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Ferdinand Schöningh
Paderborn • München • Wien • Zürich
Umschlagabbildung:
Das am 23. 6. 1916 aufgenommene Foto zeigt Hugo Ball als „magischen Bischof" beim erstma-
ligen Vortrag seiner Lautgedichte, der „Verse ohne Worte"; es ist entnommen dem von Ernst.
Teubner herausgegebenen Ausstellungskatalog: Hugo Ball (1886 • 1986). Leben und Werk. Berlim
1986, S. 134.
96.
39452
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile sind urheberrechtlich geschützt. JcJede
Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schrifftli<iche
Zustimmung des Verlages nicht zulässig.
ISBN 3-506-79505-8
ifcP 5 0£
Inhalt
Einführung
Bernhard Echte
Hugo Ball - Ein sonderbarer Heiliger7
Einleitende Überlegungen zu seinem Leben
Chryssoula Kambas
Ball, Bloch und Benjamin
Die Jahre bei der „Freien Zeitung"
Kurt Flasch
Von der „Kritik der deutschen Intelligenz"
zu Dionysius Areopagita
Bernd Wacker
Ein rabiater Antisemit?
Hugo Balls Sicht des Alten Testaments und
des (deutschen) Judentums
6 Inhalt
Thomas Rüster
Hugo Balls „Byzantinisches Christentum"
und der Weimarer Katholizismus 183
Dokumentation:
Bernd Wacker
„Vor einigen Jahren kam einmal ein Professor aus Bonn.. "
Der Briefwechsel Hugo Ball / Carl Schmitt 207
Ansgar Hillach
„Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung"
Hugo Balls Normsetzung gegen die Zeitkrankheit oder:
Die Wiedergewinnung des Symbols durch den Logos 241
Julian Schutt
3
Erik Peterson: Bnefwechsel mit Adolf von Harnack und ein Epilog (1932), in
ders : Theologische Traktate München 1951, S 295-321. 321 Anm 19
Einführung 9
4
Friedrich Fuchs: Art Ball, Hugo, in: LThK Bd 1 Freiburg 1930, Sp. 932f, 932.
10 Einführung
5
Hugo Ball: Flucht (Anm. 1), S. 296 (18 Juni 1921)
6
Gerhard Schaub: Art Ball, Hugo, in: 3LThK, Bd. 1, Sp 1373
Einführung U
Bernd Wacker
Willi Oelmüller, in: Anton Rauscher (Hg ): Deutscher Katholizismus und Revo-
lution im frühen 19 Jahrhundert München/Paderborn/ Wien 1975, S 114
Bernhard Echte
1
Hugo Ball Die Flucht aus der Zeit Hg. v Bernhard Echte Zünch 1992, S. 220
14 Ein sonderbarer Heiliger?
2
Franz Pfemfert: Kleiner Briefkasten, in Die Aktion 6 (1916). Nr 7/8 v 19. 2.
1916. S 104
3
Paul Althaus: Hugo Ball „Die Folgen der Reformation"; in: Theologische Litera-
turzeitung 50 (1925), Nr 6 (21 März), Sp. 136; zitiert nach: Ernst Teubner
(Hg.): Hugo Ball (1886-1986) Leben und Werk Berlin 1986, S 268 f
4
Waldemar Gurian: „Die Folgen der Reformation"; in: Augsburger Postzeitung v
30 1 1025 (Nr. 5); ziüert nach: Teubner (Anm. 3).), S. 268.
5
Fnednch Glauser: Bnefe Bd 2 (1935-1938) Zünch 1991, S. 105.
Bernhard Echte 15
Einheit - dieses Wort und Ziel prägte schon eine von Balls frühesten
Schriften seine nicht abgeschlossene Dissertation Nietzsche in Basel
aus dem Jahre 1910 Der Beweggrund von Nietzsches philologischen
Bemühungen sei, so Ball, gewesen „Die Kultur als die Einheit aller
6
Fnednch Glauser: Dada, in ders Der alte Zauberer Das erzählerische Werk Bd
II: 1930-1933 Zürch 1992, S. 74
7
Richard Huelsenbeck: Zünch 1916, wie es wirklich war, in: Paul Raabe (Hg.):
Expressionismus Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen Ölten/
Freiburg 1965, S 178.
8
Huelsenbeck, Zünch (Anm 7). S 179
9
Huelsenbeck: Zünch (Anm.7), S. 178
10
Zitiert nach Ball, Flucht (Anm. 1), S. 306.
16 Ein sonderbarer Heiliger?
15
Peter Sloterdijk Der Denker auf der Bühne Nietzsches Matenalismus Frank-
furt/Main 1986
16
Vgl Ball. Nietzsche (Anm. 11), S. 71
18 Ein sonderbarer Heiliger?
dies, wie man weiß, nach seiner Berliner Lehrzeit zunächst in Plauen
am dortigen Stadttheater (Spielzeit 1911/12) und wechselte im Juli
1912 an das „Münchner Lustspielhaus", welches sich in der Saison
1911/12 unter der Leitung von Eugen Robert zu einem Forum der
modernen Dramatik und zur künstlerisch bedeutendsten Bühne Mün-
chens entwickelt hatte Ab 1 Oktober 1912 zeichnete Hugo Ball als
alleiniger Dramaturg des Hauses verantwortlich, für das er zudem
einen neuen Namen fand „Münchner Kammerspiele" Zum Auftakt der
Spielzeit brachte er Leonid Andrejews Das Leben des Menschen auf
die Bühne, mit seinem Freund Hans Leybold veranstaltete er eine
Gerhart Hauptmann-Matinee, an der das Helios-Fragment aufgeführt
wurde, den Höhepunkt bildete die Uraufführung von Wedekinds Stück
Franziska
Dieses Ereignis fand eineinhalb Jahre später seinen Niederschlag in
einem Aufsatz, den Ball anläßlich von Wedekinds 50 Geburtstag ver-
öffentlichte und der den Titel Wedekind als Schauspieler trug Dieser
Text verdient in vorliegendem Zusammenhang Interesse, denn Ball
erkennt in Wedekind einen jener Männer, bei denen Text und Person
sich wechselseitig verbürgen, und zwar in eben jener Weise, in der dies
bei Nietzsche und seiner Philosophie intendiert war „Als Wedekind auf
die Bretter trat Donnerwetter!" schreibt Ball „Die andern sahen neben
ihm aus wie ein Kegelspiel, das im Umfallen ist Sie waren einfach nicht
mehr da Es gab uns einen Riß wir fühlten Voilä! Das ist er! Seine
Stücke waren bewiesen Hatten auf einmal Existenz Zwielebigkeit
zwischen Dichter und Werk ward - Einheit"17 Da haben wir das Wort
wieder.
In diesem Sinn also war es gemeint, wenn Ball zu Beginn seines
Wedekind-Aufsatzes schrieb: „Es wird die Zeit kommen, wo es zur
Bildung gehört, auch Schauspieler sein zu können [...] Ein Mann von
Körper und Geist wird sich nicht mehr blamieren dürfen, wenn man ihn
fragt, wo er zuletzt aufgetreten ist."18 Und „Wir kommen uns Schau-
spieler ansehen wie Sokrates zu Herodot kommt Neugierig Nicht auf
17
Hugo Ball Wedekind als Schauspieler; in ders Künstler (Anm 11). S 15 (Her-
vorhebung von B.E).
18
Ebd. S 15
Bernhard Echte 19
das Stück Sondern auf den Kerl, sondern auf das Weib - oder
Weibchen"19
In Umkehrung dessen, was früher die Kunst des Schauspielers aus-
machte, galt Ball die Verwandlungskunst demnach nur noch wenig
„Ein Achselzucken bei seiner Verwandlungskunst" , schloß er den Auf-
satz Das Psychologietheater, der zur gleichen Zeit wie der Wedekind-
Essay erschien 20 Denn eben sie, die Psychologie, war es, die Ball
überwinden wollte, gerade auch auf der Bühne Im Theater der Ver-
wandlungskunst war sie es gewesen, die über die Qualität des Schau-
spielers entschied: „Der vollendete Psychologe", schreibt Ball unter
dem Datum des 26 10 1915 in der Flucht aus der Zeit - „der vollen-
dete Psychologe vermag mit ein und demselben Thema, je nachdem er
den Akzent verteilt, zu erschrecken oder zu beruhigen Je größer der
Psychologe, desto geringfügiger die ausschlaggebende Nuance."21 Dies
gilt, wie man wird einräumen müssen, auch für den Schauspieler im
Theater der Verwandlungskunst „Ich erkannte dies schon früh", no-
tiert Ball in der gleichen Eintragung, „Wenn ich als Kind irgendein
Erlebnis erzählte, wußte ich im voraus den Eindruck, den ich in diesem
oder jenem Falle erzielen würde Mitleid, Staunen, Neugier oder Ab-
scheu, ja nachdem Ich spielte mit großem Vergnügen dies Instrument
Das Resultat aber war merkwürdigerweise, daß mir mein Publikum
verächtlich wurde " 22 Verächtlich wurde Ball dementsprechend auch
ein Theater, das auf die billige Verführbarkeit des Publikums baute Ein
solches „Psychologietheater" war - wie die Psychologie selbst, die ihm
zugrunde lag - „plebejisch, pedantisch und unvornehm" 23 Was wun-
der, wenn alle mittlerweile Schauspieler in jenem sophistischem Sinne
waren: „Allesamt sind wir (geistig) Schauspieler geworden", so Ball in
seinem Wedekind-Aufsatz, „Wir haben's selbst, wir suchen's nicht
mehr auf der Bühne " 24
Was aber wollte Ball gegen das Theater der Verwandlungskunst,
gegen das Psychologietheater gesetzt wissen0 Seine programmatische
19
Ebd
20
Hugo Ball: Das Psychologietheater, in: Künstler (Anm 11), S. 20
21
Ball. Flucht (Anm 1), S. 58
22
Ebd.
23
Ball, Psychologietheater, in: Künstler (Anm 11), S. 19
24
Ball. Wedekind, in Künstler (Anm 11), S 15
20 Ein sonderbarer Heiliger?
Antwort aus dem Jahr 1914: „Wir stellen als Gegenideal, zwecks Über-
windung, den Expressionismus auf, der gar kein Objekt mehr kennen
will, der mit wahnsinniger Wollust die eigene Persönlichkeit wieder-
findet und deren Diktatur ausruft in hintergründigster Selbst-
schöpfüng " 25 Liest man dieses Programm mit kritischer Aufmerk-
samkeit, so wird einem die merkwürdige Ambivalenz darin nicht ver-
borgen bleiben ekstatische Proklamation des Ich ohne Bezug zur Welt
Wer dergleichen im Jahre 1914 schrieb, mußte ein Ahnungsloser oder
ein Nihilist sein Ball war wohl letzteres, denn im gleichen Aufsatz
steht der ahnungsvolle Satz „Bombenwerfen wird demnächst moder-
ner sein" 26 Destruktion und Anarchie im zwischenstaatlichen und
binnengesellschaftlichen Bereich ließen denn auch nicht lange auf sich
warten Ball selbst sah sich vom Nihilismus soweit infiziert, daß er
seiner Schwester schrieb: „Der Krieg ist noch das einzige, was mich
reizt Schade, auch das wird nur eine halbe Sache sein " 27
Wie immer bei Ball war dies ernst gemeint, und so reiste er, nachdem
man ihn bei Ausbruch des Weltkrieges als Freiwilligen nicht hatte
nehmen wollen, auf eigene Faust nach Lothringen an die Front Was er
dort sah, war nun aber kein Theater mehr, sondern Realität, grausam-
ste, brutalste Realität, organisierte Zerstörung und Menschenschlachte-
rei. „Man möchte doch gerne verstehen, begreifen", notierte er nach
seiner Rückkehr „Was jetzt losgebrochen ist, das ist die gesamte Ma-
schinerie und der Teufel selber Die Ideale sind nur aufgesteckte
Etikettchen Bis in die letzte Grundfeste ist alles ins Wanken ge-
raten."28
Die kurze Kriegserfahrung hat Ball weitgehend kuriert Über die
Phrasenhaftigkeit und Verlogenheit von patriotischem Pathos war er
nun im Bilde Im Herbst 1914 zog er nach Berlin und verkehrte dort in
antimilitaristischen Kreisen Außerdem begann er, die Schriften der
russischen Anarchisten zu studieren Der Gedanke, der diese Lektüre
veranlaßte, war relativ einfach, dieser Krieg, so war sich Ball nun
sicher, stellte etwas weltgeschichtlich Neues dar: Dies war der erste
industriell geführte Krieg, ein maschinelles Gemetzel, das alles bisher
25
Ball, Psychologietheater, in: Künsüer (Anm 11), S. 20.
26
Ball, Wedekind , in: Künsüer (Anm 11), S. 15
27
Hugo Ball: Bnefe 1911-1927 Einsiedeln/Zünch/Köln 1957, S. 35
28
Ball, Flucht (Anm 1), S 21
Bernhard Echte 21
' Hugo Ball u Richard Huelsenbeck Ein literarisches Manifest; zitiert nach Teub-
ner (Anm 3), S. 116
1
Original im Nachlaß Hugo Balls (Depositum im Archiv der Carl Seelig-Stif-
tung/Robert Walser-Archiv, Zürich).
22 Ein sonderbarer Heiliger?
dings war er entkommen Zudem war die Schweiz insofern ein freies,
d.h. zensurfreies Land, als hier z B. der anarchistische Zürcher Arbei-
terarzt Fritz Brupbacher in aller Öffentlichkeit seine Schulungsabende
abhalten konnte Arbeiter und intellektuelle Emigranten trafen sich im
„Weißen Schwänli" am Zürcher Predigerplatz und diskutierten dort
über ziemlich alles: über deutsche Klassiker ebenso wie über Streik-
strategien und anarchistische Literatur Eine Zeitlang scheint Ball die
prinzipiell antiinstitutionellen Grundsätze dieses Kreises und des
Anarchismus geteilt zu haben Für Brupbachers Zeitschrift Der Revo-
luzzer verfaßte er einen Essay, in welchem er Bakunin und - einmal
mehr - Nietzsche als die einzig zählenden Denker der letzten fünf
Jahrzehnte bezeichnete Er kritisierte darin auch die „Richtung auf das
Ästhetisierende, Formale, Dekorative", die die jüngere deutsche Li-
teratur beherrsche31 Statt dieser aus französischen Einflüssen stam-
menden Tendenz propagierte er eine radikal politisierte Literatur, die
sich im besonderen an den Entwicklungen in Rußland zu orientieren
hätte Auch begann Ball damals mit ersten Studien zu einem Bakunin-
Brevier, das er 1918 schließlich fertigstellte, ohne daß es bis heute
gedruckt wäre
Über die Mitglieder des Brupbacher'sehen Kreises lernte Ball indes
auch Anarchisten kennen, die an Bomben für Attentate bastelten 32
Dies veranlaßte ihn bald, sich Rechenschaft darüber abzulegen, wie er
nun wirklich zu Theorie und Praxis des Anarchismus stehe „Ich habe
mich geprüft", hielt er in seinen Aufzeichnungen fest „Niemals würde
ich das Chaos willkommen heißen, Bomben werfen, Brücken sprengen
und die Begriffe abschaffen mögen Ich bin kein Anarchist Je länger
und weiter ich von Deutschland entfernt sein werde, desto weniger
werde ich es sein."33 Die Einsicht in den reaktiven Charakter anarchi-
stischer Konzepte hat Ball in den beiden unmittelbar anschließenden
Eintragungen der Flucht aus der Zeit präzisiert und verallgemeinert
„Die Anarchisten kennen den Staat nur als Monstrum, und vielleicht
gibt es heute keinen andern Staat mehr Legt dieser Staat sich meta-
physische Allüren zu oder beruft er sich auf solche, während seine
wirtschaftliche und moralische Praxis damit in flagrantem Widerspruch
31
Hugo Ball Die junge Literatur in Deutschland, in: Künstler (Anm 11), S 33
32
Vgl Ball, Flucht (Anm 1), S 36 u 324.
33
Ebd S 34.
Bernhard Echte 23
34
Ebd S 34 f
35
Ebd S 34
36
Ebd. S 327 Diese Passage war nur im Zweitdruck des Buches (Luzern 1946),
nicht aber in der Erstausgabe enthalten
24 Em sonderbarer Heiliger?
37
Ball, Wedekind, in Künstler (Anm. 11), S. 20
38
Ball: Flucht (Anm 1), S. 52
Bernhard Echte 25
II
39
Vgl ebd S. 92: „Unser Kabarett ist eine Geste "
40
Hugo Ball: Als ich das Cabaret Voltaire gründete.... m: Künstler (Anm 11), S
37.
26 Ein sonderbarer Heiliger?
und reagierte dementsprechend heftig, wenn Ball auf die Bühne trat,
um „ohne Förmlichkeit, aber mit Nachdruck" zu verkünden „Meine
Damen und Herren, das Cabaret Voltaire ist kein gewöhnliches Tingel-
tangel Wir sind hier nicht zusammengekommen, um Froufrou und
Beine zu sehen und Gassenhauer zu hören Das Cabaret Voltaire ist
eine Kulturstätte "41 Solche Worte konnten am Anfang schon reichen,
daß das Publikum in ein Gegröle ausbrach Ball, Huelsenbeck und die
anderen scheinen darin jedoch eine durchaus willkommene Heraus-
forderung erblickt zu haben, der sie gerne, ebenfalls in voller Laut-
stärke, Contra gaben Die Abende, an der sie der lärmenden Zuhörer-
schaft Gedichte entgegenbrüllten und das Spektakel durch Maskentän-
ze oder gnadenlos exerzierte Simultansprechstücke vollends zu entfes-
seln suchten, dürften indes in der Minderzahl gewesen sein.
Im übrigen wollte Ball aus dem, was sich im Cabaret Voltaire ab-
spielte, nicht eigentlich eine neue Kunstrichtung machen Zusammen
mit Huelsenbeck wandte er sich von Anfang an gegen die „Organisie-
rung" des Geschehens42 und geriet dadurch bald in Differenzen zu
Tzara, der sich die Gelegenheit, einen neuen 'Ismus' zu kreieren, nicht
entgehen lassen wollte Ball dagegen ging es weder um die ästhetische
Provokation als Selbstzweck noch um eine neue Rahmendefinition von
Kunst, mit der man gegebenenfalls Karriere machen könnte Er
verstand Dada vielmehr als Geste des Protests gegen die paraly-
sierende Mentalität der Kriegszeit, als Befreiungsversuch gegenüber
der übermächtig scheinenden Logik der Zerstörung, die sich überall als
Sachzwang präsentierte Für Ball war klar, daß gegen den absoluten
Widersinn, gegen die totale Pervertierung in den Köpfen ein geord-
netes Argumentieren sinnlos war, dies um so mehr, als er sich zu
Anfang ja auch selbst gegen den Bazillus der Kriegseuphorie nicht
gefeit gesehen hatte Die bruitistischen Happenings, mit denen das
Cabaret damals Sensation erregte, verstand Ball deswegen weniger als
bewußte Manifestationen denn als Selbstreinigungsversuche aus den
tiefsten Schichten des Unwillkürlichen heraus, im Gegensatz zu den
41
Richard Hulesenbeck Reise bis ans Ende der Freiheit Autobiographische Frag-
mente Heidelberg 1984, S 114.
42
Vgl Ball. Flucht (Anm 1), S 91: „Man plant eine Gesellschaft Voltaire' [...]
H[uelsenbeck] spricht gegen Organisierung', man habe genug davon Ich bin
ganz seiner Meinung Man soll aus einer Laune keine Kunstrichtung machen."
Bernhard Echte 27
43
Ebd S 69
44
Ebd S 99
28 Ein sonderbarer Heiliger?
III
45
Ebd S 105 f.
46
Ebd S 106
47
Ebd. S 109
48
Hugo Ball: Das erste dadaistische Manifest, in: Künstler (Anm 11), S 40
Bernhard Echte 29
49
Ball, Flucht (Anm 1), S 116
50
Ebd
51
Ebd S 116
30 Ein sonderbarer Heiliger?
52
Ebd. S. 40.
53
Vgl ebd S 120f
54
Ebd S 131
55
Ebd S 121
Bernhard Echte 31
ber 1916 kehrte Ball nach Zürich zurück, nicht ohne sich vorher
schriftlich eingeschärft zu haben: „Etwas sein und darstellen wollen in
solcher Zeit, wäre ein dekoratives Vergnügen " 56 Die Galerie Dada,
die Ball in den ersten Monaten des Jahres 1917 auf die Beine stellte,
war denn auch noch pluralistischer konzipiert als das Cabaret Voltaire
Dabei machte Ball allerdings auch Ernst mit einem Satz aus dem
Dadaistischen Manifest, dessen normative Haltung seine Freunde
seinerzeit irritiert hatte: „Im Ästhetischen kommt es auf die Qualität
an " 57 Man zeigte Bilder aus Herwarth Waldens Sturm-Galerie, lud die
Laban-Tänzerinnen zu Darbietungen ein und kombinierte ihre Auftritte
mit Rezitationen junger Autoren Neue Musik wurde gespielt und theo-
retisch kommentiert Ein Stück von Kokoschka gelangte zur Auffüh-
rung, und die Programmankündigung „Musique et Danse Negre" (14
April 1917) verhieß nun kein tumultarisches Geschehen mehr, sondern
ein inszeniertes Stück neuester Tanzkunst Daneben diskutierte man
mit Vertretern des pazifistischen Kreises um Ludwig Rubiner und
veranstaltete eine „geschlossene Soiree 'Alte und neue Kunst'" (12.
Mai 1917), in der religiöse Texte aus dem 13 und 14 Jahrhundert
gelesen wurden Psychoanalytische Debatten standen neben Balls Vor-
trag über Kandinsky oder einem Auszug seines phantastischen Romans
Tenderenda
Die thematische Vielfalt und Offenheit des Programms ließen die
Veranstaltungen der Galerie Dada bald zu einem Ort werden, der einen
prickelnden gesellschaftlichen Chic ausstrahlte Vereinzelte Besucher
erschienen sogar im Smoking Bei einer Führung für Arbeiter ließ sich
dagegen kein einziger Proletariatsvertreter blicken, wohl aber ein
„mysteriöser Herr, der die halbe Galerie kaufen will, insbesondere
Slodki, ältere Jancos, Kokoschka, Picasso."58
Und dennoch notierte sich Ball genau vor diesem symptomatischen
Ereignis in sein 'Tagebuch': „Es geht vielleicht gar nicht um die Kunst,
sondern um das inkorrupte Bild " 59 Und weil es Ball tatsächlich darum
ging, warf er keine zehn Tage später alles hin, überließ die Galerie
ihrem Schicksal und reiste abrupt ins Tessin Absonderung tat not Man
56
Ebd S 120
57
Ball. Manifest, in: Künstler (Anm. 11), S. 39
58
Ball. Flucht (Anm 1), S 165
59
Ebd
32 Ein sonderbarer Heiliger9
mußte sich der Zeit entziehen, vor allem dort, wo sie einen bestach
Und wenn im Publikum ein Harry Graf Kessler saß60, der von Bern aus
mit viel offiziellem Geld und privatem Feinsinn die deutsche Kultur-
propaganda dirigierte, dann war es höchste Zeit, auf Distanz zu gehen
Dies galt um so mehr, als sich in der politischen Sphäre Umwälzungen
größten Ausmaßes anbahnten Lenin, einst Nachbar des Cabaret Vol-
taire in der Spiegelgasse, war zwei Monate zuvor im plombierten
Wagen nach Rußland gereist und hatte soeben den Petrograder Putsch
losgetreten Verhieß ein allfälliger Sieg der Bolschewiki Zukunftswei-
sendes? Oder war Bakunins prinzipielle Kritik an zentralistischen
Staatsmodellen auch hier zutreffend? Und wenn ja, war eine menschli-
che Gesellschaft lediglich eine Ansammlung von Partikularinteressen,
oder bedurfte sie zumindest einer einigenden geistigen Autorität? Und
wer würde eine solche glaubhaft verbürgen können? Wie war es in
Deutschland überhaupt dazu gekommen, daß neben der politischen
Macht eine derartige Autorität nicht mehr existierte und ein völliger
Antagonismus zwischen Staat und Freiheit bestand7 So dringend Ball
diese Fragen erschienen, so wenig wußte er darauf zunächst eine Ant-
wort Umfängliche geistesgeschichtliche Forschungen schienen ihm
notwendig, um jene Punkte ausfindig zu machen, an der diese
Entwicklungen ihren Anfang nahmen Eines war für Ball jedoch schon
seit längerem unbestritten: „Einstweilen habe ich alle Ursache", notierte
er, „auf den Rechten des Geringsten, des Ärmsten, des Verlassensten
zu bestehen Wenn es einen Sinn hätte, wäre ich Republikaner."61
IV
Dieser Sinn stellte sich im September 1917 schließlich ein: Ball erhielt
das Angebot, die Redaktion der Freien Zeitung in Bern zu leiten Hier
nun fand er jene Möglichkeit, die Schickeies Weiße Blätter ihm nicht
geboten hatten: die deutschen Zustände und ihre Ursachen rücksichts-
los unter die Lupe zu nehmen Wohl war es Ball bewußt, daß es dabei -
wie schon im Cabaret Voltaire - nur um eine „Geste" ging, d h um ein
individuelles Beispiel ohne unmittelbare politische Wirkung Doch wer
sollte wirklich glaubhaft Kritik üben können, wenn nicht der Macht-
60
Vgl ebd S. 158
61
Ebd S 138
Bernhard Echte 33
62
Hugo Ball: Zur Kriük der deutschen Intelligenz Frankfürt 1980, S. 25
34 Ein sonderbarer Heiliger?
63
Ebd. S. 27.
64
Ebd. S. 35.
65
Ebd. S. 36.
Bernhard Echte 35
66
Immanuel Kant: Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre. Einleitung,
Absatz IX: „Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist: Handle nach einer Maxime
der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann Nach
diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als anderen Zweck, und es ist
nicht genug, daß er weder sich selbst noch andre bloß als Mittel zu brauchen
befugt ist [... ]. sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist
an sich selbst des Menschen Pflicht "
67
Ball. Kritik (Anm. 62). S 28
68
Ebd S. 123.
36 Ein sonderbarer Heiliger?
69
Ebd. S. 127.
70
Ball, Flucht (Anm. 1), S. 223
71
Ebd. S. 173.
Bernhard Echte 37
gleichwohl mit aller Arroganz der Unfehlbarkeit auftrat, war es, was
die großen Vorzüge seiner ökonomischen Kritik aufwog "72
Ausgehend von dieser Analyse war Balls Blick für die revolutionären
Umwälzungen geschärft, die sich soeben in Rußland vollzogen Mit
Skepsis betrachtete er die neue russische Verfassung und meldete
schon 1919 grundsätzliche Zweifel an: „Das Überraschende ist, daß
man ein Grundrecht überhaupt aufgestellt hat Die Bolschewiki pfleg-
ten nach ihrer ganzen marxistischen Tradition auf Rechte und Pflichten
nicht viel zu geben Die Diktatur des Proletariats, die nun als Rechtszu-
stand gilt, beruht auf jakobinischen und terroristischen Prinzipien; man
wird also die verbindliche Kraft dieser Verfassung kaum überschätzen
dürfen " 73 Dies war, aus heutiger Sicht, wahrhaft hellsichtig Gleiches
gilt für Balls zweiten Vorbehalt: „Sodann Kapitel II der Verfassung,
wonach die Einteilung der Gesellschaft in Klassen definitiv abgeschafft
wird Um den alten Klassenstaat abzuschaffen, werden sieben Punkte
formuliert, die sämtlich umstürzende Bedeutung haben, keineswegs
aber den Klassenunterschied zwischen der zentralistischen Verwaltung
und der nationalen Arbeit aufheben Eine gewaltige Bürokratie einer-
seits, ein Arbeitshelotentum anderseits, das scheint die nächste histori-
sche Folge zu sein " 74
Es waren jedoch nicht nur die demokratisch-republikanischen Defi-
zite, die Ball dazu führten, in der Sowjetunion von Anfang an kein
zukunftsweisendes Modell zu erblicken So sehr er die Idee teilte, daß
die Macht von der besitzlosen Klasse auszugehen habe, so wenig
schien ihm der Materialismus dafür eine geeignete geistige Grundlage
zu bilden - inthronisiert dieser doch die Befriedigung materieller Be-
dürfnisse letztlich als primäres Ziel und obersten Maßstab der Moral:
Das Proletariat wollte ja gerade nicht besitzlos bleiben und strebte
deswegen zur Macht
72
Ball. Kntik (Anm. 62). S 210
73
Ball. Flucht (Anm. 1), S 252.
74
Ebd. S 253.
34 Ein sonderbarer Heiliger?
außer dem Proletariat: die der Asketen, diese Klasse aber ist freiwillig
ohne Besitz, ja sie sieht ihre Überlegenheit im Verzicht Diese Klasse
ist naturgemäß durch ihre pure Existenz die Widerlegung der pro-
letarischen Ansprüche " 75 Diese besitzlose Klasse ist nun nach Ball die
einzige, die Autorität verbürgen könne, weil sie es rein geistig tue Das
war die „neue Internationale der religiösen Intelligenz", die Ball zu
begründen hoffte 76 Von ihr versprach er sich eine Überwindung des
korrumpierten Zustandes, in den alle Intellektualität und Spiritualität
durch ihre Selbstunterwerfüng unter die politische Macht und deren
Legitimationsbedürfhisse geraten war Ausgehend von dieser histori-
schen Erfahrung kann, Ball zufolge, Autorität nur von denjenigen be-
gründet werden, die keine Macht haben, die diese genausowenig
anstreben wie materiellen Besitz, d h von denjenigen, die sich den
'natürlichen' Egoismen widersetzen und ein geistiges Leben zu behaup-
ten wissen und dies im übrigen nicht individuell tun, sondern auf Grund
einer langen Tradition, was der persönlichen Geltungssucht und Eitel-
keit entgegenwirke - kurz, Ball sieht in den katholischen Mystikern und
Asketen jene Tradition, die es wiederzubeleben und fortzuschreiben
gelte
Allerdings machte er in diesem Zusammenhang auch entschieden klar,
daß es ihm keineswegs um die Restauration vorreformatorischer
Zustände ging „Wir sind keine katholischen Romantiker, Lobredner
der Vergangenheit auf Kosten der Zukunft", betonte er in seiner Kritik
„Nicht der katholischen Renaissance reden wir das Wort, deren ob
skure Propaganda 'das schöne Werk des Mittelalters' wieder herzu-
stellen hofft " 77 Die historische Kirche sieht Ball vielmehr völlig ver-
strickt in staatspolitische und materielle Interessen (Personalunion mit
dem Feudalstaat, Großgrundbesitz), was ihre Glaubwürdigkeit in
fataler Weise untergraben habe 78 „Wir glauben nicht an die sichtbare
Kirche, aber an eine unsichtbare", hält Ball deshalb fest 79
Diese unsichtbare Kirche, d h die Tradition der Asketen und
Mystiker, wieder sichtbar zu machen, wurde folgerichtigerweise Balls
75
Ebd. S 224
76
Ball, Knük (Anm 62), S 10
77
Ebd.. S. 32.
78
Vgl Ball, Flucht (Anm 1), S. 223
79
Ball, Kritik (Anm 62), S 121
Bernhard Echte 39
80
Hugo Ball Byzantinisches Christentum München/Leipzig 1923, S 5f.
81
Fnednch Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in ders Werke, hg. v. Karl
Schlechta München 91981. Bd 2. S. 839
82
Ebd. S. 839
40 Ein sonderbarer Heiliger?
83
Ebd. S 861
84
Vgl Ball. Flucht (Anm 1), S 223: „Der Souverän braucht ja nicht gerade die
Staatsgeschäfte zu führen; es könnte genügen, daß er sie kontrolliert "
85
Vgl Ball, Byzant Christentum (Anm 80), S. 22: Ball spncht hier vom „verant-
wortlichsten aller Ämter: das Amt der Zeichen "
86
Ball, Flucht (Anm 1), S 278
Hans Burkhard Schlichting
Dada blieb eine Episode im Leben von Hugo Ball, die - alles in allem -
gerade acht Monate dauerte Aber diese Episode ließ ihn noch bei Leb-
zeiten zu einer Legende der internationalen Avantgardeszene werden -
und das nicht zuletzt aufgrund ihres abrupten Endes Diese Episode ist
es auch, die zum Leitmotiv der Wiederentdeckung seines Werkes nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges geworden ist und das internationa-
le Interesse an Hugo Ball wachgehalten hat ein Interesse an seiner
Zeugenschaft für die Anfange einer Kunstbewegung, die weitreichende
internationale Konsequenzen hatte In seinem Todesjahr 1927, ein
Jahrzehnt nach der Abkehr vom Dadaismus, erschien sein kulturkriti-
sches Werk Die Flucht aus der Zeit*, das auf einer Auswahl und Revi-
sion von Tagebuchnotizen der Jahre 1913 bis 1921 basiert und in den
einschlägigen Passagen zur meistzitierten Quelle für die Entstehungs-
phase der Bewegung geworden ist Daß Ball dabei eher als Zeuge denn
als Autor sui generis gelesen wurde, ließ mit den komplexen Zusam-
menhängen seines Gesamtwerks oft auch seine aktive Rolle im Da-
daismus in den Hintergrund treten, um die es hier zunächst gehen soll:
eine initiierende Rolle, die er (vom Februar bis Mitte Juli 1916 und von
Mitte März bis Mai 1917) als Organisator, Inszenator und dramaturgi-
scher Kopf der Bewegung ebenso gespielt hat wie durch seinen unmit-
telbaren künstlerischen Beitrag Die dramaturgische Neugier, mit der
Ball diese Rolle spielte, bestimmte freilich auch sein experimentieren-
des Verhältnis zum Programmatischen Er reflektierte die neuen
1
Die Darstellung allgemeiner Zusammenhänge des Dadaismus folgt in einigen
Passagen meinen Aufsätzen: Pioniere des Medialen Zur Aktualität der dadaisti-
schen Kultur-Attacke, in: Helmut Bracken - Fritz Wefelmeyer (Hg.): Kultur Be-
stimmungen im 20 Jahrhundert Frankfürt am Main 1990, S. 32-85, „Chaos in
die Ordnung bringen" DADA, in: Rolf Grimminger - Junj Murasov - Jörn Stück-
rath (Hg.): Literarische Moderne Europäische Literatur im 19 und 20 Jahrhun-
dert Reinbek 1995, S 314-338
2
Hugo Ball Die Flucht aus der Zeit München/Leipzig 1927
42 Hugo Balls Dadaismus
3
J. S.: Künstlerkneipe Voltaire, in Neue Züncher Zeitung 9 2 1916 - Als un-
wahrscheinlich erscheint George Steiners Vermutung, die Bezeichnung „Cabaret
Voltaire" sei „eine Huldigung an das Cafe Voltaire in Paris [...]. in dem Mallarme
und die Symbolisten sich in den späten achtziger Jahren regelmäßig trafen Denn
es war Mallarmes Programm einer Reinigung der Sprache, eines pnvaten Aus-
drucks, das Ball und seine Mitstreiter auszuführen suchten." (George Steiner
Nach Babel Aspekte der Sprache und der Übersetzung Aus dem Englischen von
Monika Plessner unter Mitwirkung von Henriette Beese Frankfurt am Main
1981. S 209-210) Der Namenspatron Voltaire stand bereits mit der Eröffnung
des Cabarets als „Künstlerkneipe Voltaire" zu einem Zeitpunkt fest, als die
Sprachexperimente von dessen Spätphase noch nicht abzusehen waren Außerdem
ist zweifelhaft, ob Ball damals mit Mallarmes Poetik vertraut war. auch wenn er
sich von Baudelaire bis Rimbaud immer wieder auf dessen Vorläufer bezieht. In
den veröffentlichten Briefen und Tagebuchnotizen zumindest fehlen Hinweise und
erst 1927 wird Mallarme als „Vokalalchimist" erwähnt (Hugo Ball: Hermann
Hesse Sein Leben und sein Werk Berlin 1927, S 107)
Hans Burkhard Schlichting 43
4
Ball, Flucht (Anm. 2), S 112
5
So die „Züricher Post" lt Ball, Flucht (Anm. 2), S. 95 (7. 5 1916)
44 Hugo Balls Dadaismus
6
Vgl Andeheinz Mösser: Hugo Ball - Die Flucht vor Dada, in: Hugo Ball Alma-
nach 1979, S 50-85 Ein Beitrag, der die reflektierte Distanz der veröffentlichten
Tagebuchnotizen beim Wort nimmt und dazu tendiert, Ball quasi als einen Da-
daisten wider Willen zu betrachten Dagegen spncht Balls tatsächlich vielgestalü-
ges. wenn auch nie unreflektiertes Engagement Den psychologischen Aspekten
der inneren Spannung und wiederkehrenden Erschöpfung Hugo Balls in jenen
Jahren, deren Ursachen außerhalb der Züncher Gruppe liegen, nähert sich der
Psychotherapeut Burkard Hoellen: „Man muß sich verlieren, wenn man sich fin-
den will" Ein Beitrag zu Hugo Balls Bruch mit Dada, in Hugo Ball Almanach
1991. S 120-164
' Ball. Flucht (Anm 2) S. 95
s
Ebd S 90
Hans Burkhard Schlichting 45
12
Ball, Flucht (Anm 2), S. 94. - Die von Ball erwähnte deutsche Leseart des Na-
mens könnte zumindest teils durch Emmy Hennings inspiriert sein, die in einem
Text aus dem Nachlaß ebenfalls ihren Anspruch auf die Namenfindung mit fol-
gender Formulierung anmeldet: „Dada - das Wort - stammt von mir, und ich
habs in einer Spielerei oft Hugo gesagt, wenn ich spazieren gehen wollte. Alle
Kinder sagen zuerst "Dada"" (Emmy Ball-Hennings: Aus dem Leben Hugo Balls
1916-1920, m: Hugo Ball Almanach 1991, S 51-119, hier S. 53.)
Hans Burkhard Schlichv.ng 47
ist die Weltseele, Dada ist der Clou Dada ist die beste Lilienmilchseife
der Welt."13
Tatsächlich war „Dada" in der Schweiz seit 1906 das geschützte
Markenzeichen für eine Reihe von Parfümerie-Artikeln, die in
Deutschland teils als „Steckenpferd" firmierten, und deren Spitzenpro-
dukt eine Lilienmilchseife war 14 Die unauffällige Allgegenwart von
Zeitungs-Anzeigen und Plakatwerbung spielt ebenso in die Namensfin-
dung der Dadaisten hinein wie in die Praxis ihrer Bild- und Sprachcol-
lagen Anders als für Impressionisten, Kubisten und Expressionisten
trieben nicht Stilrichtung und ein bestimmtes „Kunstwollen" zur Defi-
nition, sondern dessen zivilisatorische Verknüpfung mit dem offenen
Spielraum handeis- und landesüblicher Wortbedeutungen Banale An-
spielungen unterlaufen alles globale Pathos Ironie15 löst hier alle ein-
seitigen Festlegungen auf und hält den Wort-Kosmos ständig in Bewe-
gung DADA „Nur ein Wort und das Wort als Bewegung", wie es in
Balls Manifest heißt
Das relativen die Frage nach der Urheberschaft der Namensfindung,
an der Ball zumindest beteiligt war Huelsenbeck, der diese Urheber-
schaft nach Balls Tod für sich selbst beanspruchte, berief sich dabei auf
einen Brief, in dem Ball ihn 1926 zu einer Rezension seines Buches Die
Flucht aus der Zeit eingeladen hatte: „Du hättest dann das letzte Wort
zur Sache, wie Du das erste hattest"16, heißt es dort mit Hinweis auf
das Dada-Kapitel Eine mehrdeutige Anspielung freilich, die sich nicht
zwingend auf die Prioritätsfrage der Namensfindung beziehen muß,
sondern explizit nur die Sache des Dadaismus anspricht, die Huelsen-
13
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit Ausgewählte Schriften Hg v.
Hans Burkhard Schlichtmg, Frankfurt/M 1984, S 39
14
Raimund Meyer: „Dada ist gross, Dada ist schön" Zur Geschichte von „Dada
Zürich", in: Hans Bolliger, Guido Magnaguagno/Raimund Meyer: DADA in Zü-
nch. Zünch 1985, S. 25-27.
15
Andeheinz Mösser (Anm. 6), S. 68 meint, daß die Ironien von Balls Manifest
nicht ans Publikum, sondern nur an die dadaistischen Mitstreiter adressiert gewe-
sen seien, als Anzeichen für die „kaum verhüllte Absage an die Freunde", von
der Ball in Die Flucht aus der Zeit (Anm 2), S. 111 spricht. Tatsächlich bezieht
sich Balls Ironie auf den Unernst der Namensgebung, nicht auf den poetologi-
schen Ernst der Sache, den Ball in seinen Lautgedichten zumindest teilt: „Dada
ist das Herz der Worte "
16
Hugo Ball Briefe 1911-1927 Hg v Annemarie Schutt-Hennings Einsie-
deln/Zünch/Köln 1957, S. 278 (Brief vom 8. 11 1926)
48 Hugo Balls Dadaismus
beck im Lauf der Jahre tatsächlich nachhaltiger als Ball zu seiner Sache
gemacht hatte Daß Huelsenbeck, der in der Flucht aus der Zeit als
Prototyp des Dadaisten portraitiert ist, in Balls Sinne das erste „Wort
zur Sache" hatte, kann sich auch auf Huelsenbecks Initiative zu einer
gemeinsamen Berliner Soiree beziehen, die kurz vor Balls Emigration
im Frühjahr 1915 stattfand, einen neuen „Negationismus" proklamierte
und als Prototyp späterer DADA-Soireen gilt.17 Aber für Dada selbst
erklärte Ball in einem anderen Brief aus dem Jahr 1918 unmißverständ-
lich: „Der Dadaismus stammt von mir" ,18
Dieser Stammvater des Dadaismus hat seine auktorialen Rechte frei-
lich nie eingefordert, denn von der Kerngruppe DADAs war er der
erste, der seinen Ausstieg vollzog Und dies in zwei Phasen Ein erstes
Mal war er im Sommer 1916 ins Tessin abgereist, wo ihn (zunächst
vergebliche) Rückkehr-Bitten der Freunde erreichten, - ein zweites Mal
abrupt und endgültig im Mai 1917, als er Emmy Hennings und den
verbliebenen Freunden die Auflösung der Galerie Dada überließ
Nach einer Phase der Distanzierung und Verarbeitung hatte er im
März 1917 die Leitung der Galerie übernommen, - gemeinsam mit dem
zehn Jahre jüngeren Tristan Tzara Schauplatz der Züricher Dadaisten
war nun nicht mehr das Amüsierviertel Niederdorf, sondern die vor-
nehme Bahnhofstraße Der schweizer Galerist Corray, dessen Züricher
Räume die Galerie Dada übernahm, brachte eine zweiteilige 'Sturm-
Ausstellung' von Herwarth Waiden ein, der von Berlin aus zahlreiche
Galerien im In- und Ausland mit verkaufsträchtiger Avantgardekunst
versorgte Wieder waren Balls Erfahrung als Organisator und seine
Verbindungen zur neuen Kunstszene gefragt, die er noch als Drama-
turg der Münchener Kammerspiele geknüpft hatte - Nach dem literari-
schen Schwerpunkt der Kabarettarbeit verlagerte sich das Hauptge-
wicht nun auf bildende Kunst und neuen Ausdruckstanz, der damals
mit Rudolf von Laban und Mary Wigman in Zürich sein Zentrum hatte
Ohne Zwang zur kabarettistischen Unterhaltung, entwickeln die Gale-
rie-Soireen eine avantgardistische Eigendynamik Und wieder trat Ball
1
Gerhard Schaub: Dada avant la lettre Ein unbekanntes „literarisches Manifest"
von Hugo Ball und Richard Huelsenbeck, m: Hugo Ball Almanach, 9/10 Folge
(1985/86), S. 63-180
18
Ball, Briefe (Anm. 16). S 109 (Brief an Emmy Hennings 1918). - Vom
„Dadaismus, den ich selbst begründet habe" spricht Ball auch in einem Brief an
August Hofmann vom 7 10 1916 (ebd S 66)
Hans Burkhard Schlichting 49
als Programmatiker auf, vor allem zum Abschluß der ersten Ausstel-
lung mit seinem Finissagevortrag über Kandinsky, der die umfassendste
Erklärung zum Phänomen der Moderne bietet, die aus seinen avant-
gardistischen Jahren überliefert ist.
„DADA bedeutet nichts", dekretierte Tristan Tzara 1918: „DADA -
das ist ein Wort, das die Gedanken auf Jagd schickt "19 Inzwischen
hatte seine Züricher Zeitschrift ohne Balls Beteiligung das Titelwort
Dada unter der Künstlerboheme halb Europas in Umlauf gesetzt Seit
Sommer 1916 erschien die poetische Schriftenreihe Collection Dada,
seit 1917 die Zeitschrift Dada, die der agile Herausgeber Tzara in Paris
weiterführte, als er seine Dada-Propaganda aus dem still gewordenen
Nachkriegs-Zürich 1920 auf die Plakatwände der europäischen Kunst-
Metropole verlegte Inzwischen gab es längst andere Dada-Zentren
Hans Arp war zum Mitstreiter der Kölner Dadaisten um Max Ernst
geworden Und Richard Huelsenbeck hatte noch in den letzten
Kriegsmonaten die Dada-Propaganda in Berlin eröffnet Aber was sich
dort und andernorts abspielte, nahm Hugo Ball nur noch sporadisch
wahr Bereits Ende Mai 1917 hatte er sich - wie gesagt - von der Züri-
cher Gruppe gelöst und seinem internen Konkurrenten Tristan Tzara
die Rolle des Organisators überlassen Noch im selben Jahr setzte er
bei der Freien Zeitung in Bern sein journalistisches Engagement fort,
das im ersten Kriegswinter begonnen hatte und bis zum Kapp-Putsch
des Jahres 1920 dauern sollte Als Redakteur der Freien Zeitung auf
Deutschlandreise, erlebt er 1919 in Berlin noch einmal eine Dada-
Soiree: „Als Publikum", schreibt er an Emmy Hennings „Und ich hatte
meine helle Freude daran Und wenn mir auch heute noch die Ohren
davon sausen, so muß ich doch sagen, daß der kleine Saal des Graphi-
schen Kabinetts in der Sezession überfüllt war und alle Neger-Instikte
Groß-Berlins sich schamhaft erkannt und ans Licht gebracht sahen."20
Noch einmal klingt hier ein Stichwort an, das heute irritierend arglos
wirkt, aber zentral war für den Dadaismus der Anfangsjahre
19
Übs aus: Tristan Tzara: manifeste dada 1918, in: T.T.: lampisteries precedees
des sept manifestes dada Paris 1963, S 18f
2U
Ball. Briefe (Anm 16). S 124 - Einer von Balls Mitarbeitern hat für die Freie
Zeitung einen Bericht über diese Veranstaltung geschrieben Vgl Hanne Bergius:
Das Lachen Dadas Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen Gießen 1989, S
339
50 Hugo Balls Dadaismus
21
Ball. Flucht (Anm.2), S. 275
Hans Burkhard Schlichting 51
" Ball. Briefe (Anm. 16), S 66 (Bnef vom 7 10 1916 an August Hofmann)
:3
Ball. Flucht (Anm 2), S. 87-88
24
Meyer (Anm. 14), S. 39.
52 Hugo Balls Dadaismus
25
Ball, Flucht (Anm 2), S 96-97
26
Das wahre Gesicht sind bezeichnenderweise zwei politische Artikel beutelt, mit
denen Balls politisch-journalistisches Engagement in der Schweiz 1915 beginnt
und 1920 endet (in: Die neue Tribüne vom 5 11. 1915 und in Die Freie Zeitung
vom 17 3 1920). Von der paradoxen Enthüllung des wahren Gesichts durch
Hans Burkhard Schlichting 53
elektrische Licht und ich wurde vom Podium herab schweißbedeckt als
ein magischer Bischof in die Versenkung getragen "31
An den eigenen Unsicherheiten erfahrt Ball die ungewohnte Gestal-
tungsfreiheit einer rein phonetischen Poesie, die auch dort noch artiku-
latorische Entscheidungen fordert, wo bei gewohnten Texten Wortsinn
und Grammatik die Richtung weisen Lautgedichte sind Medien ohne
Botschaft, Spielräume des mimetischen Vermögens
Was sich für Ball hier in einer Art von medialen Selbstbegegnung
einstellt, wird zum Kern einer lebensgeschichtlichen Wende Aber der
Vorgang ist exemplarisch und weist - auch für Ball - über das Indivi-
duelle hinaus Früher als andere Dadaisten ahnt er, daß der Angriff auf
die hierarchische Grammatik des Sinns auch dessen Organisation in der
Schrift betrifft^2, die er in seinen dadaistischen Inszenierungen konse-
quenterweise verläßt, um die Laute in ihrer Ursprünglichkeit zu ent-
decken „Dada ist das Herz der Worte", konstatiert er im Ersten da-
daistischen Manifestn Der Theorie nach wird die rousseauistische
Vorstellung von der Ursprünglichkeit der Laute mit der zu befreien-
den Autonomie dieser Laute verknüpft, - im Sinne einer Radikalisie-
rung dessen, was die italienischen Futuristen 'parole in libertä', „Worte
in Freiheit" nannten Daß sich Ball bei seinem Schlüsselerlebnis mit
eigenen Lautgedichten in actu an rituelle Praktiken erinnert fühlt, er-
öffnet freilich einen neuen Zusammenhang, dem er in seinen späteren
Reflexionen nachgeht Die - wenn auch nur gedachte - Rückkehr auto-
nomistischer Kunstübung ins Ritual, bezeichnet einen Wendepunkt im
Bewußtsein der literarischen Moderne den von ihrer genialischen Au-
tonomie zur medialen Inspiration 35
3
^ Ebd. S 105-107.
32
Vgl Balls anarchistische Spekulation vom 1 7. 1915 zum Stil Proudhons: „Hat
man nämlich einmal erkannt, daß das Wort die erste Regierung war. so führt dies
zu einem fluktuierenden Stil, der die Dingworte vermeidet und der Konzentration
ausweicht Die einzelnen Satzteile, ja die einzelnen Vokabeln und Laute erhalten
ihr Autonomie zurück „ (Ball, Flucht [Anm 2], S 35)
33
Ball. Künstler (Anm. 13), S. 40.
34
Auch Ball scheinen einschlägige theologisch-philosophische Schriften von
Agnppa von Nettesheim, Rousseau. Herder und anderen nicht bekannt gewesen
zu sein
5
1926 beschreibt Ball diesen Übergang im Zusammenhang einer umfassenden
Knsis der modernen Künstlerexistenz Es handelt sich um den Aufsatz Der
Künstler und die Zeitkrankheit in: Ball (Anm 13), S. 102-149
Hans Burkhard Schlichting 57
36
Ball, Flucht (Anm 2), S 161-162
37
Ebd S. 153-154
38
Ebd. S. 154-155
58 Hugo Balls Dadaismus
die Verkörperung dieser Art aber galt Ball als Rückführung ins Au-
thentische „Das Tätowieren war ursprünglich wohl eine hieratische
Kunst", schreibt er: „Wenn sich die Dichter ihre Verse, oder auch nur
ihre Urbilder ins eigene Fleisch schneiden müßten, würde wohl weniger
produziert werden Andererseits würden sie den ursprünglichen Sinn
der Publikation als eine Form der Selbstentblößung weniger umgehen
können Auch würden manche Lyriker - ich will keine Namen nennen -
durch Vorzeigen ihrer Menschlichkeiten völlig entlarvt dastehen Item
man sollte darauf achten, ob Bücher geklext oder tätowiert sind Und
ob die Schönheit an den Kleidern hängt oder im Fleische brennt "39
Diese Insistenz auf dem Authentischen macht für Ball den Rumor hin-
ter allen dadaistischen Maskeraden aus Und aus dieser Insistenz ent-
wickelt er auch seine Kritik an Dada Kurz vor seinem Abbruch der
Galerie-Experimente notiert er am 14 Mai 1917: „Auch von den Ne-
gern nehmen wir nur die magisch-liturgischen Stücke und nur die Anti-
these macht sie interessant Wir drapieren uns als Medizinmänner mit
ihren Abzeichen und ihren Extrakten, erlassen uns aber gerne den Weg,
auf denen sie zu diesen Kult- und Paradestücken gekommen sind Ein
Kreuz ist übrigens einfacher als eine Negerplastik."
Ebd S. 61-62
Ebd S 168.
Hans Burkhard Schlichting 59
der Feder von Karl Döhmann: „Der Dadaismus ist die späte, sogar
eigentlich die verspätete Erkenntnis eines Zeitalters inbetreff der eige-
nen Bedeutung [...] Ohne daß er sich darauf irgend etwas Besonderes
zugute täte oder anders als mit parodischer Pedanterie etwa eine Reli-
gion machte, ist die analytische Funktion des Dadaismus, mit den
längst zu einem ragenden Wahnsystem schreckhaft erstarrten Grund-
vorstellungen einer Welt radikal aufzuräumen, sie auf Null zu reduzie-
ren, sie aufzulösen in das in jenen Phänomenen bereits wieder zu ah-
nenden, weil noch latenten, apeiron [i Original griech ] der Indifferenz,
es münden zu lassen in jenes mare tenebrarum unübersehbarer Sinnlo-
sigkeit, die in anschaulicher Metaphorik nur durch abstruseste Absurdi-
täten und letzthinnigen Irrsinn darstellbar ist / Es ist der unentrinnbare
Dadatropismus in der Zeittendenz, der hier seinen Ausdruck findet /
[...] Der Dadaismus lehrt gewissermaßen das Ideologisieren etc in
'allgemeinen' - an sich also unbestimmt gelassenen - Größen, eine
Technik, die als solche vergleichbar ist mit der Rechnung mit allgemei-
nen Buchstabengrößen (statt mit bestimmten, 'natürlichen' Zahlen),
wie sie [...] in der Algebra allgemein üblich geworden ist "45 Was der
zeichentheoretisch versierte Berliner Arzt Karl Döhmann an den kultu-
rellen Operationen seiner dadaistischen Freunde beschreibt, nimmt sich
wie das Vorspiel zum kulturanalytischen Ansatz späterer (Post-)
Strukturalisten aus.
Die allgemeine 'Algebra' des Ideologisierens, von der Döhmann
spricht, beruht auf einer Abstraktion von allen festgelegten Inhalten
Die antinormative Kraft der semiotischen Abstraktion wird zum An-
trieb für eine neue Art des kulturellen Verhaltens Der Realitätsgehalt
kultureller Semantik ist zur Disposition gestellt, die vertraute Einheit
von Signifikant und Signifikat zerbrochen Die Dadaisten werden zu
umtriebigen De-Konstrukteuren einer Kultur, die auf wankenden Bo-
den geraten ist und geschlossenen Ideologien wie religiösem Brauch-
tum auf Dauer die glaubhafte Grundlage entzieht Sich diesem Zustand
mit vollem Bewußtsein ausgesetzt zu haben, ohne seiner zynischen
Praktikabilität zu erliegen, ist eine historische Leistung der Dadaisten -
auch Hugo Balls Für ihn allerdings verliert das intelligente Spiel mit
45
Daimonides [d 1 Karl Döhmann] Zur Theone des Dadaismus, in Dada Alma-
nach Hg v. Richard Huelsenbeck Hamburg 1980 (Reihe Poetische Aktion), S
59-60 [Erstausgabe 1920]
Hans Burkhard Schlichting 61
Hugo Ball Bnefe und Karten an Fritz Brupbacher und Rudolf Grossmann, in
Hugo Ball Almanach 1981, S 133
Ball. Künstler (Anm 13), S. 45-46.
64 Hugo Balls Dadaismus
Ebd S 41-44
Hans Burkhard Schlichting 65
Ebd S. 42-43
Ball, Flucht (Anm. 2), S 154 (30 3. 1917).
Ebd S 170 (19 5 1917) - Eine Fragestellung, die 1926 zu den Hauptthemen
des Aufsatzes Der Künstler und die Zeitkrankheit (Ball [Anm. 13], S 102-149)
gehören wird, dort vor allem S. 140ff
Ball hatte Kandinsky kennengelernt, als dessen Schriften Über das Geistige in
der Kunst und die programmatische Anthologie Der Blaue Reiter vorlagen Und
tatsächlich war Kandmskys Einfluß auf Ball von Beginn an stark theoretisch ge-
prägt, - auch wenn der Anlaß der ersten Münchener Zusammenarbeit ins Feld der
lokalen Kulturpolitik gehört, aber schon dabei ging es beiden um die Durchset-
zung einer neuen Theaterkonzeption Eine Zusammenarbeit, die 1914 den Plan
einer Anthologie zur zeitgenössischen Theateravantgarde Gestalt annehmen ließ,
für die die beiden Herausgeber mcht Genngeres im Sinn hatten, als ein Bühnen-
Pendant zur Anthologie Der blaue Reiter zu schaffen Der Kriegsbruch vereitelte
deren Realisierung, für die Kandinsky sich bereits auf die Reise zu möglichen
russischen Beiträgern begeben hatte
66 Hugo Balls Dadaismus
der nicht nur Balls Irritation durch die Avantgarde in eine interpretato-
rische Bahn brachte, sondern ihm mit seiner Theorie Über das Geistige
in der Kunst auch das gnostische Motiv einpflanzte, das seine Lektüre
von Bakunin wie Thomas Münzer prägte und das sich nach Dada auch
in Balls politischer Kritik und in seiner Reaktivierung des Religiösen
bemerkbar machen sollte - Als Adept Nietzsches hatte Ball in seinen
literarischen Anfängen einem genialischen Dionysiertum gehuldigt, das
sich unter dem Eindruck Kandinskys seit 1914 in ein mediales Denken
transformiert
Unter diesem Aspekt ist auch Balls programmatischer Kandinsky-
Vortrag von 1917 zu sehen, mit dem er - nach eigenem Bekenntnis -
einen „alten Lieblingsplan"60 verwirklicht Ein grundsätzliches Be-
kenntnis zur modernen Kunst, das er in seinen Spätschriften nicht wi-
derrufen hat, vielmehr in seinen kulturkritischen Aspekten vertiefte -
vor allem 1926 in seinem Aufsatz Der Künstler und die Zeitkrankheit
Im einen wie im anderen wird die Moderne als universelle Krisis ver-
standen, auf die die für ihn relevanten Teile der modernen Kunst bereits
eine kritische Antwort sind Deren Kräfte zu einer Selbstheilung der
Moderne hat er später freilich nicht mehr derart hoch veranschlagt wie
er es 1917 in seiner Einschätzung der epochalen Rolle Kandinskys tat,
bei der er dessen bahnbrechende Rolle aus eigenem Erleben projeziert
haben mag Was hier noch als Therapie erscheint, rechnet später eher
selbst unter die Symptome der diagnostizierten „Zeitkrankheit": als
ungestillt sehnsüchtiger Romantizismus innerhalb der Moderne
„Romantizismen - Das Wort und das Bild" hat Ball auch den Teil sei-
nes redigierten Tagebuches überschrieben, der sein dadaistisches Enga-
gement behandelt Die Romantizismen der Moderne in Wort und Bild
erscheinen als ebenso erfinderische wie ungenügende Heilungsversu-
che, die ihr therapeutisches Wissen nicht aus der Moderne selbst bezie-
hen können In Balls Reflexionen der Ereignisse von 1916/17 dämmert
eine Einsicht, die in der letzten Galerie-Soiree („Alte und Neue Kunst")
demonstriert und schließlich zur Gewißheit wird: daß diese Selbsthei-
lungsversuche der Moderne im Einzelfall nur gelingen können, wenn
sie sich in eine Allianz mit ältesten Quellen der Inspiration begeben
Diesem Weg ist Richtung Orient Hermann Hesse gefolgt, den Ball
durch die Zeit der „Steppenwolf'-Krise freundschaftlich begleiten wird
und dessen Biographie 1927 den Abschluß von Balls Lebenswerk bil-
det Ihn selbst aber treibt es zu Inspirationsquellen der mediterran-
christlichen Kultur
Nicht zufällig äußert Ball schon 1916 die Vermutung: „Vielleicht muß
man die Kirchenväter lesen, um den Kubismus zu verstehen".61 Und
inmitten seines dadaistischen Engaments verfällt er auf Vergleiche der
modernen Kunst mit der historischen Rolle der Gnosis innerhalb der
spätantiken Welt „Es gibt eine gnostische Sekte, deren Adepten vom
Bilde der Kindheit Jesu derart benommen waren, daß sie sich quäkend
in eine Wiege legten und von den Frauen sich säugen und wickeln lie-
ßen Die Dadaisten sind ähnliche Wickelkinder einer neuen Zeit."62
Und er konstatiert, daß „die modernen Künstler Gnostiker sind und
Dinge praktizieren, die die Priester längst vergessen wähnen, vielleicht
auch Sünden begehen, die man nicht mehr für möglich hielt " 63 Er be-
merkt inmitten der zeitgenössischen Kunst Anzeichen für „eine ästheti-
sche Gnosis, und sie verdankt sich nicht der Sensation, sondern einer
unerhörten Zusammenfassung der Ausdrucksmittel "64 So wird das
künstlerische Gestalten „ein Beschwörungsprozeß und in seiner Wir-
kung eine Zauberei "65 Formulierungen aus der publizierten Spätfas-
sung des Tagebuchs, deren Frage-Richtung bereits im authentischen
Text des Kandinsky-Vortrages in der Galerie Dada enthalten ist
Im Studium der historischen Gnosis und Patristik wird Ball schließlich
das finden, was er damals zwischen Dadaismus und Anarchismus
suchte Als er 1921 für sein Buch Byzantinisches Christentum am
Kapitel über Dionysius Areopagita arbeitet, notiert er: „Als mir das
Wort 'Dada' begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysius
D A - DA. (über diese mystische Geburt schrieb H[uelsenbec]k, auch
ich selbst in früheren Notizen Damals trieb ich Buchstaben- und Wort-
Alchimie) "66
Mitten in dem Dionysius-Kapitel, das damals entsteht, findet sich die
Schilderung einer gnostischen Mysterienfeier, die sich wie eine histori-
sche Übermalung von Balls Beschreibungen dadaistischer Seancen
11
Ebd S. 141 (3 12 1916)
,:
Ebd S 99
3
Ebd S 153
* Ebd S 169.
5
Ebd S 156
16
Ebd S. 313(18 4 1921)
68 Hugo Balls Dadaismus
Mit den Namen Hugo Ball, Ernst Bloch und Walter Benjamin ist eine
raumzeitlich situierbare, intellektuelle Konstellation umschrieben: Bern
in den Jahren 1917 bis 1919 Blickt man von heute aus auf das jeweilige
Gesamtwerk, erscheinen darüber hinaus, unabhängig von der raumzeit-
lichen Konstellation, bei Ball, Bloch und Benjamin eine Reihe gemein-
samer theoretischer Fragen, philosophischer und politiktheoretischer
Probleme Gemeinsam ist den drei Schriftstellern auch ein jeweiliger
Beitrag zur ästhetischen Avantgarde, eine Verbindung von Theologie
und geschichtlichem Denken, schließlich die streitbare Auseinanderset-
zung mit den Intellektuellen. Das Denken eines jeden blieb im Laufe der
Jahrzehnte nicht stationär, es wandelte sich Gegen Ende des Ersten
Weltkrieges aber traf es in manchem zusammen, differierte in anderem
um Entscheidendes Mit anderen Worten: Es bildete auch qualitativ die
erwähnte Konstellation So kann es im folgenden nicht um einen Ver-
gleich der Gesamtwerke gehen Vielmehr sollen im Fokus der histori-
schen Konstellation 1917/1919 Balls und Blochs Jahre bei der Freien
Zeitung im Mittelpunkt stehen und die Berührungspunkte wie Differen-
zen des politischen und geschichtstheoretischen Denkens beider sowie
Walter Benjamins aufgewiesen werden.
Die biographischen Relationen dürfen somit nicht übergangen werden
Wer waren Ball, Bloch, Benjamin, als sie in Bern zusammentrafen9 Wie
verstand sich jeder selbst9 Waren die Richtungen des Lebens, die jeder
einschlagen sollte, schon erkennbar9 Zu fragen ist weiter mit Blick auf
die Schriften, ob und inwiefern die Freie Zeitung Balls und Blochs
Denken in jenen Jahren genuin prägte oder ob die Mitarbeit den Stel-
lenwert lapidarer Brotarbeit trug, und wenn ja, mit welchen Konse-
quenzen Für Bloch und Ball war sie der eigentliche Grund, Bern als
Aufenthaltsort in den letzten Kriegsjahren zu wählen Der Genauigkeit
halber: Bloch wohnte in Interlaken, 50 km von Bern entfernt - Im
Hinblick auf Walter Benjamin bleibt zu untersuchen, ob und inwieweit
70 Ball, Bloch und Benjamin
von einem Niederschlag seiner Berner Begegnung mit Ball und Bloch
auf sein weiteres Denken gesprochen werden darf
Zuerst einige Hinweise zum Jungen" Benjamin Walter Benjamin ist
1892 geboren Somit war er sechs Jahre jünger als Hugo Ball und sie-
ben Jahre jünger als Ernst Bloch Als Student der Philosophie siedelte
Benjamin Mitte Juli 1917 aus München in die Schweiz über, um an der
Universität Bern das Studium abzuschließen Das tat er 1919 auch, und
zwar mit einer Promotion bei Richard Herbertz Die Dissertation hat
den Titel Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik 1919
- im großen und ganzen nach Abschluß der Dissertation - lernte Ben-
jamin zuerst Ball und über diesen Bloch kennen Anders als beide war
Benjamin kein Mitarbeiter der Freien Zeitung Er hatte sich in der Ber-
ner Zeit in seinem Studium zum einen mit Pflichtthemen wie
„Schleiermachers Psychologie" befaßt, mit den Schriften Bergsons,
Hegels und Freuds Auch diese Lektüren waren damals mit durch das
Studium motiviert Doch er folgte auch eigenen Neigungen, übersetzte
Baudelaires Tableaux parisiens und arbeitete sich in die moderne fran-
zösische Literatur bis hin zu Charles Peguy und Andre Gide ein Auch
in sprachtheoretische Studien vertiefte er sich bereits Kritische Arbei-
ten und theoretische Entwürfe dokumentieren einen vom Studium un-
abhängigen literarischen und philosophischen Anspruch. Zu Recht
dürfen die Berner Jahre als solche der Konzentration und Formierung
des Denkens unterstellt werden An Publikationen wiesen ihn allerdings
bis dahin lediglich die Aufsätze aus, die er im reformpädagogischen
Umkreis von Gustav Wyneken sowie der Freien Studentenschaft ver-
faßt hatte
Ernst Bloch hatte sich bereits 1908 mit einer philosophischen Arbeit
über den Neukantianer Heinrich Rickert promoviert Sie trägt den Titel
Kritische Erörterungen über Rickert und das Problem der modernen
Erkenntnistheorie (1909) Bloch besuchte später in Berlin die Privatkol-
loquien von Georg Simmel, lernte hier Margarete Susmann kennen, der
er Thomas Münzer als Theologe der Revolution widmete, und auch
Georg Lukäcs, der Privatdozent in Heidelberg wurde Hier wiederum
1
Die frühen Arbeiten Benjamins sind auffindbar in den Bdn II, VI und VII der
Gesammelten Schriften (im weiteren: GS) Walter Benjamin: Gesammelte
Schriften Hg von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser Frank-
furt/M. 1974 ff
Chrvssoula Kambas 71
bewegte sich Bloch eine Zeitlang im Umkreis Max Webers Von Hei-
delberg aus wurde er mit dem Auftrag des Archivs für Soziahvissen-
schaft und Sozialpolitik in die Schweiz geschickt, das aktuelle Umfeld
der Kriegsgegner soziologisch genauer in Betracht zu nehmen. Bloch
kam bereits mit einem anderen, schon fertigen Manuskript in die
Schweiz, nämlich dem von Geist der Utopie, das 1918 in Berlin publi-
ziert wurde Bloch hatte also schon einem seiner Lebensthemen eine
erste Gestalt gegeben.2
Er hatte sich in Deutschland im Kreis junger deutsch-jüdischer Intel-
lektueller bewegt, die an sich selbst höchste Anforderungen stellten Es
ging um die Erneuerung gesellschaftswissenschaftlichen Denkens, der
Ästhetik und des Metaphysikproblems Dies alles, auch die Freund-
schaft mit Georg Lukäcs, hatte schon einen Niederschlag in Geist der
Utopie gefunden Die damaligen Schriften Balls hingegen waren von
mehreren Existenzbrüchen gezeichnet, wie dies für Dichter der expres-
sionistischen Generation signifikant ist. Es blieben Fragmente eines Le-
bens im Umbruch: die Dissertation Nietzsche in Basel, nicht eingereicht
und nicht gedruckt, ein Gedichtband Plimplamplasko aus den Dada-
Monaten, den der Verleger Erich Reiss zurückwies, eben abgeschlossen
hingegen war kleine Roman Flametti, der, traditionell erzählend, den
Selbstverlust eines Intellektuellen in vorstädtischen Varietewelten the-
matisiert, und der im Laufe des Jahres 1918 bei Reiss erschienen ist
Auch die erste Hälfte des Bakunin-Breviers war abgeschlossen, aber es
blieb unpubliziert
Die drei Jahre, die Ball in Bern als Mitarbeiter und Redakteur der
Freien Zeitung verbrachte, führten zu einer vergleichsweisen äußeren
Stabilität in seinem Leben, bedeuteten auch Ruhe im Vergleich zur
Verausgabung während der Dada- oder Varietephasen und ein wohl
relativ gewisses Einkommen, wenn auch gewiß kein zu üppiges. Einige
Daten zur in Bern verbrachten Zeit: Anfang September 1917 zog Ball
allein, ohne Emmy, nach Bern Über die Elsässer Rene Schickele und
Salomon Grumbach - beide gehörten zur politischen Emigration -
2
In meiner biographischen Darstellung folge ich Peter Zudeick: Der Hintern des
Teufels: Ernst Bloch - Leben und Werk Bühl-Moos 1985 Zu den Schwerpunkten
des Werks vgl die Monographie von Manfred Riedel Tradition und Utopie Ernst
Blochs Philosophie in unserer geschichtlichen Denkerfahrung Frankfurt/M
1994, zur Berner Zeit insbesondere S 12-19.
72 Ball, Bloch und Benjamin
3
Meine biographische Übersicht folgt der von Hans Burkhard Schlichting zusam-
mengestellten Chronik in: Hugo Ball Der Künstler und die Zeitkrankheit Aus-
gewählte Schnften. Hg von Hans Burkhard Schlichting Frankfurt/M 1984), S
424-451
Chryssoula Kambas 73
öfter mit einem utopischen Freunde, E.B., der mich veranlaßt, Monis
und Campanella zu lesen, während er seinerseits Münzer studiert und
den Eisenmenger " 4 Demnach hätten sich Ball und Bloch unmittelbar in
den ersten Monaten über Gespräche und Lektüre wechselseitig nach-
haltig inspiriert, Ball „empfing" das utopische Schrifttum der frühen
Neuzeit, Bloch die Reformationsfrage und, in Sachen Geschichte des
Judentums, die antisemitische Schrift Entdecktes Judentum (1701) von
Johann Andreas Eisenmenger, die, wie Scholem später berichtet, für
Blochs 'System' des Messianismus wesentlich wurde Daß er den Hin-
weis auf Thomas Münzer Hugo Ball verdankte, ist gewiß und darf
somit als Anstoß zur späteren Schrift Thomas Münzer als Theologe der
Revolution (1921) gewertet werden 5
Hat sich die wechselseitige Inspiration auch in beider Arbeiten für die
Freie Zeitung niedergeschlagen9 Um diese Frage weitergehend beant-
worten zu können, untersuche ich zunächst die Kritik der deutschen
Intelligenz und dazu analoge Zeitungsartikel Balls. Geist der Utopie
und sein argumentatives Muster in der 1918 publizierten Fassung sollen
im Anschluß daran Aufschlüsse geben über die Differenz des Bloch-
schen Denkansatzes, der sich wiederum in Artikeln der Freien Zeitung
zurücknimmt
Balls Schrift über die Intellektuellen entstand in unmittelbarer Nähe zu
seinen Artikeln für die Freie Zeitung Dies betrifft sein Bild der Refor-
mation und die Bedeutung Münzers, die Kriegsschuldfrage und die
Kritik an Preußen, die Bindung der Ideen von 1789 - Freiheit, Gleich-
heit, Brüderlichkeit - an eine Linie von Antipreußentum und Antiprote-
stantismus, weitgehend gleichgesetzt mit einer libertären anarchistisch-
antimarxistischen Tradition Und dies betrifft nicht zuletzt die Erklä-
rung, der Kern der aktuellen Revolution sei die Erneuerung der Moral,
initiiert von einer „Kirche der Intelligenz"
Balls Kritik der deutschen Intelligenz, einem Pamphlet, geht es um
Bloßstellung, ja gelegentlich um bösartige Karikierung der autoritätsfi-
xierten Bewußtseinsverfassung der Deutschen, ihm geht es um Anklage
und Vor-den-Kopf-Stoßen, mit Hilfe eines ideengeschichtlichen Nach-
weisverfahrens wird der Leser wachgerüttelt, aufgeweckt wie Ball
4
Hugo Ball Die Flucht aus der Zeit Luzern: Josef Stocker 1946, S. 201/02
5
Dazu Volker Knüfermann: Civitas dei et civitas hominum Zu Hugo Balls Mün-
zer-Darstellung, in Etudes germaniques 33 (1978) 1. S 21
74 Ball, Bloch und Benjamin
6
Ball, Künstler (Anm 3). S 178/79
Hugo Ball Zur Kritik der deutschen Intelligenz Ein Pamphlet Hg. von Gerd-
Klaus Kaltenbrunner München 1970, S. 50/51.
Chryssoula Kambas 75
Zu Mehnng siehe Ball, Kritik (Anm.7), S 218 Zur Haltung Mehnngs gegenüber
Luther vgl Franz Mehnng: Die Lessmg-Legende Mit einer Einleitung von Rai-
ner Gruenter Frankfürt/M /Berlin/Wien 1972, S 216.
9
Ball, Kritik (Anm. 7), S. 140.
10
Ball, Kntik(Anm 7). S 82
76 Ball, Bloch und Benjamin
13
Ball, Kntik (Anm. 7), S. 186.
14
Ernst Bloch: Geist der Utopie. Faksimile der Ausgabe von 1918 Frankfürt/M
1971, S 337
78 Ball, Bloch und Benjamin
18
Ball, Kritik (Anm. 7), S. 240/41.
9
Dazu Michael Pauen Apotheose des Subjekts Gnostizismus in Ernst Blochs
Geist der Utopie. In: Bloch-Almanach 12/1992, S. 16-64, insbes. S 25 f.
20
Martin Korol Gespräch mit Ernst Bloch im Beisein von Karola Bloch und Burg-
hart Schmidt Tübingen am 25 Juni 1976 Zit nach M. Korol: Einleitung, in:
Ernst Bloch: Kampf, nicht Kneg Politische Schriften 1917-1919 Hg. von M Ko-
rol Frankfurt/M 1985. S 38
21
Michael Landmann Gespräch mit Ernst Bloch in Tübingen am 22 Dezember
1967. m: Bloch-Almanach 4/1984, S. 36.
80 Ball, Bloch und Benjamin
Korol. Einleitung (Anm 20), S. 41 Die folgende Darstellung stützt sich weitge-
hend auf diesen Text sowie Martin Korol: Über die Entwicklung des politischen
Denkens Ernst Blochs im Schweizer Exil des Ersten Weltknegs, dargestellt an
drei Texten aus den Jahren 1917, 1918 und 1919, in: Bloch-Almanach 1/1981, S.
23-45
Chryssoula Kambas 81
23
Korol. Einleitung (Anm 20), S 37 und 65
82 Ball, Bloch und Benjamin
24
Henning Köhler Novembenevolution und Frankreich Düsseldorf 1980, S 96
Nach Köhler ist die Freie Zeitung hauptsächlich von der französischen Propagan-
dafinanziert,und zwar über geschäftsmäßige Kontakte von Foerster und Muehlon
zu Haguenin
Chryssoula Kambas 83
„An unsere Freunde und Kameraden": „Eisner als Erster und Einziger
hatte in Deutschland begriffen, worum es sich handle, [...] um die
Weltrevolution 'gegen' Deutschland - Außerhalb Deutschlands hatten
diesen Standpunkt längst Männer vertreten, deren Namen nicht oft ge-
nug von uns und von euch, Kameraden, genannt werden können Män-
ner wie Dr R Grelling, Konsul Dr Hans Schlieben, Prof L W. Foer-
ster, Dr W Muehlon, die eigentlichen Führer der beginnenden deut-
schen Revolution Führer zu einem neuen, modernen, anständigen, auf-
richtigen Deutschland [...] Eisner war es allein, der den Feind nur im
Lande suchte, nicht draußen Sein Ende ist deshalb erschütternder, ed-
ler sein Opfer, als das der Liebknecht und Luxemburg "25 Derartige
Rhetorik ist als übliche journalistische Pathetik zu bewerten Doch mißt
man sie an der Kompromißlosigkeit der Sprachkritik des Dadaisten
Ball, erscheint das Pathos als Entgleisung des Schriftstellers, als Inkon-
sequenz Hatte die Begründung der Klanggedichte nicht gelautet: „Man
verzichte mit dieser Art Klanggedicht in Bausch und Bogen auf die
durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Spra-
che"926 1919 verführte der Journalismus Ball zur „verdorbenen Spra-
che" und Verkennung der deutschen Realität
Demgegenüber hielt er im Tagebuch während seiner Deutschlandrei-
sen die eigene Ernüchterung, die Skepsis in die politische Entwicklung
fest; eine verzweifelte geschichtsnihilistische Haltung kommt zum Vor-
schein und Entsetzen über die Intellektuellenverfölgung während und
nach der Münchner Räterepublik, deren Terror er durchaus auf sich
beziehen konnte Ball notierte in dem Kontext: „Resultat daß die poli-
tische Aktion in der Schweiz keinen Sinn mehr hat, und daß es kindisch
ist, diesem Treiben gegenüber auf Moral zu bestehen Ich bin gründlich
geheilt, von der Politik nun auch, nachdem ich den Ästhetizismus be-
reits früher abgelegt hatte Es ist notwendig, noch enger und aus-
schließlicher auf die individuelle Basis zu rekurrieren, nur der eigenen
Integrität zu leben, auf jedes korporative Wirken aber ganz zu verzich-
ten "2 Weitere Aufzeichnungen aus der zweiten Jahreshälfte 1919 las-
25
Ball. Künstler (Anm. 3). S 256/57
26
Ball. Flucht (Anm 4). S. 100.
27
Ball. Flucht (Anm 4), S 230/31 Eintrag unter "24 V." des Jahres 1919. Ob es
sich um einen unbearbeiteten oder später bearbeiteten Nachtrag handelt, kann,
wie hinsichtlich des Gesamttextes, nicht entschieden werden
84 Ball, Bloch und Benjamin
28
Ball, Flucht (Anm. 4), S. 251 Aufzeichnung unter "19 X " des Jahres 1919.
29
Hugo Ball: Bnefe 1911-1927 Hg von Annemane Schutt-Hennings Einsiedeln,
Köln 1957, S. 113; an Emmy Hennings, Apnl 1918. - Ernst Bloch: Bnefe 1903-
1975. Bd 1 Red von Uwe Opolka Frankfürt/M 1985, S. 242; Bloch an Mu-
ehlon, 11. 12 (1918)
30
Es handelt sich um den Artikel Die Umgehung der Instanzen vom 16. 11 1918;
in: Ball, Künsüer (Anm. 3). S 231-233 - Korol. Einleitung (Anm 20), S. 51-53
31
Bloch, Briefe, S 232-235; an Muehlon vom 22. 11. (1918).
32
Volker Knufermann Hugo Ball und Ernst Bloch als Beiträger der Freien Zeitung
Bern 1917-1919. in: Hugo-Ball-Almanach 1988, S. 30-46
Chryssoula Kambas 85
1918, Unser Reich Hier habe Bloch Balls Idee, den preußischen Staat
als lutherische Theokratie zu kritisieren, plagiiert Entsprechende Paral-
lelen finden sich in Blochs Rezension zu Muehlons Schrift Verheerung
Europas3*, weitere in Blochs Broschüre Vademecum fiir heutige De-
mokratien, die er im September 1918 abgeschlossen hatte Hierbei gehe
es vor allem um die von Bloch ungenannte Quelle, nämlich Hugo Ball,
für die revolutionäre Geschichte aktualisierende Deutung von Thomas
Münzer
Korols und Knüfermanns Überlegungen, die mit je anderem Akzent
unterstellen, beim Abbruch der Verbindung Ball-Bloch habe es sich um
einen persönlich motivierten, handfesten Bruch handeln müssen, läßt
sich entgegnen: Seit Balls erstem Beitrag in der Freien Zeitung im Ok-
tober 1917, Aufgabe für einen deutschen Philologen, waren seine Pro-
testantismuskritik und die Rolle Münzers darin publik Daß Bloch - seit
1911 betonte er die Notwendigkeit, das preußische Junkertum abzu-
schaffen - dann in dasselbe Hörn stieß, trug bei der preußenpolemischen
Tendenz der gesamten Zeitung zur Vereinheitlichung des aktualisieren-
den historischen Codes bei. „Irritationen" Balls sollten nicht überbewer-
tet werden, er dürfte Blochs Neigung zur enthusiastischen Adaption
von Gedanken und Ideen ihm Verbundener als charakteristischen Denk-
und Schreibstil schnell bemerkt haben Die Irritation Blochs über Balls
antisemitische Spitze wiederum kann von jenem gegenüber den Haupt-
verantwortlichen der Zeitung hochgespielt worden sein, um die Mitar-
beit aufzukündigen Hinsichtlich der persönlichen Verbindung können
die Zeitumstände, die unhaltbare Lage, die politischen Illusionen, die
von beiden sukzessive bewältigt werden mußten, allgemein eine Erosi-
on herbeigeführt haben Ein Bruch muß nicht zwangsweise vollzogen
worden sein Bloch wollte nach Deutschland zurück, sein Antrag auf
Einreise datiert vom Dezember 1918 Gegen einen unwiderruflichen
Bruch nach seinem Verlassen der Freien Zeitung mit Ball spricht dann
auch, daß er noch im Frühjahr 1919 über diesen mit Walter Benjamin
bekannt gemacht wurde
Was nun Walter Benjamins Verhältnis zu den beiden Denkern und
Journalisten angeht, so muß ein Hinweis zur Biographie nachgetragen
werden Benjamin hatte eine engagierte 'politische' Lebens-Phase 1915
34
Werner Kraft Spiegelung der Jugend Frankfurt/M 1973, S 72
35
Dazu Gershom Scholem Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft.
Frankfurt/M 1975 (im weiteren Walter Benjamin), S. 69 ff
36
GS VI, S. 804. Der "Stammbaum" ist 1932 im Zusammenhang der Arbeit an der
Berliner Chronik erstellt.
Benjamin nannte sie "dokumentarisch interessant" Walter Benjamin: Briefe
Bd 1 Hg. von Gershom Scholem und Theodor W Adorno Frankfurt/M 1966
(im weiteren: Briefe). S 214; an Ernst Schoen vom 24 7 1919 Vgl auch Scho-
lem, Walter Benjamin (Anm 35), S. 101. "Benjamin erzählte öfter von seinen
Besuchendort"
38
Scholem, Walter Benjamin (Anm 35), S 101
Chryssoula Kambas 87
matik der Weimarer Republik Die Notiz dazu findet sich anläßlich ei-
ner geplanten, dann aber nicht zustandegekommenen privaten Vortrags-
reihe bei dem Arzt Dalsace 39 Beide Notizen zeigen nur: Ball blieb
Benjamin unvergessen, und er verband dessen Person mit der deutschen
Intellektuellenproblematik.
In der Konstellation Ball-Bloch erhielt der 'junge' Benjamin einen
bedeutsamen Anstoß dazu, was er „Gedanken über Politik" nannte Der
aufschlußreiche Beleg dafür lautet im einzelnen: „Ich habe viel für mich
nachgedacht und dabei Gedanken gefaßt, die so klar sind [...] Sie be-
treffen Politik In vieler Beziehung [...] kommt mir dabei das Buch eines
Bekannten zu statten [gemeint ist Geist der Utopie, CK.], welcher der
einzige Mensch von Bedeutung ist, den ich in der Schweiz bisher ken-
nen lernte Mehr als sein Buch noch sein Umgang, da seine Gespräche
so oft gegen meine Ablehnung 'jeder' heutigen politischen Tendenz sich
richteten, daß sie mich endlich zur Vertiefung in diese Sache nötigten
[...]. Über Geist der Utopie schrieb Benjamin eine ungedruckt ge-
bliebene längere, heute verschollene Rezension Als einziger Aufsatz
einer Trilogie Über Politik blieb der 1921 erschienene Zur Kritik der
Gewalt erhalten Dieser, wiewohl erst 1920/21 und nicht mehr in der
Schweiz geschrieben, enthält eine metaphysische Legitimierung der
revolutionären Gewalt Benjamin hat seine Argumentation in Auseinan-
dersetzung mit Georges Sorels Reflexions sur la violence*1 entwickelt
„Er hatte damals," schreibt Scholem über Benjamins letzte Berner Mo-
nate, „wohl im Verfolg seiner Gespräche mit Ball und Bloch, die
'Reflexions sur la violence' von Georges Sorel zu lesen begonnen, die
er auch mir ans Herz legte Die Auseinandersetzung mit Sorel hat ihn
dann lange beschäftigt "4
39
GS VI, S 743 Die abgedruckten Notizen lassen eine thematische Nähe zu dem
bekannten Vortrag Der Autor als Produzent (Frühjahr 1934) erkennen
40
Benjamin, Briefe (Anm. 37), S. 218/19; an Ernst Schoen vom 19. 9 .1919. Vgl
dazu auch Scholem (Anm 35), Walter Benjamin, S 102
41
Eine Sammlung politischer Aufsätze, die 1908 erschienen ist Zu den einzelnen
Werkbezügen zwischen Benjamin und Sorel vgl Verf: Walter Benjamin liest Ge-
orges Sorel 'Reflexions sur la violence'. in: Aber ein Sturm weht vom Paradiese
her Texte zu Walter Benjamin Hg von Michael Opitz und Erdmut Wizisla
Leipzig 1992. S 250-269 Der Beitrag erschien zuerst in den Cahiers Georges
Sorel 2/1984.
42
Scholem, Walter Benjamin (Anm 35), S 109
88 Ball, Bloch und Benjamin
Was oder wer immer Benjamin den Anstoß zur Sorel-Lekture gab,
läßt sich demnach nicht genau sagen Bedeutsam war in jedem Fall die
Konstellation in Bern: die Enttäuschungen Balls und Blochs über die
letztliche Fundamentlosigkeit ihres politischen Journalismus, dabei ge-
wiß auch die Suche nach einer Neuorientierung, ihre beiden Bücher, der
Schock über die Kette der Gewalt seit der Novemberrevolution, spe-
ziell die Verfolgung der Intellektuellen, die in Deutschland auf sehen
der Revolution staatspolitische Verantwortung übernommen hatten,
gewiß nicht zuletzt die Reihe der Schweizer Landesstreiks43
Benjamins sehr komplexer Gedankengang soll abschließend umrissen
und in Beziehung zu Blochs Utopieentwurf und Balls Ethik der Intelli-
genz gesetzt werden: In Kritik am Naturrecht und an einer deskriptiven
Analyse von Gewaltanwendung nach Grundsätzen des positiven Rechts
sieht Benjamin in diesem eine Kette von Rechtsetzungen, wenn die
Gewalt des Staates nicht sanktionierter Gewalt entgegentritt Darüber
entsteht die „Monopolisierung der Gewalt" durch das Recht, dem somit
Gewalt innewohnt Diese Rechtsverhältnisse über Rechtsetzung sind
nach Benjamin mythisch begründet, und dabei von geschichtlich imma-
nenter Art Jedes Opponieren dagegen führt neue Gewalt und wiederum
Rechtsetzung herauf Nur durch eine Gewalt anderer Herkunft lasse
sich dieser Zirkel durchbrechen Sie denkt Benjamin nach dem Modell
des Gottesgerichtes, unter Verweis auf das 2. Buch Mose des Alten
Testamentes Das Gottesgericht wirke als eine „reine Gewalt" und
damit „rechtsvernichtend" Es steht außerhalb der geschichtlichen Zeit
und damit der Kette der Rechtsetzungen Den Nullpunkt zwischen Ge-
schichte und Gottesgericht füllt Benjamin mit Sorels Konzeption des
revolutionären Generalstreiks Dieser durchbreche vom Boden der Ge-
schichte aus die Kette mythischer Rechtsetzungen 44
Zur Erläuterung: Sorel unterscheidet zwischen einem politischen
Streik und dem revolutionären Generalstreik Der erste stellt nach So-
rels Definition ökonomische Forderungen auf und werde mit einem
Zu Streiks und Aufstanden in der Schweiz ist noch stets der zeitgenössische Be-
richt interessant von Fntz Brupbacher Zünch während Kneg und Landesstreik
Zünch 1928.
GS II 1, S 202 Zur Kritik der Gewalt erschien zuerst im Archiv für Sozialwissen-
schaft und Sozialpolitik, 47 Bd . 1920/21, dessen Mitarbeiter, wie bereits er-
wähnt. Bloch war
Chryssoula Kambas 89
Kompromiß beigelegt, sei somit als quid pro quo eine Form der Erpres-
sung und diene nur der jeweiligen politischen Stabilisierung Sorel greift
damit die Mehrheitssozialisten und deren Interesse am republikanischen
Parlamentarismus an Der politische Streik gilt ihm als klassisches Mit-
tel, die Arbeiterschaft zu disziplinieren Der revolutionäre Generalstreik
hingegen steht für ihn jenseits der Republik, er erschüttere die Klassen-
gesellschaft Ökonomische Forderungen würden in ihm gleichgültig
Die Masse selbst verständige sich vielmehr mit Hilfe mythischer Bilder
Der Sieg, die eigene Aufopferungsbereitschaft, auch der revolutionäre
Generalstreik selbst seien solche Mythen 45 Sorel setzte mit seinem
Konzept den Voluntarismus gegen den sozialdemokratischen Determi-
nismus Den Voluntarismus denkt er als kollektive Aktion Seine Kon-
zeption ist vergleichbar mit der in Geist der Utopie von Bloch entwik-
kelten zwischen „absolutem Umsonst" und „absolutem Überhaupt"
Mit Sorels Konzeption des revolutionären Generalstreiks übernimmt
Benjamin dessen syndikalistisch-anarchistische Grundsätze seine Kritik
am Staatsglauben der sozialistischen Intellektuellen und die Zurückwei-
sung ihres Anspruches auf „Führung" in den Klassenauseinandersetzun-
gen, die Abweisung der „Utopisten", d.h. derer, die auf klassenüber-
greifende, harmonisierende Lebensreformprojekte setzen, schließlich
die Überzeugung von der Notwendigkeit, innerhalb der Klassenausein-
andersetzungen öffentlich für die revolutionäre Gewalt einzutreten, da,
so Benjamin, nur sie „die Entfaltung eigentlicher Gewalt in den Revo-
lutionen zu vermindern geeignet ist"
Damit hat Benjamin in Form eines Modells erwiesen, „daß und wie
auch die revolutionäre Gewalt möglich ist, mit welchem Namen die
höchsten Manifestationen reiner Gewalt durch den Menschen zu bele-
gen ist "47 Dies Modell läßt sich als Gleichnis auf das Durchbrechen der
Immanenz der Geschichte mittels kollektiver Handlungsweisen verste-
Georges Sorel Über die Gewalt Mit einem Nachwort von George Lichtheim
(Neuauflage der Ausgabe Innsbruck 1928) Frankfurt/M 1969, S. 143 ff Dazu
Helmut Berding Der politische Mythos in der Theorie Georges Sorels und in der
Praxis des Faschismus, in: Poliüsche Ideologien und naüonalstaaliche Ordnung
Studien zur Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts Festschrift für Theodor
Schieder Hg v. Kurt Kluxen u Wolfgang J Mommsen München u Wien 1968,
S. 239-252.
GS II 1 (Anm 1), S. 195.
GS II 1 (Anm 1). S. 202.
90 Ball, Bloch und Benjamin
hen Es steht an der Stelle, wo in Blochs Geist der Utopie der Dualis-
mus zwischen Empirie und Utopie in Form der mystisch affinitiven
Tendenz zum „Reich" immer schon überbrückt ist Diese Kritik oder
Ergänzung Blochs hat Benjamin im Theologisch-politischen Fragment
ebenfalls festgehalten „Erst der Messias selbst vollendet alles histori-
sche Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf
das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft Darum kann
nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wol-
len Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dy-
namis, es kann nicht zum Ziel gesetzt werden Historisch gesehen ist es
nicht Ziel, sondern Ende Darum kann die Ordnung des Profanen nicht
am Gedanken des Gottesreiches aufgebaut werden, darum hat die
Theokratie keinen politischen sondern allein einen religiösen Sinn Die
Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben ist das
größte Verdienst von Blochs Geist der Utopie."
Eben darum war Hugo Ball ein Nachfolger von Ernst Bloch Doch
Hugo Balls Zur Kritik der deutschen Intelligenz ist im geschichtstheo-
retischen Bezugsrahmen bei Benjamin nicht präsent Ja, man muß sogar
sagen, daß die von Ball zugrundegelegte Annahme, der Geistige sei ein
Führer in Fragen von Moral und Revolution, von Benjamin zeitlebens
als zu widerlegender Irrtum vehement attackiert worden ist Die Aus-
einandersetzung darüber führte er auch mit Bertolt Brecht und im Rah-
men der späteren Volksffontsammlung der Intellektuellen, wo es eben-
falls darum ging, daß gegen die Gewalt Hitlers die Kultur, somit von
den Intellektuellen der „Kanon der Menschheit und Menschlichkeit auf-
rechterhalten"49 werden könne Für Benjamin waren das Illusionen der
Intellektuellen über ihre Rolle im Klassenkampf, Illusionen auch über
dessen gewaltsame, katastrophische Form Eine Affinität zwischen
Benjamin und Ball darf man hingegen in Sachen Anarchismus unterstel-
len Hier fehlte Benjamin ein ideengeschichtliches Fundament, das Balls
Kritik der deutschen Intelligenz eindrucksvoll von Weitling bis zu
Brupbacher entfaltet Der theologische Bezugspunkt in Benjamins Kri-
tik der Gewalt, der messianische Bruch der Kette der Rechtsetzungen,
steht aber Balls libertär-religiöser Anarchie nahe, in dem wortwörtli-
Die „sechs Laut- und Klanggedichte, entstanden 1916", wie sie in sei-
nen Gesammelten Gedichten heißen, haben Hugo Ball berühmt ge-
macht, es sind seine DADA-Gedichte, also die Gedichte, mit denen der
Dadaismus begann Für Ball war das nur eine kurze Phase in seinem
Leben, die sechs Gedichte stellen nur einen kleinen Teil seiner Gedichte
dar und insgesamt sind sie nur ein winziger Teil seines Werkes, das von
der Literaturwissenschaft kaum wahrgenommen wird Nur drei Monate
im Frühjahr 1916 dauerte die DADA-Zeit des „Cabaret Voltaire" in der
Züricher Spiegelgasse, in der Ball die führende Kraft war Danach kam
die „Galerie DADA" in der Züricher Bahnhofstraße im Frühjahr 1917,
dort wirkten andere schon stärker als er, eben die, die aus dem Jux, der
Donquichotterie, wie Ball es nannte, eine Kunstrichtung machten und
sie nach Paris und Berlin trugen: Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck
u a Deren Konzeption ist im Blick der Literaturwissenschaftler, die
Hugo Balls interessierte sie nicht Und doch sind diese sechs Gedichte
nur zu verstehen aus dem Zusammenhang von Leben und Werk, aus
dem Zusammenhang des Denkens, das Hugo Ball der Öffentlichkeit
überlieferte: mit seinen tagebuchartigen Erinnerungen Die Flucht aus
der Zeit, die 1927, im Jahr seines Todes, erschienen
Aus Balls Sicht ist der Dadaismus nicht nur eine Polemik gegen den
„Todestaumel der Zeit", er ist nicht nur gegen etwas gerichtet, sondern
er versucht auch etwas aufzurichten. Die Quelle, aus der sich Ball
speist, ist ein verschüttetes Christentum, das muß jedem auffällen, der
diese Eintragungen liest, von denen nicht anzunehmen ist, daß sie
durch spätere Bearbeitung wesentlich verändert wurden. So schreibt er
im Juni 1916: „Der Dadaist kämpft gegen die Agonie und den To-
destaumel der Zeit" (12 6 1916) Und zwei Absätze weiter: „Das
1
Statt eines ausführlichen Anmerkungsapparates sei für die bibliographische Er-
schließung auf die Literaturhinweise am Ende des Beitrages sowie die Hinweise
im Text selbst verwiesen
94 Die in die Irreführen
Wort und das Bild sind eins Maler und Dichter gehören zusammen
Christus ist Bild und Wort Das Wort und das Bild sind gekreuzigt"
(13 6 1916) Hier wird nicht nur das Miteinander von Malerei und
Dichtung postuliert, hier werden auch beide auf Christus zurückgeführt
- mit einer verdeckten Reminiszenz an den Anfang des Johannes-Evan-
geliums Das Wort ist gekreuzigt, und das Wort wird wieder auferste-
hen Die Zerlegung des Wortes in seine Bestandteile, die der Zerlegung
des Satzes in Worte folgte, wie es die Eintragungen vom 18 Juni und
vom 23 Juni 1916 berichten, ist nicht nur eine Destruktion, sondern
zugleich die Hoffnung auf einen neuen Aufbau aus den offengelegten
Elementen
„Ich habe eine neue Gattung von Versen gefunden", beginnt die Ein-
tragung vom 23 Juni, die das Ereignis der „Lautgedichte" oder „Verse
ohne Worte" festhält Das Ereignis vollzog sich in einer Reminiszenz,
die Ball diesmal offenlegt Seine Verkleidung erinnert schon an die
eines katholischen Bischofs, wie das bekannte Foto2 belegt, und sein
Psalmodieren der Verse ohne Worte wird zum Sprechgesang des Prie-
sters, wie ihn der Knabe in vielen Messen kennenlernte Selbst die Ver-
se ohne Worte haben hier einen Ursprung denn dem, der Latein nicht
verstand, mußten die lateinischen Worte des Priesters unverständlich
sein, also Worte ohne Bedeutung, nur ihrem Klang nach aneinanderge-
reiht
So ist es auch konsequent, wenn in den Soireen der „Galarie DADA"
in der Bahnhofstraße neben der „Neuen Kunst" auch die „alte Kunst"
ihren Platz hatte Emmy Hennings las etwa aus Mechthilds von Mag-
deburg mystischen Schriften, Hans Arp aus Jakob Böhmes Morgenröte
im Aufgang. Es ist also nicht nur der Einzelgänger Ball, der die alten
Quellen aufsucht, es sind auch die Freunde, die diese „tausendjährigen
Fetische" ausgraben, wie Ball schreibt: „Nur die aufgeräumtesten und
reduziertesten Dinge können uns noch Freude machen " (14 5 1917)
Im Rückblick wird ihm sogar die Bezeichnung DADA zur doppelten
Abkürzung des Dionysius Areopagita, also D A D A , dem er sich
schließlich zuwandte und den er in seinem Byzantinischen Christentum
2
Vgl die Abbildung auf der ersten Umschlagseite des vorliegenden Bandes sowie-
Ernst Teubner (Hg.): Hugo Ball Leben und Werk (1886 • 1986) Berlin 1986. S
134.
Hans Dieter Zimmermann 95
mit Entschiedenheit fort und er verbindet beide, denn sie kommen aus
derselben Wurzel
Diese Wurzel ist der Zweifel an den verbreiteten Erklärungsmodellen
des 19 Jahrhunderts, an Idealismus und Materialismus, Positivismus
und Nationalismus Und die Hoffnung, daß es jenseits rationaler Erklä-
rungsversuche eine andere Erkenntnismöglichkeit gäbe, eine intuitive,
eine wortlose - so wie die alten Mystiker sie erfahren haben Der
Zweifel und die Hoffnung führten zu eigenen und eigenwilligen Versu-
chen auf den Gebieten der Kunst und der Philosophie, sie führten nicht
ohne weiteres in den Schoß der Kirchen zurück, denn die Rationalität
war hier im Wege. Diese aufzugeben, die doch gerade das Mittel war,
die flachköpfigen Erklärungsmodelle zu analysieren, waren nur wenige
bereit
Deshalb kann man sagen, daß die Moderne in Literatur, Kunst und
Philosophie zu Beginn unseres Jahrhunderts im Spannungsfeld von
Rationalität und Mystik entstanden ist „Rationalität und Mystik sind
die Pole unserer Zeit", schreibt Robert Musil im Tagebuch Sie bedin-
gen einander, sie hängen voneinander ab Und wer verstehen will, was
sich in Hugo Balls Generation ereignete, muß beide Pole bedenken
Wer einen ignoriert, wie es zu oft geschieht, wird diesen Künstlern und
Denkern nicht gerecht.
Abbruch und Wiederaufbau - so lautete der Titel eines Vortrages,
den er 1920 in Hamburg hielt - gehören also in Hugo Balls Bemühun-
gen zusammen Und die Lautgedichte und die Polemik gegen die deut-
sche Intelligenz gehören zusammen, weshalb sie auch gemeinsam be-
handelt werden sollten Sie sind zwei Seiten einer Medaille: hier die
Destruktion der Sprache nach ihrem Mißbrauch im Wilhelminismus,
dort die Destruktion der Ideologie, die in den Ersten Weltkrieg führte
Hier die Offenlegung des Materials, aus dem Neues entstehen könnte,
dort die Offenlegung der Grundlagen der Katastrophe, damit daraus
Konsequenzen gezogen werden können Und beide Destruktionen hat
Ball mit einer Radikalität vollzogen, die ihm selbst bedenklich vorkam
In der Flucht aus der Zeit schreibt er unter dem 23 Juli 1920: „Die
Freiheit in ihrer deutschen Formulierung: darin war ich einmal sehr
deutsch Meinen recht unbändigen, an den letzten Beispielen geschärf-
ten Eigenwillen hat kaum jemand überboten Er ging politisch bis zur
Anarchie und künstlerisch bis zum Dadaismus, der eigentlich meine
Gründung, oder besser gesagt, mein Gelächter war Die moralische
98 Die in die Irreführen
Atmosphäre der Schweiz, die ich oftmals sehr drückend empfand, diese
Atmosphäre hat mir im ganzen doch gutgetan Ich lernte die Auflö-
sungssymptome und ihre Herkunft verstehen, ich begriff, daß die gan-
ze, ringsum ins Nichts zerstäubende Welt als Ergänzung nach der Ma-
gie schrie, nach dem Worte als einem Siegel und letzten Kernpunkt des
Lebens Vielleicht vermag man einmal, wenn die Akten geschlossen
sind, meinem Bemühen um Wesen und Widerstand einige Zustimmung
nicht zu versagen "
Zur Kritik der deutschen Intelligenz, Balls Kampfschrift von
1918/193, ist gegen den Staat gerichtet, gegen den deutschen Staat,
gegen die Verherrlicher des Staats, gegen alle, die die Religion, die
Metaphysik, die Sittlichkeit dem Staat unterwerfen Das Buch richtet
sich vor allem gegen Martin Luther, in ihm sieht Ball das deutsche
Verhängnis begründet, und in allen, die diesem Protestanten nachfolg-
ten, dem protestantischen Philosophen Hegel zumal, der in sich selbst
den Weltgeist zu sich kommen sah, und im Pastorensohn Friedrich
Nietzsche, der in seinem Protest gegen das Christentum gerade jenen
Protestantismus fortsetzte, gegen den er sich empörte Nietzsche
wandte sich nicht gegen den Staat, wie es laut Ball nötig gewesen wä-
re, sondern gegen die Religion Die Bestie als das eigentlich Menschli-
che herauszustellen, darin seien Bismarck und Nietzsche sich einig
Aber auch Karl Marx und nicht nur Lasalle werden von ihm verurteilt;
Lasalle, der nur allzu bereit gewesen sei, sich dem Bismarckschen Staat
zu unterwerfen, und der gewalttätige Denker Marx, der den staatlichen
Despotismus gedanklich vorwegnahm, der dann von Lenin verwirklicht
wurde Es waren gerade die Anarchisten - Ball zitiert Bakunin -, die
früh erkannten, welch schreckliche Diktatur entstehen würde, wenn die
Lehre von Marx angewandt würde Die Geschichte hat ihnen recht
gegeben Es handelte sich im Marxismus/Bolschewismus nicht um eine
gute Idee, die schlecht verwirklicht wurde, wie heute einige sagen, es
war eine schlechte Idee, die in der Sowjetunion konsequent verwirk-
licht wurde Bei Ball ist das nachzulesen
In diesem Punkt, seiner rückhaltlosen Kritik am Marxismus, wird man
Hugo Ball heute noch recht geben können, in seiner Kritik am groß-
sprecherischen deutschen Nationalismus ebenfalls Doch auch in seiner
3
Im folgenden nur mit der Seitenzahl nach der Ausgabe des Suhrkamp-Verlags
Frankfürt 1980 zitiert
Hans Dieter Zimmermann 99
großen Mystiker, die Ball anziehen, die eine innere Wandlung des
Menschen predigen, einen Appell an das Gewissen richten Ihnen stellt
er diejenigen gegenüber, die gegen das Innere, gegen das Gewissen
appellieren „Zweierlei Rebellionen sind möglich Eine Rebellion gegen
die natürlichen Grundlagen der Gesellschaft und des Gewissens Sie ist
töricht und verbrecherisch [Deshalb greift er z. B Nietzsche an, H D
Z ] Und eine Rebellion für diese Grundlagen, aus universalem Gewis-
sen Sie fordert die Freiheit [...]" (129)
Hugo Ball, das zeigt seine Sympathie für Münzer, ist kein Anhänger
des „doktrinären Katholizismus", wie er sagt, keiner des Papsttums
Seine Kritik am protestantischen Preußen macht nicht halt vor seiner
Kritik des katholischen Habsburg, schließlich sind beide Arm in Arm in
die Katastrophe des Ersten Weltkrieges gezogen Den Papst nennt
Ball „den theologischen Cäsar in Rom" Und er meint: „das Papsttum
beseitigt zu haben, die letzte regenerative Stütze der Kaiserthrone von
Habsburg und Hohenzollern, mag einst der unsterbliche Ruhm Italiens
sein" (151) Er wendet sich gegen die „Dreifaltigkeit": Wien, Berlin,
Rom: „Es ist interessant genug, nach einem Kampf gegen die religiösen
Despotien in den deutschen Ländern zu fragen Das Problem ist hier
kaum bewußt Es gibt eine Apostolische Majestät deutscher Zunge zu
Wien und einen protestantischen Summus Episcopus zu Berlin, außer-
dem aber eine Entente theologique beider theokratischen Systeme mit
der päpstlichen Kurie zu Rom. Diese fürchtbare und gewaltige doktri-
näre Macht antichristlicher Tendenz ist gerade infolge ihrer Dreifaltig-
keit und einer mitunter verfeindeten, dann wieder verbündeten jesuiti-
schen Politik schwer zu fassen" (151)
Wofür ist also Hugo Ball, der keineswegs in ein katholisches Mittelal-
ter zurückkehren will9 Sein Glaubensbekenntnis: „Wir glauben an Don
Quixote und an das phantastischste aller Leben Wir glauben daran,
daß die Ketten fallen und daß es keine Galeeren mehr gibt So sehr sind
wir bereit, Opfer zu bringen, daß Kants Pflichtideal uns als moralischer
Dilettantismus erscheint Wir glauben nicht an die sichtbare Kirche,
aber an eine unsichtbare und wer in ihr kämpfen will, ist ihr Glied. Wir
glauben an eine heilige christliche Revolution und an die unio mystica
der befreiten Welt Wir glauben an die küssende Verbrüderung von
Mensch, Tier und Pflanze, an den Boden, auf dem wir stehen und an
die Sonne, die über ihm scheint Wir glauben an einen unendlichen Ju-
Hans Dieter Zimmermann 101
bei der Menschheit Wie sagt Jan von Ruysbroek im 'Buch der zwölf
Beginen':
er sie nicht gekannt haben sollte Denn Thomas Mann faßt in diesem
seinem Beitrag zum Krieg all das ideologische Gebräu zusammen, das
in diesen Krieg führte Und er faßt zusammen, um diesen Krieg des
deutschen Wesens gegen das französische Unwesen zu rechtfertigen
Der Haß gegen das Römische, gegen die Zivilisation, gegen die Demo-
kratie, gegen alles Westliche, den Thomas Mann hier ziemlich unver-
blümt artikuliert, richtet sich nicht zuletzt gegen seinen Bruder, den
Frankreich liebenden „Zivilisationsliteraten" Heinrich Mann Das be-
legt, daß es hier um einen Bruderkrieg geht, also um eine innerdeutsche
Auseinandersetzung zwischen denen, die dem Westlichen anhängen,
und denen, die dem deutschen Wesen anhängen, das immer wieder mit
dem Rekurs auf Martin Luther begründet wird
Der deutschen Sonderweg jedoch erhielt, das zeigt die Entwicklung
der skandinavischen lutherischen Länder, seine antiwestliche Aggres-
sivität nicht durch Martin Luther, sondern durch Preußen Sicher, Lu-
ther unterwarf die Kirche dem Staat, der Fürst und Landesherr war
auch der oberste Schutzherr und Herr der Kirche Daß aber dieses
Land Preußen ein militaristisches Land wurde, das, ein Emporkömm-
ling unter den Ländern des alten Reiches, sich mit Waffengewalt seinen
Platz eroberte und zwar gegen die katholische Macht des alten Rei-
ches, gegen Österreich, das erst gab der lutherischen Staatskirche in
Preußen ihre verhängnisvolle Rolle, gegen die Ball und Plessner an-
schreiben Friedrich II führte nur aus Ruhmsucht Kriege Napoleon,
den Ball einen Satanisten nennt - was hätte er über Hitler gesagt? -
führte den Preußen vor, daß man mit der Gewalt der Waffen alles er-
reichen kann, was sie unter Bismarck dann auch nachahmten Bismarck
setzte den Kampf gegen das katholische Österreich fort, erst als dieses
aus dem Reich hinausgeschlagen war, konnte der eiserne Kanzler den
Rest skrupellos dominieren - ohne Rücksicht auf gewachsene Rechte,
was ihm die Alt-Preußen immer vorwarfen, ohne Rücksicht auf rechts-
staatliche Prinzipien, was sein brutaler Kampf gegen die katholische
Kirche und gegen die Sozialdemokratie offenlegte Die katholische
Kirche zu marginalisieren und damit die lutherische Kirche als Staats-
kirchen nicht nur in Preußen, sondern in Deutschland durchzusetzen,
ist ihm nicht gelungen Sein Ziel aber war es Ball: „Die Ära Bismarck
ist typisch junkerlich Gekennzeichnet in der inneren Politik durch
Staatsstreiche, Massenverbote, 'Maulkorbgesetze' und alle empören-
den Gewaltmaßregeln einer mit dem Polizeiknüppel argumentierenden
106 Die in die Irreführen
ten und nicht auf eine Wiederkehr des Urchristentums warteten wie
Hugo Ball Mit Gelassenheit und Kompromißbereitschaft schufen sie
nach und nach die Europäische Union, ein Flickwerk gewiß, aber mehr
als alle die falschen Versprechungen und die blutigen Irrtümer von Na-
tionalismus und Bolschewismus Die Europäische Union ist das Werk
von Bürokraten und Parteipolitikern, die deutsche Intelligenz hat gar
keinen Anteil daran Und nach allem, was wir bei Hugo Ball lesen, ist
das auch gut so.
Literaturhinweise
1
Brockhaus-Enzyklopadie. Bd 2 Mannheim 191987, S 515
2
Emmy Hennings-Ball: Hugo Balls Weg zu Gott Ein Buch der Ennnerung Mün-
chen 1931. S 89
1
Ebd S 60
114 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita
4
Hugo Ball Die Flucht aus der Zeit Luzern 21946. S. 296
5
Ebd. S 88.
6
Ebd S 283.
7
Ebd S 264
Kurt Flasch 115
* Ebd S. 94.
9
Ebd S. 102
'"Ebd.
116 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita
2 Ein zweites Motiv hält sich durch: Der Anti-Realismus, die Mißach-
tung des gesunden Menschenverstandes, die Kritik der angepaßten
akademischen Intelligenz Ohne dies gibt es keinen Zugang zu Hugo
Ball, weder zu DADA, noch zu seinem Dionysius Dieser Punkt ist
entscheidend Im April 1921, bei der Arbeit am Byzantinischen Chri-
stentum, notiert Ball „Dies ist mir die liebste Beschäftigung in den
Acta Sanctorum und in meinen Träumen lesen. [...] Nur durch Träume
das Leben noch berühren " Oder zwei Tage später „Der freudige
Wunderglaube der Acta Sanctorum vereinfacht mein Denken, läßt mich
wieder Kind werden Das tut gut die Strenge, der Heiligungseifer,
verbunden mit aller Spiel- und Fabulierlust des Geistes".
Bei der Lektüre der Heiligenviten geht es also nicht darum, wie einige
halbaufgeklärte Theologen wollten, kritisch den historischen Kern der
Legenden freizulegen, sondern es geht um radikale Erneuerung, aber
ebenso um Träume, um Spiel- und Fabulierlust Im Byzantinischen
Christentum erwächst daraus eine Kritik an der halbkritischen Hagio-
graphie des gelehrten Jesuiten Delehaye (1859-1941), der nach „Pri-
vatdetails" im Sinne moderner Biographien und Detektive suche, eine
Methode, die nicht tauglich sei für „ekstatische Gegenstände "' Alles
"Ebd. S 283.
12
Hugo Ball: Byzantinisches Christentum Drei Heiligenleben München u Leipzig
1923, S. 279 Anm 13
Kurt Flasch 117
13
Ebd S 218
14
Ebd S 227.
15
Ball. Flucht (Anm. 4), S. 72
118 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita
kens [...] Was wir zelebrieren, ist eine Buffonade und eine Totenmesse
zugleich"16
Dada - das ist „Begeisterung für die Illusion", aber für eine Illusion,
welche die Realitäten richtet: „Unser Kabarett ist eine Geste Jedes
Wort, das hier gesprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das
eine, daß es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt
abzunötigen Was wäre auch respektabel und imponierend an ihr? Ihre
Kanonen? Unsere große Trommel übertönt sie Ihr Idealismus? Er ist
längst zum Gelächter geworden, in seiner populären und seiner aka-
demischen Ausgabe Die grandiosen Schlachtfeste und kannibalischen
Heldentaten9 Unsere freiwillige Torheit, unsere Begeisterung für die
Illusion wird sie zuschanden machen " 17
Priesterliche Lamentation, die Monotomie gregorianischer Gesänge,
Ball als Bischof des Absurden, immer wieder das Motiv der Totenmes-
se - „als tauche in meiner kubistischen Maske ein bleiches, verstörtes
Jungengesicht auf, jenes halb erschrockene, halb neugierige Gesicht
eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und Hochämtern
seiner Heimatspfarrei zitternd und gierig am Munde der Priester
hängt" 18
Dada ist ein Narrenspiel, „in das alle höheren Fragen verwickelt
sind "19 Gregorianischer Singsang gehört ebenso zu ihm wie die afri-
kanische Trommel, das Lautgedicht und der Haß auf Generäle Es geht
um alles, da es um eine Neumachung der kaputtgemachten Zeichen
geht Insofern steht ihm Dionysius von Anfang an nahe Doch folgen
wir Balls Gedankenweg
II
Die Liste der Vorwürfe, die Ball gegen Luther erhebt, ist lang, sie
verdiente eingehende Prüfung Genannt seien hier nur diejenigen Moti-
ve, die zur Aktualisierung des Dionysius führten Luther hat die guten
Werke und die hohe philosophische Tradition verworfen (79) Luther
stärkte die Gewalt des Staates Er lieferte die Gewissen dem Landes-
fürstentum aus und begünstigte damit die Trennung von Innen und
Außen, von Gewissen und Handeln, von Intelligenz und Sozialität (34)
Luther diskredierte das Mönchtum Es sah nicht, daß es der Hort der
„Geheimlehren des Christentums" (37) war Luther beraubte die
Christen der Phantasie und Illusion, er nahm ihnen die Symbole und die
Pracht der Liturgie Er nahm uns die Heiligen, ward selbst zum Heroen
stilisiert und rückte so an die Stelle der wahren Urbilder christlichen
Lebens Luther verdrängte die Ur-Elemente der Religion: Tränen und
Trauer, die im alten Katholizismus noch vorhanden waren und damals
dessen beide Hauptmängel ausglichen, d h zum einen seinen „Ord-
nungskomplex", also seine Tendenz, sich zur „Zentralverwaltung der
Gewissen" aufzuschwingen, und zum anderen seinen doktrinären Cha-
rakter, also seine Tendenz, den Glauben mit dem Fürwahrhalten einer
abstrakten Dogmatik zu verwechseln (33-38) Dagegen lapidar der Ball
von 1918: „Die Dogmatik sagt nichts mehr" (44) Luther warf das
Christentum zurück auf die Augustinische Gnadenlehre und in letzter
Instanz auf Paulus „Eine der schlimmsten Ursachen des Weltkrieges
war die Reformation des 16 Jahrhunderts Das Zurückgreifen aber auf
das paulinische Christentum war das Allerschlimmste" (44). Luther war
der Prophet eines Bürgertums, das sich sein wohlbestalltes Schla-
raffentum nicht verkümmern zu lassen gewillt war, und doch in geheu-
chelter Angst vor Gerichtstag und Abrechnung sich tiefe Verworfen-
heit und sündige Inferiorität suggerierte Aller Pharisäismus der Prote-
stanten und eine gewisse banausische Instinktverlogenheit zeigen auf
den Mönch von Wittenberg zurück (40) Luther hat - im Gegensatz zu
Thomas Munzer - die aufständischen Bauern 1525 verraten, er hat
verhindert, daß Deutschland damals eine freie Föderation evangelischer
Stämme und Städte wurde „im Sinne der christlichen Korporations-
idee", dadurch hat er die Entwicklung Deutschlands zum „feudal zen-
tralistischen Militärstaat" begünstigt (47-48)
Mit ähnlicher Härte analysiert Ball die folgenden Etappen der deut-
schen Ideengeschichte Er kritisiert die Deutsche Klassik, gesteht Goe-
the freilich respektvoll eine Ausnahmestellung zu Er kritisiert Kant, er
Kurt Flasch 121
III
9
Ball, Byzant Chnstenrum (Anm 12), S 34-38; aus diesem Buch wird im
folgenden nur mit Angabe der Seitenzahlen im Text zitiert
124 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita
könnte, die Schrift über die Göttlichen Namen steht im Mittelpunkt des
Interesses, sondern die Himmlische und Kirchliche Hierarchie, also
der Engel und der Bischof Dionysius entfaltet, den Papst wie den rö-
mischen Kaiser ignorierend, seine Religionsphilosophie des hierarchi-
schen Priesterideals Ball insistiert: Dionysius habe nichts mit der spä-
ten „Mystik" zu tun, auch wenn es ihm um Reinigung, Erleuchtung,
Einung gehe Es fehle bei Dionysisus Eckharts Theorie des Intellekts
Dionysius sei auch nicht als Neuplatoniker zu sehen, sondern als ein
christlicher Denker, der mit Hilfe neuplatonischer Theoreme im Chri-
stentum Inhalte entdeckt habe, die noch keiner vor ihm gesehen habe,
der - wie Origenes und Augustin, vielleicht größer als beide - eine Re-
form des Christlichen wollte und eine Integration des Mysterienwe-
sens und der Gnosis anstrebte
Schon formal und stilistisch unterscheidet sich Balls Dionysiuskapitel
deutlich von Teil 1 und Teil 3 des Buches Mit gut 180 Seiten Umfang
ist es größer als die beiden anderen Abschnitte zusammen Balls Stil ist
hier weniger direkt, weniger suggestiv, eher wissenschaftlich Sorgfäl-
tig arbeitet er historische Bezüge heraus, breit zieht er die wissen-
schaftliche Literatur heran und diskutiert sie Selbstverständlich kennt
er die Nachweise von Stiglmayr und Koch über die Beziehungen zu
Proklos, besonders aber stützt er sich auf Reitzenstein und sieht in Di-
onysius die definitive kirchliche Antwort auf Gnostizismus und Myste-
rienwesen Sein Dionysius ist „katholisch, orthodox und heilig" (82), er
ist nicht von anderen Texten, sog Quellen her zu erklaren, aber wenn
es schon um Zuordnung ginge, dann wäre, nach Ball, Dionysius „eher
orientalisch und gnostisch" als neuplatonisch (97)
Ball folgt einem Trend der zwanziger Jahre, das unnennbare Eine als
irrational und orientalisch, nicht als europäisch und platonisch zu se-
hen, mehrfach hält er etwas für gnostisch, was zunächst einmal nach-
weisbar platonisch ist Er tritt ernsthaft ein in die historische For-
schung, aber er verhehlt nicht, daß er dies widerwillig und nur bis zu
einer genau bestimmten Grenze tut:
Ball polemisiert gegen das, was er „die Verwechslung geschichtlicher
Tatsachen mit geistigen" nennt, er bekennt sich zu einer Unmittelbar-
keitshermeneutik, die heute nur noch in kulturellen Rückzugszonen
verteidigt werden dürfte: Er nennt - gegen Koch und Stiglmayr gewen-
det - die „vergleichende und historisierende Methode flach und unpro-
duktiv " Sie fülle zwar die Schränke mit Büchern, aber nicht die Köpfe
Kurt Flasch 125
mit „Wesenserkenntnis" (197 Anm 7). Ball sucht, wie er selbst sagt,
das „extatische, nicht das historische Wissen" (244) Ich gestehe, ihm
hierin nicht folgen zu können: Dionysius Areopagita ist ein Gegenstand
historischen Wissens, mag sich sein Ausleger auch noch so extatisch
gebärden und sich im Besitz einer höheren Einsicht, eben einer We-
senserkenntnis, wähnen Geistige Tatsachen sind, wenn man sich schon
so ausdrücken will, eo ipso historische Tatsachen, und wer daran vor-
beigeht, produziert auch nur historische Sätze, nur eben feierlich getön-
te und ungenaue, nicht selten auch falsche
Dabei ist gerade der historische Bezug in Balls Dionysiusdarstellung
mit Händen zu greifen - nicht nur der Bezug auf die Forschungssituati-
on anno 1921, sondern vor allem auf die Kriegserfahrung und die
Nachkriegssituation Sein Rückgang zum byzantinischen Christentum
soll ein neues Bild des Heroen zeigen, es soll die biologistischen und
die deutschtümelnden Züge des Heroentums der Deutschen überwin-
den helfen, es soll bewirken, daß Deutsche die schreckliche Weltkriegs-
erfährung nicht vergessen, sondern sich zur Selbsteinkehr, zur Läute-
rung und zur Reinigung umwenden Der deutsche Michaelskult soll
ersetzt werden durch die Engel des Dionysius, denn weil wir Michael
zum Nationalengel gemacht haben, „endeten wir unter berstenden
Himmeln von Blut und Feuer So fanden wir uns vor die Gebeinwüste
geschleudert" (251) Balls Flucht zu den Wüstenheiligen kann die
„Gebeinwüste" nicht vergessen machen, sie will es auch nicht Mit Pa-
thos hebt Ball hervor, Dionysius habe den „Frieden" zum Maßstab der
geistigen Welt gesetzt (98) Die Läuterung, die der Erleuchtung voran-
geht, ist der Verzicht auf alles Gewaltwesen, und dies ist der innere
Zusammenhang zwischen Ball Kritik der deutschen Intelligenz und der
Befassung mit Dionysius Dies ist eine geistige Tatsache, weil es eine
geschichtliche ist Balls eigenes Verfahren widerspricht seiner aus der
Phänomenologie erborgten und übrigens auch nur angedeuteten Theo-
rie Ball schwebte offenbar eine andere Verhältnisbestimmung von We-
senserkenntnis und Zeit vor, als er 1919 als seinen Plan notierte „In
einem Heiligenbuch das Erlebnis der Zeit auffangen "30
Das Vorwort zu Balls Kritik endete mit folgendem Satz „Es gibt kei-
nen Gott außer in der Freiheit, wie es keine Freiheit gibt außer in
Gott "31 Diesen Satz hat Ball auf den Weihnachtsabend 1918 datiert. In
den letzten Zeilen des Dionysiuskapitels kehrt der Satz wieder, leicht
variiert: „Das Leben nimmt Gottes Gepräge an und folgt göttlichen
Normen Einfalt und Freiheit, Freiheit und Gottheit sind eins" (246)
Man beginnt hier zu ermessen, wie fremd es Ball war, seine sog.
theologische Schriftstellerei von seiner sog politischen zu unterschei-
den Der Vorsatz, die Erfahrung der Zeit in einem Heiligenbuch dar-
zustellen, stammt von 1919, dem Erscheinungsjahr der Kritik.
Auch die DADA-Gegenwelt ist 1923 nicht völlig versunken Ball hebt
den artistischen Tiefsinn hervor, der in der Lehre des Dionysius stecke,
Bilder des Häßlichen könnten eher zur Erkenntnis des Schönen führen,
als schöne Bilder Eine äußere Mißgestalt fördere die Absicht, alles
profane Abtasten abzuschrecken Der Absurdität und dem Widerspruch
einer entstellenden Darstellung wohne, wie Ball sagt, „eine die Phan-
tasie des Wissenden mehr noch erregende und seine Vernunft höher
treibende Aufforderung inne "32
Mir scheint, man könne in der Annäherung von DADA und Dionysius
noch einen Schritt weiter gehen Ich sagte schon, daß Ball Dionysius
versteht als die orthodoxe Korrektur des Mysterienwesens Nun lese
man folgende Skizze, die Ball von einer Mysterienfeier gibt „Ein un-
ausschöpflicher Sinn wohnt den Riten und Zeremonien inne Ihrem
göttlichen Einfluß vermag sich niemand zu entziehen Laternen und
Lichter in leuchtender Symmetrie; ein primitives Gemisch von Tier-
und von Kinderlauten, eine Musik, die in längst verschollenen Kaden-
zen schwingt: all dies erschüttert die Seele und erinnert sie an ihre Ur-
heimat Eine Sehnsucht zurück zu allen Anfängen erfaßt den Geist,
taucht ihn in längst vergessene Paradiese der Über- und Vorwelt Selt-
sam maskierte Gestalten tragen astrale Abzeichen und Symbole, drehen
sich im Kreise, zaubern in ihren Bewegungen das milde Abbild der
Sternensphäre mitten in einem irdischen Raum."33
Wer sich der Schilderungen erinnert, wie es im Cabaret Voltaire zu-
ging, findet bis in die Einzelheiten Dieser antike Mysterienkult sieht
dem wilden Treiben in der Züricher Spiegelgasse sehr, sehr ähnlich
Ball folgte nicht einer Mode, indem er Dionysius als den Ordner und
31
Ball, Kritik (Anm 21), S 10
32
Ball. Bvzant Christentum (Anm 12), S 235
33
Ebd S. 132
Kurt Flasch 127
IV
Ich habe gegen die Vorstellung argumentiert, das Denken von Hugo
Ball gliedere sich in drei übergangslose Abschnitte: Dadaismus, Kritik
der deutschen Intelligenz, Theologie.
Ich wolle zeigen: Diese drei Motive sind wesentlich miteinander ver-
bunden Und sie erschöpfen nicht die intellektuellen Interessen Balls
Auch der Endpunkt der Entwicklung vom Dadaismus zur Kirche ist
nicht so eindeutig, wie man wohl glaubt Ball hatte sein eigenes Kon-
zept auch von Kirche, von ihrer spirituellen, therapeutischen, kulturel-
len und politischen Mission: „Nicht aber der Katholizismus der Vor-
Ebd S. 222
Ebd S 219
128 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita
Rolle der Bourgeoisie im Weltkrieg hat beiden den Zerfäll des bürgerli-
chen Denkens bewiesen
Es ist Filigranarbeit, die bleibenden Differenzen zwischen Ball und
Schmitt zu ermitteln Sie betreffen zunächst einmal die These, „der
Mensch ist schlimmer als ein Reptil" (Cortes, bei Ball 274) Gegen
Schmitt insistiert Ball, es sei der „legale Despotismus", der die Erbitte-
rung der anarchistischen Opposition erst hervorrufe (274) Die Vertie-
rung der Menschen ist demnach also nicht das Ursprüngliche, das nach
staatlicher Disziplinierung ruft, sondern sie ist das Ergebnis der maß-
stablos gewordenen Politik Ball teilt nicht die Abschätzigkeit, mit der
Schmitt die Lehre von der natürlichen Güte des Menschen behandelt
Ich kann dem Konflikt nicht nachgehen und hebe nur noch die Rolle
des Dionysius auch in dieser Auseinandersetzung hervor Ball bemüht
ihn ausdrücklich zur Korrektur der Schmitt'schen politischen Theolo-
gie (275): Schmitt dachte die Kirche als Autorität, als ratio und Orga-
nisation, sie ist freilich eine ratio eigener Art, neben der Zweckökono-
mie und dem Konsumstaat, die Ball und Schmitt gleichermaßen ver-
achten Die Kirche als ratio domestiziert das chaotische Menschentrei-
ben, das macht ihre harte Humanität aus Dabei aber denkt Schmitt die
Kirche so sehr als Formierungs- und Disziplinierungsmacht, daß Ball
festhält, Schmitt könne der Kirche ebensogut ein Bündnis mit dem
Teufel vorschlagen (275), sofern dadurch nur das anarchische Treiben
beendet und um jeden Preis eine Ordnung eingerichtet wird Schmitt
war 1924 noch nicht der führende nationalsozialistische Rechtslehrer,
der er 1933 wurde Aber Ball sah 1924, daß die Idee des Hitler-Kon-
kordats latent in der Logik der römischen Kirche lag - wenigstens nach
Schmitts Konzept von Katholizismus: Ordnung ist ja nach Schmitt -
allein schon dadurch, daß sie besteht - allemal besser als Unordnung,
denn sie überwindet das Irrationale, und das ist - mit Balls Worten -
„wieder das Volk, das rebellische Proletariat" Schmitts politische
Theologie konzentriert das Theologische auf den bloßen Disziplinie-
rungs- und Formierungsaspekt Aber in der Kirche, moniert Ball, ist
das Rationale, das Legale und Institutionelle sekundär Sie ist das
Ergebnis des Irrationalen, des Heiligen und Wunderbaren, und dies
lerne man bei Dionysius Areopagita „Bei ihm ist Gott die Ursonne, die
alle Stufenreihen der Wesen bis herab zu den materiellsten nicht ver-
pflichtend und logisch, sondern liebend und irrational in ihren Bann-
kreis zieht, um sie zu durchdringen."
130 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita
Wenn es unter den Veröffentlichungen Hugo Balls ein Buch gibt, von
dem man mit einigem Recht sagen kann, es sei seinem Autor über den
Tod hinaus zum Schicksal geworden, so ist es sein bald nach Kriegsen-
de veröffentlichtes Pamphlet Zur Kritik der deutschen Intelligenz Ob-
wohl sicher kein Bestseller, tat es doch von Anfang an - und bis heute -
das Seine, um den Intellektuellen Ball in Deutschland politisch-mora-
lisch verdächtig zu machen.
1
Hugo Ball: Zur Knük der deutschen Intelligenz Bern 1919, S. 165f.
2
Vgl. Ernst Teubner: Hugo Ball. Eine Bibliographie. Mainz 1992, Nr 1213-1268
132 Ball und das Judentum
3
Vgl Hesses Brief an Annemarie Schutt-Hennings vom Frühjahr 1954, in Her-
mann Hesse: Gesammelte Briefe Bd IV Hg von Volker Michels Frankfurt
1986, S. 201f
4
Vgl George G Iggers Neue Geschichtswissenschaft Vom Histonsmus zur Hi-
storischen Sozialwissenschaft München 1978, S 109-111, Zitat 109
Vgl Norbert Frei Auschwitz und Holocaust Begriff und Historiographie, in:
Hanno Loewy (Hg) Holocaust: Grenzen des Verstehens Eine Debatte über die
Besetzung der Geschichte Reinbek 1992, S. 101-109.
Bernd Wacker 133
6
Der Erste, der m. W. auf diesen Tatbestand aufmerksam machte, war der Carl
Schmitt-Adept Robert Hepp in seiner Dissertation Politische Theologie und theo-
logische Politik. Studien zur Säkularisierung des Protestantismus im Weltkrieg
und in der Weimarer Republik. Diss masch Univ. Erlangen-Nürnberg 1967, S
227 f.; Hepp bezeichnete Ball als „wilden Antisemiten".
Hugo Ball: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Ein Pamphlet Hg. u. eingel v
Gerd-Klaus Kaltenbrunner München 1970; bei den gestrichenen Texten handelt
es sich um insgesamt mehr als 30 Stellen sowohl aus dem laufenden Text wie aus
den Fußnoten: sie sind nicht nur sehr unterschiedlichen Umfangs, sondern haben
auch keineswegs alle direkt oder auch nur indirekt mit dem Thema Juden/Juden-
tum zu tun Da diese Ausgabe nicht mehr im Handel ist, bezieht sich die Synopse
im Anhang des vorliegenden Beitrages auf die Ausgaben des Suhrkamp-Verlages
1980 u 1991; vgl dazu die folgenden Anmerkungen.
s
Hugo Ball Zur Kritik der deutschen Intelligenz Frankfurt 1980. - Im folgenden
werde ich neben den zuerst genannten Seitenzahlen der Erstausgabe (Anm. 1)
auch die Seiten dieses „Nachdrucks" in Klammern angeben und bei den unter-
drückten Passagen auf die Synopse im Anhang des vorliegenden Beitrags verwei-
sen. Bei ihrer Erarbeitung waren mir die, allerdings nicht ganz vollständigen,
Texte im Anhang von Philip H Mann: Hugo Ball: An Intellectual Biographie
Phil Diss. Norfolk 1984, p 403-412 sowie die präzisen und lückenlosen Hinweise
(im Text der amerikanischen Übersetzung) bei Anson Rabinbach (Ed.): Hugo
Ball: Cntique of the German Intelligentsia Transl by Bnan L Harns New York
1993 eine große Hilfe
Nur nebenbei sei bemerkt, daß der Text der genannten deutschen Nachdrucke
aufgrund manch sinnentstellender „Druckfehler" (vgl z B Bern 1919, S. 192:
Marx „revoltierte" die Wissenschaften; Frankfurt 1980, S 204: Marx „revolu-
tionierte" die Wissenschaften) sowie anderer Verschreibungen/Ungenauigkeiten
auch ansonsten nur bedingt brauchbar ist
134 Ball und das Judentum
genheit hatte, so schien es, Hugo Ball endgültig eingeholt, ihn der
„Paranoia", seine wohlmeinenden Interpreten und Verehrer aber der
„Mohrenwäsche"16 überführt
Sieht man von Balls dadaistischen Produktionen und seiner Hesse-
Biographie einmal ab, so kann die Kritik der deutschen Intelligenz ih-
res Themas wie ihrer vergleichsweise hohen Auflagenzahl wegen wohl
als sein heute bekanntestes Werk gelten Nichtsdestoweniger darf sich
die Untersuchung seiner Beschreibung und Wertung des Jüdischen
Problems"17 nicht auf diese Schrift beschränken Zwar nimmt die Aus-
einandersetzung mit dem Judentum erst in der Kritik und den thema-
tisch verwandten Artikeln der Freien Zeitung größeren Raum ein, doch
begegnet das Thema schon in früheren Arbeiten Balls und war auch
nach 1919 keineswegs erledigt Aufschlußreicher jedoch als seine Pa-
raphrase einschlägiger Texte Friedrich Nietzsches, wie sie sich in sei-
nem unabgeschlossenen Dissertationsprojekt von 1909/10 finden, und
ergiebiger auch als gelegentliche Anspielungen in einigen literarischen
Arbeiten der Münchener und Züricher Jahre18 sind die in Auseinander-
setzung mit der Kritik der deutschen Intelligenz erschienenen späteren
Schriften Hugo Balls, zunächst also sein Byzantinisches Christentum
von 192319, mit dem er in Ergänzung seines ersten Buches dem „in
Deutschland wiedergeborenen Heldenbegriff einer tiefen Vergangen-
heit [...] sehr bewußt eine Heiligenlehre gegenüber(stellen) wollte" °,
sowie seine 1924 erschienenen Folgen der Reformation21, die eine ge-
16
Vgl Gert Mattenklott Mohrenwäsche Die Paranoia des Hugo Ball, in: FAZ v.
14 9 1994, S N7 sowie die präzise Erwiderung von Hans Burkhard Schlichting:
Polemische Wimusse Kritiker deutscher Mentalitäten: Hugo Balls Absichten, in:
FAZv 5. 10 1994, S. N6.
11
Ball, Kntik (Anm 1), passim.
18
Vgl Hugo Ball Nietzsche in Basel Eine Streitschrift (1909/10), in: Hugo Ball:
Der Künstler und die Zeitkrankheit Ausgewählte Schriften Hg. v Hans Burk-
hard Schlichting Frankfurt 1988, S 61-101, bes. 93f; ders.: Der Henker von
Brescia Drei Akte der Not und Ekstase (1912/14) Hg. v Franz L Pelgen Leip-
zig 1995, S. 18, 32 u. ö.; ders.: Tenderenda der Phantast Roman (1914/1920), in:
Ball, Künstler (Anm 18), S 377-417, bes. 389-397 („Satanopohs" u. „Grand
Hotel Metaphysik")
19
Hugo Ball: Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben München u Leipzig
1923
!0
Hugo Ball: Notizen zum Versuch eines Vorworts für das „Byzantinische Chri-
stentum", in: ders , Künstler (Anm 18), S. 299-302.
21
Hugo Ball Die Folgen der Reformation München u Leipzig 1924.
136 Ball und das Judentum
kürzte und bewußt katholisch stilisierte Fassung des Buches von 1919
darstellen Hierher gehört auch Balls noch 1927, seinem Todesjahr, in
überarbeiteter Form publiziertes (erstes) Tagebuch Die Flucht aus der
Zeit22, das zur Interpretation des Themenfeldes unverzichtbar ist Bei
keinem dieser Texte jedoch handelt es sich, das darf nicht vergessen
werden, um judaistische Sachbuch- bzw wissenschaftlich-monogra-
phische Literatur. Ball hat dem Judentum nie mehr als einige mehr oder
minder ausführliche Seitenblicke zukommen lassen.
Rabinbachs kritische Hinweise auf die in der Editionsgeschichte der
Kritik deutlich werdenden fatalen 'Beschweigungsstrategien' in Sachen
Antisemitismus haben nichtsdestoweniger alles Recht für sich „Nach
sorgfältiger Überprüfung seines veröffentlichten Schrifttums läßt sich
[...] eine antisemitische Ideologie bei ihm nicht nachweisen" - salvatori-
sche Klauseln solchen Zuschnitts23 sind angesichts nicht weniger er-
schreckender Formulierungen, bei deren Lektüre sich der Antisemitis-
musverdacht förmlich aufdrängt, wenig hilfreich Mehr noch: Sie lei-
sten Ball einen Bärendienst, solange die „sorgfältige Überprüfung" nur
behauptet, nicht aber dokumentiert wird Sie wäre, was Rabinbachs
Fokussierung auf die in den deutschen Neudrucken der Kritik gestri-
chenen Stellen leicht vergessen läßt, notwendig auch, wenn Ball diese
Passagen nie geschrieben hätte Auch ohne die dort zu findenden
„Spitzensätze" nämlich bleiben viele Züge in seinen Äußerungen über
das Alte Testament und das deutsche Judentum problematisch genug
Umgekehrt freilich finden sich bei Ball Aussagen auch ganz anderer, sit
venia verbo „philosemitischer" Tendenz Insofern ihr Verhältnis zu
scheinbar entgegengesetzten Bemerkungen sich keineswegs auf den
ersten Blick erschließt, mit dem Bild vom „rabiaten Antisemiten"24 aber
schwerlich zu vereinbaren sind, machen sie die einläßliche Beschäfti-
gung mit Balls Verhältnis zum Judentum jedoch keinesfalls überflüssig,
sondern gerade dringend
Die Erinnerung an einen Brief Ernst Blochs, Balls „utopischen
Freund"25, dürfte diesbezüglich zu denken geben: Im Leitartikel der
" Hugo Ball Die Flucht aus der Zeit Hg v Bernhard Echte Zürich 1992.
3
Volker Knufermann Hugo Ball und Ernst Bloch als Beiträger der „Freien Zei-
tung". Bern 1917-1919, in: Hugo Ball Almanach 1988, S. 30-46. 31; ähnlich
Viesel (Anm. 10), S 76
24
Vgl Mattenklott (Anm. 16).
25
Ball. Flucht (Anm 22). S 206 (Eintrag v. 18 11 1917)
Bernd Wacker 137
Freien Zeitung vom 16 11 1918 war ein aus der Feder Balls stam-
mender Abschnitt zu lesen gewesen, dessen antisemitischer Jargon den
seiner jüdischen Identität bewußten Freund auch persönlich tief getrof-
fen hatte. Nichtsdestoweniger suchte Bloch in einem Brief vom 22.
November 1918 an Wilhelm Muehlon27 Ball gegenüber dem „Schmutz-
verdacht des gemeinen Antisemitismus" in Schutz zu nehmen und dem
Eindruck entgegenzutreten, der Verfasser des Artikels sei „ein ent-
sprungener Rohling aus dem Verein deutscher Studenten und die FZ.
ein Pogromblatt"28 Er tat dies mit dem Hinweis auf „die tieferen und,
26
Hugo Ball: Die Umgehung der Instanzen, in: ders : Künstler (Anm 18), S 231-
233. 233; vgl dazu unten Abschnitt II 4 Zur „Freien Zeitung" finden sich die
wichtigsten Informationen in Ernst Bloch: Kampf, nicht Kneg Politische
Schriften 1917-1919. Hg v Martin Korol Frankfurt 1985, bes S 37-54
" Abgedruckt bei Arno Münster: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Früh-
werk von Ernst Bloch Frankfurt 1982, S. 265f; die folgenden Zitate, soweit nicht
eigens ausgewiesen, stammen aus diesem Brief
28
Zum Verhältnis Ball/Bloch und zu den Gründen ihrer Trennung vgl den Beitrag
v Chryssoula Kambas im vorliegenden Band, aus Gesprächen mit Martin Korol
(Bremen), der mir völlig uneigennützig auch Einblick in seine in Vorbereiung
befindliche Dissertation über DADA, PräExil und FREIE ZEITUNG gewährte,
habe ich viel gelernt; seiner Interpretation der biographischen Hintergründe des
Bauschen Polemik gegen die „anationalen Israeliten" vermag ich mich aller-
dings nicht anzuschließen ; vgl unten Kap II, 4 -
Bloch dürfte die katholische Herkunft Balls nicht verborgen geblieben sein; die
Rede vom „Rohling" ist daher wohl mit Absicht gewählt; sie spielt an auf den
Münsteraner Priester August Rohling (1839-1931), der 1871 ein repräsentatives
antisemitisches Machwerk mit dem Titel Der Talmudjude veröffentlicht hatte,
das bis 1922 siebzehn Auflagen erlebte 1875 war Rohling zum Professor für al-
testamentliche Exegese an der renommierten Prager Universität bestellt worden;
er galt nun erst recht als Experte in Sachen Juden/Judentum und trat auch als
Gutachter bei Gericht auf; er glaubte beeiden zu können, „daß der Jude von Re-
ligions wegen befugt ist, alle NichtJuden auf jede Weise auszubeuten, sie physisch
und moralisch zu vernichten, Leben, Ehre und Eigenthum derselben zu verder-
ben, offen und mit Gewalt, wie heimlich und meuchlings - das darf, ja soll, wenn
er kann, der Jude von Religions wegen befolgen, damit er sein Volk zur irdischen
Weltherrschaft bringe " Das Ende seiner akademischen Tätigkeit - nicht seines
Einflusses - kam 1875, als Rohling eine Verleumdungsklage gegen einen öster-
reichischen Rabbiner und Reichtagsabgeordneten zurückzog, der ihn öffentlich
der Inkompetenz und des Meineides bezichtigt hatte Der Name des Rabbiners
lautete Joseph Samuel Bloch! Vgl Erika Weinzierl: Katholizismus [und Juden-
tum) in Österreich, in: Kirche und Synagoge Handbuch zur Geschichte von
Christen und Juden Darstellung mit Quellen Hg v Karl Heinrich Rengstorf u
138 Ball und das Judentum
Siegfried von Kortzfleisch (1970), Bd. II München 1988, bes S. 507-510, Zitat
508
Vgl Ernst Bloch: Rez „Zur Kntik der deutschen Intelligenz", in: Die Weltbühne
15/2(1919), S. 53-55.
Vgl Gershom Scholem Walter Benjamin - Die Geschichte einer Freundschaft
Frankfurt 1975, S. lOlf.
Bernd Wacker 139
31
Kaltenbrunner, Einleitung zu Ball (Anm. 7), S 25.
" Ball, Kritik (Anm. 1), S. 3(Synopse) Der Herkunft dieser These kann hier nicht
nachgegangen werden Wichtig jedenfalls Friedrich Heers (Gottes erste Liebe
2000 Jahre Judentum und Christentum Genesis des östeneichischen Katholiken
Adolf Hitler München/Esslingen 1967, S. 377-383) Hinweis auf das unter dem
Titel Der Bolschewismus von Moses bis Lenin - Zwiegespräch zwischen Adolf
Hitler und mir 1924 erschienene Buch des völkischen Ideologen Dietrich Eck-
hart, das ähnlich wie Ball und doch in völlig anderer Absicht die angebliche jüdi-
sche Unterwanderung des Protestantismus und deren negative Folgen für
Deutschland zum Thema machte Eckhart und sein Duzfreund beziehen sich al-
lerdings auch auf Luthers späte antisemitische Schriften, die in Balls Kritik nicht
einmal mit einem Satz erwähnt werden
33
Ebd S 31f(43)
140 Ball und das Judentum
34
Ebd. S. 281 Anm. 47(287 Anm 45); von der Tendenz her ähnlich 53(65) u
170(182).
35
Ebd S. 183(195).
36
Vgl ebd. S 166(180f)u ö
37
Ebd S 166f(181)
38
Ball führt diese Unterscheidung auch sonst immer wieder ins Feld: vgl. ebd S
166(180f), 182(197) u ö Den „Einfall ich weiß mcht welches jüdischen Theolo-
Bernd Wacker 141
gekreuzigt, dem alten Judengott unterwarf' Nicht nur das Alte Te-
stament, auch „das Märchen vom toten, gekreuzigten Gotte"45 und die
mit ihm einhergehende götzendienerische Inkarnationslehre46 aber sind
dem 20 Jahrhundert endgültig fremd geworden Jeder Gedanke an
Erlösung durch ein göttliches Individuum nämlich verschleiere das
Ausmaß der wirklichen deutschen Schuld und lasse zudem darüber
hinwegsehen, daß die abgöttische Verehrung der Bismarck, Ludendorff
und Hindenburg nur politisches Abbild und Variante des in der kirchli-
chen Christologie zum Ausdruck kommenden Geniekults sei47. Oder,
wie Ball, Bruno Bauer paraphrasierend, in historischem Vergleich fest-
hält der allmächtige Kaiser, „der Weltherr in Rom, der alle Rechte
repräsentiere, der Leben und Tod auf seinen Lippen trage, (habe) an
dem Herrn der evangelischen Geschichte, der mit einem Hauch seines
Mundes den Widerstand der Natur bezwinge oder seine Feinde nieder-
schlage, der sich schon auf Erden als den Weltherrn und Weltrichter
ankündige", einen Bruder, „einen feindlichen Bruder zwar, aber einen
Bruder"48
Auch wenn Ball hinsichtlich des Selbstbewußtseins des historischen
Jesus in Erwägung zieht, ob Mt 16,18, „das Evangelienwort von Petrus
dem Fels, und der Kirche, die darauf gebaut werden soll", nicht doch
authentisch sei und das jüdische Rezidiv in der Geschichte des Men-
schensohnes darstelle49, so glaubt er doch, im Neuen Testament, d h
vor allem in der Bergpredigt, den „'radikalen, revolutionären Chri-
stus'"50 Wilhelm Weitlings und aller anderen religiösen Anarchisten,
Republikaner, Kommunisten und Sozialisten der Neuzeit finden zu
können und damit jene urchristlichen Ideale und Prinzipien, auf die die
zu konstituierende „Kirche der demokratischen Intelligenz"51 nicht
verzichten kann Sie sind und bleiben freilich, wie von Feuerbach zu
lernen sei, das Ergebnis des nicht länger aufzuschiebenden Versuchs,
„die jüdischen Elemente des offiziellen Christentums abzulösen [...] mit
44
Ebd. S. 33(44).
45
Ebd S 181(193)
46
Ebd. S. 229f.(241ff.)
47
Ebd. S 33f.(45).
4S
Ebd. S 183(195).
49
Ebd S. 229(241).
50
Ebd. S. 163(177).
51
Ebd S. 238(250).
Bernd Wacker 143
erlöster Liebe des Menschen zum Menschen" , für die auch Christus
von Nazareth gelebt habe
Ebd S 184(196)
Vgl auch die folgende Notiz Heines, die Ball allerdings nicht zitiert „Die Ger-
manen ergriffen das Christentum aus Wahlverwandschaft mit dem jüdischen Mo-
ralprinzip, überhaupt dem Judaismus - Juden waren die Deutschen des Onents -
und jetzt sind die Protestanten in den germanischen Ländern (Schottland, Ame-
rika, Deutschland, Holland) nichts anderes als altorientalische Juden " (Heinrich
Heine Aufzeichnungen, in: Sämtliche Schriften (Ulllstein Werkausgabe) Bd 11,
S 611-669, 642) Breiter ausgeführt findet sich dieser Gedanke auch in den Ge-
ständnissen (a.a.O. 485ff).
Ball. Kntik (Anm 1), S 105(118) u ö
Ebd S 166(180) und Folgen (Anm 21), S 97
Zur biographisch-bibliographischen Erschließung des Werkes vgl: Franz Orlik
(Hg): Hermann Cohen (1842-1918) Kantinterpret, Begründer der Marburger
Schule". Jüdischer Religionsphilosoph Katalog einer Ausstellung in der Uni-
144 Ball und das Judentum
sehen Universitätsstadt an der Lahn, sein Leben lang geprägt von ei-
nem emphatischen Nationalbewußtsein, wurden ihm Heinrich von
Treitschkes „Die Juden sind unser Unglück" und der dadurch ausgelö-
ste sog Berliner Antisemitismusstreit7 zum Anlaß, für die volle und
ungeschmälerte Integration der Juden als religiös selbständiger Ge-
meinschaft in die Gesellschaft des zweiten Kaiserreiches einzutreten
Dabei hob er beginnend mit seiner Bekenntnisschrift von 1880 immer
wieder darauf ab, daß „der Religions-Inhalt des israelitischen Monothe-
ismus mit dem Religions-Inhalt des in geschichtlichem Geiste gedach-
ten Christentums vereinbar und zur Volksgemeinschaft zureichend
sei"58, und versuchte nicht zuletzt in seinen Darlegungen zum Gang des
deutschen Geistes aufzuzeigen, „wie aus der Geschichte der Juden und
der deutschen Judenheit insbesondere hervorgeht, daß ihre religiöse
Entwickelung in der geschichtlichen Tendenz des deutschen Protestan-
tismus verläuft"59 Nach seiner Emeritierung im Jahre 1912 siedelte
Cohen nach Berlin über, wo er bis zu seinem Tod an der „Lehranstalt
für die Wissenschaft des Judentums" aktiv war und sich immer stärker
als jüdischer Religionsphilosoph profilierte Noch im März 1918 rief er
zur Gründung einer „Akademie für die Wissenschaft des Judentums"
auf, Aufgabe dieser Institution sollte es sein, „Männer der gelehrten
Forschung, welche nicht zugleich Träger des geistlichen Amtes sind",
heranzubilden, um so dem Judentum den für seine Existenz als lebendi-
ger Kultuneligion notwendigen „freien Geist der Wissenschaften" zu
sichern60 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg galt Cohen als einer
der bekanntesten und einflußreichsten Philosophen in Deutschland
Doch nicht die großen fachphilosophischen Werke, sondern seine an
den 'Ideen von 1914', 'an Deutschlands gerechter Sache' festhaltenden
Kriegsbroschüren waren es, die ihn in den Augen Balls, der sich dabei
vor allem auf Deutschtum und Judentum bezieht, als einen der wich-
tigsten Repräsentanten des deutschjüdischen Chauvinimus erscheinen
ließen Denn Cohen hatte ja nicht nur, wie Ball schreibt, „die Bezüge
nachgewiesen, die seit Luthers Uebersetzung des alten Testaments und
Moses Mendelsohns Ritualreform den jüdischen mit dem deutschen
Geiste verbinden", sondern auch den „Messianismus", diesen „Grund-
pfeiler des Judentums", „seine Krone und seine Wurzel"62, auf die
preußisch-deutsche Staatsidee und deren Weltgeltung hin ausgelegt, ja
der einflußreiche Kantinterpret war auch der festen Überzeugung ge-
wesen, die Entstehung der preußischen Heeresverfassung aus dem
Geiste des Königsberger Philosophen aufweisen zu können63 Kaum
eine der von Ball in seiner Kritik behaupteten Filiationen der deutschen
Ideologie also, die sich - in exakt gegenläufiger Wertung - nicht bei
Cohen zumindest angedeutet fänden Die Eigentümlichkeit des deut-
schen Geistes, die der Philosoph als Unterpfand künftiger deutscher
Vormachtstellung in einem noch zu schaffenden Staatenbund be-
schwor, wurde in Balls Kritik zum Schibboleth, an dem sich die Geister
schieden
Prüfüngszeit unseres Volkes und unseres Staates [...] und es ist wie-
derum ein innerstes Zeugnis für die seelisch sittliche Verwandtschaft
von Deutschtum und Judentum, daß Karl Marx mit seinem Blute und
Ferdinand Lassalle mit der religiösen Gesinnung seiner Jugend, ihre
Spuren in diese Epoche der Geschichte des deutschen Staatswesens
eingegraben haben Für den deutschen Arbeiter, für die Mehrheit des
deutschen Volkes ist dadurch der geschichtliche Begriff des deutschen
Juden von jener Beschimpfung erlöst, durch deren sprungweise Er-
neuerung auch das Vaterland Lessings auf verhängnisvolle Abwege
zeitweilig verlockt wurde "64
Auch in diesem Punkt affirmiert Ball Cohens „Verwandtschaftshese"
nur, um sie sogleich in ihrer wahren, der Einschätzung des Philosophen
diamentral entgegengesetzten Bedeutung aufzuzeigen Auf wenigen
Seiten sind hier die meisten jener Sätze versammelt, die Ball den Ruf
des rabiaten Antisemiten eingetragen haben65, sie sind im Anhang des
Beitrages dokumentiert und müssen an dieser Stelle nicht noch einmal
wiedergegeben werden Ihren Tiefpunkt erreichen sie in der Behaup-
tung, „die Ermöglichung des furchtbarsten aller Kriege, die Vernich-
tung von 20 Millionen Menschenleben" und der „Ruin Deutschlands"
verdankten sich der herrschenden „Diktatur des Deutschjudentums",
diese aber sei zutiefst in Person und Werk zunächst Ferdinand Lassal-
les, dann aber vor allem Karl Marxens, genauer: in ihrem Judesein be-
gründet Auch Cohens neukantianisch-revisionistischer Blick auf die
Sozialdemokratie in Deutschland hatte „die materialistischen Anhäng-
sel" durchaus nicht unterschlagen, „die als fremdes, verderbliches Bei-
werk ihrem ethischen Kerne anhaften"66 Ball aber hielt gerade dieses
„Beiwerk" für konstitutiv und fragte seiner Unterscheidung zwischen
Sozialismus und Sozialdemokratie entsprechend mit Bakunin, „wie
weit jüdischen Naturen überhaupt der freie Sozialismus entsprechen
konnte"67
Die Frage trägt die Antwort in sich Denn das, was den aus Rabbiner-
geschlecht stammenden, und wie Ball glaubt, talmudisch geschulten
Marx als Juden identifiziert, ist neben seinem in der alttestamentlichen
Tradition wurzelnden Glauben an die Notwendigkeit des autoritären
64
Cohen, Deutschtum (Anm 61), S 33
65
Vgl Ball, Kntik (Anm. 1), S. 165-169
66
Cohen. Deutschtum (Anm 61), S 33.
61
Ball. Kntik (Anm. 1), S. 168(Synopse).
Bernd Wacker 147
Ebd S 190(Synopse).
Ball, Künstler (Anm 18), S 250 - "Unter sechs Männern des Exekutivkomnu-
tees", heißt es im Tagebuch (Flucht, S 253) am 5. 11. 1919 zur Rolle von Juden
in der Oktoberrevolution, „sind wenigstens vier Juden Dagegen ist gewiß nichts
einzuwenden, im Gegenteil, die Juden waren in Rußland allzu lange und allzu
grausam unterdrückt Aber abgesehen von der rechtlich indifferenten Ideologie,
an der sie teilnehmen und ihrer programmatisch matenellen Denkart, müßte es
sonderbar zugehen, wenn sich in diesen Männern, die über Enteignung und Ter-
ror bestimmen, nicht alte Rassen-Ressentiments gegen das orthodoxe und pro-
gromistische Rußland regen sollten " In der Kritik, S 12(22) ist genau in diesem
Zusammenhang von Jüdischem Revanchetenor" die Rede. Daß die russischen
Geschehnisse in Deutschland revolutionäre Folgen haben könnten, glaubt Ball
nicht: „Der Marxismus hat in Deutschland als 'Judenbewegung' wenig Aussicht
auf Popularität" (Flucht, S 167)
Vgl Ball, Kntik S 294 Anm. 102(Synopse)
148 Ball und das Judentum
71
Vgl Ball, Flucht (Anm 22), S.173f. (Eintrag v 10 7 1917). Zitat: 173.
72
Vgl Ball, Kritik (Anm 1), S. 169 (Synopse)
73
Vgl Hugo Ball: Briefe 1911-1927 Hg. v Annemane Schutt-Hennings Einsie-
deln u a. 1957, S. 97 Zur Einführung in Leben und Werk Rathenaus vgl den
Katalog der Ausstellung des Deutschen Historischen Museums: Hans Wilderotter
(Hg ) Die Extreme berühren sich Walter Rathenau 1867-1922 Berlin 1993.
4
Ball zitiert aus bzw verweist später auf Zur Kritik der Zeit (1912), Zur Mecha-
nik des Geistes (1913), Von kommenden Dingen (1917) und bezieht sich auch au
die ebenfalls 1917 erschienene Broschüre Eine Streitschrift vom Glauben, mit der
Rathenau jede Konversionsforderung an das zeitgenössische Judentum entschie-
den zurückwies Von Höre, Israel, Rathenaus 1897 veröffentlichtem und später
zurückgenommenem Appell zur vollständigen kulturellen Assimilation der deut-
schen Juden, ist nicht die Rede
Bernd Wacker 149
kel der Freien Zeitung vom 12 Januar 191875 mit dessen im Vorjahr
erschienenem und in großer Auflage verbreiteten Buch Von kommen-
den Dingen ausführlich und äußerst kritisch auseinander Daß er weni-
ge Monate später im Blick auf die Feierlichkeiten zur bevorstehenden
Wiederkehr des 100. Geburtstages von Karl Marx insinuierte, „der
stammverwandte Herr Rathenau wird sprechen über das Thema
'Sozialismus zum Besten des Staates'"76, mag manchem Leser des
Blattes als bloß satirische Volte erschienen sein In Wahrheit aber hielt
sie fest, daß der vielberufene 'wirtschaftliche Generalstabschef hinter
der Front', ohne dessen Engagement der Krieg kaum länger als ein
halbes Jahr durchzuhalten gewesen wäre, nicht eigentlich, wie es im
Januar-Artikel geheißen hatte, als „Repräsentant jenes egozentrischen,
deutschen Deliriums, das alles Unglück der Welt provoziert hat"77 be-
trachtet werden dürfe, sondern für Ball inzwischen zur Symbolfigur des
deutschnationalen Judentums und seines im wahrsten Sinne des Wortes
verheerenden Kampfes um Anerkennung geworden war Zwar hatte er
schon im Januar Rathenaus Konzept einer sog deutschen Gemeinwirt-
schaft, die auf die Forderung industrieller Selbstverwaltung unter staat-
licher Kontrolle hinauslief78, ähnlich charakterisiert wie ein Jahr später
in der Kritik „Der materiell unbeschränkte Staat", so las man dort,
„soll Zustandekommen, und zwar dadurch, daß der preußische Feuda-
lismus die kommunistischen Ideen und die Plutokratie säkularisiert
Was für einen Vorteil hat der Staat davon*? Er nimmt auf diese Weise
dem Klassenkampf die Spitze und gelangt gleichzeitig zu unerhörtem
Reichtum, den er je nachdem für Kulturgüter (in Preußen!), oder für
eine nie dagewesene Kriegswirtschaft verwenden kann"79 Doch erst
hier wird „Rathenaus Ideal [...] eine[r] Vertrustung der Industrie- und
Bankkonzerne von Staats wegen"80 mit der bei Marx und Lassalle be-
ginnenden zutiefst jüdischen Pervertierung des ursprünglichen Kom-
munismus der Buchez und Cabet, der Owen und Weitling, d h dem
religiös fundierten „freien Sozialismus" ausdrücklich in Verbindung
gebracht Beide Texte aber sehen in dem schriftsteuernden Großindu-
striellen allein den „Aktienevangelistfen]" und „Staatsmogul"81, der
seinen auf den individuellen nicht weniger als auf den Staatsvorteil be-
dachten Machiavellismus82 hinter einer Wolke philosophischen Voka-
bulars und idealistischer Mystifikationen zu verbergen suche83
Man habe, bemerkt Ball, Von kommenden Dingen in der protestanti-
schen Presse mit Luthers Aufruf An den christlichen Adel teutscher
Nation verglichen84 Und in der Tat gelinge es Rathenau immer wieder,
sich in den entsprechenden Kreisen Gehör zu verschaffen „Indem er
die dralle Kokotte Germania am Reformationsbusen kitzelt Mit Seele,
Glaube, Gewissen, Verantwortung, mit Vokabeln aus der Bibelsprache,
Transzendenz, Freiheit [...] und einem wohl arrangierten, undurchsich-
tigen, anonym intellektualisierten Stil, aus dem der Durchschnittspastor
nur die lutheranische Phrase, gewissermaßen das Evangelium heraus-
zuhören braucht, um begeistert zu sein Herr Rathenau präsentiert sich
indessen nicht nur in der Geste des Reformators, er präsentiert sich in
allen Rollen, die der preußischen Tradition teuer sind "85 Kurz In Ra-
thenau hat Balls These von der fortwirkenden Konspiration der prote-
stantischen mit der jüdischen Theologie ihren lebenden Beweis gefun-
den
Obwohl es allein die Juden sind, denen Ball die materialistische Um-
wertung aller Werte explizit ins Stammbuch schreibt, bleibt er sich
nichtsdestoweniger der Tatsache bewußt - an der jeweiligen Zahl der
Seiten wird dies in der Kritik auch quantitativ sichtbar -, daß die deut-
sche Judenheit trotz des ihr zugeschriebenen nicht unbeträchtlichen
Einflusses im Vergleich zur protestantisch-preußischen Mehrheitskultur
81
Ebd S 60f.(73)bzw 122(136).
8:
Vgl ebd. S. 142(156) u. 122f(136f).
83
Zur Funktion von Rathenaus „individualaristokratischer Kulturkritik" vgl Hans
Dieter Heilige: Rathenau und Harden in der Gesellschaft des Deutschen Kaiser-
reiches Eine sozialgeschichtlich-biographische Studie zur Entstehung neokon-
servativer Positionen bei Unternehmern und Intellektuellen, in: ders - Ernst
Schulin (Hg ) Walter Rathenau - Maximilian Harden Briefwechsel 1897-1920
München/Heidelberg 1920, bes S 173-200.
84
Ball, Kntik (Anm. 1), S 295 Anm 106
85
Ball. Künstler (Anm 18), S. 211.
Bernd Wacker 151
des Reiches doch nur eine untergeordnete Rolle spielt Dabei deutet er
mit verschiedenen Hinweisen auf die schon bei Luther zu konstatieren-
de Absage an Askese und Spiritualität, Mystik und Symbolik86 wenig-
stens an, daß Materialismus und Nihilismus durchaus nicht nur in der
jüdischen Tradition zu Hause seien, sondern auch im Protestantismus
und seinen philosophischen und politischen Säkularisaten und erst recht
im protestantischen Bürgertum Heimatrecht beanspruchen dürfen Da
also auch das protestantische Deutschland allen religiösen oder kant-
ianischen Phrasen zum Trotz letztendlich nach der Maxime handele,
daß alle Ideen zu ihrer Durchsetzung auf die Allianz mit den materiel-
len Interessen angewiesen sind, kann in Umkehrung der gewohnten
Perspektive auf Heine, Marx, Lassalle und Rathenau einmal auch von
„Adoptivprotestanten aus materialistischer Wahlverwandtschaft"87 die
Rede sein - dies freilich nur in den klein gedruckten Anmerkungen am
Ende des Buches
Nur wenige Tage nach der sog Novemberrevolution hatte die Freie
Zeitung einen schon oben angesprochenen Leitartikel aus der Feder
Balls gebracht, dessen letzter Abschnitt wie folgt lautete: „Und noch
eines Man schickt anationale Israeliten vor, um eine möglichst vorteil-
hafte Liquidation zu erreichen Auch das ist falsch Der Boden einer
israelitischen Republik ist das gelobte Land, nicht aber Deutschland
Wir arbeiten mit diesen Herren gerne, soweit sie sich unzweideutig zur
moralischen Tat bekennen Die Legende vom auserwählten Volk ist
besiegt Das alte Testament ist besiegt Berlin ist nicht mehr Sinai Wir
wollen eine deutsche Nation, eine deutsche Republik, wir wollen eine
deutsche Nationalversammlung, die die Geschäftemacher und Oppor-
tunisten desavouiert und sich zur Auferstehung einer großen wahrhaft
Vgl Ball, Kntik (Anm. 1), S. 25-29(36-41) u ö Diese Lime der Luther- und
Protestantismuskntik hat Ball nie wieder aufgegeben
87
Ebd S 264(272) Anm. 155; S 299(301f) Anm 17 ist vom „Optivprotestanten-
tum. dem außer Lassalle und Heine auch Marx verfielen" die Rede Gemeint ist
damit die Hegelverehrung dieser drei Männer, die - anders als Rathenau - alle
nach protestantischem Ritus getauft waren.
152 Ball und das Judentum
geläuterten Nation bekennt So, nur so, gewinnen wir das Vertrauen
der Welt zurück "88
Dieser Passus ist, worauf Rabinbach aufmerksam gemacht hat, einer
der wichtigsten Belege für Balls Beschwörung eines anderen, eines
neuen Deutschland jenseits von Preußentum und Protestantismus. Ist
damit aber nicht zugleich auch ein bakuninistisch-christliches Deutsch-
land ohne Juden gemeint9 Zwar hat sich Ball zum Thema nur beiläufig
geäußert, doch scheint er zumindest bis zur Niederlage des Deutschen
Reiches der Auffassung gewesen zu sein, einzig der Zionismus könne
eine befriedigende Lösung des jüdischen Problems bringen, weil er es
den deutschen Juden endlich erspare, sich mit dem herrschenden Anti-
semitismus arrangieren zu müssen, und auch für die verfolgten jüdi-
schen Menschen aus Rußland und Polen eine Lösung anbiete 89 Die
zitierten Sätze tragen jedoch unübersehbar einen anderen Akzent, ja
legen die Frage nahe, ob Ball seiner Zeit hier nicht gleichsam um zwei
Jahrzehnte voraus ist Plädiert er nicht für die Ausweisung der deut-
schen Staatsbürger jüdischen Glaubens, da sie seiner Auffassung nach
schlicht und einfach als 'undeutsch' zu gelten haben1? Und spinnt er
hier, nach dem Sturz der Monarchie und der Entmachtung der Ober-
sten Heeresleitung, nicht selber an jener Verleumdung fort, der diese
im Oktober 1916 mit der sog Judenzählung90 im Heer so bereitwillig
Vorschub geleistet hatten?
Der Kontext legt eine differenzierende Deutung nahe Denn wenn,
wie die Kritik festhält, der „Anationalismus der Juden" mit ihrem „Des-
interessement am nationalen moralischen Wettstreit"91 gleichzusetzen
ist, in letzter Instanz also auf ihren Materialismus zurückgeht, der alle
nationale wie persönliche Individualität negiere, dann gibt es Grund zu
der Vermutung, mit den „anationalen Israeliten" seien gerade, des ab-
gehalfterten Kaisers 'liebe Juden', genauer die jüdischen „Adoptiv-
protestanten" vom Schlage Rathenaus gemeint gewesen Anational
dürfen sie heißen, weil sie gegen Deutschlands wahre Interessen, gegen
Ball Die Umgehung der Instanzen (16 11 1919). in: ders . Künstler (Anm 18),
S. 231-233, 233.
Vgl ebd S 209, polemisch erwähnt wird der Zionismus in der Kritik, S 34 (45)
Vgl Manfred Messerschmidt Juden im preußisch-deutschen Heer, in Militärge-
schichtliches Forschungsamt (Hg): Deutsche Jüdische Soldaten 1914-1945
Herford/Bonn 31987, S 109-140, bes 119-123
Ball, Kritik (Anm 1), S 192(Synopse)
Bernd Wacker 153
92
Ball, Künstler (Anm 18), S. 208
93
Ball, Kritik (Anm 1). S. 167(181).
94
Vgl Ball, Künstler (Anm 18), S. 235, 245-249, 255f.
95
Vgl ebd. S. 254-257, 256.
96
Vgl. ebd. S 262-265. 264
154 Ball und das Judentum
Ebd S 181f
Ball. Flucht (Anm 22). S. 225; vgl dazu auch Anm 86
Bernd Wacker 157
3. „Judaismus"
Trotz der Umarbeitung jedoch haben sich Spuren des Judenbildes von
1918/19 auch in den Folgen erhalten Auch hier nämlich ist, wenn auch
nur mit wenigen Worten und in anscheinend neutralem Referat, im
Blick auf protestantische Theologie, idealistische Philosophie und welt-
anschaulichen Liberalismus von den negativen Konsequenzen des
„Judaismus"11, die Rede Ein adäquates Verständnis dieses Terminus
setzt allerdings die in der katholischen Theologie und Volksfrömmig-
keit noch bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil beinahe unangefoch-
ten geltende Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel nach dem
Typologie- bzw Substitutionsmodell voraus Demgemäß muß, wie im
Byzantinischen Christentum praktiziert, das Israel des alten Bundes
zwar als wirkliche Vorausdarstellung und Vorstufe der Kirche ange-
sprochen werden, als solches aber ist es spätestens seit dem Pfingst-
ereignis vor die Frage gestellt, ob es sich zu Christus bekehren oder
den Weg der Verwerfung gehen will Mit anderen Worten: Auch für
Ball hat das nachbiblische Judentum seinen heilsgeschichtlichen Rang
ganz und ein für allemal an die römische Kirche verloren, auch er will
zwischen einem als Wurzelgrund des Christentums zu ehrenden Israel
ante und einem verstockt-bekehrungsunwilligen Judentum post Chri-
stum natum unterschieden wissen „Judaismus" meint darum den
„falschen, sterilen Weg [...], den alles 'Judentum' ging, indem es die
Inkarnation verleugnete und Zeichen der Allmacht nur noch im Reich
des Abstrakten, des Intellektes erwartete" 114 Er ist der Ausdruck der
Selbstentfremdung dieses Volkes, das anders als seine Vorfahren die
Texte der Tradition nur noch auf der banalen Ebene des Literalsinns
historisch-philologisch zu traktieren wisse und sie deswegen dem ma-
terialistischen Mißverständnis, d h der politischen Instrumentalisierung
durch die Herrschenden ausgeliefert habe „Die ersten ernsthaften Ele-
13
Ball, Folgen (Anm 21), S 19
1H
Ball. Byzant Christentum (Anm 19), S. 285
160 Ball und das Judentum
Welche Vorstellungen und Hoffnungen auch immer Ball mit solch ka-
tholisch-jüdischer Allianz verbunden haben mag - mit der seit Melito
von Sardes verbreiteten christlichen Überzeugung vom Gottesmord der
Juden117 dürfte sie kaum vereinbar gewesen sein Auch Ball repetiert
das antijudaistische Theologumenon vom „Volk Israel", das Jesus,
„den Sohn seines eigenen Gottes" ans Kreuz geschlagen habe und, wie
er hinzufügt, seit dieser Zeit, das Zeichen Kains auf der Stirn trage118
Die entsprechenden Ausführungen finden sich im dritten Teil des By-
zantinischen Christentums, dem Kapitel über Symeon den Styliten
Sein Leben, sein Tun und seine Lehre seien der Person gewordene Re-
115
Ball, Kntik (Anm. 1), S. 249(258) Anm 3
116
Ball, Flucht (Anm 22), S. 225 (Eintrag v 31 Juli 1918) „Vielleicht', notiert er
unter demselben - authentischen'7 - Datum. ..werden orthodoxe Katholiken und
Juden im Bunde einmal noch Deutschland aus seinem Sumpfe enetten."
117
Vgl Kirche und Synagoge (Anm 28). Bd I, S 72ff.
118
Ball, Byzant Chnstentum (Anm 19), S. 256 u. 289
Bernd Wacker 161
flex all der Gestalten und Ereignisse des Alten Bundes, in denen Leben
und Geschick Jesu Christi von Anfang an präfiguriert gewesen sei
„Seine Erfüllung der alten Vorbilder mahnt an den Heiland selbst,
durch den er sie erreicht"119. Weil er den Weg gegangen ist, der ganz
Israel zugedacht war, ist in ihm nicht nur das Ende der alttestamentli-
chen Verheißung symbolisiert, sondern zugleich die Frage gestellt, ob
denn die frohe Botschaft des Evangeliums auch für die ungläubigen Ju-
den Geltung habe Balls ansonsten nicht immer ganz durchsichtige
hymnisch-symbolische Exegese der Vita des heiligen Büßers und Aske-
ten läßt keinen Zweifel an seiner Überzeugung, daß durch die Güte des
dreieinigen Gottes zu seiner Zeit „auch der verstockteste, der vom
Vater gezeichnete Mörder des Sohnes erschüttert wird und den Weg
zurückfindet nach Golgatha" 120
Ball verweist im Zusammenhang seiner diesbezüglichen Darlegungen
ausdrücklich auf Leon Bloys 1892 in Paris erschienenes Buch Le salut
par les Juifs121 Es richtete sich zwar ausdrücklich gegen den französi-
schen Antisemitenpapst Edouard Drumont, war aber selbst zu einem
üblen - dezidiert biblisch-theologisch argumentierenden - antisemiti-
schen Pamphlet geraten, dessen wörtlich zu nehmende „Feind-Selig-
keit" auf die prekäre ideologische Situation des monarchistisch-
antikapitalistischen Flügels im französischen Katholizismus jener Jahre
verweist122 Dem Bloy-Kenner Ball123 ist dieser Antisemitismus nicht
entgangen Wenn er daher die Ausführungen des scharfzüngigen ka-
tholischen Ideologen auch ein gut Stück weit zustimmend referiert und
selbst dessen geschichtstheologische These übernimmt, ganz Israel
trage das Zeichen des Brudermörders an der Stirn, weshalb alle Po-
grome und Verfolgungen letztendlich zum Scheitern verurteilt seien, so
hat er sich den Ansichten des französischen Polemikers doch keines-
wegs vorbehaltlos verschrieben Was ihn an Bloy fasziniert hatte, war
119
Ebd S 286
120
Ebd. S 289.
121
Vgl ebd S 283ff Bloys Traktat wird im folgenden zitiert nach der deutschen
Ausgabe: Das Heil und die Armut Das Blut des Armen und Das Heil durch die
Juden Mit Beiträgen v Georges Bernanos u a Heidelberg 1953, S 295-400
122
Vgl Pierre Solin: Die Entwicklung in Frankreich nach 1850, in: Kirche und
Synagoge (Anm 28), Bd II. S 421-452; der Name Bloys fällt allerdings nicht.
123
Vgl Hugo Ball - Emmy Hennings Damals in Zürich Briefe aus den Jahren
1915-1917 Zünch 1978. S. 14f
162 Ball und das Judentum
ja nicht nur dessen Zug ins Apokalyptische und die damit verbundene
Absage an alle „moderne" - mit dem polischen und sozialen Status quo
längst versöhnte - Katholizität, sondern auch dessen symbolische Exe-
gese, die sich historischer Kritik weit überlegen glaubte Doch gerade
Bloys Auseinandersetzung mit dem Judentum demonstrierte, wie Ball
nicht verborgen blieb, die Gefahren aller unkontrollierten „geistlichen"
Schriftauslegung ad oculos „Die Resultate dieses Buches, das ich hier
in die Darstellung einbeziehe", so formuliert er im Stylites-Kapitel sei-
nen Vorbehalt, „teile ich nicht Seine Exegese scheint mir besonders
gegen den Schluß hin willkürlich Die Philosophie des Blasphems, die
Bloy auch sonstwo entwickelt, ist ein Harakiri seines Genies."124 Seine
Verehrung für Bloy dürfte es Ball verboten haben, ins theologische
Detail zu gehen Doch wird aus seinen Ausführungen indirekt deutlich,
daß er zunächst allen soteriologisch-geschichtstheologischen Spekula-
tionen Bloys125 über ein kommendes Zeitalter des Heiligen Geistes, in
dem die Apostasie einer die Synagoge in all ihrer Niedertracht noch
übertreffenden Kirche zur Möglichkeitsbedingung künftiger Erlösung
geworden sei, eine deutliche Absage erteilt126 Darüberhinaus und
wichtiger aber dürfte Ball auch dem eigentlichen Schlüsselgedanken
des Bloyschen Traktats, seiner Gott-Geld-(Anti-)Typologie, ablehnend
gegenübergestanden haben In seiner Exegese von Psalm 11,7 nämlich
(„Die Worte des Herrn sind lautere Worte, sind Silber ."), die sich die
Doppelbedeutung des französischen „argent" (Silber, Geld) zunutze
machte, hatte Bloy auf der symbolischen Repräsentation des göttlichen
Wortes durch das Geld bestanden und daraus gefolgert, „daß die Ju-
den, die alten Verwahrer dieses Wortes, denen diese Aufgabe genom-
men wurde, weil sie das Wort, als es zum Fleisch des Menschen ge-
worden war, ans Kreuz geschlagen haben, auch nach ihrer Absetzung
124
Ball, Byzant. Chnstentum (Anm 19), S 284 Anm 16
125
Vgl Bloy (Anm 121), bes S. 393-401.
126
Dies schließt auch das Theologoumenon von der stehend gewordenen Passion
Jesu ein, derzufolge das Todesleiden des Gekreuzigten erst an jenem Tage zu En-
de kommen werde, an dem „sich das Judentum des Erlösers erbarmt", wenn es
„umkehrt nach Golgotha, um den Messias vom Kreuz herabzunehmen" Dieser
Gedanke wird von Ball zwar refenert (Byzant Christentum, S 284f), nicht aber
affirnuert. Schon Bloy selbst hatte ihn der Passionsfrömmigkeit des Mittelalters
zugeschrieben, deren Aporetik benannt und in einem eigenen theologischen Ent-
wurf zu lösen versucht
Bernd Wacker 163
127
Vgl Bloy (Anm 121). S. 318-322; die beiden Zitate ebd 318 u 321 Bloy hat
diesen Zentralgedanken nie wieder aufgegeben; vgl sein 1902 und 1913 in zwei
Teilen in Pans erschienenen Werk Exegese des lieux communs, <das unter dem
Titel Auslegung der Gemeinplätze (Frankfurt/M 1995) jetzt auch in deutscher
Übersetzung vorliegt Eine deutschsprachige Lesung aus diesem latent antisemi-
tischen Werk stand schon auf dem Programm der III Soiree der Galerie Dada
Ende Apnl 1917; vgl Ball, Flucht (Anm 22), S 158.
128
Ball, Briefe (Anm. 73), S. 260
129
Für die genannten biographischen Daten vgl auch im folgenden Ernst Teubner
(Hg.): Hugo Ball (1886-1986) Leben und Werk Berlin 1986 sowue Emmy Hen-
nings-Ball: Hugo Balls Weg zu Gott Ein Buch der Erinnerung München 1931.
bes. S 7-21.
164 Ball und das Judentum
Statt vieler Einzelbelege verweise ich auf Olaf Blaschke Katholizismus und
Antisemitismus im Deutschen Kaiseneich Göttingen 1996; vgl auch ders.: Anti-
kapitalismus und Antisemitismus Die Wirtschaftsmentalität der Katholiken im
Wilhelminischen Deutschland, in: Johannes Heil - Bernd Wacker (Hg): Shylock9
Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und chnstlicher Tradition München
1996 (im Druck)
131
Eine Monographie zur Geschichte der zwischen 1933 und 1942 vernichteten
jüdischen Gemeinde Pirmasens existiert m. W. nicht, die genannten Daten finden
sich bei Hermann Arnold: Von den Juden in der Pfalz Speyer 1967, S 93 u. 100;
verschiedene Einzelhinweise, insbesondere auf weitere Literatur, auch bei Alfred
Hans Kuby (Hg): Juden in der Provinz. Beiträge zur Geschichte der Juden in der
Pfalz zwischen Emanzipation und Vernichtung Neustadt a. d W 1988 u ders
(Hg.): Pfälzisches Judentum gestern und heute Beiträge zur Regionalgeschichte
des 19 und 20 Jahrhunderts Neustadt a d W 1992
Bernd Wacker 165
li
" Ball, Kntik (Anm 1), S 165f.(180) u 169(Synopse).
137
Ball, Kntik (Anm 1), S 169(Synopse)
138
Ball, Künstler (Anm 18), S 266.
139
Ball, Kntik (Anm 1), S. 301 Anm 33
140
Vgl Helmut Berding Moderner Antisemitismus in Deutschland Frankfurt
1988, S 86-140 u 165-189
Bernd Wacker 167
se katholisch werden , schloß auch die Juden ein Daß er solche Be-
kehrung auch des ersten Bundesvolkes für notwendig hielt und dar-
überhinaus nur mit Hilfe dämonologischer Kategorien denken konnte,
zeigt mit bestürzender Deutlichkeit, wie wenig sich Ball - und mit ihm
wohl die meisten Katholiken der Zeit - der 1900jährigen Geschichte
des christlichen Antijudaismus letztlich zu entziehen vermochte. Ein
Besuch im „Tempel", der Synagoge des römischen Judenviertels, im
Herbst 1924, bereitete ihm dementsprechend nicht unerhebliche Gewis-
sensbisse Die menschenfreundliche deistische Binsenwahrheit „Ach,
der liebe Gott ist nicht so kleinlich, er sieht doch durch alle Dächer und
weiß Bescheid", wie sie angesichts dessen seine Frau ins Feld führte147,
dürfte seinem intransigenten konfessionalistisch-katholischen Wahr-
heitsanspruch kaum Genüge getan haben Zu einer human zuträglichen
wie theologisch verantworteten Beschreibung des Verhältnisses von
Judentum und Christentum fehlten ihm alle Voraussetzungen
Hugo Balls Weg aus der vorurteilsbeladenen Atmosphäre seiner reli-
giösen Erziehung über den nietzscheanisch inspirierten und bakunini-
stisch begründeten Antisemitismus der Weltkriegsjahre zum reflektier-
ten katholischen Antijudaismus/Antisemitismus seiner letzten Lebens-
spanne führte durch das Land der Gobineau und Treischke, nicht der
Streicher und Rosenberg, der Hitler, Himmler und ihrer Eichmanns
Deutschlands Unglück waren seiner Überzeugung nach auch, aber nie
allein und ausschließlich, nie 'von Natur aus' und auch nicht durch-
gängig die' Juden Daß die Welt nach der militärischen Niederlage
Deutschlands und dem Sturz Preußens „vor einem feineren deutschen
Attentat" sicher sein könnte, hat er nie geglaubt und schon 1918/19
darauf hingewiesen, daß ein solches Attentat „nicht nur in kriegeri-
schen Aktionen zu bestehen braucht"148. Trotzdem das „Attentat" von
Auschwitz war nicht in Balls Horizont Daß das Recht, 'gregorianisch
zu singen', schon bald unlösbar mit der - in den Kirchen zumeist igno-
rierten - Verpflichtung verbunden sein würde, 'für die Juden zu schrei-
en'149, hat er wohl nicht einmal für möglich gehalten So wenig sein
46
Vgl Ball. Bnefe (Anm. 73). S. 237 u. 247.
47
Vgl Ball-Hennings (Anm. 141). S 14f
,s
Ball, Kntik (Anm 1), S. VI(9).
19
„Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.'- so der evang
Theologe Dietrich Bonhoeffer, zitiert nach Tiemo R Peters: Die Präsenz des
Politischen in der Theologie Dietnch Bonhoeffers München/Mainz 1976, S. 53.
Bernd Wacker 169
Anhang
Die in der linken Spalte der folgenden Synopse durch [...] gekenn-
zeichneten Auslassungen in den Nachdrucken des Suhrkamp-Verlages
sind rechts im Wortlaut der ersten Auflage wiedergegeben. Die vor-
ausgehenden Worte zitieren den Anfang der jeweils genannten Zeile
der Nachdrucke ( ' bedeutet Absatz). Zu den gestrichenen Passagen
der Erstauflage gehören auch acht Fußnoten, die jeweils im Anschluß
an die entsprechenden Stellen dokumentiert werden. Die Schreibweise
Balls wurde in allen Fällen beibehalten.
Zur Kritik der deutschen In- Zur Kritik der deutschen In-
telligenz tellizenz
Nachdrucke Frankfurt 1980 u. Bern 1919
1991
S. 9, Z. 19 S. V, Z. 20
Pamphlet zu schreiben [...]// Pamphlet zu schreiben. Ich fand
und suchte zu dokumentieren
Eine Konspiration der protestanti-
schen mit der jüdischen Theologie
(seit Luther) und eine Konspirati-
on beider mit dem preussischen
Gewaltsstaat (seit Hegel), die
nicht nur die Unterwerfung Euro-
pas und die Weltherrschaft erstreb-
te, sondern die gleichzeitig aus-
ging auf die universale Zerstörung
von Religion und Moral Diese
Konspiration ist tiefer und stärker
verwurzelt, als man gemeinhin
glaubt, ihre Unterschätzung aber
liegt weder im Interesse der
Menschheit, noch im Interesse des
Bernd Wacker 171
deutschen Volkes.//
Es ist meine feste Überzeugung Es ist meine feste Überzeugung...
S 42, Z. 9 S 30, Z 29
Tatsache, daß die Nation [...] Tatsache, dass die Nation auf ein
philologisches Pfaffenmanöver ein-
ging und sich von nun an an die
sich von nun an an die Bücher.. Bücher
S 63, Z 7 S 51,Z 11
könne, während sie [...] könne, während sie ihn nennen,
von ihm schreiben während sie von ihm schreiben
Z 15 Z 19
et sanctissimi hominis [...] // et sanctissimi hominis Werden die
Bancos oder die Macbeths sie-
gen?//
S 131, Z 2 S 117, Z 19
Beziehungen gesetzt zu werden Beziehungen gesetzt zu werden
[.-]// Oder ist eine Weltseele weniger
erhaben als ein theistischer Gott 9
Was Gott an Charakter voraushat,
ersetzte die Weltseele gewisserma-
ssen an Breite Die Erhabenheit
Gottes sowohl wie der Weltseele
lag ja nur in dem mystifikatori-
schen „Gehalt", den beide zu lie-
fern hatten
In der „Weltseele".. In der „Weltseele"...
S 158, Z. 23 S 144, Z. 20
gemeinsamer Glaube lebt auf. [...] gemeinsamer Glaube lebt auf Jene
// deutschen Prokatholiken aber, die
ihre Sympathien und Erwartungen
während des Krieges zum kom-
promittierten päpstlichen Stuhle
Benedikts wanden, werden unter
172 Ball und das Judentum
S. 172, Z 2 S 157, Z 30
neuen Lebens überall verbreitet neuen Lebens überall verbreitet
wurde [...] wurde Dieser Geist ist es, aus
dem der Kommunismus entstand,
Dieser Geist verbindet dieser Geist verbindet
S. 180, Z. 1 S 165,Z 26
che, daß Weitling heute nahezu Tatsache, dass Weitling heute na-
vergessen ist, während [...] die hezu vergessen ist, während von
Sozialdemokratie. . jüdischer Seite die Sozialdemo-
kratie
Z 26 S 166, Z 18
daß [...] sie dass die Herrschaft dieser Art jü-
disch-deutschen Geistes der Welt
der Welt und Deutschland und Deutschland...
Z 34 Z 33
Sinn dieses Daseins ist, der wird Sinn dieses Daseins ist, der wird
[...] einem prussifizierten Europa unter
jüdischer Direktive nicht allzuviel
Erwartung entgegenbringen, son-
die Alternative stellen: Christus dem die Alternative stellen: Chri-
oder Jehova.// stus oder Jehova.//
S 182, Z. 1 S 168, Z 1
[...] Eine Etappe im jüdischen Emanzi-
pationskampf nannte ich die Grün-
dung der deutschen Sozialdemo-
kratie, und dieser Anschauung ist
gerade auch Cohen „Für den deut-
schen Arbeiter, für die Mehrheit
des deutschen Volkes", schreibt er,
„ist dadurch der geschichtliche
Ball und das Judentum
Michael Bakunin, Oeuvres, tome V, p 243, P. V. Stock. Paris, 1911. Die Schrift
ist heute noch ausserordentlich lesenswert und sollte endlich ins Deutsche übertra-
gen werden
35
Als Alexander Herzen den Entwurf zu Gesicht bekam, wunderte er sich, dass B
dann die Hess und Borkheim angriff, statt „leur chef de file", Karl Marx Bakunin
antwortete: „Je n'ignore pas que Marx a ete l'insügateur et le meneur de toute cette
calomnieuse et infame polemique qui a ete dechainee contre nous Pourquoi l"ai-je
donc menage. l'ai-je meme loue. en l'appelant geant? Pour deux raisons, Herzen.
La premiere c'est la justice Laissant de cöte toutes les vilenies qu'il a vomies con-
tre nous, nous ne saurions meconnaitre, moi du moins. les immenses Services ren-
dus par lui ä la cause du socialisme, quil seil avec intelligence, energie et sincente
depuis pres de vingt-cinq ans en quoi ü nous a indubitablement tous surpasses" (p.
213) Er fährt fort: „La deuxieme raison, c'est une politique et une tacüque que je
crois tres juste II pounait arnver, et meme dans un bref delai, que j engageasse
une lutte avec lui, non pour offense personnelle, bien entendu. mais pour une que-
stion de principe, ä propos du communisme dEtat, dont lui-meme et les partis
anglais et allemand quil dinge, sont les plus chaleureux partisans Alors ce sera
une lutte ä mort Si ä l'heure qu'il est j'avais entrepris une guerre ouverte contre
Marx lui-meme, les trois quarts des membres de l'Internationale se seraient tournes
contre moi et je serais en desavantage, j'aurais perdu le tenain sur lequel je dois me
tenir Mais en m'engageant dans cette guene par une attaque contre la gueusaille,
dont ü est entoure. j'aurais pour moi la majonte De plus, Marx lui-meme, qui est
plein de cette Schadenfreude, que tu lui connais bien, sera tres content de voir ces
amis mal en point" (p 234) Man weiss, wie der Kampf zwischen Bakunin und
Marx, zwischen freiem föderativem Sozialismus und zentrahstischem Staatskom-
munismus endete Es gelang Marx mit Hilfe einer künstlichen Stimmenmehrheit B
aus der Internationale ausschlössen zu lassen (Kongress zu Haag. 2-7 September
1872) Aber die eigentliche Mehrheit, auf Seiten der föderalistischen Idee, zwang
die wenigen Anhänger Marxens, den Generalrat von London nach New York zu
verlegen (Kongress zu St Imier, 15 Sept 1872), und hielt nach dieser Verteibung
noch glänzende Kongresse ab (Genf 1873, Brüssel 1874) Der Föderalismus hatte
das Feld behauptet Bakunin starb am 3 Juli 1876 in Bern.
106
Vergl Walter Rathenau, „Von kommenden Dingen", 1917 Rathenaus Ideal ist
eine Vertrustung der Industrie- und Bankkonzerne von Staats wegen, nach Säku-
larisation der sozialistischen Ideen und unter militärischer Oberleitung der preus-
sischen Monarchie Protestantische Blätter verglichen sein Buch mit Luthers Auf-
ruf „An den christlichen Adel teutscher Nation"
S 186, Z 22 S 174, Z 26
es nicht genug war, um Bismarck es nicht genug war, um Bismarck
zu bestimmen"9 [ ]// zu bestimmen"? Ist es die Rasse,
die auch bei Bernstein spricht und
zu schützen versucht? Mit welch
178 Ball und das Judentum
S 187, Z. 29 S. 175, Z 35
seine Testamentsvollstreckerin, seine Testamentsvollstreckerin,
eben jene Gräfin Hatzfeld [...] eben jene Gräfin Hatzfeld, auf die
zweideutigste Weise versuchte, die
versuchte, die Partei... Partei. .
Z 32 S 176, Z 3
Man darf sich heute nicht über
Scheidemann und den Parteivor-
stand wundern, wenn Heroen des
deutschen Sozialismus die Korrup-
tion selbst züchteten Heines Wort,
Heines Wort, daß die preußische dass die preussische ..
S. 191, Z 4 S. 179, Z 9
musüber.[...] // Journalismus über Damit beginnt
seine Laufbahn als Gelehrter und
Revolutionär, als Jude und als
Preusse, als Pamphletist und Or-
ganisator.//
Das jüdische Problem . Das jüdische Problem ..
S. 202, Z 26 S 190, Z 31
doktrin kat' exochen [...] Staatsdoktrin kat' exochen Jene
nach seinen eigenen Worten „chi-
märische Nationalität des Juden",
die Internationale des Geldmen-
schen und Kaufmanns ist es, die ihn
Daß er die Bedarfs- und Ge- beschäftigt Dass er die Bedarfs-
brauchsgegenstände. . und Gebrauchsgegenstände
S 203, Z 21 S 191, Z 29
[...] Die für Marx charakteristische Ge-
Bernd Wacker 179
Z 25 S. 192, Z 2
gewinnen, nichts zu verlieren hat- gewinnen, nichts zu verlieren hatte
te [...]// Das Desinteressement aber am na-
tionalen moralischen Wettstreit, der
Anationalismus des Juden, ist dop-
pelt schlimm für uns Deutsche, die
wir der nationalen und mensch-
lichen Emanzipation nie allzuviel
Kräfte gewidmet haben58.//
Die große christliche Bewegung Die grosse christliche Bewegung...
58
Das Aufkommen der Bolschewiki in Rußland sollte uns ein warnendes Beispiel
sein: während sich die Zimmerwäldler auf die internationale Ideologie einliessen,
arbeiteten die Bolschewiki wie Besessene an der nationalen Destruktion: am Venat
der Nation, an der Expropnation der Nation, an der Entfesselung des nationalen
Verbrechertums Der Zimmerwaldianismus wurde die Firma und das Aushän-
geschild, womit sie ihre nationalen Gewalttaten deckten
S. 206, Z 9 S 194, Z. 22
bildete [..]// bildete Marx, der missglückte
Professor, entschloss sich, den
privilegierten Besitz anzugreifen, es
beim königlichen Schutze aber be-
wenden zu lassen.//
Für seine Ansicht Für seine Ansicht.
Z 30 S. 195, Z 11
sehung zu spielen [...] Vorsehung zu spielen und ihre lie-
ben Geldjuden dazu heranzuziehen
Und es findet sich darin Und es findet sich darin. .
180 Ball und das Judentum
S. 207, Z. 18 S. 195, Z. 35
Marxens Kampf geht [...] Marxens Kampf geht um die jüdi-
sche Aktionsfreiheit in der proleta-
rischen Gesellschaft, nach Beseiti-
nach Beseitigung der. . gung der
Z. 23 S 196, Z. 6
auch nur die Monarchie angreifen9 auch nur die Monarchie angreifen,
die vorerst den Juden schützt, spa-
ter aber von selbst verschwindet7
Ist sie doch... Ist sie doch
S. 209, Z 27 S 198, Z 8
1848 [...] zutage tretende Einheits- 1848 deutlich zutage tretende Ein-
und Zentralisationsbewegung heits- und Zentralisationsbewe-
gung .
S 213, Z I S. 201, Z 17
nen [...] Borkheim, um gegen die Instruktionen der Deutschjude
Borkheim, um gegen die
Z 18 Z. 34
deutschen Sozialisten [...] seiner deutschen und deutsch-jüdischen
Zeit... Sozialisten seiner Zeit.
S 229 Z 18 S. 217, Z 30
Mönch von Wittenberg ein Ver- Mönch von Wittenberg ein Ver-
hängnis war9 [...] hängnis war9 Oder besteht noch ein
Zweifel, dass infolge seiner Reli-
gion Gott selbst zu Bismarcks Zei-
ten auf die Deutschen herunter-
kam9 Wenn Friedrich Naumann
Wenn Friedrich Naumann fand fand
Bernd Wacker 181
Einen Sonderfall stellen Anm. 100 des Dritten und Anm. 33 des Vier-
ten Kapitels der Erstauflage (vgl. S. 166 u. S. 293f bzw. S. 185 u. S.
301) dar, die in den Nachdrucken (vgl. S. 180 Anm. 98 u. S. 298 bzw.
S. 197 Anm. 33 u. S. 304) nur völlig verkürzt wiedergegeben sind; sie
werden hier darum ebenfalls dokumentiert:
100
„Schon in der römischen Zeit hatten bekanntlich Juden an den Ufern des Rheins
sich angesiedelt Unter Karl dem Grossen verbreiteten sie als Reisende überall hin
die deutsche Sprache Dabei pflegen sie zugleich eifrig die Wissenschaft ihrer Re-
ligion: die Schulen von Worms. Mainz. Speyer werden blühende jüdische Gelehr-
tenschulen Solche gibt es zwar auch in Spamen und Frankreich, aber Sudemann
weist in seiner Geschichte des Erziehungswesens und der Kultur der abendländi-
schen Juden' darauf hin. dass sie dort ohne den inneren Einfluß bleiben, den die
deutschen Juden gewinnen Dieser Kontakt mit ihrer deutschen Umgebung, diese
Beeinflussung, der die deutschen Juden innerlicher als anderwärts zu ihrer Umge-
bung sich hingeben (sie!), spneht eben wieder für die Urwüchsigkeit dieses Ver-
hältmsses(!) Hier waren sie seit den Vorzeiten Germaniens ansässig, hier bleiben
sie bodenständig, hier werden sie niemals vollständig ausgetrieben wie anderwärts,
wie in Frankreich und in England, hinterher kehren auch solche wiederum zurück,
die, wie nach Polen und Russland, von hier ausgewandert waren, als die schreckli-
chen Verfolgungen beim schwarzen Tode in Deutschland überhandnahmen"
(Cohen, S 19) Heute aber, nach Moses Mendelsohn, der das Deutschtum „zu einer
Lebenskraft des Judentums herangezogen hat" (S. 25), nach Herder, mit dem ihnen
„der Messias im deutschen Geiste wieder erstand" (S. 30), „fühlen wir uns als deut-
sche Juden in dem Bewusstsein einer zentralen Kulturkraft, welche die Völker im
Sinne der messianischen Menschheit zu verbinden berufen ist Wenn es wieder
einmal zum ernstlichen Bestreben nach internationaler Verständigung und wahr-
haft begründetem Völkerfrieden kommen wird, dann wird unser Beispiel als Vor-
bild dienen dürfen (!) für die Anerkennung der deutschen Vormacht in allen
Grundlagen des Geistes- und Seelenlebens". (S. 37) So aufrichtig ist selten gespro-
chen worden
33
„Zur Judenfrage". S. 198 Das ist ganz falsch Das Judentum wird voraussichtlich
seinen „religiösen", exklusiv konspiratorischen Charakter beibehalten und dadurch
in kurzer Zeit gerade in einem kntiklosen Volke alle wichtigeren Stellen in Presse,
Verwaltung und Politik besetzten Es ist deshalb von doppelter Wichtigkeit, die
deutsch-jüdische, autontäre Staatsdoktrin mit religiösen Pnnzipien zu bekämpfen.
Thomas Rüster
„Es ist das Buch Balls, das bleiben wird", meinte Friedrich Fuchs, Mit-
herausgeber der katholischen Monatszeitschrift Hochland und mit Ball
persönlich bekannt, über dessen Byzantinisches Christentum2 Es
scheint, daß er sich getäuscht hat Von allen größeren Werken Balls ist
allein das Byzantinische Christentum zur Zeit im Buchhandel nicht
lieferbar Blättert man die Bände des seit 1977 von der Stadt Pirmasens
herausgegebenen Hugo Ball Almanachs durch, wird deutlich, daß auch
die Ball-Forschung das Byzantinische Christentum recht stiefmütterlich
behandelt hat Der Ball des Dadaismus, der Freien Zeitung, der Kritik
der deutschen Intelligenz, der Briefe steht im Mittelpunkt des Interes-
ses Werner Hülsbusch schreibt mehr als 70 Seiten über Hugo Balls
Flucht zum Grunde. Die prophetische Existenz eines christlichen
Schriftstellers, streift dabei aber das hier vor allem einschlägige Byzan-
tinische Christentum nur mit einigen Bemerkungen 3 Friedrich Wilhelm
Kantzenbachs großer Beitrag zur Standortbestimmung von Hugo Balls
„Byzantinischem Christentum" im geistes- und wissenschaftsge-
schichtlichen Zusammenhang bleibt gelehrt, aber eigenartig unschlüs-
1
Josef Stiglmayr Hugo Ball als Hagiograph, in: Zeitschr f Aszese und Mystik 3
(1928). S. 78.
2
Fnednch Fuchs: In memonam Hugo Ball, in: Hochland 25/1 (1927), S. 289-292,
289 In Hugo Ball, Briefe I9II-I927, hg v Annemane Schutt-Hennings. Einsie-
deln-Zürich-Köln 1957, S 180, erwähnt Ball den Besuch von Fuchs, zusammen
mit Ruth Schaumann, im Juli 1924 Fuchs' o g Nachruf stellt die intensivste Be-
schäftigung dar. die Ball im Hochland zuteil wurde Fuchs ist es vor allem um den
Nachweis zu tun, daß Ball als Person authentisch hinter dem oft als bloß litera-
nsch gescholtenen Radikalismus seiner Werke stand.
3
Vgl Stadt Pirmasens (Hg.): Hugo Ball Almanach 1982, S 1-73; zum Byzant
Christentum S 56-58.
184 Ball und der Weimarer Katholizismus
sig vor Balls großem Werk stehen, mit dem Interpretationsansatz Eine
Alternative zum 'Übermenschen' hat er wohl nur einen Zipfel des ge-
samten Gewebes in die Hand bekommen 4 Emmy Hennings-Ball hat
das Byzantinische Christentum stets mit ganz besonderer Verehrung
behandelt, und sie liefert wichtige Aufschlüsse über die Bedingungen
seiner Entstehung, über den Inhalt des Buches aber wird man bei ihr
auch nicht so recht klug 5 Bernhard Echte, der Herausgeber der Neu-
auflage der Flucht aus der Zeit, behält wohl recht mit seiner Feststel-
lung, daß sich Balls Hinwendung zur „asketisch-mystischen Tradition
des Katholizismus" noch heute befremdlich ausnimmt und bereits sei-
nen Weggefährten ein „schwer erklärbares, deswegen um so erklä-
rungsbedürftigeres Skandalon war "6 Der überfromme, der hagiogra-
phische Ball mit seinem religiösen Pathos will zu dem Dadaisten und
Kritiker nicht so recht passen
Bei meinem Dreiecksthema habe ich es mit drei schwer zu ergründen-
den, je in sich kaum bestimmbaren Unbekannten zu tun mit der Stel-
lung des Byzantinischen Christentums im Leben Hugo Balls, die nicht
unabhängig von seiner Rückkehr zum katholischen Glauben erfaßt
werden kann (Abschnitt 2), mit dem Byzantinischen Christentum selbst
und seinen Aussagen, seiner literarischen Gestalt und seinem Anspruch,
wobei es nicht immer leicht ist, hinter Balls geistsprühenden Formulie-
rungen das Gemeinte zu finden (Abschnitt 3), schließlich mit der Stel-
lung dieses innerhalb des Weimarer Katholizismus, dessen Vielgestal-
tigkeit einlinige Zuordnungen auch nicht gerade nahelegt (Abschnitt
4).7 Unbedingt werde ich es mir versagen müssen, die Behauptungen,
4
Friednch Wilhelm Kantzenbach: Eine Alternaüve zum Übermenschen", in: Hugo
Ball Almanach 1987. S 87-137 Kantzenbach verdanke ich gleichwohl viele
wichtige Hinweise
5
Vgl. vor allem Emmy Hennings-Ball Hugo Balls Weg zu Gott Ein Buch der
Erinnerung München 1931, 87-107 - Balls Flucht aus der Zeit ist zur Vorge-
schichte und zur Entstehung des Byzant. Christentums mindestens ab dem Eintrag
vom 17 6 1919 zu konsultieren (in der von mir benützten Ausgabe Zünch 1992,
S 237) Dokumente aus dem Umkreis und Ausschnitte von Kritiken dazu bietet
der Ausstellungskatalog Ernst Teubner (Hg ) Hugo Ball (1886-1986) Leben und
Werk Berlin 1986
6
Nachwort zu Die Flucht aus der Zeit. Zürich 1992. S. 314
7
Zu diesem letzten Themenaspekt greife ich vor allem auf meine Studie Die verlo-
rene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Re-
publik Paderborn u a 1994 zurück
Thomas Rüster 185
8
Ball, Bnefe (Anm 2), S 138.
9
Flucht aus der Zeit (Anm 6). S 292; Hervorhebung von Ball
186 Ball und der Weimarer Katholizismus
des produktiven Lebens", die auf der Achtung und Anerkennung des
Nächsten aufruhen und eine Ordnung des „bevorstehenden neuen Rei-
ches" erkennen lassen sollte, „in der die gewaltige Pflege der Produk-
tivität die Grundlage der Moral abgibt" 10 Zur Einlösung dieser noch
sehr humanistisch bewegten, auf jeden Fall aber politisch gemeinten
Pläne ist es dann nicht gekommen, wenn auch Balls Hinweis auf die
„Katastrophe", aus der „wenigstens Charakter kommen soll", seine
spätere Bewunderung der Askese schon andeutet " Als das Byzantini-
sche Christentum dann bereits zwei Jahre vorlag, hielt Ball auch im
Rückblick an der thematischen Einheit dieses Buches mit der Kritik
bzw den Folgen fest: „Mein 'Byzantinisches Christentum' ist ein viel
stärkerer, prinzipieller Angriff gegen den Protestantismus Es wird sich
einmal herausstellen Was in meinen 'Folgen' nicht steht, das steht
dort Die beiden Bücher gehören in diesem Sinne zusammen Sie stüt-
zen und erklären einander "12 Versteht man bei Ball unter dem „Angriff
gegen den Protestantismus" nicht nur ein kontroverstheologisches Pro-
gramm, sondern auch den Angriff gegen die Allianz von Thron und
Altar, die er in der Kritik bzw in den Folgen vorgenommen hatte, dann
wird deutlich, daß er auch sein Byzantinisches Christentum in der
Fluchtlinie einer Auseinandersetzung mit jenen Geistesmächten in
Deutschland ansiedelte, die den Krieg möglich und die Deutschen in
der Welt verhaßt gemacht hatten Er hat es also als politisches Buch
verstanden, nur daß er jetzt nicht mehr bei der Negation stehenbleiben,
sondern vom christlichen Glauben aus die Grundlage einer neuen Ord-
nung entwerfen wollte.
Das Byzantinische Christentum ist nicht nur ein politisch-program-
matisches, sondern zugleich ein sehr persönliches Buch Hugo Balls,
und es spiegelt seinen Weg zurück zum Glauben der römisch-
katholischen Kirche Emmy Hennings-Ball hat auf die verborgenen
Verbindungslinien hingewiesen, die zwischen diesem Buch und Balls
religiös durchtränkter Kindheit sowie seiner jugendlichen Auseinander-
setzung mit Nietzsche bestehen 13 Zur Zeit der Abfassung des Buches
gaben ihm seine dramatisch beschränkten Lebensumstände Anlaß, sich
10
Ball. Bnefe (Anm. 2), S. 125 f. vgl dazu Hennings-Ball (Anm 5). S. 82 f
11
Ball, Briefe (Anm 2). S 126.
12
Brief an Hans Rost vom 21 12 25. in Ball. Bnefe (Anm 2), S 236.
13
Vgl Hennings-Ball (Anm 5), S. 11, 15, 21, 27 f.
Thomas Rüster 187
14
Vgl ebd S 91 Hier läßt sich womöglich bereits ein Motiv erkennen, das in der
Theologie des Weimarer Katholizismus überall zu greifen ist: Glaube als Verin-
nerlichung äußeren Zwangs mit dem Ziel der freiwilligen Übernahme Vgl dazu
Rüster (Anm. 7), S. 368 f., 372
15
Bnefe (Anm. 2), S. 145
16
Vgl Ball, Flucht aus der Zeit (Anm 6), S. 237 ff
17
Ebd. S. 251 f.
18
Ebd S 256 E Przywara hat später - wie ich meine, mit Recht - auf die ästheti-
sche Strukturverwandtschaft zwischen Balls hier berichtetem Glaubenserlebnis
und seinen früheren dadaistischen Manifestationen hingewiesen, vgl Ench Przy-
wara: Integraler Katholizismus, in: ders : Ringen der Gegenwart Gesammelte
Aufsätze 1922 bis 1927, Bd I Augsburg 1929, S. 133-145, 134-137
19
Ball, Flucht aus der Zeit (Anm 6), S 257
188 Ball und der Weimarer Katholizismus
6
Vgl Ball, Briefe (Anm 2), S 201 Am 14 2 1925 schreibt Ball an August Hof-
mann: „Im Grunde bin ich ganz derselbe geblieben Kannst du das sehen? Ich bin
sehr für Selbstausschließung Das wollte ich im Byzanzbuch mit der Asketik und
in den Folgen mit der Verneinung und Ablehnung der Kultur' in aller Bestimmt-
heit und Zuverlässigkeit ausgedrückt haben."' (ebd S 204)
7
Vgl ebd. S 133; Ball, Flucht aus der Zeit (Anm.6), S. 289; Hennings-Ball
(Anm. 5), S. 170.
190 Ball und der Weimarer Katholizismus
6
Ebd S 262 Odo Casel. dem Ball wegen seiner Vorliebe für die Patristik und die
Mystenenkulte nahe steht, sagt von der Kirche, nur noch eben streiften ihre Füße
den Boden, „ihr Haupt ragt über die Sterne" (Odo Casel: Mystenum der Ekklesia.
Von der Gemeinschaft aller Erlösten in Christus Jesus, ausgew und eingel v
Theophora Schneider Mainz 1961. S 100) Die Kirche als Verbindung von Him-
mel und Erde ist dieser Theologie die leibgewordene gottgewollte Ordnung der
Welt
7
Ball. Byzant Chnstentum (Anm 31), S. 247.
Thomas Rüster 193
38
Vgl. ebd. S 49
39
Vgl ebd. S 184 f
40
Ebd S. 152.
41
In der Flucht aus der Zeit heißt es zum 6 7. 21, S. 297: „Das Mystenenwesen
und die Gnosis geben ganz unverkennbar den letzten Schlüssel Auch zur
Kirchlichen Hierarchie'" Ball ist von dem weiten Gnosisbegnff abhängig, den
die Religionsgeschichtliche Schule in den ersten zwei Jahrzehnten des Jahrhun-
derts gebildet hatte Wichtige Werke waren: Adolf Harnack Lehrbuch der Dog-
mengeschichte, 1887, 41909; Richard Reitzenstein: Poimandres. 1904; Wilhelm
Bousset: Hauptprobleme der Gnosis, 1907; Richard Reitzenstein: Die hellenisti-
schen Mysterienreligionen, 1910, Eduard Norden: Agnostos Theos, 1913; Richard
Reitzenstein: Das iranische Erlösungsmysterium, 1921 (von Ball nicht mehr rezi-
piert) Im Einklang mit dieser Forschungsnchtung faßte Ball die Gnosis als
spätantikes Universalphänomen, das alle Bereiche des Geisteslebens (Mysterien,
Philosophie, Chnstentum) durchdrang Dementsprechend konnte er verschiedene
Phänomene wie Mystik. Philosophie. Mysterien, Kulte, Zauber, Ekstase unter die-
sen Begriff bringen. Die neuere Gnosis-Forschung unterscheidet vorsichtig zwi-
schen „Gnosis" als Erkenntniskategorie und „Gnostizismus" als den Syste-
men/Mythen des 2/3 Jahrhunderts und hat überhaupt den weiten Gnosisbegriff
als nicht hilfreich aufgegeben Vgl dazu die Beiträge von Kurt Rudolph in:
Theologische Rundschau 34 (1969); 36 (1971); 37 (1972); 38 (1973); 50 (1985)
sowie ders Gnosis und Gnostizismus (Wege der Forschung 262) Darmstadt 1975
194 Ball und der Weimarer Katholizismus
und Carsten Colpe Gnosis II, in: Reallexikon für Antike und Christentum Bd 11
Stuttgart 1981. S 538-659 Ball sah die Geistesnchtungen, die in den antignosti-
schen Schnften des Irenäus und Tertullian im 2/3 Jahrhundert greifbar werden,
bis in die Zeit des PsDionysius weiterwirken, wird hienn aber von der Literatur
und wohl auch von den Tatsachen nicht bestätigt
42
Vgl Ball. Byzant Christentum (Anm 31), S 162 ff
43
Vgl ebd S 99 ff
Thomas Rüster 195
44
Ebd S 196
45
Vgl ebd. S. 227 f
46
Vgl ebd. S 197 f.
47
Ebd. S. 203
48
Ebd S. 211.
49
Vgl. ebd. S 202-214
196 Ball und der Weimarer Katholizismus
her nicht zu haben ist950 Stolperte er nicht über die gewaltsame Her-
meneutik des PsDionysius, der in der Einleitung zu den „Himmlischen
Hierarchien" die biblischen Geschichten nur zu Sinnbildern, ja zu ver-
hüllenden Gegenbildern des eigentlich gemeinten Sinns erklärte951
„Kennt Ball das Evangelium nicht besser?"
Der Auseinandersetzung mit dem Judentum, vor die jede Umdeutung
der biblischen Botschaft gestellt ist, konnte auch Ball nicht ganz aus-
weichen 52 Anlaß dazu gab ihm der Antijudaismus des Styliten Syme-
on tadelte Kaiser Theodosius heftig, weil er den Juden die Erlaubnis
zur Errichtung ihrer Synagogen erteilte, und er warnte davor, nach
Jerusalem zu pilgern, weil es in Byzanz geistlich an nichts mangle.53
50
Darüber wurde und wird indessen auch anders gedacht, nicht nur von Ball Ich
setze hier die Perspektive der biblischen Kntik an religiös begründeter Henschaft
voraus, die umfassend und großartig der Schweizer religiöse Sozialist Leonhard
Ragaz in Die Bibel eine Deutung, 4 Bde Neuausgabe Fribourg/Brig 1990 (zuerst
1947-50) entwickelt hat Sie trifft sich mit neueren befreiungstheologischen Inter-
pretationen, vgl z.B. Pablo Richard: Unser Kampf nchtet sich gegen die Götzen
Biblische Theologie, in: Hugo Assmann u.a.: Die Götzen der Unterdrückung und
der befreiende Gott Münster 1984, S 11-38.
51
Vgl nach der Ausgabe Dionysios Areopagita, Die Hierarchien der Engel und
der Kirche, übersetzt und hg von Walter Tritsch München 1955 (in die Balls
Dionysius-Kapitel als Einführung aufgenommen ist), die Seiten 102-109
52
Wo er sonst im Byzant Christentum von „urjüdischen Traditionen" spneht.
bezieht er sich fast immer auf die zwischentestamenthehe Literatur (Weisheit.
Apokalytik), vgl Byzant Chnstentum (Anm. 31), S. 152 ff, 156 ff. u.ö. Vgl zu
Balls Verhältnis zum Judentum auch den Beitrag von Wacker im vorliegenden
Band.
53
Vgl ebd. S 266 Ball schreibt (S. 262): „Schon in früher Zeit faßte man den
Styliten als ein Zeichen der göttlichen Allmacht auf" Der Geist Gottes, in dessen
Namen er auftrat, hatte keine Verbindung mehr mit dem konkreten Judesein des
Menschen Jesus Hier zeigt sich eine Theologie, die das filioque nicht anerkennt
und darum den Geist nicht vom Juden Jesus empfangen will. Der protestantische
Theologe F.-W. Marquardt schreibt mit Bezug auf dieses mcht nur „dogmatische"
Problem des filioque: „ [...] in der Frage der Bedeutung der geschichtlich-
konkreten, also der jüdischen Menschlichkeit Jesu muß nach unserem Verständnis
das alte Schisma der östlichen und der westlichen Kirchen von uns aus aufrecht-
erhalten werden [...] ihnen [den östlichen Kirchen] gegenüber müssen wir darauf
behanen. Jesus auch nach seiner Auferstehung Jesus bleiben zu lassen [...] Was
ihn betrifft, kann der Himmel mcht zum Konkunenzort für Nazareth und Ka-
parnaum, zu Jerusalem und Golgatha werden" (Friednch-Wilhelm Marquardt
Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden Bd II München 1991, S 49 f.)
Das ist wie gegen Symeon und seine Deutung durch Ball gesprochen Zwar hat
Thomas Rüster 197
das auch den Westen nicht vor theologischem Antijudaismus bewahrt; die dogma-
tische Vorentscheidung liegt aber an dieser Stelle
54
Vgl Ball. Byzant Christentum (Anm 31). S. 263-65
55
Ebd S 266'
56
Leon Bloy Le Salut par les Juifs Paris 1892
57
Theodor Haecker Zur europäischen Judenfrage, in Hochland 24/2 (1927), S
607-619 Haecker setzt sich mit Hilaire Belloc auseinander, dessen Buch Die Ju-
den er 1927 übersetzt und herausgebracht hatte.
198 Ball und der Weimarer Katholizismus
8
Ball. Byzant Chnstentum (Anm 31), S. 270.
9
Dies merkte knüsch die Besprechung von Fernand Daunoy in „Echos d'Onent"'.
Pans, Tome 24, No.137 (1925), S 117 f an: „Enfin, il n'est pas dune methode
scientifique de negliger les documents de premiere main " (abgedruckt im Ausstel-
lungskatalog Hugo Ball [Anm 5], S 267).
0
Vgl, auch zum folgenden, Stiglmayr (Anm. 1) Stiglmayr hat das Byzant. Chri-
stentum zuerst in der Zeitschrift für Katholische Theologie 47 (1923). S 580-83
rezensiert Seine spätere Besprechung vertieft die Kntik der ersten
1
Eine Reaktion Balls auf die erste Rezension Stiglmayrs (Anm 60) ist in einem
Brief an E Hennings-Ball vom 7 10 23 erhalten, vgl Briefe (Anm 2), S. 158.
Ball hat wohl den eigentlich vernichtenden Charakter der Süglmayrschen Kntik
nicht ganz wahrgenommen Er hielt sie „im Ganzen" für eine „etwas sauersüße
Anerkennung der 'enthusiastischen Hingabe' des Verfassers " Stiglmayrs zweite
Besprechung (Anm 1) erschien erst nach Balls Tod
Thomas Rüster 199
2
Joseph Wittig: Neue religiöse Bücher, in: Hochland 21/2 (1924), S 414-430,
zum Byzant. Christentum S 417-19 Wittig befand sich zur Zeit der Abfassung
dieser Sammelrezension in einer dramaüschen und angespannten Situation, die
mit dem Konflikt um seinen Aufsatz Die Erlösten, der Verweigerung des Impri-
matur für seine neueren Veröffentlichungen und der drohenden Indizierung seiner
Werke zusammenhing Konnte er sich deswegen nur begrenzt auf Ball einlassen'?
Vgl dazu seinen Brief an Carl Muth vom 3. 11. 1923, der auf die Rezension Be-
zug nimmt, in: Joseph Wittig: Kraft in der Schwachheit Briefe an Freunde Hg v.
Gerhard Pachnicke Moers 1993, S 49-51 Wittigs Besprechung ging im Hoch-
land 21/1 (1923), S. 319 eine Kurzanzeige zu Balls Byzant. Christentum voran:
„Das Werk, aufgrund exakter Studien dargestellt, gehört zu den [...] gelehrten Bü-
chern, die in die [...] künstlensche Form eingegangen sind."
3
Vgl zum Thema von Wittig: Aedificabo ecclesiam Eine Studie über die Anfän-
ge der katholischen Kirche, in Hochland 18/2 (1921), S 257-282; Die Erlösten,
in Hochland 19/2 (1922), S. 1-26 sowie seine Beiträge in dem von Ernst Michel
hgg Sammelband Kirche und Wirklichkeit, Jena 1923 Dazu Rüster (Anm. 7), S.
208-224 Wittig war dezidiert antihierarchisch
200 Ball und der Weimarer Katholizismus
Heilige, und dann: „Hier müßte ich nun das Buch von Hugo Ball ein-
ordnen: Byzantinisches Christentum " 64 Ganz will er es nicht in die
Reihe der großen Hagiographien stellen, doch dann läßt er ihm das
größte Lob zuteil werden, das er zu vergeben hat „Das Buch ist ein
grimmiger, lichtsprühender Angriff auf die liberale Geisteshaltung [...]
Er [sie] stellt das Absolute hin, daß alles Endliche daran zersplittert."
Und dann wieder im Konjunktiv „Das alles wäre herrlich" Denn
Guardini stößt sich sehr an dem Buch, seinen „Übersteigerungen", den
Urteilen, Wertungen, Forderungen Der Satz kommt ihm in den Sinn
„Wer mit diesen Dingen Ernst macht, der spricht nicht so." Bleibt Ball
nicht rein literarisch9 Ist er der Literat, „der am Schreibtisch von den
fürchtbaren Wegen der Heiligen spricht und nachher ins Cafe geht"? So
fühlt sich Guardini in der Pflicht, den Autor, der solche außergewöhnli-
chen Forderungen aufstellt, nach seiner Legitimation zu fragen 65 Und
dann zur Sache Keinen Augenblick hält sich Guardini an dem ge-
schichtlichen Aspekt des Byzantinischen Christentums auf Er stellt es
gleich in die Gegenwart, in „unsere Zeit", die „Endzeit" ist, und in der
die „große Wesensspannung zwischen Christentum und Natur-Kultur
[...] hervortreten" muß, wo die „liberale Einssetzung von Religion und
Kultur-Natur [...] fallen" muß Dahinein gehört Balls Buch über die
byzantinischen Heiligen, dem liberale Einssetzung nun wirklich nicht
vorzuwerfen ist, aber Guardini wird einfach sein Mißtrauen nicht los.
Uberhitzung, Übersteigerung der religiösen Idee und Forderung helfe
der Ratlosigkeit nicht auf ja hier sei die Entfesselung irregeleiteter
religiöser Kräfte zu befürchten „Traut doch dem Superlativ nicht1
Wirkliche Lebendigkeit hat Maß " Dabei bleibt es für Guardini, es ist
halb fragend, halb vorwurfsvoll gesagt Auf Inhalte geht er nicht ein
Bezeichnend aber ist, daß er das Buch sofort auf die damals alle Ka-
tholiken bewegende Frage nach dem Verhältnis von Christentum und
Kultur bezieht 66
4
Romano Guardim: Heilige Gestalt Von Büchern und mehr als Büchern, in
Schildgenossen 4 (1923/24), S 256-268; zum Byzant. Christentum S. 260-262
5
Das Ungewöhnliche und Ungebührliche dieser Frage ist ihm bewußt
6
Im letzten Teil seiner Besprechung macht Guardini am Byzant Christentum
noch die Gefahr einer neu aufkommenden Literatur fest, in der Laien über religiö-
se Dinge sprechen Sie stehen in der Gefahr, „aus Verantwortung für die Idee ver-
antwortungslos zu werden gegen das Leben" „Laien-Gefahr ist Radikalismus der
Idee", während die Amtsverantwortung der Priester diese in die Gefahr bnngt. zu
Thomas Rüster 201
Das tut auch Przywara, wenn auch in anderen Begriffen 1923 hatte
er seine Vorträge Gottgeheimnis der Welt herausgebracht, in denen er
die für ihn in den nächsten Jahren richtungsweisende Formel „Gott in
uns und Gott über uns" gefunden hatte 67 Diese Formel sollte ebenso
der Auflösung Gottes in die Welt wie seiner Verbannung aus der Welt
wehren, sie sollte Immanenz und Transzendenz in dialektischer Span-
nung halten Eine Lösung des Problems des Verhältnisses von Chri-
stentum und Kultur war darin impliziert Als sich Przywara dem By-
zantinischen Christentum zuwandte, gab ihm die Formel die Kategori-
en der Beurteilung vor 68 Er ordnet es, zusammen mit der Theologie
der „Barth-Gogarten-Thurneysen-Gruppe"69 einer Theologie des blo-
ßen „Gott über uns" zu Das Buch diene „ganz einer Religiosität des
Erspürens und Einströmens in Gott im Welt- und Lebensabsterben",
„Also im Grunde Lobpreis der Lebensertötung, Hymnus des Ueber-
menschlichen nur darum, weil Alltagsleben und gewöhnliches Men-
schentum bewußt oder unbewußt als gottfern und gottleer angesehen
werden" 70 Darin konnte Przywara keine befriedigende Lösung des
Transzendenz-Immanenz- bzw des Christentum-Kultur-Problems er-
sehr zu bewahren und zu verhüten - Guardinis Freund Joseph Weiger hat in einer
Besprechung zu den Folgen der Reformation (Schildgenossen 5 [1924/25], S 302)
Guardinis Kritik an Ball bestätigt gefunden In den Folgen habe nur noch „der
Fanatismus des Parteigängers" das Wort, die von Guardini gesehene Gefahr sei
eingetreten Em solches Pamphlet wie die Folgen ließe sich ebensogut auch gegen
die Kirche schreiben, die gute Absicht allein zähle mcht. „Maßlosigkeit trifft sel-
ten das Rechte."
67
Ench Przywara Gottgeheimnis der Welt Drei Vorträge über die geistige Krisis
der Gegenwart München 1923; die Entwicklung der genannten Formel ebd S
139-171
68
Vgl Przywara: Ringen um Gott, in: Ringen der Gegenwart Bd I (Anm 18) S
240-250. zum Byzant. Christentum S 246-248 Der Aufsatz erschien zuerst in den
Stimmen der Zeit, August 1924.
69
Ebd. S. 242
70
Ebd. S 247; 248 Sehr positiv würdigt Przywara am Byzant. Christentum die
Rehabilitation der strengen Mönchsaskese und daß unter Balls „Meisterhänden
der vielumstrittene Pseudoareopagit ein ganz anderes Gesicht bekomme, das Ge-
sicht eines zweiten Irenäus und Klemens Alexandrinus. der die zähesten Formen
des Gnostizismus in positiver Arbeit überwand" Ball freute sich über die Bespre-
chung Przywaras. fand aber, daß dieser ihn „nicht genau gelesen habe" Hennings-
Ball (Anm 5), S. 132; vgl auch den Brief an Muth vom 6 2 15. Ball, Bnefe
(Anm. 2), S. 198
202 Ball und der Weimarer Katholizismus
71
Vgl Przywara Integraler Katholizismus, in Ringen der Gegenwart Bd I (Anm
18), S 133-145, zuerst in den Stimmen der Zeit, Mai 1927.
72
Ebd S 140
73
Ebd S. 142, Hervorhebung im Original.
74
Ebd S 144
75
Ebd S 137.
76
Statt ausführlicher Belege verweise ich auf Rüster (Anm 7), S 181 ff, 357 ff
Thomas Rüster 203
7
Vgl dazu Przywara Zwischen Religion und Kultur, in: Ringen der Gegenwart
Bd II. 502-522, zuerst in den Stimmen der Zeit, Febr. 1925; Guardini Gedanken
über das Verhältnis von Chnstentum und Kultur, in: Heinnch Kahlefeld (Hg):
Unterscheidung des Christlichen Mainz 1935, 177-221. zuerst in Schildgenossen
6 (1926); sowie Rüster (Anm 7), S. 158-163, 343-346
8
Wenn man neuscholastisch in den Kategorien „übernatürlich-natürlich" denkt
und dann über das Verhältnis von Christentum und Kultur nachsinnt, kommt
man, wie oben Guardini in seiner Besprechung zum Byzant. Christentum, zu dem
Synonym „Kultur-Natur" oder „Natur-Kultur".
9
Vgl Ball, Byzant Christentum (Anm 31), S. 230 - der letzte Satz zu dem Areo-
pagiten Ball erkannte, daß ihn das Kultur-Problem von Przywara und Guardini
schied Zu Przywara „Erich Przywara [...] schneb [...}, meine Asketik [...] und
meine Ablehnung der Kultur' seien übertrieben und man müsse sich davor hü-
ten." (Brief an Muth vom 6 2 1925, Briefe [Anm 2], S 199); zu Guardini: „Wir
sind entgegengesetzter Meinung über die sogenannte 'Kultur' Hen Prof G rech-
net mit dieser Kultur [...], ich dagegen stehe ablehnend dazu [. ]" (Bnef an Lud-
wig Feuchtwanger vom 9 2 1925, Bnefe [Anm. 2], S 201).
0
Ball. Byzant Chnstentum (Anm. 31), S 66 - zu Joannes Climacus auf der vor-
letzten Stufe der Himmelsleiter
204 Ball und der Weimarer Katholizismus
1
Vgl Balls Aufsatz Carl Schmitts Politische Theologie, in: Hochland 21/2 (1924),
S 263-286; dazu Bernd Wacker Die Zweideutigkeit der katholischen Verschär-
fung, in: ders (Hg), „Die eigentlich katholische Verschärfung..." Konfession.
Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts München 1994, S 123-140. bes
132 ff (eine genaue Analyse der Beziehung Ball-Schmitt, deren Ergebmsse ich
hier voraussetze); Rüster (Anm 7), S. 377-386.
2
Vgl Carl Schmitt: Politische Theologie Vier Kapitel zur Lehre von der Souve-
ränität München-Leipzig 1922, S 42 f.
3
Vgl Carl Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form Stuttgart
1985
4
Carl Schmitts politische Theologie (Anm 81). S 278. Die Säkularisierung des
katholischen Autontätspnnzips. das heißt seine Ablösung von seinem religiösen
Begründungszusammenhang, läßt sich in der katholischen Theologie der Weima-
rer Zeit häufig beobachten Sie bereitete in der Regel die Zustimmung katholischer
Theologen zum Nationalsozialismus von; vgl dazu Rüster (Anm 7), S 99-107,
358 f.
Thomas Rüster 205
5
Vgl. Carl Schmitts politische Theologie (Anm. 81), S 279 ff
6
Vgl Ball, Byzant Chnstentum (Anm 31), S. 267 Anm. 18.
7
Bnef an Hans Rost vom 21 12. 1925: Ball, Briefe (Anm. 2), S. 237 S dazu
Hennings-Ball (Anm 5). S 146-148, 158
8
Der Bnef (s Anm 87) fährt fort: „Der Erzengel Michael ist der Schutzpatron
Deutschlands, er wird uns helfen Auch er ist nicht zart gewesen mit seinem Wi-
dersacher Er hat Blitze und Lanzen gegen den Feind Er sucht nicht zu übene-
den. wo keine Übenedung mehr verfängt Er trifft den Drachen ins Herz, weil er
Drache ist"
9
Zu dieser Haltung s auch Balls Aufsatz Die religöse Konversion, in: Hochland
22/2 (1925), S 315-330, 463-476. in dem er die katholische Ausschheßlichkeit
vehement exerziert
0
Vgl Hermann Hesses Vorwort zu Emmy Ball-Hennings: Hugo Ball Sein Leben
in Briefen und Gedichten Berlin 1930; wiederabgedruckt in Ball, Briefe (Anm
2), S. 7-13
206 Ball und der Weimarer Katholizismus
Ausweg aus der Flucht offen, den er benutzt hat So kam es zu seinem
letzten und schönsten Werk.91
1
Hugo Ball: Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk. Berlin 1927; neu hg
Frankfurt 1977
Dokumentation:
Bernd Wacker
1
Hugo Ball: Carl Schmitts Politische Theologie, in: Hochland XXI/2 (1924), S
263-286 Wiederabgedruckt in: Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit
Ausgewählte Schriften Hg von Hans Burkhard Schlichting Frankfürt 1988. S
303-335.
2
Seine große Bewunderung für Schmitt, seine mangelnde Quellenkenntnis sowie
die Suche nach einem dem eigenen religiösen Bildungsgang vergleichbaren Intel-
lektuellenschicksal verleiteten Ball zu einer Rekonstruktion des Schmittschen
Frühwerks, die darauf abhob, auch der Bonner Universitätslehrer sei. bevor er in
seinem persönlichen Glauben wie in seinem wissenschaftlichen Werk zur Kirche
zurückgefunden habe, auf seine Art den Weg der Bekehrung gegangen; wirklich
katholisch zu nennen sei sein Werk also nicht von Anfang an, sondern erst mit
seiner Politischen Theologie von 1922 Vgl dazu Bernd Wacker: Die Zweideu-
tigkeit der katholischen Verschärfung - Carl Schmitt und Hugo Ball, in: ders
(Hg ): Die eigentlich katholische Verschärfung Konfession. Theologie und Po-
litik im Werk Carl Schmitts München 1994, S. 123-145
An dort noch nicht berücksichtigter Literatur, die auf das Verhältnis Ball/Schmitt
eingeht, ist zu nennen: Günther Rösch Der Versuch, das Mißtrauen gegen die
Sprache zu überwinden Hugo Balls und Carl Schmitts Vermittlung von Theolo-
gie durch Kunst und Politik Diss masch GH Kassel 1994. bes. S 119-136;
Günter Meuter: Der Katechon Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kntik der
Zeit Berlin 1994, bes S 80f, 356ff. u ö.; Thomas Rüster: Die verlorene Nütz-
lichkeit der Religion Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik Pa-
208 Bernd Wacker
derborn u a 1994. bes S 377-386 Vgl auch die Beiträge von Flasch, Hillach
und Rüster im vorliegenden Band.
3
Joachim Schickel: Gespräch über Hugo Ball, in: ders Gespräche mit Carl
Schmitt Berlin 1993, S 31-59 u. 92-163, hier S 33; der Text beruht auf einem
gut einstündigen Gespräch, das Schickel im 10 Februar 1970 in Plettenberg
führte; es wurde am 3 März d J. im Dntten Programm des Norddeutschen
Rundfunks Hamburg und des Senders Freies Berlin ausgestrahlt
4
Vgl dazu den Beitrag von Schutt im vorliegenden Band; meine Zweifel bezüglich
der von Schmitt auf 1919 bzw 1919/20 datierten ersten Münchener Begegnung,
wie ich sie in Wacker (Anm 2). S 126f formuliert habe, sind damit gegenstands-
los geworden
5
Verf hofft, dazu in absehbarer Zeit einen eigenen Beitrag vorlegen zu könnnen
Briefwechsel Schmitt / Ball 209
am 9 September zu Ende ging, auch die letzte sein Ball und Schmitt
haben sich entgegen anfänglichen Hoffnungen niemals wiedergesehen.
Bis zum plötzlichen Abbruch ihrer Beziehungen im Februar 1925 blieb
ihr Kontakt auf „kameradschaftliche" Korrespondenz beschränkt.
Ball hat die Geschichte dieser seltsamen Freundschaft in seinem gros-
sen - niemals abgeschickten - Brief((entwurf) vom 11 Februar 1925
zusammengefaßt6 Anlaß des Bruches mit Carl Schmitt war demnach
eine zunächst wahrscheinlich in der Kölnischen Volkszeitung erschie-
nene, dann in der Sonntagsbeilage der Augsburger Postzeitung vom
30. Januar 1925 nachgedruckte, fast vier Spalten füllende Rezension
der Folgen der Reformation, die Ball als „nicht nur für mein Buch,
sondern für mich selbst vernichtend" empfand Verfasser dieser Be-
sprechung war der Schmitt-Schüler Waldemar Gurian (1902-1954)8,
der - wie die vorliegenden Briefe nahelegen - mit dieser Arbeit von
Schmitt beauftragt war Zwar hatte der aus seiner Ablehnung des Bu-
ches nie einen Hehl gemacht, doch war insbesondere nach seinen Äus-
serungen und Kommentaren vom November/Dezember 1924 mit einem
Verriß solcher Art nicht zu rechnen gewesen. „Ein junger Russe, Dr
Gurian, schreibt ausführlich darüber", hatte Schmitt noch am 7 De-
zember mitgeteilt und ausdrücklich hinzugefügt, „ich schicke Ihnen den
Aufsatz zu."9
Bei diesem Versprechen ist es geblieben. Ball erhielt wohl Anfang
Februar von der Rezension Kenntnis, hatte, als er seiner Enttäuschung
in einem Brief an Carl Muth, den Herausgeber des Hochland, am 6. d.
M. Luft machte, den Text aber wohl noch nicht vor Augen10 Was da
genau geschrieben stand, bekam er erst einige Tage später zu Gesicht,
'Vgl Bnef(16)
Ebd; ein Exemplar der Kölnischen Volkszeitung, das die von Schmitt verspro-
chene Rezension enthält, ist bis dato unbekannt (vgl Brief 15); Koenen (Anm 8)
S 46f allerdings macht auf die engen Beziehungen Schmitts zu diesem wichtigen
katholischen Presseorgan aufmerksam: Die ,JCV war die Tageszeitung, in der
Schmitt die meisten seiner Beiträge veröffentlichte; Waldemar Gurian gehörte
zeitweise zu ihrer Redaktion
8
Vgl. Heinz Hurten: Waldemar Gurian Ein Zeuge der Krise unserer Welt in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Mainz 1972 sowie die weiterfuhrenden Hin-
weise bei Andreas Koenen: Der Fall Carl Schmitt Sein Aufstieg zum „Kronju-
risten des Dritten Reiches" Darmstadt 1995, passim.
9
Bnef (12)
10
Vgl Briefe S 199.
210 Bernd Wacker
" E b d S 201
12
Bnef (15)
13
Bnefe, S 208
14
Carl Schmitt an Annemarie Schutt-Hennings, 28 Apnl 1961 Für die Überlas-
sung einer Kopie des Originals, das sich im Züncher Ball-Nachlaß befindet, dan-
ke ich Hans Burkhard Schlichting (Baden-Baden)
Briefwechsel Schmitt Ball 211
1
Vgl Briefe (17) u (18) Zu den im Hintergrund stehenden Vorgängen vgl. Koe-
nen (Anm 8). S 624-627; der von Schmitt erwähnte Bnef Gunans durfte dem-
nach nicht von 1932. sondern vom 7 Juni 1929 stammen (vgl ebd S 626 Anm
125)
16
Vgl Schickel (Anm 3).
r
Vgl Wacker (Anm 2), bes S 130f u. 143
18
Vgl Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951 Hg v.
Eberhard Freihen von Medem Berlin 1991. S 165 (Eintrag v 16 Juni 1948)
212 Bernd Wacker
Doch wie auch immer: Das plötzliche Ende ihres kaum begonnenen
Gesprächs ist weder an Ball noch an Schmitt spurlos vorübergegangen
In beiden erweckte bzw verstärkte es, wie Schmitt im November 1927
gegenüber Muth formulierte, die „Überzeugung von der Nutzlosigkeit
des Sprechens" 19 Ganz ähnlich Ball: „Vor einigen Jahren kam einmal
ein Professor aus Bonn, an den habe ich die schlechtesten Erinnerun-
gen", so hatte er schon ein halbes Jahr zuvor an seine Schwester ge-
schrieben und dann fortgesetzt „[.. ] Ich habe die Erfahrung gemacht,
daß es eine schwierige und delikate Sache ist, sich von Person zu Per-
son zu verständigen Deshalb schreibt man ja Bücher." 20
19
Bnef (18)
20
Briefe, S 294
Briefwechsel Schmitt / Ball 213
vom 11 Februar 1925 (Nr. 16) in Kopie zur Verfügung gestellt; während die-
ser letzte Bnef schon in der 1957-Ausgabe, S 202f erschienen war, kommt
das Schreiben Nr 7 mit Erlaubms von Frau Hauswirth hier erstmals zum
Druck
Herr Teubner war so entgegenkommend, mir bezüglich der in der Bnefaus-
gabe von Annemane Schutt-Hennings gestnchenen Passagen schnfthch Aus-
kunft zu geben Diese Auskünfte liegen den Ergänzungen zugrunde, die ich,
wo für das Verstandms des Zusammenhangs sinnvoll, in die entsprechenden
Bnefe eingefügt und durch eckige Klammem und Kursivschrift kenntlich
gemacht habe Auch ansonsten gilt, daß alle kursiv gedruckten und/oder eckig
eingeklammerten Passagen im laufenden Text auf den Bearbeiter dieser Do-
kumentation zurückgehen Auch evtl Lese- und Übertragungsfehler gehen
alleine zu seinen Lasten Einige Erläuterungen finden sich in den Fußnoten;
sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Verweise auf Balls Werke erfolgen mit den Siglen: Kritik (Zur Kntik der
deutschen Intelligenz Bern 1919), Byzant. Christentum (Byzantinisches
Chnstentum Drei Heiligenleben München/Leipzig 1923), Folgen (Die Fol-
gen der Reformation München/Leipzig 1924), Briefe (Bnefe 1911-1927 Hg.
von Annemarie Schutt-Hennings Einsiedeln u. a 1957) Künstler (Der Künst-
ler und die Zeitkrankheit Ausgewählte Schnften Hg. von Hans Burkhard
Schlichting Frankfürt/M 1988).
*****
darf ich Sie, bevor ich in die Ferien reise, bitten, mir zu schreiben, ob
ich Sie im Lauf der kommenden Monate aufsuchen darf oder ob es sich
einrichten läßt, daß wir uns treffen9 Meine Adresse ist für die nächsten
2 Wochen: Oberstdorf (Allgäu), Haus Tanneck
Ihr aufrichtig ergebener
Carl Schmitt
214 Bernd Wacker
Der Verbleib des Antwortschreibens von Ball, auf das sich Schmitt in
seinem Brief von Mitte August 1924 bezieht, ist unbekannt.
Ihr Brief wurde mir von Oberstdorf nach München nachgeschickt Ich
möchte Montag 18 Aug hier abreisen und nach Lugano kommen
Wollen Sie mir einen Dienst erweisen und für mich und eine etwas lei-
dende Dame, die mit mir reist21, zwei Einzelzimmer besorgen9 Ich weiß
im Augenblick nicht, wann ich eintreffe, ob ich noch Montag abend
oder erst Dienstag ankomme, vielleicht darf ich Ihnen telegrafieren Ich
kenne das Land nicht, habe auch keine Vorstellung davon, wieweit
Agnuzzo von L entfernt ist Es kommt mir auch nicht darauf an, gera-
de in Lugano zu wohnen Möchten Sie vielleicht Nachricht in Lugano,
an meine Adresse postlagernd hinterlassen, wenn Sie noch nach Mün-
chen schreiben, bitte an die Adresse Pension Bristol, Schwanthalerstr
51 Ich möchte nur für den Fall, daß ich abends in L eintreffe, nicht
ohne Unterkunft sein
Herzlichen Dank und herzliche Grüße
Ihr
Carl Schmitt
21
Es handelt sich, wie aus Bnef (6) hervorgeht, um Schmitts spätere Ehefrau
Duschka Todorovic" (1903-1950)
Briefwechsel Schmitt /Ball 215
hoffentlich sind Sie nicht krank geworden Um für alle Fälle etwas vor-
zuschlagen sollen wir nicht, wenn es Ihnen möglich ist, uns morgen,
Sonntag, vormittag treffen und alle 522 bei Biaggi zu Mittag essen9 Ich
bin jedenfalls um 12 Uhr da Ferner könnten wir nicht, ebenfalls zu 5,
vorher eine Stunde Kahn fahren9 Dann erwarte ich Sie um 9 Uhr in
Cassarate, wo einige Kähne sind, und komme um 10 Uhr mit dem Boot
wieder dorthin in die Nähe der Landungsstelle.
Vielleicht geht es so Ich würde mich sehr darüber freuen Von Her-
zen Ihr ergebener
Carl Schmitt
Die Karte mit der Antwort Balls, die Schmitt im folgenden Brief vom
28. 9. 1924 erwähnt, ist unbekannt.
22
Neben Schmitt und seiner Begleiterin sind das Ehepaar Ball-Hennings und Balls
Stieftochter Annemane gemeint
23
Die Familie Ball lebte vom Oktober 1924 bis März 1925 in Rom.
216 Bernd Wacker
Und am nächsten Tag kam auch die Drucksache nebst der Karte des
würdigen Pater Beda, die mich ein wenig schmunzeln machte Der Ge-
gensatz zwischen den Jungfrauen, an die sein Buch sich wendet und
dem „gelehrten Herrn Ball" lässt sich nicht aufrechterhalten, versichern
Sie das bitte dem lieben Pater Ich würde mich gar sehr freuen, sein
Buch zu erhalten und mit dem direktesten Interesse es lesen29 Er kann
gar kein hungrigeres Publikum finden als gegenwärtig mich, gerade für
dieses sein Thema
Für die Adresse des Herrn Prof Neuss und Ihre Empfehlung danke
ich Ihnen sehr Ich freue mich seine Bekanntschaft zu machen und hätte
ihn gerne um einen Rat für Annemarie30 gefragt Sie ist hier bei uns und
wir möchten gerne, dass sie in eine strenge und schöne Schule kirchli-
cher Kunst Aufnahme fände
Ich selbst, lieber Herr Professor, möchte mich zunächst an meine Pi-
azza Pollarola halten Monte Cassino wäre ja sehr schön Es scheint
mir aber ein wenig hoch gelegen, erst muss man doch etwas leisten Ich
werde erst in Rom ein wenig Boden fassen Und es ist dasselbe mit
Maria Laach Nach Bonn würde ich ja gerne einmal kommen, vielleicht
ergibt es sich im Laufe dieses Winters irgendwie
Und nun zu dem schwierigen Punkt Ihres Briefes Gerne nehme ich
Ihre gütige Vermittlung an, und danke Ihnen innig, auch im Namen
meiner Frau Es wird mir, unter den Umständen, die Sie nennen, eine
wirkliche und aufrichtige Freude sein, mich verpflichtet zu fühlen
Die Bücher, die bei Frl Todoroviö blieben9 Ich erinnere mich nur an
BorgeseM Aber wollen Sie ihn nicht als eine kleine Erinnerung an Ag-
29
P Beda Ludwig OSB (1871-1941); Ball hat, wie die Briefe (vgl bes S 208f.
215. 223f, 228ff. 246-250) ausweisen, später selbst in engem Kontakt mit dem
zur Abtei St Bonifaz in München gehörenden Benediktiner gestanden, an dessen
Arbeit ihn nicht zuletzt die Beschäftigung mit der italienischen Mystikerin
Gemma Galgani (1878-1903) interessierte; bei dem angesprochenen Buch han-
delt es sich wohl um Ludwigs seit 1912 in mehreren Auflagen erschienene Tu-
gendschule Gemma Galganis, Dienerin Gottes und stigmatisierten Jungfrau vo
Lucca, das Ball vom Verfasser zu Weihnachten 1925 als Geschenk erhielt; vgl
Emmy Ball-Hennings Ruf und Echo Mein Leben mit Hugo Ball (1953) Frank-
furt 1990, S 249f
10
Vgl Franz L Pelgen: Annemarie Schutt-Hennings Stationen ihres Lebens und
Wirkens, in: Hugo Ball Almanach 1987. S 137-177, bes. 151f.
1
Giuseppe Antonio Borgese (1882-1952), italienischer Historiker und Literatur-
wissenschaftler, mit dem Ball befreundet war Bei dem Buch handelt es sich
Briefwechsel Schmitt / Ball 219
besten Dank für Ihren freundlichen Brief Ich freue mich sehr, daß Sie
eine Wohnung gefunden haben und hoffe, daß es Ihnen, Ihrer Frau und
Annemarie gut geht Von Prof Neuss bekam ich dieser Tage eine
Karte, auf der er mitteilt, daß Sie sich verfehlt haben Die Karte war
übrigens auch von Ehrhard32 unterzeichnet, den kennen zu lernen der
Mühe wert ist
Den beiliegenden Brief von Blei33 übersende ich Ihnen auf dessen
Wunsch Von der 2 Auflage Ihres ersten Buches dürfte er durch Sche-
vielleicht um das auch in Die Flucht aus der Zeit unter dem 15 April 1918 er-
wähnte Italia e Germania. II germanesimo, Timperatore, la guerra e Italia.
Mailand 1915 oder um den Roman Rübe Mailand 1925. (Für entsprechende
Hinweise danke ich Bernhard Echte und Ernst Teubner )
12
Albert Ehrhard (1862-1940) lehrte von 1920-1927 Kirchengeschichte in Bonn
Zu seinem Leben und Werk vgl neuestens: Otto Weiß: Der Modernismus in
Deutschland Ein Beitrag zur Theologiegeschichte Regensburg 1995, S 171-
180
" Franz Blei (1871-1942), der Schriftsteller, Kntiker, Übersetzer und ehemalige
Herausgeber der Zeitschnft Summa, war 1887 aus der Katholischen Kirche aus-,
ihr 1919 aber wieder beigetreten Sein hier gemeinter Brief an Carl Schmitt, da-
tiert „Berlin 8 10 1924*, findet sich in: Franz Blei: Bnefe an Carl Schmitt
1917-1933 In Zusammenarb m Wilhelm Kühlmann hg v Angela Reinthal
Heidelberg 1995, S 62f. „Lieber Doktor Schmitt", so heißt es dort, „mit dem
Aufsatz von Ball [Carl Schmitts Politische Theologie] haben Sie mir jede Freude
220 Bernd Wacker
ler erfahren haben, ich habe nie mit ihm darüber gesprochen oder ge-
schrieben Scheler, Inhaber einer Professur „katholischer Weltan-
schauung" hat jetzt auf dem Soziologentag in Heidelberg die Kirche für
eine „Massenheilsanstalt" erklärt, von der nichts mehr zu erwarten sei,
während das wahre Heil von den gnostischen Lehren Asiens komme34
Wohin schielt denn das?
Meine Vermutung35 hat sich bestätigt der große Beethoven-Brief an
Bettina von Arnim ist eine phantastische Fälschung der Bettina, die
gemacht dass ihre Arbeiten endlich ins Licht gestellt werden und dass es von so
intelligenter Hand geschieht wie der Balls Scheler hatte mir, ein bisschen eifer-
süchtig wie immer Professoren, schon davon erzählt, bevor Sie mir die schöne
Arbeit schickten [...] Auf die neue Ausgabe von Balls Buch, das er während des
Kneges veröffentlichte [also auf Die Folgen der Reformation, B W ] bin ich sehr
gespannt Die erste Ausgabe war ein bisschen durcheinander." Blei berichtet
Schmitt dann u a. von einem neuen publizistischen Projekt, einer Wochenzei-
tung, die den Titel Auf, auf, ihr Christen tragen könnte und für die er Hugo Ball
als Mitarbeiter gewinnen möchte Da er aber Balls Adresse nicht kenne, bittet er
Schmitt, den Brief weiterzuleiten.
14
Vgl Max Scheler Wissenschaft und soziale Struktur (1925). in: Volker Meja -
Nico Stehr (Hg.): Der Streit um die Wissenssoziologie I. Bd : Die Entwicklung
der deutschen Wissenssoziologie Frankfürt 1982, S 69-127. bes 76fu. 121f
,5
Der folgende Abschnitt greift auf die im August/September d J geführten Ge-
spräche über Schmitts neues Vorwort zur geplanten 2 Auflage seiner Politischen
Romantik zurück Bettina von Arnim hatte die gemeinten drei Beethovenbncfc
aus den Jahren 1810 bis 1812 erstmals 1839 in der Nürnberger Zeitschnft Athe-
näum veröffentlich. 1848 mit etlichen, auch die Datierung betreffenden Abwei-
chungen aber auch in Illius Pamphilius und die Ambrosia publik gemacht Die-
ser, ihr letzter Briefroman war 1920 als V Band der Ausgabe Bettina von Arnims
Sämtliche Werke. Hg mit Benutzung ungedruckten Materials von Waldemar
Oehlke neu erschienen (die Bnefe ebd.. S 436-442) 1922 folgte Band VII dieser
Ausgabe, der u a die authentische Briefe Bettinas an den Fürsten Pückler-Mus-
kau enthielt Im ersten dieser Bnefe. der vom März 1832 stammt, berichtet Betti-
na von ihren Begegnungen mit Beethoven in Wien und Teplitz und gibt dabei als
mündliche Erzählung aus. was sie 1839 und 1848 als den „großen" Beethoven-
Bnef vom August 1812 präsentierte Vielleicht stammt Schmitts Vermutung aus
der vergleichenden Lektüre des bei Oehlke gebotenen Matenals; wieso er sie je-
doch gerade jetzt, im Okt 1924. bestätigt sieht, ist unklar Heute gelten - legt
man die Datierung der.4r/7e«ä«/w.v-Fassung zugrunde - der Bnef vom 10 2. 1812
als authentisch, die beiden anderen, auf den 10 8 1810 und auf August 1812 da-
tierten aber als wahrscheinlich unecht, d h als bestenfalls aus onginalen. heute
verschollenen Bnefen kompiliert Schmitts Wertung dieser Texte als „schönes
Beispiel(s) romantischen Occasionalismus'* ist von solchen Festellungen freilich
Briefwechsel Schmitt / Ball 221
Ball berichtet, daß Prof. Neuss morgen abreise. In ihm habe er in den
zwei Wochen seines Aufenthalts einen „lieben Berater" gehabt, mit
dem er auch einige Exkursionen im unter- und überirdischen Rom
sowie nach Ostia unternommen habe. Am liebsten aber erinnere er
sich an die von Neuss zelebrierte stille Gedächtnismesse für Clemens
Bäumker36 in der Basilika S. demente, die ihm einen kleinen „Extra-
segen " eingebracht habe.
Im Camposanto sei er, Ball, inzwischen schon sehr bekannt. U. a.
habe er sich dort mit den Herren Krebs und Göller3 aus Freiburg
unabhängig Vgl dazu Bettine von Anum: Goethes Bnefwechsel mit einem Kin-
de Hg v Walter Schmitz u. Sybille von Steinsdorff (Bibliothek deutscher Klas-
siker 76) Frankfurt 1992, S. 848-855.
Clemens Bäumker (1853-1924), katholischer Philosophiehistoriker und Erfor-
scher der mittelalterlichen Scholastik, dessen Arbeit über Die christliche Philo-
sophie des Mittelalters (in: Wilhelm Wundt u a : Allgemeine Geschichte der
Philosophie. Leipzig/Berlin 21913, S 338-441) Ball im Sommer 1919 gelesen
hatte
Engelbert Krebs (1881-1950), seit 1919 Prof für Dogmatik in Freiburg; Emil
Göller, Kirchen- und Rechtshistoriker, seit 1909 Prof. in Freiburg
222 Bernd Wacker
Lieber Herr Ball1 Seit Wochen bin ich ganz von Berufsarbeit verschüt-
tet und kann keinen Brief schreiben, wenn ich es möchte Prof Neuss
erzählte mir zu meiner großen Freude ausführlich von Ihnen Wie geht
es Ihnen jetzt in Rom9 Bitte geben Sie mir eine kurze Nachricht Ihre
Folgen der Reformation sah ich gestern zum erstenmal beim Buchhänd-
ler, ich hoffe, daß D&H mir ein Exemplar schicken Jedenfalls gebe ich
es 2 intelligenten Katholiken meines politischen Seminars (es sind nahe
Freunde von Guardini40) und berichte Ihnen Ihr Sonett im Hochland41
ist wunderschön. Es steht gerade vor meinem Aufsatz42, den ich Ihnen
nicht schicke, weil ich vermute, daß Sie das Heft schon erhalten haben,
außerdem ist es ja ein Vorwort und Sie bekommen in einigen Monaten
das neue Buch43 Leider hat Muth die Bezeichnung Vorwort gestri-
chen, aber bei der Konfusion aller Kategorien, die eine Folge der Ro-
mantik ist, merkt heute niemand den Unterschied von Vorwort und
Aufsatz Die neuen Gedichte Ihrer Frau habe ich mir bestellt Herzliche
Grüße Ihnen, Ihrer Frau und Marianne44 von Ihrem Carl Schmitt
16 11 24
[Es sei, so beginnt der Brief kalt geworden in Rom, alle Welt wolle
Olafen kaufen. ]
ich war eben im Begriff, Ihnen zu schreiben, als Ihre Karte kam Prof
Neuß ist also wohlbehalten in Bonn eingetroffen Ich sehe noch oft sein
schönes Lächeln vor mir-
Ihr Vorwort im „Hochland" las ich in diesen Tagen und erinnerte
mich lebhaft an den Abend in Sorengo, ich wusste noch Wort für Wort
Einige Milderungen und Präzisierungen, die Sie vorgenommen haben,
fördern noch die Energie des Ganzen
Mein Sonett wurde leider mit einem setzerischen Lapsus reproduziert
(ich hatte keine Korrektur bekommen). In der vorletzten Zeile bitte ich
"vor", statt "in" der Sonne Schild zu lesen Auch die Anordnung der
zwei Dreizeiler hat man verpatzt Es ist mir interessant genug Das
Manuskript war korrekt und perfekt, aber daran scheint man schon gar
nicht mehr gewöhnt zu sein
45
Vgl Bnef (9)
46
Ernesto Buonaiuti (1881-1946), Prof für Kirchengeschichte an der Universität
Rom (Sapientia); wichtiger Vertreter des italienischen Modernismus, nach zwei-
maliger Verurteilung bzw Exkommunikation (1921 u 1924) 1926 von Rom als
"vitandus" erklärt
47
Vgl Anm 40
Briefwechsel Schmitt > Ball 225
129/13051 habe ich doch in deutscher Sprache selten gelesen Daß eine
so wichtige Mitteilung, die wichtigste vielleicht, wie Ihre Äußerung
über Bakunin sich in der Anmerkung der letzten Seite verbirgt52, hat
mich etwas irritiert Es ist möglich, daß das Buch zu vielen öffentlichen
Auseinandersetzungen führt, dann hätte es ja seinen Zweck erreicht
und eine Rechtfertigung gefunden. Eventus judicabit
Die Besprechung von Holl in der D Lit Ztg53 ist eine üble Schulfüch-
serei, wie ein intelligenter Protestant mir sagte, hat Holl diese Gelegen-
heit, etwas zu lernen, leider versäumt und schimpft nun wie ein Ober-
lehrer
Die beste hagiographische Bibliothek der Erde soll in Beuron54 sein,
sie ist leicht zugänglich
Er lautet: „Der Begnff deutsch steht selbst unter Deutschen keineswegs fest
Hervonagende Führer haben sich vergebens bemüht, zu definieren, was eigent-
lich deutsch sei Sie widersprachen einander alle Fichte kam dem Problem am
nächsten Deutsch sein heißt originell sein, fand er Und da er Lutheraner war.
bedeutete das. die Originalität bestehe im Bruch mit der Tradition, in jenem stets
neu und von vorn Beginnen, das den Kanon verneint, statt ihn auszubauen, das
den Gedanken bekämpft, kaum daß er gefunden ist, Deutsch sein heißt quer zu
der Menschheit stehen: deutsch sein heißt alle Begriffe verwirren, umwerfen,
beugen, um sich die 'Freiheit' zu wahren Deutsch sein heißt babylonische Türme
emchten, auf denen in zehntausend Zungen der Eigensinn Anspruch auf Neuheit
macht; deutsch sein heißt renitente Systeme voller Sophistik ersinnen, aus einfa-
cher Furcht vor Wahrheit und Güte."'
52
Es sei, so der Textbezug der gemeinten Anmerkung, Bismarck in und mit seinem
Kampf gegen die römische Kirche gelungen, die Sympathie sogar jener rationa-
listischen Rebellen zu gewinnen, die auf politischen Gebiet seine wildesten Geg-
ner waren (Folgen, S 138) „So die Sympathien des dezidierten Staatsfeindes
Bakunin, ein Faktum, von dem ich hier gerne gestehe, daß es mich über den Ra-
tionalismus und Bakunismus zugleich aufklärte, denn damals, als ich dies Fak-
tum kennen lernte, war ich noch Freund der Bakuninschen Philosophie, wenn
auch nicht in dem Grade, daß ich einem preußischen Kulturkampf hätte Ge-
schmack abgewinnen können" (Folgen, S 158 Anm. 38).
Gemeint ist die Rezension des Byzantinischen Christentums durch den prote-
stantischen Theologen Karl Holl in: Deutsche Literaturzeitung 1924. H 32, Sp
2197ff
54
Die Benediktiner-Erzabtei St Martin in Beuron, die 1863 wiederbegründet wor-
den war, galt als Ausgangspunkt der liturgisch-monastischen Erneuerung in
Deuschland und war das Mutterkloster der Beuroner Kongregation, zu der auch
Mana Laach gehörte
Briefwechsel Schmitt Ball 227
Geben Sie mir bitte bald Nachricht, wie es Ihnen geht, lieber Herr
Ball Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Carl Schmitt
Sehr verehrte, liebe Frau Ball1 Auf Ihren schönen Brief kann ich nicht
so antworten, wie ich es gerne möchte, aber ich darf Ihnen doch sagen,
daß ich mich sehr darüber gefreut habe und hoffe, einmal eine Stunde
zu finden, in der ich Ihnen erwidern kann Ich sage Ihnen meine besten
Grüße auch für Annemarie und bleibe
Ihr Carl Schmitt
wo kommt die Zeit nur hin? Zu meinem Schrecken sehe ich, daß ich
Ihren letzten Brief bereits anfangs Dezember erhielt und Ihnen noch
nicht einmal ein kurzes Dankwort schrieb Inzwischen erhielt ich auch
die mich sehr gefreut habenden Drucksachen Bitte seien Sie mir der
Versäumnis wegen nicht böse Ich hatte zum Jahreswechsel mancherlei
aufzuräumen und bin nun auch wieder mitten in der Arbeit Ja, wie soll
ich das sagen? Ich lernte Prof De Sanctis55 kennen (von der mediz
Fakultät der Regia Universitä) und studiere nun in seinem Laboratori-
um Psychiatrie und Analyse Es entspricht dies einem Wunsche, den ich
seit langem gehegt und dessen Interessen mit der Dämonologie zu-
sammenhängen Es muss Sie nicht überraschen Die Zusammenhänge
sind nicht von ungefähr Der frühchristliche Exorzismus interessiert
mich, und ich habe ein wenig das Gefühl, daß es gut sein könne, die dä-
monolog Theorien der modernen Therapeuten wieder dort unterzu-
Ball ist mcht mehr dazu gekommen, seine hier angedeuteten und auch in späte-
ren Briefen immer wieder angesprochenen Ideen in einem größeren Zusammen-
hang darzustellen; zum Druck brachte er allein die beiden großen Aufsätze Die
religiöse Konversion von 1925 und Der Künstler und die Zeitkrankheit von 1926
(vgl Künstler, S 336-376 bzw 102-149), doch auch in Hermann Hesse. Leben
und Werk von 1927 sind die Spuren seiner Beschäftigung mit Exorzismus und
Psychoanalyse nicht zu übersehen Eine eigenes Buch zu diesem Thema, das er
Die Therapie der Kirche nennen wollte (vgl Briefe, S. 229), kam nicht zustande
Vgl Anm. 50.
Briefwechsel Schmitt i Ball 229
wissen Sie, was derselbe Denifle einmal in einer Papstaudienz sagte, als
der heilige Vater ihm die Unterstützung der Kirche anbot „Das sind
Sachen", meinte Denifle, „da muss Seine Heiligkeit ganz draussen blei-
ben" Er empfand wohl, daß er mit seinen Gegnern allein fertig werden
könne Er überschätzte sie nicht Und sehen Sie doch diese Jülicher,
Holl, Seeberg58 und wie sie sonst heissen-: das sind doch keine Gegner
Herrn Dr Gurian danke ich sehr für seinfreundlichesInteresse Tref-
fen Sie wohl einmal mit ihm zusammen, oder gehört er gar zu Ihrem
Seminar9 Darf ich Sie in diesem Falle bitten, ihm einen Gruß zu vermit-
teln9 Ich hörte neulich von Prof Muth, daß mit einem Pilgerzug aus
Köln auch der Direktor der Volkszeitung hier war und daß man das
Buch dort anzeigen will, sich der Delikatesse dieser Anglegenheit aber
wohl bewußt ist.
Von den Ausschnitten, die Sie so liebenswürdig sandten, interessierte
mich besonders, was Prof Holzhausen (ist der Name richtig? Ich habe
den Ausschnitt nicht mehr zur Hand) über Katherina Emmerich59 sagte
Sie ist also eine „Schizoide" [im Original: „Schizophrene"] gewesen
Der Aufsatz war mir eine Bestätigung, er bestärkte mich in der Über-
zeugung, mit meinen Studien auf dem rechten Wege zu sein Schade,
daß Herrn Prof H. die Biographie der Maria von Agreda nicht ge-
genwärtig war Er wäre gewiß darüber völlig aus dem Häusel geraten
Die gerannten protestantischen Theologen hatte sich alle mehr oder weniger
kntisch 2um Byzantinischen Christentum geäußert; die bibliographischen Nach-
weisefindensich bei Ernst Teubner: Hugo Ball Eine Bibliographie Mainz 1992,
Nr. 988. )89, 1015.
Anna Kathanna Emmenck (1774-1824), stigmatisierte, visionär- und hiero-
gnostisch begabte Augustinernonne in Dülmen/Westfalen. deren „Schreiber"
Clemens Brentano wurde Ball kommt im Zuge seines Exorzismus/Therapie-
Projekts, in dessen Rahmen er sich auch intensiv mit der Hagiographie und Dä-
monologe der katholischen Spätromantik (Joseph Gönes, Brentano) befaßte,
verschiecentlich (vgl vor allem Folgen, S 83f) auf die Emmerick zurück. Sein
Interesse an den Vorgängen um Therese Neumann in Konnersreuth (vgl Briefe.
S 289, 292. 294-297 ) hat hier seine Wurzeln Die Artikel, die Schmitt gesandt
hatte, waen erschienen in der Kölnischen Zeitung 1924, Nr. 777, 783, 789, 795;
ihr Autoi war der Bonner Prof für Literaturgeschichte und Psychiater Paul Holz-
hausen.
Maria v«n Agreda (1602-1665), spamsche Nonne und Mystikenn. Ball meint
hier woh ihr 1670 erschienens Werk Mistica Ciudad de Dios, ain dessen Ende
sich die LebensbeschreibungfindetBall dürfte sie aus seiner intensiven Gönes-
230 Bernd Wacker
Leben Sie wohl, lieber Freund Sie arbeiten gewiß in aller Stille, wäh-
rend ich laue [im Original: „bunte"] Episteln schreibe [Frl. Todorovic
habe Grüße gesandt, und] von Herrn Prof. Neuß erhielt ich so uner-
wartet liebe Zeilen, daß ich ganz bewegt war
Herzlich Ihr
Hugo Ball
Der Brief Schmitts, wohl vom Januar 1924, auf den sich Ball in seiner
Antwort vom 27. d. M. bezieht, ist unbekannt
(15) Brief Hugo Balls an Carl Schmitt
(Briefe, S. 196f)
Rom, Piazza Pollarola 19
27 Jan 1925
Lektüre gekannt haben; vgl Joseph Gönes: Die christliche Mystik I Bd Re-
gensburg/Landshut 1836, S 482-495
Der französische Ultramontane Louis Veuillot (1813-1883) war ein glühender
Verehrer des spanischen Diplomaten und „Staatsphilosophen der Gegenrevoluti-
on" Donoso Cortes, mit dessen Werk Schmitt sich erstmals im IV Kapitel seiner
Politischen Theologie von 1922 befaßt hatte, vgl auch Bernd Wacker: Carl
Briefwechsel Schmitt > Ball 231
Schmitts Katholizismus und die katholische Theologie nach 1945, in: Wacker
(Anm. 2), S 190f.
' : Vgl Manfred Maria Ellis (d. i Werner Hegemann): Deutsche Schriften Ges in
3 Bdn v. Werner Hegemann. Berlin u Hellerau 1924 Auch wenn man Schmitt
mcht unbedingt als glühenden Verehrer Friedrich des Großen ansprechen darf, ja
Schmitt den Preußenkönig einmal als einen „Vorläufer des Bolschewismus'' be-
zeichnet haben soll (vgl Koenen [Anm 8], S 163), so empfiehlt Ball mit diesem
Hinweis auf Hegemann (1881-1936), den Berliner Architekturtheoretiker, -kri-
tiker und Publizisten, doch ausgerechnet die Werke eines mit der Linken sympa-
tisierenden bürgerlichen Demokraten, den Walter Benjamin in einer Rezension
von 1930 anerkennend „den Jakobiner von heute" genannt hat (Ges Schriften
Bd III, S 260-265) Gerade Hegemanns polemisch-kritische Auseinandersetzung
mit Friedrich II von Preußen, die unter dem Titel Fridericus oder das Königsop-
fer 1925 u 1926 in überarbeiteter Fassung in Hellerau erschien, wurde von Ball
außerordentlich geschätzt und gerne weiterempfohlen (vgl Briefe 197f.), Hege-
mann wurde 1933 aus Deutschland ausgebürgert, seine Bücher verbrannt Zur
zeitgenös Diskussion vgl Chnstoph Gradmann: Historische Belletristik. Populä-
re historische Biographien in der Weimarer Republik Frankrurt/New York 1993,
bes 58-74.
232 Bernd Wacker
Mit dem Aufsatz des Herrn Prof Peterson würden Sie mir eine gro-
ße Freude machen, umso mehr, als Sie ihm ein so schönes Prädikat
geben Aus Heidelberg erhielt ich - von Herrn Prof Ehrenberg64, gewiß
durch Ihre Vermittlung, lieber Freund - jenes merkwürdige Reform-
programm, das sich Nachwort zum II Bande des „Östlichen Christen-
tums" nennt Die seltsam verschlungenen Formen, die der Protestan-
tismus im Verscheiden annimmt, verdienten einmal besonders darge-
stellt zu werden Ich kann nicht recht verstehen, wie sich Ehrenberg bei
so hohen, teilweise auch wirren Einsichten noch immer als Protestanten
bekennt Aber es wird wohl seinen Sinn haben Betrüblich bleibt nur,
daß jemand aus freier Wahl sich der Unfruchtbarkeit verschreibt Was
über die „Universität" als „babylonische Hure" gesagt ist, würde ich
nicht zu sagen gewagt haben Wie gut es doch ist, daß die Kirche so
feststeht
Über meine verdrießlichen Reformationsfolgen treffen nun die ersten
Wetterberichte ein Es ist eine lehrreiche Angelegenheit, die ich nicht
gerne missen möchte Ich habe hinreichend Distanz, lassen Sie sich da-
rum bitte ja nicht abhalten, mir hie und da einen Ausschnitt zu schik-
ken, der Ihnen begegnet Sie versprachen mir eine Rezension der
„Volkszeitung" War es das Beiliegende, oder ist sonst noch etwas
erschienen9 Es interessiert mich wirklich, weil es doch die führende
katholische Zeitung ist. Und weiß vielleicht Herr Dr Gurian, wer K P.
(Kurt Pinthus etwa?) signiert? Erst so vornehm, und nun so übel, der
schweizer Verfasser -
Leben Sie wohl, lieber Herr Professor, und behalten Sie mich lieb Es
klingt kindlich, weil es sich so ruhig spielt in den fliehenden Räumen
Ihr Hugo Ball
Gemeint ist wohl Erik Peterson: Zur Theone der Mystik, in: Zeitschrift für Sy-
stematische Theologie 2 (1924/25). S 146-166
Hans Philipp Ehrenberg: Östliches Chnstentum 2 Bde München 1923ff.
Briefwechsel Schmitt' Ball 233
Im Juni 1924 schrieb ich im „Hochland" einen Aufsatz von mehr als
Bogenumfang über Ihre bis dahin erschienenen Schriften Ich wies auf
Ihr Werk hin in einer Weise, wie es bis dahin niemand getan hatte
Sie besuchten mich daraufhin in Lugano und versicherten mir, in mei-
nem Aufsatz Aufschlüsse gefunden zu haben, die Ihnen selbst überra-
schend und nicht bewußt waren.
Es lag Ihnen daran, Ihr neues Vorwort zur „Politischen Romantik"
mit mir zu besprechen und Sie interessierten sich lebhaft für meine neue
Arbeiten
Sie wußten bereits (vom Verlag oder von sonstwem), daß ich die
„Folgen der Reformation" vorbereite Obgleich Ihnen aber vom Inhalt
dieses Buches nicht mehr bekannt sein konnte, als daß es eine Bearbei-
tung meines unbekannt gebliebenen Buches „Zur Kritik der deutschen
Intelligenz" sein werde, rieten Sie mir in der dringendsten Weise von
der Publikation ab Sie gingen soweit, mir zuzumuten, ich solle dieses
Werk, dessen Korrekturen bereits eintrafen, unterdrücken Um die Ab-
findung des Verlegers und um die Rückzahlung des Honorars, das ich
bereits empfangen hatte, solle ich mir keine Sorgen machen, das wür-
den Sie schon übernehmen65
Ich lehnte diese Zumutung, die ich für einen Fanatismus von Freund-
schaft hielt, nach reiflicher Überlegung ab
Nun ist vor kurzem das Buch erschienen und in einer tonangebenden
katholischen Zeitung erscheint (als erste Besprechung, so eilig hatte
man es) eine Rezension von Dr Gurian, die nicht nur für mein Buch,
sondern für mich selbst vernichtend ist.
Dr. Gurian ist ein unbedeutender junger Mensch, das sehe ich aus
Sätzen, die er bei anderer Gelegenheit geschrieben hat Aber Dr Guri-
65
Für die Summe, die Schmitt angeboten hatte, bürgte Schmitts Freund Georg von
SchnitzJer (vgl Anm 28 und die dort angegebenen Arbeiten von Tomnussen);
Schmitt war also, wie Ball zu Recht vermutete, schon vor seinem Besuch im
Tessin über Balls neuestes Publikationsvorhaben untemchtet gewesen
234 Bernd Wacker
an ist, wie Sie mir selbst einmal mitteilten, Schüler Ihres Seminars und
ich darf ruhig annehmen, Ihr bevorzugter Schüler Daß seine Rezension
keinen Anspruch auf Selbständigkeit erheben kann, geht (freilich nur
privatim für mich) daraus hervor, daß sie Fakten und Meinungen ent-
hält, die auf Ihre Gespräche mit mir in Lugano zurückgehen
Sagen Sie mir, verehrter Herr Professor, was soll ich von all dem
halten9 Denn nicht wahr, es ist doch so, dass Sie seit Monaten mir mir
in vertraulicher Korrespondenz stehen?
Zu der besonderen Technik der Gurian'schen Besprechung habe ich
folgendes zu sagen
1 Herr Dr G bespricht nicht sowohl meine „Folgen der Reformati-
on", als meine frühere Mitarbeit an der (allgemein verhassten) „Freien
Zeitung" und im Anschluß daran, mein in der Neuausgabe um 2/3 re-
duziertes und desavouiertes Buch „Zur Kritik der deutschen Intelli-
genz" von 1918
2 Er kommt zu rein negativen Resultaten, weil er den Zusammenhang
der "Folgen" mit meinem Buche „Byzantinisches Christentum" außer
Acht läßt oder nicht sehen will, obgleich diese beiden Bücher sich ein-
ander ergänzen
3 Herr Dr G bespricht mein Buch nicht mit dem Interesse eines
Katholiken, sondern so, wie ein protestantischer oder nationalistischer
Gegner es besprechen würde Er hätte reichlich Gelegenheit gehabt,
aus dem Vergleich meines desavouierten Buches von 1918 mit meinen
späteren Büchern von 1923 und 1924 auf eine entschiedene Konver-
sion zu schließen und dieses Faktum (in einem Katholikenblatte) ent-
sprechend zu würdigen Statt dessen läßt er (an solcher Stelle) mein
Verantwortungsgefühl fraglich erscheinen
Glauben Sie nicht, lieber Herr Professor, daß ich um mein Buch, oder
um meinen Ruf kämpfe, mein Geschick liegt nicht in der Hand eines
Rezensenten
Ich möchte nur gerne wissen, was Sie mir auf diesen Brief zu sagen
haben
In besonderer Ergebenheit
Ihr
Hugo Ball
Briefwechsel Schmitt / Ball 235
München 7 11. 27
Sie haben mich schon vor mehreren Wochen durch die Uebersendung
eines Sonderdruckes Ihres Aufsatzes „Ueber den Begriff des Politi-
schen"66 geehrt und erfreut Ich danke Ihnen herzlich für diese Auf-
merksamkeit und die richtige Einschätzung meiner Teilnahme für Ihre
Arbeiten Ich habe den Aufsatz auch sofort gelesen, und wieder gele-
sen, denn Ihre Gedankengänge sind nicht so, dass man damit fertig
werden könnte
[Daß er Schmitt nicht schon früher gedankt habe, erklärt Muth mit
dem Hinweis auf seine Überlastung durch die Redaktionsarbeit. Erst
seit kurzem habe er wieder Zeit auch für andere Dinge. Er verspricht,
sich mit Schmitts Aufsatz, den er auf der richtigen Spur sieht, gründ-
lich auseinanderzusetzen, verweist auf die zu erwartenden Verständ-
nisprobleme auch bei der großen Mehrzahl der Gebildeten und kün-
digt eine „Stellungnahme " in seiner Zeitschrift an.
Im weiteren dankt er Schmitt für dessen Aufsatz über „Donoso Cor-
tes in Berlin ", der gerade als Beitrag zur Festschrift zum 60. Geburts-
tag von CarlMuth 7 erschienen war. Dann fährt er fort:]
Darf ich diesen Worten noch einige Bemerkungen anschliessen, die
mir durch einen Brief des Dr Gurian vom 15 Oktober nahegelegt
werden Wie Sie wissen, hat ein Dr Knapp, ein Mann in reifen Jahren
und von durchaus besonnener und wirklich katholischer Haltung, einen
Aufsatz im Hochland geschrieben, worin er über das „Journal intime"
und die Briefe von Hyacinthe Loyson berichtet68 Darin geschieht auch
der Tatsache Erwähnung, daß Meriman in ihren Aufzeichnungen von
Carl Schmitt Der Begriff des Politischen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und
Sozialpolitik 58 (1927), S. 1-33.
Vgl Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland Eine Gabe für
Karl Muth München 1927, S 338-373.
Vgl Hochland XXIV/2 (1924), S. 520-531. Carles Loyson (1827-1927), kath
Ordenspnester (P Hyacinthe) und Theologe in Pans. 1869 aufgrund seiner Kir-
chenkntik exkommuniziert; 1872 Heirat mit E Menman
236 Bernd Wacker
Entwurf einer Antwort auf das Schreiben von Prof Carl Muth an Carl
Schmitt vom 7. November 1927
238 Bernd Wacker
Ihr Brief hat mich in einem Zusammenhang erreicht, der auf eine merk-
würdige Weise zeigt, wie sehr ich mit Ihnen verbunden bin und auch in
Zeiten gegenseitigen Schweigens immer neue Verbindungen entstehen
Am meisten ist es der Gedanke an Hugo Ball, der mich nicht losläßt
Ich hatte schon in den letzten Wochen vor Ihrer Nachricht zwischen
einer nervenaufreibenden, beruflichen Handwerksarbeit seine Flucht in
[sie1] die Zeit gelesen, die ich früher wegen ihrer Formlosigkeit und
ihrer Notizenhaftigkeit nicht leiden mochte Jetzt gewinne ich sie all-
mählich lieb, wie mit einem Menschen, ja, wie mit einem Bruder Ich
bleibe dabei, daß es niemand gab, der Hugo Ball näherstand als ich
Wir sind beide rheinische Katholiken und geistig wie moralisch von
gleicher Bildung71 Damals, im Herbst 1924, als sein Buch über die
Folgen der Reformation erscheinen sollte, habe ich mit ihm offen dar-
über gesprochen und ihn beschworen, es nicht zu veröffentlichen Ich
habe ihm keinen Gedanken verheimlicht, aber der Einfluß von Hermann
Hesse72 war stärker Das ist menschlich und psychologisch begreiflich,
aber das Mißverständnis bleibt schrecklich Es ist heute nicht mehr die
71
Vgl Briefe, S. 176 u. 248f sowie Paul Noack: Carl Schmitt Eine Biographie
Berlin/Frankfurt 1993, S 16f
2
Wie immer es um Hesses Einfluß auf die Folgen tatsächlich bestellt gewesen sein
mag - wie die Lektüre der Konespondenz Hesse / Ball bzw Hesse / Ball-
Hennings und seine über Jahre durchgehaltene sensible und tatkräftige Unterstüt-
zung der Familie deutlich macht, dürfte er Ball sehr viel näher gestanden haben
als Schmitt oder andere Katholiken, mit denen Ball in Berührung gekommen
war. „Der offizielle Katholizismus", schreibt Hesse im April 1934 an Adolf Ba-
den, ohne Schmitts Namen zu nennen, „hat sich gegen Hugo Ball gleich benom-
men wie gegen jeden intransigenten Außenseiter, er hat ihn bald benutzt, bald
verleugnet Ich erinnere mich, daß damals, als die Kritik der deutschen Intelli-
genz' vergriffen war und umgearbeitet werden sollte, sich ein machtiger und be-
rühmter Katholik bei Ball einfand, der sehr auf die Umarbeitung drückte (sie
heißt Folgen der Reformation') und Ball weiter trieb, als er hatte gehen wollen,
dann aber als Ball es merkte und sich wehrte, abreiste und sich später wenig nett
gegen Ball benahm Dieser Katholikenfiihrer spielt, glaube ich. noch heut eine
Rolle, er stand immer dort, wo die Macht war" (Gesammelte Bnefe Bd 2: 1922-
1935 Hg. v Ursula u Volker Michels Frankfurt 1979. S 4210
Briefwechsel Schmitt Ball 239
73
Vgl den Brief v 7. März 1927 in der Dokumentation von Barbara Nichtweiß:
"Die Zeit ist aus den Fugen" Auszüge aus den Briefen von Paul Adams an Erik
Peterson. in: Wacker (Anm. 2). S 65-87, 70f
4
Eine gründliche Auseinandersetzung mit diesem Bekenntnis' steht noch aus Im
Gespräch mit Schickel (Anm 2) spielte es keine Rolle; auch Heinrich Meier
kommt in seiner einläßlichen Studie Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff
des Politischen". Zu einem Dialog unter Abwesenden (Stuttgart 1988) auf Ball
nicht zu sprechen
Ansgar Hillach
1
Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit. Hg v. Bernhard Echte Ztnch 1992, S. 157
(Eintrag v. 23. 4. 1917)
242 "Das Wort als ein Gottwesen ..."
werden Vielleicht aber ist das resolut und mit allen Kräften erwirkte
Chaos und also die vollendete Entziehung des Glaubens notwendig,
ehe ein gründlicher Neuaufbau auf veränderter Glaubensbasis erfolgen
kann Das Elementare, Dämonische springt dann zunächst hervor, die
alten Namen und Worte fallen Denn der Glaube ist das Maß der Din-
ge, vermittels des Wortes und der Benennung " 2
Der Abschnitt eröffnet historische Bezüge in zwei Richtungen Schon
an der Formulierung dessen, was „vollendete Freiheit" sein könne,
nämlich der Durchgang durch die kritische Reflexion und als deren
Resultat die „vollendete Skepsis", wird die Nähe zur frühen Romantik
deutlich Was die Reflexion notwendigerweise auflöst, sind kollektiv
verbürgte Glaubensgehalte Sie bestimmen auch das, was man den
„inneren Umriß eines Gegenstandes" nennen kann, sein unter allen
denkbaren Hinsichten sich durchhaltender Bedeutungskern, das, wozu
der Gegenstand 'eigentlich' da ist Der „Glaube an ein Ding oder eine
Sache" ist in diesem Sinne ihre Evidenz Es bedarf erst einer fundamen-
talen Entsicherung des Weltbildes, um die beliebige Verwendbarkeit
und Interpretierbarkeit der gegenständlichen Welt auch nur in den
Blick zu rücken
Diese Weltbildentsicherung - und damit spreche ich den zweiten hi-
storischen Bezug an - wurde zuerst manifest im Barockzeitalter Die
innere Kontur der Dinge und ihrer bildlichen Darstellung wurde frag-
lich, nachdem der christlich-symbolische Kosmos, wonach das von
Gott in seinem Schöpfüngswerk Gemeinte in seinem Wort und in dem
der Kirche beschlossen lag, von einer kopernikanischen Wendung zur
Perspektive der Erfahrung ergriffen worden war Die aus der symboli-
schen Ordnung sich emanzipierende Dingwelt fiel der Allegorisierung
anheim, der subjektiven Verleihung von Sinn, die allerdings zur Sub-
jektivität sich nicht bekennen wollte Sie spekulierte daher und schöpfte
aus Traditionsbeständen Vermeintliches Wissen wurde aber zum Ab-
grund, das Subjekt der Allegorie fiel, wie Walter Benjamin in seinem
Ursprung des deutschen Trauerspiels (1923-25) ausgeführt hat, dem
bohrenden Tiefsinn und der Melancholie anheim, während in der unbe-
griffenen Dingwelt Chaos wahrnehmbar wurde Die aus der christlichen
Lebenswelt ausgeschiedenen Dinge konnten von Dämonen besetzt
werden Ehe das geschah, standen sie als tote dem Allegoriker zur
:
Ebd s. 90
Ansgar Hillach 243
' Walter Benjamin Ursprung des deutschen Trauerspiels In: Gesammelte Schnf-
ten, Bd. 1/1. Frankfurt/M 1974, S 359
4
Vgl Gerhard Plumpe Alfred Schuler Chaos und Neubegann. Zur Funktion des
Mythos in der Moderne Berlin 1978. S 99 ff
244 "Das Wort als ein Gottwesen ..."
Mit dem Prinzip der Skepsis und der Rückkehr der Dinge ins „Chaos"
knüpft Ball an eine gnoseologische Konstellation der frühen Neuzeit
an, in der gegen eine angsterzeugende Verselbständigung von Realien
und ihren Bildkorrelaten eine allegorisch-emblematische Bewältigungs-
form gefunden wurde Die bestand damals darin, daß mittels des Wor-
tes, der Bezeichnung und der sentenzenhaften Sprache meist aus her-
beizitiertem Traditionswissen gegen die andringende Sach- und Bilder-
flut und ihren vermeintlich dämonischen Untergrund dogmatisch neu
verfügt wurde Es war eine Scheinlösung der Probleme, die der Anstoß
des Nominalismus und der Weltbildverlust des Christentums mit sich
geführt hatten Denn die barocke Allegorie war nicht darauf aus, die
entseelten Dinge dem Leben in anderer Weise zurückzugeben, sondern
sie stellte sie in den Dienst der Ewigkeitsbetrachtung Darin unter-
scheidet sich Hugo Ball an der zitierten Stelle Die aus subjektiver
Vollmacht verfügende „Neuordnung der Elemente, die der Künstler,
der Gelehrte oder Theologe (mit seinen Gegenständen) vornimmt",
bereichert die Welt dann, wenn das Resultat gesellschaftlich anerkannt
wird, mit neuen Phänomenen, die vielleicht einem „gründlichen Neu-
aufbau" zugute kommen können
Im Abstand von drei Jahrhunderten greift also Hugo Ball, als Ange-
höriger einer Generation von Artistenrebellen gegen die Zumutungen
der technologisch hochgerüsteten Moderne, die ihre Sinnleere gerade
als weltgeschichtliches Vernichtungsspektakel inszeniert, die barocke
Problemstellung am gnoseologischen Punkte wieder auf Gewitzigt
durch romantische Reflexion und Ironie und auf die Fährte gesetzt
durch Nietzsches ästhetische Opposition, postuliert er „die vollendete
Entziehung des Glaubens" und einen „Neuaufbau auf veränderter
Glaubensbasis" Zu gewährleisten hätte diese Glaubensbasis eine äs-
thetisch-künstlerische Gegenwelt, gemäß dem Artistencredo, das er
spätestens 1910 Nietzsche entnommen hatte „Die Schöpfung einer
(neuen) Religion würde darin liegen, daß einer für sein in das Vakuum
hineingestelltes mythisches Gebäude Glauben erweckt" In diesem Sin-
ne wollte Nietzsche „eine ganz neue Art des Philosophen-Künstlers
imaginieren, der ein Kunstwerk hinein in die Lücke stellt mit ästheti-
schem Wert " Natürlich vermerkt Ball an dieser Stelle mit einem weite-
Ansgar Hillach 245
II
Ich möchte im Hinblick auf den Essay Der Künstler und die Zeitkrank-
heit von 1926 versuchen, einen von Ball nur angezeigten Wirklich-
Fnednch Nietzsche, von Ball zitiert in: ders Nietzsche in Basel Eine Streit-
schnft. in: ders Der Künstler und die Zeitkrankheit Ausgewählte Schriften Hg
v. Hans Burkhard Schlichting Frankfurt 1988. S 90 f.
6
Hugo Ball Der Künstler und die Zeitkrankheit (1926), in: Ball (Anm. 5), S 102-
149
246 "Das Wort als ein Gottwesen ..."
keitsbegriff zu rekonstruieren, der die normative Folie für die von ihm
(und freilich nicht nur von ihm) damals behauptete „Zeitkrankheit"
darstellt Die unvermittelten Bezugnahmen auf die Kirche und auf zu
exorzisierende Dämonismen verkürzen und verstellen das Verständnis
dessen, was an konstitutiven Theorieelementen sich möglicherweise
darin verbirgt
Zunächst noch einige Beobachtungen anhand des Tagebuchs Die
letzte Bastion des Ästheten und Dandy, der Ball längst nicht mehr sein
wollte, gegen die autoritative, durch Offenbarung und Tradition ver-
bürgte Deutungsmacht der Kirche lag im empirischen Sprachgebrauch
von deren Amtsträgern „Wie kann man", so fragt Ball für den Dandy,
„zum ewigen Wort einen lebendigen Zugang haben, wenn man das
zeitliche und relative Wort brutalisiert?" Es ist hier, im November
1919, schon ein Rückzugsgefecht, Ball hat zu diesem Zeitpunkt die für
ihn wesentlichen Reflexionsschritte zum kirchlichen Glauben offenbar
vollzogen Eine Woche später, am 25 November 1919, postuliert er
mit dem Gestus des Logikers die Unfehlbarkeit „der kontrollierenden
Kirche" (nicht etwa des Papstes, wenn er ex cathedra spricht!) Es geht
Ball um die Gewinnung einer für objektiv erkannten Wirklichkeit, die
dem Fluß des Werdens entzogen, gleichwohl erfahrbar sein soll, und
die in Gott kulminiert „Ohne die Unfehlbarkeit bliebe alles Bemühen
nur ein Versuch, zu subjektiven, d h befangenen, begrenzten, wenn
nicht privaten und interessierten Ansichten zu verleiten Auch der
höchste Begriff, den Menschen von Gott sich bilden können, unterliegt
notwendig der kontrollierenden Kirche, und was wäre diese Kontrolle,
wenn sie nicht unfehlbar wäre " 8 Wenn nicht klar ist, wie Ball sich hier
denkerisch auf einen Begriff Gottes bezieht, dessen Auffassung
„kontrolliert" werden müsse, so scheint sich doch zu ergeben, daß Gott
gewissermaßen als das Rückgrat einer jeglichen Wirklichkeitsauffas-
sung gesehen wird, die Objektivität beansprucht
In der Kritik Spinozas hat Ball zuvor begründet, warum es einen
„abstrakten Beweger, wie ihn Spinoza annimmt", nicht geben könne 9
Gott muß ein persönlicher Gott sein, kraft des verbindenden Logos
„Bewegung, die uns angeht, kann nur eine Person verleihen Personare
10
Ebd
" E b d S 248
248 "Das Wort als ein Gottwesen ..."
i:
Ebd
Ansgar Hillach 249
III
Wenden wir uns nun dem 1926 für das Hochland verfaßten Aufsatz
Der Künstler und die Zeitkrankheit zu Balls zeitsymptomatisches Lei-
den an den gesellschaftlichen Wirkungen einer Ära, die qua System
hberahstisch zu sein versuchte und damit ungebärdige Kräfte in die
Bindungslosigkeit entließ, setzt sich in ein diagnostisches und thera-
peutisches Konzept um, in dessen Mittelpunkt Rolle und Aufgabe von
Kunst und Künstler stehen Ball macht eingangs deutlich, daß er die
aufzuwerfenden Fragen im Rahmen prinzipieller Überlegungen epocha-
len und metaphysischen Zuschnitts zu verhandeln gedenkt Er glaubt zu
erkennen, daß „der reine Intellekt versagte", daß er „sich als unzuläng-
lich erwies, die ringsum in aller Unvernunft hervorbrechende Geschich-
te und ihre greifbaren Elemente zu bändigen".13 In heutigen Termini
ausgedrückt: Das Kausalitätsparadigma wissenschaftlicher Erkenntnis,
das zeitliche Abläufe zur Folie der materiell erfaßbaren Vorgänge
nimmt, wird durch ein Paradigma der Formerfassung abgelöst In einer
wie mir scheint typischen zweideutig-apodiktischen Formulierung heißt
es: „Die Kunstgeschichte tritt als Erfahrung anstelle der Profange-
schichte, die Tatsachen haben Bedeutung nur noch soweit sie gestaltet,
d h dem faktischen Strome der Zeit überhoben sind " Ball stellt aber
auch sofort klar, daß Formelfassung nicht Formalismus meint, der ei-
ner „rein verstandesmäßigen Ansicht der Dinge folgt" Form ist als
Wesenskategorie und als Wirken einer autoritativen Formkraft ge-
dacht, die aus dem Logos kommt „Letzter Urheber der Dinge muß ein
Künstler, oberstes Kriterium einer neuen Wertskala die Kunst selber
sein, in ihrer ganzen Vermögensfülle "14 Die metaphysische Bezugnah-
me verweist auf einen Demiurgen, als welcher der alexandrinische Lo-
gos, wie sich zeigen wird, aller Wirklichkeit vorgeordnet wird. Der
Mensch fügt sich als nach Gott orientierter Formwille dem ein Nicht
nur der Gedanke eines demiurgischen Weltschöpfers, der der aller-
höchsten Gottheit nachgeordnet sein muß, sondern auch ein Hinweis
auf Lichtmetaphysik weist diese Konzeption als gnostisch, den Wirk-
lichkeitsbegriff als emanatisch (und gradualistisch) aus: „Der Wert ei-
13
Ball. Künstler (Anm 5). S 102
14
Ebd S 103
250 "Das Wort als ein Gottwesen ..."
ner Leistung ergibt sich aus ihrer bis in die kleinsten Teilformen strah-
lenden Lichtspiegelung "15
Daran anknüpfend könnte man, mit leichter Pointierung, die Feststel-
lung treffen, daß Balls weitere Ausführungen der Musterung der Er-
scheinungsformen einer generellen Logosvergessenheit gelten sowie
dem theoretisch anspruchsvollen Versuch, der pathogenen Auswir-
kungen dieses Mangels an religio, an Rückbindung und Wesensorien-
tierung durch ein erneuertes Amtsverständnis von Kirche und Künstler-
tum Herr zu werden
Zu den Symptomen der umfassenden Zeitkrankheit gehört an vorder-
ster Stelle die Unfähigkeit, Persönlichkeit auszubilden, bzw die Ver-
hinderung dieser elementaren Aufgabe der Selbstbestimmung des Men-
schen, die er in Rücksicht auf den in ihm angelegten Formgedanken
einzulösen hat Exemplarisch wird dies gerade am Künstler gezeigt Er,
der die Formbildnerei zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, arbeitet
auf der Basis eines Formwillens, den er an sich selbst nicht realisieren
kann, weil die künstlerische Aufgabenstellung sich zur Anonymität ver-
schoben hat Auftraggeber und Rezipienten fallen entweder aus oder
sind zu unklaren Größen, ihre Hoffnungen und Wünsche unkalkulierbar
geworden, der Künstler selbst hat keine Chance mehr, über sein rezen-
sierbares Werk hinaus Interesse zu erwecken Ball beschreibt den damit
einhergehenden Wirklichkeitsverlust als gesellschaftliche „Katastro-
phe" Da die gegliederte Vermittlung der Formidee in der Trias Auf-
traggeber - Künstler - werdendes Werk und andererseits im Rückbezug
auf eine Transzendenz, eine pneumatische Inspirationsquelle ausfällt,
wird auch der Realitätsgehalt des Kunstbetriebs dünner, werden die
Formen vagabundierend, ohne Beziehungsreichtum und ohne Zeichen-
kraft im Hinblick auf eine metaphysische Sinnschicht „Zum Künstler
gehört es wesentlich, daß er den Empfänger kennt und dessen Glauben,
dessen Liebe, dessen Hoffnung in die Form miteinbezieht Im Auswie-
gen des beiderseitigen Anteils beruht vielleicht das Geheimnis der
Form Wie nun, wenn der Künstler auf die Realität verzichten muß, wie
er bereits auf seine Person verzichtet hat7"16 Ball sieht das Dilemma
des Künstlers angesichts dieser Lage in einer neuerlichen romantischen
Zerrissenheit zwischen Intellekt und Vision, Abstraktion und Phanta-
" E b d S. 105
16
Ebd S. 109
Ansgar Hillach 251
17
Ebd S 110
18
Ebd S 120
252 "Das Wort als ein Gottwesen ..."
19
Ebd S 116
20
Ebd S 106
:1
Ebd S 117
Ansgar Hillach 253
kommt wie der bewußte Künstler Wundersam aber ist es, daß eine Art
tieferer Ratio nicht einmal von der Geisteskrankheit erreicht und zer-
stört wird, ja diese Ratio nimmt bei fortschreitendem Verfall der
Sprach- und Deutfähigkeit eher noch zu."22 Für Ball ist dies Beweis
einer transzendent, also zuletzt im Logos als der ursprünglichen Form-
kraft garantierten Persönlichkeitskategorie, die sich im Weg der Hei-
lung zeigt und dabei die Bilderflut der Psyche strukturiert Es ist Be-
weis der metaphysischen Befugnis und ästhetischen Kompetenz von
„Persönlichkeit", auch im gesellschaftlichen Raum Heilung einzuleiten
Die Opfer psychischer Zerrüttung zeigen am unwiderleglichsten die
bleibende Kraft der Substantialität So bezeichnet das Lehrstück, das
Prinzhorn anhand der Kunst der Geisteskranken erbringt, für Ball „den
Wendepunkt zweier Epochen Der Kranke belehrt die Gesunden [...],
noch nicht der Dissoziierung Verfallenen, aber mit ihr Kämpfenden
[...], indem er eine Einheit der Anschauungsformen in der fernsten To-
temvorstellung des Wilden und den letzten Verwirrungen einer über-
völkerten Kultur erweistZ'23 - Der Künstler, ebenfalls zurückgeworfen
auf sein bloßes Selbst, wird, wenn er „zum Urbild seiner Neurose
durchdringt und sich mit ihm identifiziert",24 einen archaischen Form-
impuls erhalten, der ihn der Zone der Ritualität näherbringt und viel-
leicht dann auf die Spur des Logos und der Kirche setzt
Ball konfrontiert den Wissensbestand der Tiefenpsychologie mit einer
analogen Kenntnis bei den Kirchenvätern, die, auch aus Erfahrungswis-
sen, eine dämonische Triebnatur des Menschen in Rechnung stellten
und deren neurotische Verirrungen als „Besessenheit" verstanden Die
Abhilfe dagegen war der Exorzismus, den Ball als geistlich-rituelle
Verstärkung der Glaubenskraft, also der pneumatischen Persönlichkeit
versteht Die große Bedeutung, die Ball diesem Rekurs beimißt, wird
verständlich, wenn man das darin enthaltene, wirklichkeitskonstituie-
rende Verhältnis von Bild weit und Logos betrachtet Dämonen, die
nach altem Glauben in den Menschen fahren konnten, waren „Per-
sönlichkeiten der gestürzten Kulte, oder sie hängen mit Symbolen, Bil-
dern und Gebrauchsgegenständen dieser Kulte zusammen " Daher wur-
de der Exorzismus regulär bei der Erwachsenentaufe angewendet, bis
22
Ebd. S 118
23
Ebd S 119
24
Ebd S 128
254 "Das Wort als ein Gottwesen ..."
er auch zum festen Bestandteil der Kindertaufe wurde Hier lag die
Vorstellung zugrunde, daß die durch die Erbsünde verdorbene Men-
schennatur mangels positiver Besetzung (Gnadenstand) vom Bösen
besessen sein müsse - wobei das Böse, wie Ball mit einem Hinweis auf
Dionysius Areopagita festhält, nicht dualistisch zu verstehen ist als
eigenständige Kraft, es ist nach Lehre der Kirche die Negativität, die
aus dem Abfall vom Guten entstanden ist Dämonen sind demnach
„Phantasmata, (die) aus dem individuellen und phylogenetischen Bil-
derschatze der Phantasie" kommen 25 Der Exorzismus ist, ob in der
Weise der Dämonenbeschwörung oder verbunden mit dem Ritual der
Taufe, die Anrufung des Namens Gottes und die Mitteilung des Hl
Geistes als Taufpneuma bzw als Macht des Logos, und als Bann über
eine anarchisch dem gottfernen Naturgrund entsteigende Bilderwelt
IV
Ball reflektiert schon 1917 über die „Unvernunft und Nichtigkeit der
bloßen Natur"26 und rehabilitiert damit Schopenhauer gegen die eigene
Apotheose des frühen Nietzsche, jenen pessimistischen Philosophen,
der die Erbsünde für eine der tiefsten Einsichten der Menschheit gehal-
ten hatte Den „Bildergeist" schlägt Ball implizit dem Dionysischen zu
und charakterisiert beides als romantisch und nihilistisch: „Der Spiritus
phantasticus, der Bildergeist, gehört also zur Naturphilosophie Die
Metapher, die Imagination, und die Magie selbst, wo sie nicht auf Of-
fenbarung und Tradition gegründet sind, verkürzen und garantieren nur
die Wege zum Nichts, sie sind Blendwerk und Diabolik Vielleicht ist
die ganze assoziative Kunst, mit der wir die Zeit zu fangen und zu fes-
seln glauben, ein Selbstbetrug " 2? Die Frage, woher eigentlich Ordnung
zu denken ist, konnte sich beim Apollinischen als einer eingeborenen,
wie immer göttlichen Kraft nicht beruhigen „Woher nehmen wir die
autoritären, die stilbildenden Reihen und Vorstellungen7 Was konstitu-
iert unseren Geist9 Woher schöpfen wir den Glauben, die Form9 Steh-
len wir nicht aus allen magischen Religionen die Elemente zusam-
25
Ebd. S. 137.
26
Ball. Flucht (Anm. 1). S. 159
r
Ebd S. 161
Ansgar Hillach 255
men 9 " Letzten Endes bezeichnet beides, das Dionysische wie das
Apollinische, nur die gefallene Natur, und Ball sucht angesichts der im
Weltkrieg sich aufdrängenden Erfahrung, daß die „Hölle tiefer und
schrecklicher (ist) als (Ästhetizisten) ahnen"29, nach einem Absoluten,
das als „Urbild" oder Wort, platonisch-anamnetisch oder aristotelisch
im Sinne der Kraft der Abstraktion, zu gewinnen ist Die Lösung ist für
ihn, aller noch hinzutretenden Gedankenwindungen ungeachtet, klar
vorgezeichnet: „Aber es gibt Worte, die zugleich Bilder sind Gott ist
vorgestellt als der Gekreuzigte Das Wort ist Fleisch, ist Bild gewor-
den: und doch ist es Gott geblieben."30 Das hat für Ball ontologische
Konsequenzen, die jedes Ding, jedes Seiende betreffen, und die eine
„protestantische" Lösung ausschließen die Welt ist mit dem Vorschuß
des Heils und der ewigen Rettung versehen, wenn sie der Kirche sich
unterstellt Die Dignität des Wortes liegt in der Wiederverschmelzung
von Sinngehalt und Bild, die im göttlichen Schöpfüngsakt eins waren
und in der Inkarnation, im Bild des Gekreuzigten als Versöhnungszei-
chen der vom Sündenfall gezeichneten Geschichte implantiert worden
sind als Heilsgeschichte Diese jedoch bedarf, angesichts der Natur-
verhaftung des Menschen und der abgründigen Bilderflut reiner Natur-
vermögen, des Priesters, der im Ritus den transzendenten Logos zur
Präsenz bringt
Die therapeutischen Möglichkeiten der Tiefenpsychologie werden von
Ball an diesem Maßstab, an der Bindekraft des Logos und der spirituel-
len Macht des Priesters gemessen Letztere sieht Ball durchaus in einer
historisch-vergleichenden Perspektive, indem er sich neuere Einsichten
in alte Stammeskulturen zunutze macht, anknüpfend insbes an Levy-
Bruhl und Freud Es war die magische Macht der Totems und der mit
ihr verbundenen Praktiken und Rituale, die den kirchlich-liturgischen
Formbegriff und seine therapeutische Zuständigkeit damals neu in den
Blick ruckte Das Totem, ein Bild, das die Stammeseinheit symbolisiert
und verkörpert, ist aufgrund einer besonderen Weihe „mit Zauber, mit
Kräften, mit Einheiten, mit Extrakten geladen"31, es hat ein Pneuma,
das ihm rituell zugesprochen wurde Seitdem ist es tabu und setzt wei-
:
* Ebd S 160
29
Ebd
30
Ebd
31
Ball. Künstler (Anm 5). S 141
256 "Das Wort als ein Gottwesen ..."
32
Vgl Hugo Ball Carl Schmitts Politische Theologie, in Künstler (Anm 5). insb
S 33 lf
33
Ein Kompendium von 1927 trägt diesen Titel Fnednch Niebergall: Im Kampf
um den Geist Von Weltanschauungen und Religionen München 1927 Es geht
den weltanschaulichen Lösungsmöglichkeiten der Frage nach "Gibt es Geist als
Baumaterial jener Welt, auf die die Bildwöner hinzielen 9 " (S 9)
34
Ball. Künstler (Anm 5), S 120.
35
Ebd S. 140
258 "Das Wort als ein Gottwesen ..."
Ebd S 141.
Ebd S 116
Ebd. S 120.
Ansgar Hillach 259
Ebd S. 124 f.
260 "Das Wort als ein Gottwesen ..."
4
"Ebd S. 132 f.
41
Ebd S. 132.
12
Ebd S. 142
Ansgar Hillach 261
Ebd S. 106
Ebd S. 320
262 "Das Wort als ein Gottwesen ..."
Wie der Eingang des Baiischen Essays exponiert, erhofft sich Ball -
diesseits einer kirchlichen Einflußsphäre - von einer zu beobachtenden
Rückbesinnung auf den Wert der Form in allen Lebensäußerungen des
Menschen eine Wende in der blinden Verlaufsgeschichte der „Zeit-
krankheit" Mit dieser Neuorientierung fällt der Kunst und den Künst-
lern die entscheidende Rolle zu Gerade in einer bildersüchtigen Zeit
können sie, die allenthalben „den innersten Phantasieraum abtasten und
dabei auf die Grundformen der Anschauung" stoßen, Form nicht als
freies Spiel, sondern als strenges, zu erkundendes Prinzip sichtbar ma-
chen In seiner Kandinsky-Rede von 1917 hatte er den Gedanken so
formuliert: „Die 'innere Notwendigkeit' allein gibt der freien Intuition
Grenzen, die innere Notwendigkeit bildet die äußere, sichtbare Form
des Werkes Die innere Notwendigkeit ist es, auf die alles zuletzt an-
kommt, sie verteilt die Farben, Normen und Gewichte, sie trägt die
Verantwortung auch für das gewagteste Experiment Sie allein ist die
Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Urgrund der Bilder."
1926 formuliert Ball eine hierarchisch-strategische Mittelstellung des
Künstlers, die ihm die Kompetenz zur Erzeugung zeichenhaft-uto-
pischer Formqualität zuspricht und ihn damit zu einer gesellschaftlichen
Bindekraft ermächtigt: „Der Künstler hat die Norm der sozialen Welt
zu gestalten Das heißt er hat die ihm aus der untergeordneten Sphäre
entgegenkommenden Materien und Bilder in seinen Phantasieschatz
einzutragen und dann mit Mitteln seiner Phantasie und den ihm aus der
übergeordneten Sphäre zuströmenden Formelementen ein neues, feine-
res Gebilde, das Vorbild, den Typus, aufzustellen " 47 Der Künstler ist
der Kundige und Erbe eines alten Formwissens, und er soll in den drei
Sphären menschlicher Existenz beheimatet sein, denn: „Sein Werk [...]
wird ihm, ohne daß er eine Persönlichkeit, und zwar der sozialen, äs-
thetischen und der religiösen Sphäre zugleich sei, das heißt über den
45
Carl Schmitt zitiert nach Ball, Künsüer (Anm 5), S 333
46
Ball, Künstler (Anm 5), S. 46.
47
Ebd. S. 128
Ansgar Hillach 263
Spätestens seit 1913 und bis zu seinem Tod hat Hugo Ball seine so
disparaten intellektuellen Aktivitäten in diaristischen Notaten, Exzerp-
ten, Gesprächsaufzeichnungen regelmäßig dokumentiert Die Tagebü
eher 1913 bis 1921 verarbeitete er in der Flucht aus der Zeit Das so
genannte 'Zweite' Tagebuch umfaßt ein vierseitiges Fragment (15. Jul
- 16. Juli 1921) sowie 13 Quarthefte unterschiedlichen Umfangs x Dit
Benennung der Hefte nach ihrem Entstehungsort, ebenso die Numerie-
rung geht nur zum Teil auf Ball zurück (Bezeichnungen in eckigei
Klammern stammen von Emmy Hennings bzw Annemarie Schutt
Hennings):
1
Das Zweite Tagebuch (ZTB) befindet sich im Hugo Ball-Nachlaiß Balls Nachlaß
befindet sich seit 1995 als Depositum im Robert Walser-Archiv. Beethovenstraße
7, Zürich)
266 Julian Schutt
Aufgrund der Numerierung läßt sich außerdem auf ein Heft für den
Zeitraum Ende 1922 bis Anfang Februar 1923 schließen, das sich indes
nicht im Nachlaß erhalten hat.
Bekanntlich hat Ball am 1 Juli 1927 für den Fall, daß er die andern-
tags bevorstehende Krebsoperation nicht überstehen würde, verfugt,
„daß aus meinem schriftlichen Nachlaß (das heißt aus gelegentl Noti-
zen, sei es in Tagebüchern oder sonst Aufzeichnungen) nichts publi-
ziert werden soll Alle derartigen nichtstilisierten und darum nichtexi-
stierenden Hefte, Blätter, Manuskriptteile müssen vernichtet werden "2
Die Rechteinhaberinnen, zunächst Emmy Hennings, später ihre Tochter
Annemarie Schutt-Hennings, haben diesen letzten Willen respektiert,
wenn glücklicherweise auch nicht strikt ausgeführt Das Gros des
Nachlasses wäre sonst verloren, darunter auch das Zweite Tagebuch,
das die Verfügung enthält Andererseits blieben die Notate 1921 bis
1927 - eben weil sie nicht bearbeitet oder, in Balls Terminologie,
„stilisiert" worden sind - der Forschung bis heute weitgehend vorent-
halten Indirekt dürfte sich das Zweite Tagebuch zwar gleichwohl in
der Literatur über Ball niedergeschlagen haben, indem die Nachlaß-
verwalterinnen verschiedentlich Informationen und Anreize daraus
weitergaben Auf anderem Wege eingebrachte Forschungsresultate
konnten so bestätigt und im einen oder anderen Fall auch Kurskorrek-
turen vorgeschlagen werden. Diese indirekte Rezeption kann freilich
die unvermittelte Einsichtnahme nicht ersetzen, und so ist es zu begrü-
ßen, daß das Tagebuch in Zukunft begründeten Forschungsvorhaben
zugänglich sein soll Gegenwärtig werden zentrale Notatesequenzen
erfaßt sowie ein Namen- und Werkregister erstellt, um den Steinbruch
möglichst bald in eine Fundgrube zu verwandeln Eine integrale Publi-
kation ist nicht vorgesehen, drängt sich auch nicht auf, da ein Gutteil
der Einträge aus reinen Bücherexzerpten, agendarischen Vermerken
sowie Gesprächsprotokollen besteht Die gedankliche und sprachliche
Intensität der Flucht aus der Zeit blitzt nur sporadisch auf, und die
Biographie des späten Hugo Ball muß bestimmt nicht neu geschrieben,
höchstens einzelne Akzente anders gesetzt werden
Dennoch finden sich im Zweiten Tagebuch originelle Denkräume,
zentrale und marginale Die nachstehenden Bemerkungen können nur
2
ZTB, Heft 13, Eintrag vom 1 Juli 1927
Balls Zweites Tagebuch 267
5
Ebd , H. 1, Eintrag vom 23 10 1922.
Balls Zweites Tagebuch 269
3 Biographische Erhellungen
6
Vgl das Nachwort und die Anmerkungen in Die Flucht aus der Zeit Hg v Bern-
hard Echte. Zürich 1992. 303-345 Der Herausgeber konnte sich verschiedentlich
auf Notate aus dem Zweiten Tagebuch stützen, um Motivation und Entstehungs-
geschichte der Flucht darzulegen
7
ZTB. H 3, Eitrag vom 24 11. 1922.
* Ebd , H 5, Eintrag vom 11.2. 1923.
9
Ebd.. H 7. Eintrag vom 6 8. 1923.
270 Julian Schutt
10
Ebd . H 7, Eintrag vom 27 7 1923
"Ebd
12
Ebd., H. 7, Eintrag vom 26 7 1923
Balls Zweites Tagebuch 271
13
Ebd , H 1, Eintrag vom 18 6 1922
14
Ebd., H. 1, Einträge vom 6 10. 1922 und 16 10 1922
272 Julian Schutt
Ferner ist die Bekanntschaft mit Carl Schmitt recht ausführlich doku-
mentiert Balls Tagebuch läßt sich entnehmen, daß er Schmitt 1919 in
München kennengelernt hat 15 1923 entsteht der Essay über Carl
Schmitts Schriften für die Zeitschrift Hochland Über Die Diktatur16
äußert Ball im Tagebuch, die juristische Behandlung von politischen
Fragen sei ihm neu Mit Vergnügen lese er die scharfsinnigen Ausfüh-
rungen dieses Gelehrten, „in dem sich ein umfassender Ideologe mit
einem glänzenden Stilisten und Historiker treffe"17 Am 16 Oktober
schickt Ball den Aufsatz ab Im darauffolgenden Jahr verbringt Schmitt
seinen Urlaub im Tessin Fast täglich kommt es zwischen dem 19 Au-
gust und 9 September zu „lebhaftem Austausch" Allmählich zeigen
sich indessen auch unüberbrückbare Differenzen Im Tagebuch lesen
wir am 1 September 1924, Schmitt rate dringend von einer Publikation
der Folgen der Reformation ab, weil ihm das Buch nicht genügend
dokumentiert zu sein scheine Noch ehe der Schmitt-Trabant Walde-
mar Gurian in diskreditierender Weise die Folgen bespricht18, stoßen
Ball seinerseits Schmitts Diktaturideen ab, sie seien exageriert und
schädlich und kämen „der preußischen Restauration und der Revan-
chepolitik zugute" Im weiteren hält Ball gegen Schmitt: „Dasselbe gilt
von seiner Detestierung der Ideen von 1789 Seine Beurteilung der
Menschenrechte ist ungerecht und unsachlich Eine Katholische Dikta-
tur wird er im heutigen Deutschland und auch im Deutschland der
nächsten Jahrzehnte vergebens erwarten und durch seine Doktrin zu-
nächst auch nicht befördern "19
Eine zentrale Frage zum Abschluß Wohin steuert Ball in seiner Iso-
lierung? Diese Frage stellt sich hinsichtlich der weiteren politischen
Entwicklung Deutschlands und der späteren Faschisierung von Intel-
lektuellen wie Schmitt, mit denen Ball in Kontakt gestanden hat Hat
15
Ebd., H. 7, Eintrag vom 22 7 1923
16
Schmitts Buch Die Diktatur Von den Anfängen des modernen Souveränitätsge-
dankens bis zum proletarischen Klassenkampf (München u. Leipzig 1921) befin-
det sich, mit Randnotizen Balls versehen, im Hugo Ball / Emmy Henmngs-Nach-
laßdepositum des Robert Walser Archivs, Zürich
17
ZTB. H 8, Eintrag vom 5. 9. 1923.
18
Vgl. Augsburger Postzeitung. Sonntagsbeilage Nr. 5 v. 30. 1 1925, S 3; vgl den
v. Ernst Teubner hg Ausstellungskatalog: Hugo Ball (1886*1986) Leben und
Werk Berlin 1986, S. 211/268 (Anhang 34).
19
ZTB, H 10, Eintrag vom 1 9 1924
Balls Zweites Tagebuch 273