in Viet-
nam, England kämpfte um die Falklandinseln, Frankreich kämpfte in
Schwarzafrika und Indien kämpfte gegen Pakistan, um nur vier Bei-
spiele zu nennen. Außerdem hielten westliche Demokratien über
Jahrzehnte hinweg eine Politik der nuklearen Abschreckung auf-
recht. Sie signalisierten ihre Entschlossenheit, im Falle eines sowje-
tischen Angriffs eher den massenhaften Tod unschuldiger Zivilisten
in Kauf zu nehmen, als sich einer fremden Macht zu beugen.
Mit dieser offenkundigen Gewaltbereitschaft gewählter Regie-
rungen erfuhr die realistische These von der Bedeutungslosigkeit
der Innenpolitik für die Außenpolitik eine auf den ersten Blick
eindrucksvolle Bestätigung (vgl. hierzu den Beitrag von Andreas
Jacobs in diesem Band). Zeigte doch das ‚normale‘ Verhalten von
Demokratien, dass alle Staaten unter den Bedingungen internatio-
naler Anarchie ihre nationalen Interessen rational und notfalls
auch mit militärischen Mitteln verfolgen würden. Für Realisten
zulässig.

stand deshalb die Hoffnung auf eine Befriedung der internationa-


len Staatengemeinschaft durch die Demokratisierung ihrer Mit-
glieder auf tönernen Füßen. Das auswärtige Verhalten gewählter
Regierungen war nachweislich nicht von besonderer Zurückhal-
tung geprägt. Vielmehr schienen diese die Regeln der Machtpolitik
perfekt zu beherrschen und das ‚große Spiel‘ um Allianzen und
Einflusszonen gekonnt mitzuspielen.
224 Andreas Hasenclever
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Unbemerkt blieb in der realistischen Analyse freilich, dass De-


mokratien – wenn überhaupt – nur sehr selten Kriege gegeneinan-
der führen. Selbst unterhalb der Kriegsschwelle sind sie in deutlich
weniger militärische Auseinandersetzungen mit ihresgleichen verwi-
ckelt, als statistisch gesehen zu erwarten wäre. Es ist das Verdienst
von Michael Doyle (1983), die Forschung auf diese bemerkenswert
geringe Gewaltanfälligkeit zwischendemokratischer Beziehungen
aufmerksam gemacht zu haben. Seither fahndet eine Unzahl von So-
zialwissenschaftlerInnen nach einer liberalen Erklärung für dieses
Phänomen. Dabei kennzeichnet der Begriff „liberal“ all jene theore-
tischen Bemühungen, welche die Friedfertigkeit von Demokratien
gegenüber ‚Artgenossen‘ auf ihre besondere innenpolitische Verfas-
sung zurückzuführen versuchen.1 Demnach sind gewählte Regierun-
gen gemeinsam mit anderen gewählten Regierungen in der Lage, in-
ternationale Sicherheitsgemeinschaften im Sinne Karl W. Deutschs
(1957) zu bilden, in denen keine Kriege mehr geführt werden. Des-
halb sollten Demokratien nach Meinung vieler liberaler Analytike-
rInnen auch für die Verbreitung ihres Herrschaftssystems in der
Welt Sorge tragen. Dass dieser Ratschlag nach dem Ende des Kalten
Kriegs in den Führungsetagen der Politik angekommen ist, zeigt ein
Zitat des damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, der An-
fang der 1990er Jahre erklärte: Die Demokratisierung autoritärer Sys-
teme „serves all of America’s strategic interests – from promoting
prosperity at home to checking global threats abroad“, und zwar ge-
nau deswegen, weil „democracies rarely wage war on one another“
(zit. nach Gowa 1999: 3).
Wie wir allerdings noch sehen werden, erweisen sich die Ver-
haltensauffälligkeiten demokratischer Staaten für die liberale
Theoriebildung als ausgesprochen widerspenstig. Zwar gab es in
den letzten Jahren vermehrt Indizien dafür, dass gewählte Regie-
rungen auch jenseits demokratischer Zonen weniger gewaltbereit
agieren als Staaten anderen Typs. Trotzdem bleibt der markante
zulässig.

Doppelbefund bestehen: Demokratien treten gegenüber Staaten


mit fremden Verfassungssystemen deutlich aggressiver auf als ge-

1 Zur ausführlichen Diskussion der spezifischen Merkmale liberalen Denkens in


den Internationalen Beziehungen vgl. den Beitrag von Siegfried Schieder in die-
sem Band. Zwei nicht-liberale Erklärungsversuche des demokratischen Friedens
werden in Abschnitt 4 kurz vorgestellt und diskutiert.
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 225
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genüber Artgenossen. Während also Realisten das Problem haben,


den „demokratischen (Separat-)Frieden“ zu erklären, werden libe-
rale Autoren mit dem Rätsel konfrontiert, dass Demokratien in der
übrigen Staatenwelt regelmäßig als Großmächte im traditionellen
Sinne auftreten und dies von ihrer Bevölkerung akzeptiert wird.
Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags stehen im zweiten Ab-
schnitt die Arbeiten des amerikanischen Politikwissenschaftlers
Bruce Russett und seines deutschen Kollegen Ernst-Otto Czem-
piel.2 Beide Autoren haben die liberale Forschung zum „demokra-
tischen Frieden“ maßgeblich beeinflusst, wobei Russett das Phä-
nomen stärker aus der Perspektive von Staatenpaaren – so genann-
ten Dyaden – analysiert, während Czempiel die Meinung vertritt,
dass Demokratien nicht nur in ihren wechselseitigen Beziehungen,
sondern generell – also von ihrem Wesen her – friedfertiger sind
als andere Staaten.3 Die Beschäftigung mit diesen zwei Referenz-
theoretikern darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass über
das Theorem des „demokratischen Friedens“ seit fast zwanzig Jah-
ren mit Hochdruck gearbeitet wird. Es gibt eine ganze Reihe von
SozialwissenschaftlerInnen, die wichtige Beiträge geleistet haben
und deren Ergebnisse, soweit es der Raum zulässt, genannt werden
sollen.4 Nach den modernen Klassikern zum „demokratischen
Frieden“ wird im dritten Abschnitt ein kurzer Blick auf drei aktu-
elle Entwicklungen in der liberalen Theoriebildung geworfen. Sie
teilen das Anliegen, die etablierte Forschung von ihrer strikten
Ausrichtung auf die Bedeutung der Innenpolitik für die Außenpo-
litik zu lösen und für die Besonderheiten interdemokratischer Be-
ziehungen zu öffnen. Während allerdings die einen argumentieren,
dass Demokratien aufgrund ihrer Wesensverwandtschaft eine ge-
meinsame Identität entwickeln, die dem Einsatz von Gewalt gegen
‚Artgenossen‘ entgegenwirkt, betonen andere die Ambivalenz der

2 Zentrale Publikationen dieser beiden Autoren sind Czempiel 1986; Czempiel


zulässig.

1996; Russett 1993; Russett/Oneal 2001.


3 Mittlerweile nähert sich Russett der Position Czempiels an (vgl. Russett/ Oneal
2001: 116). Dies ist ein deutliches Indiz dafür, dass die lange Zeit aufrecht er-
haltene Unterscheidung zwischen dyadischer und monadischer Forschungsper-
spektive schon immer künstlich war und heute allenfalls noch von theoriege-
schichtlicher Bedeutung ist.
4 Nützliche und durchaus kritische Überblicke zum Stand der höchst komplexen
und sich weiter verzweigenden Forschung liefern Geis 2001; Geis/Wagner
2006; Nielebock 2004; Rauch 2005; Zimmermann 2009.
226 Andreas Hasenclever
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liberalen Kultur, welche die unterschiedliche Gewaltbereitschaft


von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien erklären soll.
Schließlich wird darauf abgehoben, dass demokratische Friedens-
zonen in besonders hohem Maß von internationalen Institutionen
durchsetzt sind, wodurch gerade in diesen Regionen Gewalt als
Mittel der Politik dysfunktional wird. Im vierten Teil des Beitrags
sollen die KritikerInnen liberaler Ansätze zum „demokratischen
Frieden“ zu Wort kommen. Ihre Einwände machen deutlich, dass
die theoretische Debatte über die Gründe für die auffallend gerin-
ge Gewaltanfälligkeit interdemokratischer Beziehungen noch lan-
ge nicht beendet ist.

2. Moderne Klassiker der liberalen Forschung über


den „demokratischen Frieden“: Bruce Russett und
Ernst-Otto Czempiel
Noch gibt es keine zufriedenstellende liberale Erklärung des „de-
mokratischen Friedens“. Gleichwohl haben sich in der einschlägi-
gen Forschung Argumentationsmuster herausgebildet, die zu den
intellektuellen Grundbausteinen einer solchen Erklärung zählen
werden. Gemeinsam ist ihnen das Anliegen, außenpolitische Ge-
waltanwendung auf innenpolitische Interessen- und Machtkonstel-
lationen zurückzuführen (Moravcsik 1997: 516-521; Risse-Kappen
1995a: 24-34). Demnach agieren Regierungen in gesellschaftlichen
Kontexten und reagieren auf die Anforderungen organisierter
Gruppen in ihrem Entscheidungsumfeld. Welche dieser Anforde-
rungen sich wie in außenpolitischen Aktionen niederschlagen,
hängt wesentlich vom politischen System und der politischen Kul-
tur ab. Beide werden deshalb sowohl von Czempiel (1986: 112-
131) als auch von Russett und Oneal (2001: 53-58) zu zentralen
zulässig.

Kontextfaktoren außenpolitischer Gewaltanwendung erklärt.5

5 In jüngeren Arbeiten weicht Russett davon ab, politisch-institutionelle und poli-


tisch-kulturelle Ansätze zum „demokratischen Frieden“ einander gegenüberzu-
stellen und ihre Erklärungskraft konkurrierend zu beurteilen (Russett/Oneal
2001: 53). Vielmehr folgt er Bueno de Mesquita und dessen Kollegen (1999),
die beide Ansätze in ein Modell der strategischen Entscheidung gewählter Re-
gierungen integrieren (s.u.).
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 227
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Das politische System eines Landes legt fest, wem gegenüber


eine Regierung rechenschaftspflichtig ist. Hängt die Stabilität ihrer
Herrschaft von einer breiten Zustimmung in der Bevölkerung ab,
oder aber wird sie von einer verhältnismäßig kleinen Gruppe ge-
tragen? Die politische Kultur eines Landes informiert über die Ge-
waltbereitschaft in einer Gesellschaft. Wird der Rückgriff auf or-
ganisierten Zwang zur Eroberung und Verteidigung von Herr-
schaft eher für legitim oder für verwerflich gehalten? Der erste
Kontext gibt Hinweise auf die politischen Teilhabechancen mehr
oder weniger umfangreicher Bevölkerungsgruppen, der zweite
Kontext auf die Alltäglichkeit von Gewalt in innenpolitischen Aus-
einandersetzungen. Wie wir im Folgenden sehen werden, lassen
sich in beiden Kontexten typische Ausprägungen für Demokratien
identifizieren, die sie nach Russett und Oneal (2001: 55) zu „Tau-
ben“ im internationalen System machen. Sie erscheinen als beson-
ders gewaltunwillig, wobei sich diese Gewaltabneigung nach Mei-
nung der beiden Autoren vor allem in den interdemokratischen
Beziehungen optimal entfalten kann.

2.1 Das politische System als Kontextfaktor


außenpolitischen Verhaltens von Staaten

Demokratische Systeme sind durch die wechselseitige Kontrolle


von Legislative, Exekutive und Judikative gekennzeichnet und
wirken der anhaltenden Konzentration politischer Macht in den
Händen einheitlicher Eliten entgegen Zu diesem Zweck werden
Autorität und Zusammensetzung der drei Staatsorgane mittelbar
oder unmittelbar an freie, allgemeine und geheime Wahlen zurück-
gebunden, die regelmäßig stattfinden. Regierungen mit Wieder-
wahlinteresse müssen einerseits darauf achten, dass ihre Politik
mit den Machtverhältnissen in Legislative und Judikative kompati-
zulässig.

bel ist, wenn sie imageschädliche Blockaden oder Implementie-


rungsprobleme vermeiden wollen. Andererseits sind sie darauf an-
gewiesen, dass ihre Entscheidungen in der Bevölkerung zustim-
mungsfähig bleiben. Gewählte Regierungen stehen mithin unter
dem Imperativ der doppelten Konsonanz: Nicht nur sollen ihr wei-
te Teile der politischen Eliten freiwillig folgen, sondern auch die
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. In diesem Zusammenhang
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hat schon Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden.


Ein philosophischer Entwurf bemerkt, dass Kriege in aller Regel
höchst unpopuläre Phänomene sind:
„Wenn (...) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um
zu beschließen, ob Krieg sein solle oder nicht, so ist nichts natürlicher,
als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen
müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer
eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt,
kümmerlich zu verbessern; zum Übermaß des Übels endlich noch eine
den Frieden selbst verbitternde, nie [wegen naher, immer neuer Krie-
ge] zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr be-
denken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“ (Kant 1973 [1795]:
127f).
Kurz: Kriege sind den SteuerzahlerInnen nach liberaler Überzeu-
gung ein Gräuel (Czempiel 1996: 80; Russett/Oneal 2001: 272-
273). Folglich werden sich rechenschaftspflichtige Regierungen
erst dann auf ein solches Wagnis einlassen, wenn sie über sehr
gute Gründe verfügen, mit denen sie Kampfeinsätze nationaler
Truppen in internationalen Konflikten vor der Bevölkerung recht-
fertigen können. In der Regel wird dies der Verweis darauf sein,
dass das Land und seine vitalen Interessen von einem äußeren
Feind bedroht sind.
Umgekehrt ist es ein Kennzeichen autokratischer Systeme, dass
die Bevölkerungsmehrheit systematisch von der politischen Mitbe-
stimmung ausgeschlossen wird. Deshalb müssen deren Regierun-
gen weniger Rücksicht auf die Interessen ihrer Bürgerinnen und
Bürger nehmen (Czempiel 1986: 130; Russett/Oneal 2001: 54).
Vielmehr orientieren sie sich an den Präferenzen der gesellschaft-
lichen Gruppen, die ihre Herrschaft tragen, seien dies nun Groß-
grundbesitzer, Industrielle, Kleriker, Militärs, Staatsbürokraten
oder eine Mischung von allen. Autokratische Regierungen sind
zulässig.

deshalb nach liberalem Verständnis eher in der Lage, Kampfein-


sätze zu beschließen, deren Kosten sie auf die Allgemeinheit um-
legen und deren Gewinne sie privatisieren.
In der Tat zeigen empirische Untersuchungen, dass demokrati-
sche Regierungen aus aggressiver Außenpolitik keinen Gewinn
ziehen (Chiozza/Goemans 2004; Goemans 2008). Ihre Wieder-
wahlchancen werden durch siegreiche Feldzüge nicht beeinflusst.
Umgekehrt haben Autokratien starke Anreize, in internationalen
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 229
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Krisen zu bestehen und diese notfalls bis zu einem Krieg eskalie-


ren zu lassen. Denn Erfolg in der Krise verbessert die Aussichten
autokratischer Regierungen auf Amtserhalt deutlich, während die
Gefahr des Amtsverlusts nach einem verlorenen Krieg nicht höher
ist als nach einer verlorenen Krise. Dass autokratische Regierun-
gen nach einem verlorenen Krieg ein höheres Risiko tragen, aus
dem Amt gejagt und sogar empfindlich bestraft zu werden als de-
mokratische Regierungen, führen Bruce Bueno De Mesquita und
seine Kollegen (2003: 264) darauf zurück, dass demokratische Re-
gierungen wegen ihrer Rechenschaftspflicht vor der Gesamtgesell-
schaft viel größere Sorgfalt darauf verwenden, nur solche Kon-
flikte eskalieren zu lassen, die sie aller Voraussicht nach gewinnen
können und bei denen selbst ein negativer Ausgang ihre Wieder-
wahlchance nicht merklich gefährdet. Wie Philip Arena (2008)
gezeigt hat, ist letzteres vor allem dann der Fall, wenn es der Re-
gierung gelingt, die Opposition in die Kriegspolitik einzubinden.
Empirische Untersuchungen von Dan Reiter und Allan C. Stam
(2002; 2009) belegen in diesem Sinne dann auch, dass Demokra-
tien ihre Kriegsziele sorgfältig auswählen und ihre Kämpfe des-
halb überdurchschnittlich oft gewinnen.

2.2 Die politische Kultur als Kontextfaktor


außenpolitischen Verhaltens von Staaten

Nach Czempiel (1986: 112-115) und Russett (1993: 30-38; 90-92)


stehen nicht nur die politischen Institutionen von Demokratien ge-
gen den Einsatz außenpolitischer Gewalt, sondern auch ihre politi-
sche Kultur. Letztere sei geprägt vom Respekt vor dem Individu-
um, seinem Leben und seinem Besitz. Demokratien treten dem-
nach typischerweise als Rechtsstaaten in Erscheinung und politi-
sche Konflikte werden über Parteienkonkurrenz, Wahlen und Min-
zulässig.

derheitenschutz ausgetragen. Entsprechend ausgeprägt ist unter


Demokraten die Ablehnung von Gewalt als Instrument der politi-
schen Auseinandersetzung.6 Vielmehr ergibt sich aus dem grund-

6 Empirische Studien zeigen, dass Demokratien als Staatengruppe ein außerge-


wöhnlich niedriges Niveau innenpolitischer Gewalt aufweisen (Hegre et al.
2001). Vergleichbar niedrige Gewaltkennziffern erreichen ansonsten nur noch
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legenden Respekt vor der Würde und den Rechten des Anderen
eine fundamentale Präferenz für Interessenausgleich und Kompro-
miss. Nach Russett (1993: 31) hat sich in Demokratien mit ande-
ren Worten eine Kultur des „Live-and-let-live“ etabliert, und diese
Kultur macht sich auch in den auswärtigen Beziehungen demokra-
tischer Staaten bemerkbar, weil die Bürgerinnen und Bürger von
ihren Regierungen erwarten, dass sie so wenig Gewalt wie mög-
lich bei der Verfolgung nationaler Interessen einsetzen.
Im Unterschied zu Demokratien herrscht für liberale Autoren in
Autokratien eine Kultur der Gewalt. Anders ist es beispielsweise
nach Czempiel (1986: 113-114) nicht zu verstehen, wie es einer
Minderheit gelingen kann, auf Kosten der Mehrheit zu regieren.
Demnach gehen autokratische Systeme notwendigerweise mit ei-
ner ungerechten Verteilung von Wohlfahrts- und Teilhabechancen
in einer Gesellschaft einher. Würden sie dies nicht tun, könnten sie
ihre Politik in freien Wahlen zur Abstimmung stellen. Ungerech-
tigkeit aber lässt sich auf Dauer nur mit organisiertem Zwang auf-
rechterhalten. Doyle (1986: 1161) bemerkt deshalb: „Non-liberal
governments are in a state of aggression with their own people“.
Da kulturell geprägte Verhaltensdispositionen unteilbar sind, über-
trägt sich interner Unfrieden auf externen Unfrieden. Autokrati-
sche Regierungen gelten als notorisch unfähig, Konflikte mit
friedlichen Mitteln zu lösen. Vielmehr stellen sie eine permanente
Gefahr für die internationale Sicherheit und den Frieden in der
Welt dar. Entsprechend wachsam müssen Demokratien im Um-
gang mit Autokratien sein (Russett 1993: 32-33).
Der „demokratische Frieden“ wird damit aus liberaler Perspek-
tive aus dem innenpolitischen Entscheidungsumfeld gewählter Re-
gierungen heraus erklärt, die ein fundamentales Interesse am Er-
halt ihrer Ämter haben. Sie müssen darauf achten, für militärische
Einsätze in internationalen Konflikten eine möglichst breite und
anhaltende Unterstützung innerhalb des politischen Systems und
zulässig.

der Bevölkerung zu mobilisieren. Ansonsten ist das Risiko groß,


dass oppositionelle Parteien das Thema aufgreifen und der Regie-
rung spätestens beim nächsten Urnengang politische Inkompetenz
vorwerfen. Das Leben von Soldaten und der Reichtum der Nation

äußerst repressive Diktaturen, in denen bildlich gesprochen ‚Friedhofsruhe‘


herrscht.
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 231
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wurden in einem Konflikt riskiert, der niemals zu einem Waffen-


gang hätte eskalieren dürfen.7 Deshalb sind gewählte Regierungen
im liberalen Verständnis zurückhaltend, wenn es um auswärtige
Gewaltanwendung geht. Diese Zurückhaltung spiegelt sich empi-
risch in dem Befund wider, dass Demokratien in der Regel nur sol-
che Kriege aus eigenem Willen anfangen, bei denen zumindest
zum Zeitpunkt der Entscheidung die Erfolgsaussichten als hoch
und die Dauer der Auseinandersetzung als gering eingeschätzt
werden (Reiter/Stam 2002, 2009).
Dass sich die Friedfertigkeit von Demokratien im internationa-
len System vor allem gegenüber ihresgleichen entfaltet, hat nach
liberaler Überzeugung einen einfachen Grund (Russett/Oneal 2001:
54f und 90). Demokratien und Autokratien befinden sich im ‚Na-
turzustand‘, weil demokratische Regierungen nicht erkennen kön-
nen, dass autokratische Regierungen ähnlichen Gewaltbeschränkun-
gen unterworfen sind wie sie selbst. Zwischen ihnen herrscht tief-
stes Misstrauen und entsprechend brutal entfaltet das Sicherheits-
dilemma seine Wirkung (vgl. hierzu die Ausführungen von An-
dreas Jacobs in diesem Band). Das wiederum führt dazu, dass de-
mokratische Regierungen meinen, sich vor der Ausbeutung ihrer
natürlichen Zurückhaltung durch gewaltbereite Autokratien schüt-
zen zu müssen. Deshalb versetzen sie sich in die Lage, schnell,
hart und unter Umständen sogar präemptiv auf Bedrohungen ihrer
Interessen durch autokratische Staaten reagieren zu können. Dem-
gegenüber ist das Sicherheitsdilemma in interdemokratischen Be-
ziehungen entschärft, da gewählte Regierungen um die interessen-
und kulturbedingte Zurückhaltung ihres politischen Gegners wis-
sen (Czempiel 1996: 82; Russett 1993: 31-32). Den Verantwortli-
chen ist klar, dass weder sie noch andere gewählte Regierungen
ihrer jeweiligen Bevölkerung eine Demokratie als Bedrohung prä-
sentieren können. Vielmehr wird von den Bürgerinnen und Bür-
gern jede gewaltsame Eskalation eines Konflikts mit einer anderen
zulässig.

Demokratie zu Recht als politisches Versagen gewertet.

7 So zeigt beispielsweise Arena (2008), dass demokratische Regierungen dann


damit rechnen müssen, bei der nächsten Wahl für ihre Kriegspolitik abgestraft
zu werden, wenn die Opposition konsequent die Politik der Regierung kritisiert
hat.
232 Andreas Hasenclever
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2.3 Die spannungsreiche Empirie zum „demokratischen


Frieden“

Für die liberale Interpretation des „demokratischen Friedens“ spricht


zunächst eine ganze Reihe von Befunden. Nicht nur führen Demo-
kratien kaum Kriege gegeneinander und sind mit ihresgleichen au-
ßerordentlich selten in gewaltsame Konflikte unterhalb der Kriegs-
schwelle verwickelt.8 Vielmehr zeigen empirische Studien, dass
Demokratien auch in ihren Beziehungen zu Staaten mit fremden
Herrschaftssystemen militärisch zurückhaltender agieren als im in-
ternationalen Durchschnitt zu erwarten ist (vgl. Ray 2000: 300-
302; Russett/Oneal 2001: 116). Die alte These von der gleich ho-
hen Kriegsbeteiligung von Demokratien und Autokratien wird in
neueren Veröffentlichungen angezweifelt. Außerdem mehren sich
Stimmen, für die Kriegsbeteiligung nicht gleich Kriegsbeteiligung
ist. So haben Demokratien nach Gleditsch und Hegre (1997: 294)
die Tendenz, Allianzen mit ihresgleichen zu bilden und sich an
den Kriegen anderer Demokratien zu beteiligen. Dabei hätte die
Beteiligung oftmals nur symbolische Bedeutung und die Verluste
der Bündnispartner seien in vielen Fällen gering. Gleichwohl wür-
de ihr Engagement in den Statistiken als vollwertige Kriegsbeteili-
gung verbucht. Dadurch entstehe der falsche Eindruck, Demokra-
tien seien ähnlich oft in militärische Auseinandersetzungen ver-
wickelt wie alle anderen Staaten auch.
Unberücksichtigt blieb in früheren Studien des Weiteren, dass
Demokratien seltener als andere Staaten internationale Krisen pro-
vozieren, die eine Vorstufe für militärische Auseinandersetzungen
sind (Rousseau et al. 1996). Gleditsch und Hegre (1997: 295-297)
weisen ferner darauf hin, dass die größten Konflikte des 20. Jahr-
hunderts von nicht-demokratischen Staaten eröffnet worden seien.
Sie denken an den Ersten Weltkrieg, den Chinesisch-Japanischen-
zulässig.

8 Die statistischen Berechnungen basieren auf der Analyse des Gewaltvorkom-


mens in politisch relevanten Dyaden pro Jahr. Politisch relevante Dyaden sind
solche, in denen sich beide Staaten entweder in geographischer Nähe befinden
oder aber mindestens einer der beiden Staaten eine Großmacht ist. Mit dem
Blick auf das Ausmaß zwischenstaatlicher Gewalt werden Kriege von anderen
Formen militarisierter Konflikte wie der Drohung mit militärischer Gewalt, ei-
nem Truppenaufmarsch oder kleineren Gefechten unterschieden (vgl. Russett/
Oneal 2001: 94-96, 100-102).
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 233
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Krieg, den Zweiten Weltkrieg, den Koreakrieg und den Iranisch-


Irakischen Krieg. Schließlich sind nach Rummel (1995) die Krie-
ge, die von Demokratien begonnen wurden, im internationalen
Durchschnitt weniger verlustreich. Der Eindruck äquivalenter Ge-
waltbereitschaft könne deshalb nur entstehen, wenn Kriege nicht
nach Schwere und Ausmaß der in ihnen verübten Grausamkeiten
unterschieden würden.
Neben der direkten Bestätigung liberaler Erwartungen zum Ge-
waltverhalten demokratischer Staaten gibt es indirekte Indizien,
die in der einen oder anderen Form die zentralen Kausalmechanis-
men des liberalen Erklärungsmodells unterstützen – also die mate-
riellen Interessen der Bürgerinnen und Bürger, die politische Kul-
tur von Demokratien und das politische Kalkül gewählter Regie-
rungen. So fällt Dixon (1994) auf, dass zwischendemokratische
Streitigkeiten im internationalen Vergleich überdurchschnittlich
häufig auf dem Verhandlungswege, unter Zuhilfenahme von Ver-
mittlungsdiensten Dritter oder durch Rückgriff auf Schiedsverfah-
ren bearbeitet werden. Demokratien suchen und nutzen also gezielt
zivile Formen der Konfliktbearbeitung im internationalen System.
Dem entspricht der Befund, dass sie bemerkenswert oft in interna-
tionalen Institutionen engagiert sind und dass sie in der Staaten-
welt als besonders zuverlässige Kooperationspartner gelten. Nicht
von ungefähr sind die Handelsbeziehungen zwischen Demokratien
außergewöhnlich intensiv und das Volumen des Austausches an
Waren, Dienstleistungen und Kapital ist besonders hoch (vgl. Rus-
sett/Oneal 2001: 72), was die Bedeutung materieller Wohlfahrt für
die Wiederwahlchancen von demokratischen Regierungen unter-
streicht.
Trotz der genannten Evidenz bleiben für liberale Ansätze zum
„demokratischen Frieden“ empirische Widersprüchlichkeiten und
Anomalien bestehen. Denken wir nur an die imperiale Politik von
Frankreich und Großbritannien im 19. und 20. Jahrhundert oder an
zulässig.

die verlustreichen Kolonialkriege nach 1945. Sie lassen kaum eine


spezifisch demokratische Kultur der Zurückhaltung oder auch nur
volkswirtschaftliche Rationalität erkennen. Auch ist immer wieder
zu beobachten, dass mächtige Demokratien kleine Autokratien vor
allem auf der südlichen Erdhälfte mit militärischer Gewalt über-
ziehen, ohne dass von diesen Ländern eine ernsthafte Bedrohung
ihrer vitalen Interessen ausgeht (Bueno de Mesquita et al. 1999:
234 Andreas Hasenclever
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792; Czempiel 1996: 82). Zu denken ist beispielsweise an die wie-


derholten Einsätze französischer Truppen in Schwarzafrika oder
die zahlreichen US-amerikanischen Interventionen in Lateinameri-
ka. Wenn aber große Demokratien immer wieder schnell und mit
aller Härte über kleine Autokratien herziehen, warum machen sie
dies nicht auch gegenüber kleinen Demokratien?

2.4 Erster Lösungsversuch der empirischen Spannungen:


Der „demokratische Friede“ als Abschreckungsfriede

Angesichts solcher und vergleichbarer Widersprüchlichkeiten ha-


ben Bueno de Mesquita und seine Kollegen (1999; 2003) versucht,
den „demokratischen Frieden“ als „Abschreckungsfrieden“ zwi-
schen besonders risikoscheuen Staaten zu interpretieren. Auch sie
gehen davon aus, dass gewählte Regierungen in internationalen
Konflikten nur dann auf Gewaltstrategien zurückgreifen, wenn sie
von einem äußeren Feind dazu gezwungen werden oder wenn sie
mit einem leichten Sieg rechnen. Letzteres gilt augenscheinlich für
die meisten der kleinen Feldzüge in Länder des Südens. Demge-
genüber agieren Demokratien in Konflikten mit ihresgleichen zu-
rückhaltend. Alle Erfahrungen sprechen in solchen Fällen gegen
einen schnellen militärischen Erfolg. Vielmehr zeigt die Statistik,
dass Demokratien sehr ernst zu nehmende Gegner sind, da sie ihre
Kriege deutlich öfter gewinnen als andere Staaten (Bueno de Mes-
quita et al. 1999: 791; Russett/Oneal 2001: 66). Dies wird unter
anderem darauf zurückgeführt, dass sie in kürzester Zeit maximale
Ressourcen mobilisieren, um eine Auseinandersetzung zügig zu
einem für sie günstigen Ende zu bringen. Kritisch wird es für ge-
wählte Regierungen vor allem dann, wenn sich lange und verlust-
reiche Auseinandersetzungen entwickeln (Russett/Oneal 2001: 67).
Weil genau dies bei Demokratien zu erwarten ist, schrecken demo-
zulässig.

kratisch legitimierte Regierungen vor kriegerischen Konfrontatio-


nen mit ihnen zurück.
In asymmetrischen Konflikten zwischen Demokratien wieder-
um lenkt die schwächere Seite nach Überzeugung von Bueno de
Mesquita und seinen Kollegen (1999: 801) ein. Sie weiß um die
Chancenlosigkeit ihrer Ansprüche und ist bereit, selbst nachteiligen
Kompromissen zuzustimmen. Denn insgesamt ist aus Sicht einer
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 235
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gewählten Regierung die Vermeidung eines riskanten und verlust-


reichen Waffengangs mit einem mächtigen Gegner immer besser
als ein schlechtes Verhandlungsergebnis – ganz nach dem Motto:
Krieg zahlt sich nicht aus! Da die Herrschaft autokratischer Regie-
rungen durch Verluste auf dem Schlachtfeld kaum gefährdet ist
und sie entsprechend risikofreudig agieren, kann umgekehrt immer
wieder beobachtet werden, dass sich Autokratien auf militärische
Auseinandersetzungen mit Demokratien einlassen (Bueno de Mes-
quita et al. 1999: 794). Allerdings zeigt die Geschichte, dass sie
dabei oft verlieren. Sie spielen also mit hohem Einsatz, den sie
sich freilich aufgrund ihrer innenpolitischen Verhältnisse auch
eher leisten können.
Die Interpretation des „demokratischen Friedens“ als Abschre-
ckungsfrieden hat intellektuelle Attraktivität. Sie berücksichtigt
zum einen das besondere politische System von Demokratien, das
sie in der Staatenwelt zu überdurchschnittlich vorsichtigen Ak-
teuren macht. Zum anderen ist sie aber auch anschlussfähig an die
gängige Interpretation des „langen Friedens“ (John Lewis Gaddis)
zwischen Ost und West während des Kalten Krieges als Abschre-
ckungsfrieden. Schließlich wird ersichtlich, warum Demokratien
aus eigenem Entschluss bislang keine Kriege mit ernst zu nehmen-
den Gegnern angefangen haben. Gleichwohl kann das Erklärungs-
angebot von Bueno de Mesquita und seinen Kollegen nicht alle
Rätsel lösen, vor die uns die Befunde zum „demokratischen Frie-
den“ stellen. So schrecken kleine Demokratien wider allen Er-
wartungen nicht immer vor ernsthaften Auseinandersetzungen mit
großen Artgenossen zurück. Island beispielsweise zeigte sich wäh-
rend mehrerer Fischereikonflikte mit Großbritannien wenig beein-
druckt von der britischen Flotte und setzte seine Interessen gegen-
über einem zweifellos übermächtigen Gegner durch (Hellmann/
Herboth 2001). Auch Thomas Risse (1995a) zeigt in seiner Analy-
se von Entscheidungskonflikten innerhalb der NATO, dass es kei-
zulässig.

neswegs immer die militärisch überlegenen Mitglieder waren, die


ihre Positionen wahren konnten. Schließlich gibt es in Westeuropa
und in den transatlantischen Beziehungen nur wenige Anhalts-
punkte dafür, dass kleine Demokratien sich mit politischen Forde-
rungen zurückhalten, weil sie ihre mächtigen Nachbarn fürchten.
Vielmehr hat sich in Westeuropa und in den transatlantischen Bezie-
hungen eine stabile Sicherheitsgemeinschaft etabliert, in welcher
236 Andreas Hasenclever
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der Einsatz militärischer Gewalt selbst weit unterhalb der Kriegs-


schwelle nahezu undenkbar geworden ist (Risse-Kappen 1995a).

2.5 Zweiter Lösungsversuch der empirischen


Spannungen: Die Unvollkommenheiten des
„demokratischen Friedens“ als Folge
unvollkommener Demokratien

Czempiel (1996: 82) sieht die spannungsreichen Befunde zum


„demokratischen Frieden“ und bietet eine auf den ersten Blick ver-
blüffend einfache Lösung an. Demnach gilt weiterhin, dass wahre
Demokratien Gewalt als Mittel der Außenpolitik ablehnen und nur
zum Zweck der Selbstverteidigung einsetzen. Dies ergibt sich seit
Kant schlüssig aus der normativen Demokratietheorie: Die Bürge-
rinnen und Bürger eines Staates können nicht wollen, was ihnen
nachweislich schadet, und rechenschaftspflichtige Regierungen
müssen die Interessen der Bevölkerung berücksichtigen. Dass es
von diesem Ideal immer wieder und mitunter deutliche Abwei-
chungen gibt, hängt nach Czempiel (1996: 82f) damit zusammen,
dass selbst die westlichen Demokratien noch keine im vollen Sin-
ne demokratischen Staaten sind. Vielmehr zeigt die Analyse politi-
scher Prozesse in diesen Ländern den „privilegierten Zugang von
partikularen Interessengruppen zum Gewaltmonopol des politi-
schen Systems“ (Czempiel 1996: 86). Immer wieder gelingt es
kleinen Eliten, den Staat für ihre begrenzten Zwecke zu instru-
mentalisieren und ohne Rücksicht auf die berechtigten Interessen
der breiten Bevölkerung in militärische Konfrontationen hineinzu-
ziehen. Deshalb ist es für Czempiel angesichts der verfügbaren Evi-
denz zum Außenverhalten westlicher Demokratien „nur wenig über-
trieben, sie als kollektive Monarchien zu bezeichnen“ (Czempiel
1996: 86). Unterstützt wird dabei die Usurpation der militärischen
zulässig.

Macht demokratischer Staaten durch die geringe Aufmerksamkeit


der Bürgerinnen und Bürger für außenpolitische Themen. Damit las-
sen sie die Hasardeure gewähren und tragen nach Czempiel ein ge-
höriges Maß an Mitverantwortung dafür, dass demokratische Staaten
sträflich hinter ihren zivilisatorischen Potenzialen zurückbleiben.
Dass die unvollkommene Demokratisierung von Demokratien
bislang nicht wissenschaftlich problematisiert worden ist, erklärt
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 237
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Czempiel (1996: 86-87) mit dem die Forschung bislang dominieren-


den formalistischen Demokratieverständnis. Den meisten Studien
liegen Kriterien zur Typologisierung von Staaten zugrunde, die auf
Verfassungsmerkmale zielen und die politischen Prozesse im Land
unberücksichtigt lassen. So haben wir es beispielsweise bei Russett
und Oneal (2001: 44) dann mit einer Demokratie zu tun, wenn (1)
die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger das Wahlrecht hat, (2) die
amtierende Regierung aus fairen und freien Wahlen hervorgeht, in
denen mindestens zwei Parteien um die Mehrheit der Stimmen kon-
kurrieren, und (3) die Exekutive entweder direkt dem Wahlvolk oder
aber dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Nach
Czempiel können nun diese oder ähnliche Kriterien in vollem Um-
fang erfüllt sein und dennoch die Usurpation der Außenpolitik durch
kleine Machteliten nicht verhindern. Deshalb müsse im Detail und
für jede einzelne Demokratie untersucht werden, inwiefern ihre aus-
wärtigen Beziehungen tatsächlich an den Mehrheitswillen in der Be-
völkerung zurückgebunden sind. Dabei würde in vielen Fällen ent-
deckt werden, dass von einer Mitbestimmung der Bürgerinnen und
Bürger nicht die Rede sein kann. Aus diesem Grunde brauche sich
niemand zu wundern, wenn deren Interessen und Werte bei außen-
politischen Entscheidungen kaum eine Rolle spielten.
In einer jüngeren Studie greifen Sandra Dietrich, Hartwig Hum-
mel und Stefan Marschall (2009) die Intuition Czempiels auf und
untersuchen für 25 europäische Demokratien, ob Unterschiede in
der „Parlamentarisierung“ von Sicherheitspolitik Unterschiede in
ihrer Gewaltbereitschaft erklären können. In der Tat zeigt sich,
dass Demokratien mit sicherheitspolitisch starken Parlamenten im
Irakkonflikt 2003 deutlich kriegsabgeneigter agiert haben als De-
mokratien, in denen die Exekutive die Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik klar dominiert.
Czempiel wie auch Dietrich, Hummel und Marshall versuchen
also, die ‚Aussetzer‘ im „demokratischen Frieden“ – verstanden
zulässig.

als die Situationen, in denen ein strukturell friedliebender Staat


jenseits der Selbstverteidigung Gewalt vor allem gegenüber schwa-
chen Autokratien anwendet – mit Mitbestimmungsdefiziten und
sicherheitspolitisch schwachen Parlamenten zu erklären. Aller-
dings hat auch dieser Lösungsvorschlag seinen Preis. Denn entge-
gen aller Beschwörung – „Kants Theorem wirkt im Verhältnis zwi-
schen den Demokratien des OECD-Bereichs, vor allem aber denen
238 Andreas Hasenclever
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der Atlantischen Gemeinschaft“ (Czempiel 1996: 97) – wird un-


verständlich, warum selbst dergestalt defizitäre Demokratien bis-
lang keine Kriege gegeneinander geführt haben und auch sonst im
wechselseitigen Verhältnis nur sehr selten auf Gewaltstrategien
zurückgreifen. Umgekehrt ist es gerade eine Stärke der von Czem-
piel kritisierten Studien, dass der Zusammenhang zwischen De-
mokratie und Frieden auch dann bestehen bleibt, wenn nur mini-
male Anforderungen an die praktizierte Mitbestimmung in den un-
tersuchten Ländern gestellt werden (Gleditsch/Hegre 1997: 289-
291; Maoz 1997: 180). In der Sprache der Statistiker ausgedrückt:
Der Befund zum demokratischen (Separat-)Frieden ist bemerkens-
wert robust. Er zeigt sich selbst dann, wenn die formalen Kriterien
zur Identifikation von demokratischen Systemen sehr weit gefasst
werden und damit Staaten in der Stichprobe auftauchen, die – kri-
tisch betrachtet – kaum als entwickelte Demokratien gelten kön-
nen.

3. Neue Perspektiven auf den „demokratischen


Frieden“: Die Berücksichtigung
interdemokratischer Beziehungen
Überspitzt formuliert besteht das zentrale Rätsel für die dargestell-
ten liberalen Ansätze also darin, dass Demokratien die Außenpoli-
tik ihrer ‚Artgenossen‘ je nach Adressatenkreis unterschiedlich be-
werten. Jedenfalls schließen sie von deren Politik jenseits der de-
mokratischen Zonen nicht auf das zu erwartende Verhalten inner-
halb der demokratischen Zone. Gewalt gegen Autokraten erzeugt
offenkundig keine Unsicherheiten unter Demokraten. Zur Erklä-
rung dieses merkwürdigen Befundes zeichnen sich in der For-
schung drei möglicherweise kombinierbare Wege ab. Gemeinsam
zulässig.

ist ihnen, dass sie die etablierten Ansätze um Analysen der inter-
demokratischen Beziehungen erweitern. Denn es spricht einiges
dafür, dass sich Demokratien anders verhalten, wenn sie Demokra-
tien begegnen. Aber diese Unterschiede im Verhalten müssen
nicht ausschließlich auf Akteursmerkmale rückführbar sein, son-
dern können auch etwas mit der Art ihrer Beziehungen zu tun ha-
ben. Während allerdings Vertreter des ersten Weges argumentie-
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 239
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ren, dass Demokratien aufgrund ihrer Wesensverwandtschaft eine


gemeinsame Identität entwickeln, die dem Einsatz von Gewalt ge-
gen ihresgleichen entgegenwirke, gehen Vertreter des zweiten We-
ges von der Wirksamkeit einer gemeinsamen politischen Kultur
aus, die auf der einen Seite genau dieses leistet – Frieden zwischen
Demokratien –, deren Ambivalenz allerdings auch das unter-
schiedliche Gewaltverhalten demokratischer Staaten gegenüber
Autokratien erklären kann. Vertreter des dritten Weges schließlich
weisen darauf hin, dass demokratische Friedenszonen in besonde-
rer Weise von internationalen Institutionen durchsetzt sind, wo-
durch gerade in diesen Regionen Gewalt als Mittel der Politik dys-
funktional wird.

3.1 Der „demokratische Friede“ als Folge von


Gruppenbildungsprozessen

Nach Risse (1995b: 502-509, 1996: 366-371) sind zwischendemo-


kratische Beziehungen durch ein hohes Maß an wechselseitiger
Sympathie und Wertschätzung geprägt. Demokratien vertrauen
einander, und die Sorge vor relativen Verlusten aus internationalen
Unternehmungen spielt nur eine untergeordnete Rolle. Diese be-
sondere Ausprägung interdemokratischer Beziehungen führt Tho-
mas Risse darauf zurück, dass Demokratien sich aufgrund institu-
tioneller Ähnlichkeiten zu einer „In-Group“ zusammenschließen,
die sich von einer „Out-Group“ – nämlich der nichtdemokrati-
schen Umwelt – abgrenzt.
Mit der Abgrenzung geht eine Freund-Feind-Unterscheidung
einher, die wiederum zur Folge hat, dass Konflikte innerhalb der
Gruppe als unproblematisch eingeschätzt werden, während Kon-
flikte mit der Außenwelt als riskant gelten. Diese unterschiedliche
Wahrnehmung von Konflikten je nach Ähnlichkeit oder Unähn-
zulässig.

lichkeit der Parteien entwickelt für die interdemokratischen Bezie-


hungen eine Eigendynamik. Wesensverwandtschaft erzeugt Ver-
trauen und erleichtert die Zusammenarbeit. Fremdheit erzeugt Miss-
trauen und erschwert die Zusammenarbeit. Die Beziehungen zwi-
schen Artgenossen erscheinen als vergleichsweise stabil und nütz-
lich, während die Kontakte zur Außenwelt als unzuverlässig und
wenig erfreulich wahrgenommen werden. Im Ergebnis bildet sich
240 Andreas Hasenclever
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eine demokratische Sicherheitsgemeinschaft heraus, die nach in-


nen durch Verständnis und Solidarität gekennzeichnet ist und nach
außen auf Unabhängigkeit und Distanz achtet. Die Gemeinschafts-
mitglieder entwickeln ein starkes Gruppenbewusstsein oder „Wir-
Gefühl“. Sie haben ein gemeinsames Interesse am Erhalt ihrer
Gruppe und sind zunehmend bereit, Ressourcen zu ihrer Verteidi-
gung zu mobilisieren. Dadurch wird einmal mehr der interne Zu-
sammenhalt gestärkt und das Risiko zerstörerischer Konflikte zwi-
schen Mitgliedern verringert.
Aber auch die Erklärung des „demokratischen Friedens“ durch
„In-Group-Out-Group“-Interaktionen hat Schwachpunkte. So ist
beispielsweise die Vermutung, dass Ähnlichkeiten zwischen Staa-
ten gruppenbildend wirken, theoretisch unterentwickelt. Sie be-
schreibt den „demokratischen Frieden“ mehr, als dass sie ihn er-
klärt. Es bleibt unersichtlich, warum gerade politisch-institutio-
nelle Übereinstimmungen und nicht etwa religiöse oder kulturelle
Gemeinsamkeiten Staaten zusammenführen. Außerdem hat die
Forschung zu Bürgerkriegen gezeigt, dass Ähnlichkeiten gleich
welcher Art oftmals eben nicht ausreichen, um Vertrauen und So-
lidarität zwischen Gruppen zu erzeugen. Schließlich ist die Ver-
mutung, dass Demokratien auf internationaler Ebene eine kollekti-
ve und handlungsleitende Identität bilden, empirisch nur schwach
belegt. Generell hat sich die „In-Group-Out-Group“-Hypothese bis-
lang lediglich im Kontext von Kleingruppen bewährt. Schon die
Übertragung auf die Ebene des Nationalstaates konnte bislang kei-
ne konsistenten Ergebnisse produzieren.

3.2. Die Ambivalenz der liberalen Kultur: Analyse der


Gewaltbereitschaft von Demokratien

Harald Müller hat in seinen Arbeiten immer wieder auf so ge-


zulässig.

nannte „Antinomien des Demokratischen Friedens“ hingewiesen


(Müller 2002, 2004, 2008; Müller/Wolff 2006). Unter einer Anti-
nomie versteht er im Kern widersprüchliche Tendenzen, die ein
und derselben Struktur innewohnen. Auf Demokratien übertragen
heißt dies, dass dieser Staatsverfassung sowohl ein Imperativ zu
rücksichtsvollem Außenverhalten als auch zur nachdrücklichen
Verbreitung der eigenen Staatsform im internationalen System inne-
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 241
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wohnt. Beide Imperative gründen in den als universell anerkann-


ten Menschenrechten. Demnach kommt allen Männern, Frauen
und Kindern ein Recht auf ein Leben in Würde zu, und das be-
deutet, dass sie prima facie einen unbedingten Anspruch auf
Schutz vor Krieg und vor staatlicher Repression haben.
Durch die gewaltfreie Verbreitung der Demokratie als Staats-
form können nach Überzeugung vieler Liberaler meistens beide
Ziele erreicht werden. Es sind aber auch Situationen vorstellbar, in
denen zu diskutieren ist, ob eine Mission mit dem Schwert zuläs-
sig, wenn nicht gar gefordert ist. Dies ist dann der Fall, wenn es
gegen einen „ungerechten Feind“ geht (Immanuel Kant, zit. nach
Müller 2006: 236). Ein solcher „ungerechter Feind“ ist nicht nur
ein internationaler Gegner. Vielmehr verletzt er die Grundrechte
seiner Bürger und Bürgerinnen systematisch, anhaltend und schwer-
wiegend. Es handelt sich mit anderen Worten um einen Staat, der
aus Perspektive der Menschenrechtsmoral ein Unrechtsstaat ist.
Unter solchen Bedingungen kommt alles darauf an, wie das Mittel
des Krieges im Verhältnis zu dem angestrebten Zweck der Demo-
kratisierung beurteilt wird: Lässt sich mit Waffengewalt ein Un-
rechtszustand unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeits-
prinzips beenden und eine gerechte Staatsform aufbauen oder er-
scheint dies als nicht möglich?
Nach Meinung von Müller (2004: 507-510; Müller/Wolff 2006:
58-62) wird die Antwort auf diese Frage nachhaltig von der politi-
schen Kultur beeinflusst, die in einzelnen Demokratien dominant
ist. Hier unterscheidet er idealtypisch zwischen einem pazifisti-
schen Liberalismus und einem militanten Liberalismus. Während
im militanten Liberalismus der Akzent auf der tätigen Befreiung
von Menschen aus Unrechtsverhältnissen liegt und militärische
Gewalt als mögliches und sinnvolles Mittel gilt, setzen Vertreter
des pazifistischen Liberalismus auf die unwiderstehliche Kraft von
Modernisierungsprozessen. Mit der Zeit würden autokratische
zulässig.

Strukturen unter dem Druck sich ausdifferenzierender Verhältnisse


zusammenbrechen und sich zu Demokratien entwickeln.
Müller arbeitet nun heraus, dass der Liberalismus als gemein-
same politische Kultur aller Demokratien die Anwendung von Ge-
walt gegeneinander strikt delegitimiert und damit höchst unwahr-
scheinlich macht. Die unterschiedliche Gewaltbereitschaft von De-
mokratien gegenüber Autokratien wiederum führt Müller auf die
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jeweils vorherrschende Form des Liberalismus zurück. Demokra-


tien mit einer eher pazifistischen Kultur wie beispielsweise Deutsch-
land oder Japan verhalten sich im internationalen System generell
militärisch zurückhalten. Demokratien mit einer eher militanten
Kultur wie Großbritannien, Indien, Israel und die USA sind dem-
gegenüber wesentlich gewaltbereiter. Das hängt nach Müller eben
damit zusammen, dass die Regierungen dieser Länder ihre Gesell-
schaften viel leichter von der Angemessenheit kriegerischer Maß-
nahmen gegenüber einem nicht-demokratischen Staat überzeugen
können als dies in Demokratien mit einer pazifistischen Kultur
machbar sei. Es ist also die Differenz in der Möglichkeit, kriegeri-
sche Gewalt zu rechtfertigen, welche zu den deutlichen Unter-
schieden im Konfliktverhalten von Demokratien gegenüber Nicht-
demokratien führt. An einer anspruchsvollen empirischen Über-
prüfung dieses in sich sehr stimmigen Arguments wird gegenwär-
tig gearbeitet.

3.3 Der „demokratische Friede“ als Folge


interdemokratischer Institutionen

Ein dritter Versuch, sich dem Frieden zwischen Demokratien von


der Beziehungsebene her zu nähern, setzt bei der Beobachtung an,
dass es nirgendwo sonst im internationalen System ein vergleich-
bar dichtes Netz von Organisationen und Regimen gibt wie zwi-
schen Demokratien (Rittberger 1987: 9f). Denken wir nur an die
Europäische Union, den Europarat, die NATO oder die OECD, de-
ren Mitgliedschaft sich entweder ausschließlich oder in der über-
wältigenden Mehrheit aus gewählten Regierungen zusammensetzt.
Demokratien scheinen mithin in besonders hohem Maße bereit zu
sein, mit ihresgleichen bei der Lösung internationaler Probleme zu
kooperieren und zu diesem Zwecke Institutionen einzurichten.9
zulässig.

Die deutliche Konzentration internationaler Institutionen zwi-


schen Demokratien wurde in der liberalen Forschung lange Zeit
allenfalls am Rande notiert, aber nicht in die Analyse miteinbezo-
gen. Herrschende Meinung war, dass internationale Institutionen

9 Zur Analyse internationaler Institutionen vgl. den Beitrag zur Regimetheorie


von Bernhard Zangl in diesem Band.
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 243
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generell für die Bewahrung des Friedens zweitrangig seien (vgl.


hierzu ausführlicher Hasenclever 2002: 82-83). Vor diesem Hin-
tergrund ist es das Verdienst von Russett und Oneal (2001: 157-
196), die herrschende Meinung erschüttert zu haben. Sie konnten
mit statistischen Mitteln zeigen, dass entgegen der weitverbreiteten
Skepsis ein Zusammenhang zwischen der Einbindung von Staaten
in Institutionen und der Gewaltanfälligkeit ihrer Beziehungen be-
steht: Je höher die Zahl geteilter Mitgliedschaften in internationa-
len Organisationen ist, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit,
dass zwischen zwei Staaten ein Krieg ausbricht. Dieser Zusam-
menhang ist allerdings nur schwach ausgeprägt und wird von der
Wirkung anderer Variablen wie der Verfassung der interagieren-
den Staaten, ihrer gemeinsamen Mitgliedschaft in Allianzen, der
Machtverteilung im internationalen System oder dem Grad wirt-
schaftlicher Verflechtungen überlagert.
Die unübersehbar schwache Ausprägung des statistischen Be-
funds bei Russett und Oneal mag damit zusammenhängen, dass sie
nicht zwischen unterschiedlichen Typen internationaler Organisa-
tionen differenzieren. Vielmehr haben sie alle internationalen Re-
gelwerke in ihren möglichen Friedenswirkungen gleichwertig be-
handelt (Russett/Oneal 2001: 170). In einer neueren Studie unter-
scheiden Pevehouse/Russett (2006) internationale Organisationen
nach der Zusammensetzung ihrer Mitglieder. Dabei zeigt sich, dass
internationale Organisationen mit überwiegend demokratischen
Mitgliedsstaaten das Risiko gewaltsamer Auseinandersetzungen
zwischen ihren Mitgliedstaaten deutlich verringern. Eine plausible
Erklärung für ihren Befund liefern die beiden Autoren aber noch
nicht.
Es ist an dieser Stelle nicht möglich ins Detail zu gehen.10 Aber
es gibt gute Gründe für die Vermutung, dass interdemokratische
Institutionen im Unterschied zu anderen Regelwerken in der inter-
nationalen Politik hervorragend geeignet sind, die Sicherheitsbe-
zulässig.

ziehungen zwischen ihren Mitglieder zu stabilisieren, die Zusam-


menarbeit in Wirtschaft, Umwelt und Kultur zu fördern und die
Autonomie der verregelten Politikfelder zu erhöhen. Wenn dies

10 Vgl. hierzu ausführlicher Hasenclever 2002: 87-100, Hasenclever/Weiffen 2006


und Prins/Daxecker 2007. Kritisch zur Erklärungskraft des Arguments in Dya-
den nicht-westlicher Demokratien Zimmermann 2009.
244 Andreas Hasenclever
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der Fall ist, dann wären drei gefährliche Eskalationspfade in der


internationalen Politik blockiert. Denn aus der Kriegsursachenfor-
schung (vgl. hierzu die Beiträge in Midlarsky 2000 und Vasquez
2000) ist bekannt, dass internationale Konflikte dann ein beson-
ders hohes Risiko tragen, in bewaffnete Auseinandersetzungen zu
münden, wenn die Parteien erstens ihre Sicherheit gefährdet sehen,
wenn sie zweitens auf unilaterale Selbsthilfestrategien zurückgrei-
fen und wenn sich drittens ihre Beziehungen polarisieren.11 Inter-
demokratische Institutionen wirken dem nachhaltig entgegen: Sie
organisieren zuverlässig eine gemeinsame Verteidigungspolitik
und funktionieren als effektive Frühwarnsysteme für mögliche
Verschiebungen in der Machtbalance, sie mehren den Nutzen ihrer
Mitglieder durch Kooperation und erhöhen die Kosten für den
Rückgriff auf Selbsthilfestrategien, und sie verknüpfen die Pro-
blembearbeitung auf internationaler Ebene mit interessierten in-
nenpolitischen Akteuren, die darauf achten, dass verhandelbare
Einzelfragen nicht zu übergreifenden Konfliktbündeln verschmel-
zen.
Schließlich bietet eine stärkere Berücksichtigung der internatio-
nalen Organisation des „demokratischen Friedens“ – verstanden
als das Netzwerk von Institutionen, das demokratische Staaten
miteinander verbindet – die Möglichkeit, die Herausbildung ge-
meinsamer Identitäten im Sinne von Risse (1995b; 1996) analy-
tisch zu erfassen. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Studien, die
zeigen, dass dauerhafte Kooperation im Rahmen gemeinsamer In-
stitutionen die Herausbildung eines „Wir-Gefühls“ unter den Teil-
nehmern fördert. Sie nehmen sich mehr und mehr als Gruppe wahr
und beginnen, sich für deren Erhalt einzusetzen. Dadurch tritt neben
den konkreten Nutzen der Kooperation als Motivation zur Regelein-
haltung der Respekt vor den legitimen Interessen der PartnerInnen.
Dieser Respekt übersetzt sich in die moralische Verpflichtung, ver-
tragliche Absprachen und die mit ihnen verbundenen Ansprüche an-
zulässig.

11 Polarisieren meint, dass einzelne Konflikte in verschiedenen Politikfeldern zu


einer übergreifenden Auseinandersetzung „Wir gegen Sie“ zusammenfallen und
nicht mehr individuell bearbeitet werden. Solche Prozesse sind deshalb gefähr-
lich, weil zum einen die Feindseligkeiten zwischen den Parteien zunehmen und
ihr Vertrauen in den anderen abnimmt und zum anderen bekannt ist, dass Kriege
in aller Regeln nicht um einzelne, sondern um mehrere Konfliktgegenstände ge-
führt werden.
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 245
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derer zu achten. Als Konsequenz erfährt die Zusammenarbeit ei-


nen Gewinn an Robustheit. Die Parteien fangen an, einander zu ver-
trauen, und fürchten nicht schon bei der kleinsten Unregelmäßigkeit,
dass ihre Gutmütigkeit ausgenützt werden könnte. Insofern nun De-
mokratien aufgrund ihres politischen Systems in besonderer Weise
zur regelgeleiteten Kooperation befähigt sind, kann damit gerech-
net werden, dass sie auch am ehesten gemeinsame Identitäten im
Sinne eines „Wir-Gefühls“ herausbilden. Diese würden dann die
Institutionen der demokratischen Zone in ihren zivilisierenden
Wirkungen stärken, sie aber freilich nicht ersetzen.

4. Die Kritik an den liberalen Interpretationen des


„demokratischen Friedens“
Gegen liberale Interpretationen des „demokratischen Friedens“
und die mit ihnen verbundene Hoffnung, die Welt könne durch
Demokratisierung sicherer gemacht werden, werden von den Ver-
treterInnen anderer Denkschulen in den Internationalen Beziehun-
gen eine ganze Reihe von Einwänden formuliert. Vier von ihnen,
denen in der Literatur besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird,
sollen kurz skizziert werden. (1) Die Vermutung, dass der „demo-
kratische Frieden“ in Wahrheit ein Bündnisfriede ist; (2) die Ver-
mutung, dass der „demokratische Frieden“ vor allem ein Ausbeu-
tungsfriede ist; (3) die Sorge, dass Demokratisierungsprozesse be-
waffnete Auseinandersetzungen mit der Außenwelt provozieren
und (4) die Erwartung, dass sich die Demokratie im Zuge von
Globalisierungsprozessen als Staatsform auflösen wird.
(1) Vor allem realistische Autoren wie Gowa (1999), Hender-
son (2002) und Rosato (2003, 2005) halten nicht viel von der libe-
ralen Interpretation des „demokratischen Friedens“. Für sie ist die
zulässig.

Abwesenheit größerer militärischer Konfrontationen zwischen De-


mokratien nach 1945 eine Folge der Machtverteilung im interna-
tionalen System. Die demokratischen Staaten haben sich demnach
unter der Führung der USA gegen die Sowjetunion und ihre Satel-
liten zu einem Verteidigungsbündnis zusammengeschlossen und
darauf geachtet, dass ihre militärische Stärke nicht durch interne
Konflikte unterlaufen wird. Folglich ist mit dem Ende des Kalten
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Krieges auch der Niedergang des „demokratischen Friedens“ zu


erwarten.
Bislang haben sich die Erwartungen realistischer Autoren aller-
dings nicht bestätigt. Die Beziehungen zwischen Demokratien sind
nach wie vor gewaltarm und es ist nicht erkennbar, dass sich dies
in absehbarer Zeit ändern wird. Außerdem haben realistische Au-
toren ein Konsistenzproblem. Militärische Bündnisse gegen einen
gemeinsamen Feind gehen nicht durchgängig mit gewaltfreien Be-
ziehungen zwischen ihren Mitgliedern einher. So gab es beispiel-
weise innerhalb des Ostblocks immer wieder Spannungen, die zum
Einsatz sowjetischer Truppen gegen Allianzpartner geführt haben.
Die besonderen Beziehungen zwischen Demokratien lassen sich
deshalb nicht bruchlos auf eine externe Bedrohung zurückführen.
Schließlich bleibt im realistischen Verständnis unklar, warum sich
alle Demokratien im Kalten Krieg auf der gleichen Seite wieder-
fanden. Auch dies spricht dafür, dass sie zunächst aufgrund ihrer
internen Merkmale eine geordnete Gruppe bildeten, deren Bestand
erst in zweiter Linie von einem gemeinsamen Gegner gefestigt
wurde (Oneal/Russett 2001: 60-61).
(2) Eine ganz andere Erklärung des „demokratischen Friedens“
bieten die VertreterInnen kritischer Ansätze in den Internationalen
Beziehungen. Barkawi und Lafey (1999) beispielsweise deuten die
Waffenruhe in der demokratischen Zone als Folge eines Zweck-
bündnisses mächtiger Industriestaaten zur besseren Ausbeutung
der restlichen Welt. Die Industriestaaten würden ihre Kräfte bün-
deln, um mit aller Macht die Globalisierung kapitalistischer Märk-
te durchzusetzen und von ihr zu profitieren. In diesem Zusammen-
hang kritisieren die beiden Autoren auch den Friedensbegriff der
liberalen Ansätze. Frieden würde mit der Abwesenheit offener mi-
litärischer Gewalt in den internationalen Beziehungen gleichge-
setzt. Nach Maßgabe dieses Verständnisses erscheinen Demokra-
tien spätestens seit den 1980er Jahren tatsächlich als außerordent-
zulässig.

lich friedfertig. Dies sei freilich nur der Fall, weil die vielen For-
men verdeckter und struktureller Gewalt des Nordens gegenüber
dem Süden ausgeblendet werden und weil die militärische Unter-
stützung von Unrechtsregimen durch Waffenlieferungen und Mi-
litärberater nicht berücksichtigt würde. Wenn diese in die Analyse
mit einbezogen werden, dann erscheinen die demokratischen Zo-
nen im internationalen System weniger als Friedensregionen denn
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 247
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als Herzstücke einer brutalen Unrechtsordnung. Die Gewaltarmut


zwischen Demokratien findet damit seine notwendige Entspre-
chung in ihrer Gewalttätigkeit nach außen und in den vielen bluti-
gen Konflikten in den Staaten der Dritten Welt.
Eine informierte Debatte zwischen den liberalen Protagonisten
des „demokratischen Friedens“ und ihren linken KritikerInnen
steht noch aus. Sie müsste zum einen klären, ob die kriegerischen
Auseinandersetzungen in weiten Teilen der Welt tatsächlich ihren
Ursprung in einer mehr oder weniger gewalttätigen Globalisierung
westlicher Gesellschafts- und Produktionsformen haben, oder ob
sie primär auf lokale und regionale Rivalitäten zurückzuführen
sind. Zum anderen müssten die VertreterInnen kritischer Positio-
nen die Kausalmechanismen benennen, die den Frieden zwischen
Demokratien unterschiedlicher ökonomischer Entwicklungsstufen
in einen so nachvollziehbaren wie überprüfbaren Zusammenhang
mit ihrem unfriedlichen Verhalten gegenüber Staaten jenseits der
demokratischen Zonen bringen. Schließlich haben Anna Geis und
Jonas Wolff (2007) aus neo-gramscianischer Perspektive gezeigt,
dass die liberalen und friedensförderlichen Normen des hegemo-
nialen Zentrums nicht beliebig durch rücksichtslose Gewaltpolitik
mächtiger Demokratien in der Peripherie kompromittiert werden
können. Vielmehr setze das liberale Zentrum auf die Demokrati-
sierung der Peripherie, um das eigene Weltordnungsmodell ohne
Rückgriff auf potentiell delegitimierende direkte Gewalt aufrecht-
erhalten zu können.
(3) Ein dritter Einwand gegen die liberale Forschung bezieht
sich auf deren praktische Empfehlung, den internationalen Frieden
durch die Verbreitung von Demokratie als Staatsform zu fördern.
So befürchten Edward Mansfield und Jack Snyder (2002, 2005,
2009), dass vor allem Demokratisierungsprozesse in schwachen
Staaten das Kriegsrisiko erhöhen. Entweder würden neu gewählte
Amtsinhaber in kritischen Phasen des Wandels auf die Eskalation
zulässig.

außenpolitischer Gewalt zur Ablenkung von innenpolitischen Kon-


flikten zurückgreifen, oder aber die innere Zerrissenheit einer
Übergangsgesellschaft würde externe Mächte zur militärischen In-
tervention provozieren. Die Thesen von Mansfield und Snyder
zum Zusammenhang von Demokratisierung eines Landes und au-
ßenpolitischer Gewaltanfälligkeit sind in der Forschung nach wie
vor stark umstritten. (vgl. Russett/Oneal 2001: 116-122; Zimmer-
248 Andreas Hasenclever
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mann 2009: 50). So legen manche Arbeiten nahe, dass politische


Instabilität generell das Risiko bewaffneter Auseinandersetzungen
mit anderen Staaten erhöht. Andere Studien wiederum zeigen, dass
das Kriegsrisiko in Folge von Demokratisierung kontextabhängig
ist. Während es in einem eher autokratisch geprägten internatio-
nalen Umfeld hoch ist, tendiert es in einem demokratischen Um-
feld gegen Null. Außerdem scheinen kontinuierliche Transforma-
tionsprozesse ungefährlicher zu sein als das unstete Hin- und Her-
pendeln zwischen Autokratie und Demokratie. Generell lässt sich
sagen, dass der Zusammenhang zwischen Demokratisierung und
außenpolitischer Gewaltanfälligkeit noch weit davon entfernt ist,
methodisch zuverlässig erforscht zu sein.
(4) Ein vierter und in unserem Zusammenhang letzter Einwand
gegen die liberale Forschung zum „demokratischen Frieden“ wur-
de von Teusch und Kahl (2001) formuliert. Die beiden Autoren
prognostizieren das Ende der Demokratie als Staatsform. Natio-
nale Regierungen würden im Zuge der Globalisierung ihre Eigen-
ständigkeit verlieren und zu Spielbällen transnationaler Wirtschafts-
interessen werden. Demokratische Wahlen verkümmern zu „bloß
formalen, praktisch folgenlosen Verfahren“ (Teusch/Kahl 2001:
301), da politische Herrschaft zunehmend autokratische Züge an-
nimmt. Deshalb muss damit gerechnet werden, dass mit dem Ende
der traditionellen Demokratie der Anfang neuer und unkontrollier-
ter Gewalt in weiten Teilen der Welt einhergeht. Folglich kann
„die These vom „Demokratischen Frieden“ nur für einen begrenz-
ten historischen Zeitabschnitt volle Gültigkeit beanspruchen“
(Teusch/Kahl 2001: 313).
Noch sind die Zukunftsszenarien von Teusch und Kahl nicht
viel mehr als informierte Spekulation. Wie sich der Prozess der
Globalisierung auf die Organisation politischer Herrschaft in der
Welt auswirken wird, ist alles andere als absehbar. Es ist auch
nicht entschieden, ob in diesem Zusammenhang eine globale Re-
zulässig.

naissance autoritärer Herrschaft eintritt. Teusch und Kahl machen


aber zu Recht darauf aufmerksam, dass der „demokratische Frie-
den“ kein Selbstläufer ist. Gerade freie Gesellschaften können au-
ßenpolitische Kräfte freisetzen, die auf lange Sicht die Mitbestim-
mungsrechte der Bürger und Bürgerinnen untergraben. Nicht von
ungefähr beklagen deshalb Beobachter mit Blick auf die Europäi-
sche Union ein massives Demokratiedefizit. Augenscheinlich ist
Liberale Ansätze zum „demokratischen Frieden“ 249
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die wirtschaftliche und politische Integration ihrer demokratischen


Integration weit voraus. Ähnliche Ungleichgewichte zwischen staat-
licher Entscheidungskompetenz und bürgerlicher Kontrollkompe-
tenz lassen sich auch für andere internationale Organisationen fest-
stellen, in deren Hallen mittlerweile wichtige politische Entschei-
dungen fallen.
Die Debatte um die liberale Interpretation des „demokratischen
Friedens“ in den Internationalen Beziehungen bleibt spannend. Al-
lerdings wird erkennbar, dass sich aus einer ursprünglich sehr be-
grenzten Fragestellung – „Lässt sich der demokratische Frieden
methodisch einwandfrei nachweisen und wie ist die Abwesenheit
kriegerischer Konflikte zwischen Demokratien zu erklären?“ – ein
umfangreiches Forschungsprogramm entwickelt hat. Dessen Ziel
ist es, auf der einen Seite möglichst viele Besonderheiten in den
Beziehungen zwischen Demokratien und in ihrem außenpoliti-
schen Verhalten zu identifizieren, um diese auf der anderen Seite
konsistent auf interne Verfassungsmerkmale zurückzuführen. Be-
arbeitet werden hierzu beispielsweise die außergewöhnlich inten-
siven Wirtschaftsverflechtungen zwischen Demokratien, ihr Enga-
gement in internationalen Institutionen oder auch die Vorliebe ge-
wählter Regierungen für verdeckte militärische Operationen. Je
besser sich die liberalen Kernannahmen und Kausalmechanismen
dabei in diversen Untersuchungskontexten bewähren, und je mehr
sie auch die ‚dunklen Seiten‘ des „demokratischen Frieden“ erhellen
können, desto schwieriger wird es für die KritikerInnen sein, das
Forschungsprogramm unter Verweis auf einzelne Anomalien und
Widersprüchlichkeiten in Frage zu stellen. Wichtig wird in diesem
Zusammenhang vor allem zweierlei sein (vgl. Müller 2002). Die
liberale Forschung wird der Sorge nachgehen müssen, dass der
Frieden innerhalb demokratischer Zonen mit Unfrieden in und ge-
genüber ihrer Umwelt einhergeht. Sie wird ebenso zu untersuchen
haben, ob Demokratie als Staatsform nicht vom Spiel jener gesell-
zulässig.

schaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte gefährdet wird, die sie ur-


sprünglich in Freiheit gesetzt hat.
250 Andreas Hasenclever
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