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Bernd Wacker (Hrsg.

Dionysius DADA Areopagita


Hugo Ball und die Kritik der Moderne

Ferdinand Schöningh
Paderborn • München • Wien • Zürich
Umschlagabbildung:
Das am 23. 6. 1916 aufgenommene Foto zeigt Hugo Ball als „magischen Bischof" beim erstma-
ligen Vortrag seiner Lautgedichte, der „Verse ohne Worte"; es ist entnommen dem von Ernst.
Teubner herausgegebenen Ausstellungskatalog: Hugo Ball (1886 • 1986). Leben und Werk. Berlim
1986, S. 134.

96.
39452

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Dionysius DADA Areopagita: Hugo Ball und die Kritik der


Moderne / Bernd Wacker (Hrsg.). - Paderborn; München;
Wien; Zürich: Schöningh, 1996
ISBN 3-506-79505-8
NE: Wacker, Bernd [Hrsg.] f Bayerische
I Staatsbibliothek I
1 München

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem


und alterungsbeständigem Papier @ ISO 9706

© 1996 Ferdinand Schöningh, Paderborn


(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile sind urheberrechtlich geschützt. JcJede
Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schrifftli<iche
Zustimmung des Verlages nicht zulässig.

Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn

ISBN 3-506-79505-8

ifcP 5 0£
Inhalt

Einführung

Bernhard Echte
Hugo Ball - Ein sonderbarer Heiliger7
Einleitende Überlegungen zu seinem Leben

Hans Burkhard Schlichting


Anarchie und Ritual
Hugo Balls Dadaismus

Chryssoula Kambas
Ball, Bloch und Benjamin
Die Jahre bei der „Freien Zeitung"

Hans Dieter Zimmermann


Die in die Irre fuhren
Hugo Balls Kritik der deutschen Intelligenz

Kurt Flasch
Von der „Kritik der deutschen Intelligenz"
zu Dionysius Areopagita

Bernd Wacker
Ein rabiater Antisemit?
Hugo Balls Sicht des Alten Testaments und
des (deutschen) Judentums
6 Inhalt

Thomas Rüster
Hugo Balls „Byzantinisches Christentum"
und der Weimarer Katholizismus 183

Dokumentation:
Bernd Wacker
„Vor einigen Jahren kam einmal ein Professor aus Bonn.. "
Der Briefwechsel Hugo Ball / Carl Schmitt 207

Ansgar Hillach
„Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung"
Hugo Balls Normsetzung gegen die Zeitkrankheit oder:
Die Wiedergewinnung des Symbols durch den Logos 241

Julian Schutt

Balls „Zweites Tagebuch" Ein Hinweis 265

Weiterfuhrende Hinweise 275

Die Autorin / die Autoren 276


Einführung

Vielleicht vermag man einmal, wenn die Akten


geschlossen sind, meinem Bemühen um Wesen
und Widerstand einige Zustimmung nicht zu
versagen
Hugo Ball1

Am 14 September 1927, in der Nacht vor dem Fest der Kreuzerhö-


hung, war Hugo Ball im Alter von erst einundvierzig Jahren in Sant'
Abbondio bei Gentilino (Tessin) gestorben, der erst im Mai des Jahres
diagnostizierte und vergeblich operierte Magenkrebs hatte ihm keine
Chance gelassen Als er zwei Tage später auf dem kleinen Friedhof der
Gemeinde zu Grabe getragen wurde, da, so erinnerte sich sein Freund
Hermann Hesse zwei Jahre später, „da war bei stürzendem Wolken-
bruch eine sehr kleine und sonderbare Trauergesellschaft beisammen,
zu sechsen trugen wir hinter dem Sarge lange Wachskerzen daher,
denn die Bestattung war feierlich katholisch Von den sechs Kerzenträ-
gern war einer ein exkommunizierter Katholik, drei waren fanatische
Freigeister Der Geistliche, der im besten Ornat mit schmelzender
Stimme die Liturgie sang, hatte drei Tage vorher, am letzten Tag, wo
Ball noch lebte, als Jäger von Ball's Balkon, bei offner Tür drei Schritt
vom Sterbebett entfernt, einen Singvogel heruntergeschossen, daß die
Scheiben klirrten und der Sterbende einen großen Schreck hatte. So
war alles, und wir standen frierend, verlegen und recht dumm herum
mit unsrem Unglück, und überlegen war der Sache bloß der, der im
Sarg lag."2
Wenn es eine Erinnerung an Hugo Ball gibt, in der sich die Geschich-
te des Umgangs mit seinem Werk zum vorausweisenden Bild verdich-
tet hat, dann ist es diese Szene der „frierend, verlegen und recht
dumm" herumstehenden Gesellschaft jener skeptischen Freunde, Leser
1
Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit Hg v Bernhard Echte Zürich 1992, S 270. -
Statt vieler Einzelbelege verweise ich für diese Einleitung zusammenfassend auf:
Ernst Teubner (Hg ): Hugo Ball (1886*1986) Leben und Werk Ausstellungska-
talog Berlin 1986, ders : Hugo Ball Eine Bibliographie Mainz 1992.
2
Hermann Hesse: Gesammelte Briefe. Bd. 2: 1922-1935. Hg. v. Ursula u. Volker
Michels Frankfurt 1979, S 201
8 Einführung

und Interpreten des Verstorbenen, denen die Beweggründe seiner


Rückkehr zum Katholizismus stets fremd geblieben waren, die diesen
Schritt als Ausdruck unbestechlichen Wahrheitswillens zwar respektier-
ten, aber auf Balls letztem Weg, in der Liturgie der Exequien, noch
einmal erfahren mußten, wie weit man sich voneinander entfernt hatte
Doch war diese Biographie voller unerwarteter Wendungen und Neu-
orientierungen nicht nur Balls Bekannten und Freunden, sondern auch
ihm selbst stets erklärungsbedürftig erschienen Sie ist auch heute noch
geeignet, neben tiefer Bewunderung und intensiven Deutungsversuchen
ratloses Kopfschütteln hervorzurufen
Wäre da nicht die tief verwurzelte Überzeugung gewesen, alle redli-
che Wahrheitssuche führe schließlich wie von selbst zur Kirche zurück,
das ungläubige Staunen über diesen wahrhaft „komischen Heiligen"
wäre wohl auch auf katholischer Seite noch größer gewesen, als ohne-
hin zu vermuten ist In der Tat blieb Balls Werk auch nach der Rever-
sion viel zu sperrig, um sich in der zeitgenössischen Kirche auf Anhieb
Freunde schaffen können Von den Sorgen und Freuden argloser Land-
pfarrer und ihrer Schäfchen scheinbar unberührt, hatte es auch mit den
Bedürfhissen und Suchbewegungen der akademischen Theologie kaum
etwas gemein Den Interessen des sozialen und politischen Katholizis-
mus der Weimarer Republik schließlich stand es direkt ablehnend ge-
genüber, ja bestätigte auf seine Weise Erik Petersons Wort, daß die
konfessionelle Auseinandersetzung in Deutschland eigentlich nur auf
dem Gebiete der politischen Theologie noch einigermaßen realen Cha-
rakter habe 3 Auch wenn, wie nach Erscheinen des Byzantinischen
Christentums, das Lob gegenüber der Warnung vor Balls Radikalismus
überwog, war in den Rezensionen der professionellen Theologen der
leicht befremdete Ton gegenüber dem theologisierenden Laien mit der
extravaganten Vergangenheit doch nicht zu überhören Hinzu kam, daß
Balls Aufsätze im Hochland allzu schnell vergessen waren Weder sein
Bemühen um eine offenbarungstheologisch begründete Sprach-, Bild-
und Symboltheorie noch seine Überlegungen zur theologischen „Auf-
hebung" der Psychoanalyse, weder seine Versuche einer Beschreibung
und Deutung des gegenwärtigen Zeitalters noch seine Überlegungen
zur Rolle des Künstlers haben das Interesse der Fachtheologie oder der

3
Erik Peterson: Bnefwechsel mit Adolf von Harnack und ein Epilog (1932), in
ders : Theologische Traktate München 1951, S 295-321. 321 Anm 19
Einführung 9

katholischen Intelligentsia der Zeit dauerhaft auf sich ziehen können


Selbst die gründliche Auseinandersetzung mit der politischen Theologie
Carl Schmitts konnte nicht verhindern, daß Balls Werk auch unter Ka-
tholiken lange Jahre bestenfalls als 'Geheimtip' gehandelt wurde
Auch Balls Lebensweg selbst blieb in Theologie und Kirche weithin
unbeachtet So als wäre die Konversion eines Intellektuellen solchen
Zuschnitts einfachhin selbstverständlich, so auch als sei mit diesem
Schritt nicht größeres gemeint und anderes erhofft gewesen als die real
existierende 'societas perfecta' neuscholastisch-römischer Provenienz
in deutscher Ausführung, hielt die erste Auflage des Lexikons für Theo-
logie und Kirche 1930 unter seinem Namen fest: „Katholischer Schrift-
steller, repräsentiert [...] die Moderne, die den Weg des Asthetizismus
und der Anarchie zu Ende geht, unter den Erschütterungen des Kriegs
den Kirchenglauben wiederfindet und ihn in einer radikalen, antilibera-
len Haltung vertritt "4 „Ernstes Suchen und rücksichtslosen Wahrheits-
drang" bescheinigte ihm auch der entsprechende Artikel in der zweiten
Auflage des renommierten Nachschlagewerkes, der 1957 erschien und
ganz den Interpretationsvorgaben verpflichtet war, wie sie vor allem in
den Erinnerungsbüchern seiner Frau Emmy Ball-Hennings (1885-1948)
zum Ausdruck gekommen waren Ganz in der Tradition frommer Kon-
versionsliteratur nämlich hatte sie Leben und Werk ihres Mannes als
„Weg zu Gott" ausgelegt, ihre Unzufriedenheit mit Balls antiprotestan-
tischer Polemik dabei aber keineswegs verschwiegen. Die Bedeutung
seiner politisch-theologischen Kritik und seine Ansprüche an ein wirk-
lich „katholisches Deutschland" allerdings kamen in dieser biographisch
orientierter Darstellung kaum adäquat zur Sprache Dieser Umstand
dürfte nicht unerheblich dazu beigetragen haben, daß die Wiederent-
deckung Balls in den späten 60er Jahren mit seiner katholischen Spät-
zeit und ihrem so überspannt wirkenden Mystizismus kaum etwas an-
zufangen wußte
Es waren die zu Ende der Ära Adenauer aufbrechenden Fragen nach
Kontinuität bzw Diskontinuität der deutschen (Unheils-)Geschichte,
die Suche nach signifikant 'anderen' Traditionen und das damit einher-
gehende Interesse am Anarchismus und seinen vielfältigen Ausdrucks-
formen nicht zuletzt im Dadaismus, denen es zu verdanken ist, daß der
Name Hugo Ball einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und nun auch

4
Friedrich Fuchs: Art Ball, Hugo, in: LThK Bd 1 Freiburg 1930, Sp. 932f, 932.
10 Einführung

Gegenstand ernsthafter wissenschaftlicher Forschung, zunächst und vor


allem in der Germanistik, wurde Sein Weg von Bakunin zu Dionysius
Areopagita, von der Kritik der deutschen Intellektuellen zur Affirmati-
on der katholischen Hierarchie, von den 'Performances' in der Züricher
Spiegelgasse zum feierlichen Hochamt in Sant' Pietro, von der Nach-
barschaft mit Lenin zur Bekanntschaft mit Carl Schmitt schien jetzt nur
noch als eher peinliche biographische Marginalie erwähnenswert
Mochte Ball auch, wie die Kenner wußten, das Wort Dada im Rück-
blick auf seine „mystische Geburt" einmal als die verschlüsselten Initia-
len des Dionysius Areopagita, eben als „DA. - DA" gedeutet5 und
damit eindringlich auf der Einheit seines Werkes bestanden haben, sei-
ne 'postdadaistischen' und hier insbesondere seine katholischen Arbei-
ten blieben, von Ausnahmen abgesehen, für die wissenschaftliche Be-
fassung lange out of bounds Ideologiekritisch inspirierte Auseinander-
setzungen dienten darum bestenfalls dazu, den Balischen Catholica
verdächtige Affinitäten zu faschistischem Gedankengut nachzusagen
Seit der Gründung der Hugo-Ball-Sammlung in der Stadtbücherei
Pirmasens im Jahre 1970 und des hier seit 1977 in jährlicher Folge er-
scheinenden Hugo Ball Almanachs allerdings hat die Ball-Forschung
kräftige neue Impulse erhalten, zumal jetzt auch die wichtigsten Schrif-
ten Balls - darunter Byzantinisches Christentum, Die Flucht aus der
Zeit sowie grundlegende Aufsätze aus dem Hochland - in preiswerten
Neudrucken wieder im Buchhandel zu haben waren Doch die philoso-
phisch und theologisch informierte Auseinandersetzung mit Balls Spät-
schriften ist bis heute auch im Almanach immer noch deutlich unterre-
präsentiert, bestätigt damit aber nur den Befund, daß ungeachtet aller
'literaturtheologischen' Bemühungen der letzten Jahre der "Laientheo-
loge"6 Ball auch in der Theologie mehr oder weniger unbekannt geblie-
ben ist

Vor diesem Hintergrund lud die Katholische Akademie Rabanus Mau-


rus der Bistümer Fulda, Limburg und Mainz im Herbst 1994 zu einer
auch für ein breiteres Publikum zugänglichen interdisziplinären Tagung
nach Wiesbaden-Naurod Die Veranstaltung spannte den Bogen Von
Dada zur Kirche und sollte gerade auf diese Weise dazu beitragen, der

5
Hugo Ball: Flucht (Anm. 1), S. 296 (18 Juni 1921)
6
Gerhard Schaub: Art Ball, Hugo, in: 3LThK, Bd. 1, Sp 1373
Einführung U

Beschäftigung mit Balls letztem Lebensjahrzehnt neue Impulse zu ge-


ben, und zwar, ohne die Bücher und Aufsätze jener Jahre wiederum als
katholisch-weltanschauliche Domäne in theologische Alleinverwaltung
zu nehmen In der Überzeugung, daß die „verlegene" und letztlich
„dumme" Unterscheidung von 'lebensabschnittsorientierten' Zustän-
digkeitsbereichen - Dada für die Literaturwissenschaft, der politische
Journalismus für Historiker und Politologen, Dionysios Areopagita für
Philosophie und Kirche und nur die späte Hesse-Biographie ein wenig
für alle - weder den Intentionen Balls noch dem besseren Verständnis
seines Werkes und Lebens gerecht werden dürfte, diskutierten in Wies-
baden vom 16 bis 18 September 1994 Philosophen, Germanisten,
Politologen und Theologen über Hugo Ball und die Kritik der Moder-
ne, jenes Thema mithin, das sich seit den Tagen des Cabaret Voltaire in
Balls unablässiger Suche nach adäquaten Formen des „Wesens" und
des „Widerstandes" gegen die Zeit durchgehalten hatte Ob und wie
sich Balls Bemühen um solches „Wesen" reformulieren ließe, ist heute
auch theologisch durchaus nicht ausgemacht, provokativ bleibt Balls in
größter materieller Armut gelebte Behauptung, ohne „Wesen" sei Wi-
derstand unmöglich
Die auf der Tagung vorgetragenen Referate bilden den Grundstock
des vorliegenden Bandes, sie wurden für die Veröffentlichung noch
einmal überarbeitet und durch die Beiträge von Hillach, Schutt und
Wacker sowie um die Dokumentation des hier erstmals veröffentlichten
Briefwechsels Hugo Ball / Carl Schmitt ergänzt Das Buch hätte sein
Ziel erreicht, wenn es nicht nur als Einladung zu einer ersten oder neu-
erlichen Ball-Lektüre verstanden, sondern darüberhinaus als Annähe-
rung an die - nicht erst seit mancherlei anschwellenden Bocksgesängen
der letzten Jahre - aktuelle Frage verstanden würde, was es denn mit
Kunst und Literatur, mit Religion und Kirche, mit Askese und „Selbst-
abschließung", genauer mit deren bei Ball behauptetem Zusammen-
hang und dessen Widerstandspotential gegen die „Zeitkrankheit" unse-
rer Tage näherhin auf sich habe Daß dabei auch Balls Charakterisie-
rung der Moderne nicht unbesehen vorauszusetzen ist, bedarf keiner
Erwähnung
Die Geschichte der spezifisch modernen Re- bzw Konversionen, wie
sie seit den Tagen Friedrich Schlegels, Clemens Brentanos oder Joseph
Görres' immer wieder begegnen und die „irreligiösen Gefühle" (B
Brecht) aufgeklärter Zeitgenossen in Wallung bringen, ist noch nicht-
12 Einführung

geschrieben Was, so wäre ungeachtet aller individuell und soziokultu-


rell divergierenden Motive hier zu fragen, ist es denn eigentlich, was an
diesem Katholizismus interessiert, zu dem man sich bekehrt? „Handelt
es sich hier um die [...] typische, psychologisch, soziologisch, histo-
risch, philosophisch erklärbare Suche der Individuen und der sozialen
Gruppen nach einer Weltdeutung und Ordnungsmacht, die die bewußt
gewordenen Probleme der Dialektik der abstrakten Aufklärung mehr
verdeckt als löst? Oder geht es um fundamentale Probleme der Moder-
ne, die auch heute noch ungelöst sind?"7
Das Werk Balls macht die Antwort auf solche Fragen nicht leicht
Vor allem die theologisch-politischen Ordnungsvorstellungen seiner
letzten Jahre und damit sein Verhältnis zu Staat und Gesellschaft der
Weimarer Republik sind allenfalls in Umrissen zu erkennen Sollte dies
Fragmentarische nicht auch damit zu tun haben, daß, anders als man in
(un-)frommer Voreiligkeit gesagt hat, sein Leben im September '27
eben nicht „auch im letzten geistigen Sinn vollendet war", daß er viel-
mehr wiederum erst am Anfang gestanden hatte, als ihn die Freunde
„frierend, verlegen und recht dumm" zu Grabe trugen?

Herrn Ernst Teubner, dem Leiter der Hugo-Ball-Sammlung in Pirma-


sens, sowie Herrn Hans Burkhard Schlichting, Baden-Baden, bin ich
für viele Hinweise sowie die Überlassung einschlägiger Materialien
schon bei der Vorbereitung der Tagung, erst recht aber während der
Redaktion des vorliegenden Bandes zu großem Dank verpflichtet
Die Sorgfalt, Geduld und Übersicht von Frau Carina Hentrich, Sekre-
tärin an der Katholischen Akademie in Wiesbaden, haben mir bei der
Vorbereitung dieses Buches sehr geholfen
Meiner Tochter Ruth danke ich für ihre „Lesehilfen", meiner Frau
Marie-Theres für viele intensive Gespräche, in denen neben Hugo bis-
weilen auch Emmy Ball-Hennings zum Thema wurde Daß sie auf den
folgenden Seiten viel zu kurz kommt, sei wenigstens angemerkt

Wiesbaden-Naurod / Hünfelden, im Frühjahr 1996

Bernd Wacker

Willi Oelmüller, in: Anton Rauscher (Hg ): Deutscher Katholizismus und Revo-
lution im frühen 19 Jahrhundert München/Paderborn/ Wien 1975, S 114
Bernhard Echte

Hugo Ball - Ein sonderbarer Heiliger?


Einleitende Überlegungen zu seinem Leben und Werk

Hugo Ball hat:


eine philologisch-philosophische Dissertation verfaßt, Theaterstücke
geschrieben (zudem war er Schauspieler und führte Regie), Gedichte
publiziert, mit einem Manifest eine neue Kunstrichtung begründet,
einen konventionell erzählenden Roman veröffentlicht, einen experi-
mentell-phantastischen dagegen in der Schublade liegen lassen, als po-
litischer Journalist gearbeitet, mit einem geistesgeschichtlichen Pam-
phlet Kontroversen ausgelöst, Religionshistoriker durch eine eigenwil-
lige Monographie irritiert, sein Tagebuch (das gar keines war) heraus-
gegeben, die erste Biographie eines mit ihm befreundeten Autors ge-
schrieben
Es scheint, Hugo Ball habe den gesamten Parcours der literarischen
Gattungen absolviert, wobei er, nachdem er sich zu Beginn seiner
Laufbahn dreimal in der dramatischen Form versucht hatte, sich danach
auf je ein Werk pro Gattung beschränkte War er ein Dilettant - ein
„landflüchtiger" zudem1 -, einer, der von einer Form zur nächsten
sprang, weil er keine einzige wirklich beherrschte? Oder war er ein
Geist in der Art Lessings, der in jeder Gattung ein gültiges Exempel
schaffen wollte? Wendet man sich zur Beantwortung dieser Frage den
Geisteshaltungen zu, die sich in Balls Werken artikulieren, so wird die
Sache noch verwirrender. Er war nacheinander:
dissertierender Nietzsche-Adept, unpolitischer Boheme-Literat, erklär-
ter Expressionist, besessener Kriegsfreiwilliger (den man nicht nahm
...), internationalistischer Anarchist und Kriegsgegner, Dadaist, repu-
blikanischer Demokrat, gnostisch orientierter Mystiker und bekennen-
der Katholik
Das Spektrum ist, wie man wird zugeben müssen, erstaunlich breit
und vereinigt weltanschauliche Extreme, die - so scheint es - sich ge-

1
Hugo Ball Die Flucht aus der Zeit Hg. v Bernhard Echte Zünch 1992, S. 220
14 Ein sonderbarer Heiliger?

genseitig ausschließen Dementsprechend kontrovers haben die Zeitge-


nossen auf Hugo Ball reagiert, angefangen beispielsweise bei Franz
Pfemfert, dem Herausgeber der radikalen antimilitaristischen Zeitschrift
Die Aktion, der zunächst einige Ball-Gedichte publiziert hatte, dann
aber sich veranlaßt sah, in seiner redaktionellen Spalte folgende Be-
merkung einzurücken „Ich bin genötigt festzustellen: Die Aktion hat
mit dem Herrn Schriftsteller Hugo Ball nichts zu tun, keine Ge-
meinschaft, und der Herr Schriftsteller hat nicht die Güte zu haben, sich
als Mitarbeiter der Aktion zu bezeichnen " 2 Ahnliches wiederholte sich
knapp zehn Jahre später, als sich nationalkonservative Kreise die Bun-
desgenossenschaft Balls geradezu haßerfüllt verbaten So schrieb die
evangelische Theologische Literaturzeitung im Jahre 1925 „Was wir
seit Jahren an Beschimpfungen des deutschen Namens und Staates von
Ausländern zu hören gewohnt sind, wiederholt hier ein Deutscher, der
[...] während des Krieges den deutschen Boden gemieden hat" 3 Bei
gleicher Gelegenheit erhob ein Schüler Carl Schmitts, zu dessen kriti-
schen Bewunderern Hugo Ball zählte, gar den Vorwurf des „man-
gelhaften Verantwortungsgefühls", wobei Ball sicher mit ihm in der
Auffassung einig ging, daß dergleichen der „schwerste" Vorwurf sei,
„den man gegen einen Menschen erheben kann."4
Gab es also einerseits nicht wenige, die Ball mangelnde Integrität
vorwarfen, ihn der Doppelgesichtigkeit bezichtigten, so hatte er ande-
rerseits auch Freunde und Anhänger, die an der Außergewöhnlichkeit
seines Charakters und seiner Intellektualität keinen Zweifel aufkommen
ließen „Das war ein Mensch von einer Sauberkeit, wie sie wohl alle
hundert Jahre nur einmal vorkommt"5, schrieb Friedrich Glauser und
fugte an anderer Stelle hinzu: „Ball war einer jener seltenen Menschen,
denen Eitelkeit und Pose vollkommen fremd sind Er stellte nichts vor,

2
Franz Pfemfert: Kleiner Briefkasten, in Die Aktion 6 (1916). Nr 7/8 v 19. 2.
1916. S 104
3
Paul Althaus: Hugo Ball „Die Folgen der Reformation"; in: Theologische Litera-
turzeitung 50 (1925), Nr 6 (21 März), Sp. 136; zitiert nach: Ernst Teubner
(Hg.): Hugo Ball (1886-1986) Leben und Werk Berlin 1986, S 268 f
4
Waldemar Gurian: „Die Folgen der Reformation"; in: Augsburger Postzeitung v
30 1 1025 (Nr. 5); ziüert nach: Teubner (Anm. 3).), S. 268.
5
Fnednch Glauser: Bnefe Bd 2 (1935-1938) Zünch 1991, S. 105.
Bernhard Echte 15

er war " 6 Ahnlich urteilte auch Richard Huelsenbeck: „Die ungeheure,


fast erbitterte Ehrlichkeit, mit der Ball um seine Wahrheiten kämpfte,
stellte ihn hoch über zahlreiche meiner literarischen Bekannten, die mit
einer bequem übernommenen Gesinnung in der Hand auf ein wohl-
habendes Leben zusteuerten " 7
Bei genauerem Hinsehen ist jedoch auch eine leise Irritation in diesen
Zeilen zu verspüren - „seine Wahrheiten", sagt Huelsenbeck Die Vor-
behalte, die in diesem einschränkenden Pronomen zum Ausdruck kom-
men, hat er denn auch an anderer Stelle präzisiert: „Ich halte es für ein
Unglück", schrieb er, „daß Ball in die religiöse Mystik hineingeriet " 8
„Ich habe diese Kirchenfrömmigkeit stets abgelehnt, ich verstehe sie
nicht " 9 Und so verfiel Huelsenbeck alsbald aufs Psychologisieren, in-
dem er platterdings meinte, Emmy Hennings sei es gewesen, die Ball
zu jener religiösen Wendung verleitet habe
Mit einer solch einfachen Erklärung wird sich heute wohl niemand
mehr ernsthaft zufrieden geben, und so möchte ich hier den ebenso ver-
messenen wie eingestandenermaßen skizzenhaften Versuch unterneh-
men, einige innere Verbindungslinien in Balls scheinbar so sprunghafter
und widersprüchlicher Entwicklung aufzuzeigen Denn wenn eines ihm
am Herzen lag, so war es dies Seine ,J£inheit zu zeigen, wie er in
einer Notiz vom 23 Oktober 1922 schrieb 10

Einheit - dieses Wort und Ziel prägte schon eine von Balls frühesten
Schriften seine nicht abgeschlossene Dissertation Nietzsche in Basel
aus dem Jahre 1910 Der Beweggrund von Nietzsches philologischen
Bemühungen sei, so Ball, gewesen „Die Kultur als die Einheit aller

6
Fnednch Glauser: Dada, in ders Der alte Zauberer Das erzählerische Werk Bd
II: 1930-1933 Zürch 1992, S. 74
7
Richard Huelsenbeck: Zünch 1916, wie es wirklich war, in: Paul Raabe (Hg.):
Expressionismus Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen Ölten/
Freiburg 1965, S 178.
8
Huelsenbeck, Zünch (Anm 7). S 179
9
Huelsenbeck: Zünch (Anm.7), S. 178
10
Zitiert nach Ball, Flucht (Anm. 1), S. 306.
16 Ein sonderbarer Heiliger?

künstlerischen und wissenschaftlichen Bestrebungen"11 wiederzuge-


winnen, oder, wie es in einem angeführten Nietzsche-Zitat heißt: „Die
Kultur eines Volkes offenbart sich in der einheitlichen Bändigung der
Triebe dieses Volkes " 12 Unserem heutigen Pluralitätsverständnis dürf-
te dies eher suspekt erscheinen, zumal Nietzsche jene Einheitlichkeit
ausgerechnet im feudal-autoritären Deutschland vermißte Nietzsches
vernichtende Kritik an den deutschen Zuständen ist bekannt und wird
von Ball schon in seiner Dissertation in gewissem Sinn geteilt, findet
ihre eigentliche Resonanz jedoch erst acht Jahre später in der Kritik der
deutschen Intelligenz Die geistesgeschichtliche Argumentationslinie,
die Ball dort verfolgt, ist indes bereits in der Dissertation vorgezeich-
net Schon hier wird Nietzsches Ansicht hervorgehoben, wonach die
Einheit der Kultur im wesentlichen durch fünf Faktoren zerstört wor-
den sei
- die sokratische Dialektik, welche von Nietzsche als Dekadenzer-
scheinung gedeutet wird, d h als erster Sieg des Kritischen über das
Affirmative,
- die christliche Moral mit ihrer Dichotomie in Gut und Böse anstelle
des hellenistischen Begriffspaares Gut und Schlecht,
- die „Ressentiment-Bewegung, welche man Reformation nennt"13, d.
h den Aufstand subjektiver Gewissensinnerlichkeit gegen die Hierar-
chie einer einheitlich gefaßten kirchlichen Kultur,
- die Transzendentalphilosophie Kants, die das höchste Gut, d h Gott,
nur noch als Postulat des sich selbst reflektierenden Denkens annehme,
- schließlich durch den „vorlauten, oberflächlichen, ahnungslosen Opti-
mismus den dunklen, unberechenbaren, explosiven Natur- und Kunst-
mächten gegenüber"14, d h. durch die naive Idyllik Rousseaus.
Diese fünf Faktoren hätten die Einheit der Kultur untergraben bzw
das Bewußtsein von Qualität, Autorität und Hierarchie so verflacht,
daß von einer Kultur, die Nietzsche ausschließlich als ästhetische
dachte, nicht mehr im eigentlichen Sinne die Rede sein könne.
11
Hugo Ball: Nietzsche in Basel; in ders Der Künstler und die Zeitkrankheit
Ausgewählte Schriften, hg von Hans Burkhard Schlichüng Frankfurt/Main
1984, S 66.
12
Ebd S 79; Ball ziüert hier aus Friedrich Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtun-
gen Erstes Stück: David Strauß.
13
Ebd S 94.
14
Ebd. S 73.
Bernhard Echte 17

Wer Balls ab 1917 entstandene Schriften kennt, wird die Parallelität


der Fragestellungen und Thesen kaum übersehen Doch ist zunächst
festzuhalten: Ball schließt seine Arbeit über Nietzsche nicht ab und
reicht sie dementsprechend auch nicht, wie er anscheinend beabsichtigt
hatte, in Heidelberg zur Promotion ein Im Frühjahr 1910 bricht er sein
Studium vielmehr ab - er war seit Wintersemester 1907 in Heidelberg
für Germanistik, Geschichte und Philosophie immatrikuliert - und geht
nach Berlin, um sich an der Schauspielschule des Deutschen Theaters
zum Mimen auszubilden Statt Doktor der Philosophie will Ball also
plötzlich Schauspieler werden Läßt sich dies irgendwie schlüssig erklä-
ren, oder handelt es sich hierbei um einen jener Brüche und unvor-
hersehbaren Kehrtwendungen, die seinen Lebenslauf zu charakterisie-
ren scheinen? Oder, genauer gefragt, hat Nietzsche irgend etwas mit
der Schauspielerei zu tun?
Er hat. In welchem Sinne dies der Fall ist, kann man dem Titel eines
Buches von Peter Sloterdijk entnehmen, welches heißt: Der Denker
auf der Bühne. Nietzsches Materialismus15 Ohne den Inhalt des
Sloterdijk'schen Buches hier referieren zu können, möchte ich mich mit
folgenden kurzen Hinweisen begnügen Nietzsche bezeichnet sich
selbst als Verführer oder Versucher-Philosoph und deutet damit an,
daß seine Philosophie untrennbar mit seiner Person verknüpft ist, in-
dem diese jene verbürgt und umgekehrt Nietzsches Philosophie kann,
wie Ball gleich zu Beginn seiner Dissertation hervorhob, nicht auf dem
Papier bestätigt oder widerlegt werden16, sondern sie ist gewisser-
maßen eine Lebensform, etwas, das nur in actu das ist, was es ist
Schon Nietzsches rhetorisch-polemischer Schreibstil führt dies sinn-
fällig vor Dies ist eine Sprache die handelt, die agiert, genauer: Dies ist
eine Philosophie, die durch ihren Autor erwiesen wird, der sie verkör-
pert und darstellt - den Denker auf der Bühne Implicite handelt es sich
um eine Geburt der Wahrheit aus dem Geist des Theaters, welches die
Dichotomie von Theorie und Praxis im Spiel aufhebt
Es hat also durchaus seine Konsequenz, wenn Ball diesen Weg eben-
falls praktisch zu gehen versuchte und sich, ohne die Nietzsche-Arbeit
vollendet zu haben, der Schauspielerei und Regie zuwandte Er tat

15
Peter Sloterdijk Der Denker auf der Bühne Nietzsches Matenalismus Frank-
furt/Main 1986
16
Vgl Ball. Nietzsche (Anm. 11), S. 71
18 Ein sonderbarer Heiliger?

dies, wie man weiß, nach seiner Berliner Lehrzeit zunächst in Plauen
am dortigen Stadttheater (Spielzeit 1911/12) und wechselte im Juli
1912 an das „Münchner Lustspielhaus", welches sich in der Saison
1911/12 unter der Leitung von Eugen Robert zu einem Forum der
modernen Dramatik und zur künstlerisch bedeutendsten Bühne Mün-
chens entwickelt hatte Ab 1 Oktober 1912 zeichnete Hugo Ball als
alleiniger Dramaturg des Hauses verantwortlich, für das er zudem
einen neuen Namen fand „Münchner Kammerspiele" Zum Auftakt der
Spielzeit brachte er Leonid Andrejews Das Leben des Menschen auf
die Bühne, mit seinem Freund Hans Leybold veranstaltete er eine
Gerhart Hauptmann-Matinee, an der das Helios-Fragment aufgeführt
wurde, den Höhepunkt bildete die Uraufführung von Wedekinds Stück
Franziska
Dieses Ereignis fand eineinhalb Jahre später seinen Niederschlag in
einem Aufsatz, den Ball anläßlich von Wedekinds 50 Geburtstag ver-
öffentlichte und der den Titel Wedekind als Schauspieler trug Dieser
Text verdient in vorliegendem Zusammenhang Interesse, denn Ball
erkennt in Wedekind einen jener Männer, bei denen Text und Person
sich wechselseitig verbürgen, und zwar in eben jener Weise, in der dies
bei Nietzsche und seiner Philosophie intendiert war „Als Wedekind auf
die Bretter trat Donnerwetter!" schreibt Ball „Die andern sahen neben
ihm aus wie ein Kegelspiel, das im Umfallen ist Sie waren einfach nicht
mehr da Es gab uns einen Riß wir fühlten Voilä! Das ist er! Seine
Stücke waren bewiesen Hatten auf einmal Existenz Zwielebigkeit
zwischen Dichter und Werk ward - Einheit"17 Da haben wir das Wort
wieder.
In diesem Sinn also war es gemeint, wenn Ball zu Beginn seines
Wedekind-Aufsatzes schrieb: „Es wird die Zeit kommen, wo es zur
Bildung gehört, auch Schauspieler sein zu können [...] Ein Mann von
Körper und Geist wird sich nicht mehr blamieren dürfen, wenn man ihn
fragt, wo er zuletzt aufgetreten ist."18 Und „Wir kommen uns Schau-
spieler ansehen wie Sokrates zu Herodot kommt Neugierig Nicht auf

17
Hugo Ball Wedekind als Schauspieler; in ders Künstler (Anm 11). S 15 (Her-
vorhebung von B.E).
18
Ebd. S 15
Bernhard Echte 19

das Stück Sondern auf den Kerl, sondern auf das Weib - oder
Weibchen"19
In Umkehrung dessen, was früher die Kunst des Schauspielers aus-
machte, galt Ball die Verwandlungskunst demnach nur noch wenig
„Ein Achselzucken bei seiner Verwandlungskunst" , schloß er den Auf-
satz Das Psychologietheater, der zur gleichen Zeit wie der Wedekind-
Essay erschien 20 Denn eben sie, die Psychologie, war es, die Ball
überwinden wollte, gerade auch auf der Bühne Im Theater der Ver-
wandlungskunst war sie es gewesen, die über die Qualität des Schau-
spielers entschied: „Der vollendete Psychologe", schreibt Ball unter
dem Datum des 26 10 1915 in der Flucht aus der Zeit - „der vollen-
dete Psychologe vermag mit ein und demselben Thema, je nachdem er
den Akzent verteilt, zu erschrecken oder zu beruhigen Je größer der
Psychologe, desto geringfügiger die ausschlaggebende Nuance."21 Dies
gilt, wie man wird einräumen müssen, auch für den Schauspieler im
Theater der Verwandlungskunst „Ich erkannte dies schon früh", no-
tiert Ball in der gleichen Eintragung, „Wenn ich als Kind irgendein
Erlebnis erzählte, wußte ich im voraus den Eindruck, den ich in diesem
oder jenem Falle erzielen würde Mitleid, Staunen, Neugier oder Ab-
scheu, ja nachdem Ich spielte mit großem Vergnügen dies Instrument
Das Resultat aber war merkwürdigerweise, daß mir mein Publikum
verächtlich wurde " 22 Verächtlich wurde Ball dementsprechend auch
ein Theater, das auf die billige Verführbarkeit des Publikums baute Ein
solches „Psychologietheater" war - wie die Psychologie selbst, die ihm
zugrunde lag - „plebejisch, pedantisch und unvornehm" 23 Was wun-
der, wenn alle mittlerweile Schauspieler in jenem sophistischem Sinne
waren: „Allesamt sind wir (geistig) Schauspieler geworden", so Ball in
seinem Wedekind-Aufsatz, „Wir haben's selbst, wir suchen's nicht
mehr auf der Bühne " 24
Was aber wollte Ball gegen das Theater der Verwandlungskunst,
gegen das Psychologietheater gesetzt wissen0 Seine programmatische

19
Ebd
20
Hugo Ball: Das Psychologietheater, in: Künstler (Anm 11), S. 20
21
Ball. Flucht (Anm 1), S. 58
22
Ebd.
23
Ball, Psychologietheater, in: Künstler (Anm 11), S. 19
24
Ball. Wedekind, in Künstler (Anm 11), S 15
20 Ein sonderbarer Heiliger?

Antwort aus dem Jahr 1914: „Wir stellen als Gegenideal, zwecks Über-
windung, den Expressionismus auf, der gar kein Objekt mehr kennen
will, der mit wahnsinniger Wollust die eigene Persönlichkeit wieder-
findet und deren Diktatur ausruft in hintergründigster Selbst-
schöpfüng " 25 Liest man dieses Programm mit kritischer Aufmerk-
samkeit, so wird einem die merkwürdige Ambivalenz darin nicht ver-
borgen bleiben ekstatische Proklamation des Ich ohne Bezug zur Welt
Wer dergleichen im Jahre 1914 schrieb, mußte ein Ahnungsloser oder
ein Nihilist sein Ball war wohl letzteres, denn im gleichen Aufsatz
steht der ahnungsvolle Satz „Bombenwerfen wird demnächst moder-
ner sein" 26 Destruktion und Anarchie im zwischenstaatlichen und
binnengesellschaftlichen Bereich ließen denn auch nicht lange auf sich
warten Ball selbst sah sich vom Nihilismus soweit infiziert, daß er
seiner Schwester schrieb: „Der Krieg ist noch das einzige, was mich
reizt Schade, auch das wird nur eine halbe Sache sein " 27
Wie immer bei Ball war dies ernst gemeint, und so reiste er, nachdem
man ihn bei Ausbruch des Weltkrieges als Freiwilligen nicht hatte
nehmen wollen, auf eigene Faust nach Lothringen an die Front Was er
dort sah, war nun aber kein Theater mehr, sondern Realität, grausam-
ste, brutalste Realität, organisierte Zerstörung und Menschenschlachte-
rei. „Man möchte doch gerne verstehen, begreifen", notierte er nach
seiner Rückkehr „Was jetzt losgebrochen ist, das ist die gesamte Ma-
schinerie und der Teufel selber Die Ideale sind nur aufgesteckte
Etikettchen Bis in die letzte Grundfeste ist alles ins Wanken ge-
raten."28
Die kurze Kriegserfahrung hat Ball weitgehend kuriert Über die
Phrasenhaftigkeit und Verlogenheit von patriotischem Pathos war er
nun im Bilde Im Herbst 1914 zog er nach Berlin und verkehrte dort in
antimilitaristischen Kreisen Außerdem begann er, die Schriften der
russischen Anarchisten zu studieren Der Gedanke, der diese Lektüre
veranlaßte, war relativ einfach, dieser Krieg, so war sich Ball nun
sicher, stellte etwas weltgeschichtlich Neues dar: Dies war der erste
industriell geführte Krieg, ein maschinelles Gemetzel, das alles bisher

25
Ball, Psychologietheater, in: Künsüer (Anm 11), S. 20.
26
Ball, Wedekind , in: Künsüer (Anm 11), S. 15
27
Hugo Ball: Bnefe 1911-1927 Einsiedeln/Zünch/Köln 1957, S. 35
28
Ball, Flucht (Anm 1), S 21
Bernhard Echte 21

Dagewesene um Größenordnungen übertraf und jegliche Vorstellung


sprengte Wenn ein Staat eine solche Schlachterei bewußt entfesselte
und zu einem solchen Maß an Verlogenheiten fähig war, wie sie die
patriotische Propaganda täglich produzierte, dann mochte in der
Staatlichkeit selbst ein Grund dafür vorhanden sein Gleichzeitig aber
war daraus zu schlußfolgern, daß wirkliche Opposition nur durch die
Sprengung eines solchen Systems zu betreiben war
Dazu aber fehlte jegliche reale Basis Vielmehr mußte Ball zu seinem
materiellen Überleben in der Redaktion einer Illustrierten, der Zeit im
Bild, arbeiten, was unter anderem mit sich brachte, Kriegsphotos mit
euphemistischen Bildlegenden zu versehen Die Schizophrenie war
perfekt
Was aber bedeutete dies für die Literatur? Welche Schlußfolgerung
war aus einem Zustande zu ziehen, in dem die politischen und
materiellen Zwänge eine totale Korruption der Sprache bewirkten? Wie
war einer Lage zu begegnen, in der der Glaube an die Wirksamkeit von
Kritik und Argumentation nur noch Treuherzigkeit und Naivität be-
wies9 Die Antwort gab Ball in einem Manifest, das er am 12 Februar
1915 anläßlich einer „Gedächtnisfeier für gefallene Dichter" zusammen
mit Richard Huelsenbeck veröffentlichte Darin hieß es: „Wir wollen
[...] wirr, ohne Zusammenhang, Draufgänger und Negationisten sein
[...] Wir werden immer 'gegen' sein [...] Wir gehen los gegen alle
'Ismen', Parteien und Anschauungen"29 Die Zerstörung jeglichen
Sinns war nicht ihrerseits sinnvoll darzustellen, sondern nur durch
direkte Wiedergabe des Widersinns, durch totale Sinnverweigerung.
Die ästhetische Anarchie, so mochte es Ball scheinen, konnte einem
zumindest niemand verwehren. Was später den Namen Dada erhalten
sollte, war hier in mancher Hinsicht schon vorweggenommen
In diese Zeit platzte jedoch ein Ereignis, das sich Ball ein dreiviertel
Jahr zuvor noch herbeigesehnt hatte, das ihn jetzt aber in gegenteiligem
Sinn zum Handeln zwang Er erhielt seinen Gestellungsbefehl30 Ball
emigrierte daraufhin unter falschem Namen nach Zürich, was dort zwar
bald aufflog und ihm eine Gefängnisstrafe eintrug - dem Kriege aller-

' Hugo Ball u Richard Huelsenbeck Ein literarisches Manifest; zitiert nach Teub-
ner (Anm 3), S. 116
1
Original im Nachlaß Hugo Balls (Depositum im Archiv der Carl Seelig-Stif-
tung/Robert Walser-Archiv, Zürich).
22 Ein sonderbarer Heiliger?

dings war er entkommen Zudem war die Schweiz insofern ein freies,
d.h. zensurfreies Land, als hier z B. der anarchistische Zürcher Arbei-
terarzt Fritz Brupbacher in aller Öffentlichkeit seine Schulungsabende
abhalten konnte Arbeiter und intellektuelle Emigranten trafen sich im
„Weißen Schwänli" am Zürcher Predigerplatz und diskutierten dort
über ziemlich alles: über deutsche Klassiker ebenso wie über Streik-
strategien und anarchistische Literatur Eine Zeitlang scheint Ball die
prinzipiell antiinstitutionellen Grundsätze dieses Kreises und des
Anarchismus geteilt zu haben Für Brupbachers Zeitschrift Der Revo-
luzzer verfaßte er einen Essay, in welchem er Bakunin und - einmal
mehr - Nietzsche als die einzig zählenden Denker der letzten fünf
Jahrzehnte bezeichnete Er kritisierte darin auch die „Richtung auf das
Ästhetisierende, Formale, Dekorative", die die jüngere deutsche Li-
teratur beherrsche31 Statt dieser aus französischen Einflüssen stam-
menden Tendenz propagierte er eine radikal politisierte Literatur, die
sich im besonderen an den Entwicklungen in Rußland zu orientieren
hätte Auch begann Ball damals mit ersten Studien zu einem Bakunin-
Brevier, das er 1918 schließlich fertigstellte, ohne daß es bis heute
gedruckt wäre
Über die Mitglieder des Brupbacher'sehen Kreises lernte Ball indes
auch Anarchisten kennen, die an Bomben für Attentate bastelten 32
Dies veranlaßte ihn bald, sich Rechenschaft darüber abzulegen, wie er
nun wirklich zu Theorie und Praxis des Anarchismus stehe „Ich habe
mich geprüft", hielt er in seinen Aufzeichnungen fest „Niemals würde
ich das Chaos willkommen heißen, Bomben werfen, Brücken sprengen
und die Begriffe abschaffen mögen Ich bin kein Anarchist Je länger
und weiter ich von Deutschland entfernt sein werde, desto weniger
werde ich es sein."33 Die Einsicht in den reaktiven Charakter anarchi-
stischer Konzepte hat Ball in den beiden unmittelbar anschließenden
Eintragungen der Flucht aus der Zeit präzisiert und verallgemeinert
„Die Anarchisten kennen den Staat nur als Monstrum, und vielleicht
gibt es heute keinen andern Staat mehr Legt dieser Staat sich meta-
physische Allüren zu oder beruft er sich auf solche, während seine
wirtschaftliche und moralische Praxis damit in flagrantem Widerspruch

31
Hugo Ball Die junge Literatur in Deutschland, in: Künstler (Anm 11), S 33
32
Vgl Ball, Flucht (Anm 1), S 36 u 324.
33
Ebd S 34.
Bernhard Echte 23

steht, so ist es begreiflich, daß ein noch unverdorbener Mensch zu


schäumen beginnt Die Theorie einer bedingungslosen Zerstörung der
Staatsmetaphysik kann zu einer Frage des persönlichen Anstandes und
eines sensiblen Empfindens für Echtheit und Pose werden Die anarchi-
stischen Theorien decken die formalistisch verkappte Entartung unserer
Zeit auf"34 „Den Anarchismus verdankt man der Überspannung [...]
der Staatsidee Er wird sich besonders dort zeigen, wo Individuen oder
Klassen, die in idyllischen, innig mit der Natur oder Religion verbunde-
nen Bedingungen aufgewachsen sind, in strengen staatlichen Verschluß
genommen werden Die Überlegenheit solcher Individuen über die
Konstruktionen und Mechanismen eines modernen Staatsungetüms
liegt auf der Hand Zur natürlichen Güte des Menschen ist zu sagen:
daß sie zwar möglich, aber durchaus kein Gesetz ist Meistens zehrt
diese Güte von einem mehr oder minder bewußten Schatze religiöser
Erziehung und Tradition Die Natur, ohne Vorurteil und Sentimenta-
lität betrachtet, ist längst nicht so unbedingt gütig und ordentlich, wie
man sie gerne haben möchte."35
Balls Auseinandersetzung mit dem Anarchismus mündet also in eine
Kritik seiner philosophischen Grundlagen, die mit dem Namen Rous-
seau schlagwortartig bezeichnet sind Schon in der Nietzsche-Disserta-
tion war diese Kritik angeklungen, nun kehrte sie verschärft wieder:
„Die Natur ist weder schön noch häßlich, weder gut noch böse Sie ist
phantastisch, monströs und hemmungslos über die Maßen. Im Einklang
mit der Natur stehen hieße, im Einklang mit dem Wahnsinn sein",
notierte Ball im November 1915 36
Naturrecht war nach Balls Verständnis also schon damals eine contra-
dictio in adjecto, da Natur - wenn überhaupt - nur zufällig bisweilen
mit dem Recht koinzidiert, ihrem Wesen nach aber zum Gegenteil
tendiert Gleiches galt dementsprechend auch für alle materialistische
Philosophie, da sie auf 'natürliche' Bestimmungen und Bedürfhisse
rekurriert Balls Skepsis gegenüber dem Marxismus war folglich ge-
schärft

34
Ebd S 34 f
35
Ebd S 34
36
Ebd. S 327 Diese Passage war nur im Zweitdruck des Buches (Luzern 1946),
nicht aber in der Erstausgabe enthalten
24 Em sonderbarer Heiliger?

Ball vertiefte sich mit außerordentlicher Intensität in diese Fragen,


obwohl seine Lebensumgebung damals von gänzlich anderen Gegeben-
heiten bestimmt war Zusammen mit Emmy Hennings gehörte er dem
Zürcher Variete-Ensemble „Maxim" an, sie als Soubrette, er als Kla-
vierbegleiter Man trat in einem verrauchten Spunten am Hirschenplatz
auf, bald auch in einer Kneipe in Basel, und im übrigen bestimmte
äußerste materielle Knappheit den Gang der Tage
Doch in bestimmter Hinsicht entsprach Ball dieses Vairete Hatte er
nicht schon seinen Wedekind-Aufsatz mit den Worten geschlossen: „Es
ist sein größter Vorteil, daß er (in jungen Jahren) mit dem Zirkus
reiste " 37 Was für Wedekind forderlich war, mochte - so scheint sich
Ball gedacht zu haben - auch ihm nicht schaden Und zwar um so
weniger, als er auf diese Weise dem aufgeplusterten bürgerlichen
Theater mit seinem richtungslosen gesellschaftlichen Repräsentations-
anspruch entkommen konnte, ohne damit Bühne und Spiel zu verlieren
Zudem ließ sich im Variete-Milieu die praktische Probe auf den Pro-
letkult sozialistisch-anarchistischer Theorien machen
Ball kam dabei zu einem doppelten Schluß Einerseits stellte er fest
„Das Leben pulsiert hier frischer und ungebundener, weil man keine
Hemmungen kennt" Andererseits gab er sich zu bedenken: „Aber
welch ein Leben ist es Der Aberglaube, daß im niederen Volk, und gar
in dem einer großen Stadt, die Unberührtheit und die Moral zu finden
seien, ist eine arge Täuschung Hier erliegt man den schlechtesten Ein-
flüssen des bürgerlichen Prestiges, ist abhängig vom eindruckvollsten
Rekord, den die Zeitungen preisen, und hingegeben jedem verjährten
Vergnügen, das als ein Abfall von oben kommt " 38
Auch aus dieser Erfahrung zog Ball eine durchaus nachvollziehbare
Konsequenz: Die Vitalität und Spontaneität des Varietes galt es zu
bewahren, die Quelle dazu sollte jedoch in unspekulativer Freude am
Künstlerisch-Phantastischen liegen und nicht in hemmungsloser
Hingabe an billige Stimulantien und abgeschmackte Sensationen
Unhaltbar schien im übrigen jener melioristische Optimismus, der sich
die utopische Veränderung der Gesellschaft von unten her versprach
Der einzige 'Optimismus', der allenfalls in Frage kam, war derjenige
Candide s Im übrigen war klar, daß Aktionen von einzelnen allenfalls

37
Ball, Wedekind, in Künstler (Anm. 11), S. 20
38
Ball: Flucht (Anm 1), S. 52
Bernhard Echte 25

den Charakter von Gesten trugen - sofern ihre persönliche Integrität


dazu hinreichte 39
Damit war das Programm des Cabaret Voltaire bereits in nuce
umrissen: „Es soll ein internationales Cabaret werden Wir wollen
schöne Dinge machen."40

II

Es wurde, wie wir wissen, ein internationales Cabaret, in dem die


Feindschaften und Frontstellungen des Krieges keine Gültigkeit hatten
Es wurden auch schöne Dinge gemacht, doch nicht nur das Es gab in
diesem Cabaret vielmehr Raum für fast alles: für Avantgardistisches
und Traditionelles, für Politisches und Unpolitisches, für leise Töne
ebenso wie für laute Da konnten expressionistische Gedichte neben
Texten mittelalterlicher Mystiker gelesen werden, man führte eine
futuristische Komödie auf, fand aber auch an Peter Altenberg-Anek-
doten Vergnügen, Protestlieder gegen den Krieg vertrugen sich mit
russischen Balalaika-Klängen, Ball spielte Klavierstücke von Debussy
neben solchen von Bach oder Brahms, worauf Huelsenbecks dunkel-
ekstatische „Umba-umba-Negerrhythmen" oder ein harmloses franzö-
sisches Chanson folgen mochten, an den Wänden hingen zarte Picasso-
Graphiken neben archaischen Masken von Janco, futuristische Buch-
stabenplakate von Marinetti neben abstrakten Kompositionen Arps
Man beflügelte sich gegenseitig im Ausfindigmachen interessanter
Sachen, die sich präsentieren ließen, wetteiferte miteinander in Experi-
mentierlust und führte zahllose Debatten über neueste kunsttheo-
retische Fragen
Angesichts dieser Vielfalt ist aus heutiger Sicht schwer auszumachen,
was bei den Cabaret-Darbietungen dann immer wieder den Tumult
auslöste - ob es tatsächlich der Inhalt des Vorgetragenen war oder ob
die größere Provokation nicht vielmehr darin lag, einer Zuhörerschaft,
die sich anfangs hauptsächlich aus biertrinkenden Studenten zusam-
mensetzte, neueste Kunst zumuten zu wollen. Manch einer war wohl
eher in Erwartung derber Spaße und hübscher Soubretten gekommen

39
Vgl ebd S. 92: „Unser Kabarett ist eine Geste "
40
Hugo Ball: Als ich das Cabaret Voltaire gründete.... m: Künstler (Anm 11), S
37.
26 Ein sonderbarer Heiliger?

und reagierte dementsprechend heftig, wenn Ball auf die Bühne trat,
um „ohne Förmlichkeit, aber mit Nachdruck" zu verkünden „Meine
Damen und Herren, das Cabaret Voltaire ist kein gewöhnliches Tingel-
tangel Wir sind hier nicht zusammengekommen, um Froufrou und
Beine zu sehen und Gassenhauer zu hören Das Cabaret Voltaire ist
eine Kulturstätte "41 Solche Worte konnten am Anfang schon reichen,
daß das Publikum in ein Gegröle ausbrach Ball, Huelsenbeck und die
anderen scheinen darin jedoch eine durchaus willkommene Heraus-
forderung erblickt zu haben, der sie gerne, ebenfalls in voller Laut-
stärke, Contra gaben Die Abende, an der sie der lärmenden Zuhörer-
schaft Gedichte entgegenbrüllten und das Spektakel durch Maskentän-
ze oder gnadenlos exerzierte Simultansprechstücke vollends zu entfes-
seln suchten, dürften indes in der Minderzahl gewesen sein.
Im übrigen wollte Ball aus dem, was sich im Cabaret Voltaire ab-
spielte, nicht eigentlich eine neue Kunstrichtung machen Zusammen
mit Huelsenbeck wandte er sich von Anfang an gegen die „Organisie-
rung" des Geschehens42 und geriet dadurch bald in Differenzen zu
Tzara, der sich die Gelegenheit, einen neuen 'Ismus' zu kreieren, nicht
entgehen lassen wollte Ball dagegen ging es weder um die ästhetische
Provokation als Selbstzweck noch um eine neue Rahmendefinition von
Kunst, mit der man gegebenenfalls Karriere machen könnte Er
verstand Dada vielmehr als Geste des Protests gegen die paraly-
sierende Mentalität der Kriegszeit, als Befreiungsversuch gegenüber
der übermächtig scheinenden Logik der Zerstörung, die sich überall als
Sachzwang präsentierte Für Ball war klar, daß gegen den absoluten
Widersinn, gegen die totale Pervertierung in den Köpfen ein geord-
netes Argumentieren sinnlos war, dies um so mehr, als er sich zu
Anfang ja auch selbst gegen den Bazillus der Kriegseuphorie nicht
gefeit gesehen hatte Die bruitistischen Happenings, mit denen das
Cabaret damals Sensation erregte, verstand Ball deswegen weniger als
bewußte Manifestationen denn als Selbstreinigungsversuche aus den
tiefsten Schichten des Unwillkürlichen heraus, im Gegensatz zu den

41
Richard Hulesenbeck Reise bis ans Ende der Freiheit Autobiographische Frag-
mente Heidelberg 1984, S 114.
42
Vgl Ball. Flucht (Anm 1), S 91: „Man plant eine Gesellschaft Voltaire' [...]
H[uelsenbeck] spricht gegen Organisierung', man habe genug davon Ich bin
ganz seiner Meinung Man soll aus einer Laune keine Kunstrichtung machen."
Bernhard Echte 27

später von Serner und Tzara organisierten Dada-Soireen handelte es


sich hier zunächst nicht um gezielt inszenierte Provokationen, sondern
eher um geschehnishafte, anarchische Ausbrüche, in denen die Betei-
ligten nicht zuletzt auch ihre Vitalität spüren wollten „Der kürzeste
Weg zur Selbsthilfe", hatte Ball bereits im November 1915 notiert,
„auf Werke zu verzichten und das eigene Dasein zum Gegenstande
energischer Wiederbelebungsversuche zu machen."43
Dennoch verzichtete Ball nicht auf Reflexion, im Gegenteil Früher als
alle seine Mitstreiter bemühte er sich um die Definition dessen, was im
Cabaret und in ihm selbst vorging Er tat dies wohl, weil für ihn - im
Gegensatz zu den anderen Beteiligten - Dada auch aus einem Schmerz
geboren war dem Bewußtsein vom Verlust innerer und äußerer Ein-
heit „Der Dadaist (...) glaubt nicht mehr an die Erfassung der Dinge
aus einem Punkte, und ist doch noch immer dergestalt von der Verbun-
denheit aller Wesen, von der Gesamthaftigkeit überzeugt, daß er bis
zur Selbstauflösung an den Dissonanzen leidet " 44
Diese zentrale Bemerkung notierte sich Ball unter dem Datum des 12
Juni 1916 Wenige Tage später widerführ ihm jedoch eine eigenartige
Erfahrung, die zu einer Art Wendepunkt in seinem Leben wurde Es
war jener Tag, da er sich im kubistischen Kostüm auf die Bühne des
Cabarets tragen ließ, um als „magischer Bischof eine neue Art von
Versen vorzutragen: „Verse ohne Wörter oder Lautgedichte" Ball be-
gann mit Gadji beri bimba, steigerte rasch die Intonation, so daß ihn
plötzlich eine Befürchtung befiel: „Ich merkte sehr bald, daß meine
Ausdrucksmittel, wenn ich ernst bleiben wollte (und das wollte ich um
jeden Preis), dem Pomp meiner Inszenierung nicht würden gewachsen
sein. [...] Wie sollte ich's aber zu Ende führen7 Da bemerkte ich, daß
meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der
priesterlichen Lamentation annahm, jenen Stil des Meßgesangs, wie er
durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes weh-
klagt Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab [...] Einen Momant
lang schien mir, als tauche in meiner kubistischen Maske ein bleiches,
verstörtes Jungengesicht auf, jenes halb erschrockene, halb neugierige
Gesicht eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und

43
Ebd S 69
44
Ebd S 99
28 Ein sonderbarer Heiliger?

Hochämtern seiner Heimatspfarrei zitternd und gierig am Munde des


Priesters hängt " 45
Es scheint, als habe dieses Erlebnis den Ausgangspunkt von Balls
gesamter weiterer Entwicklung gebildet Ausgerechnet das, was sein
groteskes Kostüm verspotten wollte, machte plötzlich seine Wahrheit
geltend, und zwar in individueller wie überindividueller Hinsicht Die
abgerissene Verbindung zu seiner eigenen, kirchlich geprägten Jugend -
plötzlich war sie in einer Art Epiphanie wieder hergestellt Der
Urgrund der geschundenen und korrumpierten Sprache - plötzlich
offenbarte er sich zwar nicht im Sinn von Worten, wohl aber in ihren
Bestandteilen und ihrer Intonation - im Klang der Silben, welche wohl
viele Vorstellungen und Bedeutungen streiften, jedoch gegen alle
Instrumentalisierung gefeit waren „Man ziehe sich in die innerste
Alchemie des Wortes zurück", hatte Ball in einer programmatischen
Einleitung zu seiner Rezitation erläutert, „man gebe auch das Wort
noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten
Bezirk " 46 Zerschlug man die Sprache in ihre Bestandteile, so trat aus
den Elementen ein Unzerstörbares hervor: ein kultischer Klang und
Rhythmus Ball ahnte nun, wo der 'heiligste Bezirk' der Dichtung lag -
jedenfalls nicht in der pfiffigen Vermarktung eines neuen provokanten
'Ismus'
So kam es nicht von ungefähr, daß Balls Weggefährten sein Dada-
istisches Manifest, das er wenig später anläßlich der „1. Dada-Soiree"
im Zürcher „Zunfthaus zur Waag" vorlas, bereits als „kaum verhüllte
Absage"47 an die soeben neu proklamierte Kunstrichtung verstanden
Denn Ball ließ keinen Zweifel daran, daß er die anarchische Demontage
der Sprache nicht als bloßes Markenzeichen einer neuen Form litera-
rischer Avantgarde vereinnahmt sehen wollte: „Das Wort, meine Her-
ren", so schloß das Manifest, „das Wort ist eine öffentliche Angele-
genheit ersten Ranges" 48 Sprach's und reiste ab ins Tessin, den
'Dadaismus' einer allfalligen Vermarktung durch andere überlassend.

III

45
Ebd S 105 f.
46
Ebd S 106
47
Ebd. S 109
48
Hugo Ball: Das erste dadaistische Manifest, in: Künstler (Anm 11), S 40
Bernhard Echte 29

In Vira-Magadino und Ascona begann Ball denn auch, den Dadaismus,


der seine eigene Erfindung war, einer Kritik zu unterziehen Dabei
entdeckte er, daß der Irrationalismus, dem die Dadaisten in program-
matischer Weise frönten, eine unhaltbare Implikation enthielt: die
Voraussetzung nämlich, daß blague, Buffonerie und Regression nicht
nur eine Antithese zur herrschenden Rationalität bildeten, sondern ihr
auch überlegen seien im Sinne einer höheren, den ganzen Menschen
bejahenden Moralität Was in der schrankenlosen Affirmation von
Albernheit und Kindlichkeit wiederkehrte, war letztlich der Glaube
Rousseaus an eine unkorrumpierte Natürlichkeit alles Prärationalen.
„Die gläubige Phantasie der Kinder ist indessen auch aller Verderbnis
und aller Verkehrtheit ausgesetzt", hält Ball fest Zwar bilden Kind-
lichkeit und Phantastik eine Quelle, „ohne deren Erhebung es keine
Kunst gibt, und ohne deren religiöse und philosophische Anerkennung
keine Kunst bestehen und aufgenommen werden kann", doch bleibt
darin „Wahres und Falsches gemischt" 49 „Man muß die Irrationalismen
scheiden", lautet deshalb Balls Schlußfolgerung, „Das Über- und auch
das Unvernünftige, beide sind irrational Auf der Suche nach dem
Leben verfielen wir dem Aberglauben, das Leben selber sei zu unseren
Irrationalismen zu rechnen. Man muß aber das Natürliche trennen vom
Übernatürlichen"50
Phantastik und kritische Rationalität sind demnach keine Gegensätze,
sondern sich ergänzende Notwendigkeiten, die erahnen lassen, daß es
außerhalb ihrerselbst noch ein Drittes gibt.
Wie aber ist dies Dritte, Übernatürliche zu finden, angesichts einer
Zeit, die noch die Barbarei selbst als göttliche Fügung und Vorsehung
auszugeben pflegt, fragt sich Ball sofort Seine Antwort: „In der Ab-
sonderung, im Verlassen, im Sichentziehen der Zeit " Doch Ball fügt
sogleich eine Mahnung an: „Immer genau hinsehen und kontrollieren,
wie man gerade von dieser Zeit sich abzusondern vermag, ohne das
Leben, die Schönheit, das Unergründliche aufzugeben"51
Vom Zeitpunkt dieser Einsicht an beginnt Ball zu seiner verlorenen
Einheit zurückzufinden „Ich beobachte, daß ich meine häßlichen (poli-

49
Ball, Flucht (Anm 1), S 116
50
Ebd
51
Ebd S 116
30 Ein sonderbarer Heiliger?

tisch-rationalistischen) Studien nicht betreiben kann, ohne mich durch


gleichzeitige Beschäftigung mit irrationalen Dingen immer wieder zu
immunisieren", hatte er schon früher notiert, um kritisch anzufügen
„Wenn eine politische Theorie mir gefällt, fürchte ich, daß sie phan-
tastisch, utopisch, poetisch ist und daß ich damit doch innerhalb meines
ästhetischen Zirkels verbleibe, also gefoppt bin "52 Diesen Zirkel, so er
einer war, schickt sich Ball nun an zu durchbrechen, denn es besteht
nun kein Entweder-Oder mehr zwischen Literatur und Politik Er voll-
endet seinen Roman Flametti und bereitet gleichzeitig ein konkretes
politisches Engagement vor Er fragt sich, unter welchen Bedingungen
er an einer politischen Zeitschrift mitarbeiten würde53, und fährt dann
zu Rene Schickele, dem Herausgeber der Weißen Blätter, nach Erma-
tingen Ball übernimmt für die Zeitschrift eine Übersetzung aus dem
Französischen und schon nach kurzem stellt sich die Frage einer
engeren Zusammenarbeit. „Seh kommt mit einigen Flaschen Wein",
schreibt Ball in seinem 'Tagebuch' und fragt sich „Wollen wir denn
Hochzeit feiern9" Der Wein stimmt Schickele vertrauensselig: „Er
schüttet mir sein Herz aus über einige seiner Mitarbeiter und eigentlich
über seine nächsten Freunde " Ball findet den jovialen Elsässer trotz-
dem ganz sympathisch und stellt erst am nächsten Morgen die persön-
lichen Differenzen fest: „Er gewinnt dann gerade soviel an forschem
Wesen, als ich verliere, und so wird nichts draus werden" 54
Entscheidend dürfte jedoch auch gewesen sein, daß Schickele der
zweiten Bedingung in Balls Anforderungskatalog nicht entsprach, die
besagte, daß es „wichtiger ist, zunächst gegen die falschen Meinungen
der eigenen Volksgenossen Front zu machen, als eine Verbrüderung zu
suchen, die bei der Gegenpartei nicht erwünscht ist."55 Genau diese
Verbrüderung war jedoch das erklärte Ziel, das sowohl Schickele mit
seinen Weißen Blättern als auch Rubiner mit seinem Zeit-Echo ver-
folgten Ball mußte also zunächst warten, bis sich eine Plattform fand,
auf der er seine Haltung kompromißlos vertreten konnte
So ließ er sich einstweilen auf die Werbungen von Tzara, Arp und
Janco ein, die ihm schrieben, man brauche ihn dringend Ende Novem-

52
Ebd. S. 40.
53
Vgl ebd S 120f
54
Ebd S 131
55
Ebd S 121
Bernhard Echte 31

ber 1916 kehrte Ball nach Zürich zurück, nicht ohne sich vorher
schriftlich eingeschärft zu haben: „Etwas sein und darstellen wollen in
solcher Zeit, wäre ein dekoratives Vergnügen " 56 Die Galerie Dada,
die Ball in den ersten Monaten des Jahres 1917 auf die Beine stellte,
war denn auch noch pluralistischer konzipiert als das Cabaret Voltaire
Dabei machte Ball allerdings auch Ernst mit einem Satz aus dem
Dadaistischen Manifest, dessen normative Haltung seine Freunde
seinerzeit irritiert hatte: „Im Ästhetischen kommt es auf die Qualität
an " 57 Man zeigte Bilder aus Herwarth Waldens Sturm-Galerie, lud die
Laban-Tänzerinnen zu Darbietungen ein und kombinierte ihre Auftritte
mit Rezitationen junger Autoren Neue Musik wurde gespielt und theo-
retisch kommentiert Ein Stück von Kokoschka gelangte zur Auffüh-
rung, und die Programmankündigung „Musique et Danse Negre" (14
April 1917) verhieß nun kein tumultarisches Geschehen mehr, sondern
ein inszeniertes Stück neuester Tanzkunst Daneben diskutierte man
mit Vertretern des pazifistischen Kreises um Ludwig Rubiner und
veranstaltete eine „geschlossene Soiree 'Alte und neue Kunst'" (12.
Mai 1917), in der religiöse Texte aus dem 13 und 14 Jahrhundert
gelesen wurden Psychoanalytische Debatten standen neben Balls Vor-
trag über Kandinsky oder einem Auszug seines phantastischen Romans
Tenderenda
Die thematische Vielfalt und Offenheit des Programms ließen die
Veranstaltungen der Galerie Dada bald zu einem Ort werden, der einen
prickelnden gesellschaftlichen Chic ausstrahlte Vereinzelte Besucher
erschienen sogar im Smoking Bei einer Führung für Arbeiter ließ sich
dagegen kein einziger Proletariatsvertreter blicken, wohl aber ein
„mysteriöser Herr, der die halbe Galerie kaufen will, insbesondere
Slodki, ältere Jancos, Kokoschka, Picasso."58
Und dennoch notierte sich Ball genau vor diesem symptomatischen
Ereignis in sein 'Tagebuch': „Es geht vielleicht gar nicht um die Kunst,
sondern um das inkorrupte Bild " 59 Und weil es Ball tatsächlich darum
ging, warf er keine zehn Tage später alles hin, überließ die Galerie
ihrem Schicksal und reiste abrupt ins Tessin Absonderung tat not Man

56
Ebd S 120
57
Ball. Manifest, in: Künstler (Anm. 11), S. 39
58
Ball. Flucht (Anm 1), S 165
59
Ebd
32 Ein sonderbarer Heiliger9

mußte sich der Zeit entziehen, vor allem dort, wo sie einen bestach
Und wenn im Publikum ein Harry Graf Kessler saß60, der von Bern aus
mit viel offiziellem Geld und privatem Feinsinn die deutsche Kultur-
propaganda dirigierte, dann war es höchste Zeit, auf Distanz zu gehen
Dies galt um so mehr, als sich in der politischen Sphäre Umwälzungen
größten Ausmaßes anbahnten Lenin, einst Nachbar des Cabaret Vol-
taire in der Spiegelgasse, war zwei Monate zuvor im plombierten
Wagen nach Rußland gereist und hatte soeben den Petrograder Putsch
losgetreten Verhieß ein allfälliger Sieg der Bolschewiki Zukunftswei-
sendes? Oder war Bakunins prinzipielle Kritik an zentralistischen
Staatsmodellen auch hier zutreffend? Und wenn ja, war eine menschli-
che Gesellschaft lediglich eine Ansammlung von Partikularinteressen,
oder bedurfte sie zumindest einer einigenden geistigen Autorität? Und
wer würde eine solche glaubhaft verbürgen können? Wie war es in
Deutschland überhaupt dazu gekommen, daß neben der politischen
Macht eine derartige Autorität nicht mehr existierte und ein völliger
Antagonismus zwischen Staat und Freiheit bestand7 So dringend Ball
diese Fragen erschienen, so wenig wußte er darauf zunächst eine Ant-
wort Umfängliche geistesgeschichtliche Forschungen schienen ihm
notwendig, um jene Punkte ausfindig zu machen, an der diese
Entwicklungen ihren Anfang nahmen Eines war für Ball jedoch schon
seit längerem unbestritten: „Einstweilen habe ich alle Ursache", notierte
er, „auf den Rechten des Geringsten, des Ärmsten, des Verlassensten
zu bestehen Wenn es einen Sinn hätte, wäre ich Republikaner."61

IV

Dieser Sinn stellte sich im September 1917 schließlich ein: Ball erhielt
das Angebot, die Redaktion der Freien Zeitung in Bern zu leiten Hier
nun fand er jene Möglichkeit, die Schickeies Weiße Blätter ihm nicht
geboten hatten: die deutschen Zustände und ihre Ursachen rücksichts-
los unter die Lupe zu nehmen Wohl war es Ball bewußt, daß es dabei -
wie schon im Cabaret Voltaire - nur um eine „Geste" ging, d h um ein
individuelles Beispiel ohne unmittelbare politische Wirkung Doch wer
sollte wirklich glaubhaft Kritik üben können, wenn nicht der Macht-

60
Vgl ebd S. 158
61
Ebd S 138
Bernhard Echte 33

lose, der niemandem verpflichtet war außer seiner eigenen Integrität


und Unbestechlichkeit9 Es war dies ein Gedanke, der für Ball später
noch von entscheidender Wichtigkeit werden sollte
Zunächst jedoch stürzte sich Ball in die Redaktionsgeschäfte und
bewies dabei einmal mehr sein ungewöhnliches Organisationstalent
Außerdem schrieb er zahlreiche Artikel für das Blatt, deren inhaltliche
Vielfalt sich kaum zusammenfassen läßt, im wesentlichen aber durch
folgende Ziele bestimmt war: Bekämpfung der deutschen Idee des
Siegfriedens, dauernde Thematisierung der Kriegsschuldfrage, Sturz
der in Deutschland herrschenden militaristischen Feudalklasse, Erinne-
rung an Traditionen, die nicht dem Untertanengeist oder der militäri-
schen Heldenideologie entstammten, Diskussion über republikanische
Verfassungsgrundsätze, die in Deutschland eine demokratische Repu-
blik ermöglichten, Einordnung Deutschlands in eine Liga der freiheit-
lichen Länder Europas.
Begleitet wurde diese publizistische Tätigkeit von rastlosen geistes-
geschichtlichen Forschungen, durch die Ball die Wurzeln der deutschen
Despotie und ihrer Expansionsbestrebungen bloßzulegen hoffte Die
Ergebnisse dieser umfassenden Bemühungen faßte er in seinem Buch
Zur Kritik der deutschen Intelligenz zusammen, das, Ende 1918
vollendet, Anfang Februar 1919 im Freien Verlag erschien
Der geistige Horzont dieses im besten Sinne radikalen Werkes ist zu
weit, als daß es hier angemessen dargestellt werden könnte Ball sieht
den Ersten Weltkrieg als Ergebnis einer jahrhundertelangen geistigen
Fehlentwicklung in Deutschland, die zu einer völligen Niederlage
geistiger Normativität geführt und die unumschränkte Herrschaft der
politischen Gewalt, d h des preußischen Militarismus, hervorgebracht
habe: „Will man den Weg verstehen, auf dem die heute unter dem
Schlagwort Pangermanismus vereinigten Tendenzen zu jener fürcht-
baren Macht gelangten, die alle Welt kennt und verspürt, so muß man
zurückgehen bis ins tiefe Mittelalter"62, betont Ball gleich zu Beginn In
kühnen Strichen zeichnet er den Kampf zwischen weltlicher und
geistiger Macht um Suprematie nach Seiner Hauptthese zufolge ist der
völlige Sieg der politischen Macht keineswegs auf deren eigene Stärke
zurückzuführen, sondern vielmehr auf die intellektuelle Selbstdemon-
tage des supranationalen religiösen Universalstaates Den Beginn die-

62
Hugo Ball: Zur Kriük der deutschen Intelligenz Frankfürt 1980, S. 25
34 Ein sonderbarer Heiliger?

ses Auflösungsprozesses erkennt Ball in der Reformation: „Luther


wurde ein Angelpunkt der Geschichte", so die zweite These des Bu-
ches „Von Luther an beginnt sich ein neuer Universalstaat vorzube-
reiten, in dessen Zentrum nicht mehr die ganz klerikale, sondern die
ganz profane Gewalt steht "63 Luthers Kritik am weltlich korrumpier-
ten Zustand der Kirche sei zwar berechtigt gewesen, nicht jedoch die
Konsequenz, die er daraus zog: Die religiöse und moralische Autorität
der römischen Kirche prinzipiell in Zweifel zu ziehen und derartig
fundamentale Fragen dem privaten Gewissen bzw einer omnipotenten
Staatsgewalt zu unterstellen Luther gab damit „dem Staate eine nie
geahnte 'Gewissensfreiheit' und Macht, und erklärte doch zugleich das
Desinteresse des religiösen Individuums an der Ordnung der Staats-
aftaren Alle Weltfremdheit deutscher Dichter, Gelehrter und Philoso-
phen", so Ball, „hat hier ihren Ursprung."64 Luther sei damit zum
„Propagandisten der unabhängigen Fürstengewalt" geworden65 Am
deutlichsten zeige sich dies in Luthers Parteinahme gegen Thomas
Münzer und für die Staatsmacht während des Bauernkrieges, was,
nach Ball, auch bewies, daß die Aufwertung der privaten Gewis-
sensinnerlichkeit mehr ein taktischer Schachzug im Kampf gegen Rom
denn ein Zeichen demokratischer Gesinnung war.
Als zweiten Protagonisten im Verfallsprozeß geistiger Autorität führt
Ball, wie schon in seiner Dissertation, Kant an Die kritische Grund-
struktur seiner Philosophie habe, wie schon bei Luther, zu einer
Individualisierung der Moral geführt, was im Verein mit der Verab-
solutierung des Gesetzesbegriffs de facto die preußischen Feudal-
machthaber und ihren Militarismus legitimiert habe Es soll hier
unerörtert bleiben, ob die Tatsache, daß die preußischen Soldaten-
könige den Begriff der Pflicht auf rigoroseste Weise für sich reklamier-
ten, tatsächlich Kant anzulasten ist; immerhin hatte dieser die freie
Einsicht des Individuums zur Voraussetzung von Pflicht erhoben. Doch
weist Ball darauf hin, daß eine kritische Instanz zur Farce wird, wenn
es ausschließlich Notwendigkeiten und Zwecke sind, in die Einsicht
gewonnen werden kann In Anspielung auf Kants oberstes Prinzip der

63
Ebd. S. 27.
64
Ebd. S. 35.
65
Ebd. S. 36.
Bernhard Echte 35

Tugendlehre66 schreibt Ball: „Die großen Werte der Menschheit (Seele,


Friede Vertrauen, Achtung, Freiheit und Glauben) werden nach dem
Erfolg berechnet und als Mittel zur Erreichung von Zwecken ausge-
spielt, die der traditionellen Bedeutung des Wortes entgegengesetzt
sind " 67 Das Problem, das Ball hier anspricht, ist tatsächlich ein grund-
legendes: Öffentliche Moral kann nach Kant nur noch eine äußerliche
sein, d h eine, die sich nicht auf die Motivationen der einzelnen Perso-
nen bezieht, sondern lediglich in einem letztlich juristischen Sinn ihre
Autonomie gewähleistet Die einzige Instanz der Moral ist der „gute
Wille" des Subjekts, sofern es sich nach verallgemeinerbaren Grundsät-
zen verhält Eine öffentliche Moral gibt es demnach nicht mehr, son-
dern nur noch einen Kodex vernünftiger Sitten und legalistischer Gren-
zen - jede weiterreichende Autorität ist unverträglich mit der Freiheit
des Einzelnen Ob sich eine Gesellschaft dadurch ihrer Mittel gegen
Willkürherrschaft und Despotie beraubt, wie Ball meint, oder ob ihre
Freiheit von der historischen Gefestigtheit demokratischer Institutio-
nen abhängt, bleibt vor den Erfahrungen des 20 Jahrhunderts ein
diskutables, ja dringendes Problem.
Noch massivere Kritik als Kant erfährt erfahrt in Balls Kritik
schließlich Hegel Dessen Biographen Karl Rosenkranz zitierend
schreibt Ball „Den Protestantismus erhob er p.e. Hegel] mit Begei-
sterung 'als den Wiederhersteller der Gewissenhaftigkeit und Gewis-
sensfreiheit der Einheit des Göttlichen und Menschlichen, wie sich dies
besonders auch darin ausdrücke, daß der Fürst eines protestantischen
Staates zugleich der oberste Bischof einer Kirche sei'" 68 Damit war
die Unterwerfung der geistigen Macht unter die weltliche nicht nur
vollzogen, sondern von ersterer sogar noch gerechtfertigt Ja, Hegel
habe dies gar als Endziel der Geschichte hingestellt, indem er „die

66
Immanuel Kant: Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre. Einleitung,
Absatz IX: „Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist: Handle nach einer Maxime
der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann Nach
diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als anderen Zweck, und es ist
nicht genug, daß er weder sich selbst noch andre bloß als Mittel zu brauchen
befugt ist [... ]. sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist
an sich selbst des Menschen Pflicht "
67
Ball. Kritik (Anm. 62). S 28
68
Ebd S. 123.
36 Ein sonderbarer Heiliger?

preußischen Monarchie als Ideal eines politischen Organismus"


bezeichnete69
Und die große revolutionäre Bewegung des 19 und 20 Jahrhunderts,
die Arbeiterbewegung, der Marxismus9 Implizierten deren emanzipato-
rische Forderungen nicht auch eine Umkehr des Verhältnisses von
Moral und Besitz, von Geist und Macht9 „Eine besitzlose Klasse als
Souverän, das ist eine große Idee", notierte sich Ball in seinen Auf-
zeichnungen und fährt begründend fort „Der Besitz wird im Staate so
lange das Recht vergewaltigen, als nicht eine besitzlose Klasse darüber
entscheidet, was rechtens ist Das ist das ganz richtige Motiv der prole-
tarischen Revolution."70 Doch unter den Revolutionären entwickelte
sich bald eben jener Zwiespalt, der schon das Verhältnis zwischen
Luther und Thomas Münzer gekennzeichnet hatte: Es ist der Zwie-
spalt, später die erbitterte Feindschaft zwischen Marx und Bakunin
Die Frühsozialisten und Anarchisten aus Rußland sowie den roma-
nischen Ländern waren - im Gegensatz zu Marx - zunächst nicht anti-
religiös und anti-ideell Und Bakunin wollte, so Ball, die Ökonomie
nicht als „einzige Basis aller Entwicklung betrachtet wissen: Es liegt
ihm daran, die individuelle Freiheit zu behaupten Er ist anti-autoritär
gesinnt und befürchtet, Marx könne [...] noch einen Schritt weiterge-
hen und sich mit der ökonomischen Basis auf eine diktatorische Weise
identifizieren Nimmt man nämlich eine selbsttätige Exekutive der
ökonomischen Gesetze an, so muß sich ihr Entdecker notwendig im
Zentralbureau seiner Einsichten als ökonomischen Jehova empfinden
Das liegt in der Logik der Sache "71 Die Diktatur des Proletariats bzw.
seiner wie immer legitimierten Vertreter war deshalb - abstrakt be-
trachtet - eine folgerichtige Konsequenz Dies aber hieß „auf die Eman-
zipation verzichten, zu Gewaltmethoden greifen und die Grundlagen
der Gesellschaft zerstören", resümierte Ball und führ aus aktuellem An-
laß fort: „Wir haben die Lehre des Bolschewikentums Die Eroberung
der politischen Macht vorschlagen (Eroberung also eines verbrauchten
politischen Systems) hieß auf die eigentümlichsten moralischen Kräfte
der Masse verzichten, ja sie der Korruption ausliefern, und dieser
pseudorebellische Widerspruch in Marxens politischem Programm, das

69
Ebd. S. 127.
70
Ball, Flucht (Anm. 1), S. 223
71
Ebd. S. 173.
Bernhard Echte 37

gleichwohl mit aller Arroganz der Unfehlbarkeit auftrat, war es, was
die großen Vorzüge seiner ökonomischen Kritik aufwog "72
Ausgehend von dieser Analyse war Balls Blick für die revolutionären
Umwälzungen geschärft, die sich soeben in Rußland vollzogen Mit
Skepsis betrachtete er die neue russische Verfassung und meldete
schon 1919 grundsätzliche Zweifel an: „Das Überraschende ist, daß
man ein Grundrecht überhaupt aufgestellt hat Die Bolschewiki pfleg-
ten nach ihrer ganzen marxistischen Tradition auf Rechte und Pflichten
nicht viel zu geben Die Diktatur des Proletariats, die nun als Rechtszu-
stand gilt, beruht auf jakobinischen und terroristischen Prinzipien; man
wird also die verbindliche Kraft dieser Verfassung kaum überschätzen
dürfen " 73 Dies war, aus heutiger Sicht, wahrhaft hellsichtig Gleiches
gilt für Balls zweiten Vorbehalt: „Sodann Kapitel II der Verfassung,
wonach die Einteilung der Gesellschaft in Klassen definitiv abgeschafft
wird Um den alten Klassenstaat abzuschaffen, werden sieben Punkte
formuliert, die sämtlich umstürzende Bedeutung haben, keineswegs
aber den Klassenunterschied zwischen der zentralistischen Verwaltung
und der nationalen Arbeit aufheben Eine gewaltige Bürokratie einer-
seits, ein Arbeitshelotentum anderseits, das scheint die nächste histori-
sche Folge zu sein " 74
Es waren jedoch nicht nur die demokratisch-republikanischen Defi-
zite, die Ball dazu führten, in der Sowjetunion von Anfang an kein
zukunftsweisendes Modell zu erblicken So sehr er die Idee teilte, daß
die Macht von der besitzlosen Klasse auszugehen habe, so wenig
schien ihm der Materialismus dafür eine geeignete geistige Grundlage
zu bilden - inthronisiert dieser doch die Befriedigung materieller Be-
dürfnisse letztlich als primäres Ziel und obersten Maßstab der Moral:
Das Proletariat wollte ja gerade nicht besitzlos bleiben und strebte
deswegen zur Macht

Hugo Balls bis heute unzeitgemäße Schlußfolgerung daraus war


folgende „Es gibt", so schreibt er, „noch eine zweite besitzlose Klasse

72
Ball. Kntik (Anm. 62). S 210
73
Ball. Flucht (Anm. 1), S 252.
74
Ebd. S 253.
34 Ein sonderbarer Heiliger?

außer dem Proletariat: die der Asketen, diese Klasse aber ist freiwillig
ohne Besitz, ja sie sieht ihre Überlegenheit im Verzicht Diese Klasse
ist naturgemäß durch ihre pure Existenz die Widerlegung der pro-
letarischen Ansprüche " 75 Diese besitzlose Klasse ist nun nach Ball die
einzige, die Autorität verbürgen könne, weil sie es rein geistig tue Das
war die „neue Internationale der religiösen Intelligenz", die Ball zu
begründen hoffte 76 Von ihr versprach er sich eine Überwindung des
korrumpierten Zustandes, in den alle Intellektualität und Spiritualität
durch ihre Selbstunterwerfüng unter die politische Macht und deren
Legitimationsbedürfhisse geraten war Ausgehend von dieser histori-
schen Erfahrung kann, Ball zufolge, Autorität nur von denjenigen be-
gründet werden, die keine Macht haben, die diese genausowenig
anstreben wie materiellen Besitz, d h von denjenigen, die sich den
'natürlichen' Egoismen widersetzen und ein geistiges Leben zu behaup-
ten wissen und dies im übrigen nicht individuell tun, sondern auf Grund
einer langen Tradition, was der persönlichen Geltungssucht und Eitel-
keit entgegenwirke - kurz, Ball sieht in den katholischen Mystikern und
Asketen jene Tradition, die es wiederzubeleben und fortzuschreiben
gelte
Allerdings machte er in diesem Zusammenhang auch entschieden klar,
daß es ihm keineswegs um die Restauration vorreformatorischer
Zustände ging „Wir sind keine katholischen Romantiker, Lobredner
der Vergangenheit auf Kosten der Zukunft", betonte er in seiner Kritik
„Nicht der katholischen Renaissance reden wir das Wort, deren ob
skure Propaganda 'das schöne Werk des Mittelalters' wieder herzu-
stellen hofft " 77 Die historische Kirche sieht Ball vielmehr völlig ver-
strickt in staatspolitische und materielle Interessen (Personalunion mit
dem Feudalstaat, Großgrundbesitz), was ihre Glaubwürdigkeit in
fataler Weise untergraben habe 78 „Wir glauben nicht an die sichtbare
Kirche, aber an eine unsichtbare", hält Ball deshalb fest 79
Diese unsichtbare Kirche, d h die Tradition der Asketen und
Mystiker, wieder sichtbar zu machen, wurde folgerichtigerweise Balls

75
Ebd. S 224
76
Ball, Knük (Anm 62), S 10
77
Ebd.. S. 32.
78
Vgl Ball, Flucht (Anm 1), S. 223
79
Ball, Kritik (Anm 62), S 121
Bernhard Echte 39

nächstes Ziel Er tat dies in seinem Buch Byzantinisches Christentum


von 1923, das er gewissermaßen als positive Fortsetzung und zweiten
Teil seiner Kritik der deutschen Intelligenz verstand Dabei sah er sich
zunächst genötigt, die neuzeitlichen, d h auf Rousseau zurückgehen-
den Vorurteile zu widerlegen, welche in der Askese lediglich einen wi-
dernatürlichen Masochismus erblicken „Man hält sie p.e. die Askese]
für ein Zeichen der Verstümmelung und Vergewaltigung der Natur, für
ein tückisches Werkzeug der Verkleinerung des Menschen Ja, man hat
sie als eine Korruptele der Freiheit bezeichnet Alles dies ist die Askese
nicht, ja sie ist das Gegenteil Aber sie kam in Verruf, seit rührige Apo-
logeten der Großzügigkeit in Appetit und Behagen den ungebrochenen,
rüden, den 'raubtierhaften' Instinkten das Wort zu reden begannen Die
von Maschinen gezüchtete Melancholie des modernen Menschen sollte
den Nachwirkungen der Askese zur Last gelegt werden Die Leiden
der Gesellschaft, Lähmung und Hysterie, sollten behoben werden durch
entgegenkommende Auflösung der inneren Form Wo es nottat, den
seelischen Raum zu erweitern, riß man ihn vollends nieder Wo einge-
engte Sehnsucht nach einer tieferen, reineren Landschaft verlangte,
sollten die spärlichen Überreste jener Gesetze im Wege sein, die doch,
in aller Strenge aufrechterhalten, allein imstande sein mögen, der
Selbstverachtung, der Hypokrisie, der totalen Verworrenheit vorzu-
beugen "80
Diese Zeilen sind, ohne daß der Name fiele, auch gegen Balls erste
große geistige Leitfigur gerichtet: gegen Nietzsche Dieser hatte in
seiner Genealogie der Moral bekanntlich die Frage gestellt „Was be
deuten asketische Ideale9" und darauf eine mehrfache Antwort
gegeben Für den Gelehrten und Philosophen sei die Askese „etwas wie
Witterung und Instinkt für die günstigsten Bedingungen hoher Geistig-
keit"81, d h gewissermaßen eine Abschirmungsstrategie gegen ablen-
kende Einflüsse der wirren Zeitumstände Für die Priester dagegen, die
eigentlichen Hüter jenes Ideals, bedeute es „ihr bestes Werkzeug zur
Macht, auch die 'allerhöchste' Erlaubnis zur Macht"82 - allerdings der

80
Hugo Ball Byzantinisches Christentum München/Leipzig 1923, S 5f.
81
Fnednch Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in ders Werke, hg. v. Karl
Schlechta München 91981. Bd 2. S. 839
82
Ebd. S. 839
40 Ein sonderbarer Heiliger?

Macht „eines degenerierenden Lebens" über das vitale.83 Es scheint, als


habe Ball Nietzsches erster Antwort nach wie vor gänzlich zugestimmt,
seiner zweiten nur noch partiell, der dritten schließlich grundsätzlich
widersprochen Nicht als Werkzeug der Macht betrachtete er die Aske-
se, sondern als geistige Legitimation ihres Anspruchs auf Kontrolle der
weltlichen Macht 84 Nicht ein degeneriertes Leben tue sich darin kund,
sondern ein höheres Denn - und hier nun dreht Ball den Spieß gegen
Nietzsche um -, was Askese sei, könne ebenfalls nur in actu erfahren
werden, und diese Erfahrung gehe den neuzeitlichen Kritikern, d h
auch Nietzsche, offenbar ab Askese sei jene Voraussetzung der seeli-
schen Einheit, die die moderne Welt systematisch zu untergraben
suche „Was immer man sagen mag", hält Ball kategorisch fest, „das
Gesetz der Askese allein verbürgt jene heilige Geräumigkeit der Seele,
in der die unendliche Milde sich abgrenzt gegen die Wildheit, die
Größe sich trennt von den Niederungen, in der alle Ehrfurcht Zauber
und Flügel findet"
Mit dem Wort 'Zauber' deutet Ball an, daß es hier um eine
Weisheitslehre geht, zu der er nicht, wie Nietzsche dies tat, durch
rhetorische Brillanz verführen kann und will, sondern eigentlich nur
durch das Gegenteil: durch die bewußte Wahrung eines Geheimnisses,
in das der bloße Intellekt nicht einzudringen vermag Nicht zufallig sind
die alten Schriften, die von den mystischen Erfahrungen der Askese
künden, kryptisch, da sie ohne praktische Entscheidung, in solchem
Streben zu leben, keine Wahrheit zu entfalten vermögen Wer indes das
wiedergewonnene Wort als Zeichen und damit als etwas Sakrales,
Unantastbares verstehe85, der könne den Weg finden „Man muß sich
gänzlich und immer leiser verwundern So wundert sich die Ewigkeit
über die Zeit und verwandelt sie Man muß sich über die Wunder
wundern Und auch die Wunden noch, die tiefsten und letzten, ver-
wundern und ganz in ein Wunderbares erheben " 86

83
Ebd. S 861
84
Vgl Ball. Flucht (Anm 1), S 223: „Der Souverän braucht ja nicht gerade die
Staatsgeschäfte zu führen; es könnte genügen, daß er sie kontrolliert "
85
Vgl Ball, Byzant Christentum (Anm 80), S. 22: Ball spncht hier vom „verant-
wortlichsten aller Ämter: das Amt der Zeichen "
86
Ball, Flucht (Anm 1), S 278
Hans Burkhard Schlichting

Anarchie und Ritual


Hugo Balls Dadaismus1

Dada blieb eine Episode im Leben von Hugo Ball, die - alles in allem -
gerade acht Monate dauerte Aber diese Episode ließ ihn noch bei Leb-
zeiten zu einer Legende der internationalen Avantgardeszene werden -
und das nicht zuletzt aufgrund ihres abrupten Endes Diese Episode ist
es auch, die zum Leitmotiv der Wiederentdeckung seines Werkes nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges geworden ist und das internationa-
le Interesse an Hugo Ball wachgehalten hat ein Interesse an seiner
Zeugenschaft für die Anfange einer Kunstbewegung, die weitreichende
internationale Konsequenzen hatte In seinem Todesjahr 1927, ein
Jahrzehnt nach der Abkehr vom Dadaismus, erschien sein kulturkriti-
sches Werk Die Flucht aus der Zeit*, das auf einer Auswahl und Revi-
sion von Tagebuchnotizen der Jahre 1913 bis 1921 basiert und in den
einschlägigen Passagen zur meistzitierten Quelle für die Entstehungs-
phase der Bewegung geworden ist Daß Ball dabei eher als Zeuge denn
als Autor sui generis gelesen wurde, ließ mit den komplexen Zusam-
menhängen seines Gesamtwerks oft auch seine aktive Rolle im Da-
daismus in den Hintergrund treten, um die es hier zunächst gehen soll:
eine initiierende Rolle, die er (vom Februar bis Mitte Juli 1916 und von
Mitte März bis Mai 1917) als Organisator, Inszenator und dramaturgi-
scher Kopf der Bewegung ebenso gespielt hat wie durch seinen unmit-
telbaren künstlerischen Beitrag Die dramaturgische Neugier, mit der
Ball diese Rolle spielte, bestimmte freilich auch sein experimentieren-
des Verhältnis zum Programmatischen Er reflektierte die neuen
1
Die Darstellung allgemeiner Zusammenhänge des Dadaismus folgt in einigen
Passagen meinen Aufsätzen: Pioniere des Medialen Zur Aktualität der dadaisti-
schen Kultur-Attacke, in: Helmut Bracken - Fritz Wefelmeyer (Hg.): Kultur Be-
stimmungen im 20 Jahrhundert Frankfürt am Main 1990, S. 32-85, „Chaos in
die Ordnung bringen" DADA, in: Rolf Grimminger - Junj Murasov - Jörn Stück-
rath (Hg.): Literarische Moderne Europäische Literatur im 19 und 20 Jahrhun-
dert Reinbek 1995, S 314-338
2
Hugo Ball Die Flucht aus der Zeit München/Leipzig 1927
42 Hugo Balls Dadaismus

Kunstprogramme, ironisierte sie bisweilen auch, stellte sie in überra-


schende Konstellationen, spielte Thesen durch - um schließlich auf ihre
Antithesen zu stoßen Diese Reaktions- und Reflexionsbewegungen
nachzeichnend, ist sein Werk Die Flucht aus der Zeit zu einer der frü-
hesten Manifestationen avantgardistischer Selbstkritik geworden

1 DADA 1916/17 Organisation und Namensfindung

Das Wort DADA wurde 1916 von emigrierten Künstlern in Umlauf


gebracht, die sich für gemeinsame Aktionen zu einer - damals auch so
genannten - „Künstler-Kneipe" in der 'holländischen Meierei', einem
Lokal in der Züricher Spiegelgasse zusammengefunden hatten Im Fe-
bruar hatte Hugo Ball dort ein literarisches Kabarett gegründet, das
sich bereits im Juli auflöste, aber inzwischen eine folgenreiche Kunst-
bewegung hervorgebracht hatte, die zugleich eine kulturkritische Akti-
on war und sich bis Mitte der zwanziger Jahre in der Avantgardeszene
Europas und Amerikas verbreitete Und als kulturkritische Aktion
sollte sie auch für Ball eine fortdauernde Rolle spielen
In einer Zeit extremster Nationalismen hatte Hugo Ball den antikleri-
kalen Toleranz-Lehrer und Libertin Voltaire zum Namenspatron seines
Kabaretts gemacht und zur programmatischen Eröffnung aus Voltaires
Schriften gelesen 3 Aber was sich dort in teils geplanten, teils sponta-
nen Aktionen entwickelte, hatte mit dem aufgeklärten Rationalismus

3
J. S.: Künstlerkneipe Voltaire, in Neue Züncher Zeitung 9 2 1916 - Als un-
wahrscheinlich erscheint George Steiners Vermutung, die Bezeichnung „Cabaret
Voltaire" sei „eine Huldigung an das Cafe Voltaire in Paris [...]. in dem Mallarme
und die Symbolisten sich in den späten achtziger Jahren regelmäßig trafen Denn
es war Mallarmes Programm einer Reinigung der Sprache, eines pnvaten Aus-
drucks, das Ball und seine Mitstreiter auszuführen suchten." (George Steiner
Nach Babel Aspekte der Sprache und der Übersetzung Aus dem Englischen von
Monika Plessner unter Mitwirkung von Henriette Beese Frankfurt am Main
1981. S 209-210) Der Namenspatron Voltaire stand bereits mit der Eröffnung
des Cabarets als „Künstlerkneipe Voltaire" zu einem Zeitpunkt fest, als die
Sprachexperimente von dessen Spätphase noch nicht abzusehen waren Außerdem
ist zweifelhaft, ob Ball damals mit Mallarmes Poetik vertraut war. auch wenn er
sich von Baudelaire bis Rimbaud immer wieder auf dessen Vorläufer bezieht. In
den veröffentlichten Briefen und Tagebuchnotizen zumindest fehlen Hinweise und
erst 1927 wird Mallarme als „Vokalalchimist" erwähnt (Hugo Ball: Hermann
Hesse Sein Leben und sein Werk Berlin 1927, S 107)
Hans Burkhard Schlichting 43

des Namenspatrons am Ende ebensowenig gemein wie mit dessen for-


malem Klassizismus - „Der Voltaire'sehe Rahmen, in dem das statt-
fand, war dafür wenig geeignet und mein Inneres nicht darauf vorberei-
tet"4, resümiert Ball im Rückblick seinen letzten Soiree-Auftritt, - eine
Lesung im kubistischen „Bischofskostüm", die als programmatische
Geburtsstunde des Lautgedichts in die Literaturgeschichte eingegangen
ist
Unter den Künstlern, die sich im Cabaret Voltaire allmählich zur
Kerngruppe des Dadaismus formierten, war Hugo Ball der einzige, der
- als gelernter Dramaturg - über profunde Erfahrungen mit Organisati-
on und Programmgestaltung verfügte Und seine Lebensgefährtin Em-
my Hennings war die einzige, die als Schauspielerin und Diseuse seit
etlichen Jahren im literarischen wie im unterhaltenden Metier zu Hause
war und nicht nur unter Kennern einen Namen hatte Sie wurde für das
Publikum5 der „Stern" der Unternehmung Einer Unternehmung im
damaligen Amüsierviertel, die keine geschlossene Veranstaltung für
Avantgarde-Insider war, sondern bis zum Schluß ihren Unterhalt aus
der allabendlichen Unterhaltung von Laufpublikum und wiederkehren-
den Gästen bezog Russische Emigranten fanden sich zunächst ebenso
ein wie schweizerische Anarchosyndikalisten und biedere Studenten.
Namhafte Gäste aus der internationalen Emigranten-Boheme verzeich-
net Ball nicht weniger aufmerksam als die Mitwirkenden auf der Büh-
ne, die sich neben professionellen Kabarettisten wie Emmy Hennings
auch aus Gästen rekrutierten Der Unterhaltungswert der Beiträge bil-
dete die Existenzbasis der Unternehmung: der geschickte Wechsel der
Attraktionen, die Einbeziehung der Gäste, die Erfindung immer neuer
sensorischer Reize Eine Existenzbasis, in der das Prinzip Innovation
bereits latent verankert war, nicht nur das Spiel mit dem Vertrauten.
Seit dem Eröffnungsabend waren drei Avantgardekünstler am Cabaret
beteiligt, die ebenfalls seit 1915 in Zürich lebten der elsässische Maler
und Poet Hans Arp, der rumänische Schriftsteller Tristan Tzara und der
rumänische Maler Marcel Janco Noch im Eröffhungsmonat konnte
Ball seinen Freund aus der Berliner Avantgardeszene nach Zürich lok-
ken: den literarischen Aktionisten Richard Huelsenbeck Junge Künst-
ler verschiedener Herkunft und verschiedener Gattungen In dem von

4
Ball, Flucht (Anm. 2), S 112
5
So die „Züricher Post" lt Ball, Flucht (Anm. 2), S. 95 (7. 5 1916)
44 Hugo Balls Dadaismus

Ball geschaffenen Organisations-Rahmen bildeten sie unter einer Viel-


zahl von gelegentlich Beteiligten bald so etwas wie eine Gruppe, eine
Operationseinheit auf freilich noch ungewissem Gelände Eigene Bin-
nenstrukturen kamen dabei ins Spiel, die mit Abgrenzungen nach außen
verbunden waren
Das war neu für Ball, der zwar Ensemblearbeit gewohnt war, aber im
täglichen Ko-Agieren ein treibendes Gefühl des Beengtseins6 entwik-
kelte, das freilich auch den eskalierenden Innovationsdrang der folgen-
den Monate befördert haben mag Als passionierter Tagebuchschreiber
registriert Ball die Stadien der Erschöpfung durch tägliche Auftritte
und wertet sie als Symptome einer inneren Abwendung Aber zunächst
betont er noch die produktive Offenheit der Gruppe: „Wir sind fünf
Freunde, und das Merkwürdige ist, daß wir eigentlich nie gleichzeitig
und völlig übereinstimmen, obgleich uns in der Hauptsache dieselbe
Überzeugung verbindet Die Konstellationen wechseln [...] Es ist eine
ununterbrochen wechselnde Anziehung und Abneigung Ein Einfall,
eine Geste, eine Nervosität genügt, und die Konstellation ändert sich,
ohne den kleinen Kreis indessen ernstlich zu stören " Eine innere Of-
fenheit, die Ball gemeinsam mit Huelsenbeck gerade durch eine von
Tzara betriebene 'Organisierung' gefährdet sieht Denn „Man soll aus
einer Laune nicht eine Kunstrichtung machen"8, notiert Ball noch am
11 April Aber was seine Bescheidenheit zur „Laune" herunterspielt,
sollte sich anderthalb Monate später unter dem neuartigen Signet
DADA verlautbaren, - nicht unter einem Programmwort alten Stils
wie in den vorausgehenden Kunst-Ismen des Kubismus, Futurismus
und Expressionismus Ein Signet, das die erborgte Autorität des Na-
menspatrons Voltaire am Ende verzichtbar machte.

6
Vgl Andeheinz Mösser: Hugo Ball - Die Flucht vor Dada, in: Hugo Ball Alma-
nach 1979, S 50-85 Ein Beitrag, der die reflektierte Distanz der veröffentlichten
Tagebuchnotizen beim Wort nimmt und dazu tendiert, Ball quasi als einen Da-
daisten wider Willen zu betrachten Dagegen spncht Balls tatsächlich vielgestalü-
ges. wenn auch nie unreflektiertes Engagement Den psychologischen Aspekten
der inneren Spannung und wiederkehrenden Erschöpfung Hugo Balls in jenen
Jahren, deren Ursachen außerhalb der Züncher Gruppe liegen, nähert sich der
Psychotherapeut Burkard Hoellen: „Man muß sich verlieren, wenn man sich fin-
den will" Ein Beitrag zu Hugo Balls Bruch mit Dada, in Hugo Ball Almanach
1991. S 120-164
' Ball. Flucht (Anm 2) S. 95
s
Ebd S 90
Hans Burkhard Schlichting 45

Am 31 Mai 1916 erscheint anläßlich einer Großen Soiree die Antho-


logie Cabaret Voltaire, in der das Wort DADA erstmals gedruckt zu
lesen ist. „Das nächste Ziel der hier vereinigten Künstler", schreibt Hu-
go Ball im Vorwort, „ist die Herausgabe einer Revue Internationale La
revue paraitra ä Zürich et portera le nom 'DADA'. ('Dada') Dada Da-
da Dada Dada."9
Die künftige Zeitschrift propagiert auch der abschließende Beitrag der
Sammlung Cabaret Voltaire, der von den beiden anderen Programma-
tikern der Züricher Künstlergruppe stammt, DADA betitelt ist und die
Frage nach der Herkunft des Namens mit phantastischen Sprachblüten
beantwortet: „Dada kam aus dem Leib eines Pferdes als Blumenkorb
Dada platzte als Eiterbeule aus dem Schornstein eines Wolkenkratzers,
o ja, ich sah Dada - als Embryo der violetten Krokodile flog Zinnober-
schwanz "10 - In einem kabarettistischen Dialog zwischen einem Kut-
scher und einer Lerche geben Balls Mitstreiter Tristan Tzara und Ri-
chard Huelsenbeck hier den öffentlichen Auftakt zur Mythologisierung
des Namens: Metaphern für Zeugung und Geburt DADAS als Ange-
binde aus dem Leib eines Pferdes
Huelsenbeck, von dem diese Textpassage stammt, behauptete wenige
Jahre später „Das Wort Dada wurde von Hugo Ball und mir zufällig in
einem deutsch-französischen Diktionär entdeckt, als wir einen Namen
für Madame le Roy, die Sängerin unseres Cabarets, suchten Dada be-
deutet im Französischen Holzpferdchen " n In der Presseankündigung
der 'Künstler-Gesellschaft Voltaire' zu besagter Soiree wird diese Di-
seuse freilich als Madame Leconte und nicht etwa als Madame Dada
angekündigt
Die Gründer des Dadaismus brachten im Laufe der Jahrzehnte eigene
Versionen dieser Namenstaufe ins Spiel, bei denen der Zufall eine
kreative Rolle spielt. Die bündigste und vermutlich ursprünglichste
Version hat der Kabarett-Initiator selbst in seinem Tagebuch festgehal-
ten, das freilich nur in der redigierten Fassung von 1927 zugänglich ist
Dort ist unter dem Datum 18 April 1916 zu lesen: „Tzara quält wegen
der Zeitschrift Mein Vorschlag, sie Dada zu nennen, wird angenom-
9
Cabaret Voltaire Eine Sammlung künstlenscher und literanscher Beiträge Hg. v
Hugo Ball Zürich 1916, S 5
10
Ebd. S. 31.
" Richard Huelsenbeck En anvant dada Die Geschichte des Dadaismus (Hannover
1920) Hamburg 1976, S. 12.
46 Hugo Balls Dadaismus

men [...] Dada heißt im Rumänischen Ja, Ja, im Französischen Hotto-


und Steckenpferd Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität
und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen"12 - Ob
Balls - vielleicht von Emmy Hennings inspirierter - Titelvorschlag für
die projektierte Zeitschrift am Anfang stand, oder ob es zunächst um
den neuen Künstlernamen für die französische Diseuse ging, läßt sich
anhand der Quellen nicht mit Sicherheit klären Wichtiger ist, daß der
Zweisilbler DADA innerhalb kurzer Zeit keine einzelne Person oder
Sache mehr beim Namen nennt, sondern von einer exklusiven Grup-
penbezeichnung zum universellen Reklamewort wird
Ein Vierteljahr nach der zitierten Tagebucheintragung verliest Hugo
Ball Das erste dadaistische Manifest Das geschieht jenseits des Züri-
cher Amüsierviertels der Spiegelgasse im seriösen 'Zunfthaus zur
Waag' Am 14 Juli 1916 findet dort der so genannte T Dada-Abend'
statt Ball trägt Lautgedichte vor, die er mit seinem programmatischen
Manifest einleitet, in dem das Wort mit einer Fülle von Assoziationen
auftaucht: „Dada ist eine Kunstrichtung Das kann man daran erken-
nen, daß bisher niemand etwas davon wußte und morgen ganz Zürich
davon reden wird Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist fürchtbar
einfach Im Französischen bedeutet's Steckenpferd Im Deutschen
heißt's Addio, steigts mir den Rücken runter Auf Wiedersehen ein
andermal1 Im Rumänischen 'Ja wahrhaftig, Sie haben recht, so ist's
Jawohl, wirklich, machen wir ' Und so weiter / Ein internationales
Wort. Nur ein Wort und das Wort als Bewegung Sehr leicht zu ver-
stehen Es ist ganz furchtbar einfach Wenn man eine Kunstrichtung
daraus macht, muß das bedeuten, man will Komplikationen wegneh-
men [...]/ Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man Dada sagt
Wie wird man berühmt? Indem man Dada sagt Mit edlem Gestus und
mit feinem Anstand Bis zum Irrsinn Bis zur Bewußtlosigkeit Wie
kann man alles Journalige, Aalige, alles Nette und Adrette, Vermorali-
sierte, Europäisierte, Enervierte, abtun9 Indem man Dada sagt Dada

12
Ball, Flucht (Anm 2), S. 94. - Die von Ball erwähnte deutsche Leseart des Na-
mens könnte zumindest teils durch Emmy Hennings inspiriert sein, die in einem
Text aus dem Nachlaß ebenfalls ihren Anspruch auf die Namenfindung mit fol-
gender Formulierung anmeldet: „Dada - das Wort - stammt von mir, und ich
habs in einer Spielerei oft Hugo gesagt, wenn ich spazieren gehen wollte. Alle
Kinder sagen zuerst "Dada"" (Emmy Ball-Hennings: Aus dem Leben Hugo Balls
1916-1920, m: Hugo Ball Almanach 1991, S 51-119, hier S. 53.)
Hans Burkhard Schlichv.ng 47

ist die Weltseele, Dada ist der Clou Dada ist die beste Lilienmilchseife
der Welt."13
Tatsächlich war „Dada" in der Schweiz seit 1906 das geschützte
Markenzeichen für eine Reihe von Parfümerie-Artikeln, die in
Deutschland teils als „Steckenpferd" firmierten, und deren Spitzenpro-
dukt eine Lilienmilchseife war 14 Die unauffällige Allgegenwart von
Zeitungs-Anzeigen und Plakatwerbung spielt ebenso in die Namensfin-
dung der Dadaisten hinein wie in die Praxis ihrer Bild- und Sprachcol-
lagen Anders als für Impressionisten, Kubisten und Expressionisten
trieben nicht Stilrichtung und ein bestimmtes „Kunstwollen" zur Defi-
nition, sondern dessen zivilisatorische Verknüpfung mit dem offenen
Spielraum handeis- und landesüblicher Wortbedeutungen Banale An-
spielungen unterlaufen alles globale Pathos Ironie15 löst hier alle ein-
seitigen Festlegungen auf und hält den Wort-Kosmos ständig in Bewe-
gung DADA „Nur ein Wort und das Wort als Bewegung", wie es in
Balls Manifest heißt
Das relativen die Frage nach der Urheberschaft der Namensfindung,
an der Ball zumindest beteiligt war Huelsenbeck, der diese Urheber-
schaft nach Balls Tod für sich selbst beanspruchte, berief sich dabei auf
einen Brief, in dem Ball ihn 1926 zu einer Rezension seines Buches Die
Flucht aus der Zeit eingeladen hatte: „Du hättest dann das letzte Wort
zur Sache, wie Du das erste hattest"16, heißt es dort mit Hinweis auf
das Dada-Kapitel Eine mehrdeutige Anspielung freilich, die sich nicht
zwingend auf die Prioritätsfrage der Namensfindung beziehen muß,
sondern explizit nur die Sache des Dadaismus anspricht, die Huelsen-

13
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit Ausgewählte Schriften Hg v.
Hans Burkhard Schlichtmg, Frankfurt/M 1984, S 39
14
Raimund Meyer: „Dada ist gross, Dada ist schön" Zur Geschichte von „Dada
Zürich", in: Hans Bolliger, Guido Magnaguagno/Raimund Meyer: DADA in Zü-
nch. Zünch 1985, S. 25-27.
15
Andeheinz Mösser (Anm. 6), S. 68 meint, daß die Ironien von Balls Manifest
nicht ans Publikum, sondern nur an die dadaistischen Mitstreiter adressiert gewe-
sen seien, als Anzeichen für die „kaum verhüllte Absage an die Freunde", von
der Ball in Die Flucht aus der Zeit (Anm 2), S. 111 spricht. Tatsächlich bezieht
sich Balls Ironie auf den Unernst der Namensgebung, nicht auf den poetologi-
schen Ernst der Sache, den Ball in seinen Lautgedichten zumindest teilt: „Dada
ist das Herz der Worte "
16
Hugo Ball Briefe 1911-1927 Hg v Annemarie Schutt-Hennings Einsie-
deln/Zünch/Köln 1957, S. 278 (Brief vom 8. 11 1926)
48 Hugo Balls Dadaismus

beck im Lauf der Jahre tatsächlich nachhaltiger als Ball zu seiner Sache
gemacht hatte Daß Huelsenbeck, der in der Flucht aus der Zeit als
Prototyp des Dadaisten portraitiert ist, in Balls Sinne das erste „Wort
zur Sache" hatte, kann sich auch auf Huelsenbecks Initiative zu einer
gemeinsamen Berliner Soiree beziehen, die kurz vor Balls Emigration
im Frühjahr 1915 stattfand, einen neuen „Negationismus" proklamierte
und als Prototyp späterer DADA-Soireen gilt.17 Aber für Dada selbst
erklärte Ball in einem anderen Brief aus dem Jahr 1918 unmißverständ-
lich: „Der Dadaismus stammt von mir" ,18
Dieser Stammvater des Dadaismus hat seine auktorialen Rechte frei-
lich nie eingefordert, denn von der Kerngruppe DADAs war er der
erste, der seinen Ausstieg vollzog Und dies in zwei Phasen Ein erstes
Mal war er im Sommer 1916 ins Tessin abgereist, wo ihn (zunächst
vergebliche) Rückkehr-Bitten der Freunde erreichten, - ein zweites Mal
abrupt und endgültig im Mai 1917, als er Emmy Hennings und den
verbliebenen Freunden die Auflösung der Galerie Dada überließ
Nach einer Phase der Distanzierung und Verarbeitung hatte er im
März 1917 die Leitung der Galerie übernommen, - gemeinsam mit dem
zehn Jahre jüngeren Tristan Tzara Schauplatz der Züricher Dadaisten
war nun nicht mehr das Amüsierviertel Niederdorf, sondern die vor-
nehme Bahnhofstraße Der schweizer Galerist Corray, dessen Züricher
Räume die Galerie Dada übernahm, brachte eine zweiteilige 'Sturm-
Ausstellung' von Herwarth Waiden ein, der von Berlin aus zahlreiche
Galerien im In- und Ausland mit verkaufsträchtiger Avantgardekunst
versorgte Wieder waren Balls Erfahrung als Organisator und seine
Verbindungen zur neuen Kunstszene gefragt, die er noch als Drama-
turg der Münchener Kammerspiele geknüpft hatte - Nach dem literari-
schen Schwerpunkt der Kabarettarbeit verlagerte sich das Hauptge-
wicht nun auf bildende Kunst und neuen Ausdruckstanz, der damals
mit Rudolf von Laban und Mary Wigman in Zürich sein Zentrum hatte
Ohne Zwang zur kabarettistischen Unterhaltung, entwickeln die Gale-
rie-Soireen eine avantgardistische Eigendynamik Und wieder trat Ball

1
Gerhard Schaub: Dada avant la lettre Ein unbekanntes „literarisches Manifest"
von Hugo Ball und Richard Huelsenbeck, m: Hugo Ball Almanach, 9/10 Folge
(1985/86), S. 63-180
18
Ball, Briefe (Anm. 16). S 109 (Brief an Emmy Hennings 1918). - Vom
„Dadaismus, den ich selbst begründet habe" spricht Ball auch in einem Brief an
August Hofmann vom 7 10 1916 (ebd S 66)
Hans Burkhard Schlichting 49

als Programmatiker auf, vor allem zum Abschluß der ersten Ausstel-
lung mit seinem Finissagevortrag über Kandinsky, der die umfassendste
Erklärung zum Phänomen der Moderne bietet, die aus seinen avant-
gardistischen Jahren überliefert ist.
„DADA bedeutet nichts", dekretierte Tristan Tzara 1918: „DADA -
das ist ein Wort, das die Gedanken auf Jagd schickt "19 Inzwischen
hatte seine Züricher Zeitschrift ohne Balls Beteiligung das Titelwort
Dada unter der Künstlerboheme halb Europas in Umlauf gesetzt Seit
Sommer 1916 erschien die poetische Schriftenreihe Collection Dada,
seit 1917 die Zeitschrift Dada, die der agile Herausgeber Tzara in Paris
weiterführte, als er seine Dada-Propaganda aus dem still gewordenen
Nachkriegs-Zürich 1920 auf die Plakatwände der europäischen Kunst-
Metropole verlegte Inzwischen gab es längst andere Dada-Zentren
Hans Arp war zum Mitstreiter der Kölner Dadaisten um Max Ernst
geworden Und Richard Huelsenbeck hatte noch in den letzten
Kriegsmonaten die Dada-Propaganda in Berlin eröffnet Aber was sich
dort und andernorts abspielte, nahm Hugo Ball nur noch sporadisch
wahr Bereits Ende Mai 1917 hatte er sich - wie gesagt - von der Züri-
cher Gruppe gelöst und seinem internen Konkurrenten Tristan Tzara
die Rolle des Organisators überlassen Noch im selben Jahr setzte er
bei der Freien Zeitung in Bern sein journalistisches Engagement fort,
das im ersten Kriegswinter begonnen hatte und bis zum Kapp-Putsch
des Jahres 1920 dauern sollte Als Redakteur der Freien Zeitung auf
Deutschlandreise, erlebt er 1919 in Berlin noch einmal eine Dada-
Soiree: „Als Publikum", schreibt er an Emmy Hennings „Und ich hatte
meine helle Freude daran Und wenn mir auch heute noch die Ohren
davon sausen, so muß ich doch sagen, daß der kleine Saal des Graphi-
schen Kabinetts in der Sezession überfüllt war und alle Neger-Instikte
Groß-Berlins sich schamhaft erkannt und ans Licht gebracht sahen."20
Noch einmal klingt hier ein Stichwort an, das heute irritierend arglos
wirkt, aber zentral war für den Dadaismus der Anfangsjahre

19
Übs aus: Tristan Tzara: manifeste dada 1918, in: T.T.: lampisteries precedees
des sept manifestes dada Paris 1963, S 18f
2U
Ball. Briefe (Anm 16). S 124 - Einer von Balls Mitarbeitern hat für die Freie
Zeitung einen Bericht über diese Veranstaltung geschrieben Vgl Hanne Bergius:
Das Lachen Dadas Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen Gießen 1989, S
339
50 Hugo Balls Dadaismus

2 DADA 1916/17 - Balls künstlerischer Beitrag

Die so genannten „Negerinstinkte" inmitten der Großstadtkulturen des


Westens aufzuspüren, war ein Programm, dessen revolutionärer Kern
angesichts heutiger Multikulturalität der Ausdrucksformen kaum noch
vorstellbar ist Balls kulturelle Einheits-Sehnsüchte galten nie einem
Arrangement mit dem Vorherrschenden, sondern immer der Bildung
einer Gegen-Kultur, für die er im Laufe seiner Entwicklung höchst
verschiedene Anknüpfungspunkte fand: in der philosophischen Kritik
und der Avantgardekunst, in der gelebten Subkultur und in politisch-
oppositionellen Strömungen Formen der Gegen-Kultur, als deren po-
tentiell fundamentalste er - an deutschen Kultur-Hegemonien gemessen
- schließlich die katholische Kirche verstand Obwohl seine private
Vorstellungswelt wie bei keinem anderen Dadaisten ans christliche
Abendland geknüpft war (und bis in die Sprache seiner Veröffentli-
chungen hinein läßt sich das verfolgen), durchschaute Ball die ethno-
zentrische Beschränktheit seiner Zeitgenossen, - eine Beschränktheit,
die in den Chauvinismen des Krieges soeben ihren Blutzoll forderte
Auch wenn nur wenige wie Ball die Konsequenz ziehen, sich dem
allgemeinen Kriegstreiben zu entziehen, artikulieren die emigrierten
Künstler, die sich mit ihm im neutralen Zürich zur Kerngruppe des Da-
daismus zusammenfinden, doch eine Stimmung, die nicht auf die op-
positionelle Boheme beschränkt ist und später ihre Fähigkeit zur Ver-
allgemeinerung beweisen wird Die Diskrepanz zwischen den harmo-
niestiftenden Spielregeln der herrschenden Kultur und den unritterli-
chen Operationen des ersten Weltkrieges, der durch Technik und Ma-
terialschlachten entschieden wird, ist nämlich für jedermann offensicht-
lich, sobald die millionenfachen Opfer und die Folgen der Kriegswirt-
schaft im Alltag spürbar werden Unausweichliche Realitäten, die
schließlich von keinem der Feindbilder mehr zu verdecken sind, die die
Propaganda der kriegführenden Länder vom jeweiligen Gegner entwik-
kelt Das untergründige Lebensgefühl der Kriegsgeneration bringt Hu-
go Ball - noch vor Freud - auf die einfache Formel „Der Genuß jeder
Ausschweifung, so auch des Krieges, beruht auf einer Rache an der
Kultur"21

21
Ball. Flucht (Anm.2), S. 275
Hans Burkhard Schlichting 51

Als er in einem Brief nach Deutschland seine „Idee des Dadaismus"


auf eine Quintessenz zu bringen versucht, nennt er sie die „Idee der
absoluten Vereinfachung, der absoluten Negerei, angemessen den
primitiven Abenteuern unserer Zeit"22 In diesem Sinne entdeckt er in
den Debatten der Cabaret-Gruppe „ein brennendes, täglich flagranteres
Suchen nach dem spezifischen Rhythmus, nach dem vergrabenen Ge-
sicht dieser Zeit [...] Die Kunst ist dazu nur ein Anlaß, eine Metho-
de" 23
Die Rhythmen und Gesichter, nach denen die Dadaisten suchen, fin-
den sie zunächst vorgebildet in der Kunst Schwarzafrikas Im Jahr
1900 hatte die Pariser Weltausstellung erstmals in Europa das Faszino-
sum der so genannten 'Negerplastiken' publik gemacht, die bis dahin
allenfalls Forschungsobjekte für Ethnologen waren Ein Faszinosum,
das wenige Jahre später in die Formwelt der Pariser Kubisten und
Fauvisten (also der ersten „Wilden" der modernen Kunst) eingegangen
war Carl Einstein, ein deutscher Theoretiker des Kubismus, der sich
später dem Berliner 'Club Dada' anschließen sollte, hatte 1915 eine
Monographie über Negerplastik veröffentlicht und damit eine Ästhetik
des Primitiven begründet Dieses Werk hat auch unter mitteleuropäi-
schen Künstlern den Sinn für die Gegenkräfte primtiver Kulturen ge-
öffnet und eine Art imaginärer Ethnokunst eingeleitet, die sich in der
Frühphase des Dadaismus zu einem Kult des Primitiven entwickelte
Als sich die dadaistischen Maler (noch vor Eröffnung der Galerie Da-
da) im Januar 1917 erstmals geschlossen in einer Ausstellung präsen-
tierten, waren afrikanische Skulpturen und Waffen aus der Sammlung
des Galeristen Corray neben ihren Bildern zu sehen 24
Schon Ende März 1916 hatte Ball die ersten „chants negres", künstli-
che „Negergesänge", auf der Bühne des 'Cabaret Voltaire' inszeniert:
schwarze Kutten für die Akteure, exotische Trommeln mit einer Musik
von Hugo Ball, für die der holländische Wirt des Lokals einige Melodi-
en beisteuerte, die er aus einem längeren Aufenthalt in den Kolonien
erinnerte Ahnliches wiederholte Ball ein Jahr später in der 'Galerie
Dada' mit Tanzschülerinnen Rudolf von Labans in Masken von Marcel
Janco

" Ball. Briefe (Anm. 16), S 66 (Bnef vom 7 10 1916 an August Hofmann)
:3
Ball. Flucht (Anm 2), S. 87-88
24
Meyer (Anm. 14), S. 39.
52 Hugo Balls Dadaismus

Ball ging es bei seinen dadaistischen Aktivitäten in buchstäblichem


Sinne um eine Verkörperung der Poesie: um eine Verkörperung in den
Masken, in lautlichen Gesten und im Tanz, um eine neue Körper-
Sprache, um eine unwillkürliche Verwandlung der Akteure - Was er in
Jancos Masken 1917 mit professionellen Tänzern in Szene setzte, hat-
ten die Dadaisten im 'Cabaret Voltaire' am eigenen Leibe erprobt. Als
sie dort in der Großen Soiree vom 31 Mai 1916 zum ersten Mal mit
dem Wort DADA an die Öffentlichkeit traten, gehörte ein Maskentanz
zum Programm, für den es keine zeitgenössischen Vorbilder gab Wäh-
rend der Proben hatte Ball über die Masken notiert „Sie erinnern an
das japanische oder altgriechische Theater und sind doch völlig mo-
dern Für die Fernwirkung berechnet, tun sie in dem verhältnismäßig
kleinen Kabarettraum eine unerhörte Wirkung Wir alle waren zuge-
gen, als Janco mit seinen Masken ankam und jeder band sich sogleich
eine um Da geschah nun etwas Seltsames Die Maske verlangte nicht
nur sofort nach einem Kostüm, sie diktierte auch einen ganz bestimm-
ten pathetischen, ja an Irrsinn streifenden Gestus Ohne es fünf Minuten
vorher auch nur geahnt zu haben, bewegten wir uns zu den absonder-
lichsten Figuren, drapiert und behängt mit unmöglichen Gegenständen,
einer den andern an Einfällen überbietend Die motorische Gewalt die-
ser Masken teilte sich uns in frappierender Unwiderstehlichkeit mit
Wir waren mit einem Male darüber belehrt, worin die Bedeutung einer
solchen Larve für die Mimik, für das Theater bestand Die Masken
verlangten einfach, daß ihre Träger sich zu einem tragisch-absurden
Tanz in Bewegung setzten [...] Was an den Masken uns allesamt fas-
ziniert, ist, daß sie nicht menschliche, sondern überlebensgroße Charak-
tere und Leidenschaften verkörpern Das Grauen dieser Zeit, der para-
lysierende Hintergrund der Dinge, ist sichtbar gemacht."25 Was Ball
früher als Suche nach dem „spezifischen Rhythmus, nach dem vergra-
benen Gesicht dieser Zeit" beschrieben hatte, hatte hier ein unwillkürli-
ches und unvorhersehbares Ergebnis: die Maske entpuppte sich als das
wahre Gesicht26, weil sie zum Medium ungeahnter psychischer Energi-
en wurde

25
Ball, Flucht (Anm 2), S 96-97
26
Das wahre Gesicht sind bezeichnenderweise zwei politische Artikel beutelt, mit
denen Balls politisch-journalistisches Engagement in der Schweiz 1915 beginnt
und 1920 endet (in: Die neue Tribüne vom 5 11. 1915 und in Die Freie Zeitung
vom 17 3 1920). Von der paradoxen Enthüllung des wahren Gesichts durch
Hans Burkhard Schlichting 53

Beschreibungen wie diese sind selten Jancos Masken sind immerhin


als Museumsstücke im Pariser 'Musee de l'art moderne' erhalten Aber
Filmdokumente, die die Lebendigkeit der Züricher Aktionen festgehal-
ten hätten, gibt es ebensowenig wie Grammophonaufzeichnungen von
Musik und Rezitationen Das hat den kreativen Anteil des gelernten
Theatermannes Ball an den Veranstaltungen der Dadaisten für die
Nachwelt einigermaßen verdunkelt und auf wenige Gedichte und die
rezitierten Kapitel seines bizarren Romans Tenderenda der Phantast11
schrumpfen lassen Die meisten der Ereignisse, die für die Entwicklung
DADAS wichtiger waren als manches überlieferte Bild oder Gedicht,
sind nur als Programmankündigungen überliefert Fast nichts, das den
Verlauf von Balls Inszenierungen beschriebe28, nur vereinzelt ein Pho-
to Beim folgenden Beispiel fehlt auch das.
In derselben Soiree, in der der erste Maskentanz zelebriert wurde,
kam es zur Uraufführung eines Szenarios von Ball, dessen Text lange
verschollen war und erst 1986 publiziert wurde: Ein Krippenspiel.
Bruitistisch29 Ein Versuch, die christliche Weihnachtsgeschichte mit
den Mitteln formaler Abstraktion zu erzählen, dessen spontanes Ver-
ständnis im Publikum sich auch dem Bekanntheitsgrad des Sujets ver-
dankt Ein Stück ohne verständliche Dialoge Ein Spiel im verdunkel-
ten Saal, der sich erst gegen Schluß erhellt und den Blick auf die Sze-
nerie freigibt: Mit dem Rücken zum Publikum sitzen die Akteure, in
schwarze Tücher gehüllt, so daß - wie es im Text heißt - „ihre Gestalt
verschwindet" Keine Darsteller in einem weihnachtlichen Kostüm-

magische Maskierung und Kostümierung handelt später eine zentrale Passage


seines Aufsatzes Der Künstler und die Zeitkrankheit: „Es handelt sich hier mcht
mehr um eine Mimikry des Schauspielers und Nachahmers, sondern um die ma-
gische Identifikation mit einem kreativen übermenschlichen Wesen, das den
Menschen, der vorher nur Sinn und Materie war, im Innersten prägt und erhöht "
(Ball [Anm 13], S. 104)
27
Der vollständige Text wurde ein halbes Jahrhundert später aus dem Nachlaß
veröffentlicht: Hugo Ball: Tenderenda der Phantast Roman Zürich 1967 Nach-
druck in: Ball, Künstler (Anm 13), S 377-417
28
Die meisten erhaltenen Zeugnisse sind versammelt bei Raoul Schrott DADA
15/25 Post Scnptum oder Die himmlischen Abenteuer des Hr n Tnstan Tzara
und ein Suspensarium von Gerald Nitsche zu Eide Steeg & Raoul Hausmann
Innsbruck 1992
29
Veröffentlicht unter dem Manusknpt-Außentitel: Hugo Ball: Simultan Knppen-
spiel Hg v Karl Riha Siegen 1986 (Vergessene Autoren der Moderne 18).
54 Hugo Balls Dadaismus

Tableau, sondern echte Hör-Spieler, die im Dunklen längst ohne rhe-


torische Deklamation allen Anwesenden vorgeführt haben, welche Ge-
schichte sich hier abspielt Die einfachen Vorgänge werden mit einer
erstaunlichen Vielfalt rein akustischer Darstellungsmittel simuliert
Statt vieler Worte asemantische Lautgesten und Tierstimmen-
Imitationen, Pfeifen, Kauen und Schmatzen, geräuschvolles Hantieren
mit geeigneten Requisiten, einfache musikalische Klänge, Füßestamp-
fen, Stoßen und Niederfallen Die Geburt der akustischen Kunst aus
dem Geist des Kabaretts eines buchstäblichen Hör-Spiels mit Ge-
räuschmusiken und lautmalerischen Stimmen im verdunkelten Raum
Der Weg zu einer autonomen akustischen Poesie, den Ball weiterge-
gangen ist
Schon bei nächster Gelegenheit hat er aufs illustrative Geschichtener-
zählen verzichtet Knapp drei Wochen nach dem bruitistischen Simul-
tan-Knppenspiel notiert er „Wir haben die Plastizität des Wortes jetzt
bis zu einem Punkte getrieben, an dem sie schwerlich mehr überboten
werden kann Wir erreichten dies Resultat auf Kosten des logisch ge-
bauten, verstandesmäßigen Satzes und demnach auch unter Verzicht
auf ein dokumentarisches Werk (als welches nur mittels zeitraubender
Gruppierung von Sätzen in einer logisch geordneten Syntax möglich
ist) [ ] Wir suchten der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwö-
rung, die Glut eines Gestirns zu verleihen Und seltsam die magisch
erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen n e u e n Satz, der von
keinerlei konventionellem Sinn bedingt und gebunden war An hundert
Gedanken zugleich anstreifend, ohne sie namhaft zu machen, ließ die-
ser Satz das urtümlich spielende, aber versunkene, irrationale Wesen
des Hörers erklingen, weckte und bestärkte er die untersten Schichten
der Erinnerung " 3
Eine Postkarte des Cabaret Voltaire zeigt Ball auf der Bühne zwi-
schen Notenständern in starrer Pose, die Hände in unförmigen
Papphandschuhen, Glieder und Rumpf in Kartonsäulen versteckt, Nak-
ken und Schultern von einem steifen Mantelkragen verdeckt und mit
einem hoch aufragenden Kartonhelm auf dem Kopf, den er selbst einen
„Schamanenhut" nennt
Das Dokument einer Inszenierung, bei der es tatsächlich darum ging,
das hervorzuzaubern, was Ball das „versunkene, irrationale Wesen des

Ball, Flucht (Anm 2). S. 102 (18. 6 1916)


Hans Burkhard Schlichting 55

Hörers" nennt Ein Ereignis, das in der Poesiegeschichte Epoche ge-


macht hat und unter dem 23 Juni 1916 festgehalten ist: „Ich habe eine
neue Gattung von Versen erfunden, 'Verse ohne Worte' oder Lautge-
dichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der
Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird Die ersten dieser Verse habe
ich heute abend vorgelesen [ ] Ich hatte an allen drei Seiten des Podi-
ums gegen das Publikum Notenständer errichtet und stellte darauf mein
mit Rotstift gemaltes Manuskript, bald am einen, bald am anderen No-
tenständer zelebrierend [...] Also ließ ich mich, da ich als Säule nicht
gehen konnte, in der Verfinsterung auf das Podest tragen und begann
langsam und feierlich:
gadji beri bimba
glandridi lauli lonni cadori
gadjama bim beri glassala
glandridi glassala tuffrn i zimbrabim
blassa galasssasa tuffrn i zimbrabim .
Die Akzente wurden schwerer, der Ausdruck steigerte sich in der Ver-
schärfung der Konsonanten Ich merkte sehr bald, daß meine Aus-
drucksmittel, wenn ich erst bleiben wollte (und das wollte ich um jeden
Preis) dem Pomp meiner Inszenierung nicht würden gewachsen sein
[...] Ich hatte jetzt rechts am Notenständer 'Labadas Gesang an die
Wolken' und links die 'Elefantenkarawane' absolviert und wandte mich
wieder zur mittleren Staffelei, fleißig mit den Flügeln schlagend. Die
schweren Vokalreihen und der schleppende Rhythmus der Elefanten
hatten mir eben noch eine letzte Steigerung erlaubt Wie sollte ich's zu
Ende führen9 Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer
Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation an-
nahm, jenen Stil des Meßgesangs, wie er durch die katholischen Kir-
chen des Morgen- und Abendlandes wehklagt
Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab Aber ich begann meine
Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu singen und versuchte es,
nicht nur ernst zu bleiben, sondern mir auch den Ernst zu erzwingen
Einen Moment lang schien mir, als tauche in meiner kubistischen Mas-
ke ein bleiches, verstörtes Jungensgesicht auf, jenes halb erschrockene,
halb neugierige Gesicht eines zehnjährigen Knaben, der in den Toten-
messen und Hochämtern seiner Heimatspfarrei zitternd und gierig am
Munde der Priester hängt Da erlosch, wie ich es bestellt hatte, das
56 Hugo Balls Dadaismus

elektrische Licht und ich wurde vom Podium herab schweißbedeckt als
ein magischer Bischof in die Versenkung getragen "31
An den eigenen Unsicherheiten erfahrt Ball die ungewohnte Gestal-
tungsfreiheit einer rein phonetischen Poesie, die auch dort noch artiku-
latorische Entscheidungen fordert, wo bei gewohnten Texten Wortsinn
und Grammatik die Richtung weisen Lautgedichte sind Medien ohne
Botschaft, Spielräume des mimetischen Vermögens
Was sich für Ball hier in einer Art von medialen Selbstbegegnung
einstellt, wird zum Kern einer lebensgeschichtlichen Wende Aber der
Vorgang ist exemplarisch und weist - auch für Ball - über das Indivi-
duelle hinaus Früher als andere Dadaisten ahnt er, daß der Angriff auf
die hierarchische Grammatik des Sinns auch dessen Organisation in der
Schrift betrifft^2, die er in seinen dadaistischen Inszenierungen konse-
quenterweise verläßt, um die Laute in ihrer Ursprünglichkeit zu ent-
decken „Dada ist das Herz der Worte", konstatiert er im Ersten da-
daistischen Manifestn Der Theorie nach wird die rousseauistische
Vorstellung von der Ursprünglichkeit der Laute mit der zu befreien-
den Autonomie dieser Laute verknüpft, - im Sinne einer Radikalisie-
rung dessen, was die italienischen Futuristen 'parole in libertä', „Worte
in Freiheit" nannten Daß sich Ball bei seinem Schlüsselerlebnis mit
eigenen Lautgedichten in actu an rituelle Praktiken erinnert fühlt, er-
öffnet freilich einen neuen Zusammenhang, dem er in seinen späteren
Reflexionen nachgeht Die - wenn auch nur gedachte - Rückkehr auto-
nomistischer Kunstübung ins Ritual, bezeichnet einen Wendepunkt im
Bewußtsein der literarischen Moderne den von ihrer genialischen Au-
tonomie zur medialen Inspiration 35

3
^ Ebd. S 105-107.
32
Vgl Balls anarchistische Spekulation vom 1 7. 1915 zum Stil Proudhons: „Hat
man nämlich einmal erkannt, daß das Wort die erste Regierung war. so führt dies
zu einem fluktuierenden Stil, der die Dingworte vermeidet und der Konzentration
ausweicht Die einzelnen Satzteile, ja die einzelnen Vokabeln und Laute erhalten
ihr Autonomie zurück „ (Ball, Flucht [Anm 2], S 35)
33
Ball. Künstler (Anm. 13), S. 40.
34
Auch Ball scheinen einschlägige theologisch-philosophische Schriften von
Agnppa von Nettesheim, Rousseau. Herder und anderen nicht bekannt gewesen
zu sein
5
1926 beschreibt Ball diesen Übergang im Zusammenhang einer umfassenden
Knsis der modernen Künstlerexistenz Es handelt sich um den Aufsatz Der
Künstler und die Zeitkrankheit in: Ball (Anm 13), S. 102-149
Hans Burkhard Schlichting 57

Später notiert Ball: „Die Nervensysteme sind äußerst sensibel gewor-


den Absoluter Tanz, absolute Poesie, absolute Kunst - gemeint ist,
daß ein Minimum von Eindrücken genügt, um außergewöhnliche
Bildformen hervorzurufen Alle Welt ist medial geworden: vor Angst,
vor Schreck, vor Qual, oder weil es keine Gesetze mehr gibt - wer
weiß es? [...] Es gibt Urvolker, bei denen alle derart empfindsamen
Kinder schon im frühesten Alter aus dem Leben zurückgezogen wer-
den und von Staats wegen eine besondere Ausbildung als Hellseher,
Priester und Arzt erhalten Im modernen Europa bleiben diese Genies
allen zerstörenden, dummen, verwirrenden Eindrücken ausgesetzt "36
Balls Lautpoesie, das bleibt festzuhalten, entfaltet sich nicht in einsa-
men Schreibprozessen, sondern in präsentativen Ritualen - Zu den
starren Posen von Balls priesterlichen Lamentationen kam die Bewe-
gung: Zentralprinzip des sogenannten „neuen Ausdruckstanzes", des-
sen Begründer Rudolf von Laban und Mary Wigman 1916 Augenzeu-
gen von Balls Premiere gewesen waren Sophie Taeuber, eine Laban-
Schülerin, eröffnete im folgenden Jahr die Reihe der Soireen in der
Galerie Dada mit „abstrakten Tänzen" nach Balls Lautgedichten in
Masken von Hans Arp Nach der Eröffhungs-Soiree vom 29. März
1917 notiert Ball: „Abstakte Tänze: ein Gongschlag genügt, um den
Körper der Tänzerin zu den phantastischsten Gebilden anzuregen Der
Tanz ist Selbstzweck geworden. Das Nervensystem erschöpft alle
Schwingungen des Klanges, vielleicht auch alle verborgene Emotion
des Gongschlägers und läßt sie Bild werden Hier im besonderen Falle
genügte eine poetische Lautfolge, um jeder der einzelnen Wortpartikel
zum sonderbarsten, sichtbaren Leben am hundertfach gegliederten
Körper der Tänzerin zu verhelfen Aus einem 'Gesang der Flugfische
und der Seepferdchen' wurde ein Tanz voller Spitzen und Gräten, voll
flirrender Sonne und von schneidender Schärfe."37
Nicht der Kunstcharakter solcher Tänze bleibt für Ball das Entschei-
dende, sondern ihre Kraft zur Evokation Später stellt er fest: „Der
Tanz als eine Kunst des nächsten und direktesten Materials steht der
Kunst des Tätowierens und allen primitiven und auf Verkörperung
bedachten Bestrebungen sehr nahe, oft geht er in sie über "38 Gerade

36
Ball, Flucht (Anm 2), S 161-162
37
Ebd S. 153-154
38
Ebd. S. 154-155
58 Hugo Balls Dadaismus

die Verkörperung dieser Art aber galt Ball als Rückführung ins Au-
thentische „Das Tätowieren war ursprünglich wohl eine hieratische
Kunst", schreibt er: „Wenn sich die Dichter ihre Verse, oder auch nur
ihre Urbilder ins eigene Fleisch schneiden müßten, würde wohl weniger
produziert werden Andererseits würden sie den ursprünglichen Sinn
der Publikation als eine Form der Selbstentblößung weniger umgehen
können Auch würden manche Lyriker - ich will keine Namen nennen -
durch Vorzeigen ihrer Menschlichkeiten völlig entlarvt dastehen Item
man sollte darauf achten, ob Bücher geklext oder tätowiert sind Und
ob die Schönheit an den Kleidern hängt oder im Fleische brennt "39
Diese Insistenz auf dem Authentischen macht für Ball den Rumor hin-
ter allen dadaistischen Maskeraden aus Und aus dieser Insistenz ent-
wickelt er auch seine Kritik an Dada Kurz vor seinem Abbruch der
Galerie-Experimente notiert er am 14 Mai 1917: „Auch von den Ne-
gern nehmen wir nur die magisch-liturgischen Stücke und nur die Anti-
these macht sie interessant Wir drapieren uns als Medizinmänner mit
ihren Abzeichen und ihren Extrakten, erlassen uns aber gerne den Weg,
auf denen sie zu diesen Kult- und Paradestücken gekommen sind Ein
Kreuz ist übrigens einfacher als eine Negerplastik."

3 DADA 1916/17 - Balls programmatischer Horizont

Das rein ästhetische Interesse an primitiven Kulturen, seit der Jahrhun-


dertwende in Europa verbreitet, reicht Hugo Ball nicht aus Sein eth-
nographisches Interesse schließt den fremden Kultus ein und wird sich
in späteren Jahren auf dem Felde der eigenen Kultur entwickeln, im
Sinne einer psychohistorischen Archäologie des Christentums, die im-
mer (auch) das eigene Christentum meint Sein Bekennertum ist als
bloß private Religiosität nicht zu fassen Nicht nur für den Tagebuch-
schreiber und Essayisten rücken Kulturforschung und Selbsterfor-
schung in eine enge Verbindung Darin ist Ball vergleichbar denen, die
in Paris die Nachfolge von DADA angetreten haben in der Verknüp-
fung des Interesses an fremden Kulturen mit der surrealen Erforschung
des Fremden in uns selbst, für die der französische Surrealist und Eth-
nologe Michel Leiris das prominenteste Beispiel bietet

Ebd S. 61-62
Ebd S 168.
Hans Burkhard Schlichting 59

In einer unbekannt gebliebenen Tagebuchnotiz aus dem Nachlaß, die


Emmy Hennings 1931 an entlegener Stelle veröffentlicht hat, heißt es:
„Der Philosoph von heute wird in Büchern und selbst in Menschen wie
in Referaten lesen, nach denen er sein Urteil richtet und seine Entschei-
dungen trifft Er kann die Menschen nur noch selten um ihrer selbst
willen gelten lassen. Er ist in einemfort aufs unliebsamste genötigt, sie
als eine Semiotik zu betrachten, das eigene Ich nicht ausgenommen
Wo nicht das Menschenbild zu einer gegründeten Würde erhoben wird,
ist ein harmlos geselliges Leben nicht denkbar Einer wird den andern
enttäuschen, einer vom andern beunruhigt sein "41 Die Beunruhigung,
von der Ball in dieser undatierten Notiz spricht, und die zum Kern des
dadaistischen Rumors gehörte, artikuliert sich bei ihm am frühesten in
den bizarren Zeichen-Kombinationen und flüchtigen Attributen von
Romanfiguren Nach Kriegsausbruch hatte er die Arbeit an seinem
Roman Tenderenda der Phantast begonnen, der ihn durch die Dada-
Jahre hindurch bis 1920 beschäftigte und aus dem er in den Züricher
Veranstaltungen mehrfach rezitierte „Zweck meines vor zwei Jahren,
im Herbst 14 begonnenen 'Phantastischen Romans': Zerstörung meiner
harten inneren Kontur Wenn ich ihn beende, werde ich seine Kritik im
voraus geschrieben haben"42, notiert er 1916
Wenn Ball während der Cabaret-Zeit den beteiligten Maler Marcel
Janco als den einzigen bewundert, „der keine Ironie braucht, um mit
der Zeit fertig zu werden"43, dann ist damit tatsächlich ein wunder
Punkt der Wort-Experimente des Cabarets berührt Der Versuch, Iro-
nie und Phantastik in der beunruhigenden Haltlosigkeit der Zeitum-
stände zu leben, steckt auch hinter Balls Feststellung „Unser Kabarett
ist eine Geste ' l44 - Was aber eine Geste bleibt, kann sich nur relativ zur
Geltung bringen
Die Dadaisten werden diesen Relativismus in den folgenden Jahren in
einem geradezu militanten Grade entwickeln: in einem semantischen
Egalitarismus, der klassischen Vorform des heutigen „anything goes"
Als unter dem Pseudonym Daimonides 1920 im Dada Almanach der
erste Beitrag Zur Theorie des Dadaismus erscheint, heißt es dort aus
41
Hugo Ball: Gedanken von Hugo Ball, in: Allgemeine Rundschau (München) 28,
Nr 38(19 9 1931). S 605
42
Ball. Flucht (Anm 2), S 124.
43
Ebd S. 95 (24 5 1916)
44
Ebd S 91 (14 4 1916).
60 Hugo Balls Dadaismus

der Feder von Karl Döhmann: „Der Dadaismus ist die späte, sogar
eigentlich die verspätete Erkenntnis eines Zeitalters inbetreff der eige-
nen Bedeutung [...] Ohne daß er sich darauf irgend etwas Besonderes
zugute täte oder anders als mit parodischer Pedanterie etwa eine Reli-
gion machte, ist die analytische Funktion des Dadaismus, mit den
längst zu einem ragenden Wahnsystem schreckhaft erstarrten Grund-
vorstellungen einer Welt radikal aufzuräumen, sie auf Null zu reduzie-
ren, sie aufzulösen in das in jenen Phänomenen bereits wieder zu ah-
nenden, weil noch latenten, apeiron [i Original griech ] der Indifferenz,
es münden zu lassen in jenes mare tenebrarum unübersehbarer Sinnlo-
sigkeit, die in anschaulicher Metaphorik nur durch abstruseste Absurdi-
täten und letzthinnigen Irrsinn darstellbar ist / Es ist der unentrinnbare
Dadatropismus in der Zeittendenz, der hier seinen Ausdruck findet /
[...] Der Dadaismus lehrt gewissermaßen das Ideologisieren etc in
'allgemeinen' - an sich also unbestimmt gelassenen - Größen, eine
Technik, die als solche vergleichbar ist mit der Rechnung mit allgemei-
nen Buchstabengrößen (statt mit bestimmten, 'natürlichen' Zahlen),
wie sie [...] in der Algebra allgemein üblich geworden ist "45 Was der
zeichentheoretisch versierte Berliner Arzt Karl Döhmann an den kultu-
rellen Operationen seiner dadaistischen Freunde beschreibt, nimmt sich
wie das Vorspiel zum kulturanalytischen Ansatz späterer (Post-)
Strukturalisten aus.
Die allgemeine 'Algebra' des Ideologisierens, von der Döhmann
spricht, beruht auf einer Abstraktion von allen festgelegten Inhalten
Die antinormative Kraft der semiotischen Abstraktion wird zum An-
trieb für eine neue Art des kulturellen Verhaltens Der Realitätsgehalt
kultureller Semantik ist zur Disposition gestellt, die vertraute Einheit
von Signifikant und Signifikat zerbrochen Die Dadaisten werden zu
umtriebigen De-Konstrukteuren einer Kultur, die auf wankenden Bo-
den geraten ist und geschlossenen Ideologien wie religiösem Brauch-
tum auf Dauer die glaubhafte Grundlage entzieht Sich diesem Zustand
mit vollem Bewußtsein ausgesetzt zu haben, ohne seiner zynischen
Praktikabilität zu erliegen, ist eine historische Leistung der Dadaisten -
auch Hugo Balls Für ihn allerdings verliert das intelligente Spiel mit

45
Daimonides [d 1 Karl Döhmann] Zur Theone des Dadaismus, in Dada Alma-
nach Hg v. Richard Huelsenbeck Hamburg 1980 (Reihe Poetische Aktion), S
59-60 [Erstausgabe 1920]
Hans Burkhard Schlichting 61

den Relativismen bald seine Faszination, weil sein Interesse beizeiten


am Spiel hing, nicht aber an den Relativismen.
Der Wirklichkeits-Verlust, der mit ihnen die Künstler erfaßt, gehört
für Ball später zu den primären Befunden der „Zeitkrankheit", an der
sie leiden.46 Sein Versuch, „das Menschenbild zu einer gegründeten
Würde" zu erheben, wie es in der zitierten Nachlaß-Notiz heißt, führt
in eine gegenläufige Richtung
Der Anarchismus, verstanden als die Herstellung einer befreienden,
menschenwürdigen Ordnung der Dinge, hat diese Vorstellung einer
restitutio in integrum für Ball am frühesten und konkretesten mit dem
Inhalt gefüllt, für den er später eine „metaphysische Form"47 sucht und
in der katholischen Kirche findet „Als Lehre von der Einheit und Soli-
darität der gesamten Menschheit ist der Anarchismus ein Glaube an die
allgemeine natürliche Gotteskindschaft, ein Glaube auch an den pro-
duktiven Höchstertrag einer zwanglosen Welt."48 An diesem anarchisti-
schen Credo wird Ball auf hintersinnige Art festhalten, - auch wenn er
allenfalls 1915 sporadisch im organisierten Anarchismus seines Gast-
landes Fuß zu fassen versuchte
Sein Studium der anarchistischen Klassiker und zeitgenössischen re-
volutionären Strömungen hatte im ersten Kriegswinter begonnen
Durch seine Dada-Jahre hindurch blieb er der politisch hellhörigste
Kopf der Züricher Gruppe, deren politischer Impuls mit seiner Abwen-
dung versiegte Von 1915 bis in die Revolutionszeit 1918/19 arbeitete
46
„Fragt man die Künstler, woran sie leiden, so kann man immer wieder dasselbe
hören Sie haben keine Beziehung mehr zur Wirklichkeit Das Band, das sie in
früheren Zeiten mit der Gesellschaft einigte, ist zerissen." (Ball, Künsüer [Anm
13], S. 108) In einem Brief an Carl Muth vom 22 8. 1926 konstatiert Ball, „daß
der Künstler unserer Zeit (als der psychologische Typus kat exochen) das Pneuma
(oder die Kirche) als Formprinzip wiederfinden muß, um der Zeitkrankheit ge-
wachsenen zu sein und dem Begnff der Dauer (Unsterblichkeit) gerecht zu wer-
den " (Ball, Briefe [Anm. 16], S. 273) - vgl den Aufsatz von Ansgar Hillach im
vorliegenden Band.
47
Ball, Künstler (Anm 13), S 102 - Manfred Steinbrenner entwickelt die These,
daß sich „die Genese der Dada-Bewegung aus dem Geist' von Balls Anarchis-
musrezepüon" vollzogen habe und „gerade im theoretischen Anarchismus die
Wurzeln für Balls spätere Hinwendung zur katholischen Kirche" liegen: Manfred
Steinbrenner „Flucht aus der Zeit"^ Anarchismus, Kulturkritik und chrisüiche
Mystik - Hugo Balls „Konversionen". Frankfürt/M / Bern / New York 1985, S.
87 u 81.
48
Ball, Flucht (Anm. 2), S. 31.
62 Hugo Balls Dadaismus

er daran, Bakunins Schriften für deutsche Leser zu erschließen, die


damals erst zum geringen Teil übersetzt waren Daß er diesen Plan
jahrelang in Form eines „Breviers"49 verwirklichen wollte, zeigt, wel-
ches Maß an Orientierungskraft, Verbindlichkeit und kanonischer Be-
deutung Ball der eigenen Bakunin-Lektüre beimaß Ohne diesen baku-
nistischen Hintergrund50 wird auch Balls große Streitschrift Zur Kritik
der deutschen Intelligenz, in der die politischen Ideen seiner Berner
Publizistik 1919 zusammengefaßt sind, ein weitgehend unverstandenes
Werk bleiben
Der großspurige und modische Nietzscheanismus seiner Fruhzeit war
durch ein neues Menschenbild abgelöst, und kaum wäre ihm noch das
vitalistische Credo aus der Feder geflossen, mit dem er 1913 als
Kunstprogrammatiker debütiert hatte: „Der Kunstler muß die Idee ha-
ben, die Welt zu erlösen durch Rausch und Brand, oder er ist sinn-
los " 5I Das hat - entgegen landläufiger Meinung - mit Anarchismus
wenig zu tun Der Künstler als dionysischer Welt-Erlöser wäre in Balls
neuer Perspektive nur eine weitere Manifestation des „ästhetischen
Willens zur Macht" 52 Um die Befreiung des Menschenbildes von den
verzerrenden Zügen der Macht aber geht es in Balls utopischem Anar-
chismus Die Vorstellung von Humanität, die er dabei entwickelt, wird
bis ins Spätwerk bleiben, gelegentlich zur Irritation seiner neuen
Freunde im katholischen Lager, zumal eines so antiutopischen Macht-
Analytikers wie Carl Schmitt Balls eigene Zweifel, ob der organisierte
Anarchismus aus eigener Kraft imstande wäre, diesem Menschenbild
die „gegründete Würde" zu verschaffen und zu erhalten, bringt ihn
immer wieder zu einer Kritik an dessen modernistischen Grundlagen, -

Eine dokumentarische Erstveröffenüichung des Typosknpts „Michael Bakunin


Ein Brevier" aus Hugo Balls literanschem Nachlaß kann ich mit freundlicher
Genehmigung der Nachlaßverwaltenn, Frau Francesca Hauswirth, für die Reihe
der Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung
(Darmstadt) vorbereiten
50
Vgl dazu vor allem Gerhard Schaub: Der „latente Bakunist" Hugo Ball Zum
Vorwort seines Romans Flametti, in Hugo Ball Almanach 1990, S 25-114
51
Hugo Ball Aphonsmen, in: Jugend Münchener lllustnerte Wochenschrift für
Kunst und Leben 18. Bd 1. Nr 13 (17. 3. 1913), S 363.
32
Peter Sloterdijk: Die wahre Iniehre Über die Weltreligion der Weltlosigkeit, in:
Peter Sloterdijk/Thomas H Macho (Hg) Weltrevolution der Seele Ein Lese-
und Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart Zürich 1993.
S 54.
Hans Burkhard Schlichting 63

einer Kritik, die später auch die rousseauistische Anthropologie der


klassischen Anarchisten einschließt, deren chaotischem Naturvertrauen
gegenüber es für ihn schließlich des Regulativs der „metaphysischen
Form" bedarf „Wo kein Sakrament existiert, ist keine Empörung mög-
lich", heißt es 1919 in einem Brief an den Züricher Anarchosyndikali-
sten und hilfreichen Freund Fritz Brupbacher," der sein praktischer
Lehrer in Fragen des Anarchismus war Anders als bei seinem dadaisti-
schen Schlüsselerlebnis als rezitierender „magischer Bischof geht es
dabei um mehr als die bloße Sprache der Liturgie, der Sakramente, des
Rituals.
Die Spiritualisierung des Anarchismus, die Ball im Laufe seiner Ent-
wicklung vollzieht, setzt früh ein Und sie geht auf seinen wichtigsten
Anreger aus der Münchener Vorkriegszeit zurück Wassilij Kandinsky,
der mit seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst die Legitimation
der abstrakten Kunst aus einem medialen Menschenbild begründet
hatte Ball schreibt „Kandinsky ist Russe Die Idee der Freiheit ist bei
ihm sehr ausgeprägt, auf das Gebiet der Kunst übertragen Was er über
Anarchie sagt, erinnert an Sätze von Bakunin und Krapotkin Nur daß
er den Freiheitsbegriff ganz spirituell auf die Ästhetik anwendet Im
'Blauen Reiter' über die Formfrage schreibt er: 'Anarchie nennen viele
den gegenwärtigen Zustand der Malerei Dasselbe Wort wird schon
hier und da auch bei der Bezeichnung des gegenwärtigen Zustands in
der Musik gebraucht Darunter versteht man fälschlich ein planloses
Umwerfen und Unordnung Die Anarchie ist aber Planmäßigkeit und
Ordnung, welche nicht durch eine äußere und schließlich versagende
Gewalt hergestellt, sondern durch das Gefühl des Guten geschaffen
werden' Dieses 'Gefühl des Guten' oder die 'innere Notwendigkeit'
ist das einzige und letzte Schaffensprinzip, das er anerkennt Die
'innere Notwendigkeit' allein gibt der freien Intuition Grenzen, die
innere Notwendigkeit bildet die äußere, sichtbare Form des Werkes
Die innere Notwendigkeit ist es, auf die alles zuletzt ankommt, sie
verteilt die Farben, Formen und Gewichte, sie trägt die Verantwortung
auch für das gewagteste Experiment Sie allein ist die Antwort auf die
Frage nach dem Sinn und Urgrund der Bilder "54 Balls Suche nach ei-

Hugo Ball Bnefe und Karten an Fritz Brupbacher und Rudolf Grossmann, in
Hugo Ball Almanach 1981, S 133
Ball. Künstler (Anm 13), S. 45-46.
64 Hugo Balls Dadaismus

ner „gegründeten Würde" des Menschenbildes im haltlosen Strom der


Zeichen, der das Menschenbild in bloße Datenraster aufzulösen ten-
diert, die jeder Verfügungsmacht offenstehen, konzentriert sich in
künstlerischen, psychischen wie sozialen Belangen auf diese „innere
Notwendigkeit", - einer Notwendigkeit, die sich als unwillkürliche
Schubkraft kreativer Prozesse erweist, - nicht von Willensakten getrie-
ben, sondern gespeist aus einer medialen Empfänglichkeit.
Das Sensorium für die „innere Notwendigkeit" ist es, was er gegen
die Zeichen der Zeit aufbietet „Drei Dinge sind es, die die Kunst unse-
rer Tage bis ins Tiefste erschütterten, ihr ein neues Gesicht verliehen
und sie vor einen gewaltigen neuen Aufschwung stellten Die von der
kritischen Philosophie vollzogene Entgötterung der Welt, die Auflö-
sung des Atoms in der Wissenschaft und die Massenschichtung der
Bevölkerung im heutigen Europa [...] Die Künstler in dieser Zeit sind
nach innen gerichtet Ihr Leben ist ein Kampf mit dem Irrsinn [...] Ihre
Werke tönen in einer erst ihnen bekannten Sprache Sie stehen im Ge-
gensatz zur Gesellschaft wie die Ketzer des Mittelalters Ihre Werke
philosophieren, politisieren, prophezeien zugleich Sie sind Vorläufer
einer ganzen Epoche, einer neuen Gesamtkultur Man versteht sie
schwer und nur dann, wenn man bereit ist, zu brechen mit der Tradition
eines Jahrtausends Man versteht sie nicht, wenn man an Gott glaubt
statt an das Chaos Die Künstler in dieser Zeit wenden sich gegen sich
selbst und gegen die Kunst "55
Sätze aus dem wichtigsten programmatischen Beitrag Balls aus der
DADA-Zeit: seinem Vortrag über „Kandinsky", gehalten am 7 April
1917 in der 'Galerie Dada' Anders als sein wortspielerisches „Erstes
dadaistisches Manifest" aus dem Vorjahr, ist dies sein einziges empha-
tisches und unironisches Zeugnis, das unredigiert aus der Zeit seines
dadaistischen Experiments überliefert ist kein Wort darin zu DADA,
sondern über den Ausstellungs-Anlaß hinaus eine Bestimmung der mo-
dernen Kunst als eines Selbstheilungs-Versuchs der Moderne Im
strikten Imperfekt beschreibt Ball den Einbruch der gesellschaftlichen
Moderne in das Bewußtsein als dreifache Katastrophe Entgötterung,
Atomisierung und Vermassung
Was Hugo Ball hier als metaphysische, elementare und soziale Kata-
strophe beschreibt, läßt an überlieferten Realitäts-Vorstellungen wenig

Ebd S 41-44
Hans Burkhard Schlichting 65

beim Alten Die genannten Krisenfaktoren wirken durchaus mittelbar


auf die künstlerischen Explorationen, für deren offenen Ausgang das
Wort DADA steht Mittelbar wirken sie erstens durch die technischen
und medientechnischen Revolutionen der Zeit: „Die Elektronenlehre
brachte ein seltsames Vibrieren in alle Flächen", heißt es bei Ball
„Linien, Formen [...] Maschinen entstanden und traten an die Stelle
der Individuen " Zweitens wirken sie durch die akute Katastrophe des
Ersten Weltkrieges: „neue Schlachten, Untergänge und Himmelfahr-
ten" Schließlich - um bei Balls Bestimmungen zu bleiben - verschaffen
sie sich Geltung durch die „Massenkultur der modernen Großstadt":
„Das individuelle Leben starb, die Melodie starb Der einzelne Ein-
druck besagte nichts mehr Komplektisch drängten die Gedanken und
Wahrnehmungen auf die Gehirne ein, symphonisch die Gefühle" 56
Eine in expressionistischer Diktion beschworene Bewußtseins-Apo-
kalypse, der die avancierten Künstler ein postkatastrophales Bild der
Welt entgegenzusetzen scheinen „Die neuere Kunst", notiert Ball, „ist
sympathisch, weil sie in einer Zeit der totalen Zerrissenheit den Willen
zum Bilde bewahrt hat, weil sie das Bild zu erzwingen geneigt ist, wie
sehr sich die Mittel und Teile einander bekämpfen mögen "5 Und an
anderer Stelle der Flucht aus der Zeit „Es geht vielleicht gar nicht um
die Kunst, sondern um das inkorrupte Bild " 8
1913 hatte Ball in Dresden erste Bilder italienischer Futuristen gese-
hen Bald danach lernte er in München Wassilij Kandinsky kennen59,

Ebd S. 42-43
Ball, Flucht (Anm. 2), S 154 (30 3. 1917).
Ebd S 170 (19 5 1917) - Eine Fragestellung, die 1926 zu den Hauptthemen
des Aufsatzes Der Künstler und die Zeitkrankheit (Ball [Anm. 13], S 102-149)
gehören wird, dort vor allem S. 140ff
Ball hatte Kandinsky kennengelernt, als dessen Schriften Über das Geistige in
der Kunst und die programmatische Anthologie Der Blaue Reiter vorlagen Und
tatsächlich war Kandmskys Einfluß auf Ball von Beginn an stark theoretisch ge-
prägt, - auch wenn der Anlaß der ersten Münchener Zusammenarbeit ins Feld der
lokalen Kulturpolitik gehört, aber schon dabei ging es beiden um die Durchset-
zung einer neuen Theaterkonzeption Eine Zusammenarbeit, die 1914 den Plan
einer Anthologie zur zeitgenössischen Theateravantgarde Gestalt annehmen ließ,
für die die beiden Herausgeber mcht Genngeres im Sinn hatten, als ein Bühnen-
Pendant zur Anthologie Der blaue Reiter zu schaffen Der Kriegsbruch vereitelte
deren Realisierung, für die Kandinsky sich bereits auf die Reise zu möglichen
russischen Beiträgern begeben hatte
66 Hugo Balls Dadaismus

der nicht nur Balls Irritation durch die Avantgarde in eine interpretato-
rische Bahn brachte, sondern ihm mit seiner Theorie Über das Geistige
in der Kunst auch das gnostische Motiv einpflanzte, das seine Lektüre
von Bakunin wie Thomas Münzer prägte und das sich nach Dada auch
in Balls politischer Kritik und in seiner Reaktivierung des Religiösen
bemerkbar machen sollte - Als Adept Nietzsches hatte Ball in seinen
literarischen Anfängen einem genialischen Dionysiertum gehuldigt, das
sich unter dem Eindruck Kandinskys seit 1914 in ein mediales Denken
transformiert
Unter diesem Aspekt ist auch Balls programmatischer Kandinsky-
Vortrag von 1917 zu sehen, mit dem er - nach eigenem Bekenntnis -
einen „alten Lieblingsplan"60 verwirklicht Ein grundsätzliches Be-
kenntnis zur modernen Kunst, das er in seinen Spätschriften nicht wi-
derrufen hat, vielmehr in seinen kulturkritischen Aspekten vertiefte -
vor allem 1926 in seinem Aufsatz Der Künstler und die Zeitkrankheit
Im einen wie im anderen wird die Moderne als universelle Krisis ver-
standen, auf die die für ihn relevanten Teile der modernen Kunst bereits
eine kritische Antwort sind Deren Kräfte zu einer Selbstheilung der
Moderne hat er später freilich nicht mehr derart hoch veranschlagt wie
er es 1917 in seiner Einschätzung der epochalen Rolle Kandinskys tat,
bei der er dessen bahnbrechende Rolle aus eigenem Erleben projeziert
haben mag Was hier noch als Therapie erscheint, rechnet später eher
selbst unter die Symptome der diagnostizierten „Zeitkrankheit": als
ungestillt sehnsüchtiger Romantizismus innerhalb der Moderne
„Romantizismen - Das Wort und das Bild" hat Ball auch den Teil sei-
nes redigierten Tagebuches überschrieben, der sein dadaistisches Enga-
gement behandelt Die Romantizismen der Moderne in Wort und Bild
erscheinen als ebenso erfinderische wie ungenügende Heilungsversu-
che, die ihr therapeutisches Wissen nicht aus der Moderne selbst bezie-
hen können In Balls Reflexionen der Ereignisse von 1916/17 dämmert
eine Einsicht, die in der letzten Galerie-Soiree („Alte und Neue Kunst")
demonstriert und schließlich zur Gewißheit wird: daß diese Selbsthei-
lungsversuche der Moderne im Einzelfall nur gelingen können, wenn
sie sich in eine Allianz mit ältesten Quellen der Inspiration begeben
Diesem Weg ist Richtung Orient Hermann Hesse gefolgt, den Ball
durch die Zeit der „Steppenwolf'-Krise freundschaftlich begleiten wird

Ball. Flucht (Anm 2). S 157 (8 4 1917)


Hans Burkhard Schlichting 67

und dessen Biographie 1927 den Abschluß von Balls Lebenswerk bil-
det Ihn selbst aber treibt es zu Inspirationsquellen der mediterran-
christlichen Kultur
Nicht zufällig äußert Ball schon 1916 die Vermutung: „Vielleicht muß
man die Kirchenväter lesen, um den Kubismus zu verstehen".61 Und
inmitten seines dadaistischen Engaments verfällt er auf Vergleiche der
modernen Kunst mit der historischen Rolle der Gnosis innerhalb der
spätantiken Welt „Es gibt eine gnostische Sekte, deren Adepten vom
Bilde der Kindheit Jesu derart benommen waren, daß sie sich quäkend
in eine Wiege legten und von den Frauen sich säugen und wickeln lie-
ßen Die Dadaisten sind ähnliche Wickelkinder einer neuen Zeit."62
Und er konstatiert, daß „die modernen Künstler Gnostiker sind und
Dinge praktizieren, die die Priester längst vergessen wähnen, vielleicht
auch Sünden begehen, die man nicht mehr für möglich hielt " 63 Er be-
merkt inmitten der zeitgenössischen Kunst Anzeichen für „eine ästheti-
sche Gnosis, und sie verdankt sich nicht der Sensation, sondern einer
unerhörten Zusammenfassung der Ausdrucksmittel "64 So wird das
künstlerische Gestalten „ein Beschwörungsprozeß und in seiner Wir-
kung eine Zauberei "65 Formulierungen aus der publizierten Spätfas-
sung des Tagebuchs, deren Frage-Richtung bereits im authentischen
Text des Kandinsky-Vortrages in der Galerie Dada enthalten ist
Im Studium der historischen Gnosis und Patristik wird Ball schließlich
das finden, was er damals zwischen Dadaismus und Anarchismus
suchte Als er 1921 für sein Buch Byzantinisches Christentum am
Kapitel über Dionysius Areopagita arbeitet, notiert er: „Als mir das
Wort 'Dada' begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysius
D A - DA. (über diese mystische Geburt schrieb H[uelsenbec]k, auch
ich selbst in früheren Notizen Damals trieb ich Buchstaben- und Wort-
Alchimie) "66
Mitten in dem Dionysius-Kapitel, das damals entsteht, findet sich die
Schilderung einer gnostischen Mysterienfeier, die sich wie eine histori-
sche Übermalung von Balls Beschreibungen dadaistischer Seancen
11
Ebd S. 141 (3 12 1916)
,:
Ebd S 99
3
Ebd S 153
* Ebd S 169.
5
Ebd S 156
16
Ebd S. 313(18 4 1921)
68 Hugo Balls Dadaismus

ausnimmt „Laternen und Lichter in leuchtender Symmetrie, ein primi-


tives Gemisch von Tier- und von Kinderlauten, eine Musik, die in
längst verschollenen Kadenzen schwingt: all dies erschütttert die Seele
und erinnert sie an ihre Urheimat Eine Sehnsucht zurück zu allen An-
fängen erfaßt den Geist, taucht ihn in längst vergessene Paradiese der
Über- und Vorwelt Seltsam maskierte Gestalten tragen astrale Abzei-
chen und Symbole, drehen sich im Kreise, zaubern in ihren Bewegun-
gen das milde Abbild der Sternensphäre mitten in einen irdischen
Raum" 67

Hugo Ball: Byzantinisches Christentum Drei Heiligleben Frankfurt aim Main


1979, S. 131.
Chryssoula Kambas

Ball, Bloch und Benjamin


Die Jahre bei der Freien Zeitung

Mit den Namen Hugo Ball, Ernst Bloch und Walter Benjamin ist eine
raumzeitlich situierbare, intellektuelle Konstellation umschrieben: Bern
in den Jahren 1917 bis 1919 Blickt man von heute aus auf das jeweilige
Gesamtwerk, erscheinen darüber hinaus, unabhängig von der raumzeit-
lichen Konstellation, bei Ball, Bloch und Benjamin eine Reihe gemein-
samer theoretischer Fragen, philosophischer und politiktheoretischer
Probleme Gemeinsam ist den drei Schriftstellern auch ein jeweiliger
Beitrag zur ästhetischen Avantgarde, eine Verbindung von Theologie
und geschichtlichem Denken, schließlich die streitbare Auseinanderset-
zung mit den Intellektuellen. Das Denken eines jeden blieb im Laufe der
Jahrzehnte nicht stationär, es wandelte sich Gegen Ende des Ersten
Weltkrieges aber traf es in manchem zusammen, differierte in anderem
um Entscheidendes Mit anderen Worten: Es bildete auch qualitativ die
erwähnte Konstellation So kann es im folgenden nicht um einen Ver-
gleich der Gesamtwerke gehen Vielmehr sollen im Fokus der histori-
schen Konstellation 1917/1919 Balls und Blochs Jahre bei der Freien
Zeitung im Mittelpunkt stehen und die Berührungspunkte wie Differen-
zen des politischen und geschichtstheoretischen Denkens beider sowie
Walter Benjamins aufgewiesen werden.
Die biographischen Relationen dürfen somit nicht übergangen werden
Wer waren Ball, Bloch, Benjamin, als sie in Bern zusammentrafen9 Wie
verstand sich jeder selbst9 Waren die Richtungen des Lebens, die jeder
einschlagen sollte, schon erkennbar9 Zu fragen ist weiter mit Blick auf
die Schriften, ob und inwiefern die Freie Zeitung Balls und Blochs
Denken in jenen Jahren genuin prägte oder ob die Mitarbeit den Stel-
lenwert lapidarer Brotarbeit trug, und wenn ja, mit welchen Konse-
quenzen Für Bloch und Ball war sie der eigentliche Grund, Bern als
Aufenthaltsort in den letzten Kriegsjahren zu wählen Der Genauigkeit
halber: Bloch wohnte in Interlaken, 50 km von Bern entfernt - Im
Hinblick auf Walter Benjamin bleibt zu untersuchen, ob und inwieweit
70 Ball, Bloch und Benjamin

von einem Niederschlag seiner Berner Begegnung mit Ball und Bloch
auf sein weiteres Denken gesprochen werden darf
Zuerst einige Hinweise zum Jungen" Benjamin Walter Benjamin ist
1892 geboren Somit war er sechs Jahre jünger als Hugo Ball und sie-
ben Jahre jünger als Ernst Bloch Als Student der Philosophie siedelte
Benjamin Mitte Juli 1917 aus München in die Schweiz über, um an der
Universität Bern das Studium abzuschließen Das tat er 1919 auch, und
zwar mit einer Promotion bei Richard Herbertz Die Dissertation hat
den Titel Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik 1919
- im großen und ganzen nach Abschluß der Dissertation - lernte Ben-
jamin zuerst Ball und über diesen Bloch kennen Anders als beide war
Benjamin kein Mitarbeiter der Freien Zeitung Er hatte sich in der Ber-
ner Zeit in seinem Studium zum einen mit Pflichtthemen wie
„Schleiermachers Psychologie" befaßt, mit den Schriften Bergsons,
Hegels und Freuds Auch diese Lektüren waren damals mit durch das
Studium motiviert Doch er folgte auch eigenen Neigungen, übersetzte
Baudelaires Tableaux parisiens und arbeitete sich in die moderne fran-
zösische Literatur bis hin zu Charles Peguy und Andre Gide ein Auch
in sprachtheoretische Studien vertiefte er sich bereits Kritische Arbei-
ten und theoretische Entwürfe dokumentieren einen vom Studium un-
abhängigen literarischen und philosophischen Anspruch. Zu Recht
dürfen die Berner Jahre als solche der Konzentration und Formierung
des Denkens unterstellt werden An Publikationen wiesen ihn allerdings
bis dahin lediglich die Aufsätze aus, die er im reformpädagogischen
Umkreis von Gustav Wyneken sowie der Freien Studentenschaft ver-
faßt hatte
Ernst Bloch hatte sich bereits 1908 mit einer philosophischen Arbeit
über den Neukantianer Heinrich Rickert promoviert Sie trägt den Titel
Kritische Erörterungen über Rickert und das Problem der modernen
Erkenntnistheorie (1909) Bloch besuchte später in Berlin die Privatkol-
loquien von Georg Simmel, lernte hier Margarete Susmann kennen, der
er Thomas Münzer als Theologe der Revolution widmete, und auch
Georg Lukäcs, der Privatdozent in Heidelberg wurde Hier wiederum

1
Die frühen Arbeiten Benjamins sind auffindbar in den Bdn II, VI und VII der
Gesammelten Schriften (im weiteren: GS) Walter Benjamin: Gesammelte
Schriften Hg von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser Frank-
furt/M. 1974 ff
Chrvssoula Kambas 71

bewegte sich Bloch eine Zeitlang im Umkreis Max Webers Von Hei-
delberg aus wurde er mit dem Auftrag des Archivs für Soziahvissen-
schaft und Sozialpolitik in die Schweiz geschickt, das aktuelle Umfeld
der Kriegsgegner soziologisch genauer in Betracht zu nehmen. Bloch
kam bereits mit einem anderen, schon fertigen Manuskript in die
Schweiz, nämlich dem von Geist der Utopie, das 1918 in Berlin publi-
ziert wurde Bloch hatte also schon einem seiner Lebensthemen eine
erste Gestalt gegeben.2
Er hatte sich in Deutschland im Kreis junger deutsch-jüdischer Intel-
lektueller bewegt, die an sich selbst höchste Anforderungen stellten Es
ging um die Erneuerung gesellschaftswissenschaftlichen Denkens, der
Ästhetik und des Metaphysikproblems Dies alles, auch die Freund-
schaft mit Georg Lukäcs, hatte schon einen Niederschlag in Geist der
Utopie gefunden Die damaligen Schriften Balls hingegen waren von
mehreren Existenzbrüchen gezeichnet, wie dies für Dichter der expres-
sionistischen Generation signifikant ist. Es blieben Fragmente eines Le-
bens im Umbruch: die Dissertation Nietzsche in Basel, nicht eingereicht
und nicht gedruckt, ein Gedichtband Plimplamplasko aus den Dada-
Monaten, den der Verleger Erich Reiss zurückwies, eben abgeschlossen
hingegen war kleine Roman Flametti, der, traditionell erzählend, den
Selbstverlust eines Intellektuellen in vorstädtischen Varietewelten the-
matisiert, und der im Laufe des Jahres 1918 bei Reiss erschienen ist
Auch die erste Hälfte des Bakunin-Breviers war abgeschlossen, aber es
blieb unpubliziert
Die drei Jahre, die Ball in Bern als Mitarbeiter und Redakteur der
Freien Zeitung verbrachte, führten zu einer vergleichsweisen äußeren
Stabilität in seinem Leben, bedeuteten auch Ruhe im Vergleich zur
Verausgabung während der Dada- oder Varietephasen und ein wohl
relativ gewisses Einkommen, wenn auch gewiß kein zu üppiges. Einige
Daten zur in Bern verbrachten Zeit: Anfang September 1917 zog Ball
allein, ohne Emmy, nach Bern Über die Elsässer Rene Schickele und
Salomon Grumbach - beide gehörten zur politischen Emigration -

2
In meiner biographischen Darstellung folge ich Peter Zudeick: Der Hintern des
Teufels: Ernst Bloch - Leben und Werk Bühl-Moos 1985 Zu den Schwerpunkten
des Werks vgl die Monographie von Manfred Riedel Tradition und Utopie Ernst
Blochs Philosophie in unserer geschichtlichen Denkerfahrung Frankfurt/M
1994, zur Berner Zeit insbesondere S 12-19.
72 Ball, Bloch und Benjamin

knüpfte er Kontakte zum Kreis um die Freie Zeitung Zu diesem gehör-


ten, im Hintergrund, hier jedoch richtungsweisend, einige ehemalige
Reichsdeutsche aus Wirtschaft und Politik bzw Diplomatie: Johann
Wilhelm Muehlon, Hans Schlieben, Hellmuth von Gerlach Von den
bekannteren Mitarbeitern sind Publizisten wie Maximilian Harden oder
die Deutsch-Französinnen Annette Kolb und Ciaire Studer zu nennen,
auch der letzteren späterer Mann Yvan Golf Ab September 1917 liefer-
te Ball Beiträge, im Frühsommer 1918 trat er in die Redaktion ein An
der Gründung des „Freien Verlages" im August war er maßgeblich be-
teiligt Er war de facto der literarische Leiter, der deklarierte Geschäfts-
führer war aus Gründen der Nationalität ein Schweizer Ende Oktober
gab Ball im hauseigenen Verlag den Almanach der Freien Zeitung her-
aus, eine Sammlung der wichtigsten Artikel aus den vorangegangenen
Jahren Im Januar 1919 folgte sein Buch Zur Kritik der deutschen In-
telligenz sowie im weiteren zwei Broschüren Blochs, Vademecum für
heutige Demokraten und Schadet oder nützt Deutschland eine Nieder-
lage seiner Militärs? Weder in der Redaktions- noch der Verlagstätig-
keit verfolgte Ball ein profiliertes literarisches Programm In den Vor-
dergrund drängte sich durchweg die politische Gesinnungsbekundung
aus tagesaktuellem Anlaß Im Hinblick auf den Anteil von Schriftstel-
lern, die Mitarbeiter der Zeitung geworden sind, stellte sie dennoch ein
für den Spätexpressionismus charakteristisches Organ dar, das bislang
kaum unter publizistik-, geschweige denn literaturgeschichtlichen Ge-
sichtspunkten ausgewertet ist Die Freie Zeitung sollte als politisches
Forum im Nachkriegsdeutschland fortgeführt werden Bereits im Okto-
ber 1918 wurden interne Gespräche über deren mögliche Rolle geführt,
weswegen Ball vermutlich ab Dezember 1918 entsprechende Erkun-
dungsreisen in Deutschland unternahm.3
Aus den Briefen von Hugo Ball an Emmy Hennings vom Oktober
1917 wissen wir: Ball hatte gleich zu Beginn seines Aufenthaltes in
Bern den „utopischen Freund" kennengelernt, kaum daß ihre jeweiligen
ersten Artikel in der Freien Zeitung veröffentlicht waren Unter No-
vember ist in Balls Tagebuch eingetragen: „Auch sehe ich mich jetzt

3
Meine biographische Übersicht folgt der von Hans Burkhard Schlichting zusam-
mengestellten Chronik in: Hugo Ball Der Künstler und die Zeitkrankheit Aus-
gewählte Schnften. Hg von Hans Burkhard Schlichting Frankfurt/M 1984), S
424-451
Chryssoula Kambas 73

öfter mit einem utopischen Freunde, E.B., der mich veranlaßt, Monis
und Campanella zu lesen, während er seinerseits Münzer studiert und
den Eisenmenger " 4 Demnach hätten sich Ball und Bloch unmittelbar in
den ersten Monaten über Gespräche und Lektüre wechselseitig nach-
haltig inspiriert, Ball „empfing" das utopische Schrifttum der frühen
Neuzeit, Bloch die Reformationsfrage und, in Sachen Geschichte des
Judentums, die antisemitische Schrift Entdecktes Judentum (1701) von
Johann Andreas Eisenmenger, die, wie Scholem später berichtet, für
Blochs 'System' des Messianismus wesentlich wurde Daß er den Hin-
weis auf Thomas Münzer Hugo Ball verdankte, ist gewiß und darf
somit als Anstoß zur späteren Schrift Thomas Münzer als Theologe der
Revolution (1921) gewertet werden 5
Hat sich die wechselseitige Inspiration auch in beider Arbeiten für die
Freie Zeitung niedergeschlagen9 Um diese Frage weitergehend beant-
worten zu können, untersuche ich zunächst die Kritik der deutschen
Intelligenz und dazu analoge Zeitungsartikel Balls. Geist der Utopie
und sein argumentatives Muster in der 1918 publizierten Fassung sollen
im Anschluß daran Aufschlüsse geben über die Differenz des Bloch-
schen Denkansatzes, der sich wiederum in Artikeln der Freien Zeitung
zurücknimmt
Balls Schrift über die Intellektuellen entstand in unmittelbarer Nähe zu
seinen Artikeln für die Freie Zeitung Dies betrifft sein Bild der Refor-
mation und die Bedeutung Münzers, die Kriegsschuldfrage und die
Kritik an Preußen, die Bindung der Ideen von 1789 - Freiheit, Gleich-
heit, Brüderlichkeit - an eine Linie von Antipreußentum und Antiprote-
stantismus, weitgehend gleichgesetzt mit einer libertären anarchistisch-
antimarxistischen Tradition Und dies betrifft nicht zuletzt die Erklä-
rung, der Kern der aktuellen Revolution sei die Erneuerung der Moral,
initiiert von einer „Kirche der Intelligenz"
Balls Kritik der deutschen Intelligenz, einem Pamphlet, geht es um
Bloßstellung, ja gelegentlich um bösartige Karikierung der autoritätsfi-
xierten Bewußtseinsverfassung der Deutschen, ihm geht es um Anklage
und Vor-den-Kopf-Stoßen, mit Hilfe eines ideengeschichtlichen Nach-
weisverfahrens wird der Leser wachgerüttelt, aufgeweckt wie Ball
4
Hugo Ball Die Flucht aus der Zeit Luzern: Josef Stocker 1946, S. 201/02
5
Dazu Volker Knüfermann: Civitas dei et civitas hominum Zu Hugo Balls Mün-
zer-Darstellung, in Etudes germaniques 33 (1978) 1. S 21
74 Ball, Bloch und Benjamin

meint aus einer beruhigten Selbsttäuschung über die deutsche Kriegs-


schuld Seine deutsche politische und Ideengeschichte laufen im Kon-
vergenzpunkt des Kriegsausbruchs und der eben begonnenen Novem-
berrevolution zusammen Ball zeigt Geschichte im Übergang zur Ge-
genwart, er aktualisiert einzelne Traditionen und weist ihnen gegen-
wärtigen Folgen zu, unheilvolle wie mögliche rettende
Das folgende Beispiel kann den textuellen Zusammenhang zwischen
Buchpamphlet und Zeitungsartikel verdeutlichen Es läßt die sprunghaf-
te, teils ironisch-parodistische, teils pathetisch-propagandistische Ak-
tualisierung der von Ball verworfenen wie der beanspruchten Traditio-
nen erkennen Im Artikel Vom Universalstaat, den die Freie Zeitung
am 30 3 1918 publizierte, ist zu lesen: „Luthers robust gewaltige Per-
sönlichkeit ist geschichtlich nur zu verstehen, wenn man den Kampf
zwischen Kaiser und Papst sich vergegenwärtigt Luther trennte
Deutschland von Rom und schuf damit die Voraussetzung für die Un-
abhängigkeit des heutigen deutschen Feudalismus Er lieferte den deut-
schen Fürsten, und Reichsherolden wie Treitschke und Chamberlain,
die Ideologie für jene egozentrische Selbstüberhebung, die sich in den
Köpfen alldeutscher Generäle und Subalternpropagandisten zu einem
Delirium ausgewachsen hat [...] In den großen Bauernkriegen von
1524/25 handelte es sich darum, ob die uralte Feudaltradition Deutsch-
lands gebrochen werden könne oder nicht Diese deutsche Revolution
(wichtiger heute als die Reformation, mit der sie Hand in Hand hätte
gehen können) mißglückte [...] Und heute erleben wir es, wie derselbe,
auf die Besitzlosen, das Proletariat gegründete Universalstaat des Mit-
telalters von Berlin aus wiederaufersteht " 6 Die parallele Stelle im Buch
zeigt geringe Spuren der Überarbeitung 7
Ball aktualisiert nach dem Vorbild Heinrich Heines Wie dieser
schließt er alte Ideengeschichte und neue Machtverhältnisse kurz Doch
an Heines Luther, den Begründer der deutschen Freiheit, bringt Ball
umwertende Korrekturen an Wegweiser dazu ist ihm das Lutherbild in

6
Ball, Künstler (Anm 3). S 178/79
Hugo Ball Zur Kritik der deutschen Intelligenz Ein Pamphlet Hg. von Gerd-
Klaus Kaltenbrunner München 1970, S. 50/51.
Chryssoula Kambas 75

Franz Mehrings Lessmg-Legende% Mit Luther beginne der verhängnis-


volle Prozeß der Verquickung von staatlicher Macht, religiöser Legiti-
mation und sozialpsychologischer Verinnerlichung des Obrigkeitsden-
kens - installiert durch die „Gewissensfreiheit" - durch alle, selbst durch
die deutsche Intelligenz Die Linie der fatalen Entwicklung gehe weiter
bei Kant und Hegel, nach Ball ein Mystagoge, „der seiner Nation eine
Chloroformmaske übers Gesicht warf" und „die ganze Weltgeschichte
[...] in Bewegung [setzte], um Preußen als Taube daraus hervorzuzau-
bern " 9 Sie gehe über Marx, dessen Kritik des französischen Frühsozia-
lismus und des russischen Anarchismus ihn den preußischen Staatslen-
kern und -denkern substantiell ähnlich habe werden lassen, über Lassal-
le bis hin zu Bismarck
Ball leitet, als Gegenbewegung zur Reformation und den Folgen, eine
anarchistische Ideengeschichte von mittelalterlichen Mystikern und
Thomas Münzer her Auch hier erkennt man die Heinesche Technik des
aktualisierenden ideengeschichtlich-politischen Kurzschlusses wieder:
„Wie durch ein Wunder von Sinn erstand Luther ein Richter in seiner
eigenen Zeit Die Ehre der Nation kann gerettet werden, wenn sie sich
heute entschließt, jenes Zeitalter umzutaufen auf den Namen der großen
Revolution von 1525 [...]. Zimmermann hat die Wirkung beschrieben,
die Münzers Name allein auf Luther und auf das trefflich' Organon
Lutheri, Melanchton, ausübte 'Wo sie seinen Namen schreiben, ist ih-
nen, als ob er herein, als ob er vor sie treten könne, während sie von
ihm schreiben Auf fast allen Zeilen und Reden Beider über Münzer
liegt es unverkennbar wie eine Belastung, wie ein Alp, wie ein innerli-
cher Schauer, ob man's reden oder schreiben dürfe, ohne daß der an die
Wand gemalte Geist erscheine ' Etwas von diesem Schauer, von diesem
Alp, scheint sich heute in Deutschland wieder zu regen Die Geister
erscheinen, die Toten erwachen Die Idee meldet sich an wie Bancos
Geist: Civitas pauperrimi et sanctissimi hominis "10
Ball führt auf die Aktualität seines geschichtlichen Augenblicks Be-
deutsam dabei ist die Immanenz der Freiheitsidee Damit steht er in der

Zu Mehnng siehe Ball, Kritik (Anm.7), S 218 Zur Haltung Mehnngs gegenüber
Luther vgl Franz Mehnng: Die Lessmg-Legende Mit einer Einleitung von Rai-
ner Gruenter Frankfürt/M /Berlin/Wien 1972, S 216.
9
Ball, Kritik (Anm. 7), S. 140.
10
Ball, Kntik(Anm 7). S 82
76 Ball, Bloch und Benjamin

sozialdemokratischen Tradition der Geschichtsschreibung, auf die er


sich stützt Balls recht traditionelle Gegenüberstellung des Intellektuel-
len gegen die Masse oder „Mentalität der Menge" darf demgegenüber
nicht irritieren Statt der selbsttätigen Fortschrittsgeschichte zur Freiheit
soll dieser als Motor und moralisches Gewissen sie antreiben. Ball be-
vorzugt daher den expressionistisch-aktivistischen Terminus des Geisti-
gen, womit den Intellektuellen die Rolle des Wegweisers oder Führers
der Masse zugedacht ist So ist von der „geistigen Elite" die Rede, „die
in ihren bewußtesten und höchsten Vertretern nach geheimen umfas-
senden Gedanken lebt und handelt, in aller Öffentlichkeit der Presse,
der Straße oder des Parlaments sich dokumentiert und der Menschheit
Ziele setzt, Wege zeigt, Hindernisse hinwegräumt in Voraussicht des
Tages, da alle vernünftigen Wesen nach dem Worte des Origines in
'einem' Gesetze vereinigt werden " n
In diesem Punkt von außerordentlicher Wichtigkeit - der Auser-
wähltheit der Intellektuellen, der „Kirche der Intelligenz" - unterschei-
den sich die Utopiekonzeption Blochs und die messianische Revoluti-
onstheorie Benjamins fundamental von Balls theologisch-moralischem
Elitekonzept Darauf komme ich abschließend zurück Aus Balls Füh-
rerkonzeption der Intellektuellen folgt konsequenterweise die Forde-
rung nach „Tatentschlossenheit" an diese, also das aktivistische Geist-
Politik-Verständnis In dem Zusammenhang meldet Ball vorsichtig Kri-
tik des Utopiebegriffs an Sachlich geht es dabei um die Funktion von
Utopien und die Zurückweisung frühsozialistischer Utopie als Utopis-
mus in der Sozialdemokratie bzw durch Marx:
„Der Kampf gegen die Utopie", schreibt Ball, „hat unermeßlichen
Schaden angerichtet, und die doktrinäre Allwissenheit, der er entsprang,
trug nicht wenig zu jener 'geistreichen' Impotenz bei, deren Vertreter
zu den Rezepten schworen, trotzdem der Geschichtsverlauf hundert
Mal sie verwarf [...] Es ist eine wahre Erlösung, daß sich endlich gera-
de aus Sozialistenkreisen immer kühnere Stimmen erheben, die die ver-
pönte 'Utopie' in ihr Recht wieder einsetzen wollen [...] und es mag
eine Philosophie eintreffen, die mit den 'Wirklichkeits'utopisten aufzu-
räumen gewillt ist "12 Ball erwähnt Blochs Geist der Utopie zwar nicht,
doch die latente Bewunderung und gleichzeitige Distanzierung kann nur
11
Ball. Kntik (Anm. 7), S 38
12
Ball. Kntik(Anm.7), S 185
Chryssoula Kambas 11

seiner Position gelten An die vorsichtige Anspielung schließen sich


Überlegungen an, ob solches „Träumen" nicht doch eher von der Tat
abhalte9 Der Selbsteinwand folgt auf dem Fuße: „Sind die Utopisten
nicht gerade jene Geister, die dem Streben nach Freiheit stets wieder
neue Waffen und Wege zeigen? Und sind die großen Praktiker nicht
ebenso ungerecht, hart, ja unmenschlich, wie die Träumer und Versun-
kenen, die aussichtslosen Idealisten und Ideenkapaune weltflüchtig und
gerade aus Reichtum irreal sind9"13 So ist die Passage durchweg als
Hommage an den „utopischen Freund" lesbar
Blochs Geist der Utopie ist eine philosophische Bekenntnisschrift,
nicht des systematischen Typus, sondern sprachlich und argumentativ
bewußt „künstlerisch" gestaltet Die Bezeichnung Essay mag angemes-
sen sein Thematisch-sachlich greift das Buch in die Geschichte der
Künste aus, der Philosophie im Sinne einer Ontologie, der Theologie in
Fragen des biblischen Verhältnisses von Christentum und Judentum Als
theologisch läßt sich aber auch die Geschichtsvision auffassen Diese
entfaltet der letzte Abschnitt Karl Marx, der Tod und die Apokalypse
Darin erkennt Bloch die kritische Leistung der ökonomischen Theorie
Marxens für eine rein staatliche Revolution an Dessen Atheismus je-
doch setzt Bloch einen metaphysischen Entwurf „des Reiches" entge-
gen, das eines der Selbstbegegnung und Freiheit des Menschen sei Die-
ses Reich versammle alle Seelen in einer „spirituellen Konföderation",
sozusagen ein Endziel der Geschichte In der Geschichte gebe es nur
die Alternative zwischen „absolutem Umsonst" und „absolutem Über-
haupt" im Sinne eines metakosmischen Grenzpunktes Diesem neige
sich der Mensch zu, da er, körperliches Ich, handelndes Subjekt und
geistiges Wesen, sich das Postulat einer geistlich-wirklichen Lösung
stelle Den Auftrag dazu sieht Bloch in „gottbeschwörender Philoso-
phie" und „Wahrheit als Gebet", die er in einem „'System des theoreti-
schen Messianismus': sturmreif zu machen, für die Propheten, für den
praktischen Messianismus"14 zu vollenden fordert Er leitet damit „das
Reich" von einer intellektuell-vernunftgemäßen und einer seelisch-
mystischen Selbstbegegnung des Menschen in Gott her, unabhängig
von den Konfessionen, wobei jedoch der jüdischen Tradition ein Vor-

13
Ball, Kntik (Anm. 7), S. 186.
14
Ernst Bloch: Geist der Utopie. Faksimile der Ausgabe von 1918 Frankfürt/M
1971, S 337
78 Ball, Bloch und Benjamin

zug eingeräumt ist 15 Selbstbegegnung wäre denn auch der Terminus


für die Transzendenz des Subjekts
Die vorfindliche Gesellschaft ist bei Bloch ein abzuschaffender Zu-
stand von Verirrung, Gewalt und Selbstentfremdung Da er eine Sub-
jektphilosophie entwirft, deren Ich immanent wie transzendent be-
stimmt ist, befindet sich dieses immer schon im Aufruhr gegen die
schlechte Gegenwart, das heißt, die Utopie wird in Latenz unterstellt
Wegen dieser Selbsttätigkeitsvorstellung wird der frühen Philosophie
Blochs ein Dualismus zwischen Empirie und Utopie unterstellt, „ein
Noumenales [...], das aller Phänomenalität vorausliegt "16
Der Ästhetik kommt in Geist der Utopie wesentlich die Aufgabe zu,
einen antizipierenden Ausblick auf Utopie zu eröffnen Das heißt, Kunst
und Erfahrung des Schönen werden wesentlich für eine befreiende
Selbstbegegnung des Menschen innerhalb der entfremdeten Welt Daran
hat auch die Sprache des Philosophen teil Sie ist Ausdrucksbewegung,
keine Kategoriensprache Als expressionistisch orientierte Ausdrucks-
bewegung evoziert sie Denken der Utopie, ohne nach dem alten Muster
der Staatsutopien den neuen Zustand auszumalen So verfahren die
Schlußsätze der Einleitung, wo Bloch mit Verkündigungsrhetorik das
eigene Buch 'in die Welt setzt': „Wir haben Sehnsucht [...], keinen
utopisch prinzipiellen Begriff Diesen zu finden, das Rechte zu finden,
um dessentwillen es sich ziemt, zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu
haben, dazu gehen wir, hauen wir die phantastisch konstitutiven Wege,
rufen was nicht ist, bauen ins Blaue hinein, bauen uns ins Blaue hinein
und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche ver-
schwindet - incipit vita nova "
Ball und Bloch sind als Denkende ihrem geschichtlichen Augenblick
verpflichtet Balls „Kirche der Intelligenz" umschreibt eine immanente
Revolutionsvorstellung moralisch-aktivistisch Sie gründet auf einer
15
Bloch, Geist (Anm. 14). S 319-332 Bloch denkt bekanntlich eine christlich-
jüdische Synthese der Erlösung Zum spezifisch jüdischen Erlösungsbewußtsein
bei Bloch vgl Daniel Krochmalnik: Ernst Blochs Exkurs über die Juden, in:
Bloch-Almanach 13/1993, S 41-58
16
Heinz Paetzold Neomarxistische Ästhetik Teil 1: Bloch, Benjamin Düsseldorf
1974. S 36
Bloch. Geist (Anm 14), S 9 Zum Stil Blochs vgl Peter Zudeick: Im eigenen
Saft Sprache und Komposition bei Ernst Bloch, in: Bloch-Almanach 1/1981, S
69-90.
Chryssoula Kambas 79

vorintellektuell religiös erfährbaren Freiheit, welche Ball mit Gott


identifiziert, und soll zu einer anarchisch-mystischen Gemeinschaft füh-
ren „Ein Wunder wäre die vollendete Inkarnation des Ewigen in zeitli-
cher Gestalt Sie war nie, und wird nie sein Gott und die Freiheit sind
eins Reich Gottes auf Erden ist Sakrileg Sichtbare Kirche ein Sakrileg
[...] Gott ist die Freiheit des Geringsten in der geistigen Kommunion
aller"18
Bloch dagegen überschreitet die Immanenz mittels ontologisch unter-
stellter Transzendenz Der Dualismus zwischen Utopie und Empirie
entleiht in der Vorstellung vom „künftigen Reich" aus der Theologie
Transzendenz zugunsten der Geschichte Hierbei ist stets zu berück-
sichtigen, daß Bloch rückblickend die frühen Arbeiten als 'revolutionäre
Gnosis' bzw 'revolutionäre Romantik' einstufte,19 in Abgrenzung zur
späteren marxistischen Säkularisierung des jüdisch-christlichen Escha-
ton
Wie brachten Ball und Bloch ihr Erlösungsdenken in Einklang mit der
Arbeit an der Freien Zeitung? Ernst Bloch reagierte widersprüchlich,
wenn er im Alter nach seiner Mitarbeit an ihr befragt wurde Er distan-
zierte sich zum einen von „bestochenen Hunden" und „Vaterlandsver-
rätern für Geld" 20 Doch die folgende Erinnerung aus dem Gespräch mit
Michael Landmann (1967) scheint Balls und Blochs damalige Haltung
realitätsgerechter wiederzugeben: „Einmal sagte ich zu Hugo Ball 'Wie
können wir in der Freien Zeitung noch weiterschreiben bei Herrn von
Schlieben als Herausgeber und neben Artikeln wie denen von Rösemei-
er, diesem unbegabten Kerl ' Da sagte Ball, mir unvergeßlich: 'Einver-
standen mit allem, was Sie sagen, nur nicht mit dem Schluß Wenn 500
Katzen vor dem kaiserlichen Schloß miauen, da achte ich nicht darauf,
daß es Katzen sind, sondern daß sie protestieren. Ich stelle mich mitten
unter sie und miaue mit ' Damit hatte Ball recht "21 Neben der Recht-

18
Ball, Kritik (Anm. 7), S. 240/41.
9
Dazu Michael Pauen Apotheose des Subjekts Gnostizismus in Ernst Blochs
Geist der Utopie. In: Bloch-Almanach 12/1992, S. 16-64, insbes. S 25 f.
20
Martin Korol Gespräch mit Ernst Bloch im Beisein von Karola Bloch und Burg-
hart Schmidt Tübingen am 25 Juni 1976 Zit nach M. Korol: Einleitung, in:
Ernst Bloch: Kampf, nicht Kneg Politische Schriften 1917-1919 Hg. von M Ko-
rol Frankfurt/M 1985. S 38
21
Michael Landmann Gespräch mit Ernst Bloch in Tübingen am 22 Dezember
1967. m: Bloch-Almanach 4/1984, S. 36.
80 Ball, Bloch und Benjamin

fertigung übermittelt diese Anekdote etwas vom Selbst- und Sendungs-


bewußtsein beider Journalisten
Was war das für eine Zeitung, der sich beide verpflichtet glaubten,
wobei Hugo Ball „der Motor des Unternehmens"2 war9 Die Freie
Zeitung war ein Emigrantenblatt, das vom Standpunkt der Entente aus
argumentierte Zweimal wöchentlich, im Umfang von vier Seiten Ta-
geszeitungsformat, erschien sie drei Jahre lang, von April 1917 bis
März 1920 Eigenen Angaben zufolge will sie es zu einer Auflage von
14 000 gebracht haben Nach Erinnerungen eines schweizer Mitarbei-
ters soll sie allein 20 000 Abonnenten gehabt haben In jedem Fall ge-
hörte sie zu den auflagenstarken Zeitungen der Schweiz, auch im Ver-
gleich mit den renommierten Tageszeitungen In Deutschland, das zum
Block der Mittelmächte gehörte, stand sie, als Propagandablatt der
Entente eingestuft, auf der Verbotsliste
Der argumentative Ausgangspunkt lag für die Freie Zeitung in der
Kriegsschuldfrage In ihr unterschieden sich die Beiträge der verschie-
denen Mitarbeiter einschließlich der Blochs und Balls kaum Der Erste
Weltkrieg wurde vor allem in Abgrenzung von der 1916 in Zimmerwald
formulierten Imperialismustheorie gesehen, derzufolge die Entfaltung
der Kapitalbeziehungen im internationalen Maßstab zu Kolonialismus
und einer kriegerischen Aufteilung der Ressourcen geführt habe Dem-
nach trugen alle führenden europäischen Staaten Schuld am Ausbruch
des Krieges So sahen es Lenin und die Zimmerwalder Konferenz der
Sozialisten Die Freie Zeitung sah hingegen im Ersten Weltkrieg das
Ergebnis eines Kampfes zweier Ideen der Idee der militärisch-
autoritären Zwangsherrschaft gegen die der liberalen Demokratie Der
Kriegsausbruch wurde damit als spezifisches Resultat der deutschen
Geschichte erklärbar, insbesondere des preußischen Militarismus
Deutschlands Verpreußung und Bismarcksche Reichseinigung von
1871 hätten Deutschland von den anderen fortschrittlichen politischen
Nationen getrennt Dieser Sicht auf den deutschen 'Sonderweg' gab

Korol. Einleitung (Anm 20), S. 41 Die folgende Darstellung stützt sich weitge-
hend auf diesen Text sowie Martin Korol: Über die Entwicklung des politischen
Denkens Ernst Blochs im Schweizer Exil des Ersten Weltknegs, dargestellt an
drei Texten aus den Jahren 1917, 1918 und 1919, in: Bloch-Almanach 1/1981, S.
23-45
Chryssoula Kambas 81

Hugo Ball das ideengeschichtliche Fundament mit seiner Kritik der


Reformation
Der russischen Revolution stand die Freie Zeitung skeptisch gegen-
über, da sie eine Billigung, ja aktive Stützung der russischen revolutio-
nären Entwicklung durch die Deutsche 3 Oberste Heeresleitung unter-
stellte und wiederholt anprangerte: Hatte diese nicht die russischen Re-
volutionäre rechtzeitig durch Deutschland nach Rußland gelangen las-
sen, um ihnen schließlich den Frieden von Brest-Litowsk zu diktieren,
zur Entlastung der deutschen Ostfront9 Rußland verließ zudem mit der
Revolution die Entente Entscheidend bei dieser kriegspolitischen Sicht
der Dinge wurde, daß die Freie Zeitung dabei auch den Pazifismus ab-
lehnte, der sozusagen als ein der preußischen Kriegspolitik zuarbeiten-
des Element eingestuft wurde Die Rangfolge der Gegner sah somit
derart aus: Hauptfeind war die 3 Oberste Heeresleitung des Deutschen
Reiches, es folgten die Bolschewiki seit Brest-Litowsk, dann Öster-
reich-Ungarn, und hinterdrein die Pazifisten Bleibt eine bemerkenswer-
te Ausblendung zu notieren: die kolonialer Interessen in Vergangenheit
und Gegenwart der Ententestaaten.
Die Finanzierung der Zeitung ist nicht eindeutig zu klären.23 Martin
Korol zufolge lag der wirkliche Einfluß auf das Blatt bei Hans Schlic-
hen, dem Herausgeber Informell wirkte sein Gesinnungsgenosse aus
dem „Bund Neues Vaterland" Wilhelm Muehlon im Hintergrund Mu-
ehlon, ehemals Direktor der Abteilung Kriegsmaterial bei Krupp, gehör-
te der „Pazifistischen Vereinigung Gleichgesinnter" an, und war von
Krupp 1915 'beurlaubt' worden. In seinem freiwilligen schweizer Exil
hielt er zunächst Verbindungen mit der Deutschen Botschaft in Bern,
brach sie aber ab, als Deutschland 1917 den uneingeschränkten U-
Boot-Krieg erklärte Als jetzt die USA ihre Neutralität aufgaben, setzte
sich Muehlon mit Francois Haguenin in Verbindung, dem französischen
Gesandten in Bern Haguenin, Diplomat und Literaturwissenschaftler,
Romanist, hatte 11 Jahre lang an der Berliner Universität gelehrt Er
stand den französischen Mehrheitssozialisten nahe
Hans Schlieben wiederum war bis Kriegsbeginn deutscher Konsul in
Belgrad gewesen Der ehemalige Manager Muehlon und der ehemalige
Diplomat Schlieben, beide republikanischer Gesinnung, sollen den frie-

23
Korol. Einleitung (Anm 20), S 37 und 65
82 Ball, Bloch und Benjamin

densbereiten Kanzler Bethmann-Hollweg gestützt haben, der 1917 von


der 3 Obersten Heeresleitung gestürzt wurde Neben Schlieben und
Muehlon gehörten zum darauf gegründeten „Bund Neues Vaterland"
der Münchener Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster, der USPD-
Politiker Kurt Eisner, Gustav Landauer, Albert Einstein und andere
Die Position der Freien Zeitung läßt sich nicht eindeutig einer partei-
politischen Kraft innerhalb des Deutschen Reiches zuordnen Die Ver-
bindungen bestanden am ehesten zur USPD Kurt Eisner wurde in der
Freien Zeitung zum entscheidenden Repräsentanten der deutschen Re-
volution erklärt Dies gehörte zu den Versuchen von Schlieben und
Muehlon, Politiker der USPD den Ententemächten gegenüber zu ak-
kreditieren Die Forschungsliteratur vermutet bis heute, daß für die
Finanzierung der Zeitung die Verbindung Schlieben-Haguenin den Aus-
schlag gab Neben der französischen Propaganda durften Mittel aus den
USA die Herausgabe möglich gemacht haben 24
Trotz der hohen Auflage und der machtpolitischen Ausrichtung ist die
politische Position der Zeitung als hoffnungslos isoliert anzusehen We-
der in der Schweiz noch in Deutschland gab es eine gesinnungsmäßige
Basis für eine derartige Pro-Entente-Position, und der Versuch scheiter-
te, mit der Hilfe Haguenins - 1919 Vertreter der französischen Frie-
densdelegation, dann Vorsitzender der Berliner Zweigstelle der franzö-
sischen Reparationskommission - über die Fortführung der Zeitung in
Deutschland und über die internationalen Verbindungen des „Bundes
Neues Vaterland" politische Kräfte zu sammeln
Die Deutschland-Reisen Balls ab etwa Dezember 1918 sowie im März
und Mai 1919 sind in diesem Zusammenhang zu sehen Verständlich,
daß sich Ball im Anschluß an seine Redakteursarbeit eine dauerhafte
Position, und sei es weiterhin die des politischen Redakteurs, sichern
wollte Aber er verstrickte sich in Fehleinschätzungen, die den Verlust
jeder politischen Kräfteabwägung erkennen lassen So beispielsweise
mit seinem Bemühen, die Männer und Hintermänner der Freien Zeitung
als Protagonisten der Weltrevolution gegen Karl Liebknecht und Rosa
Luxemburg auszuspielen Ball verkündete am 1.3.1919 unter dem Titel

24
Henning Köhler Novembenevolution und Frankreich Düsseldorf 1980, S 96
Nach Köhler ist die Freie Zeitung hauptsächlich von der französischen Propagan-
dafinanziert,und zwar über geschäftsmäßige Kontakte von Foerster und Muehlon
zu Haguenin
Chryssoula Kambas 83

„An unsere Freunde und Kameraden": „Eisner als Erster und Einziger
hatte in Deutschland begriffen, worum es sich handle, [...] um die
Weltrevolution 'gegen' Deutschland - Außerhalb Deutschlands hatten
diesen Standpunkt längst Männer vertreten, deren Namen nicht oft ge-
nug von uns und von euch, Kameraden, genannt werden können Män-
ner wie Dr R Grelling, Konsul Dr Hans Schlieben, Prof L W. Foer-
ster, Dr W Muehlon, die eigentlichen Führer der beginnenden deut-
schen Revolution Führer zu einem neuen, modernen, anständigen, auf-
richtigen Deutschland [...] Eisner war es allein, der den Feind nur im
Lande suchte, nicht draußen Sein Ende ist deshalb erschütternder, ed-
ler sein Opfer, als das der Liebknecht und Luxemburg "25 Derartige
Rhetorik ist als übliche journalistische Pathetik zu bewerten Doch mißt
man sie an der Kompromißlosigkeit der Sprachkritik des Dadaisten
Ball, erscheint das Pathos als Entgleisung des Schriftstellers, als Inkon-
sequenz Hatte die Begründung der Klanggedichte nicht gelautet: „Man
verzichte mit dieser Art Klanggedicht in Bausch und Bogen auf die
durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Spra-
che"926 1919 verführte der Journalismus Ball zur „verdorbenen Spra-
che" und Verkennung der deutschen Realität
Demgegenüber hielt er im Tagebuch während seiner Deutschlandrei-
sen die eigene Ernüchterung, die Skepsis in die politische Entwicklung
fest; eine verzweifelte geschichtsnihilistische Haltung kommt zum Vor-
schein und Entsetzen über die Intellektuellenverfölgung während und
nach der Münchner Räterepublik, deren Terror er durchaus auf sich
beziehen konnte Ball notierte in dem Kontext: „Resultat daß die poli-
tische Aktion in der Schweiz keinen Sinn mehr hat, und daß es kindisch
ist, diesem Treiben gegenüber auf Moral zu bestehen Ich bin gründlich
geheilt, von der Politik nun auch, nachdem ich den Ästhetizismus be-
reits früher abgelegt hatte Es ist notwendig, noch enger und aus-
schließlicher auf die individuelle Basis zu rekurrieren, nur der eigenen
Integrität zu leben, auf jedes korporative Wirken aber ganz zu verzich-
ten "2 Weitere Aufzeichnungen aus der zweiten Jahreshälfte 1919 las-

25
Ball. Künstler (Anm. 3). S 256/57
26
Ball. Flucht (Anm 4). S. 100.
27
Ball. Flucht (Anm 4), S 230/31 Eintrag unter "24 V." des Jahres 1919. Ob es
sich um einen unbearbeiteten oder später bearbeiteten Nachtrag handelt, kann,
wie hinsichtlich des Gesamttextes, nicht entschieden werden
84 Ball, Bloch und Benjamin

sen eine wachsende Selbstdistanzierung von der eigenen politischen


Identität erkennen: „Als ich damals nach Bern führ, wie hätte ich ge-
dacht, auf so heftige Weise in die Politik zu geraten Ich bin zu leicht
begeistert und kenne dann keine Halbheit, keine Bedenken "
Ball und Bloch waren am Ende des Weltkriegs derart von ihrer isolier-
ten Position enttäuscht, daß sie unabhängig voneinander in Briefen ein-
bekannten, sie hätten konsequent erweise an der Seite der französischen
Soldaten kämpfen müssen 29 Vermutlich wußten sie um die Problema-
tik, zu der sie ihr verbaler Radikalismus als Journalisten der Freien
Zeitung geführt hat
Über den Abbruch ihrer Verbindung sind mittlerweile zwei Hypothe-
sen aufgestellt worden: Martin Korol spricht von einem Riß und ver-
weist auf einen Brief Blochs an Muehlon vom 22. November 1918,
worin Bloch Anstoß nahm an einer antisemitisch zu verstehenden po-
lemischen Formulierung Balls "Man schickt anationale Israeliten vor,
um eine möglichst vorteilhafte Liquidation zu erreichen "30 Das bezog
sich auf die deutsche Regierung und Walter Rathenau Da in der fol-
genden Nummer Blochs Artikel 'Deutsche' Revolution erschien,
fürchtete Bloch, der Leser müsse Balls „antionale Israeliten" auf ihn,
Bloch, beziehen Sollte sich so etwas wiederholen, schrieb er zugleich
an Muehlon, Grumbach und Schlieben, werde er seine Mitarbeit an der
Freien Zeitung aufkündigen. Mitte Dezember hat er sich - unbekannt
worüber - mit Schlieben entzweit und auch an der Freien Zeitung nicht
mehr mitgearbeitet Volker Knufermann vermutet, daß sich eine Ent-
fremdung zwischen Ball und Bloch sogar viel früher, bereits im Früh-
jahr 1918 anbahnte32 Ball habe sich in einem Brief vom April/Mai an
Emmy Hennings beklagt, Bloch [,,B..."] plagiiere seine Gedanken
Knufermann bezieht dies bereits auf Blochs Beitrag vom 9 Januar

28
Ball, Flucht (Anm. 4), S. 251 Aufzeichnung unter "19 X " des Jahres 1919.
29
Hugo Ball: Bnefe 1911-1927 Hg von Annemane Schutt-Hennings Einsiedeln,
Köln 1957, S. 113; an Emmy Hennings, Apnl 1918. - Ernst Bloch: Bnefe 1903-
1975. Bd 1 Red von Uwe Opolka Frankfürt/M 1985, S. 242; Bloch an Mu-
ehlon, 11. 12 (1918)
30
Es handelt sich um den Artikel Die Umgehung der Instanzen vom 16. 11 1918;
in: Ball, Künsüer (Anm. 3). S 231-233 - Korol. Einleitung (Anm 20), S. 51-53
31
Bloch, Briefe, S 232-235; an Muehlon vom 22. 11. (1918).
32
Volker Knufermann Hugo Ball und Ernst Bloch als Beiträger der Freien Zeitung
Bern 1917-1919. in: Hugo-Ball-Almanach 1988, S. 30-46
Chryssoula Kambas 85

1918, Unser Reich Hier habe Bloch Balls Idee, den preußischen Staat
als lutherische Theokratie zu kritisieren, plagiiert Entsprechende Paral-
lelen finden sich in Blochs Rezension zu Muehlons Schrift Verheerung
Europas3*, weitere in Blochs Broschüre Vademecum fiir heutige De-
mokratien, die er im September 1918 abgeschlossen hatte Hierbei gehe
es vor allem um die von Bloch ungenannte Quelle, nämlich Hugo Ball,
für die revolutionäre Geschichte aktualisierende Deutung von Thomas
Münzer
Korols und Knüfermanns Überlegungen, die mit je anderem Akzent
unterstellen, beim Abbruch der Verbindung Ball-Bloch habe es sich um
einen persönlich motivierten, handfesten Bruch handeln müssen, läßt
sich entgegnen: Seit Balls erstem Beitrag in der Freien Zeitung im Ok-
tober 1917, Aufgabe für einen deutschen Philologen, waren seine Pro-
testantismuskritik und die Rolle Münzers darin publik Daß Bloch - seit
1911 betonte er die Notwendigkeit, das preußische Junkertum abzu-
schaffen - dann in dasselbe Hörn stieß, trug bei der preußenpolemischen
Tendenz der gesamten Zeitung zur Vereinheitlichung des aktualisieren-
den historischen Codes bei. „Irritationen" Balls sollten nicht überbewer-
tet werden, er dürfte Blochs Neigung zur enthusiastischen Adaption
von Gedanken und Ideen ihm Verbundener als charakteristischen Denk-
und Schreibstil schnell bemerkt haben Die Irritation Blochs über Balls
antisemitische Spitze wiederum kann von jenem gegenüber den Haupt-
verantwortlichen der Zeitung hochgespielt worden sein, um die Mitar-
beit aufzukündigen Hinsichtlich der persönlichen Verbindung können
die Zeitumstände, die unhaltbare Lage, die politischen Illusionen, die
von beiden sukzessive bewältigt werden mußten, allgemein eine Erosi-
on herbeigeführt haben Ein Bruch muß nicht zwangsweise vollzogen
worden sein Bloch wollte nach Deutschland zurück, sein Antrag auf
Einreise datiert vom Dezember 1918 Gegen einen unwiderruflichen
Bruch nach seinem Verlassen der Freien Zeitung mit Ball spricht dann
auch, daß er noch im Frühjahr 1919 über diesen mit Walter Benjamin
bekannt gemacht wurde
Was nun Walter Benjamins Verhältnis zu den beiden Denkern und
Journalisten angeht, so muß ein Hinweis zur Biographie nachgetragen
werden Benjamin hatte eine engagierte 'politische' Lebens-Phase 1915

Blochs Rezension darüber erschien in der Freien Zeitung vom 15 8 1918


86 Ball, Bloch und Benjamin

bereits abgebrochen, nämlich die Aktivitäten im Rahmen der Freien


Studentenschaft Dies hatte vermittelt mit dem Kriegsausbruch zu tun
„Er richtete sich auf ein strenges Leben des Geistes ein"34, so kommen-
tierte sein damaliger Freund Werner Kraft Benjamins Wiederaufnahme
eines strengen Philosophie-Studiums Während Bloch und Ball in Ar-
mut in der Schweiz lebten und die Honorare der Freien Zeitung bitter
benötigten, konnte Benjamin dank elterlicher Unterstützung damals
einen bürgerlichen Lebensstil halten und sich ganz auf den Abschluß
seines Studiums konzentrieren.
Die Bekanntschaft der Familien Ball-Hennings und Benjamin, die in
Bern Haus an Haus wohnten, schlössen die Frauen Dies geht aus Ben-
jamins interessantem „Stammbaum" der wichtigen Bekanntschaften
seines Lebens hervor 36 Wie bekannt, hatte Benjamin großes Interesse
an den Kinderbildern, die Annemarie Hennings gemalt hatte 3 Aber
bald soll er auch Balls Zur Kritik der deutschen Intelligenz gelesen ha-
ben „Gegen Ende des Winters gab mir Benjamin ein dickes, leiden-
schaftliches Pamphlet Zur Kritik der deutschen Intelligenz zu lesen," so
erinnert sich G Scholem, „das uns beiden teilweise ebensosehr durch
die Scharfsicht des Hasses darin imponierte, wie es uns in anderen Tei-
len, wie etwa in den maßlosen Ausfällen gegen Kant, nur ein Kopf-
schütteln übrig ließ "38 Was Benjamin von Blochs und Balls Journalistik
hielt, darauf gibt es keine Hinweise Sollte er sie zur Kenntnis genom-
men haben, so dürfte er sie im Sinne der Erinnerung Scholems kaum für
„Vaterlandsverrat" gehalten haben Auch eine authentischere Äußerung
Benjamins über Balls Buch ist mW bislang nicht ermittelt Einen Re-
kurs auf Ball scheint er 1934 im Pariser Exil vorgehabt zu haben, und
zwar im Zusammenhang eines Vortrags über die Intellektuellenproble-

34
Werner Kraft Spiegelung der Jugend Frankfurt/M 1973, S 72
35
Dazu Gershom Scholem Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft.
Frankfurt/M 1975 (im weiteren Walter Benjamin), S. 69 ff
36
GS VI, S. 804. Der "Stammbaum" ist 1932 im Zusammenhang der Arbeit an der
Berliner Chronik erstellt.
Benjamin nannte sie "dokumentarisch interessant" Walter Benjamin: Briefe
Bd 1 Hg. von Gershom Scholem und Theodor W Adorno Frankfurt/M 1966
(im weiteren: Briefe). S 214; an Ernst Schoen vom 24 7 1919 Vgl auch Scho-
lem, Walter Benjamin (Anm 35), S. 101. "Benjamin erzählte öfter von seinen
Besuchendort"
38
Scholem, Walter Benjamin (Anm 35), S 101
Chryssoula Kambas 87

matik der Weimarer Republik Die Notiz dazu findet sich anläßlich ei-
ner geplanten, dann aber nicht zustandegekommenen privaten Vortrags-
reihe bei dem Arzt Dalsace 39 Beide Notizen zeigen nur: Ball blieb
Benjamin unvergessen, und er verband dessen Person mit der deutschen
Intellektuellenproblematik.
In der Konstellation Ball-Bloch erhielt der 'junge' Benjamin einen
bedeutsamen Anstoß dazu, was er „Gedanken über Politik" nannte Der
aufschlußreiche Beleg dafür lautet im einzelnen: „Ich habe viel für mich
nachgedacht und dabei Gedanken gefaßt, die so klar sind [...] Sie be-
treffen Politik In vieler Beziehung [...] kommt mir dabei das Buch eines
Bekannten zu statten [gemeint ist Geist der Utopie, CK.], welcher der
einzige Mensch von Bedeutung ist, den ich in der Schweiz bisher ken-
nen lernte Mehr als sein Buch noch sein Umgang, da seine Gespräche
so oft gegen meine Ablehnung 'jeder' heutigen politischen Tendenz sich
richteten, daß sie mich endlich zur Vertiefung in diese Sache nötigten
[...]. Über Geist der Utopie schrieb Benjamin eine ungedruckt ge-
bliebene längere, heute verschollene Rezension Als einziger Aufsatz
einer Trilogie Über Politik blieb der 1921 erschienene Zur Kritik der
Gewalt erhalten Dieser, wiewohl erst 1920/21 und nicht mehr in der
Schweiz geschrieben, enthält eine metaphysische Legitimierung der
revolutionären Gewalt Benjamin hat seine Argumentation in Auseinan-
dersetzung mit Georges Sorels Reflexions sur la violence*1 entwickelt
„Er hatte damals," schreibt Scholem über Benjamins letzte Berner Mo-
nate, „wohl im Verfolg seiner Gespräche mit Ball und Bloch, die
'Reflexions sur la violence' von Georges Sorel zu lesen begonnen, die
er auch mir ans Herz legte Die Auseinandersetzung mit Sorel hat ihn
dann lange beschäftigt "4

39
GS VI, S 743 Die abgedruckten Notizen lassen eine thematische Nähe zu dem
bekannten Vortrag Der Autor als Produzent (Frühjahr 1934) erkennen
40
Benjamin, Briefe (Anm. 37), S. 218/19; an Ernst Schoen vom 19. 9 .1919. Vgl
dazu auch Scholem (Anm 35), Walter Benjamin, S 102
41
Eine Sammlung politischer Aufsätze, die 1908 erschienen ist Zu den einzelnen
Werkbezügen zwischen Benjamin und Sorel vgl Verf: Walter Benjamin liest Ge-
orges Sorel 'Reflexions sur la violence'. in: Aber ein Sturm weht vom Paradiese
her Texte zu Walter Benjamin Hg von Michael Opitz und Erdmut Wizisla
Leipzig 1992. S 250-269 Der Beitrag erschien zuerst in den Cahiers Georges
Sorel 2/1984.
42
Scholem, Walter Benjamin (Anm 35), S 109
88 Ball, Bloch und Benjamin

Was oder wer immer Benjamin den Anstoß zur Sorel-Lekture gab,
läßt sich demnach nicht genau sagen Bedeutsam war in jedem Fall die
Konstellation in Bern: die Enttäuschungen Balls und Blochs über die
letztliche Fundamentlosigkeit ihres politischen Journalismus, dabei ge-
wiß auch die Suche nach einer Neuorientierung, ihre beiden Bücher, der
Schock über die Kette der Gewalt seit der Novemberrevolution, spe-
ziell die Verfolgung der Intellektuellen, die in Deutschland auf sehen
der Revolution staatspolitische Verantwortung übernommen hatten,
gewiß nicht zuletzt die Reihe der Schweizer Landesstreiks43
Benjamins sehr komplexer Gedankengang soll abschließend umrissen
und in Beziehung zu Blochs Utopieentwurf und Balls Ethik der Intelli-
genz gesetzt werden: In Kritik am Naturrecht und an einer deskriptiven
Analyse von Gewaltanwendung nach Grundsätzen des positiven Rechts
sieht Benjamin in diesem eine Kette von Rechtsetzungen, wenn die
Gewalt des Staates nicht sanktionierter Gewalt entgegentritt Darüber
entsteht die „Monopolisierung der Gewalt" durch das Recht, dem somit
Gewalt innewohnt Diese Rechtsverhältnisse über Rechtsetzung sind
nach Benjamin mythisch begründet, und dabei von geschichtlich imma-
nenter Art Jedes Opponieren dagegen führt neue Gewalt und wiederum
Rechtsetzung herauf Nur durch eine Gewalt anderer Herkunft lasse
sich dieser Zirkel durchbrechen Sie denkt Benjamin nach dem Modell
des Gottesgerichtes, unter Verweis auf das 2. Buch Mose des Alten
Testamentes Das Gottesgericht wirke als eine „reine Gewalt" und
damit „rechtsvernichtend" Es steht außerhalb der geschichtlichen Zeit
und damit der Kette der Rechtsetzungen Den Nullpunkt zwischen Ge-
schichte und Gottesgericht füllt Benjamin mit Sorels Konzeption des
revolutionären Generalstreiks Dieser durchbreche vom Boden der Ge-
schichte aus die Kette mythischer Rechtsetzungen 44
Zur Erläuterung: Sorel unterscheidet zwischen einem politischen
Streik und dem revolutionären Generalstreik Der erste stellt nach So-
rels Definition ökonomische Forderungen auf und werde mit einem

Zu Streiks und Aufstanden in der Schweiz ist noch stets der zeitgenössische Be-
richt interessant von Fntz Brupbacher Zünch während Kneg und Landesstreik
Zünch 1928.
GS II 1, S 202 Zur Kritik der Gewalt erschien zuerst im Archiv für Sozialwissen-
schaft und Sozialpolitik, 47 Bd . 1920/21, dessen Mitarbeiter, wie bereits er-
wähnt. Bloch war
Chryssoula Kambas 89

Kompromiß beigelegt, sei somit als quid pro quo eine Form der Erpres-
sung und diene nur der jeweiligen politischen Stabilisierung Sorel greift
damit die Mehrheitssozialisten und deren Interesse am republikanischen
Parlamentarismus an Der politische Streik gilt ihm als klassisches Mit-
tel, die Arbeiterschaft zu disziplinieren Der revolutionäre Generalstreik
hingegen steht für ihn jenseits der Republik, er erschüttere die Klassen-
gesellschaft Ökonomische Forderungen würden in ihm gleichgültig
Die Masse selbst verständige sich vielmehr mit Hilfe mythischer Bilder
Der Sieg, die eigene Aufopferungsbereitschaft, auch der revolutionäre
Generalstreik selbst seien solche Mythen 45 Sorel setzte mit seinem
Konzept den Voluntarismus gegen den sozialdemokratischen Determi-
nismus Den Voluntarismus denkt er als kollektive Aktion Seine Kon-
zeption ist vergleichbar mit der in Geist der Utopie von Bloch entwik-
kelten zwischen „absolutem Umsonst" und „absolutem Überhaupt"
Mit Sorels Konzeption des revolutionären Generalstreiks übernimmt
Benjamin dessen syndikalistisch-anarchistische Grundsätze seine Kritik
am Staatsglauben der sozialistischen Intellektuellen und die Zurückwei-
sung ihres Anspruches auf „Führung" in den Klassenauseinandersetzun-
gen, die Abweisung der „Utopisten", d.h. derer, die auf klassenüber-
greifende, harmonisierende Lebensreformprojekte setzen, schließlich
die Überzeugung von der Notwendigkeit, innerhalb der Klassenausein-
andersetzungen öffentlich für die revolutionäre Gewalt einzutreten, da,
so Benjamin, nur sie „die Entfaltung eigentlicher Gewalt in den Revo-
lutionen zu vermindern geeignet ist"
Damit hat Benjamin in Form eines Modells erwiesen, „daß und wie
auch die revolutionäre Gewalt möglich ist, mit welchem Namen die
höchsten Manifestationen reiner Gewalt durch den Menschen zu bele-
gen ist "47 Dies Modell läßt sich als Gleichnis auf das Durchbrechen der
Immanenz der Geschichte mittels kollektiver Handlungsweisen verste-

Georges Sorel Über die Gewalt Mit einem Nachwort von George Lichtheim
(Neuauflage der Ausgabe Innsbruck 1928) Frankfurt/M 1969, S. 143 ff Dazu
Helmut Berding Der politische Mythos in der Theorie Georges Sorels und in der
Praxis des Faschismus, in: Poliüsche Ideologien und naüonalstaaliche Ordnung
Studien zur Geschichte des 19 und 20 Jahrhunderts Festschrift für Theodor
Schieder Hg v. Kurt Kluxen u Wolfgang J Mommsen München u Wien 1968,
S. 239-252.
GS II 1 (Anm 1), S. 195.
GS II 1 (Anm 1). S. 202.
90 Ball, Bloch und Benjamin

hen Es steht an der Stelle, wo in Blochs Geist der Utopie der Dualis-
mus zwischen Empirie und Utopie in Form der mystisch affinitiven
Tendenz zum „Reich" immer schon überbrückt ist Diese Kritik oder
Ergänzung Blochs hat Benjamin im Theologisch-politischen Fragment
ebenfalls festgehalten „Erst der Messias selbst vollendet alles histori-
sche Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf
das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft Darum kann
nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wol-
len Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dy-
namis, es kann nicht zum Ziel gesetzt werden Historisch gesehen ist es
nicht Ziel, sondern Ende Darum kann die Ordnung des Profanen nicht
am Gedanken des Gottesreiches aufgebaut werden, darum hat die
Theokratie keinen politischen sondern allein einen religiösen Sinn Die
Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben ist das
größte Verdienst von Blochs Geist der Utopie."
Eben darum war Hugo Ball ein Nachfolger von Ernst Bloch Doch
Hugo Balls Zur Kritik der deutschen Intelligenz ist im geschichtstheo-
retischen Bezugsrahmen bei Benjamin nicht präsent Ja, man muß sogar
sagen, daß die von Ball zugrundegelegte Annahme, der Geistige sei ein
Führer in Fragen von Moral und Revolution, von Benjamin zeitlebens
als zu widerlegender Irrtum vehement attackiert worden ist Die Aus-
einandersetzung darüber führte er auch mit Bertolt Brecht und im Rah-
men der späteren Volksffontsammlung der Intellektuellen, wo es eben-
falls darum ging, daß gegen die Gewalt Hitlers die Kultur, somit von
den Intellektuellen der „Kanon der Menschheit und Menschlichkeit auf-
rechterhalten"49 werden könne Für Benjamin waren das Illusionen der
Intellektuellen über ihre Rolle im Klassenkampf, Illusionen auch über
dessen gewaltsame, katastrophische Form Eine Affinität zwischen
Benjamin und Ball darf man hingegen in Sachen Anarchismus unterstel-
len Hier fehlte Benjamin ein ideengeschichtliches Fundament, das Balls
Kritik der deutschen Intelligenz eindrucksvoll von Weitling bis zu
Brupbacher entfaltet Der theologische Bezugspunkt in Benjamins Kri-
tik der Gewalt, der messianische Bruch der Kette der Rechtsetzungen,
steht aber Balls libertär-religiöser Anarchie nahe, in dem wortwörtli-

GS II 1 (Anm 1), S.203


Ball. Kntik (Anm 7), S 38
Chrvssoula Kambas 91

chen Sinne von Nicht-Herrschaft. Eben als Leerstelle, an der Geschich-


te und, mit Bloch gesprochen, Gottesreich zusammentreffen.
Hans Dieter Zimmermann

Die in die Irre führen


Hugo Balls Kritik der deutschen Intelligenz1

Die „sechs Laut- und Klanggedichte, entstanden 1916", wie sie in sei-
nen Gesammelten Gedichten heißen, haben Hugo Ball berühmt ge-
macht, es sind seine DADA-Gedichte, also die Gedichte, mit denen der
Dadaismus begann Für Ball war das nur eine kurze Phase in seinem
Leben, die sechs Gedichte stellen nur einen kleinen Teil seiner Gedichte
dar und insgesamt sind sie nur ein winziger Teil seines Werkes, das von
der Literaturwissenschaft kaum wahrgenommen wird Nur drei Monate
im Frühjahr 1916 dauerte die DADA-Zeit des „Cabaret Voltaire" in der
Züricher Spiegelgasse, in der Ball die führende Kraft war Danach kam
die „Galerie DADA" in der Züricher Bahnhofstraße im Frühjahr 1917,
dort wirkten andere schon stärker als er, eben die, die aus dem Jux, der
Donquichotterie, wie Ball es nannte, eine Kunstrichtung machten und
sie nach Paris und Berlin trugen: Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck
u a Deren Konzeption ist im Blick der Literaturwissenschaftler, die
Hugo Balls interessierte sie nicht Und doch sind diese sechs Gedichte
nur zu verstehen aus dem Zusammenhang von Leben und Werk, aus
dem Zusammenhang des Denkens, das Hugo Ball der Öffentlichkeit
überlieferte: mit seinen tagebuchartigen Erinnerungen Die Flucht aus
der Zeit, die 1927, im Jahr seines Todes, erschienen
Aus Balls Sicht ist der Dadaismus nicht nur eine Polemik gegen den
„Todestaumel der Zeit", er ist nicht nur gegen etwas gerichtet, sondern
er versucht auch etwas aufzurichten. Die Quelle, aus der sich Ball
speist, ist ein verschüttetes Christentum, das muß jedem auffällen, der
diese Eintragungen liest, von denen nicht anzunehmen ist, daß sie
durch spätere Bearbeitung wesentlich verändert wurden. So schreibt er
im Juni 1916: „Der Dadaist kämpft gegen die Agonie und den To-
destaumel der Zeit" (12 6 1916) Und zwei Absätze weiter: „Das
1
Statt eines ausführlichen Anmerkungsapparates sei für die bibliographische Er-
schließung auf die Literaturhinweise am Ende des Beitrages sowie die Hinweise
im Text selbst verwiesen
94 Die in die Irreführen

Wort und das Bild sind eins Maler und Dichter gehören zusammen
Christus ist Bild und Wort Das Wort und das Bild sind gekreuzigt"
(13 6 1916) Hier wird nicht nur das Miteinander von Malerei und
Dichtung postuliert, hier werden auch beide auf Christus zurückgeführt
- mit einer verdeckten Reminiszenz an den Anfang des Johannes-Evan-
geliums Das Wort ist gekreuzigt, und das Wort wird wieder auferste-
hen Die Zerlegung des Wortes in seine Bestandteile, die der Zerlegung
des Satzes in Worte folgte, wie es die Eintragungen vom 18 Juni und
vom 23 Juni 1916 berichten, ist nicht nur eine Destruktion, sondern
zugleich die Hoffnung auf einen neuen Aufbau aus den offengelegten
Elementen
„Ich habe eine neue Gattung von Versen gefunden", beginnt die Ein-
tragung vom 23 Juni, die das Ereignis der „Lautgedichte" oder „Verse
ohne Worte" festhält Das Ereignis vollzog sich in einer Reminiszenz,
die Ball diesmal offenlegt Seine Verkleidung erinnert schon an die
eines katholischen Bischofs, wie das bekannte Foto2 belegt, und sein
Psalmodieren der Verse ohne Worte wird zum Sprechgesang des Prie-
sters, wie ihn der Knabe in vielen Messen kennenlernte Selbst die Ver-
se ohne Worte haben hier einen Ursprung denn dem, der Latein nicht
verstand, mußten die lateinischen Worte des Priesters unverständlich
sein, also Worte ohne Bedeutung, nur ihrem Klang nach aneinanderge-
reiht
So ist es auch konsequent, wenn in den Soireen der „Galarie DADA"
in der Bahnhofstraße neben der „Neuen Kunst" auch die „alte Kunst"
ihren Platz hatte Emmy Hennings las etwa aus Mechthilds von Mag-
deburg mystischen Schriften, Hans Arp aus Jakob Böhmes Morgenröte
im Aufgang. Es ist also nicht nur der Einzelgänger Ball, der die alten
Quellen aufsucht, es sind auch die Freunde, die diese „tausendjährigen
Fetische" ausgraben, wie Ball schreibt: „Nur die aufgeräumtesten und
reduziertesten Dinge können uns noch Freude machen " (14 5 1917)
Im Rückblick wird ihm sogar die Bezeichnung DADA zur doppelten
Abkürzung des Dionysius Areopagita, also D A D A , dem er sich
schließlich zuwandte und den er in seinem Byzantinischen Christentum

2
Vgl die Abbildung auf der ersten Umschlagseite des vorliegenden Bandes sowie-
Ernst Teubner (Hg.): Hugo Ball Leben und Werk (1886 • 1986) Berlin 1986. S
134.
Hans Dieter Zimmermann 95

eine Darstellung widmete, Dionysius Areopagita ist der grundlegende


Theoretiker der christlichen Mystik
Mit dem Rückgriff auf die alte Mystik steht Hugo Ball in seiner Zeit
nicht allein Wir werden ihn besser verstehen, wenn wir ihn im zeitge-
nössischen Zusammenhang sehen, denn nicht nur Hans Arp interessier-
te sich für die alte Mystik, auch Wassilj Kandinsky, den die Dadaisten
ausstellten, berief sich in seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst
von 1912 ausdrücklich auf die Theosophie, es ist die Programmschrift
der abstrakten Malerei, die als Weg nach Innen dargestellt wird Auch
andere Väter der Abstraktion wie Piet Mondrian und Frantisek Kupka
begründeten ihre Arbeit mit theosophischen Überlegungen Die grund-
legende Arbeit, mit der Philosophen und Literaten sich auseinander-
setzten, stammte von dem Prager Juden Fritz Mauthner Seine drei-
bändigen Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 1901 und 1902 er-
schienen, waren eine Streitschrift gegen alles herkömmliche Denken in
Philosophie, Theologie und Wissenschaft Er destruierte deren An-
strengungen mit enormen Bildungsaufwand Die Sprache, so seine Be-
hauptung, sei nicht zur Erkenntnis fähig. Und ohne diese Sprache
könnten wir nicht denken, so daß die Sprache unser Denken wie in
einem Gefängnis festhalte Die Sprache mag ihren Nutzen im alltägli-
chen Umgang haben, meint Mauthner, aber die Möglichkeit der Er-
kenntnis dessen, was wir sind, was die Welt ist, bietet sie uns nicht
Mauthner endet mit einem Hinweis auf den großen mittelalterlichen
Mystiker Meister Eckhart: das Eigentliche sei nicht aussprechbar; er
selbst nennt sich einen „atheistischen Mystiker" Der Rückgang auf die
Alten bedeutet also nicht eine Rückkehr in den Schoß der Kirche, wie
ihn Hugo Ball später vollzog - darin unterscheidet er sich von den
Zeitgenossen -, sondern eine Erneuerung aus dem Geist der neuen Zeit
Das weiß in seinen Aufzeichnungen Hugo Ball durchaus Nach dem
Eintrag über Mechthild von Magdeburg schreibt er: „Die moderne
Mystik bezieht sich auf das Ich" (14 5 1917) Sich selbst und die Welt
zu erleben in einem „anderen Zustand", in einem Zustand nicht-
rationaler Erfährung, das ist es, was hier erstrebt wird Robert Musil,
der in seinem umfangreichen Roman Der Mann ohne Eigenschaften
sich nicht zuletzt mit diesem „anderen", also dem vom rationalen unter-
schiedenen Zustand, auseinandersetzt, übrigens ebenfalls mit Zitaten
Meister Eckharts, nennt seinen Roman ein „religiöses Buch", geschrie-
ben im „Stande des Unglaubens"
96 Die in die Irreführen

Musil wurde durch Martin Buber beeinflußt, dessen Anthologie my-


stischer Zeugnisse Ekstatische Konfessionen er exzerpierte Buber war
mit Gustav Landauer befreundet, welcher wiederum ein Freund Fritz
Mauthners war Landauer, der gewaltlose Anarchist, begründete seinen
Anarchismus mit der Mystik: wo die Worte nicht ausreichen, setzt die
Tat ein Im Gefängnis übersetzte er, inspiriert von Mauthner, Meister
Eckhart aus dem Mittel- ins Neuhochdeutsche Hugo von Hof-
mannsthals Ein Brief des fiktiven Lord Chandos von 1902, von Litera-
turwissenschaftlern oft als einziges Zeugnis der Sprachkrise dieser Zeit
genannt, ist unter dem Eindruck von Mauthners Werk entstanden
Hugo Balls Position in Zürich 1916 und späterhin in seiner Polemik
Zur Kritik der deutschen Intelligenz erscheint, steht sie allein, als
skurrile Merkwürdigkeit eines Einzelgängers Das ist sie aber nicht: die
Erfährung des Lord Chandos ist Hugo Balls eigene Erfährung, die er
ungleich radikaler als Hofmannsthal auffaßt, denn er führt sie bis zur
Destruktion der Poesie und der Sprache Die Worte, die ihm „wie mo-
drige Pilze im Munde zerfallen", wie es von Chandos heißt, sind
schließlich „Verse ohne Worte" geworden: Lautgedichte, die in Teile
zerfallene Worte spielerisch aneinanderreihen Und Mauthners Kritik
an der gesamten deutschen Professorenschaft, die er als ideologisch
verblendet charakterisiert, wiederholt sich in Balls Polemik gegen eben
dieselben Klugschreiber Der Rundumschlag Mauthners, dem sich auf
seine Weise Landauer anschließt, wiederholt sich bei Ball Dabei ist es
unerheblich, daß Mauthner ein Deutsch-Nationaler war, der seine ful-
minante Sprachkritik mit seiner politischen Beschränktheit nicht zu-
sammenbringen konnte Landauer dagegen war ein eigenartiger religiö-
ser Anarchist und genau in diesem religiösen Anarchismus stimmt er
wiederum mit Ball in der Kritik an der deutschen Intelligenz überein
Auch entspricht der Polemik, die sich gegen etwas richtet, eine Hal-
tung, die sich für etwas einsetzt: die Polemik geht bei Ball wie bei
Landauer gegen die staatsversessenen Linken und Rechten, gegen die
Hegelianer und Bismarckbewunderer genauso wie gegen die Marxisten
und Lasalle-Anhänger Wofür Ball eintritt, macht er an den Namen der
mystischen Denker Thomas Münzer, Franz von Baader, der früh in der
Flucht aus der Zeit zitiert wird, und an Wilhelm Weitling fest
Hugo Ball verbindet also, könnte man zusammenfassen, die Sprach-
kritik, die Hofmannsthal in Ein Brief ausspricht, mit der Polemik, die
Mauthner und Landauer in ihren Schriften artikulieren: er führt beide
Hans Dieter Zimmermann 97

mit Entschiedenheit fort und er verbindet beide, denn sie kommen aus
derselben Wurzel
Diese Wurzel ist der Zweifel an den verbreiteten Erklärungsmodellen
des 19 Jahrhunderts, an Idealismus und Materialismus, Positivismus
und Nationalismus Und die Hoffnung, daß es jenseits rationaler Erklä-
rungsversuche eine andere Erkenntnismöglichkeit gäbe, eine intuitive,
eine wortlose - so wie die alten Mystiker sie erfahren haben Der
Zweifel und die Hoffnung führten zu eigenen und eigenwilligen Versu-
chen auf den Gebieten der Kunst und der Philosophie, sie führten nicht
ohne weiteres in den Schoß der Kirchen zurück, denn die Rationalität
war hier im Wege. Diese aufzugeben, die doch gerade das Mittel war,
die flachköpfigen Erklärungsmodelle zu analysieren, waren nur wenige
bereit
Deshalb kann man sagen, daß die Moderne in Literatur, Kunst und
Philosophie zu Beginn unseres Jahrhunderts im Spannungsfeld von
Rationalität und Mystik entstanden ist „Rationalität und Mystik sind
die Pole unserer Zeit", schreibt Robert Musil im Tagebuch Sie bedin-
gen einander, sie hängen voneinander ab Und wer verstehen will, was
sich in Hugo Balls Generation ereignete, muß beide Pole bedenken
Wer einen ignoriert, wie es zu oft geschieht, wird diesen Künstlern und
Denkern nicht gerecht.
Abbruch und Wiederaufbau - so lautete der Titel eines Vortrages,
den er 1920 in Hamburg hielt - gehören also in Hugo Balls Bemühun-
gen zusammen Und die Lautgedichte und die Polemik gegen die deut-
sche Intelligenz gehören zusammen, weshalb sie auch gemeinsam be-
handelt werden sollten Sie sind zwei Seiten einer Medaille: hier die
Destruktion der Sprache nach ihrem Mißbrauch im Wilhelminismus,
dort die Destruktion der Ideologie, die in den Ersten Weltkrieg führte
Hier die Offenlegung des Materials, aus dem Neues entstehen könnte,
dort die Offenlegung der Grundlagen der Katastrophe, damit daraus
Konsequenzen gezogen werden können Und beide Destruktionen hat
Ball mit einer Radikalität vollzogen, die ihm selbst bedenklich vorkam
In der Flucht aus der Zeit schreibt er unter dem 23 Juli 1920: „Die
Freiheit in ihrer deutschen Formulierung: darin war ich einmal sehr
deutsch Meinen recht unbändigen, an den letzten Beispielen geschärf-
ten Eigenwillen hat kaum jemand überboten Er ging politisch bis zur
Anarchie und künstlerisch bis zum Dadaismus, der eigentlich meine
Gründung, oder besser gesagt, mein Gelächter war Die moralische
98 Die in die Irreführen

Atmosphäre der Schweiz, die ich oftmals sehr drückend empfand, diese
Atmosphäre hat mir im ganzen doch gutgetan Ich lernte die Auflö-
sungssymptome und ihre Herkunft verstehen, ich begriff, daß die gan-
ze, ringsum ins Nichts zerstäubende Welt als Ergänzung nach der Ma-
gie schrie, nach dem Worte als einem Siegel und letzten Kernpunkt des
Lebens Vielleicht vermag man einmal, wenn die Akten geschlossen
sind, meinem Bemühen um Wesen und Widerstand einige Zustimmung
nicht zu versagen "
Zur Kritik der deutschen Intelligenz, Balls Kampfschrift von
1918/193, ist gegen den Staat gerichtet, gegen den deutschen Staat,
gegen die Verherrlicher des Staats, gegen alle, die die Religion, die
Metaphysik, die Sittlichkeit dem Staat unterwerfen Das Buch richtet
sich vor allem gegen Martin Luther, in ihm sieht Ball das deutsche
Verhängnis begründet, und in allen, die diesem Protestanten nachfolg-
ten, dem protestantischen Philosophen Hegel zumal, der in sich selbst
den Weltgeist zu sich kommen sah, und im Pastorensohn Friedrich
Nietzsche, der in seinem Protest gegen das Christentum gerade jenen
Protestantismus fortsetzte, gegen den er sich empörte Nietzsche
wandte sich nicht gegen den Staat, wie es laut Ball nötig gewesen wä-
re, sondern gegen die Religion Die Bestie als das eigentlich Menschli-
che herauszustellen, darin seien Bismarck und Nietzsche sich einig
Aber auch Karl Marx und nicht nur Lasalle werden von ihm verurteilt;
Lasalle, der nur allzu bereit gewesen sei, sich dem Bismarckschen Staat
zu unterwerfen, und der gewalttätige Denker Marx, der den staatlichen
Despotismus gedanklich vorwegnahm, der dann von Lenin verwirklicht
wurde Es waren gerade die Anarchisten - Ball zitiert Bakunin -, die
früh erkannten, welch schreckliche Diktatur entstehen würde, wenn die
Lehre von Marx angewandt würde Die Geschichte hat ihnen recht
gegeben Es handelte sich im Marxismus/Bolschewismus nicht um eine
gute Idee, die schlecht verwirklicht wurde, wie heute einige sagen, es
war eine schlechte Idee, die in der Sowjetunion konsequent verwirk-
licht wurde Bei Ball ist das nachzulesen
In diesem Punkt, seiner rückhaltlosen Kritik am Marxismus, wird man
Hugo Ball heute noch recht geben können, in seiner Kritik am groß-
sprecherischen deutschen Nationalismus ebenfalls Doch auch in seiner

3
Im folgenden nur mit der Seitenzahl nach der Ausgabe des Suhrkamp-Verlags
Frankfürt 1980 zitiert
Hans Dieter Zimmermann 99

Kritik am Protestantismus9 Balls Position wird verständlicher, wenn


man sich vergegenwärtigt, was unter Bismarck und Wilhelm II der
Protestantismus in Preußen war das Machtinstrument des Staates, die
Rechtfertigungslehre des Imperialismus Sein oft zitiertes Beispiel:
Friedrich Naumanns „Dem Doctor Luther zulieb ist das Jesuskindlein
geboren worden Der Papst hatte nur einen Schatten davon " „Sei's
drum" (31), sagt Ball dazu Er will sich vor allem gegen die deutsch-
nationale Rezeption Luthers wenden, gegen den Luther, der angeblich
den Weg gebahnt hat „'für ein Volk, das Genies gebären wird'" (31)
Und den Größenwahnsinn dieser Genies von Hegel, der in seiner Philo-
sophie nicht nur den Staat Preußen legitimierte, sondern auch den
Weltgeist an seinen Höhepunkt genommen sah - alle bisherige Ge-
schichte war Vorbereitung dazu - oder Nietzsche, der alles Bisherige
vernichten wollte und in sich und mit sich einen neuen Anfang setzte,
diesen Größenwahnsinn der Pastorensöhne und Theologenzöglinge
greift Ball an Doch richtet sich schließlich sein Urteil in aller Schärfe
gegen Luther selbst, gegen den Luther, der dem Staat eine bis dahin nie
gekannte Macht gab, „der die Kirche vom Papsttum befreien wollte
und sie den vielen kleinen Päpsten, den deutschen Fürsten unterwarf,
die hinfort die oberste Herren der Kirche waren" Dies ist sein Haupt-
vorwurf gegen Luther: „Man hatte den Papst mit den Päpstchen ver-
tauscht, man hatte den großen Blick, die alleinige Tradition und Uni-
versalität des Mittelalters verloren Man war: protestantisch geworden,
das heißt national und beschränkt" (78)
Aus der Theologie sei eine Philologie geworden, „man hielt sich nun
mehr an die Bücher, statt an das Leben" (vgl 42f) In Italien und
Frankreich hätte die Renaissance an den Hellenismus angeknüpft, in
Luthers Deutschland dagegen an das Judentum, an das Alte Testament
Hugo Ball stellt Martin Luther Thomas Münzer entgegen Ernst
Bloch wurde durch Ball, den er gegen Ende des Ersten Weltkrieges in
Bern kennenlernte, überhaupt erst auf Münzer aufmerksam Blochs
Münzer-Buch, 1921 erstmals erschienen, breitet mit prophetischem
Atem aus, was hier kurz und prägnant Ball schreibt Hugo Ball verehrt
in Münzer den großen mystischen Geist, der eine Erneuerung des Le-
bens bringen wollte, auch des sozialen und des politischen Luthers
Abkehr von den rebellischen Bauern sieht er als Verrat.
So wie er gegen Marx Wilhelm Weitling setzt, so setzt er gegen Lu-
ther Thomas Münzer und gegen Hegel Franz von Baader: es sind die
100 Die in die Irreführen

großen Mystiker, die Ball anziehen, die eine innere Wandlung des
Menschen predigen, einen Appell an das Gewissen richten Ihnen stellt
er diejenigen gegenüber, die gegen das Innere, gegen das Gewissen
appellieren „Zweierlei Rebellionen sind möglich Eine Rebellion gegen
die natürlichen Grundlagen der Gesellschaft und des Gewissens Sie ist
töricht und verbrecherisch [Deshalb greift er z. B Nietzsche an, H D
Z ] Und eine Rebellion für diese Grundlagen, aus universalem Gewis-
sen Sie fordert die Freiheit [...]" (129)
Hugo Ball, das zeigt seine Sympathie für Münzer, ist kein Anhänger
des „doktrinären Katholizismus", wie er sagt, keiner des Papsttums
Seine Kritik am protestantischen Preußen macht nicht halt vor seiner
Kritik des katholischen Habsburg, schließlich sind beide Arm in Arm in
die Katastrophe des Ersten Weltkrieges gezogen Den Papst nennt
Ball „den theologischen Cäsar in Rom" Und er meint: „das Papsttum
beseitigt zu haben, die letzte regenerative Stütze der Kaiserthrone von
Habsburg und Hohenzollern, mag einst der unsterbliche Ruhm Italiens
sein" (151) Er wendet sich gegen die „Dreifaltigkeit": Wien, Berlin,
Rom: „Es ist interessant genug, nach einem Kampf gegen die religiösen
Despotien in den deutschen Ländern zu fragen Das Problem ist hier
kaum bewußt Es gibt eine Apostolische Majestät deutscher Zunge zu
Wien und einen protestantischen Summus Episcopus zu Berlin, außer-
dem aber eine Entente theologique beider theokratischen Systeme mit
der päpstlichen Kurie zu Rom. Diese fürchtbare und gewaltige doktri-
näre Macht antichristlicher Tendenz ist gerade infolge ihrer Dreifaltig-
keit und einer mitunter verfeindeten, dann wieder verbündeten jesuiti-
schen Politik schwer zu fassen" (151)
Wofür ist also Hugo Ball, der keineswegs in ein katholisches Mittelal-
ter zurückkehren will9 Sein Glaubensbekenntnis: „Wir glauben an Don
Quixote und an das phantastischste aller Leben Wir glauben daran,
daß die Ketten fallen und daß es keine Galeeren mehr gibt So sehr sind
wir bereit, Opfer zu bringen, daß Kants Pflichtideal uns als moralischer
Dilettantismus erscheint Wir glauben nicht an die sichtbare Kirche,
aber an eine unsichtbare und wer in ihr kämpfen will, ist ihr Glied. Wir
glauben an eine heilige christliche Revolution und an die unio mystica
der befreiten Welt Wir glauben an die küssende Verbrüderung von
Mensch, Tier und Pflanze, an den Boden, auf dem wir stehen und an
die Sonne, die über ihm scheint Wir glauben an einen unendlichen Ju-
Hans Dieter Zimmermann 101

bei der Menschheit Wie sagt Jan von Ruysbroek im 'Buch der zwölf
Beginen':

'Verschmelzen mit der Liebe Angesichte


Und ganz von Liebe trunken sein
Ist selige Weise '"(121).
Der kritische Punkt in Balls Überlegung ist die Trennung von Staat
und Kirche, die Zwei-Reiche-Lehre Deshalb wirft er Luther vor, daß
er die Kirche dem Staat unterworfen habe, also entgegen seiner eige-
nen Überzeugung gehandelt habe Umgekehrt neigt aber Ball dazu -
das wäre meine Kritik an ihm -, den Staat der Kirche zu unterwerfen,
freilich einer Kirche, die es noch nicht gibt, einer, wie es mit einem
Ausdruck der Frühromantiker heißt, neuen „unsichtbaren Kirche" Ball
spricht auch von einer „ecclesia militans, deren Hauptstadt Paris ist,
[...] deren Gott in der Zukunft wartet [...], deren Reich nicht von dieser
Welt ist, sondern von einer neuen, die wir schaffen und nur in der Un-
endlichkeit erreichen werden" (120)
Dieses utopische Reich aus christlichem Geist, das er erstrebt, ist
nicht von dieser Welt, also von der Welt, wie sie jetzt ist, aber doch
von dieser Welt, also von einer Welt, wie sie einst sein wird hier auf
Erden9 Mir scheint, daß hier seine Absage an die moderen Welt liegt,
also an das industrielle Zeitalter, wie es während des Ersten Weltkriegs
seine schreckliche Fratze zeigte in den Materialschlachten Seine Hoff-
nung ist auf ein neues Reich gerichtet, insofern aber hat er wenig für
die Neuordnung der Welt hier und jetzt zu bieten Seine Zuneigung zu
Münzer, der schließlich eine Theokratie eigener Art errichten wollte,
sein Verweis auf das „Dritte Reich" des Abtes Joachim von Fiore, ha-
ben einen verhängnisvollen Zug, den Ball nicht erkennt, dem er aller-
dings auch nicht erliegt
Sein „utopischer Freund" Ernst Bloch, wie er ihn im Tagebuch nennt,
dagegen ist den Bolschewisten auf den Leim gegangen Vom utopi-
schen Atem wie Ball entzündet sah er den Jüngsten Tag im Roten Ok-
tober schließlich aufgehen und unterwarf seine Prophetie höchst weltli-
chen Herrn „Ubi Lenin, ibi Jerusalem", ein entsetzliches Wort, das
einen Terroristen zum Messias erhöht, eine für das 20 Jahrhundert
unter Intellektuellen allerdings nicht seltener Vorgang - man erinnere
sich an die zahlreichen Anhänger des Kommunismus unter der Intelli-
genz In Balls Polemik ist demnach an einer Stelle ein dunkles Loch: er
102 Die in die Irre führen

lobt die Französische Revolution, er verschweigt aber die Schreckens-


herrschaft des Robespierre
Und da ist ein anderer, dessen „politische Theologie" Hugo Ball zu-
nächst pries Carl Schmitt Dieser angeblich katholische Staatsrechtler
hat seine „politische Theologie" schließlich als Instrument zur Recht-
fertigung des Massenmörders Hitler benutzt, er wurde eine Art Theo-
retiker des Faschismus. Mit Hugo Ball kam er rasch auseinander Des-
sen Kritik der deutschen Intelligenz mißfiel ihm außerordentlich Wäh-
rend des Drucks der Neuauflage, die 1924 unter dem Titel Die Folgen
der Reformation erschien, versuchte Schmitt sogar die Auslieferung
des Buches zu unterbinden, indem er Ball die entstandenen Kosten
bezahlen wollte Als Ball dies ablehnte, ließ Schmitt durch seinen
Schüler Waldemar Gurian einen vernichtenden Verriß schreiben Diese
Gemeinheit macht deutlich, von welchem Geiste Schmitt und daß Hu-
go Ball von ganz anderer Art war „Die schwere Krise, in die Ball
durch diese und andere Besprechungen zwei Jahre vor seinem Tode
geriet, zeigt ein weiteres Mal seine kompromißlose Haltung in den
Fragen deutscher Selbstkritik" (H. B Schlichting) Und es zeigt, daß er
mit seiner anarchistischen Position, die religiös begründet war, auch
späterhin nicht zu einem Parteigänger der totalitären Linken oder
Rechten geworden wäre
Hugo Ball besteht zunächst gegen jegliche Theokratie auf der Tren-
nung von Staat und Kirche im Sinne der zwei Reiche des Augustinus
und argumentiert insofern gut katholisch gegen Luther „Mein Reich ist
nicht von dieser Welt " Daß er dann aber in den theologisch-politischen
Utopien des Joachim von Fiore, des Thomas Münzer und des Wilhelm
Weitling eben doch eine Vermischung anvisiert und zwar eine, in der
die Religion über den Staat siegt, also doch eine Theokratie, das ist ihm
wohl nicht bewußt geworden Vollends deutlich wird dies nur knapp
vier Jahre später in der Flucht aus der Zeit.
Hier unterwirft Ball den Staat einer unfehlbaren Kirche, also wohl
doch der katholischen Damit hat er sich von der - wie sagt man heute -
basisdemokratischen, antiautoritären, aus dem brüderlichen Geist des
Evangeliums geborenen Sozietät entfernt Die Institution der Kirche,
vielleicht nicht gerade die der real existierenden, sondern einer zukünf-
tigen besseren, aber eben doch die Institution einer Kirche, die unfehl-
bar ist, will er zur obersten Autorität auch des Staates machen Die
Trennung von Staat und Kirche, die er gegen Luther und gegen die
Hans Dieter Zimmermann 103

preußische Staatskirche des Wilhelminismus mit Recht einfordert, die-


sen Gedanken hat er hier zugunsten einer Unterordnung des Staates
unter die Kirche aufgegeben
Das ist ein gefährlicher Standpunkt, der in katholischen Ländern wie
Spanien und Portugal zu einer Art Klerikalfaschismus geführt hat Die
zivile bürgerliche Gesellschaft ist Ball so fremd wie denen, gegen die er
kämpft, auch er ist im Grunde unpolitisch, weshalb er die Politik des
Staates entweder als Ideologie sieht - und hier trifft er nicht selten ins
Schwarze - oder als Religion - und hier fällt er in einen vormodernen
Zustand zurück Denn es gibt keine alle Menschen gleichermaßen
verpflichtende Wahrheit mehr, jeder muß seinen eigenen Weg gehen
und muß die Möglichkeit haben, ihn zu finden Religion ist zur Privat-
sache geworden, zur Sache einer Gemeinschaft neben anderen Gemein-
schaften, und der Staat zu einer Verwaltungs- und Selbstverwaltungs-
einrichtung Freilich bleibt hier ein Hohlraum, den die christlichen Kir-
chen hinterlassen haben Und dieser Hohlraum saugt Ideologien an
Pseudo-Religionen, verkappte Religionen Gegen deren falsche Meta-
physik besteht Ball auf der echten, nämlich auf der christlichen Das
entzweit ihn mit den Chefideologen der Linken und der Rechten, die -
durchweg Gegner der christlichen Kirchen - nach politischen Religio-
nen suchten Blochs Marxismus, den er mit prophetischem Atem vor-
trug, als gelte es den Messias, Schmitts Faschismus, dem er ein katholi-
sches Mäntelchen umhängte, führten beide zu einer Art Theokratie,
freilich einer ohne Gott, ohne Christus, schließlich auch ohne Sittlich-
keit, ohne Gewissen der Theokratie eines Götzen, eines Hitler oder
Stalin Insofern stehen die beiden für etwas, wogegen Ball vehement
stritt dagegen, daß die Menschen unter einem religiösen oder ideologi-
schen Vorwand dem Moloch Staat bedingungslos unterworfen werden
Hier steht Balls Kritik zu Recht und hier bleibt sie bestehen, seine
Kritik am Titanismus der deutschen Intelligenz von Hegel über Marx
zu Nietzsche Die Folgen des Hegelianismus, des Marxismus, des
Nietzscheanismus, die zu seiner Zeit in ihren schrecklichsten Konse-
quenzen noch gar nicht erkennbar waren, haben ihm recht gegeben Ob
dagegen seine Kritik an Martin Luther zu Recht besteht, ist zu bezwei-
feln
Mein Argument ist kein theologisches, sondern ein historisches: In
unserem Nachbarland Dänemark ist die Bevölkerung zu 98% evange-
lisch-lutherisch Die protestantische Kirche ist Staatskirche, aber die
104 Die in die Irreführen

Auswüchse, die Ball an Deutschland kritisiert, findet man dort licht


Warum geht der historisch vergleichende Blick immer nur nach Frank-
reich oder England, warum nicht einmal nach Skandinavien, wo ohne
blutige Revolutionen, ohne Cromwell und Robespierre stabile parla-
mentarische Demokratien entstanden, die weder durch den Kommu-
nismus noch durch den Faschismus gefährdet werden konnten9
Wäre Münzer in Deutschland zur Macht gekommen wie Cromwell in
England, hätte dies für einige Zeit zu einer blutigen Diktatur geführt
und dann wieder zu den alten, wenig reformierten Zuständen wie in
England Dänemark - ich verweise auch darauf, weil Hugo Balls Frau
Emmy Hennings, aus einer deutsch-dänischen Familie stammend, da-
nisch sprach - erhielt 1849 eine liberale Verfassung, 1901 übergab der
König einer „linken" Regierung die Macht Seitdem wird das König-
reich parlamentarisch regiert und dies bei einer lutherischen Staatskir-
che
Das deutsche Verhängnis kann also nicht allein Martin Luther ange-
lastet werden, auch wenn Hugo Ball hier Unterstützung durch einen
gewichtigen Autor erhält: durch Helmut Plessner, dessen Buch Die
verspätete Nation, 1935 im niederländischen Exil entstanden, eine Ur-
sache für das deutsche Elend ebenfalls im evangelisch-lutherischen Pro-
testantismus sieht, den er vom Katholizismus und vom Calvinismus
unterscheidet, und in der diesem Protestantismus entwachsenen deut-
schen Philosophie.
Die Ursache des deutschen Elends, das macht Plessner deutlicher als
Ball, liegt in der deutschen Spaltung in einen katholischen Teil diesseits
und in einen protestantischen jenseits des Limes, eine für eine europäi-
sche Nation einmalige konfessionelle Zweiteilung Das führte nach dem
Dreißigjährigen Krieg, der das Land zerstörte, zu einem fortdauernden
Kampf um die Seelen und Köpfe, also zu immer wieder erneuerten
theologischen, philosophischen, literarischen Rechtfertigungen, vor
allem im protestantischen Teil des Landes Die Zurückweisung des
Römischen, nicht zuletzt in Gestalt der römisch-katholischen Kirche, in
der es institutionell fortlebte, führte zum deutschen Sonderweg dem
Versuch, sich von der westlichen Zivilisation fernzuhalten oder gar
abzukoppeln, der guten alten deutschen Kultur zuliebe Bei Thomas
Mann kann man die Darlegung dieses deutschen Sonderweges nachle-
sen Die Betrachtungen eines Unpolitischen von 1917 sind die Schrift,
gegen die Ball polemisiert, auch wenn er sie nicht erwähnt, auch wenn
Hans Dieter Zimmermann 105

er sie nicht gekannt haben sollte Denn Thomas Mann faßt in diesem
seinem Beitrag zum Krieg all das ideologische Gebräu zusammen, das
in diesen Krieg führte Und er faßt zusammen, um diesen Krieg des
deutschen Wesens gegen das französische Unwesen zu rechtfertigen
Der Haß gegen das Römische, gegen die Zivilisation, gegen die Demo-
kratie, gegen alles Westliche, den Thomas Mann hier ziemlich unver-
blümt artikuliert, richtet sich nicht zuletzt gegen seinen Bruder, den
Frankreich liebenden „Zivilisationsliteraten" Heinrich Mann Das be-
legt, daß es hier um einen Bruderkrieg geht, also um eine innerdeutsche
Auseinandersetzung zwischen denen, die dem Westlichen anhängen,
und denen, die dem deutschen Wesen anhängen, das immer wieder mit
dem Rekurs auf Martin Luther begründet wird
Der deutschen Sonderweg jedoch erhielt, das zeigt die Entwicklung
der skandinavischen lutherischen Länder, seine antiwestliche Aggres-
sivität nicht durch Martin Luther, sondern durch Preußen Sicher, Lu-
ther unterwarf die Kirche dem Staat, der Fürst und Landesherr war
auch der oberste Schutzherr und Herr der Kirche Daß aber dieses
Land Preußen ein militaristisches Land wurde, das, ein Emporkömm-
ling unter den Ländern des alten Reiches, sich mit Waffengewalt seinen
Platz eroberte und zwar gegen die katholische Macht des alten Rei-
ches, gegen Österreich, das erst gab der lutherischen Staatskirche in
Preußen ihre verhängnisvolle Rolle, gegen die Ball und Plessner an-
schreiben Friedrich II führte nur aus Ruhmsucht Kriege Napoleon,
den Ball einen Satanisten nennt - was hätte er über Hitler gesagt? -
führte den Preußen vor, daß man mit der Gewalt der Waffen alles er-
reichen kann, was sie unter Bismarck dann auch nachahmten Bismarck
setzte den Kampf gegen das katholische Österreich fort, erst als dieses
aus dem Reich hinausgeschlagen war, konnte der eiserne Kanzler den
Rest skrupellos dominieren - ohne Rücksicht auf gewachsene Rechte,
was ihm die Alt-Preußen immer vorwarfen, ohne Rücksicht auf rechts-
staatliche Prinzipien, was sein brutaler Kampf gegen die katholische
Kirche und gegen die Sozialdemokratie offenlegte Die katholische
Kirche zu marginalisieren und damit die lutherische Kirche als Staats-
kirchen nicht nur in Preußen, sondern in Deutschland durchzusetzen,
ist ihm nicht gelungen Sein Ziel aber war es Ball: „Die Ära Bismarck
ist typisch junkerlich Gekennzeichnet in der inneren Politik durch
Staatsstreiche, Massenverbote, 'Maulkorbgesetze' und alle empören-
den Gewaltmaßregeln einer mit dem Polizeiknüppel argumentierenden
106 Die in die Irreführen

Militärdiktatur In der äußeren Politik erst durch allerergebenstes Zu-


kreuzekriechen (Olmütz), dann durch ein frisch-fröhliches Schieben
(die sogenannten 'dilatorischen Verhandlungen'), dann durch Düpie-
rungsmanöver (1866 und 1870) und zuletzt durch eine weltgeschichtli-
che Provokation, die preußisch-deutsche Reichsgründung In der Di-
plomatie ergänzen sich Anmaßung, bäurischer Jesuitismus und fröm-
melnde Heuchelei, um den völligen Mangel einer moralischen Über-
zeugung zu verdecken Ziel ist gleichwohl die Herrschaft über den
Kontinent" (227)
Die deutsche Intelligenz hat den skrupellosen Tatmenschen, wie Fritz
Mauthner ihn genannt hat, grenzenlos bewundert, also all die Hoch-
schullehrer, Lehrer, Pfarrer und Journalisten, die am Mythos des
Kanzlers, dem überall Denkmäler errichtet wurden, und des Deutschen
Reiches eifrig webten Dazu hatte Hegel, meint Ball, die Grundlagen
gelegt: „In der 'Weltseele' war ein Gott-Ersatzmittel gefunden von
erklecklicher Würde Hegel setzte seine Weltseele bei Adam und Eva
in eine Art Krankenhausfahrstuhl, gab ihr These und Antithese als zwei
Hebel in die Hände und ließ sie in der Synthese sich fortbewegen Er
nannte das die 'Fortbewegung der reinen Vernunft vom An-sich durch
das Für-sich zum An-und-für-sich' Den zurückgelegten Weg nannte er
Prozeß oder Fortschritt Nach Verlauf von einigen tausend Jahren kam
die Weltseele in Berlin an und die Studenten jubelten ihr zu, als sie im
Königlichen Palast abstieg Dem Herrn Professor Hegel aber, als dem
Erfinder dieser Maschine, brachten die Studenten einen Fackelzug"
(131)
Nietzsche, der sich doch von der deutschen Tradition abzusetzen
trachtete, sieht Ball als Fortsetzer dieser Tradition: Nietzsche will wie-
der den Aufstand der hinterwäldlerischen Germanen, die von Rom
christianisiert, also kultiviert wurden, aufnehmen „Den germanischen
'Urtext' sucht er wiederherzustellen, den 'eigentlichen' Naturzustand
des Germanen, die vorchristliche Wildheit, um, wie er glaubt, eine reine
Nation nach Ausscheidung orientalischer, jüdischer Moralismen zu
erreichen [...] Statt die mittelalterlische Weisheit zu exaltieren, wie
Schopenhauer es tat, hält er ihre Ideen für erschöpft und verbraucht,
wirft er wie Marx sie beiseite, und kann doch keinen Ersatz dafür fin-
den Er statuiert eine Herren- und Sklavenmoral und rechnet zur letzte-
ren die Freihheitsideale der großen Französischen Revolution und der
Evangelien, zur ersteren aber die Selbstvergötterung der Renaissance
Hans Dieter Zimmermann 107

und des vorsokratischen Hellenentums Er hofft, die Instinktkonfüsion,


den Mangel an Distanzgefühl, die deutsche Bassesse zu treffen und
zieht in seiner Verblendung vor, es eher mit der Arroganz preußischer
Zucht- und Disziplinarvorschriften, als mit der hierarchischen Rang-
ordnung der katholischen Kirche und der geistigen Disziplin der Mön-
che zu halten Er glaubt, den Todesschlaf der Welt zu erschüttern, in-
dem er dem Teutonentum seine letzten Gewissensketten abnimmt, und
er wird wider Willen der Herold und Totengräber jener rastaquierenden
Hyänen mit hellblauen Augen und einer Sadistenfalte um den verzerr-
ten Mund, die nun aus Gründen der Philosophie die nationalen Leiden-
schaften aufpeitschen und hetzen" (23 Bf).
Es ist schon erstaunlich, wie hellsichtig er die Folgen dieser Philoso-
phie erkennt, hellsichtig, wie Heinrich Heine, den er zitiert: „Wenn
einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder
empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut,
wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen Die alten stei-
nernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und
reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit
dem Riesenhammer springt deutlich empor und zerschlägt die goti-
schen Dome" (165).
Gegen die Großsprecher der deutschen Intelligenz stellt Ball den be-
scheidenen Handwerker Wilhelm Weitling, der zu seiner Zeit nicht ge-
hört wurde, so wenig wie Ball zu der seinigen: „Die Idee einer brüder-
lichen Durchdringung Europas im Sinne des Urchristentums ist für
Weitling Bedingung auch der politischen Wiedergeburt Hierin ist er
wahrhaft modern Man glaube doch nicht, daß das Wissen die Religion
ausschließt oder die ökonomische Analyse den Christus Sie schließen
das theokratische Dogma aus und den Jenseitskult, nicht aber die Lie-
be, das Herz und den Opfermut Die Gerechtigkeit ist es, auf der man
bestehen muß Ihre Voraussetzung aber ist die exakte Wissenschaften
von den natürlichen Grenzen und Rechten Zu Weitlings Anhängern
und Brüdern zählten nicht nur Handwerker und Arbeiter, sondern auch
Bürgerliche und Besitzer. Gerade die werbende Kraft seiner Idee ist
bezeichnend für ihn Die Haßphilosophie, die durch Marx und den
Klassenkampf im deutschen Proletariat aufkam, lag ihm durchaus fern"
(174f).
Die Haßphilosophie setzte sich durch, die von Nietzsche, die von
Marx Balls Gegen-Entwurf war kein politischer, keiner, der sich als
108 Die in die Irreführen

Ideologie mit einigen Schlagworten hätte verbreiten lassen, keiner, der


einen Klerus erfordert hätte, wie die kommunistische Intelligenz im
Dienste der Partei ihn dann darstellte Denn das mönchische Urchri-
stentum, das Ball forderte, war ja eine Forderung an jeden Einzelnen,
insofern also unpolitisch Wer es ernst nahm, mußte bei sich selbst
ernst machen Es war keine Sache des wohlfeilen Geredes, sondern
eine der Tat
Die vollzog Ball Und diese Konsequenz, der er bei sich selbst und
mit sich selbst vollzog, gibt ihm seine Größe, und unterscheidet ihn von
all den intellektuellen Großsprechern, die mit diesem oder jenem Strom
schwammen und dabei ihre Karriere nicht aus den Augen verloren
Nichts traf sie so schwer wie Einflußlosigkeit, wenn sie von der Herr-
schaften, denen sie doch zuarbeiten wollten, kalt gestellt wurden Auch
hier können Bloch und Schmitt wieder als Beispiele dienen.
Hugo Ball zog sich ins damals einsame Tessin zurück, er revertierte
zur katholischen Kirche, wendete sich zur Vergangenheit des Urchri-
stentums Es war ein Ausstieg aus der Moderne, ohne Zweifel, aber
einer, der zu den Ursprüngen zurückführte, um sich ihrer zu vergewis-
sern und von dort her die Gegenwart zu erneuern Im Tessin entstand
Balls schönstes Buch Byzantinisches Christentum. Es wird bis heute
nicht gelesen, marxistische Schwarten, faschistische Tagebücher wer-
den gelesen, katholisch inspirierte Heiligenlegenden nicht, die gelten als
überholt Dabei wäre an Balls Kritik der deutschen Intelligenz zu ler-
nen, daß all die Ideologien, die sich an die Stelle des „überholten"
Glaubens setzten, fragwürdig waren Und verhängnisvoll, wie wir in-
zwischen erleben konnten In zwei Punkten hat Ball über seinen Tod
hinaus Recht behalten:
Zum Ersten: Die deutsche Misere, die er bezeichnet, nahm ihren wei-
teren Lauf und kulminierte im Nationalsozialismus Die Ursachen die-
ser deutschen Misere liegen nicht 1933, nicht 1918 sondern früher in
der deutschen Geschichte, da gehen Hugo Ball und Helmut Plessner
uberein
Zum Zweiten: Die Diktatur, die Lenin nach dem Konzept von Marx
in Rußland errichtete, hat den schrecklichen Despotismus gebracht, den
Ball mit Bakunin voraussagte, einen Despotismus, der Millionen Men-
schenleben kostete.
Balls Argumentation mag nicht immer sauber sein, seine Polemik läßt
ihn übers Ziel hinausschießen, aber die Erfährungen mit National-
Hans Dieter Zimmermann 109

Sozialismus und Bolschewismus haben ihm aufs Schrecklichste bestä-


tigt
Und zu einem dritten Punkt gibt Ball wichtige Aufschlüsse, die durch
Plessner erhärtet werden, und gerade heute sind sie in Deutschland
wieder aktuell es geht um das Verhältnis von Katholizismus und Pro-
testantismus in diesem Land, ein Verhältnis, das immer noch prägend
ist, wenn auch nur noch wenige in die Kirchen gehen.
In Deutschland stehen Konfession und Politik wohl in einem besonde-
ren Verhältnis: war sonst der Katholizismus der faschistischen Versu-
chung nahe - siehe Spanien und Portugal -, war sonst der Protestantis-
mus der Demokratie förderlich - siehe alle konstitutionellen Monarchi-
en in Europa: Großbritannien, die Niederlande und die skandinavischen
Staaten -, so ist es in Deutschland wohl umgekehrt: hier hat der Prote-
stantismus, weil er als preußische Staatskirche zur ideologischen
Speerspitze des Militarismus und des Nationalismus wurde, verhäng-
nisvoll gewirkt, während der Katholizismus, besonders der rheinische,
eine progressive Funktion erfüllte Der rheinische Katholizismus, welt-
offen seit jeher, Wiege der Kultur in Deutschland, das vom Rhein her
christianisiert und kultiviert wurde, der rheinische Katholizismus war
anti-preußisch, anti-national und anti-militaristisch, also all das, was
unter Bismarck im Kulturkampf ihm auch vorgeworfen wurde, heute
sehen wir das als seine Pluspunkte an
Es war schließlich dieser rheinische Katholizismus, der unter Adenau-
er den deutschen protestantischen Sonderweg beendete und Deutsch-
land endlich dem Westen zuführte
Als das protestantisch-nationale Preußen in den Trümmern des Nazi-
Reichs, das sich gotteslästerlich „Drittes Reich" nannte, verschwunden
war, blieb ein Rest-Deutschland, das zudem noch gespalten wurde in
ein vorwiegend protestantisches Ostdeutschland und in ein West-
deutschland, in dem erstmals seit der Reformation die Katholiken nicht
in der Minderheit waren So gelang es schließlich dem organisierten
Katholizismus unter Konrad Adenauer den deutschen protestantischen
Sonderweg zu beenden und Deutschland, wenigstens Westdeutschland,
in den Westen zu integrieren
Es waren vor allem katholische Politiker der Bundesrepublik, Frank-
reichs und Italiens, die die Grundlage zur europäischen Einigung leg-
ten Gegen diese Bemühungen um eine „Verwestlichung" der Bundes-
republik unter Hintanstellung nationaler Ziele - denn die hätten nach
110 Die in die Irreführen

einer wie auch immer gearteten Wiedervereinigung verlangt - kamen


die Protestbewegungen vor allem aus dem protestantischen Lager von
der Sozialdemokratie bis zur Friedensbewegung, es waren immer Be-
wegungen gegen den Westen, gegen die USA, die europäische Vertei-
digung, gegen die NATO Die Westpolitik Adenauers und seiner
Nachfolger war freilich eine pragmatische, bisweilen auch zynische
Politik, wie sie Hugo Ball, der auf ein utopisches Reich hoffte, nicht
gefallen hätte Es war eine Politik, die dem Kaiser gab, was des Kaisers
war, die ein halbwegs erträgliches Leben schaffen wollte, da der Him-
mel auf Erden nun einmal nicht zu verwirklichen ist Eine Tradition
wurde damit glücklich beendet, die mit den Worten von Helmut Pless-
ner noch einmal umrissen werden soll:
„Deutsches Volk bedeutet Verbundenheit mit dem Boden, der Hei-
mat, altvätericher Sitte Insofern ist es allem künstlichen, zivilisierten
Wesen fremd Nichts kann es über sich als Form und Ordnung dulden,
was nicht aus ihm selber kommt Darin zeichnet sich die alte Frontstel-
lung gegen Frankreich ab In Deutschland einheimisch-ursprüngliches
Brauchtum, in Frankreich, besonders in dem für Deutschland zugleich
verlockenden und bedrohlichen Frankreich der Aufklärung, der Revo-
lution und des Bonapartismus, abstrakt rationale Gesellschaftskultur.
Die Erbfeindschaft symbolisiert jedoch einen tieferen Gegensatz Für
Frankreich läßt sich ganz allgemein der Staat als das unpersönliche
Prinzip zentraler Verwaltung, als die dem geschichtlichen Lebensver-
band wie dem natürlichen Seinsverband von Landschaft und Stamm
entrückte gesetzmäßige Rechtsordnung einsetzen, für den Staat aber
die römische Rechtsidee Eben damit ist der Kern dessen bezeichnet,
was der Protestbegriff Volk als volksfremd und volksschädlich von sich
ausschließt: das Römische in allen seinen Abwandlungen
Rom erscheint in vierfächer Hinsicht als Gegenspieler des deutschen
Volkes:
als kultivierende Weltmacht, die bei ihrer Ausdehnung die Germanen
in den Lichtkreis der Geschichte gezogen und sie
als römisch-katholische Kirche christanisiert hat Von dieser Romani-
sierung hat sich ein Teil des Volkes in der Reformation befreit Die
Anwesenheit der römischen Kirche auf deutschem Boden bleibt aber
eine ständige Gefahr,
Hans Dieter Zimmermann 111

als italienischer Humanismus und italienische Renaissance in ihren das


deutsche geistige und künstlerische Sehen bis heute beeinflussenden
Wirkungen,
als - durch römisches Recht und in der Renaissance wieder erwecktes
Ideal der Republik hindurch vermittelter - moderner Staatsgedanke, der
um des Menschen willen den Menschen zum Träger der freien Ord-
nung macht, d h als Staatsgedanke Westeuropas und - im Hinblick auf
die Konfliktmöglichkeiten Deutschlands - insbesondere Frankreichs
Jenes der römischen Kirche, der lateinischen Kultur von Anfang an
verpflichteten Frankreichs, dessen frühe Loslösung aus dem universa-
len Europa des Mittelalters, dessen nationaler Zentralismus den Sinn
des römischen Reiches deutscher Nation von je in Frage stellten [...].
Der soeben gebrauchte Ausdruck 'Feindschaft gegen das Römische'
bedarf für die politische Blicklinie infolgedessen einer Einschränkung
Er hat in Österreich, im katholischen Süddeutschland und Rheinland
keinen Sinn und verrät die Einseitigkeit norddeutscher, preußischer,
evangelischer Perspektive Da diese Perspektive jedoch für Deutsch-
lands staatliche Entwicklung unter Preußens Führung maßgebend ge-
worden, das Bismarckische Reich vom preußischen Geist getragen ist,
rückte der Begriff des deutschen Volkes trotz seiner Neutralität gegen
staatliche und konfessionelle Gegensätze in die Blickrichtung der poli-
tischen Herrenschicht Preußen war gegen den Kaiser in Wien groß
geworden und mit Preußen der Geist des Luthertums" (53ff)
Man könnte es als eine List der Geschichte betrachten, eine grausame
List der Verlust der preußischen Ostgebiete an Polen und die deutsche
Teilung haben in Westdeutschland eine katholische, entgegen aller
Verleumdung weltoffene, jedenfalls nicht-nationale, sondern europa-
zugewandte Politik erst möglich gemacht, eine Politik, die endlich den
deutschen Sonderweg beendete und Westdeutschland dem Westen
anschloß Als diese westdeutsche Demokratie einigermaßen gefestigt
war, kam es zur Wiedervereinigung mit dem östlichen, eher protestan-
tischen Teil Deutschlands Diesen gilt es nun ebenfalls an die west-
lichen Gesellschaft anzuschließen, hier muß die alte Bundesrepublik die
Hebammenrolle übernehmen, die bei ihr die Westalliierten übernom-
men hatten.
Es war nicht die deutsche Intelligenz, die auf diesen Weg führte, sie
führte in die Irre, wie Hugo Ball lehrt Es waren die Pragmatiker, von
denen Ball nicht spricht Politiker, die das Machbare zu machen such-
112 Die in die Irreführen

ten und nicht auf eine Wiederkehr des Urchristentums warteten wie
Hugo Ball Mit Gelassenheit und Kompromißbereitschaft schufen sie
nach und nach die Europäische Union, ein Flickwerk gewiß, aber mehr
als alle die falschen Versprechungen und die blutigen Irrtümer von Na-
tionalismus und Bolschewismus Die Europäische Union ist das Werk
von Bürokraten und Parteipolitikern, die deutsche Intelligenz hat gar
keinen Anteil daran Und nach allem, was wir bei Hugo Ball lesen, ist
das auch gut so.

Literaturhinweise

- Hugo Ball Gesammelte Gedichte Hg v. Annemane Schütt-Hennigs Zürich


1963
- Hugo Ball Die Flucht aus der Zeit Hg sowie mit Anmerkungen und Nachwort
versehen v Bernhard Echte Zünch 1992 - Eine solch sorgfältige Ausgabe wie
diese wünschte man sich auch für Zur Kritik der deutschen Intelligenz. -
- Hugo Ball: Zur Kriük der deutschen Intelligenz Frankfurt a M. 1980. Die hier
unterdrückten Passagen zum Judentum finden sich im Anhang des Beitrages von
Wacker, Ein rabiater Antisemit9 im vorliegenden Band
- Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit Ausgew Schriften Hg und mit
einem Nachwort versehen von Hans Burkhard Schlichting Frankfurt a. M 1984
- Hugo Ball: Byzantinisches Christentum Drei Heiligenleben Einsiedeln 21958
- Den geistesgeschichtlichen Zusammenhang von „Rationalität und Mystik" habe
ich in meiner gleichnamigen Sammlung zu skizzieren versucht
Rationalität und Mystik Hg v Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt a M 1981
Dort auch die erwähnten Texte in Ausschnitten: Fritz Mauthner Beiträge zu einer
Kritik der Sprache, Gustav Landauer Skepsis und Mystik; Martin Buber: Ekstase
und Bekenntnis Vorwort zu: Ekstatische Konfessionen, Wassily Kandinsky: Über
das Geisüge in der Kunst, Robert Musil: Heilige Gespräche Aus: Der Mann ohne
Eigenschaften, 2 Buch, 3 Tl., Kap 11 u 12. - S auch das zsf Kap Die Entste-
hung der Moderne aus dem Geist der Mystik und der Rationalität am Schluß
meines Buches: Der babylonische Dolmetscher Zu Franz Kafka und Robert Wal-
ser Frankfurt a. M. 1985
- Zu Ball und Plessner vgl Volker Knufermann: Deutsche Kulturgeschichtsschrei-
bung von Ball zu Plessner Betrachtungen zweier Unzeitgemäßer In Hugo Ball
Almanach 1985/86 Hg v. der Stadt Pirmasens. Pirmasens 1986
- Zu Ball und Carl Schmitt: Bernd Wacker: Die Zweideuügkeit der katholischen
Verschärfung - Carl Schmitt und Hugo Ball In Die eigentlich katholische Ver-
schärfung Konfession, Theologie und Poliük im Werk Carl Schmitts Hg v
Bernd Wacker München 1994 sowie die Dokumentation ihres Briefwechsels im
vorliegenden Band.
- Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bür-
gerlichen Geistes Frankfurt a M 1974
Kurt Flasch

Von der „Kritik der deutschen Intelligenz" zu


Dionysius Areopagita

Schlägt man den zweiten Band der Brockhaus-Enzyklopadie unter dem


Stichwort Ball, Hugo auf, so erhält man von Balls Leben und Werk
folgendes dreiteiliges Bild:
Ball ist 1886 in Pirmasens geboren, war Schauspieler und Dramaturg,
ging 1916 in die Schweiz und begründete dort als „scharfer Zeitkritiker
und Pazifist" das „Cabaret Voltaire" und die „Galerie Dada" Im zwei-
ten Stadium schrieb er Zur Kritik der deutschen Intelligenz, worin er
Protestantismus und Preußentum angriff Später, anno 1920 - drittes
Stadium - zog er sich ins Tessin zurück, konvertierte zum katholischen
Glauben und „beschäftigte sich mit theologischen Studien".

Das klingt, als bestehe kein innerer Zusammenhang zwischen den


theologischen Studien und dem Dadaismus Es ist, als habe es in dem
kurzen Leben von Hugo Ball - er ist 1927 einundvierzigjährig gestor-
ben - drei disparate Epochen gegeben Balls entscheidende Erfahrung -
der Erste Weltkrieg und das Verhalten der deutschen Intellektuellen
zum Krieg - kommt in dieser Skizze gar nicht erst vor Die
„Konversion" erscheint als ein willkürlicher, nicht vorbereiteter Schritt,
in sich ohne politische und ohne ästhetische Bedeutung Dabei hatte
schon Emmy Hennings, die daran interessiert war, Balls Wendung zur
Kirche scharf zu akzentuieren, die Bezeichnung „Konversion" von Ball
fernhalten wollen 2 Sie hatte erklärt, trotz des Auseinanderliegens der
Erscheinungsjahre der Bücher sei Balls Werk im wesentlichen in Zürich
1916 entstanden3 Angesichts derartiger Divergenzen ist die Frage zu

1
Brockhaus-Enzyklopadie. Bd 2 Mannheim 191987, S 515
2
Emmy Hennings-Ball: Hugo Balls Weg zu Gott Ein Buch der Ennnerung Mün-
chen 1931. S 89
1
Ebd S 60
114 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita

klären Bestand ein gedanklicher Zusammenhang zwischen DADA, der


Kritik der deutschen Intelligenz und Balls Interesse an Dionysius
Areopagita0
Zunächst einmal ist festzuhalten, daß Ball selbst einen solchen Zusam-
menhang behauptet hat Am 18. 6. 1921 schrieb er, auf die Züricher
Zeit zurückblickend, in sein Tagebuch: „Als mir das Wort 'Dada' be-
gegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysius D.A.-D.A."4
Man kann einwenden, das sei ein dadaistischer, aber kein gedanklicher
Zusammenhang zwischen DADA und Dionysius Areopagita Ich ant-
worte Der Dadaismus ist auch zu dem Zweck erfunden worden, unser
gewöhnliches Konzept von 'gedanklichem Zusammenhang' zu erwei-
tern Ball behauptet nicht, Dionysius sei der erste und einzige Ursprung
von DADA In einer älteren Notiz hatte er frühere Überlegungen fest-
gehalten „Dada heißt im Rumänischen Ja, Ja im Französischen Hotto-
und Steckenpferd Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität
und zeugungsffoher Verbundenheit mit dem Kinderwagen".5
Niemand wird die seelische Roheit aufbringen, die Himmlische oder
gar Kirchliche Hierarchie in zeugungsfrohe Verbundenheit mit dem
Kinderwagen zu bringen Dennoch bleibt die sperrige Tatsache beste-
hen Ball setzte spätestens 1921 den Dadaismus mit Dionysius in Be-
ziehung. Wer das gewöhnliche Konzept von 'gedanklichem Zusam-
menhang' nicht aufgeben möchte, kann die Assoziation DADA/
Dionysius durch eine Notiz Balls vom 17 4 1921 verstärken „Dio-
nysius Areopagita ist die vorgesehene Widerlegung Nietzsches "
Der Magenkrebs hat Ball wenig Zeit gelassen für radikale Umbrüche
und nachbereitende Reflexionen Freilich gab es zwischen 1914 und
1927 dramatische Entwicklungen, zuerst in der Welt, dann auch im
Denken Balls So notierte er am 15 7 1920 „Was meine eigene Gesin-
nung betrifft, so überhole ich sie rascher, als ich sie aufzeichnen könn-
te, und dies allein scheint mir auf rasche und tiefe Veränderungen auch
in der Umwelt zu deuten."7
Wenn Weltentwicklungen sich überschlagen, bestehen Konsequenz
und gedanklicher Zusammenhang nicht mehr im Festhalten von Thesen,

4
Hugo Ball Die Flucht aus der Zeit Luzern 21946. S. 296
5
Ebd. S 88.
6
Ebd S 283.
7
Ebd S 264
Kurt Flasch 115

sondern im Nachdenken über diese Entwicklung Ball selbst hat die


Motive hinreichend bezeichnet, die seinen Entwicklungen zugrundelie-
gen Sie können hier nicht alle und nicht in ihrem Zusammenhang zur
Sprache kommen, aber drei von ihnen seien genannt

1 Über diese Zeit, konkret über 1914, nachdenken, heißt begreifen,


daß man fliehen muß Flucht und Nachdenken über Flucht heißt daher
eines der Kontinuitätselemente in Balls rasanter Entwicklung Flucht,
reale Flucht 1915 in die Schweiz, Flucht in die Kunst, Flucht in den
Dandysmus, Cabaret Voltaire: „Die Bildungs- und Kunstideale als
Varieteprogramm - das ist unsere Art von Candide gegen die Zeit "8
Flucht dann wieder im Juli 1916 von Zürich ins Tessin, Nachdenken
über die Züricher Versuche, philosophische Lektüren Ball insistiert
jetzt, man dürfe den Logos nicht mit der Phantasie verwechseln, aber
er sieht auch, was bleibt vom Dadaismus „Die Gegenwart ist nicht in
Prinzipien, sie ist nur noch assoziativ vorhanden Also leben wir in ei-
ner phantastischen Zeit, die ihre Entschlüsse mehr aus der Angliede-
rung als aus unerschütterten Grundsätzen bezieht Der gestaltende
Geist kann mit dieser Zeit beginnen, was ihm beliebt " 9 Dies bedeutet
Freisetzung der Phantasie, Realitätsgehalt von Traum, Spiel und Asso-
ziation, Wahrheit von Surrealismus und Kinderei: „Sich überbieten in
Einfalt und Kindsköpfigkeit - das ist noch die beste Gegenwehr"10
Überhören wir das nicht: es geht um Gegenwehr, nicht um Kunst und
Ästhetik
Aber um 1914 zu begreifen, muß man die geschichtliche Herkunft der
Kriegsbereitschaft, der deutschen Gehorsamssucht und Selbstüber-
hebung erforschen Um zu verhindern, daß von Deutschland aus noch
einmal ein Attentat auf Europa ausgehen kann - wir schreiben das Jahr
1918 -, muß man in die Bibliotheken fliehen und unsere Vorgeschichte
ausgraben: Mittelalter, Luther, die deutsche Klassik, den deutschen
Idealismus, die Romantik Man muß sich in die Politik und Kulturkritik
werfen So entstand die Kritik der deutschen Intelligenz. Aber nicht
erst die verständnislose Aufnahme dieses Buches in Deutschland mach-
te Ball klar, daß er sich auf diese Weise nur tiefer in das verwickelte,

* Ebd S. 94.
9
Ebd S. 102
'"Ebd.
116 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita

wovor er fliehen wollte So macht er sich - gleichzeitig - auf eine neue


Flucht: die Flucht in die Heiligenleben mit ihrer Phantastik und ihrem
Heroismus der Distanz Ich werde darauf zurückkommen und halte für
den Augenblick nur fest, daß das Motiv der „Flucht" ehrwürdigen,
nämlich philosophischen, genauer platonischen Ursprungs ist Wir
kennen es aus dem Theaitet, 176d, aber Ball, der seinen Nietzsche
gründlich gelesen hatte, konnte es auch, wie angedeutet, leicht um-
schreiben in das „Pathos der Distanz" Nietzsches Distanz zu den
Kriegstreibern und ihren intellektuellen Helfershelfern, Distanz dann
auch zu den distanzierten Kabarettisten der Spiegelgasse, Distanz zu
den professionellen Historikern, die nicht begriffen haben, was in Deut-
schland geschehen ist, Distanz zum offiziellen Kirchentum, Nähe aber
zu den Kindern, den Tieren, den sanften Heiligen und den radikalen
Asketen

2 Ein zweites Motiv hält sich durch: Der Anti-Realismus, die Mißach-
tung des gesunden Menschenverstandes, die Kritik der angepaßten
akademischen Intelligenz Ohne dies gibt es keinen Zugang zu Hugo
Ball, weder zu DADA, noch zu seinem Dionysius Dieser Punkt ist
entscheidend Im April 1921, bei der Arbeit am Byzantinischen Chri-
stentum, notiert Ball „Dies ist mir die liebste Beschäftigung in den
Acta Sanctorum und in meinen Träumen lesen. [...] Nur durch Träume
das Leben noch berühren " Oder zwei Tage später „Der freudige
Wunderglaube der Acta Sanctorum vereinfacht mein Denken, läßt mich
wieder Kind werden Das tut gut die Strenge, der Heiligungseifer,
verbunden mit aller Spiel- und Fabulierlust des Geistes".
Bei der Lektüre der Heiligenviten geht es also nicht darum, wie einige
halbaufgeklärte Theologen wollten, kritisch den historischen Kern der
Legenden freizulegen, sondern es geht um radikale Erneuerung, aber
ebenso um Träume, um Spiel- und Fabulierlust Im Byzantinischen
Christentum erwächst daraus eine Kritik an der halbkritischen Hagio-
graphie des gelehrten Jesuiten Delehaye (1859-1941), der nach „Pri-
vatdetails" im Sinne moderner Biographien und Detektive suche, eine
Methode, die nicht tauglich sei für „ekstatische Gegenstände "' Alles

"Ebd. S 283.
12
Hugo Ball: Byzantinisches Christentum Drei Heiligenleben München u Leipzig
1923, S. 279 Anm 13
Kurt Flasch 117

Biographische sei hier „ins Symbol gesteigert, selbst die Jahreszahlen


Wie will man da nach 'wirklich' und 'faktisch' fragen, ohne sich auf ein
schiefes Feld zu begeben9 Unsere ganz psychologische und histori-
sierende Methode ist, frühchristlichen Erscheinungen gegenüber, unzu-
länglich "
Ball kritisiert Luthers Verwerfung des Dionysius als ein „Wüten ge-
gen die Phantasie und die Weihe"13, also nicht nur gegen die Weihe,
sondern auch gegen die Phantasie An anderer Stelle erklärte er sich
deutlicher: Die Rebellion gegen das Priestertum sei „stets eine Rebelli-
on zugleich gegen das Reich der Ideen und der Schönheit, gegen das
Reich der Transzendenz und der Illusion, kurz gegen die zärtlichsten
und sublimsten Werte der Menschheit "14

3 Ich nenne, eher schematisch als analysierend, eine dritte Konstante


der Jahre 1915 bis 1926: die Wichtigkeit der Zeichen, der Kampf um
ihre Wiederherstellung Worte, Sätze, alle Zeichen sind durch den
Alltagsverstand und seine Gewohnheiten, speziell durch seinen realisti-
schen Tick, entwertet Sie sind abgenutzt durch den Wortschwall der
staatstreuen Pastöre, Professoren und Journalisten Schreibende
Kriegsleute haben die Sätze abgenutzt Ball wendet sich gegen das
rasche Hinauseilen über den anschaulichen, den akustischen und den
optischen Wert der Zeichen, das sich der nackten „Bedeutung" verge-
wissern will, aber nur ins Gewohnte abgleitet
Das Gewohnte aber, selbst das menschliche Antlitz, ist heute häßlich
und abgegriffen Wir können nicht nur nicht, wir wollen es auch nicht
mehr abbilden Dann lieber mit Huelsenbeck den Rhythmus verstärken,
den „Negerrhythmus" „Er möchte am liebsten die Literatur in Grund
und Boden trommeln "15

Was also ist Dada9

„Die Weltordnungen und Staatsaktionen widerlegen, indem man sie in


einen Satzteil oder einen Pinselstrich verwandelt [...] Aus den phanta-
stischen Untergängen lächelt das Gorgohaupt eines maßlosen Schrek-

13
Ebd S 218
14
Ebd S 227.
15
Ball. Flucht (Anm. 4), S. 72
118 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita

kens [...] Was wir zelebrieren, ist eine Buffonade und eine Totenmesse
zugleich"16
Dada - das ist „Begeisterung für die Illusion", aber für eine Illusion,
welche die Realitäten richtet: „Unser Kabarett ist eine Geste Jedes
Wort, das hier gesprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das
eine, daß es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt
abzunötigen Was wäre auch respektabel und imponierend an ihr? Ihre
Kanonen? Unsere große Trommel übertönt sie Ihr Idealismus? Er ist
längst zum Gelächter geworden, in seiner populären und seiner aka-
demischen Ausgabe Die grandiosen Schlachtfeste und kannibalischen
Heldentaten9 Unsere freiwillige Torheit, unsere Begeisterung für die
Illusion wird sie zuschanden machen " 17
Priesterliche Lamentation, die Monotomie gregorianischer Gesänge,
Ball als Bischof des Absurden, immer wieder das Motiv der Totenmes-
se - „als tauche in meiner kubistischen Maske ein bleiches, verstörtes
Jungengesicht auf, jenes halb erschrockene, halb neugierige Gesicht
eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und Hochämtern
seiner Heimatspfarrei zitternd und gierig am Munde der Priester
hängt" 18
Dada ist ein Narrenspiel, „in das alle höheren Fragen verwickelt
sind "19 Gregorianischer Singsang gehört ebenso zu ihm wie die afri-
kanische Trommel, das Lautgedicht und der Haß auf Generäle Es geht
um alles, da es um eine Neumachung der kaputtgemachten Zeichen
geht Insofern steht ihm Dionysius von Anfang an nahe Doch folgen
wir Balls Gedankenweg

II

Im Januar 1919, wie Ball notierte „Ungefähr am Tag der Ermordung


Liebknechts", erschien die Kritik der deutschen Intelligenz Ball las
damals die Franziskus-Biographie des Thomas a Celano, Thomas von
Kempen und das Bittere Leiden unseres Herrn der Anna Katharina

" Ebd S 78.


Ebd S 85 Ich kann auf die Definiüon von Dada nicht weiter eingehen, möchte
aber wenigstens auf die grundlegenden Eintragungen Balls in der Flucht aus der
Zeit [Anm. 4, S 95-100] verweisen
18
Ebd. S. 100.
19
Ebd S. 91.
Kurt Flasch 119

Emmerick Die Beschäftigung mit Heiligen beginnt also nicht erst


1920 Sie ergibt sich aus der Revision der intellektuellen und mora-
lisch-politischen Geschichte Deutschlands, deren Ziel eben die Kritik
der deutschen Intelligenz ist Das Buch will eingreifen in den
„Ideenstreit um eine neue Menschheit"21 Es erschöpft sich nicht in
skeptischer Analyse, es will Erneuerung Es lehrt ein neues Gut und ein
neues Böse, die Einwirkung Nietzsches ist auch darin unverkennbar,
daß Ball „Denken" versteht als das Setzen neuer Werte So verspricht
er die theoretische Begründung eines neuen Ideals „außerhalb des
Staates und der historischen Kirche - in einer neuen Internationale der
religiösen Intelligenz " 22
Aber zunächst geht es darum, zu klären, wie der Pangermanismus zur
Macht gelangen konnte Deutschland mit europäischen Augen ansehen,
das heißt feststellen, was den Deutschen fehlt Sie sind, schreibt Ball,
„geborene Schwarzseher, Richter, Rächer "23 Sie sind charakterisiert
durch ihre „mit sich selbst unzufriedene Selbstzufriedenheit "24 Die
deutsche Barbarei komme daher, daß die Deutschen nicht leiden kön-
nen und nicht mitleiden können 25 Den Deutschen fehle die „freund-
liche, höfliche Einstellung zu den Dingen."26 Ihnen fehlt Voltaire, die
Aufklärung kam hier nicht durch 27 Und woher kommt das alles? Ball
holt zu seinem Hauptschlag aus: Alles das sind Folgen der Refor-
mation Luther und der Protestantismus haben Deutschland isoliert,
Luther hat Deutschland von Rom und von der romanischen Welt abge-
trennt, er steht am Anfang der deutschen „Ideologie egozen-trischer
Selbstüberhebung."28 Die herrschende Geschichtsdeutung hat dies den
Deutschen verdeckt, sie stilisierte den Weg von Luther zu Bismarck zu
einem Fortschritt. Eine „konsistorialrätliche Reichsgeschichtsschrei-
bung" hat verhindert, Luther gerecht zu beurteilen und die reale Situa-
tion der Deutschen unter Europäern zu begreifen

-° Ebd. S. 223 u 228.


21
Hugo Ball Zur Kritik der deutschen Intelligenz Frankfurt/M 1980, S. 29
22
Ebd S 10
23
Ebd S 12
24
Ebd S 18
25
Ebd S. 55
26
Ebd. S. 11
27
Ebd S. 16
28
Ebd S. 27, vgl. 26-29.
120 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita

Die Liste der Vorwürfe, die Ball gegen Luther erhebt, ist lang, sie
verdiente eingehende Prüfung Genannt seien hier nur diejenigen Moti-
ve, die zur Aktualisierung des Dionysius führten Luther hat die guten
Werke und die hohe philosophische Tradition verworfen (79) Luther
stärkte die Gewalt des Staates Er lieferte die Gewissen dem Landes-
fürstentum aus und begünstigte damit die Trennung von Innen und
Außen, von Gewissen und Handeln, von Intelligenz und Sozialität (34)
Luther diskredierte das Mönchtum Es sah nicht, daß es der Hort der
„Geheimlehren des Christentums" (37) war Luther beraubte die
Christen der Phantasie und Illusion, er nahm ihnen die Symbole und die
Pracht der Liturgie Er nahm uns die Heiligen, ward selbst zum Heroen
stilisiert und rückte so an die Stelle der wahren Urbilder christlichen
Lebens Luther verdrängte die Ur-Elemente der Religion: Tränen und
Trauer, die im alten Katholizismus noch vorhanden waren und damals
dessen beide Hauptmängel ausglichen, d h zum einen seinen „Ord-
nungskomplex", also seine Tendenz, sich zur „Zentralverwaltung der
Gewissen" aufzuschwingen, und zum anderen seinen doktrinären Cha-
rakter, also seine Tendenz, den Glauben mit dem Fürwahrhalten einer
abstrakten Dogmatik zu verwechseln (33-38) Dagegen lapidar der Ball
von 1918: „Die Dogmatik sagt nichts mehr" (44) Luther warf das
Christentum zurück auf die Augustinische Gnadenlehre und in letzter
Instanz auf Paulus „Eine der schlimmsten Ursachen des Weltkrieges
war die Reformation des 16 Jahrhunderts Das Zurückgreifen aber auf
das paulinische Christentum war das Allerschlimmste" (44). Luther war
der Prophet eines Bürgertums, das sich sein wohlbestalltes Schla-
raffentum nicht verkümmern zu lassen gewillt war, und doch in geheu-
chelter Angst vor Gerichtstag und Abrechnung sich tiefe Verworfen-
heit und sündige Inferiorität suggerierte Aller Pharisäismus der Prote-
stanten und eine gewisse banausische Instinktverlogenheit zeigen auf
den Mönch von Wittenberg zurück (40) Luther hat - im Gegensatz zu
Thomas Munzer - die aufständischen Bauern 1525 verraten, er hat
verhindert, daß Deutschland damals eine freie Föderation evangelischer
Stämme und Städte wurde „im Sinne der christlichen Korporations-
idee", dadurch hat er die Entwicklung Deutschlands zum „feudal zen-
tralistischen Militärstaat" begünstigt (47-48)
Mit ähnlicher Härte analysiert Ball die folgenden Etappen der deut-
schen Ideengeschichte Er kritisiert die Deutsche Klassik, gesteht Goe-
the freilich respektvoll eine Ausnahmestellung zu Er kritisiert Kant, er
Kurt Flasch 121

habe mit seiner Ethik das preußische Exerzierwesen verinnerlicht (99)


Die Romantik war gewiß ein Bruch mit 1517, sie hat die vorrefor-
matorische evangelische Tradition und damit die Phantasie rehabiliert
Novalis habe Luther kritisiert und einen Satz geschrieben, der in die
Zukunft weist: „Sollen wir Gott lieben, muß er hilfsbedürftig sein"
(116) Aber die Romantiker verblieben innerhalb des Gegensatzes von
Innen und Außen, sie dankten ab vor der Realität Einzig Franz von
Baader trat heraus aus dieser Befangenheit
Ich kann nicht ins Einzelne gehen und versuche daher einige zusam-
menfassende Formulierungen zur Kritik der deutschen Intelligenz
Balls Position von 1918 ist eine anti-autoritäre, christlich-anarchi-
stische politische Philosophie, die gleichwohl neue Werte und eine neue
Hierarchie (29) fordert, aber eine Hierarchie, die auf Einsicht, Mitleid
und Askese, nicht auf Gewalt und Kommando gegründet ist Sie ist
eine fundamentale Kritik des Kasernenchristentums, vorweg des der
preußisch-protestantischen Tradition, aber auch der päpstlich-absolu-
tistischen Machart, die in der deutschen Geschichte weniger katastro-
phale Folgen angerichtet hat und insofern weniger Kritik verdient als
die lutherische, welche die deutsche Mischung von Freudlosigkeit und
Disziplin, von häuslicher Zwangserziehung und Obrigkeitsdenken er-
zeugt habe Ball präsentiert sich als christlicher Denker und als Wieder-
hersteller der vorreformatorischen Tradition Zuweilen spricht er von
einer Renaissance der Scholastik im Sinne des Kardinals Mercier, doch
man täusche sich nicht über den Sinn der Wörter „Christentum" und
„Kirche" in dieser Schrift: „Wir glauben nicht an die sichtbare Kirche,
aber an eine unsichtbare und wer in ihr kämpfen will, ist ihr Glied Wir
glauben an eine heilige christliche Revolution und an die unio mystica
der befreiten Welt Wir glauben an die die küssende Verbrüderung von
Mensch, Tier und Pflanze" (121)
Ball will „eine demokratische Kirche der Intelligenz" (259), er sucht
eine neue Kirche [...], "eine ecclesia militans, deren Hauptstadt Paris
ist" und deren Kirchenväter Pascal und Thomas Münzer (120) heißen
Ball verwirft 1918 ausdrücklich die traditionelle Lehre von der Gnade
(44) und von der Inkarnation (240), die großen Kirchen erscheinen ihm
als das „Christo-Chinesentum eines Totenreichs" (243) Gott und die
Freiheit seien eins, die Freiheit aber sei nie verwirklicht, daher sei Reich
Gottes auf Erden ein Sakrileg, sichtbare Kirche ein Sakrileg, unfehlba-
rer Stellvertreter Gottes ein Sakrileg (249) Die historische Kirche
122 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita

schuf ein „Monopol der Hostienverwaltung", sie leitete aus dem


„Buchstaben des Evangeliums einen Erlösungsbetrieb" ab (241)
Das Christentum, das Ball anno 1918 als Heilung anerkennt, ist aus
den Leiden des englischen und französischen Proleteriats erwachsen
(194), es hat „das theokratische Dogma und den Jenseitskult" (174)
abgestreift, es ist nichts als „Liebe, Herz und Opfermut" (ebd ) Das ist
ein anti-dogmatisches, nur praktisches Christentum, und dennoch liest
man schon in diesem Text: „So ist die Bedingung unseres Genesens
Zusammenbruch dieses Philisterreiches, zurück zur scholastischen Phi-
losophie und liturgischen Mystik! Zurück in die Zeit vor der Refor-
mation'" (270 Anm 146) Noch steht ihm nicht fest, ob nicht vielleicht
ein Scholastiker der wahre Repräsentant der „unterdrückten Tradition
der vorreformatorischen christlichen Idee" (130) sein könnte, das Mo-
tiv der mystischen Liturgie deutet bereits vor auf Dionysius Es geht
nicht darum, das Mittelalter zu restaurieren, vor allem nicht seine
„theokratische Ideologie" (216) Was Ball vorschwebt, ist mehr das In-
teresse Schopenhauers an einigen spekulativen Gedanken der mittel-
alterlichen Philosophie (238) Verzicht auf Gewalt, freiwillige Armut
als Bruch mit dem bürgerlichen Philistertum, Leiden und Mitleiden,
Phantasie und Versöhnung, das sind die Stichworte, welche die Kritik
rückwärts mit DADA, vorwärts mit dem Byzantinischen Christentum
verbinden Ball ist im Schweizer Exil mit Ernst Bloch bekanntgewor-
den, daher wohl seine Hinweise auf ein Christentum nach Joachim von
Fiore
Insgesamt ist Balls Kritik ein schwer zu verteidigendes Buch. Es
kocht vor Distanzierungswut, es wimmelt von ungerechten Urteilen, es
verheddert sich in seinen kurzatmigen Bewertungen, es ist zu kurz, um
die Beweislast für seine zahllosen Verurteilungen zu tragen Daß es
dennoch so instruktiv und aufrüttelnd bleibt, verdankt es einem Nietz-
sche'sehen Spürsinn, einer historischen-philologischen Orientierung an
Clemens Baeumker und einem wachen Sinn für politische Implikatio-
nen gelehrter Aufstellungen Es teilt mit Spengler und Bloch, mit Hei-
degger und Carl Schmitt die Manier globaler geistesgeschichtlicher
Etikettierungen, und um es gerecht zu beurteilen, muß man es lesen
neben den philosophisch-geistesgeschichtlichen Kriegsschriften von
Max Scheler, Werner Sombart und Thomas Mann, die es an
Verantwortlichkeit, Scharfblick und Erudition immer noch unendlich
übertrifft
Kurt Flasch 123

III

Ich komme zu Balls Byzantinischem Christentum. Das Buch, 1923


erschienen, repräsentiert den Areopagiten in einem Triptychon: Zur
Linken steht Johannes Climacus, der asketische Mönch mit der Him-
melsleiter, die ihm den Namen gab Zur Rechten Symeon, der Säulen-
steher In die Mitte zwischen den radikalen Asketen stellt Ball den
Denker der heiligen Hierarchien Er ist kein heiliger Hunger-künstler
wie seine Nachbarn, er errichtet kein religiöses Straflager, in dem ent-
ehrt und gequält zu werden für den konsequenten Mönch die höchste
Lust ist - man lese Balls Lob des Klosterkarzers29, wo es zugeht wie in
Kafkas Strafkolonie, die 1919 geschrieben und gedruckt wurde Hier
seien aus Balls Horrorbild nur einige Zeilen zitiert, einmal, um die
Energie der Selbstzerstörung zu belegen, die in dem von Ball gefeierten
Asketismus steckt, sodann und vor allem um die Obsession durch Welt-
krieg und Lager deutlich zu machen, die lange vor 1933 die sensibel-
sten Köpfe beherrscht hat: „Der Karzer als unzweideutigster Ort der
Demütigung und der Schande ist für den Mönch ja die Probe aufs Ex-
empel [...] Mit eingespannten Füßen stecken die Zöglinge des Geistes
in Einzelhaft, [...] bis sie der Prior auf göttliche Eingebung von der
Folter erlöst [...] Unnennbares leben und leiden sie Engel des Trostes
erwarten sie, gebrochen, zerfleischt und befleckt Den Hals und die
Arme in Schellen, die Füße im Pflock, Blut speiend, mit fiebernden
Augen. Stirbt aber einer, so bittet er bei seinem Eid, man möge ihm das
Begräbnis versagen, ihn wie ein unreines Tier in den Fluß oder den
wilden Tieren vorwerfen Und so geschieht es denn wohl, daß der Abt
jegliche Weihe versagt und den ehrlosen Leichnam aufs offene Feld
werfen läßt"
So also nicht Balls Dionysius Dieser Meister der Form und der hier-
archischen Weihe diszipliniert die Exzesse des Mönchtums, um einen
anderen Exzeß und eine höhere Ekstase zu lehren Ball sieht ihn als
einen Philosophen des Priestertums Es ist ein Priestertum, das auf Er-
leuchtung und gütige Selbstmitteilung gegründet ist, nicht auf Macht
und Organisation Nicht, wie man bei dem Philosophen Ball erwarten

9
Ball, Byzant Chnstenrum (Anm 12), S 34-38; aus diesem Buch wird im
folgenden nur mit Angabe der Seitenzahlen im Text zitiert
124 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita

könnte, die Schrift über die Göttlichen Namen steht im Mittelpunkt des
Interesses, sondern die Himmlische und Kirchliche Hierarchie, also
der Engel und der Bischof Dionysius entfaltet, den Papst wie den rö-
mischen Kaiser ignorierend, seine Religionsphilosophie des hierarchi-
schen Priesterideals Ball insistiert: Dionysius habe nichts mit der spä-
ten „Mystik" zu tun, auch wenn es ihm um Reinigung, Erleuchtung,
Einung gehe Es fehle bei Dionysisus Eckharts Theorie des Intellekts
Dionysius sei auch nicht als Neuplatoniker zu sehen, sondern als ein
christlicher Denker, der mit Hilfe neuplatonischer Theoreme im Chri-
stentum Inhalte entdeckt habe, die noch keiner vor ihm gesehen habe,
der - wie Origenes und Augustin, vielleicht größer als beide - eine Re-
form des Christlichen wollte und eine Integration des Mysterienwe-
sens und der Gnosis anstrebte
Schon formal und stilistisch unterscheidet sich Balls Dionysiuskapitel
deutlich von Teil 1 und Teil 3 des Buches Mit gut 180 Seiten Umfang
ist es größer als die beiden anderen Abschnitte zusammen Balls Stil ist
hier weniger direkt, weniger suggestiv, eher wissenschaftlich Sorgfäl-
tig arbeitet er historische Bezüge heraus, breit zieht er die wissen-
schaftliche Literatur heran und diskutiert sie Selbstverständlich kennt
er die Nachweise von Stiglmayr und Koch über die Beziehungen zu
Proklos, besonders aber stützt er sich auf Reitzenstein und sieht in Di-
onysius die definitive kirchliche Antwort auf Gnostizismus und Myste-
rienwesen Sein Dionysius ist „katholisch, orthodox und heilig" (82), er
ist nicht von anderen Texten, sog Quellen her zu erklaren, aber wenn
es schon um Zuordnung ginge, dann wäre, nach Ball, Dionysius „eher
orientalisch und gnostisch" als neuplatonisch (97)
Ball folgt einem Trend der zwanziger Jahre, das unnennbare Eine als
irrational und orientalisch, nicht als europäisch und platonisch zu se-
hen, mehrfach hält er etwas für gnostisch, was zunächst einmal nach-
weisbar platonisch ist Er tritt ernsthaft ein in die historische For-
schung, aber er verhehlt nicht, daß er dies widerwillig und nur bis zu
einer genau bestimmten Grenze tut:
Ball polemisiert gegen das, was er „die Verwechslung geschichtlicher
Tatsachen mit geistigen" nennt, er bekennt sich zu einer Unmittelbar-
keitshermeneutik, die heute nur noch in kulturellen Rückzugszonen
verteidigt werden dürfte: Er nennt - gegen Koch und Stiglmayr gewen-
det - die „vergleichende und historisierende Methode flach und unpro-
duktiv " Sie fülle zwar die Schränke mit Büchern, aber nicht die Köpfe
Kurt Flasch 125

mit „Wesenserkenntnis" (197 Anm 7). Ball sucht, wie er selbst sagt,
das „extatische, nicht das historische Wissen" (244) Ich gestehe, ihm
hierin nicht folgen zu können: Dionysius Areopagita ist ein Gegenstand
historischen Wissens, mag sich sein Ausleger auch noch so extatisch
gebärden und sich im Besitz einer höheren Einsicht, eben einer We-
senserkenntnis, wähnen Geistige Tatsachen sind, wenn man sich schon
so ausdrücken will, eo ipso historische Tatsachen, und wer daran vor-
beigeht, produziert auch nur historische Sätze, nur eben feierlich getön-
te und ungenaue, nicht selten auch falsche
Dabei ist gerade der historische Bezug in Balls Dionysiusdarstellung
mit Händen zu greifen - nicht nur der Bezug auf die Forschungssituati-
on anno 1921, sondern vor allem auf die Kriegserfahrung und die
Nachkriegssituation Sein Rückgang zum byzantinischen Christentum
soll ein neues Bild des Heroen zeigen, es soll die biologistischen und
die deutschtümelnden Züge des Heroentums der Deutschen überwin-
den helfen, es soll bewirken, daß Deutsche die schreckliche Weltkriegs-
erfährung nicht vergessen, sondern sich zur Selbsteinkehr, zur Läute-
rung und zur Reinigung umwenden Der deutsche Michaelskult soll
ersetzt werden durch die Engel des Dionysius, denn weil wir Michael
zum Nationalengel gemacht haben, „endeten wir unter berstenden
Himmeln von Blut und Feuer So fanden wir uns vor die Gebeinwüste
geschleudert" (251) Balls Flucht zu den Wüstenheiligen kann die
„Gebeinwüste" nicht vergessen machen, sie will es auch nicht Mit Pa-
thos hebt Ball hervor, Dionysius habe den „Frieden" zum Maßstab der
geistigen Welt gesetzt (98) Die Läuterung, die der Erleuchtung voran-
geht, ist der Verzicht auf alles Gewaltwesen, und dies ist der innere
Zusammenhang zwischen Ball Kritik der deutschen Intelligenz und der
Befassung mit Dionysius Dies ist eine geistige Tatsache, weil es eine
geschichtliche ist Balls eigenes Verfahren widerspricht seiner aus der
Phänomenologie erborgten und übrigens auch nur angedeuteten Theo-
rie Ball schwebte offenbar eine andere Verhältnisbestimmung von We-
senserkenntnis und Zeit vor, als er 1919 als seinen Plan notierte „In
einem Heiligenbuch das Erlebnis der Zeit auffangen "30
Das Vorwort zu Balls Kritik endete mit folgendem Satz „Es gibt kei-
nen Gott außer in der Freiheit, wie es keine Freiheit gibt außer in

Ball. Flucht (Anm. 4), S. 245


126 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita

Gott "31 Diesen Satz hat Ball auf den Weihnachtsabend 1918 datiert. In
den letzten Zeilen des Dionysiuskapitels kehrt der Satz wieder, leicht
variiert: „Das Leben nimmt Gottes Gepräge an und folgt göttlichen
Normen Einfalt und Freiheit, Freiheit und Gottheit sind eins" (246)
Man beginnt hier zu ermessen, wie fremd es Ball war, seine sog.
theologische Schriftstellerei von seiner sog politischen zu unterschei-
den Der Vorsatz, die Erfahrung der Zeit in einem Heiligenbuch dar-
zustellen, stammt von 1919, dem Erscheinungsjahr der Kritik.
Auch die DADA-Gegenwelt ist 1923 nicht völlig versunken Ball hebt
den artistischen Tiefsinn hervor, der in der Lehre des Dionysius stecke,
Bilder des Häßlichen könnten eher zur Erkenntnis des Schönen führen,
als schöne Bilder Eine äußere Mißgestalt fördere die Absicht, alles
profane Abtasten abzuschrecken Der Absurdität und dem Widerspruch
einer entstellenden Darstellung wohne, wie Ball sagt, „eine die Phan-
tasie des Wissenden mehr noch erregende und seine Vernunft höher
treibende Aufforderung inne "32
Mir scheint, man könne in der Annäherung von DADA und Dionysius
noch einen Schritt weiter gehen Ich sagte schon, daß Ball Dionysius
versteht als die orthodoxe Korrektur des Mysterienwesens Nun lese
man folgende Skizze, die Ball von einer Mysterienfeier gibt „Ein un-
ausschöpflicher Sinn wohnt den Riten und Zeremonien inne Ihrem
göttlichen Einfluß vermag sich niemand zu entziehen Laternen und
Lichter in leuchtender Symmetrie; ein primitives Gemisch von Tier-
und von Kinderlauten, eine Musik, die in längst verschollenen Kaden-
zen schwingt: all dies erschüttert die Seele und erinnert sie an ihre Ur-
heimat Eine Sehnsucht zurück zu allen Anfängen erfaßt den Geist,
taucht ihn in längst vergessene Paradiese der Über- und Vorwelt Selt-
sam maskierte Gestalten tragen astrale Abzeichen und Symbole, drehen
sich im Kreise, zaubern in ihren Bewegungen das milde Abbild der
Sternensphäre mitten in einem irdischen Raum."33
Wer sich der Schilderungen erinnert, wie es im Cabaret Voltaire zu-
ging, findet bis in die Einzelheiten Dieser antike Mysterienkult sieht
dem wilden Treiben in der Züricher Spiegelgasse sehr, sehr ähnlich
Ball folgte nicht einer Mode, indem er Dionysius als den Ordner und

31
Ball, Kritik (Anm 21), S 10
32
Ball. Bvzant Christentum (Anm 12), S 235
33
Ebd S. 132
Kurt Flasch 127

Überwinder des Mysterienkults feierte Er sah in ihm den Patron eines


neuen, eines allegorisch feiernden und auf sanfte Weise heroischen
Christentums Dionysius rettet die Wahrheit von DADA, nicht als
Mystiker, sondern als der ordnende Erklärer von Kultgeheimnissen, die
in Phantasie und hymnischem Rausch sich der ewigen Schönheit nä-
hern Dieses Christentum ist radikal arm und radikal asketisch, vor al-
lem aber ist es ekstatisch Es lehrt uns, aus uns herauszutreten und auf
das Schöne selbst zu beziehen Es lehrt, alles als Symbol zu sehen Es
treibt uns in extreme Vereinzelung, nimmt uns aber zugleich auch wie-
der auf in den Reigen, in die himmlischen Chöre Auch die Hierarchien
sind Bild der göttlichen Schönheit Alle Rangunterschiede sind Di-
stinktionen des Herzens, nicht der Gewalt Ein Engel ist ein Bild, aber
nicht „nur" ein Bild, sondern eine reale Macht, aber nicht im Sinne des
gesunden Menschenverstandes und seines Realismus, der sich in dem
Gegensatz von Allegorie und Realität verlaufen hat Engel sind Wirk-
mächte, gerade weil sie „tief versponnen" sind in die „Sage"
Demgegenüber zählen Einzelheiten der Ball'sehen Dionysiuslektüre
wenig Hervorzuheben ist, daß Ball seinen Dionysius nahe an Paulus
heranführt, die antipaulinische Polemik der Kritik ist verstummt, aber
keineswegs die antilutherische Luthers Reformation erscheint als intel-
lektuell unbedeutende Mönchsrevolte gegen ein erhabenes Priesteride-
al. Höhnisch weist Ball Luthers Versuch zurück, Dionysius von Pau-
lus zu trennen.35

IV

Ich habe gegen die Vorstellung argumentiert, das Denken von Hugo
Ball gliedere sich in drei übergangslose Abschnitte: Dadaismus, Kritik
der deutschen Intelligenz, Theologie.
Ich wolle zeigen: Diese drei Motive sind wesentlich miteinander ver-
bunden Und sie erschöpfen nicht die intellektuellen Interessen Balls
Auch der Endpunkt der Entwicklung vom Dadaismus zur Kirche ist
nicht so eindeutig, wie man wohl glaubt Ball hatte sein eigenes Kon-
zept auch von Kirche, von ihrer spirituellen, therapeutischen, kulturel-
len und politischen Mission: „Nicht aber der Katholizismus der Vor-

Ebd S. 222
Ebd S 219
128 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita

kriegszeit und der Kriegsjahre, sondern ein neuer, vertiefter, integraler


Katholizismus, der sich nicht einschüchtern läßt, der die Interessen
verachtet, der den Satan kennt und die Rechte verteidigt, koste es, was
es wolle."36
Und ferner: Es gibt - mindestens - noch zwei Gebiete, die bislang
noch nicht erwähnt wurden und die doch mit den genannten eng ver-
knüpft sind Da ist einmal das Interesse an psychiatrischen Phänome-
nen und Arbeiten, an Schwermut, Seelenverwundungen, Träumen, Som-
nambulismus der Liebe, Satanismus Auch diese Interessenrichtung
entstand nicht erst nach dem Dionysiusbuch Ball sah die Mönche der
alten Kirche als heimgesucht von schwersten seelischen Leiden, ihre
geistlichen Väter als Therapeuten Aber nach 1923 intensivierte Ball
seine experimentell-psychologischen Studien, ohne sie zu einem Buch
führen zu können
Ein zweites Gebiet ist das der politischen Philosophie Dionysius war
für Ball auch deswegen so wichtig, weil er ihm neue Konzepte des po-
litischen Zusammenlebens bot Die Leitidee der Hierarchie schien my-
stischen Individualismus mit dem römisch-rechtlichen System zu verei-
nen, sie erlaubte, so schien es, die Integration des Anarchismus, für den
Ball schon früh Sympathie gezeigt hatte. Jahre hindurch hat er das
Projekt einer Bakunin-Auswahl verfolgt Auch dieses Buch ist nie er-
schienen Aber Fragen der Sozial-, Staats- und Rechtsphilosophie hat
Ball intensiv verfolgt, besonders im Werk französischer Autoren, dies
brachte ihn in die Nähe von Carl Schmitt Von dieser Berührung zeugt
ein Hochland-Artikel vom 2 Halbjahr 1924 Carl Schmitts Politische
Theologie.37
Der Katholizismus erscheint jetzt, nach dem Chaos der Kriegsjahre,
als das Ordungssystem par excellence Was ihn kennzeichne, sei das
„Pathos der Entscheidung" (286) Schmitt sieht im römischen Katholi-
zismus die Juristische, politische, ja die ideologische Form überhaupt,
die damit alle höheren Kategorien der europäischen Zivilisation garan-
tiert" (285) Auch Ball nähert sich diesem Gedanken, geführt von de
Maistre, Cortes und eben Carl Schmitt Ball teilt mit Schmitt die radi-
kale Kritik am Liberalismus, der sich zu nichts entscheiden könne Die

Ball, Flucht (Anm 4), S. 273


Vgl Hochland XXI/2 (1924), S 263-286; im folgenden nur mit Seitenzahl im
Text zitiert.
Kurt Flasch 129

Rolle der Bourgeoisie im Weltkrieg hat beiden den Zerfäll des bürgerli-
chen Denkens bewiesen
Es ist Filigranarbeit, die bleibenden Differenzen zwischen Ball und
Schmitt zu ermitteln Sie betreffen zunächst einmal die These, „der
Mensch ist schlimmer als ein Reptil" (Cortes, bei Ball 274) Gegen
Schmitt insistiert Ball, es sei der „legale Despotismus", der die Erbitte-
rung der anarchistischen Opposition erst hervorrufe (274) Die Vertie-
rung der Menschen ist demnach also nicht das Ursprüngliche, das nach
staatlicher Disziplinierung ruft, sondern sie ist das Ergebnis der maß-
stablos gewordenen Politik Ball teilt nicht die Abschätzigkeit, mit der
Schmitt die Lehre von der natürlichen Güte des Menschen behandelt
Ich kann dem Konflikt nicht nachgehen und hebe nur noch die Rolle
des Dionysius auch in dieser Auseinandersetzung hervor Ball bemüht
ihn ausdrücklich zur Korrektur der Schmitt'schen politischen Theolo-
gie (275): Schmitt dachte die Kirche als Autorität, als ratio und Orga-
nisation, sie ist freilich eine ratio eigener Art, neben der Zweckökono-
mie und dem Konsumstaat, die Ball und Schmitt gleichermaßen ver-
achten Die Kirche als ratio domestiziert das chaotische Menschentrei-
ben, das macht ihre harte Humanität aus Dabei aber denkt Schmitt die
Kirche so sehr als Formierungs- und Disziplinierungsmacht, daß Ball
festhält, Schmitt könne der Kirche ebensogut ein Bündnis mit dem
Teufel vorschlagen (275), sofern dadurch nur das anarchische Treiben
beendet und um jeden Preis eine Ordnung eingerichtet wird Schmitt
war 1924 noch nicht der führende nationalsozialistische Rechtslehrer,
der er 1933 wurde Aber Ball sah 1924, daß die Idee des Hitler-Kon-
kordats latent in der Logik der römischen Kirche lag - wenigstens nach
Schmitts Konzept von Katholizismus: Ordnung ist ja nach Schmitt -
allein schon dadurch, daß sie besteht - allemal besser als Unordnung,
denn sie überwindet das Irrationale, und das ist - mit Balls Worten -
„wieder das Volk, das rebellische Proletariat" Schmitts politische
Theologie konzentriert das Theologische auf den bloßen Disziplinie-
rungs- und Formierungsaspekt Aber in der Kirche, moniert Ball, ist
das Rationale, das Legale und Institutionelle sekundär Sie ist das
Ergebnis des Irrationalen, des Heiligen und Wunderbaren, und dies
lerne man bei Dionysius Areopagita „Bei ihm ist Gott die Ursonne, die
alle Stufenreihen der Wesen bis herab zu den materiellsten nicht ver-
pflichtend und logisch, sondern liebend und irrational in ihren Bann-
kreis zieht, um sie zu durchdringen."
130 Von der "Kritik" zu Dionysius Areopagita

Das Rationale, Legale und Institutionelle ist, Dionysius zufolge, abge-


leitet, es entsteht aus dem „Heiligenreich in der Ekstase", es ist
„übervernünftig, irrational begründet", die rationale und rechtliche
Sphäre entsteht hier erst durch die Anwendung der höheren Irrationali-
tät auf die zeitlichen, gegebenen Dinge (275f)
Daraus ergibt sich eine scharfe Kritik: Schmitt übertrage, was allein in
der Kirche sinnvoll sei, nämlich das Auftreten eines homo a deo excita-
tus, auf die Welt außerhalb der Kirche und billige dem Aus-
nahmemann, dem Diktator, ein höheres Recht als das politische zu
Dies könne und dürfe nicht sein „Der Heilige und die Staatsgeschäfte
schließen einander aus, so lange nicht ein universaler Glaube herrscht
Das Irrationale kann niemals in direkten Bezug zum Staate treten [...]
Der souveräne Diktator ist nur innerhalb der Kirche zu begründen"
(278)
In seinem Buch über Die Diktatur von 1921 übertrage Schmitt diese
kirchliche Konzeption auf die politische, dies sei aber nicht möglich,
„ohne in praxi zu einer Verwirrung aller Rechts- und Moralbegriffe zu
führen" (279).
Ball glaubte, Schmitt habe diesen Fehler in dem Diktaturbuch began-
gen, aber in seiner Politischen Theologie von 1922 korrigiert Dies
stehe für heute dahin Hier genügt es, gezeigt zu haben, in welche
Probleme gerät, wer das Verhältnis von Ball zu Dionysius untersucht
oder die Entwicklung von DADA zur Kirche aus den Quellen studiert
Bernd Wacker

Ein rabiater Antisemit?


Hugo Balls Sicht des Alten Testaments und des (deutschen)
Judentums

„Vorausschicken möchte ich. dass es mir


durchaus fernliegt, dem Antisemitismus [...]
im genngsten Material zu liefern.'*
Hugo Ball'

Wenn es unter den Veröffentlichungen Hugo Balls ein Buch gibt, von
dem man mit einigem Recht sagen kann, es sei seinem Autor über den
Tod hinaus zum Schicksal geworden, so ist es sein bald nach Kriegsen-
de veröffentlichtes Pamphlet Zur Kritik der deutschen Intelligenz Ob-
wohl sicher kein Bestseller, tat es doch von Anfang an - und bis heute -
das Seine, um den Intellektuellen Ball in Deutschland politisch-mora-
lisch verdächtig zu machen.

I Zur Kritik der deutschen Intelligenz - editions- und rezeptionsge-


schichtliche Bemerkungen

Ohne nationale Besinnung auf die deutsche Schuld am Ersten Welt-


krieg und ohne das öffentliche, der Aktenlage entsprechende Einge-
ständnis dieser Schuld, so die bekannte Generalthese des Mitte Januar
1919 in Bern erschienenen Buches, sei ein politisch-moralischer Neuan-
fang in Deutschland schlechterdings unmöglich Die zeitgenössische
akademische Kritik reagierte beinahe einhellig ablehnend2 und durchaus
mit Folgen „Deutschtum (Anfeindung)" - unter diesem Lemma verzet-
telte z B der Schlagwortkatalog der ehemaligen Nassauischen Lan-
desbibliothek in Wiesbaden Anfang der 20er Jahre Balls große Pole-
mik, die, wie nicht anders zu erwarten, nach 1933 wohl nicht nur in
Hessen aus dem Leihverkehr gezogen wurde „Gesperrt" heißt es in ro-

1
Hugo Ball: Zur Knük der deutschen Intelligenz Bern 1919, S. 165f.
2
Vgl. Ernst Teubner: Hugo Ball. Eine Bibliographie. Mainz 1992, Nr 1213-1268
132 Ball und das Judentum

ter Stempelfarbe auf den entsprechenden Karten des Autoren- und


Schlagwortkatalogs Obwohl dieser Vermerk nach 1945 als „ungültig"
gekennzeichnet wurde, war man doch auch in der jungen Bundesre-
publik weit davon entfernt, sich Balls Kriegsschuldthese zu eigen zu
machen. Noch eine in den 50er Jahren geplante, allerdings nie realisier-
te Edition seiner Gesammelten Schriften spielte mit dem Gedanken,
die Kritik der deutschen Intelligenz völlig außen vor zu lassen Her-
mann Hesse, Balls wohl wichtigster Freund seiner letzten Lebensspan-
ne, hat gegen diese Verzeichnung damals zu Recht energisch Einspruch
erhoben3
Als das Buch 1970 erstmals wieder auf dem deutschen Büchermarkt
zu haben war, lag die mit ungeheurer Erregung geführte sog Fischer-
Kontroverse, die man „den Wendepunkt in der historischen Forschung
in der Bundesrepublik" genannt hat, erst wenige Jahre zurück Die von
dem Hamburger Historiker Fritz Fischer aufgewiesene weitgehende
Verantwortung, die die Regierung des Deutschen Reiches samt der
Obersten Heeresleitung am Kriegsausbruch trug, und der im Kern ag-
gressive Charakter der deutschen Kriegsziele wurden von einem zu-
nehmend größer werdenden Teil der westdeutschen Historikerschaft
akzeptiert4 Die damit verbundene Einsicht in die Kontinuitäten der
Geschichte des Zweiten und Dritten Reiches ließen Balls Kampfschrift
als ein nachgerade prophetisches Dokument erscheinen, das allerdings,
wie nun deutlich wurde, mit einem anderen schwerwiegenden Makel
behaftet war Nach der insbesondere mit dem Frankfurter Auschwitz-
prozeß in Gang gekommenen öffentlichen Auseinandersetzung mit dem
Holocaust und seiner Vorgeschichte5 war es nicht mehr der offensicht-
liche Mangel an Patriotismus um jeden Preis, sondern vielmehr und
ernster eine - im übrigen von beinahe allen Rezensenten und Interpre-
ten bis dahin übersehene oder ignorierte - Fülle antisemitisch klingen-

3
Vgl Hesses Brief an Annemarie Schutt-Hennings vom Frühjahr 1954, in Her-
mann Hesse: Gesammelte Briefe Bd IV Hg von Volker Michels Frankfurt
1986, S. 201f
4
Vgl George G Iggers Neue Geschichtswissenschaft Vom Histonsmus zur Hi-
storischen Sozialwissenschaft München 1978, S 109-111, Zitat 109
Vgl Norbert Frei Auschwitz und Holocaust Begriff und Historiographie, in:
Hanno Loewy (Hg) Holocaust: Grenzen des Verstehens Eine Debatte über die
Besetzung der Geschichte Reinbek 1992, S. 101-109.
Bernd Wacker 133

der Äußerungen6, die die Kritik der deutschen Intelligenz in Deutsch-


land zum Problem machte und es dem Rogner & Bernhard-Verlag und
dem verantwortlichen Herausgeber Gerd-Klaus Kaltenbrunner geraten
erscheinen ließ, die Neuausgabe des bewunderten Werkes nur unter
Auslassung einer Reihe einschlägiger Passagen auf den Markt zu brin-
gen7 Der stillschweigend purgierte Text des Münchener Kleinverlages
wurde in der Folge zur Druckvorlage einer weiteren, 1980 in der Bi-
bliothek Suhrkamp erschienenen Neuausgabe des Buches8 Im Vertrau-
en auf eine Empfehlung von Annemarie Schutt-Hennings, der Stief-
tochter und verdienstvollen Nachlaßverwalterin Balls, die schon die
Ausgabe von 1970 mitbetreut hatte, war der Frankfurter Verlag irr-
tümlich davon ausgegangen, es bei der von Kaltenbrunner besorgten

6
Der Erste, der m. W. auf diesen Tatbestand aufmerksam machte, war der Carl
Schmitt-Adept Robert Hepp in seiner Dissertation Politische Theologie und theo-
logische Politik. Studien zur Säkularisierung des Protestantismus im Weltkrieg
und in der Weimarer Republik. Diss masch Univ. Erlangen-Nürnberg 1967, S
227 f.; Hepp bezeichnete Ball als „wilden Antisemiten".
Hugo Ball: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Ein Pamphlet Hg. u. eingel v
Gerd-Klaus Kaltenbrunner München 1970; bei den gestrichenen Texten handelt
es sich um insgesamt mehr als 30 Stellen sowohl aus dem laufenden Text wie aus
den Fußnoten: sie sind nicht nur sehr unterschiedlichen Umfangs, sondern haben
auch keineswegs alle direkt oder auch nur indirekt mit dem Thema Juden/Juden-
tum zu tun Da diese Ausgabe nicht mehr im Handel ist, bezieht sich die Synopse
im Anhang des vorliegenden Beitrages auf die Ausgaben des Suhrkamp-Verlages
1980 u 1991; vgl dazu die folgenden Anmerkungen.
s
Hugo Ball Zur Kritik der deutschen Intelligenz Frankfurt 1980. - Im folgenden
werde ich neben den zuerst genannten Seitenzahlen der Erstausgabe (Anm. 1)
auch die Seiten dieses „Nachdrucks" in Klammern angeben und bei den unter-
drückten Passagen auf die Synopse im Anhang des vorliegenden Beitrags verwei-
sen. Bei ihrer Erarbeitung waren mir die, allerdings nicht ganz vollständigen,
Texte im Anhang von Philip H Mann: Hugo Ball: An Intellectual Biographie
Phil Diss. Norfolk 1984, p 403-412 sowie die präzisen und lückenlosen Hinweise
(im Text der amerikanischen Übersetzung) bei Anson Rabinbach (Ed.): Hugo
Ball: Cntique of the German Intelligentsia Transl by Bnan L Harns New York
1993 eine große Hilfe
Nur nebenbei sei bemerkt, daß der Text der genannten deutschen Nachdrucke
aufgrund manch sinnentstellender „Druckfehler" (vgl z B Bern 1919, S. 192:
Marx „revoltierte" die Wissenschaften; Frankfurt 1980, S 204: Marx „revolu-
tionierte" die Wissenschaften) sowie anderer Verschreibungen/Ungenauigkeiten
auch ansonsten nur bedingt brauchbar ist
134 Ball und das Judentum

Ausgabe mit der Originalfassung zu tun zu haben9 Freilich hätte dieser


Irrtum spätestens nach Hansjörg Viesels ironischem Hinweis auf die
Praxis der FSK bei Rogner & Bernhard10 zu entsprechenden Reaktio-
nen in Frankfürt führen müssen Doch nichts geschah; der verfälschte
Text blieb auch im Suhrkamp-Nachdruck von 1991 u erhalten und ist in
dieser Version bis heute lieferbar. Argerlich ist dabei vor allem, daß
auch hier keine der Auslassungen gekennzeichnet, geschweige denn
begründet wird Einen vollständigen Nachdruck der Erstausgabe gibt
es bis heute nicht, es sei denn in Form einer 1993 erschienenen ameri-
kanischen Übersetzung, welcher der Herausgeber, der New Yorker
Kulturwissenschaftler Anson Rabinbach, ein ebenso instruktives wie
kritisches Vorwort beigegeben hat12 Provozierend wirkt vor allem die
These Rabinbachs, die in den genannten deutschen Neuauflagen unter-
drückten Textpassagen enhüllten in wünschenswerter Deutlichkeit
Balls „Judeophobia" 3 und seine darin wurzelnde Überzeugung, „that
[...] the jews represent a secret diabolic force in German history"14,
eine Macht, die für Ball ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für die
Identitätsbildung des anderen, des besseren Deutschland jenseits von
Preußen und Protestantismus darstelle Ungeachtet aller Kritik am
preußisch-deutschen Militarismus und Chauvinismus huldige Ball ei-
nem „inverted nationalism", als dessen integraler Bestandteil sein Anti-
semitismus zu werten sei15 Die so gerne verdrängte deutsche Vergan-
9
Vgl Volker Michels: Ohne Fälschungsabsicht. Leserbrief in der FAZ v. 21 9.
1994
10
Vgl Hansjörg Viesel (Hg): Litanei zum Heiligen Hugo Berlin 1985, S 76-80,
der Hinweis auf die Freiwillige Selbstkontrolle zielte auf das erklärte Absicht
Rogner & Bernhards, auch unbequemen, fast vergessenen Texten zu neuer Öf-
fentlichkeit verhelfen wollen Schon bald nach Erscheinen der Rogner & Bern-
hard-Ausgabe hatte Ernst Forsthoff in einer Rezension (vgl. Das historisch-
politische Buch 19 [1971] Heft 3, S 80f) nachdrücklich auf die Streichungen
hingewiesen Wenn es, was ei nicht bestreiten wolle, gute Gründe gäbe, den Le-
ser mit den antisemitischen Passagen dieses Pamphlets zu verschonen, dann
nicht durch solche Auslassungen, sondern indem man, so der Schüler Carl
Schmitts, die ganze Schrift ihrer „verdienten Vergessenheit" überlassen hätte
11
Hugo Ball: Zur Kritik der deutschen Intelligenz Frankfurt 1991
12
Vgl Rabinbach: The Inverted Nationalism of Hugo Balls Critique of the Ger-
man Intelligentsia, in: ders (Anm 8) p vii-xl.
13
Ebd. p ix.
14
Ebd p. xxv.
15
Ebd p xxviif
Bernd Wacker 135

genheit hatte, so schien es, Hugo Ball endgültig eingeholt, ihn der
„Paranoia", seine wohlmeinenden Interpreten und Verehrer aber der
„Mohrenwäsche"16 überführt
Sieht man von Balls dadaistischen Produktionen und seiner Hesse-
Biographie einmal ab, so kann die Kritik der deutschen Intelligenz ih-
res Themas wie ihrer vergleichsweise hohen Auflagenzahl wegen wohl
als sein heute bekanntestes Werk gelten Nichtsdestoweniger darf sich
die Untersuchung seiner Beschreibung und Wertung des Jüdischen
Problems"17 nicht auf diese Schrift beschränken Zwar nimmt die Aus-
einandersetzung mit dem Judentum erst in der Kritik und den thema-
tisch verwandten Artikeln der Freien Zeitung größeren Raum ein, doch
begegnet das Thema schon in früheren Arbeiten Balls und war auch
nach 1919 keineswegs erledigt Aufschlußreicher jedoch als seine Pa-
raphrase einschlägiger Texte Friedrich Nietzsches, wie sie sich in sei-
nem unabgeschlossenen Dissertationsprojekt von 1909/10 finden, und
ergiebiger auch als gelegentliche Anspielungen in einigen literarischen
Arbeiten der Münchener und Züricher Jahre18 sind die in Auseinander-
setzung mit der Kritik der deutschen Intelligenz erschienenen späteren
Schriften Hugo Balls, zunächst also sein Byzantinisches Christentum
von 192319, mit dem er in Ergänzung seines ersten Buches dem „in
Deutschland wiedergeborenen Heldenbegriff einer tiefen Vergangen-
heit [...] sehr bewußt eine Heiligenlehre gegenüber(stellen) wollte" °,
sowie seine 1924 erschienenen Folgen der Reformation21, die eine ge-
16
Vgl Gert Mattenklott Mohrenwäsche Die Paranoia des Hugo Ball, in: FAZ v.
14 9 1994, S N7 sowie die präzise Erwiderung von Hans Burkhard Schlichting:
Polemische Wimusse Kritiker deutscher Mentalitäten: Hugo Balls Absichten, in:
FAZv 5. 10 1994, S. N6.
11
Ball, Kntik (Anm 1), passim.
18
Vgl Hugo Ball Nietzsche in Basel Eine Streitschrift (1909/10), in: Hugo Ball:
Der Künstler und die Zeitkrankheit Ausgewählte Schriften Hg. v Hans Burk-
hard Schlichting Frankfurt 1988, S 61-101, bes. 93f; ders.: Der Henker von
Brescia Drei Akte der Not und Ekstase (1912/14) Hg. v Franz L Pelgen Leip-
zig 1995, S. 18, 32 u. ö.; ders.: Tenderenda der Phantast Roman (1914/1920), in:
Ball, Künstler (Anm 18), S 377-417, bes. 389-397 („Satanopohs" u. „Grand
Hotel Metaphysik")
19
Hugo Ball: Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben München u Leipzig
1923
!0
Hugo Ball: Notizen zum Versuch eines Vorworts für das „Byzantinische Chri-
stentum", in: ders , Künstler (Anm 18), S. 299-302.
21
Hugo Ball Die Folgen der Reformation München u Leipzig 1924.
136 Ball und das Judentum

kürzte und bewußt katholisch stilisierte Fassung des Buches von 1919
darstellen Hierher gehört auch Balls noch 1927, seinem Todesjahr, in
überarbeiteter Form publiziertes (erstes) Tagebuch Die Flucht aus der
Zeit22, das zur Interpretation des Themenfeldes unverzichtbar ist Bei
keinem dieser Texte jedoch handelt es sich, das darf nicht vergessen
werden, um judaistische Sachbuch- bzw wissenschaftlich-monogra-
phische Literatur. Ball hat dem Judentum nie mehr als einige mehr oder
minder ausführliche Seitenblicke zukommen lassen.
Rabinbachs kritische Hinweise auf die in der Editionsgeschichte der
Kritik deutlich werdenden fatalen 'Beschweigungsstrategien' in Sachen
Antisemitismus haben nichtsdestoweniger alles Recht für sich „Nach
sorgfältiger Überprüfung seines veröffentlichten Schrifttums läßt sich
[...] eine antisemitische Ideologie bei ihm nicht nachweisen" - salvatori-
sche Klauseln solchen Zuschnitts23 sind angesichts nicht weniger er-
schreckender Formulierungen, bei deren Lektüre sich der Antisemitis-
musverdacht förmlich aufdrängt, wenig hilfreich Mehr noch: Sie lei-
sten Ball einen Bärendienst, solange die „sorgfältige Überprüfung" nur
behauptet, nicht aber dokumentiert wird Sie wäre, was Rabinbachs
Fokussierung auf die in den deutschen Neudrucken der Kritik gestri-
chenen Stellen leicht vergessen läßt, notwendig auch, wenn Ball diese
Passagen nie geschrieben hätte Auch ohne die dort zu findenden
„Spitzensätze" nämlich bleiben viele Züge in seinen Äußerungen über
das Alte Testament und das deutsche Judentum problematisch genug
Umgekehrt freilich finden sich bei Ball Aussagen auch ganz anderer, sit
venia verbo „philosemitischer" Tendenz Insofern ihr Verhältnis zu
scheinbar entgegengesetzten Bemerkungen sich keineswegs auf den
ersten Blick erschließt, mit dem Bild vom „rabiaten Antisemiten"24 aber
schwerlich zu vereinbaren sind, machen sie die einläßliche Beschäfti-
gung mit Balls Verhältnis zum Judentum jedoch keinesfalls überflüssig,
sondern gerade dringend
Die Erinnerung an einen Brief Ernst Blochs, Balls „utopischen
Freund"25, dürfte diesbezüglich zu denken geben: Im Leitartikel der

" Hugo Ball Die Flucht aus der Zeit Hg v Bernhard Echte Zürich 1992.
3
Volker Knufermann Hugo Ball und Ernst Bloch als Beiträger der „Freien Zei-
tung". Bern 1917-1919, in: Hugo Ball Almanach 1988, S. 30-46. 31; ähnlich
Viesel (Anm. 10), S 76
24
Vgl Mattenklott (Anm. 16).
25
Ball. Flucht (Anm 22). S 206 (Eintrag v. 18 11 1917)
Bernd Wacker 137

Freien Zeitung vom 16 11 1918 war ein aus der Feder Balls stam-
mender Abschnitt zu lesen gewesen, dessen antisemitischer Jargon den
seiner jüdischen Identität bewußten Freund auch persönlich tief getrof-
fen hatte. Nichtsdestoweniger suchte Bloch in einem Brief vom 22.
November 1918 an Wilhelm Muehlon27 Ball gegenüber dem „Schmutz-
verdacht des gemeinen Antisemitismus" in Schutz zu nehmen und dem
Eindruck entgegenzutreten, der Verfasser des Artikels sei „ein ent-
sprungener Rohling aus dem Verein deutscher Studenten und die FZ.
ein Pogromblatt"28 Er tat dies mit dem Hinweis auf „die tieferen und,

26
Hugo Ball: Die Umgehung der Instanzen, in: ders : Künstler (Anm 18), S 231-
233. 233; vgl dazu unten Abschnitt II 4 Zur „Freien Zeitung" finden sich die
wichtigsten Informationen in Ernst Bloch: Kampf, nicht Kneg Politische
Schriften 1917-1919. Hg v Martin Korol Frankfurt 1985, bes S 37-54
" Abgedruckt bei Arno Münster: Utopie, Messianismus und Apokalypse im Früh-
werk von Ernst Bloch Frankfurt 1982, S. 265f; die folgenden Zitate, soweit nicht
eigens ausgewiesen, stammen aus diesem Brief
28
Zum Verhältnis Ball/Bloch und zu den Gründen ihrer Trennung vgl den Beitrag
v Chryssoula Kambas im vorliegenden Band, aus Gesprächen mit Martin Korol
(Bremen), der mir völlig uneigennützig auch Einblick in seine in Vorbereiung
befindliche Dissertation über DADA, PräExil und FREIE ZEITUNG gewährte,
habe ich viel gelernt; seiner Interpretation der biographischen Hintergründe des
Bauschen Polemik gegen die „anationalen Israeliten" vermag ich mich aller-
dings nicht anzuschließen ; vgl unten Kap II, 4 -
Bloch dürfte die katholische Herkunft Balls nicht verborgen geblieben sein; die
Rede vom „Rohling" ist daher wohl mit Absicht gewählt; sie spielt an auf den
Münsteraner Priester August Rohling (1839-1931), der 1871 ein repräsentatives
antisemitisches Machwerk mit dem Titel Der Talmudjude veröffentlicht hatte,
das bis 1922 siebzehn Auflagen erlebte 1875 war Rohling zum Professor für al-
testamentliche Exegese an der renommierten Prager Universität bestellt worden;
er galt nun erst recht als Experte in Sachen Juden/Judentum und trat auch als
Gutachter bei Gericht auf; er glaubte beeiden zu können, „daß der Jude von Re-
ligions wegen befugt ist, alle NichtJuden auf jede Weise auszubeuten, sie physisch
und moralisch zu vernichten, Leben, Ehre und Eigenthum derselben zu verder-
ben, offen und mit Gewalt, wie heimlich und meuchlings - das darf, ja soll, wenn
er kann, der Jude von Religions wegen befolgen, damit er sein Volk zur irdischen
Weltherrschaft bringe " Das Ende seiner akademischen Tätigkeit - nicht seines
Einflusses - kam 1875, als Rohling eine Verleumdungsklage gegen einen öster-
reichischen Rabbiner und Reichtagsabgeordneten zurückzog, der ihn öffentlich
der Inkompetenz und des Meineides bezichtigt hatte Der Name des Rabbiners
lautete Joseph Samuel Bloch! Vgl Erika Weinzierl: Katholizismus [und Juden-
tum) in Österreich, in: Kirche und Synagoge Handbuch zur Geschichte von
Christen und Juden Darstellung mit Quellen Hg v Karl Heinrich Rengstorf u
138 Ball und das Judentum

wie oft bei Ball, bedeutend verkürzten Zusammenhänge" Bloch wußte


allerdings nur zu gut, daß die Berufung auf 'das eigentlich Gemeinte'
im journalistischen Alltagsgeschäft keine Entschuldigung sein konnte
Im pragmatischen Blick auf die Rezeptionssituation, d h auf die
schnelle Lektüre vor allem durch „die Uneingeweihten und nun gar die
Schweizer Lölis" - die Freie Zeitung war immerhin eines der auflagen-
stärksten Blätter des Landes -, war Balls „Art des Antisemitismus", wie
Bloch festhielt, in der Tat „skandalös" In seiner gut ein Jahr später
erschienenen Rezension der Kritik der deutschen Intelligenz, eines
Buches von insgesamt mehr als 320 Seiten, kam er denn auch nur noch
sehr am Rande auf das Thema zurück29, auch Walter Benjamin und
Gerhard Scholem, die sich schon bald nach Erscheinen mit der Kritik
befaßt hatten, nahmen bezeichnenderweise Anstoß zwar an Balls Kant-
Interpretation, nicht aber an seiner Behandlung des Jüdischen Pro-
blems"30 War es die allein im persönlichen Umgang zu erwerbende
Kenntnis der „tieferen Zusammenhänge", die ihnen Balls Angriffe auf
das Judentum ephemer erscheinen ließen? Oder gab es da etwas in Ge-
dankengang, Wortlaut und Assoziationsraum des Buches selbst, das
zumindest darauf hindeutete, worum es Ball wirklich zu tun war? Hatte
Ball die „tieferen Zusammenhänge" endlich offengelegt? Ging es ihm
wie in dem inkriminierten Artikel der Freien Zeitung auch hier um eine
Kritik allein „an dem abgefallenen und abgeirrten Judentume", eine
Kritik, die, wie Bloch glaubte, „das Wesen" des Judentums, „das Te-
stamentliche", den „Sinai" unberührt ließ?

II Die Zeit des politischen Journalismus

1 „Die Bibel und die jüdische Tradition"

Auch Gerd-Klaus Kaltenbrunner betont in seiner Einführung zu der


von ihm besorgten Ausgabe der Ball'sehen Antikriegsschrift, Ball habe
mit seinen "gelegentlichen kritischen Bemerkungen über das Judentum

Siegfried von Kortzfleisch (1970), Bd. II München 1988, bes S. 507-510, Zitat
508
Vgl Ernst Bloch: Rez „Zur Kntik der deutschen Intelligenz", in: Die Weltbühne
15/2(1919), S. 53-55.
Vgl Gershom Scholem Walter Benjamin - Die Geschichte einer Freundschaft
Frankfurt 1975, S. lOlf.
Bernd Wacker 139

[...] charakteristischerweise niemals das Judentum überhaupt, sondern


allemal das deutsche, besser das deutschnationale im Auge [ge]-
ha[b]t. Daß das nur zum Teil richtig ist, zeigt schon jener - von
Kaltenbrunner freilich gestrichene - Passus des Vorworts, in dem von
der „Konspiration der jüdischen mit der protestantischen Theologie
(seit Luther)"32 die Rede ist, und bestätigen die folgenden Bezugnah-
men auf einzelne Themen und Motive jener Überlieferung, die Ball als
typisch jüdisch bzw orientalisch ausmachen zu können glaubt Auf
religionsgeschichtlich-exegetische Detailffagen oder theologiehistori-
sche Nachweise, Belege oder Einwände (etwa im Blick auf Luthers
Schriften gegen die Juden) läßt er sich jedoch nicht ein und thematisiert
für charakteristisch gehaltene biblische oder rabbinische Theolegoume-
na auch nur insoweit, als analoge Strukturen im protestantischen Glau-
ben vorliegen oder insofern sie historisch direkt für den Ungeist der
Reformation und, so vermittelt, für den preußisch-deutschen Willen zur
Unterwerfung Europas mitverantwortlich sein sollen „Um die Kultur-
basis ging in Europa", so umreißt Ball die ideenpolitische Situation des
16 Jahrhunderts, „damals der Streit. [...] Arabische, griechische und
jüdische Bildungselemente kämpften um den Vorrang Die italienische
und französische Renaissance entschied sich für den Hellenismus und
brachte dadurch Europa eine Lichtflut von Aufhellung, Aufklärung
Luther und die Deutschen entschieden sich für die Bibel und damit für
die jüdische Tradition. Dies bedeutete unendliches Dunkel, eine Vergif-
tung mit Theologie für das ganze Volk, schlimmer als sie unter den
Päpsten gewesen war, denn nun wurde ausdrücklich jedes einzelne
Individuum Theologe "33 Theologie ist von daher mit dem Hautgout

31
Kaltenbrunner, Einleitung zu Ball (Anm. 7), S 25.
" Ball, Kritik (Anm. 1), S. 3(Synopse) Der Herkunft dieser These kann hier nicht
nachgegangen werden Wichtig jedenfalls Friedrich Heers (Gottes erste Liebe
2000 Jahre Judentum und Christentum Genesis des östeneichischen Katholiken
Adolf Hitler München/Esslingen 1967, S. 377-383) Hinweis auf das unter dem
Titel Der Bolschewismus von Moses bis Lenin - Zwiegespräch zwischen Adolf
Hitler und mir 1924 erschienene Buch des völkischen Ideologen Dietrich Eck-
hart, das ähnlich wie Ball und doch in völlig anderer Absicht die angebliche jüdi-
sche Unterwanderung des Protestantismus und deren negative Folgen für
Deutschland zum Thema machte Eckhart und sein Duzfreund beziehen sich al-
lerdings auch auf Luthers späte antisemitische Schriften, die in Balls Kritik nicht
einmal mit einem Satz erwähnt werden
33
Ebd S 31f(43)
140 Ball und das Judentum

jüdischer Herkunft belastet und weitgehend negativ konnotiert, theolo-


gische Diskussion deutet auf „Rabbinerverstand" und dessen „talmu-
distische Freude am Räsonnement"34 Inhaltlich gründet sie im mosai-
schen Bekenntnis zu dem „alttestamentarischen Obrigkeitsgott Jeho-
va", dem „rächenden, strafenden Judengott"35 und dem durch nichts zu
erschütternden messianischen Anspruch, Israel und die Juden seien das
auserwählte Volk dieses Gottes36 Luthers Bibelübersetzung und das
von ihm gepredigte Schriftprinzip erst hätten diese jüdischen Gewißhei-
ten zum deutschen Gemeingut gemacht. Über die protestantisch ge-
prägte Philosophie des deutschen Idealismus fest mit der junkerlich-
preußischen Tradition verbunden, habe das jüdische Erbe der Refor-
mation auf diese Weise nicht wenig zur religiösen Sanktionierung und
metaphysischen Legitimierung des autoritären Obrigkeitsstaates in
Deutschland beigetragen Nichtsdestoweniger jedoch seien dessen ei-
gentliche Wurzel zuerst und vor allem jüdisch „In dem Augenblick",
so kann Ball in der Hoffnung auf die aufklärende und befreiende Wir-
kung seines Buches darum formulieren, „wo der Nachweis erbracht
werden kann, dass die 'protestantische Staatsiddee' von der jüdischen
Theologie ihre Macht bezieht, fällt die importierte Autorität dieses
Staatsgedankens, und seine orientalischen Elemente, Despotie und
Prostration, Isolierung im Anspruch das auserwählte Volk zu sein,
Unterordnung unter eine göttliche Abstraktion, Ausbeutung durch
egoistische Prinzipien, werden verschwinden [...]" 37
Nun läßt Ball keinen Zweifel daran, daß die angezielte 'Entjudaisie-
rung' der theologisch-politischen Tradition in Deutschland auch vor
dem Neuen Testament der christlichen Volkskirchen nicht halt machen
kann Zwar erwecken seine knappen und auch diesbezüglich nicht im-
mer konsistenten Ausführungen gelegentlich den Anschein, die Unter-
scheidung zwischen Despotie und „christlicher Demokratie" entspreche
der zwischen Altem und Neuem Testament38; die für den Ball der Kri-

34
Ebd. S. 281 Anm. 47(287 Anm 45); von der Tendenz her ähnlich 53(65) u
170(182).
35
Ebd S. 183(195).
36
Vgl ebd. S 166(180f)u ö
37
Ebd S 166f(181)
38
Ball führt diese Unterscheidung auch sonst immer wieder ins Feld: vgl. ebd S
166(180f), 182(197) u ö Den „Einfall ich weiß mcht welches jüdischen Theolo-
Bernd Wacker 141

tik entscheidende - nietzscheanisch belehrte, aber anarchistisch inspi-


rierte - Alternative jedoch lautet anders, sie heißt „Christus oder Je-
hova" Die Evangelienkritik der verschiedenen Zeiten und Schulen
nämlich habe ergeben, so Ball, „dass die Evangelientexte schon von
frühesten jüdischen Ekklesiastikern und Rabbinern bearbeitet wurden,
ja dass die Apostel selbst bewußte oder unbewußte Redakteure des
göttlichen Wortes waren"41 und in diesem Tun das Werk des Meisters
gründlich entstellt hätten „An die Liebesgebote Christi, wie sie, einfach
und aller Kreatur verständlich, die Bergpredigt enthielt, knüpfte Paulus,
der bekehrte Rabbiner, seine persönliche Interpretation der persönli-
chen Tragödie Christi"42; er vor allem war es, der nicht nur im Namen
eines falsch verstandenen Christus jeder Obrigkeit bedingungslos zu
gehorchen predigte43, sondern der auch die Jüdische Legende vom
erlösenden Genie der Demut als erster durch Theologenbeiwerk über-
trieb und veränderte" und so jene christliche Erlösungslehre schuf, die
Ball als „Versöhnungsfrieden [...] zwischen einem Richtergott und sei-
nem rebellischen Sohne" auslegt, als einen Scheinfrieden freilich, der
„Unversöhnliches vereinte und den rebellischen Christen, vom Schinder

gen, das Alte und das Neue Testament buchbinderisch in Zusammenhang zu


bringen", bezeichnet er als „teuflisch" (Kritik, S 32[44]).
39
Daß Ball sich in seiner Ablehnung des „Judäochristianismus" bei gleichzeitiger
Hochschätzung des „ersten Christen" aus Nazareth weitgehend von Friedrich
Nietzsches Ausführungen zum Ursprungsverhältnis von jüdischer und christli-
cher Tradition leiten läßt, hebt er durch einen expliziten Hinweis im Text wie in
den Anmerkungen selbst hervor; vgl. Kritik, S. 32ff.(43ff), 245f.(255f). Gegen-
über dem entsprechenden Referat im abschließenden Teil seines Dissertationspro-
jekts von 1909/10 Nietzsche in Basel bietet die Kritik für die hier dargelegten Zu-
sammenhänge nichts Neues, hatte doch auch schon der Basler Altphilologe Lu-
ther als „unmöglichen Mönch", weil als „Verderber der Renaissance zugunsten
des Christentums und der Moral" charakterisiert und, was wichtiger ist, das Vor-
henschen des jüdischen Elements im Protestantismus konstatiert; vgl. Ball,
Künstler (Anm 18), S 61-101, bes. 92-95 Gleichwohl lehnt Ball Nietzsches
Angriff auf die „christlichen, menschlichsten Tugenden", als da sind „Näch-
stenliebe, Mitleid, Charität*', strikt ab, ist ohne sie doch die wahre Demokratie
mcht denkbar; vgl. Kritik, S. 222-228(235-239)
40
Ball, Kntik (Anm. 1), S. 167(181).
41
Ebd S. 228(240)
42
Ebd S. 230(241f).
43
Vgl ebd S 33(44), 166(180f)
142 Ball und das Judentum

gekreuzigt, dem alten Judengott unterwarf' Nicht nur das Alte Te-
stament, auch „das Märchen vom toten, gekreuzigten Gotte"45 und die
mit ihm einhergehende götzendienerische Inkarnationslehre46 aber sind
dem 20 Jahrhundert endgültig fremd geworden Jeder Gedanke an
Erlösung durch ein göttliches Individuum nämlich verschleiere das
Ausmaß der wirklichen deutschen Schuld und lasse zudem darüber
hinwegsehen, daß die abgöttische Verehrung der Bismarck, Ludendorff
und Hindenburg nur politisches Abbild und Variante des in der kirchli-
chen Christologie zum Ausdruck kommenden Geniekults sei47. Oder,
wie Ball, Bruno Bauer paraphrasierend, in historischem Vergleich fest-
hält der allmächtige Kaiser, „der Weltherr in Rom, der alle Rechte
repräsentiere, der Leben und Tod auf seinen Lippen trage, (habe) an
dem Herrn der evangelischen Geschichte, der mit einem Hauch seines
Mundes den Widerstand der Natur bezwinge oder seine Feinde nieder-
schlage, der sich schon auf Erden als den Weltherrn und Weltrichter
ankündige", einen Bruder, „einen feindlichen Bruder zwar, aber einen
Bruder"48
Auch wenn Ball hinsichtlich des Selbstbewußtseins des historischen
Jesus in Erwägung zieht, ob Mt 16,18, „das Evangelienwort von Petrus
dem Fels, und der Kirche, die darauf gebaut werden soll", nicht doch
authentisch sei und das jüdische Rezidiv in der Geschichte des Men-
schensohnes darstelle49, so glaubt er doch, im Neuen Testament, d h
vor allem in der Bergpredigt, den „'radikalen, revolutionären Chri-
stus'"50 Wilhelm Weitlings und aller anderen religiösen Anarchisten,
Republikaner, Kommunisten und Sozialisten der Neuzeit finden zu
können und damit jene urchristlichen Ideale und Prinzipien, auf die die
zu konstituierende „Kirche der demokratischen Intelligenz"51 nicht
verzichten kann Sie sind und bleiben freilich, wie von Feuerbach zu
lernen sei, das Ergebnis des nicht länger aufzuschiebenden Versuchs,
„die jüdischen Elemente des offiziellen Christentums abzulösen [...] mit

44
Ebd. S. 33(44).
45
Ebd S 181(193)
46
Ebd. S. 229f.(241ff.)
47
Ebd. S 33f.(45).
4S
Ebd. S 183(195).
49
Ebd S. 229(241).
50
Ebd. S. 163(177).
51
Ebd S. 238(250).
Bernd Wacker 143

erlöster Liebe des Menschen zum Menschen" , für die auch Christus
von Nazareth gelebt habe

2 „Deutschtum und Judentum"

Man könnte die der Kritik der deutschen Intelligenz zugrundeliegende


These vom Ursprung der deutschen Verhältnisse aus dem Geist der jü-
dischen Bibel für eine nichts als ressentimentgeladene, zudem schlecht
informierte Bausche Idiosykrasie halten, hätte ihr Verfasser nicht sel-
ber auf deren 'Sitz im Leben' des um seine volle Emanzipation betro-
genen assimilierten deutschen Judentums aufmerksam gemacht
Schon Heine hatte, worauf Ball hinweist, den inneren Zusammenhang
der protestantischen Theologie mit der deutschen (idealistischen) Phi-
losophie insbesondere seit Kant ausführlicher zum Thema gemacht53
Dabei allerdings habe er sich gründlich über den Protestantismus und
die deutsche Philosophie getäuscht, hielt er sie doch für den Blitz, dem
der Donner der Revolution auf dem Fuße folgen werde54 So oft Ball
Heine darum auch erwähnt, der Bezugspunkt seiner Thesen zum Zu-
sammenhang von jüdischer und protestantischer Theologie und deren
geheimbündlerischer Mitursächlichkeit für Preußen-Deutschlands mi-
litärischen Griff nach der Weltmacht dürfte woanders zu suchen sein
Die Rede ist von Hermann Cohen, dem, so Ball, im April 1918 ver-
storbenen „Vorkämpfer des deutschen Judentums"55
Der als Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus be-
kanntgewordene Philosophieprofessor56 lehrte seit 1876 in der hessi-

Ebd S 184(196)
Vgl auch die folgende Notiz Heines, die Ball allerdings nicht zitiert „Die Ger-
manen ergriffen das Christentum aus Wahlverwandschaft mit dem jüdischen Mo-
ralprinzip, überhaupt dem Judaismus - Juden waren die Deutschen des Onents -
und jetzt sind die Protestanten in den germanischen Ländern (Schottland, Ame-
rika, Deutschland, Holland) nichts anderes als altorientalische Juden " (Heinrich
Heine Aufzeichnungen, in: Sämtliche Schriften (Ulllstein Werkausgabe) Bd 11,
S 611-669, 642) Breiter ausgeführt findet sich dieser Gedanke auch in den Ge-
ständnissen (a.a.O. 485ff).
Ball. Kntik (Anm 1), S 105(118) u ö
Ebd S 166(180) und Folgen (Anm 21), S 97
Zur biographisch-bibliographischen Erschließung des Werkes vgl: Franz Orlik
(Hg): Hermann Cohen (1842-1918) Kantinterpret, Begründer der Marburger
Schule". Jüdischer Religionsphilosoph Katalog einer Ausstellung in der Uni-
144 Ball und das Judentum

sehen Universitätsstadt an der Lahn, sein Leben lang geprägt von ei-
nem emphatischen Nationalbewußtsein, wurden ihm Heinrich von
Treitschkes „Die Juden sind unser Unglück" und der dadurch ausgelö-
ste sog Berliner Antisemitismusstreit7 zum Anlaß, für die volle und
ungeschmälerte Integration der Juden als religiös selbständiger Ge-
meinschaft in die Gesellschaft des zweiten Kaiserreiches einzutreten
Dabei hob er beginnend mit seiner Bekenntnisschrift von 1880 immer
wieder darauf ab, daß „der Religions-Inhalt des israelitischen Monothe-
ismus mit dem Religions-Inhalt des in geschichtlichem Geiste gedach-
ten Christentums vereinbar und zur Volksgemeinschaft zureichend
sei"58, und versuchte nicht zuletzt in seinen Darlegungen zum Gang des
deutschen Geistes aufzuzeigen, „wie aus der Geschichte der Juden und
der deutschen Judenheit insbesondere hervorgeht, daß ihre religiöse
Entwickelung in der geschichtlichen Tendenz des deutschen Protestan-
tismus verläuft"59 Nach seiner Emeritierung im Jahre 1912 siedelte
Cohen nach Berlin über, wo er bis zu seinem Tod an der „Lehranstalt
für die Wissenschaft des Judentums" aktiv war und sich immer stärker
als jüdischer Religionsphilosoph profilierte Noch im März 1918 rief er
zur Gründung einer „Akademie für die Wissenschaft des Judentums"
auf, Aufgabe dieser Institution sollte es sein, „Männer der gelehrten
Forschung, welche nicht zugleich Träger des geistlichen Amtes sind",
heranzubilden, um so dem Judentum den für seine Existenz als lebendi-
ger Kultuneligion notwendigen „freien Geist der Wissenschaften" zu
sichern60 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg galt Cohen als einer
der bekanntesten und einflußreichsten Philosophen in Deutschland
Doch nicht die großen fachphilosophischen Werke, sondern seine an
den 'Ideen von 1914', 'an Deutschlands gerechter Sache' festhaltenden
Kriegsbroschüren waren es, die ihn in den Augen Balls, der sich dabei

versitätsbibliothek Marburg Marburg 1993, Helmut Holzhey (Hg): Hermann


Cohen. Frankfurt 1994.
'7 Vgl die gesammelten Dokumente bei Walter Boehlich (Hg): Der Berliner Anti-
semitismusstreit Frankfurt 1988; das Treitschke-Zitat dort S 13
58
Hermann Cohen: Ein Bekenntniß in der Judenfrage, in Boehlich (Anm. 71),
S 126-151, 133
w
Ebd.
60
Vgl Orlik (Anm 56), S 158. Wenn Ball, Kntik (Anm. 1), S. 134(148) Cohens
„Eintreten für eine jüdische Universität in Deutschland" erwähnt, so dürfte damil
das Akademieprojekt gemeint sein
Bernd Wacker 145

vor allem auf Deutschtum und Judentum bezieht, als einen der wich-
tigsten Repräsentanten des deutschjüdischen Chauvinimus erscheinen
ließen Denn Cohen hatte ja nicht nur, wie Ball schreibt, „die Bezüge
nachgewiesen, die seit Luthers Uebersetzung des alten Testaments und
Moses Mendelsohns Ritualreform den jüdischen mit dem deutschen
Geiste verbinden", sondern auch den „Messianismus", diesen „Grund-
pfeiler des Judentums", „seine Krone und seine Wurzel"62, auf die
preußisch-deutsche Staatsidee und deren Weltgeltung hin ausgelegt, ja
der einflußreiche Kantinterpret war auch der festen Überzeugung ge-
wesen, die Entstehung der preußischen Heeresverfassung aus dem
Geiste des Königsberger Philosophen aufweisen zu können63 Kaum
eine der von Ball in seiner Kritik behaupteten Filiationen der deutschen
Ideologie also, die sich - in exakt gegenläufiger Wertung - nicht bei
Cohen zumindest angedeutet fänden Die Eigentümlichkeit des deut-
schen Geistes, die der Philosoph als Unterpfand künftiger deutscher
Vormachtstellung in einem noch zu schaffenden Staatenbund be-
schwor, wurde in Balls Kritik zum Schibboleth, an dem sich die Geister
schieden

3 „Adoptivprotestanten aus materialistischer Wahlverwandtschaft"

Dies gilt in besonderer Weise für die Einschätzung der historischen


Rolle der deutschen Sozialdemokratie „Sie bewährt sich", hatte Cohen
geschrieben, „in unseren Tagen in echter Deutschheit auch für die

Vgl Hermann Cohen: Deutschtum und Judentum Mit grundlegenden Betrach-


tungen über Staat und Nationalismus Göttingen 1915 Dieser für ein breiteres
Publikum bestimmte Text fußt auf einem am 14 10 1914 vor der Kantgesell-
schaft gehaltenen Vortrag Cohens Über die Eigentümlichkeit des deutschen Gei-
stes (Berlin 1914), der einige der in der späteren Schrift angesprochenen Zu-
sammenhänge näher erläutert
Ball, Kritik (Anm 1), S 166(180); Cohen, Deutschtum (Anm 61), S. 28.
Vgl Cohen, Eigentümlichkeit (Anm 61), S 32f sowie ders Kantische Gedan-
ken zum deutschen Militarismus Berlin 1916 Die Betonung der unlöslichen
Verbundenheit des deutschen Geistes mit dem deutschen Militarismus war aller-
dings nicht auf Cohen beschränkt, sondern ist, wie Klaus Schwabe in seiner Un-
tersuchung Wissenschaft und Kriegsmoral Die deutschen Hochschullehrer und
die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges (Göttingen 1969. S 25) re-
sümiert, in fast allen intellektuellen Manifesten, professoralen Kollektivadressen
und entsprechenden Einzelschnften der Zeit nachzuweisen
146 Ball und das Judentum

Prüfüngszeit unseres Volkes und unseres Staates [...] und es ist wie-
derum ein innerstes Zeugnis für die seelisch sittliche Verwandtschaft
von Deutschtum und Judentum, daß Karl Marx mit seinem Blute und
Ferdinand Lassalle mit der religiösen Gesinnung seiner Jugend, ihre
Spuren in diese Epoche der Geschichte des deutschen Staatswesens
eingegraben haben Für den deutschen Arbeiter, für die Mehrheit des
deutschen Volkes ist dadurch der geschichtliche Begriff des deutschen
Juden von jener Beschimpfung erlöst, durch deren sprungweise Er-
neuerung auch das Vaterland Lessings auf verhängnisvolle Abwege
zeitweilig verlockt wurde "64
Auch in diesem Punkt affirmiert Ball Cohens „Verwandtschaftshese"
nur, um sie sogleich in ihrer wahren, der Einschätzung des Philosophen
diamentral entgegengesetzten Bedeutung aufzuzeigen Auf wenigen
Seiten sind hier die meisten jener Sätze versammelt, die Ball den Ruf
des rabiaten Antisemiten eingetragen haben65, sie sind im Anhang des
Beitrages dokumentiert und müssen an dieser Stelle nicht noch einmal
wiedergegeben werden Ihren Tiefpunkt erreichen sie in der Behaup-
tung, „die Ermöglichung des furchtbarsten aller Kriege, die Vernich-
tung von 20 Millionen Menschenleben" und der „Ruin Deutschlands"
verdankten sich der herrschenden „Diktatur des Deutschjudentums",
diese aber sei zutiefst in Person und Werk zunächst Ferdinand Lassal-
les, dann aber vor allem Karl Marxens, genauer: in ihrem Judesein be-
gründet Auch Cohens neukantianisch-revisionistischer Blick auf die
Sozialdemokratie in Deutschland hatte „die materialistischen Anhäng-
sel" durchaus nicht unterschlagen, „die als fremdes, verderbliches Bei-
werk ihrem ethischen Kerne anhaften"66 Ball aber hielt gerade dieses
„Beiwerk" für konstitutiv und fragte seiner Unterscheidung zwischen
Sozialismus und Sozialdemokratie entsprechend mit Bakunin, „wie
weit jüdischen Naturen überhaupt der freie Sozialismus entsprechen
konnte"67
Die Frage trägt die Antwort in sich Denn das, was den aus Rabbiner-
geschlecht stammenden, und wie Ball glaubt, talmudisch geschulten
Marx als Juden identifiziert, ist neben seinem in der alttestamentlichen
Tradition wurzelnden Glauben an die Notwendigkeit des autoritären
64
Cohen, Deutschtum (Anm 61), S 33
65
Vgl Ball, Kntik (Anm. 1), S. 165-169
66
Cohen. Deutschtum (Anm 61), S 33.
61
Ball. Kntik (Anm. 1), S. 168(Synopse).
Bernd Wacker 147

Staates der die Geschichte seines Volkes von Anfang an charakterisie-


rende Positivismus bzw Materialismus, ist jene „nach seinen eigenen
Worten 'chimärische Nationalität der Juden', die Internationale des
Geldmenschen und Kaufmanns"68. In Anküpfüng an Ludwig Feuer-
bachs anthropologische Bestimmung des Judentums als „Religion des
selbstischen Interesses", hatte ja, wie Ball offensichtlich zustimmend
referiert, Marx selbst das monotheistische Bekenntnis auf seinen wirk-
lichen, weltlichen Grund - das Geld und den Schacher - zurückgeführt,
wobei die alle substantielle Idealität leugnende Religionskritik ihren
Verfasser noch einmal sicherer als Juden ausweise, als es alle religiösen
Formeln vermöchten Nichts wäre darum verfehlter, als in dem Religi-
ons- und Kapitalismuskritiker Marx einen Gegner auch der durch und
durch materialistischen jüdischen Welt-Anschauung oder gar einen
politischen bzw sozialen Revolutionär sehen zu wollen Daß der Um-
sturz der Bolschewiki in Rußland und alle im ökonomischem Umbau
der Gesellschaft steckenbleibenden Revolten besonders auf das jüdi-
sche Gemüt eine so frappante Anziehung ausüben, erklärt sich nach
Ball aus dieser dem Marxismus von Anfang an inhärenten „Überschät-
zung der Gebrauchsgegenstände, der Barzahlung und der Materiali-
en"6 Proletariat und Kapital sind sich in ihrer Denkform, im prakti-
schen Nihilismus ihrer Weltanschauung nämlich, nur zu ähnlich, Marx
und Rothschild70 haben mehr miteinander gemein als der naive Gläubi-
ge marxistischer Phrasen und Parolen zunächst glauben mag Jeder

Ebd S 190(Synopse).
Ball, Künstler (Anm 18), S 250 - "Unter sechs Männern des Exekutivkomnu-
tees", heißt es im Tagebuch (Flucht, S 253) am 5. 11. 1919 zur Rolle von Juden
in der Oktoberrevolution, „sind wenigstens vier Juden Dagegen ist gewiß nichts
einzuwenden, im Gegenteil, die Juden waren in Rußland allzu lange und allzu
grausam unterdrückt Aber abgesehen von der rechtlich indifferenten Ideologie,
an der sie teilnehmen und ihrer programmatisch matenellen Denkart, müßte es
sonderbar zugehen, wenn sich in diesen Männern, die über Enteignung und Ter-
ror bestimmen, nicht alte Rassen-Ressentiments gegen das orthodoxe und pro-
gromistische Rußland regen sollten " In der Kritik, S 12(22) ist genau in diesem
Zusammenhang von Jüdischem Revanchetenor" die Rede. Daß die russischen
Geschehnisse in Deutschland revolutionäre Folgen haben könnten, glaubt Ball
nicht: „Der Marxismus hat in Deutschland als 'Judenbewegung' wenig Aussicht
auf Popularität" (Flucht, S 167)
Vgl Ball, Kntik S 294 Anm. 102(Synopse)
148 Ball und das Judentum

Versuch, diesen „ökonomischen Jehova"71 für den freien Sozialismus


zur retten, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn, so Ball
mit kaum glaublichem antisemitischen Zungenschlag, nicht zu unter-
schätzen sei „die generelle Methodik der jüdischen Rasse, in der nicht
die Leistung des Einzelnen entscheidet, sondern das Resultat, zu dem
seine konspiratorische Arbeit oft erst nach Generationen führt Der
Einzelne opfert sich für die jüdische Idee Der Einzelne kann Revolu-
tionär sein, er kann seine Rasse scheinbar verraten Die Entwicklung
aber wird beweisen, dass er doch nur ihr allein verantwortlich war Karl
Marx kann man als Juden nicht beurteilen, ohne erlebt zu haben, wie
ein späterer Jude, Walter Rathenau, die von Marx und Lassalle organi-
sierten und politisierten Massen mit staatskommunistischen Vorschlä-
gen der Regierung und der Expropriation direkt auszuliefern ver-
sucht."72
Walter Rathenau: Bei einer Begegnung mit dem als Sonderbeauftrag-
ten des Auswärtigen Amtes aus Berlin angereisten Max Scheler, an der
auch Bloch teilgenommen hatte, war das Gespräch u a auch auf den
politisch ambitionierten Präsidenten der AEG, vielgelesenen Schriftstel-
ler und erfolgreichen Organisator der kriegsdeutschen Rohstoffversor-
gung gekommen73 Worüber damals im November 1917, genau ge-
sprochen wurde, ist allerdings nicht bekannt, und unklar bleibt auch, ob
Ball schon damals Rathenaus gegenwartsdiagnostisch-sozialpolitische
Schriften zur Kenntnis genommen und über dessen langjährigen Annä-
herungsprozeß an die eigene jüdische Herkunft unterrichtet war74 Je-
denfalls setzte er sich in einem Walter Rathenau überschriebenen Arti-

71
Vgl Ball, Flucht (Anm 22), S.173f. (Eintrag v 10 7 1917). Zitat: 173.
72
Vgl Ball, Kritik (Anm 1), S. 169 (Synopse)
73
Vgl Hugo Ball: Briefe 1911-1927 Hg. v Annemane Schutt-Hennings Einsie-
deln u a. 1957, S. 97 Zur Einführung in Leben und Werk Rathenaus vgl den
Katalog der Ausstellung des Deutschen Historischen Museums: Hans Wilderotter
(Hg ) Die Extreme berühren sich Walter Rathenau 1867-1922 Berlin 1993.
4
Ball zitiert aus bzw verweist später auf Zur Kritik der Zeit (1912), Zur Mecha-
nik des Geistes (1913), Von kommenden Dingen (1917) und bezieht sich auch au
die ebenfalls 1917 erschienene Broschüre Eine Streitschrift vom Glauben, mit der
Rathenau jede Konversionsforderung an das zeitgenössische Judentum entschie-
den zurückwies Von Höre, Israel, Rathenaus 1897 veröffentlichtem und später
zurückgenommenem Appell zur vollständigen kulturellen Assimilation der deut-
schen Juden, ist nicht die Rede
Bernd Wacker 149

kel der Freien Zeitung vom 12 Januar 191875 mit dessen im Vorjahr
erschienenem und in großer Auflage verbreiteten Buch Von kommen-
den Dingen ausführlich und äußerst kritisch auseinander Daß er weni-
ge Monate später im Blick auf die Feierlichkeiten zur bevorstehenden
Wiederkehr des 100. Geburtstages von Karl Marx insinuierte, „der
stammverwandte Herr Rathenau wird sprechen über das Thema
'Sozialismus zum Besten des Staates'"76, mag manchem Leser des
Blattes als bloß satirische Volte erschienen sein In Wahrheit aber hielt
sie fest, daß der vielberufene 'wirtschaftliche Generalstabschef hinter
der Front', ohne dessen Engagement der Krieg kaum länger als ein
halbes Jahr durchzuhalten gewesen wäre, nicht eigentlich, wie es im
Januar-Artikel geheißen hatte, als „Repräsentant jenes egozentrischen,
deutschen Deliriums, das alles Unglück der Welt provoziert hat"77 be-
trachtet werden dürfe, sondern für Ball inzwischen zur Symbolfigur des
deutschnationalen Judentums und seines im wahrsten Sinne des Wortes
verheerenden Kampfes um Anerkennung geworden war Zwar hatte er
schon im Januar Rathenaus Konzept einer sog deutschen Gemeinwirt-
schaft, die auf die Forderung industrieller Selbstverwaltung unter staat-
licher Kontrolle hinauslief78, ähnlich charakterisiert wie ein Jahr später
in der Kritik „Der materiell unbeschränkte Staat", so las man dort,
„soll Zustandekommen, und zwar dadurch, daß der preußische Feuda-
lismus die kommunistischen Ideen und die Plutokratie säkularisiert
Was für einen Vorteil hat der Staat davon*? Er nimmt auf diese Weise
dem Klassenkampf die Spitze und gelangt gleichzeitig zu unerhörtem
Reichtum, den er je nachdem für Kulturgüter (in Preußen!), oder für
eine nie dagewesene Kriegswirtschaft verwenden kann"79 Doch erst
hier wird „Rathenaus Ideal [...] eine[r] Vertrustung der Industrie- und
Bankkonzerne von Staats wegen"80 mit der bei Marx und Lassalle be-
ginnenden zutiefst jüdischen Pervertierung des ursprünglichen Kom-

Vgl Ball, Künstler (Anm 18), S 208-212


Vgl Ball: Der ausgenagelte Hindenburg, in: Ball, Künstler (Anm 18), S 213-
215,214.
Ebd S 212
Vgl Wolfgang Kruse: Kriegswirtschaft und Gesellschaftsvision Walter Rathe-
nau und die Organisierung des Kapitalismus, in: Wilderotter (Anm. 73), S: 151-
168
Ball, Künstler (Anm 18), S 209f
Ball, Kntik (Anm 1), S. 295 Anm 106(Synopse)
150 Ball und das Judentum

munismus der Buchez und Cabet, der Owen und Weitling, d h dem
religiös fundierten „freien Sozialismus" ausdrücklich in Verbindung
gebracht Beide Texte aber sehen in dem schriftsteuernden Großindu-
striellen allein den „Aktienevangelistfen]" und „Staatsmogul"81, der
seinen auf den individuellen nicht weniger als auf den Staatsvorteil be-
dachten Machiavellismus82 hinter einer Wolke philosophischen Voka-
bulars und idealistischer Mystifikationen zu verbergen suche83
Man habe, bemerkt Ball, Von kommenden Dingen in der protestanti-
schen Presse mit Luthers Aufruf An den christlichen Adel teutscher
Nation verglichen84 Und in der Tat gelinge es Rathenau immer wieder,
sich in den entsprechenden Kreisen Gehör zu verschaffen „Indem er
die dralle Kokotte Germania am Reformationsbusen kitzelt Mit Seele,
Glaube, Gewissen, Verantwortung, mit Vokabeln aus der Bibelsprache,
Transzendenz, Freiheit [...] und einem wohl arrangierten, undurchsich-
tigen, anonym intellektualisierten Stil, aus dem der Durchschnittspastor
nur die lutheranische Phrase, gewissermaßen das Evangelium heraus-
zuhören braucht, um begeistert zu sein Herr Rathenau präsentiert sich
indessen nicht nur in der Geste des Reformators, er präsentiert sich in
allen Rollen, die der preußischen Tradition teuer sind "85 Kurz In Ra-
thenau hat Balls These von der fortwirkenden Konspiration der prote-
stantischen mit der jüdischen Theologie ihren lebenden Beweis gefun-
den
Obwohl es allein die Juden sind, denen Ball die materialistische Um-
wertung aller Werte explizit ins Stammbuch schreibt, bleibt er sich
nichtsdestoweniger der Tatsache bewußt - an der jeweiligen Zahl der
Seiten wird dies in der Kritik auch quantitativ sichtbar -, daß die deut-
sche Judenheit trotz des ihr zugeschriebenen nicht unbeträchtlichen
Einflusses im Vergleich zur protestantisch-preußischen Mehrheitskultur

81
Ebd S 60f.(73)bzw 122(136).
8:
Vgl ebd. S. 142(156) u. 122f(136f).
83
Zur Funktion von Rathenaus „individualaristokratischer Kulturkritik" vgl Hans
Dieter Heilige: Rathenau und Harden in der Gesellschaft des Deutschen Kaiser-
reiches Eine sozialgeschichtlich-biographische Studie zur Entstehung neokon-
servativer Positionen bei Unternehmern und Intellektuellen, in: ders - Ernst
Schulin (Hg ) Walter Rathenau - Maximilian Harden Briefwechsel 1897-1920
München/Heidelberg 1920, bes S 173-200.
84
Ball, Kntik (Anm. 1), S 295 Anm 106
85
Ball. Künstler (Anm 18), S. 211.
Bernd Wacker 151

des Reiches doch nur eine untergeordnete Rolle spielt Dabei deutet er
mit verschiedenen Hinweisen auf die schon bei Luther zu konstatieren-
de Absage an Askese und Spiritualität, Mystik und Symbolik86 wenig-
stens an, daß Materialismus und Nihilismus durchaus nicht nur in der
jüdischen Tradition zu Hause seien, sondern auch im Protestantismus
und seinen philosophischen und politischen Säkularisaten und erst recht
im protestantischen Bürgertum Heimatrecht beanspruchen dürfen Da
also auch das protestantische Deutschland allen religiösen oder kant-
ianischen Phrasen zum Trotz letztendlich nach der Maxime handele,
daß alle Ideen zu ihrer Durchsetzung auf die Allianz mit den materiel-
len Interessen angewiesen sind, kann in Umkehrung der gewohnten
Perspektive auf Heine, Marx, Lassalle und Rathenau einmal auch von
„Adoptivprotestanten aus materialistischer Wahlverwandtschaft"87 die
Rede sein - dies freilich nur in den klein gedruckten Anmerkungen am
Ende des Buches

4 „Anationale Israeliten" und die „Brüder Juden"

Nur wenige Tage nach der sog Novemberrevolution hatte die Freie
Zeitung einen schon oben angesprochenen Leitartikel aus der Feder
Balls gebracht, dessen letzter Abschnitt wie folgt lautete: „Und noch
eines Man schickt anationale Israeliten vor, um eine möglichst vorteil-
hafte Liquidation zu erreichen Auch das ist falsch Der Boden einer
israelitischen Republik ist das gelobte Land, nicht aber Deutschland
Wir arbeiten mit diesen Herren gerne, soweit sie sich unzweideutig zur
moralischen Tat bekennen Die Legende vom auserwählten Volk ist
besiegt Das alte Testament ist besiegt Berlin ist nicht mehr Sinai Wir
wollen eine deutsche Nation, eine deutsche Republik, wir wollen eine
deutsche Nationalversammlung, die die Geschäftemacher und Oppor-
tunisten desavouiert und sich zur Auferstehung einer großen wahrhaft

Vgl Ball, Kntik (Anm. 1), S. 25-29(36-41) u ö Diese Lime der Luther- und
Protestantismuskntik hat Ball nie wieder aufgegeben
87
Ebd S 264(272) Anm. 155; S 299(301f) Anm 17 ist vom „Optivprotestanten-
tum. dem außer Lassalle und Heine auch Marx verfielen" die Rede Gemeint ist
damit die Hegelverehrung dieser drei Männer, die - anders als Rathenau - alle
nach protestantischem Ritus getauft waren.
152 Ball und das Judentum

geläuterten Nation bekennt So, nur so, gewinnen wir das Vertrauen
der Welt zurück "88
Dieser Passus ist, worauf Rabinbach aufmerksam gemacht hat, einer
der wichtigsten Belege für Balls Beschwörung eines anderen, eines
neuen Deutschland jenseits von Preußentum und Protestantismus. Ist
damit aber nicht zugleich auch ein bakuninistisch-christliches Deutsch-
land ohne Juden gemeint9 Zwar hat sich Ball zum Thema nur beiläufig
geäußert, doch scheint er zumindest bis zur Niederlage des Deutschen
Reiches der Auffassung gewesen zu sein, einzig der Zionismus könne
eine befriedigende Lösung des jüdischen Problems bringen, weil er es
den deutschen Juden endlich erspare, sich mit dem herrschenden Anti-
semitismus arrangieren zu müssen, und auch für die verfolgten jüdi-
schen Menschen aus Rußland und Polen eine Lösung anbiete 89 Die
zitierten Sätze tragen jedoch unübersehbar einen anderen Akzent, ja
legen die Frage nahe, ob Ball seiner Zeit hier nicht gleichsam um zwei
Jahrzehnte voraus ist Plädiert er nicht für die Ausweisung der deut-
schen Staatsbürger jüdischen Glaubens, da sie seiner Auffassung nach
schlicht und einfach als 'undeutsch' zu gelten haben1? Und spinnt er
hier, nach dem Sturz der Monarchie und der Entmachtung der Ober-
sten Heeresleitung, nicht selber an jener Verleumdung fort, der diese
im Oktober 1916 mit der sog Judenzählung90 im Heer so bereitwillig
Vorschub geleistet hatten?
Der Kontext legt eine differenzierende Deutung nahe Denn wenn,
wie die Kritik festhält, der „Anationalismus der Juden" mit ihrem „Des-
interessement am nationalen moralischen Wettstreit"91 gleichzusetzen
ist, in letzter Instanz also auf ihren Materialismus zurückgeht, der alle
nationale wie persönliche Individualität negiere, dann gibt es Grund zu
der Vermutung, mit den „anationalen Israeliten" seien gerade, des ab-
gehalfterten Kaisers 'liebe Juden', genauer die jüdischen „Adoptiv-
protestanten" vom Schlage Rathenaus gemeint gewesen Anational
dürfen sie heißen, weil sie gegen Deutschlands wahre Interessen, gegen

Ball Die Umgehung der Instanzen (16 11 1919). in: ders . Künstler (Anm 18),
S. 231-233, 233.
Vgl ebd S 209, polemisch erwähnt wird der Zionismus in der Kritik, S 34 (45)
Vgl Manfred Messerschmidt Juden im preußisch-deutschen Heer, in Militärge-
schichtliches Forschungsamt (Hg): Deutsche Jüdische Soldaten 1914-1945
Herford/Bonn 31987, S 109-140, bes 119-123
Ball, Kritik (Anm 1), S 192(Synopse)
Bernd Wacker 153

die Bestrafung der Schuldigen und gegen die moralische Revolution


engagiert sind Schon im Januar 1918 hatte Ball das Gerücht kolpor-
tiert, „daß Herr Rathenau sich als deutscher Unterhändler in Rußland
befindet"92 Angesichts der politischen Verbindungen und internationa-
len Geschäftsbeziehungen des Berliner Wirtschaftsmagnaten auch in
die Staaten der Entente war die Vermutung, der spätere Außenmini-
sters sei auch jetzt wieder in Diensten des alten Reiches unterwegs, in
den ersten Tagen nach dem Waffenstillstand ja keineswegs völlig ab-
wegig Balls Polemik richtet sich dementsprechend gegen jene Schicht
jüdischer Intellektueller und 'Politiker', die auch jetzt noch an die Vor-
rangstellung und messianische Sendung Deutschlands glauben und dar-
um, wie er formuliert, „der eigentlichen, rein menschlichen Mission
sowohl des Deutschtums wie des Judentums"93 nicht gerecht zu wer-
den vermögen.
Ein weiteres Indiz für diese Lesart ist die offensichtliche Sympathie,
mit der Ball seit dem November 1918 die politische Theorie und Praxis
Kurt Eisners, des Ministerpräsidenten der ersten Münchner Räterepu-
blik, kommentiert94. Seine in einem Artikel der Freien Zeitung vom 1
März 1919 versteckte Beteuerung, mit der von ihm vertretenen Forde-
rung nach der Ausmerzung des Judentums in Deutschland habe er die
Verabschiedung des deutschen Messianismus gemeint, „ohne die Brü-
der Juden, die hierin meiner Ansicht sind, verletzen zu wollen"95, hat
denn auch genau „alle die trefflichen Führer und Menschen Liebknecht,
Luxemburg, Landauer, Eisner"96 im Blick, die um ihres Kampfes für
eine umfassende Revolutionierung der deutschen Verhältnisse der bru-
talen Gewalt der preußischen Henker zum Opfer gefallen waren Daß
hier allerdings von „Führern und Menschen", nicht von „Juden" die
Rede ist, dürfte bezeichnend sein Denn nach Ansicht Balls hatte neben
dem Nicht-Juden Karl Liebknecht auch der „freie Sozialismus" Rosa
Luxemburgs, Gustav Landauers und Kurt Eisners mit dem von ihm als
„anational" bekämpften „Deutschjudentum" und seinen politisch-messi-
anischen Traditionen längst gebrochen.

92
Ball, Künstler (Anm 18), S. 208
93
Ball, Kritik (Anm 1). S. 167(181).
94
Vgl Ball, Künstler (Anm 18), S. 235, 245-249, 255f.
95
Vgl ebd. S. 254-257, 256.
96
Vgl. ebd. S 262-265. 264
154 Ball und das Judentum

III Die Jahre nach der Reversion

1 Die jüdischen Wurzeln der Catholica

Vergleicht man vor diesem Hintergrund die einschlägigen Schriften der


folgenden Jahre, so fällt auf, daß Balls Hamburger Vortrag Abbruch
und Wiederaufbau91 vom 1 Juli 1920, gleichsam eine Kurzfassung der
Kritik, die These vom jüdisch-paulinischen Hintergrund der deutschen
Obrigkeitsstaates inhaltlich aufrechterhält, in seiner Auseinanderset-
zung mit der christlichen Dogmatik und ihren neutestamentlichen Refe-
renzen jedoch weitaus vorsichtiger verfährt, d h den jüdischen Anteil
der Bibel tendentiell mit den Schriften des „grausam finstere[n], geset-
zesstarre[n] Alten Testament[es]"98 identifiziert Eine erste Erklärung
dieses Befundes liegt auf der Hand: Balls Vortrag datiert in die Zeit
seiner Rückkehr zur katholischen Kirche, wodurch sich jeder Angriff
auf die Lehre von Inkarnation und Erlösung nun von selbst verbot Im
Fall des Alten Testamentes war ein vergleichbar radikaler Positions-
wechsel nicht notwendig Zwar hatte das Konzil von Trient diese 42
Bücher endgültig als integralen Bestandteil des katholischen Kanons
anerkannt, sie in Theologie und Pastoral jedoch nur zu oft als dunklen
Hintergrund mißbraucht, vor dem sich die Verkündigung Jesu um so
heller abheben sollte Doch trotz dieses kirchlich lizensierten Antiju-
daismus - das 'Entjudaisierungsprogramm' der Kritik in seiner Radika-
lität war für den bekennenden Katholiken unvertretbar geworden Ball
stand nun vielmehr vor der grundlegenden theologischen Frage, wel-
cher Stellenwert genau dem Ersten Testament im Glauben der Chri-
sten einzuräumen, wie insbesondere dessen Verhältnis zum Neuen Te-
stament und zur dogmatischen Tradition der römischen Kirche präzise
zu bestimmen und was von daher über die in der Karfreitagsliturgie
seiner Kirche apostrophierten „perfides ludaei" des christlichen Aons
zu sagen sei Andeutungen einer Antwort finden sich in seinem 1923
erschienenen Buch Byzantinisches Christentum" Daß der Revertit be-
müht ist, ganz in den dogmatischen Vorgaben der katholischen Traditi-
on zu denken, und also auch das Alte Testament - und zwar bevorzugt

Vgl. ebd (Anm 18), S 273-296


Ebd S. 281
Vgl Ball, Byzant Chnstentum (Anm 19)
Bernd Wacker 155

in seinen prophetischen Partien -, als Teil der einen Bibel betrachtet,


versteht sich nun beinahe von selbst Nicht ganz so selbstverständlich
aber ist die Wertschätzung, die er ineins mit der Geschichte des vor-
christlichen Israel jetzt auch der „altjüdischen Tradition" der Rabbi-
nen entgegenbringt Sie dürfte vor allem auf seine vorausgegangenen
hagiographisehen und dogmengeschichtlichen Studien zurückzuführen
sein Im Blick auf den Selbstklärungsprozeß der frühen Kirche, wie ihn
das Byzantinische Christentum als Auseinandersetzung mit den vielfal-
tigen Formen der antiken Gnosis und dem gnostisch inspirierten, späten
Neuplatonismus rekonstruiert, erscheint das jüdische Bekenntnis nun
als gleichsam natürlicher Verbündeter gegen die Häresien dieser paga-
nen Heils- und Erlösungslehren
Drei Aspekte vor allem hebt Ball hervor Die maßgebenden Theolo-
gen der ersten christlichen Jahrhunderte, unter ihnen vor allem diejeni-
gen der Schule von Alexandrien, greifen „unter dem Eindruck der
gnostischen Schöpfüngsthesen [...] auf die mosaische und prophetische
Tradition zurück", begründen das junge Christentum also „mit Vorliebe
gerade in den ältesten Urkunden jenes selben Judentums, das der
Gnostizismus in Grund und Boden verdammte"101 Aber nicht nur den
Glauben an Jahwe, den guten Schöpfergott, fanden die Väter in der
jüdischen Überlieferung - auch die paulinische Verkündigung Christi
als des Gekreuzigten ist ohne die Tradition seines Volkes nicht denk-
bar „Die Gnostiker hielten die Kreuzigung nur für ein Bild des überir-
dischen Abstieges, für eine krasse Metapher zur Unterstützung der
Volksphantasie Bei Paulus nun", so Ball, „wird die Kreuzestatsache
zum Mittelpunkt des Erlebens Die Religion seiner Vorfahren wirkt bei
ihm fort Der jüdischen Moral widersprach die Verwandlung des unge-
läuterten Menschen in ein Gottwesen Solcherlei Verwandlung aber
betrieben die Gnostiker Gerade weil Paulus im lautersten Sinne Jude
und Christ zugleich war, wird er der Herold der Kreuzespassion"
und damit zum Vater des christlichen Mönch- und Asketentums103 Ihm
zur Seite, die theologisch-priesterliche Tradition der östlichen wie der
westlichen Kirche inspirierend, steht „der Jude Philo"104, der große

Vgl ebd passim


11
Ebd S 163
12
Ebd. S 158
13
Ebd S. 180
14
Ebd. S. 67
156 Ball und das Judentum

Gelehrte des ersten Jahrhunderts, dessen Auftreten in Alexandria Ball


für die Ausbildung des Christentums „unübersehbare Bedeutung" zu-
schreibt „Während die palästinensischen Juden seiner und auch noch
späterer Zeit alles profane, zumal griechische Wissen verachteten,
bricht Philo in diesem Punkte mit der Tradition Mit umfassenden rab-
binischen Kenntnissen vereinigt er eine beispiellose griechisch-huma-
nistische, besonders philosophische Bildung, und dieses sein weltliches
Wissen dient ihm in vielfältiger Weise zur spekulativen Erschließung
der Heiligen Schriften Mit seinen wissenschaftlichen Waffen verteidi-
gen die christlichen Apologeten den neuen Glauben, mit seinen Argu-
menten bekämpfen die Häresiologen den Irrtum Er überliefert der
streitenden Kirche die großjüdische Tradition und zugleich den Schlüs-
sel zu ihrem Verständnis", die Lehre vom vierfachen Schriftsinn
„Unter Philos überragendem Einfluß", so faßt Ball seine Würdigung
zusammen, „bildet sich der Typus des christlichen Theologen, der zu-
gleich Geheimlehrer und Rationalist, Gelehrter und Hoherpriester,
Dichter und Apologet ist, dessen Interessenssphäre das menschliche
und das übermenschliche Wissen zugleich umfaßt."105

2 Theologische Rücknahme der Konspirationsthese

Schon in einem auf den 31 Juli 1918 datierten Tagebucheintrag Balls


hatte es geheißen, die Beanspruchung des Alten Testaments durch die
Reformation beruhe auf einem Mißverständnis, Luther und seinen
Mitstreitern nämlich sei der allegorische Charakter der Heiligen Schrift
entgangen, sie hätten, was „was die alten Juden geistig verstanden, [...]
sehr bald ins Materielle gewendet"106 Ob die genannte Datierung die-
ser Notiz ursprünglich ist, erscheint allerdings fraglich, dürfte sie doch
mit den etwa gleichzeitig entstandenen Ausführungen der Kritik kaum
zu vereinbaren sein Doch wie auch immer es damit stehen mag - dieser
Tagebucheintrag entspricht ganz und gar der im Byzantinischen Chri-
stentum unübersehbaren Tendenz, die These von der „Konspiration der
jüdischen mit der protestantischen Theologie (seit Luther)" theologisch
zurückzunehmen, Deutschlands Weg in den Ersten Weltkrieg und das
moralische Scheitern der Revolution von 1918/19 auf das Konto zuerst

Ebd S 181f
Ball. Flucht (Anm 22). S. 225; vgl dazu auch Anm 86
Bernd Wacker 157

und vor allem der Wittenberger „Mönchsrevolte" zu buchen Balls


nächste, 1924 erschienene größere Schrift trug denn auch nicht zufällig
den Titel Die Folgen der Reformation Der Protestantismus, so zeigt
sich hier, bleibt der Feind Nummer eins „Protestantismus und Katho-
lizismus aber, das sind nicht zwei christliche Sekten, mit gleichem Ma-
ße zu messen Sondern das ist die alleinseligmachende universale apo-
stolische Kirche und eine Häresie "108
Obwohl er die Folgen später selber einmal als eine um zwei Drittel re-
duzierte Neuausgabe seines unbekannt gebliebenen Buches von 1918
bezeichnet hat109, sucht man einen expliziten Hinweis auf die Kritik der
deutschen Intelligenz und dementsprechend eine Erklärung für die Ti-
teländerung in der Schrift von 1924 vergeblich, lapidar heißt es am
Anfang lediglich „Die vier Kapitel dieses Buches entstanden 1914 -
1918" Dieser Sachverhalt ist bezeichnend, macht er doch deutlich,
wie stark Ball einerseits an der Kontinuität seiner Kritik gelegen war,
wie sehr er aber die Folgen aufgrund der ihr zugrundeliegenden neuen
religiösen Lebensbestimmung als ein in letzter Instanz eigenständiges
Werk betrachtete Sie sind dies in der Tat nicht nur im Blick auf die
Streichung bzw Überarbeitung aller katholizismuskritischen Stellen,
sondern auch hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Judentum und
Protestantismus
Wie der hier nicht im einzelnen durchzuführende Vergleich der ent-
sprechenden Passagen deutlich macht, ist Ball bemüht, die Bedeutung
des Alten Testaments und der darauf Bezug nehmenden jüdischen
Überlieferung für die Barbarisierungsgeschichte Deutschlands weitest-
gehend zurückzunehmen Dem dienen nicht nur umfangreiche Strei-
chungen, sondern auch auffällige Neuakzentuierungen Aufgrund seiner
Studien zur kirchlichen Frühzeit steht Ball nun etwa Cohens These von
der Reformation als religiöser Erneuerungsbewegung aus dem Geist
des Prophetismus und der Psalmen in der Sache äußerst skeptisch ge-

Vgl Ball, Christentum (Anm. 19), S. 221f Anm 42.


8
Hugo Ball: Drei Geschichtswerke, in: Hochland XXIÜ72 (1926), S. 357-366,
365
9
Vgl Ball, Briefe (Anm. 73), S. 202; Balls energischen Streichungen - es gibt
allerdings auch einige neuformulierte Passagen - fielen ca 110 von ursprünglich
238 Seiten Text zum Opfer; von den ehemals 519 Fußnoten blieben lediglich 98
übng. auch diese zum Teil sehr gekürzt
"Ball. Folgen (Anm 21), S. 3
158 Ball und das Judentum

genüber Hieß es in der Kritik noch: „Seine [Cohens] aufschlußreiche


Broschüre 'Deutschtum und Judentum' stellt zwischen der jüdischen
Messiasidee und dem protestantischen Staatsdenken eine Allianz fest,
deren Tiefe und Bedeutung gerade Cohen nachdrücklichst betont Ich
bin ganz seiner Meinung, dass diese Allianz besteht [...]", so liest man
in den Folgen „Seine aufschlußreiche Broschüre stellt zwischen der
jüdischen Messiasidee und dem protestantischen Staatsgedanken eine
Verständigung fest, deren Tiefe und Bedeutung gerade Cohen nicht
unterschätzt wissen möchte In der Tat kann man zugestehen, daß der
Messianismus in Hegels Staatslehre sehr ausgeprägt hervortritt Und
ebenso bringen Marx und Lassalle dem abstrakten Vernunftstaat re-
formatorischer Herkunft eine Verehrung entgegen, die ebensosehr in
ihrem philosophischen Bildungsgange wie in ihren Neigungen begrün-
det ist" 111 Die deutsche Verderbnis der großen religiösen Überliefe-
rung des Judentums anzulasten, wird, so scheint Ball jetzt zu wissen,
weder der historischen Einsicht noch dem katholischen Bekenntnis ge-
recht Dementsprechend ist auch der größte Teil jener oben angespro-
chenen Passagen, die in den Neuauflagen der Kritik als antisemitisch
ausgeschieden wurden, in den Folgen nicht mehr zu finden, zudem hat
Ball nicht wenige Ausdrücke und Begriffe, die direkt dem antisemiti-
schen Sprachschatz entlehnt zu sein schienen, verändert So z B ist
nun im Marx-Abschnitt nicht mehr von der „Finanzwut seiner Rasse",
sondern von der „Finanzwut seiner Zeit" die Rede112, wie denn über-
haupt der Verweis auf vermeintliche Eigentümlichkeiten der jüdischen
„Rasse" nur noch relativ selten begegnet
Ball stand, wie bekannt, der neuen Republik von Weimar von Anfang
an äußerst skeptisch gegenüber, schienen ihm doch, nicht ganz zu Un-
recht, die Erblasten aus der Wilhelminischen Epoche größer zu sein, als
viele Zeitgenossen sich eingestehen mochten Darum wohl waren es
nicht so sehr die veränderten Zeitläufte im allgemeinen, als vielmehr die
Ermordung Walter Rathenaus am 24 Juni 1922, dieser ja nicht zuletzt
antisemitisch motivierte politische Terrorakt, der ihn dazu bewogen
haben durfte, alle sich in der Kritik findenden Angriffe auf den ehema-
ligen Außenminister zu unterdrücken Dabei aber hatte es auch sein
Bewenden, einen Kommentar zu Rathenaus Wirken für die junge deut-

'" Ball, Kntik (Anm 1), S. 166(180) u Folgen (Anm 21), S 97


112
Ball. Kntik (Anm 1), S 185(197) u Folgen (Anm 21), S 112.
Bernd Wacker 159

sehe Demokratie jedenfalls sucht man in Balls katholischem Schrifttum


vergebens.

3. „Judaismus"

Trotz der Umarbeitung jedoch haben sich Spuren des Judenbildes von
1918/19 auch in den Folgen erhalten Auch hier nämlich ist, wenn auch
nur mit wenigen Worten und in anscheinend neutralem Referat, im
Blick auf protestantische Theologie, idealistische Philosophie und welt-
anschaulichen Liberalismus von den negativen Konsequenzen des
„Judaismus"11, die Rede Ein adäquates Verständnis dieses Terminus
setzt allerdings die in der katholischen Theologie und Volksfrömmig-
keit noch bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil beinahe unangefoch-
ten geltende Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel nach dem
Typologie- bzw Substitutionsmodell voraus Demgemäß muß, wie im
Byzantinischen Christentum praktiziert, das Israel des alten Bundes
zwar als wirkliche Vorausdarstellung und Vorstufe der Kirche ange-
sprochen werden, als solches aber ist es spätestens seit dem Pfingst-
ereignis vor die Frage gestellt, ob es sich zu Christus bekehren oder
den Weg der Verwerfung gehen will Mit anderen Worten: Auch für
Ball hat das nachbiblische Judentum seinen heilsgeschichtlichen Rang
ganz und ein für allemal an die römische Kirche verloren, auch er will
zwischen einem als Wurzelgrund des Christentums zu ehrenden Israel
ante und einem verstockt-bekehrungsunwilligen Judentum post Chri-
stum natum unterschieden wissen „Judaismus" meint darum den
„falschen, sterilen Weg [...], den alles 'Judentum' ging, indem es die
Inkarnation verleugnete und Zeichen der Allmacht nur noch im Reich
des Abstrakten, des Intellektes erwartete" 114 Er ist der Ausdruck der
Selbstentfremdung dieses Volkes, das anders als seine Vorfahren die
Texte der Tradition nur noch auf der banalen Ebene des Literalsinns
historisch-philologisch zu traktieren wisse und sie deswegen dem ma-
terialistischen Mißverständnis, d h der politischen Instrumentalisierung
durch die Herrschenden ausgeliefert habe „Die ersten ernsthaften Ele-

13
Ball, Folgen (Anm 21), S 19
1H
Ball. Byzant Christentum (Anm 19), S. 285
160 Ball und das Judentum

mente einer Bibelkritik rühren", so war schon in der Kritik zu lesen


gewesen, „wie billig, von einem Juden, von Baruch Spinoza her."115
Daß Ball sich in dem eben angeführten Zitat vom „falschen, sterilen
Weg" auf „alles 'Judentum'" bezieht und „Judentum" in Anführungs-
zeichen setzt, ist bezeichnend Der moderne Intellektualismus, Positi-
vismus und Psychologismus hat sich, wie er festhält, längst von seinen
Ursprüngen im nachbiblischen Judentum emanzipiert, und auch die
Politik der Gegenwart hätte dem politischen Judaismus fürs Erste ab-
geschworen Damit aber sei auch das Judentum in Deutschland in ein
neues Stadium seiner Geschichte getreten: „Mit dem Zusammenbruch
der reformatorischen Ideen als leitender nationaler Gedanken", so heißt
es in Balls Tagebuch am 19 Juli 1918, „wird der jüdische Messianis-
mus seine Freiheit zurückerhalten Es könnte möglich sein, daß die
Juden einmal in Deutschland von zwei mächtigen Parteien, der prole-
tarischen und der aufstrebenden katholischen sehr umworben werden
Sie werden gut daran tun, sich beizeiten zu der Partei zu schlagen, der
der Sieg gewiß ist, und es ist nicht anzunehmen, daß sie bei ihrem fei-
nen Empfinden für das Definitive und Absolute lange schwanken wer-
den"116

4 Das Volk der 'Gottesmörder' und seine Rettung

Welche Vorstellungen und Hoffnungen auch immer Ball mit solch ka-
tholisch-jüdischer Allianz verbunden haben mag - mit der seit Melito
von Sardes verbreiteten christlichen Überzeugung vom Gottesmord der
Juden117 dürfte sie kaum vereinbar gewesen sein Auch Ball repetiert
das antijudaistische Theologumenon vom „Volk Israel", das Jesus,
„den Sohn seines eigenen Gottes" ans Kreuz geschlagen habe und, wie
er hinzufügt, seit dieser Zeit, das Zeichen Kains auf der Stirn trage118
Die entsprechenden Ausführungen finden sich im dritten Teil des By-
zantinischen Christentums, dem Kapitel über Symeon den Styliten
Sein Leben, sein Tun und seine Lehre seien der Person gewordene Re-

115
Ball, Kntik (Anm. 1), S. 249(258) Anm 3
116
Ball, Flucht (Anm 22), S. 225 (Eintrag v 31 Juli 1918) „Vielleicht', notiert er
unter demselben - authentischen'7 - Datum. ..werden orthodoxe Katholiken und
Juden im Bunde einmal noch Deutschland aus seinem Sumpfe enetten."
117
Vgl Kirche und Synagoge (Anm 28). Bd I, S 72ff.
118
Ball, Byzant Chnstentum (Anm 19), S. 256 u. 289
Bernd Wacker 161

flex all der Gestalten und Ereignisse des Alten Bundes, in denen Leben
und Geschick Jesu Christi von Anfang an präfiguriert gewesen sei
„Seine Erfüllung der alten Vorbilder mahnt an den Heiland selbst,
durch den er sie erreicht"119. Weil er den Weg gegangen ist, der ganz
Israel zugedacht war, ist in ihm nicht nur das Ende der alttestamentli-
chen Verheißung symbolisiert, sondern zugleich die Frage gestellt, ob
denn die frohe Botschaft des Evangeliums auch für die ungläubigen Ju-
den Geltung habe Balls ansonsten nicht immer ganz durchsichtige
hymnisch-symbolische Exegese der Vita des heiligen Büßers und Aske-
ten läßt keinen Zweifel an seiner Überzeugung, daß durch die Güte des
dreieinigen Gottes zu seiner Zeit „auch der verstockteste, der vom
Vater gezeichnete Mörder des Sohnes erschüttert wird und den Weg
zurückfindet nach Golgatha" 120
Ball verweist im Zusammenhang seiner diesbezüglichen Darlegungen
ausdrücklich auf Leon Bloys 1892 in Paris erschienenes Buch Le salut
par les Juifs121 Es richtete sich zwar ausdrücklich gegen den französi-
schen Antisemitenpapst Edouard Drumont, war aber selbst zu einem
üblen - dezidiert biblisch-theologisch argumentierenden - antisemiti-
schen Pamphlet geraten, dessen wörtlich zu nehmende „Feind-Selig-
keit" auf die prekäre ideologische Situation des monarchistisch-
antikapitalistischen Flügels im französischen Katholizismus jener Jahre
verweist122 Dem Bloy-Kenner Ball123 ist dieser Antisemitismus nicht
entgangen Wenn er daher die Ausführungen des scharfzüngigen ka-
tholischen Ideologen auch ein gut Stück weit zustimmend referiert und
selbst dessen geschichtstheologische These übernimmt, ganz Israel
trage das Zeichen des Brudermörders an der Stirn, weshalb alle Po-
grome und Verfolgungen letztendlich zum Scheitern verurteilt seien, so
hat er sich den Ansichten des französischen Polemikers doch keines-
wegs vorbehaltlos verschrieben Was ihn an Bloy fasziniert hatte, war

119
Ebd S 286
120
Ebd. S 289.
121
Vgl ebd S 283ff Bloys Traktat wird im folgenden zitiert nach der deutschen
Ausgabe: Das Heil und die Armut Das Blut des Armen und Das Heil durch die
Juden Mit Beiträgen v Georges Bernanos u a Heidelberg 1953, S 295-400
122
Vgl Pierre Solin: Die Entwicklung in Frankreich nach 1850, in: Kirche und
Synagoge (Anm 28), Bd II. S 421-452; der Name Bloys fällt allerdings nicht.
123
Vgl Hugo Ball - Emmy Hennings Damals in Zürich Briefe aus den Jahren
1915-1917 Zünch 1978. S. 14f
162 Ball und das Judentum

ja nicht nur dessen Zug ins Apokalyptische und die damit verbundene
Absage an alle „moderne" - mit dem polischen und sozialen Status quo
längst versöhnte - Katholizität, sondern auch dessen symbolische Exe-
gese, die sich historischer Kritik weit überlegen glaubte Doch gerade
Bloys Auseinandersetzung mit dem Judentum demonstrierte, wie Ball
nicht verborgen blieb, die Gefahren aller unkontrollierten „geistlichen"
Schriftauslegung ad oculos „Die Resultate dieses Buches, das ich hier
in die Darstellung einbeziehe", so formuliert er im Stylites-Kapitel sei-
nen Vorbehalt, „teile ich nicht Seine Exegese scheint mir besonders
gegen den Schluß hin willkürlich Die Philosophie des Blasphems, die
Bloy auch sonstwo entwickelt, ist ein Harakiri seines Genies."124 Seine
Verehrung für Bloy dürfte es Ball verboten haben, ins theologische
Detail zu gehen Doch wird aus seinen Ausführungen indirekt deutlich,
daß er zunächst allen soteriologisch-geschichtstheologischen Spekula-
tionen Bloys125 über ein kommendes Zeitalter des Heiligen Geistes, in
dem die Apostasie einer die Synagoge in all ihrer Niedertracht noch
übertreffenden Kirche zur Möglichkeitsbedingung künftiger Erlösung
geworden sei, eine deutliche Absage erteilt126 Darüberhinaus und
wichtiger aber dürfte Ball auch dem eigentlichen Schlüsselgedanken
des Bloyschen Traktats, seiner Gott-Geld-(Anti-)Typologie, ablehnend
gegenübergestanden haben In seiner Exegese von Psalm 11,7 nämlich
(„Die Worte des Herrn sind lautere Worte, sind Silber ."), die sich die
Doppelbedeutung des französischen „argent" (Silber, Geld) zunutze
machte, hatte Bloy auf der symbolischen Repräsentation des göttlichen
Wortes durch das Geld bestanden und daraus gefolgert, „daß die Ju-
den, die alten Verwahrer dieses Wortes, denen diese Aufgabe genom-
men wurde, weil sie das Wort, als es zum Fleisch des Menschen ge-
worden war, ans Kreuz geschlagen haben, auch nach ihrer Absetzung

124
Ball, Byzant. Chnstentum (Anm 19), S 284 Anm 16
125
Vgl Bloy (Anm 121), bes S. 393-401.
126
Dies schließt auch das Theologoumenon von der stehend gewordenen Passion
Jesu ein, derzufolge das Todesleiden des Gekreuzigten erst an jenem Tage zu En-
de kommen werde, an dem „sich das Judentum des Erlösers erbarmt", wenn es
„umkehrt nach Golgotha, um den Messias vom Kreuz herabzunehmen" Dieser
Gedanke wird von Ball zwar refenert (Byzant Christentum, S 284f), nicht aber
affirnuert. Schon Bloy selbst hatte ihn der Passionsfrömmigkeit des Mittelalters
zugeschrieben, deren Aporetik benannt und in einem eigenen theologischen Ent-
wurf zu lösen versucht
Bernd Wacker 163

sein Götzenbild zurückbehielten [...]". „Das gefühllose Geld, das ver-


fluchte und heilige Geld, um dessentwillen Gott wollte, daß man ihn
wie ein Stück Vieh verkaufe, damals wurde es zum Schrecken für das
Menschengeschlecht mit dem Recht einer geheimnisvollen und tief
symbolischen Nachfolge belehnt, deren Verwalter die Kinder Jakobs
sein sollten In einer unfaßlichen Verblendung, die allen Jammer über-
steigt und jedes Mitleid entmutigt, setzte ein Volk, verdammt, nicht
unterzugehen, das bleichste der Metalle an die Stelle des totenblassen
Gottes, der zwischen zwei Straßenräubern starb "127
Ball stand Bloy, diesem „heftigen Scholastikus"128, d h der von ihm
repräsentierten kompromißlosen Katholizität und Modernitätskritik
geistig wohl zu nahe, um solchen Antisemitismus beim Namen zu nen-
nen, doch wer verstehen wollte, verstand auch so, was sich hinter der
Formulierung vom „Harakiri des Genies" verbarg

IV „Im Lande der Chamberlain und Treitschke..."

Balls Auseinandersetzung mit dem Jüdischen Problem" legt es nahe,


seine Kindheit und Jugend im rheinpfälzischen Pirmasens129 wenigstens
kurz ins Auge zu fassen Doch geben die Quellen diesbezüglich wenig
her Der konfessionellen Statistik zufolge war die aufstrebende Mittel-
stadt, deren Wirtschaft von Schuhherstellung und -handel geprägt wur-
de, katholische Diaspora Ball erführ hier eine strikt katholische Erzie-
hung, in der Elternhaus, Familie und kirchliche Gemeinde wie selbst-
verständlich zusammenwirkten Daß er Ministrant war, versteht sich so
beinahe von selbst Nicht nur weil im letzten Viertel des Jahrhunderts
(auch) der katholische Antijudaismus/Antisemitismus eine Blütezeit

127
Vgl Bloy (Anm 121). S. 318-322; die beiden Zitate ebd 318 u 321 Bloy hat
diesen Zentralgedanken nie wieder aufgegeben; vgl sein 1902 und 1913 in zwei
Teilen in Pans erschienenen Werk Exegese des lieux communs, <das unter dem
Titel Auslegung der Gemeinplätze (Frankfurt/M 1995) jetzt auch in deutscher
Übersetzung vorliegt Eine deutschsprachige Lesung aus diesem latent antisemi-
tischen Werk stand schon auf dem Programm der III Soiree der Galerie Dada
Ende Apnl 1917; vgl Ball, Flucht (Anm 22), S 158.
128
Ball, Briefe (Anm. 73), S. 260
129
Für die genannten biographischen Daten vgl auch im folgenden Ernst Teubner
(Hg.): Hugo Ball (1886-1986) Leben und Werk Berlin 1986 sowue Emmy Hen-
nings-Ball: Hugo Balls Weg zu Gott Ein Buch der Erinnerung München 1931.
bes. S 7-21.
164 Ball und das Judentum

erlebte, ist davon auszugehen, daß die entsprechenden religiösen, sozia-


len und ökonomischen Klischees, Vor- und Werturteile130 auch zur
eisernen Ration Ball'scher Katholizität gehörten Oder gab es Erfah-
rungen gelebten Judentums vor Ort, die geeignet waren, ihn an der in
Schule und Gottesdienst beschworenen „Perfidität" der Juden zweifeln
zu lassend Immerhin hatte auch Pirmasens eine im Laufe des 19 Jahr-
hunderts ständig gewachsene jüdische Kultusgemeinde, die neben einer
Synagoge auch über mehrere Friedhöfe und lange Zeit über eine eigene
Volksschule verfügte Das benachbarte Zweibrücken war Sitz des Be-
zirksrabbinats, der Rabbiner scheint jedoch in diesen Jahren vornehm-
lich in Pirmasens gewohnt zu haben 1905, ein Jahr also, bevor Ball
zum Studium nach München ging, betrug die Zahl der in Pirmasens
lebenden Personen jüdischen Glaubens 515 und machte damit 1,5% der
Gesamtbevölkerung aus131.
Ob Balls damals schon erfolgter Bruch mit dem angestammten reli-
giösen Bekenntnis auf seine Wahrnehmung des Judentums direkten
Einfluß hatte, läßt sich allenfalls mit dem Hinweis auf seine ungeliebte
Lehrlingszeit (1901-1903/04) in der jüdischen Lederhandlung Ferd
Schohl in Pirmasens beantworten, die von exzessiver nächtlicher Bil-
dungslektüre, nicht zuletzt der Werke Nietzsches, begleitet war; sie
durfte, so steht zu vermuten, bestehende Ressentiments und Vorurteile
nur noch bestärkt, weil mit neuen, nun scheinbar rationalen Argumen-
ten begründet haben Auch für die Frage, ob Ball je Gelegenheit ge-
sucht hat, die Lebenswelt der deutschen Judenheit in ihrer Vielfältigkeit
auch nur in Ausschnitten näher kennenzulernen, läßt sich kaum Mate-

Statt vieler Einzelbelege verweise ich auf Olaf Blaschke Katholizismus und
Antisemitismus im Deutschen Kaiseneich Göttingen 1996; vgl auch ders.: Anti-
kapitalismus und Antisemitismus Die Wirtschaftsmentalität der Katholiken im
Wilhelminischen Deutschland, in: Johannes Heil - Bernd Wacker (Hg): Shylock9
Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und chnstlicher Tradition München
1996 (im Druck)
131
Eine Monographie zur Geschichte der zwischen 1933 und 1942 vernichteten
jüdischen Gemeinde Pirmasens existiert m. W. nicht, die genannten Daten finden
sich bei Hermann Arnold: Von den Juden in der Pfalz Speyer 1967, S 93 u. 100;
verschiedene Einzelhinweise, insbesondere auf weitere Literatur, auch bei Alfred
Hans Kuby (Hg): Juden in der Provinz. Beiträge zur Geschichte der Juden in der
Pfalz zwischen Emanzipation und Vernichtung Neustadt a. d W 1988 u ders
(Hg.): Pfälzisches Judentum gestern und heute Beiträge zur Regionalgeschichte
des 19 und 20 Jahrhunderts Neustadt a d W 1992
Bernd Wacker 165

rial beibringen Über seinen Aufenthalt in Berlin, wo er vom September


1910 bis Anfang Mai 1911 Regieschüler an der Schauspielschule des
Deutschen Theaters war, schreibt er später: „Ich fand dort den Westen
als eine orientalische Stadt und suchte mich nach Kräften anzupassen.
Man hat mich seither öfters für einen Juden gehalten, und ich kann
nicht einmal leugnen, daß der berlinische Orient mir sympathisch
war."132
Worauf auch immer dieses vorsichtige Eingeständnis von Sympathie
zurückgehen mag und warum auch immer es so verhalten ausfällt -
nicht zu übersehen ist, daß Ball sich keinerlei Illusionen bezüglich des
im wilhelminischen Deutschland herrschenden Antijudaismus/Antise-
mitismus hingegeben hat Zwar ist die Herkunft seines Interesses an
und sein Urteil über Andreas Eisenmengers Entdecktes Judentum von
1701, das zu seiner Lektüre gehörte133 und als das „gelehrteste Werk
der antisemitischen Literatur in deutscher Sprache" (G Scholem) ge-
rühmt wurde, nicht überliefert, um so deutlicher aber hatte er schon in
der Freien Zeitung vom 12 Januar 1918 festgehalten: „Auch heute
noch kann ein Jude in Deutschland weder aktiver Offizier, noch Profes-
sor, weder Korpsstudent, Bürgermeister noch Diplomat werden Im
Lande der Chamberlain und Treischke bleibt Ballin, der Direktor der
Hamburg-Amerika-Linie, bleiben Helfferich, Dernburg und auch Herr
Rathenau des Kaisers 'liebe Juden', deren Dienste er dankend quittiert,
solange er sie braucht, denen er aber auf der Parade jeden christlichen
Trommler vorzieht "134 Auch in den Arbeiten der Folgejahre nennt Ball
die „deutsche Nation" ausdrücklich antisemitisch und Preußen einen
antisemitischen Staat, dessen Herren seit alters her die Juden unter-
drücken und ihnen nur insoweit Schutz gewähren, als sie sich davon
Sanierung der Staatsfinanzen und Belebung von Handel und Wandel
versprachen Ja, Ball steht nicht an, auch seiner Verachtung des jüdi-
schen Antisemitismus, wie er ihn bei Rathenau und Marx diagnosti-
ziert , öffentlichen Ausdruck zu geben
Wer diese Andeutungen zur Kritik des historisch überkommenen all-
täglichen Antisemitismus im Zweiten Kaiserreich ernst nimmt - und es
132
Ball, Flucht (Anm. 22), S. 13.
m
Vgl ebd S 206 u 249.
134
Ball, Künstler (Anm 18), S 208; vgl zum folgenden auch Kntik (Anm. 1), S.
34(45). 170(182), 193f(205).
135
Vgl ebd. S 209 sowie Flucht (Anm. 22 ), S. 225
166 Ball und das Judentum

gibt keinen Grund, dies nicht zu tun - , steht um so verwunderter der


Tatsache gegenüber, daß Ball es, wie deutlich geworden sein dürfte,
nichtsdestoweniger an drastischen Urteilen über Juden und Judentum
nicht fehlen läßt Diese Verwunderung wächst noch angesichts der
Tatsache, daß er, der sich gerade in der Kritik ausdrücklich dagegen
verwahrt, als Ideologe des Antisemitismus mißverstanden zu wer-
den136, gleichzeitig keinerlei Bedenken zu tragen scheint, den im Lande
der Chamberlain und Gobineau, der Treischke und Sombart virulenten
Stereotypen des rassenbiologisch und/oder ökonomisch argumentie-
renden Antisemitismus in der Wortwahl Reverenz zu erweisen und sich
dem Gegner dabei bis zum Verwechseln ähnlich zu machen Ist ihm
Antisemitismus eine nur subjektive Kategorie, allein von individuellen
Absichtserklärungen her zu werten? Eine Definition jedenfalls findet
sich bei Ball nicht, doch heißen ihm antisemitisch offensichtlich vor
allem jene Äußerungen, die den tatsächlichen Einfluß der Juden in
Wirtschaft und Kultur übertreiben mit dem Ziel, die rechtliche Emanzi-
pation der judischen Minderheit zurückzunehmen und ihr jegliches
Heimatrecht in Deutschland zu bestreiten Allerdings ist auch er durch-
aus der Meinung, „dass die exploitatorische und merkantile Tradition
den jüdischen Geist tiefer besessen hält als ihm selbst zu Bewusstsein
kommt"137, allerdings versteigt auch er sich zur Rede vom „Abhub
Deutschlands", d. h vom „Getümmel der Spekulanten, Soldschreiber
und Talmudisten, das gewohnheitsmäßig die Zeitungsblätter füllt"138,
allerdings verkündet auch er, angesichts der deutschen Naivität werde
„das Judentum [...] in kurzer Zeit [...] alle wichtigeren Stellen in Pres-
se, Verwaltung und Politik besetzen"139 und greift damit auf Stereoty-
pen zurück, die neben der religiös argumentierenden Polemik zweifel-
los dem antisemischen Syndrom zuzurechnen sind Doch, dies zuge-
standen, wird man Ball wohl kaum einfachhin zum paranoiden, rabiat
antisemitischen Propagandisten stempeln dürfen Dagegen spricht nicht
nur der Vergleich mit der bekennenden, d h organisierten antijüdischen
Hetze der Zeit140, dagegen spricht auch nicht allein die Ambivalenz, die

li
" Ball, Kntik (Anm 1), S 165f.(180) u 169(Synopse).
137
Ball, Kntik (Anm 1), S 169(Synopse)
138
Ball, Künstler (Anm 18), S 266.
139
Ball, Kntik (Anm 1), S. 301 Anm 33
140
Vgl Helmut Berding Moderner Antisemitismus in Deutschland Frankfurt
1988, S 86-140 u 165-189
Bernd Wacker 167

hinter vielen seiner entsprechenden Ausführungen zum Vorschein


kommt, dagegen steht schließlich seine letztendliche Ablehnung des
rassischen Antisemitismus Auch wenn terminologische Anklänge an
die Semantik des wissenschaftlich verbrämten Rassenhasses gerade bei
einem Schriftsteller, Sprachdenker und -ästheten vom Range Balls in
besonderer Weise ernstgenommen werden müssen und wohl kaum nur
als rhetorisch-polemische Verstärkereffekte verharmlost oder aus per-
sönlichen Animositäten erklärt werden können - sie stehen in kontra-
diktorischen Gegensatz zu seiner prinzipiellen Absage an die „stupide
Rassetheorie"141 „Die Lehre von der nationalen Ureigentümlichkeit",
schreibt er 1917 im Blick auf Juden und Deutsche - ohne daß ihm die-
se Unterscheidung allerdings nochmals zum Problem würde - „[...] ist
ein Naturphilosophem, dem man ebenso wie den politischen Rasseffa-
gen keine übertriebene Wichtigkeit beilegen sollte"142, dementspre-
chend nennt er Deutschtum und Judentum ein gleichermaßen „der
normhaften Humanität widerstrebendes Kunstprodukt", eine in der
Geschichte „gezüchtete Bildungs- und Verbildungsangelegenheit", de-
ren Überwindung also für Juden wie für Deutsche zwar möglich, je-
doch noch keineswegs ausgemacht ist143
Wohl nicht nur aus autobiographischen Gründen hat sich Ball in den
zwanziger Jahren ausführlich mit dem Thema der religiösen Konversi-
on befaßt, und nicht zufällig kommt er in seinem gleichnamigen Auf-
satz144 auch auf die seit Mitte des 19. Jahrhunderts viel beachtete
„Bekehrung" des Juden Alfons Maria Ratisbonne in Rom zu sprechen
Begonnen hatte sie, wie er an anderer Stelle hervorhebt, ausgerechnet
„in der eigentlichen Exorzistenkirche" Roms, in S Maria in Aracoeli145
nahe des Kapitals Balls verzweifelter Wunsch, ganz Deutschland müs-
141
Ball, Künstler (Anm 18), S 289
142
Ball, Flucht (Anm 22), S. 194 (Eintrag v 15 Sept. 1917).
143
Ebd. S. 119 (Eintrag v. 29 Sept. 1916).
144
Vgl Ball, Künstler (Anm. 1), S 336-376
'"• Emmy Ball-Hennings: Aus dem Leben Hugo Balls 1924-1927. in: Hugo Ball
Almanach 1993, S 1-58, 14. Im Konversionsaufsatz ist diese Charakterisierung,
wohl auf Intervention der Hochland-Redaktion (vgl Ball, Bnefe [Anm 73], S
211ff.), durch „Minontenkirche" (Ball, Künstler [Anm. 18], S. 349) ersetzt; al-
lerdings weist Ball hier ausdrücklich auf das in dieser Kirche befindliche „gei-
steshelle Bild des großen Exorzisten von Padua (des hl Antonius) und vor allem
das wundertätige Christusbild mit den seltsam eindnngenden Augen" ausdrück-
lich hin
168 Ball und das Judentum

se katholisch werden , schloß auch die Juden ein Daß er solche Be-
kehrung auch des ersten Bundesvolkes für notwendig hielt und dar-
überhinaus nur mit Hilfe dämonologischer Kategorien denken konnte,
zeigt mit bestürzender Deutlichkeit, wie wenig sich Ball - und mit ihm
wohl die meisten Katholiken der Zeit - der 1900jährigen Geschichte
des christlichen Antijudaismus letztlich zu entziehen vermochte. Ein
Besuch im „Tempel", der Synagoge des römischen Judenviertels, im
Herbst 1924, bereitete ihm dementsprechend nicht unerhebliche Gewis-
sensbisse Die menschenfreundliche deistische Binsenwahrheit „Ach,
der liebe Gott ist nicht so kleinlich, er sieht doch durch alle Dächer und
weiß Bescheid", wie sie angesichts dessen seine Frau ins Feld führte147,
dürfte seinem intransigenten konfessionalistisch-katholischen Wahr-
heitsanspruch kaum Genüge getan haben Zu einer human zuträglichen
wie theologisch verantworteten Beschreibung des Verhältnisses von
Judentum und Christentum fehlten ihm alle Voraussetzungen
Hugo Balls Weg aus der vorurteilsbeladenen Atmosphäre seiner reli-
giösen Erziehung über den nietzscheanisch inspirierten und bakunini-
stisch begründeten Antisemitismus der Weltkriegsjahre zum reflektier-
ten katholischen Antijudaismus/Antisemitismus seiner letzten Lebens-
spanne führte durch das Land der Gobineau und Treischke, nicht der
Streicher und Rosenberg, der Hitler, Himmler und ihrer Eichmanns
Deutschlands Unglück waren seiner Überzeugung nach auch, aber nie
allein und ausschließlich, nie 'von Natur aus' und auch nicht durch-
gängig die' Juden Daß die Welt nach der militärischen Niederlage
Deutschlands und dem Sturz Preußens „vor einem feineren deutschen
Attentat" sicher sein könnte, hat er nie geglaubt und schon 1918/19
darauf hingewiesen, daß ein solches Attentat „nicht nur in kriegeri-
schen Aktionen zu bestehen braucht"148. Trotzdem das „Attentat" von
Auschwitz war nicht in Balls Horizont Daß das Recht, 'gregorianisch
zu singen', schon bald unlösbar mit der - in den Kirchen zumeist igno-
rierten - Verpflichtung verbunden sein würde, 'für die Juden zu schrei-
en'149, hat er wohl nicht einmal für möglich gehalten So wenig sein

46
Vgl Ball. Bnefe (Anm. 73). S. 237 u. 247.
47
Vgl Ball-Hennings (Anm. 141). S 14f
,s
Ball, Kntik (Anm 1), S. VI(9).
19
„Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.'- so der evang
Theologe Dietrich Bonhoeffer, zitiert nach Tiemo R Peters: Die Präsenz des
Politischen in der Theologie Dietnch Bonhoeffers München/Mainz 1976, S. 53.
Bernd Wacker 169

Werk als Beitrag zum deutschen Mythus des 20 Jahrhunderts mißzu-


verstehen ist, so wenig war es dazu angetan, der antisemitischen Pro-
paganda Paroli zu bieten, ja dürfte, wenn denn nach 1933 überhaupt
rezipiert, in manchen Partien zum Irrglauben an die Möglichkeit eines -
im Vergleich zum 'überzogenen' nationalsozialistischen Vorgehen ge-
gen die Juden - 'berechtigten' und 'vernünftigen' Antisemitismus bei-
getragen haben.
Welche weiteren Differenzierungen im Blick auf Balls Verständnis
und Wertung des Judentums auch immer zukünftig nötig sein werden -
wichtiger als alle Mutmassungen über seine persönliche Ansichten ist
die „Ethik des Lesers/der Leserin" Nur wo vorgängig in Erinnerung
ist, was zwischen 1933 und 1945 Juden in Europa durch Nicht-Juden
(vor allem) aus Deutschland angetan wurde, nur dort, wo auch weiter-
hin differenziert über die Vorgeschichte und Wurzeln des Nationalso-
zialismus nachgedacht und gesprochen wird, nur dort insbesondere, wo
Christen sich ihrer schon im Neuen Testament beginnenden Schuldge-
schichte gegenüber jüdischen Kindern, Frauen und Männern stellen und
daraus theologische und politische Konsequenzen ziehen, nur dort wird
Ball 'richtig' gelesen Purgierter Texte bedarf es dazu am allerwenig-
sten
170 Ball und das Judentum

Anhang
Die in der linken Spalte der folgenden Synopse durch [...] gekenn-
zeichneten Auslassungen in den Nachdrucken des Suhrkamp-Verlages
sind rechts im Wortlaut der ersten Auflage wiedergegeben. Die vor-
ausgehenden Worte zitieren den Anfang der jeweils genannten Zeile
der Nachdrucke ( ' bedeutet Absatz). Zu den gestrichenen Passagen
der Erstauflage gehören auch acht Fußnoten, die jeweils im Anschluß
an die entsprechenden Stellen dokumentiert werden. Die Schreibweise
Balls wurde in allen Fällen beibehalten.

Zur Kritik der deutschen In- Zur Kritik der deutschen In-
telligenz tellizenz
Nachdrucke Frankfurt 1980 u. Bern 1919
1991

S. 9, Z. 19 S. V, Z. 20
Pamphlet zu schreiben [...]// Pamphlet zu schreiben. Ich fand
und suchte zu dokumentieren
Eine Konspiration der protestanti-
schen mit der jüdischen Theologie
(seit Luther) und eine Konspirati-
on beider mit dem preussischen
Gewaltsstaat (seit Hegel), die
nicht nur die Unterwerfung Euro-
pas und die Weltherrschaft erstreb-
te, sondern die gleichzeitig aus-
ging auf die universale Zerstörung
von Religion und Moral Diese
Konspiration ist tiefer und stärker
verwurzelt, als man gemeinhin
glaubt, ihre Unterschätzung aber
liegt weder im Interesse der
Menschheit, noch im Interesse des
Bernd Wacker 171

deutschen Volkes.//
Es ist meine feste Überzeugung Es ist meine feste Überzeugung...

S 42, Z. 9 S 30, Z 29
Tatsache, daß die Nation [...] Tatsache, dass die Nation auf ein
philologisches Pfaffenmanöver ein-
ging und sich von nun an an die
sich von nun an an die Bücher.. Bücher

S 63, Z 7 S 51,Z 11
könne, während sie [...] könne, während sie ihn nennen,
von ihm schreiben während sie von ihm schreiben

Z 15 Z 19
et sanctissimi hominis [...] // et sanctissimi hominis Werden die
Bancos oder die Macbeths sie-
gen?//

S 131, Z 2 S 117, Z 19
Beziehungen gesetzt zu werden Beziehungen gesetzt zu werden
[.-]// Oder ist eine Weltseele weniger
erhaben als ein theistischer Gott 9
Was Gott an Charakter voraushat,
ersetzte die Weltseele gewisserma-
ssen an Breite Die Erhabenheit
Gottes sowohl wie der Weltseele
lag ja nur in dem mystifikatori-
schen „Gehalt", den beide zu lie-
fern hatten
In der „Weltseele".. In der „Weltseele"...

S 158, Z. 23 S 144, Z. 20
gemeinsamer Glaube lebt auf. [...] gemeinsamer Glaube lebt auf Jene
// deutschen Prokatholiken aber, die
ihre Sympathien und Erwartungen
während des Krieges zum kom-
promittierten päpstlichen Stuhle
Benedikts wanden, werden unter
172 Ball und das Judentum

dieser Aegide weder die große


Rupture zwischen Gut und Böse
vollziehen, von der Frau Annette
Kolb so begeistert spricht41, noch
die soziale Civitas dei, die den
erwahltesten Geistern so innig am
Herzen liegt42 Sie werden nur der
Reaktion dienen und jener Verwe-
sung in Christo, die das Postament
des heutigen Papsttums bildet //
Und um auch davon zu sprechen Und um auch davon zu sprechen
4
„Bnefe einer Deutsch-Französin", deutsch bei Erich Reiss. Berlin 1916. franzö-
sisch bei Atar, Genf 1917
42
In Deutschland wirkt hierfür Franz Blei in einer vielverzweigten edlen Aktion
und der von ihm herausgegebenen Zeitschnft Summa.

S. 172, Z 2 S 157, Z 30
neuen Lebens überall verbreitet neuen Lebens überall verbreitet
wurde [...] wurde Dieser Geist ist es, aus
dem der Kommunismus entstand,
Dieser Geist verbindet dieser Geist verbindet

S. 180, Z. 1 S 165,Z 26
che, daß Weitling heute nahezu Tatsache, dass Weitling heute na-
vergessen ist, während [...] die hezu vergessen ist, während von
Sozialdemokratie. . jüdischer Seite die Sozialdemo-
kratie

Z 26 S 166, Z 18
daß [...] sie dass die Herrschaft dieser Art jü-
disch-deutschen Geistes der Welt
der Welt und Deutschland und Deutschland...

S 181, Z.23 S. 167, Z 16


Kulturwelt stiften wird!" [...]// Kulturwelt stiften wird"! Indem es
Karl Marx gelang, die jüdische In-
ternationale mit der sozialistischen
Bernd Wacker 173

zu verbinden und den deutsch-


jüdischen Messianismus an die
Spitze beider Internationalen zu
stellen, indem Lassalle das Prole-
tariat gleichzeitig an das Preussen-
tum fesselte - war ideell die Dikta-
tur des Deutschjudentums, die
jüdisch-junkerliche Weltherrschaft
gesichert Es bedurfte nur noch
des Weltkrieges zu ihrer Bestäti-
gung102.//
Wer der Ansicht ist... Wer der Ansicht ist...
102
Erwähnt sei hier auch ein Bnef Bakunins (an Morago. siehe Nettlau, Bd II, S
370). der auf die psychologischen Affinitäten zwischen Marx und Rotschild ver-
weist „Wo ökonomische Zentralisation besteht, dort besteht notwendig auch eine
finanzielle" Der Staatskommunismus Marxens und der Finanzkonzern Rotschilds
berühren sich Daher das besondere Interesse der Juden am Staatskommunismus
Er stellt eine ungeheure Staatsbank in Aussicht und zugleich die völlige Freiheit
innerhalb einer matenalisierten Welt

Z 34 Z 33
Sinn dieses Daseins ist, der wird Sinn dieses Daseins ist, der wird
[...] einem prussifizierten Europa unter
jüdischer Direktive nicht allzuviel
Erwartung entgegenbringen, son-
die Alternative stellen: Christus dem die Alternative stellen: Chri-
oder Jehova.// stus oder Jehova.//

S 182, Z. 1 S 168, Z 1
[...] Eine Etappe im jüdischen Emanzi-
pationskampf nannte ich die Grün-
dung der deutschen Sozialdemo-
kratie, und dieser Anschauung ist
gerade auch Cohen „Für den deut-
schen Arbeiter, für die Mehrheit
des deutschen Volkes", schreibt er,
„ist dadurch der geschichtliche
Ball und das Judentum

Begriff des Juden von jener Be-


schimpfung erlöst, durch deren
sprungweise Erneuerung auch das
Vaterland Lessings auf verhängnis-
volle Abwege zeitweilig verlockt
wurde'"03 Während aber Cohen
das Verdienst der Marx und Lassal-
le in der Anerkennung und Stär-
kung der deutschen Staatsidee
sieht, sehe ich keinen Anlass, über
den damit für das Judentum errun-
genen Vorteilen den Preis zu ver-
gessen, den Europa dafür zahlte
die Auslieferung der sozialen Idee
an den messianisch unsozialen,
preussisch-deutschen Gewalt- und
Erfolgsstaat, die Ermöglichung des
fürchtbarsten aller Kriege, die Ver-
nichtung von 20 Millionen Men-
schenleben und den Ruin Deutsch-
lands Denn, das sollte eigentlich
keines Hinweises bedürfen, der So-
zialismus verhält sich zur deut-
schen Sozialdemokratie, wie die
Freiheit sich verhält zu ihrer Falle
und zu jener „Freiheit im Gesetz",
die Hegel und mit ihm die gesamte
protestantische Philosophie postu-
lierten.
Bakunin hat in seiner Schrift „Aux
citoyens redacteurs du Reveil"
(1869) die Frage aufgeworfen, wie
weit jüdischen Naturen überhaupt
der freie Sozialismus entsprechen
konnte1"4 „Ihre Geschichte hat
ihnen lange vor der christlichen
Aera schon eine wesentlich mer-
kantile und bürgerliche Richtung
Bernd Wacker 175

gegeben, und daher kommt es,


dass sie als Nation betrachtet vor-
zugsweise von der Arbeit der an-
dern leben und eine natürliche Ab-
neigung und Furcht vor Volksmas-
sen haben, die sie im übrigen de-
monstrativ oder heimlich ver-
achten Die Gewohnheit, auszu-
beuten, entwickelte zwar her-
vorragend ihre Intelligenz, gab ihr
aber zugleich eine bedauerliche
Richtung zum Exklusiven, die so-
wohl den Interessen wie den In-
stinkten des Proletariats wider-
spricht Ich weiss wohl, dass ich
mich, indem ich so freimütig meine
intimsten Gedanken über die Juden
ausspreche, grossen Gefahren aus-
setze Viele teilen diese Gedanken,
aber nur wenige wagen, ihn offen
auszusprechen Die jüdische Sekte
stellt heute in Europa eine viel
fürchtbarere Macht dar als die ka-
tholischen und protestantischen
Jesuiten Sie regiert despotisch im
Handel wie in der Finanz Sie hält
drei Viertel des deutschen Journa-
lismus und einen sehr beträchtli-
chen Teil des Journalismus der an-
dern Länder besetzt Wehe also
demjenigen, der das Ungeschick
hat, ihr zu missfallen"105
Von Antisemiten werden diese
Sätze immer zu Unrecht aufge-
tischt werden Sie gehen weit übers
Ziel und finden ihre Erklärung nur
in dem unerbittlichen Vernich-
tungskrieg, den die sozialistischen
176 Ball und das Judentum

Deutschjuden von 1870, alle die


Hess, Borkheim, Marx in zeitwei-
liger Allianz mit Liebknecht und
sogar mit Bebel gegen Bakunin
und die föderalistische Interna-
tionale führten Aber es muss doch
zugestanden werden, dass die ex-
ploitatorische und merkantile
Tradition den jüdischen Geist tiefer
besessen hält als ihm selbst zu Be-
wusstsein kommt, und nicht zu
unterschätzen ist die generelle
Methodik der jüdischen Rasse, in
der nicht die Leistung des Einzel-
nen entscheidet, sondern das Re-
sultat, zu dem seine konspiratori-
sche Arbeit oft erst nach Genera-
tionen führt Der Einzelne opfert
sich für die jüdische Idee Der Ein-
zelne kann Revolutionär sein, er
kann seine Rasse scheinbar verra-
ten Die Entwicklung aber wird
beweisen, dass er doch nur ihr al-
lein verantwortlich war Karl Marx
kann man als Juden nicht beurtei-
len, ohne erlebt zu haben, wie ein
späterer Jude, Walter Rathenau,
die von Marx und Lassalle organi-
sierten und politisierten Massen
mit staatskommunistischen Vor-
schlägen der Regierung und der
Expropriation direkt auszuliefern
versucht106//
Die Hingabe sowohl Marxens...
Die Hingabe sowohl Marxens...
103
„Deutschtum und Judentum", S.
Bernd Wacker 177

Michael Bakunin, Oeuvres, tome V, p 243, P. V. Stock. Paris, 1911. Die Schrift
ist heute noch ausserordentlich lesenswert und sollte endlich ins Deutsche übertra-
gen werden
35
Als Alexander Herzen den Entwurf zu Gesicht bekam, wunderte er sich, dass B
dann die Hess und Borkheim angriff, statt „leur chef de file", Karl Marx Bakunin
antwortete: „Je n'ignore pas que Marx a ete l'insügateur et le meneur de toute cette
calomnieuse et infame polemique qui a ete dechainee contre nous Pourquoi l"ai-je
donc menage. l'ai-je meme loue. en l'appelant geant? Pour deux raisons, Herzen.
La premiere c'est la justice Laissant de cöte toutes les vilenies qu'il a vomies con-
tre nous, nous ne saurions meconnaitre, moi du moins. les immenses Services ren-
dus par lui ä la cause du socialisme, quil seil avec intelligence, energie et sincente
depuis pres de vingt-cinq ans en quoi ü nous a indubitablement tous surpasses" (p.
213) Er fährt fort: „La deuxieme raison, c'est une politique et une tacüque que je
crois tres juste II pounait arnver, et meme dans un bref delai, que j engageasse
une lutte avec lui, non pour offense personnelle, bien entendu. mais pour une que-
stion de principe, ä propos du communisme dEtat, dont lui-meme et les partis
anglais et allemand quil dinge, sont les plus chaleureux partisans Alors ce sera
une lutte ä mort Si ä l'heure qu'il est j'avais entrepris une guerre ouverte contre
Marx lui-meme, les trois quarts des membres de l'Internationale se seraient tournes
contre moi et je serais en desavantage, j'aurais perdu le tenain sur lequel je dois me
tenir Mais en m'engageant dans cette guene par une attaque contre la gueusaille,
dont ü est entoure. j'aurais pour moi la majonte De plus, Marx lui-meme, qui est
plein de cette Schadenfreude, que tu lui connais bien, sera tres content de voir ces
amis mal en point" (p 234) Man weiss, wie der Kampf zwischen Bakunin und
Marx, zwischen freiem föderativem Sozialismus und zentrahstischem Staatskom-
munismus endete Es gelang Marx mit Hilfe einer künstlichen Stimmenmehrheit B
aus der Internationale ausschlössen zu lassen (Kongress zu Haag. 2-7 September
1872) Aber die eigentliche Mehrheit, auf Seiten der föderalistischen Idee, zwang
die wenigen Anhänger Marxens, den Generalrat von London nach New York zu
verlegen (Kongress zu St Imier, 15 Sept 1872), und hielt nach dieser Verteibung
noch glänzende Kongresse ab (Genf 1873, Brüssel 1874) Der Föderalismus hatte
das Feld behauptet Bakunin starb am 3 Juli 1876 in Bern.
106
Vergl Walter Rathenau, „Von kommenden Dingen", 1917 Rathenaus Ideal ist
eine Vertrustung der Industrie- und Bankkonzerne von Staats wegen, nach Säku-
larisation der sozialistischen Ideen und unter militärischer Oberleitung der preus-
sischen Monarchie Protestantische Blätter verglichen sein Buch mit Luthers Auf-
ruf „An den christlichen Adel teutscher Nation"

S 186, Z 22 S 174, Z 26
es nicht genug war, um Bismarck es nicht genug war, um Bismarck
zu bestimmen"9 [ ]// zu bestimmen"? Ist es die Rasse,
die auch bei Bernstein spricht und
zu schützen versucht? Mit welch
178 Ball und das Judentum

beschämender Nachsicht versucht


sie es!//
Bismarck charakterisierte. Bismarck charakterisierte

S 187, Z. 29 S. 175, Z 35
seine Testamentsvollstreckerin, seine Testamentsvollstreckerin,
eben jene Gräfin Hatzfeld [...] eben jene Gräfin Hatzfeld, auf die
zweideutigste Weise versuchte, die
versuchte, die Partei... Partei. .

Z 32 S 176, Z 3
Man darf sich heute nicht über
Scheidemann und den Parteivor-
stand wundern, wenn Heroen des
deutschen Sozialismus die Korrup-
tion selbst züchteten Heines Wort,
Heines Wort, daß die preußische dass die preussische ..

S. 191, Z 4 S. 179, Z 9
musüber.[...] // Journalismus über Damit beginnt
seine Laufbahn als Gelehrter und
Revolutionär, als Jude und als
Preusse, als Pamphletist und Or-
ganisator.//
Das jüdische Problem . Das jüdische Problem ..

S. 202, Z 26 S 190, Z 31
doktrin kat' exochen [...] Staatsdoktrin kat' exochen Jene
nach seinen eigenen Worten „chi-
märische Nationalität des Juden",
die Internationale des Geldmen-
schen und Kaufmanns ist es, die ihn
Daß er die Bedarfs- und Ge- beschäftigt Dass er die Bedarfs-
brauchsgegenstände. . und Gebrauchsgegenstände

S 203, Z 21 S 191, Z 29
[...] Die für Marx charakteristische Ge-
Bernd Wacker 179

ringschätzung der kulturellen und


sittlichen Unterschiede zwischen
den Völkern stellt sich nicht zufäl-
lig gerade im System eines
Deutschjuden dar Hervor ging
Hervor ging die die

Z 25 S. 192, Z 2
gewinnen, nichts zu verlieren hat- gewinnen, nichts zu verlieren hatte
te [...]// Das Desinteressement aber am na-
tionalen moralischen Wettstreit, der
Anationalismus des Juden, ist dop-
pelt schlimm für uns Deutsche, die
wir der nationalen und mensch-
lichen Emanzipation nie allzuviel
Kräfte gewidmet haben58.//
Die große christliche Bewegung Die grosse christliche Bewegung...
58
Das Aufkommen der Bolschewiki in Rußland sollte uns ein warnendes Beispiel
sein: während sich die Zimmerwäldler auf die internationale Ideologie einliessen,
arbeiteten die Bolschewiki wie Besessene an der nationalen Destruktion: am Venat
der Nation, an der Expropnation der Nation, an der Entfesselung des nationalen
Verbrechertums Der Zimmerwaldianismus wurde die Firma und das Aushän-
geschild, womit sie ihre nationalen Gewalttaten deckten

S. 206, Z 9 S 194, Z. 22
bildete [..]// bildete Marx, der missglückte
Professor, entschloss sich, den
privilegierten Besitz anzugreifen, es
beim königlichen Schutze aber be-
wenden zu lassen.//
Für seine Ansicht Für seine Ansicht.

Z 30 S. 195, Z 11
sehung zu spielen [...] Vorsehung zu spielen und ihre lie-
ben Geldjuden dazu heranzuziehen
Und es findet sich darin Und es findet sich darin. .
180 Ball und das Judentum

S. 207, Z. 18 S. 195, Z. 35
Marxens Kampf geht [...] Marxens Kampf geht um die jüdi-
sche Aktionsfreiheit in der proleta-
rischen Gesellschaft, nach Beseiti-
nach Beseitigung der. . gung der

Z. 23 S 196, Z. 6
auch nur die Monarchie angreifen9 auch nur die Monarchie angreifen,
die vorerst den Juden schützt, spa-
ter aber von selbst verschwindet7
Ist sie doch... Ist sie doch

S. 209, Z 27 S 198, Z 8
1848 [...] zutage tretende Einheits- 1848 deutlich zutage tretende Ein-
und Zentralisationsbewegung heits- und Zentralisationsbewe-
gung .

S 213, Z I S. 201, Z 17
nen [...] Borkheim, um gegen die Instruktionen der Deutschjude
Borkheim, um gegen die

Z 18 Z. 34
deutschen Sozialisten [...] seiner deutschen und deutsch-jüdischen
Zeit... Sozialisten seiner Zeit.

S 229 Z 18 S. 217, Z 30
Mönch von Wittenberg ein Ver- Mönch von Wittenberg ein Ver-
hängnis war9 [...] hängnis war9 Oder besteht noch ein
Zweifel, dass infolge seiner Reli-
gion Gott selbst zu Bismarcks Zei-
ten auf die Deutschen herunter-
kam9 Wenn Friedrich Naumann
Wenn Friedrich Naumann fand fand
Bernd Wacker 181

Einen Sonderfall stellen Anm. 100 des Dritten und Anm. 33 des Vier-
ten Kapitels der Erstauflage (vgl. S. 166 u. S. 293f bzw. S. 185 u. S.
301) dar, die in den Nachdrucken (vgl. S. 180 Anm. 98 u. S. 298 bzw.
S. 197 Anm. 33 u. S. 304) nur völlig verkürzt wiedergegeben sind; sie
werden hier darum ebenfalls dokumentiert:
100
„Schon in der römischen Zeit hatten bekanntlich Juden an den Ufern des Rheins
sich angesiedelt Unter Karl dem Grossen verbreiteten sie als Reisende überall hin
die deutsche Sprache Dabei pflegen sie zugleich eifrig die Wissenschaft ihrer Re-
ligion: die Schulen von Worms. Mainz. Speyer werden blühende jüdische Gelehr-
tenschulen Solche gibt es zwar auch in Spamen und Frankreich, aber Sudemann
weist in seiner Geschichte des Erziehungswesens und der Kultur der abendländi-
schen Juden' darauf hin. dass sie dort ohne den inneren Einfluß bleiben, den die
deutschen Juden gewinnen Dieser Kontakt mit ihrer deutschen Umgebung, diese
Beeinflussung, der die deutschen Juden innerlicher als anderwärts zu ihrer Umge-
bung sich hingeben (sie!), spneht eben wieder für die Urwüchsigkeit dieses Ver-
hältmsses(!) Hier waren sie seit den Vorzeiten Germaniens ansässig, hier bleiben
sie bodenständig, hier werden sie niemals vollständig ausgetrieben wie anderwärts,
wie in Frankreich und in England, hinterher kehren auch solche wiederum zurück,
die, wie nach Polen und Russland, von hier ausgewandert waren, als die schreckli-
chen Verfolgungen beim schwarzen Tode in Deutschland überhandnahmen"
(Cohen, S 19) Heute aber, nach Moses Mendelsohn, der das Deutschtum „zu einer
Lebenskraft des Judentums herangezogen hat" (S. 25), nach Herder, mit dem ihnen
„der Messias im deutschen Geiste wieder erstand" (S. 30), „fühlen wir uns als deut-
sche Juden in dem Bewusstsein einer zentralen Kulturkraft, welche die Völker im
Sinne der messianischen Menschheit zu verbinden berufen ist Wenn es wieder
einmal zum ernstlichen Bestreben nach internationaler Verständigung und wahr-
haft begründetem Völkerfrieden kommen wird, dann wird unser Beispiel als Vor-
bild dienen dürfen (!) für die Anerkennung der deutschen Vormacht in allen
Grundlagen des Geistes- und Seelenlebens". (S. 37) So aufrichtig ist selten gespro-
chen worden
33
„Zur Judenfrage". S. 198 Das ist ganz falsch Das Judentum wird voraussichtlich
seinen „religiösen", exklusiv konspiratorischen Charakter beibehalten und dadurch
in kurzer Zeit gerade in einem kntiklosen Volke alle wichtigeren Stellen in Presse,
Verwaltung und Politik besetzten Es ist deshalb von doppelter Wichtigkeit, die
deutsch-jüdische, autontäre Staatsdoktrin mit religiösen Pnnzipien zu bekämpfen.
Thomas Rüster

Hugo Balls „Byzantinisches Christentum" und


der Weimarer Katholizismus
„Kennt Ball das Evangelium nicht besser?"
Josef Stiglmayr1

„Es ist das Buch Balls, das bleiben wird", meinte Friedrich Fuchs, Mit-
herausgeber der katholischen Monatszeitschrift Hochland und mit Ball
persönlich bekannt, über dessen Byzantinisches Christentum2 Es
scheint, daß er sich getäuscht hat Von allen größeren Werken Balls ist
allein das Byzantinische Christentum zur Zeit im Buchhandel nicht
lieferbar Blättert man die Bände des seit 1977 von der Stadt Pirmasens
herausgegebenen Hugo Ball Almanachs durch, wird deutlich, daß auch
die Ball-Forschung das Byzantinische Christentum recht stiefmütterlich
behandelt hat Der Ball des Dadaismus, der Freien Zeitung, der Kritik
der deutschen Intelligenz, der Briefe steht im Mittelpunkt des Interes-
ses Werner Hülsbusch schreibt mehr als 70 Seiten über Hugo Balls
Flucht zum Grunde. Die prophetische Existenz eines christlichen
Schriftstellers, streift dabei aber das hier vor allem einschlägige Byzan-
tinische Christentum nur mit einigen Bemerkungen 3 Friedrich Wilhelm
Kantzenbachs großer Beitrag zur Standortbestimmung von Hugo Balls
„Byzantinischem Christentum" im geistes- und wissenschaftsge-
schichtlichen Zusammenhang bleibt gelehrt, aber eigenartig unschlüs-

1
Josef Stiglmayr Hugo Ball als Hagiograph, in: Zeitschr f Aszese und Mystik 3
(1928). S. 78.
2
Fnednch Fuchs: In memonam Hugo Ball, in: Hochland 25/1 (1927), S. 289-292,
289 In Hugo Ball, Briefe I9II-I927, hg v Annemane Schutt-Hennings. Einsie-
deln-Zürich-Köln 1957, S 180, erwähnt Ball den Besuch von Fuchs, zusammen
mit Ruth Schaumann, im Juli 1924 Fuchs' o g Nachruf stellt die intensivste Be-
schäftigung dar. die Ball im Hochland zuteil wurde Fuchs ist es vor allem um den
Nachweis zu tun, daß Ball als Person authentisch hinter dem oft als bloß litera-
nsch gescholtenen Radikalismus seiner Werke stand.
3
Vgl Stadt Pirmasens (Hg.): Hugo Ball Almanach 1982, S 1-73; zum Byzant
Christentum S 56-58.
184 Ball und der Weimarer Katholizismus

sig vor Balls großem Werk stehen, mit dem Interpretationsansatz Eine
Alternative zum 'Übermenschen' hat er wohl nur einen Zipfel des ge-
samten Gewebes in die Hand bekommen 4 Emmy Hennings-Ball hat
das Byzantinische Christentum stets mit ganz besonderer Verehrung
behandelt, und sie liefert wichtige Aufschlüsse über die Bedingungen
seiner Entstehung, über den Inhalt des Buches aber wird man bei ihr
auch nicht so recht klug 5 Bernhard Echte, der Herausgeber der Neu-
auflage der Flucht aus der Zeit, behält wohl recht mit seiner Feststel-
lung, daß sich Balls Hinwendung zur „asketisch-mystischen Tradition
des Katholizismus" noch heute befremdlich ausnimmt und bereits sei-
nen Weggefährten ein „schwer erklärbares, deswegen um so erklä-
rungsbedürftigeres Skandalon war "6 Der überfromme, der hagiogra-
phische Ball mit seinem religiösen Pathos will zu dem Dadaisten und
Kritiker nicht so recht passen
Bei meinem Dreiecksthema habe ich es mit drei schwer zu ergründen-
den, je in sich kaum bestimmbaren Unbekannten zu tun mit der Stel-
lung des Byzantinischen Christentums im Leben Hugo Balls, die nicht
unabhängig von seiner Rückkehr zum katholischen Glauben erfaßt
werden kann (Abschnitt 2), mit dem Byzantinischen Christentum selbst
und seinen Aussagen, seiner literarischen Gestalt und seinem Anspruch,
wobei es nicht immer leicht ist, hinter Balls geistsprühenden Formulie-
rungen das Gemeinte zu finden (Abschnitt 3), schließlich mit der Stel-
lung dieses innerhalb des Weimarer Katholizismus, dessen Vielgestal-
tigkeit einlinige Zuordnungen auch nicht gerade nahelegt (Abschnitt
4).7 Unbedingt werde ich es mir versagen müssen, die Behauptungen,

4
Friednch Wilhelm Kantzenbach: Eine Alternaüve zum Übermenschen", in: Hugo
Ball Almanach 1987. S 87-137 Kantzenbach verdanke ich gleichwohl viele
wichtige Hinweise
5
Vgl. vor allem Emmy Hennings-Ball Hugo Balls Weg zu Gott Ein Buch der
Erinnerung München 1931, 87-107 - Balls Flucht aus der Zeit ist zur Vorge-
schichte und zur Entstehung des Byzant. Christentums mindestens ab dem Eintrag
vom 17 6 1919 zu konsultieren (in der von mir benützten Ausgabe Zünch 1992,
S 237) Dokumente aus dem Umkreis und Ausschnitte von Kritiken dazu bietet
der Ausstellungskatalog Ernst Teubner (Hg ) Hugo Ball (1886-1986) Leben und
Werk Berlin 1986
6
Nachwort zu Die Flucht aus der Zeit. Zürich 1992. S. 314
7
Zu diesem letzten Themenaspekt greife ich vor allem auf meine Studie Die verlo-
rene Nützlichkeit der Religion. Katholizismus und Moderne in der Weimarer Re-
publik Paderborn u a 1994 zurück
Thomas Rüster 185

Hypothesen und Ableitungen, die Ball in seinem Werk vornimmt, im


einzelnen zu überprüfen Angesichts der Thesenfreudigkeit dieses nicht
der Fachliteratur zuzurechnenden Buches würde es ein ganzes Team
von Experten erfordern, eine solche Überprüfung vorzunehmen Ein
Wissen über die von Ball behandelte Epoche der Philosophie-, Theo-
logie- und Liturgiegeschichte - eigentlich die ganze Geschichte der
alten Kirche incl der sog Gnosis und der Mysterienkulte - wäre dazu
vonnöten, das ich nicht aufzuweisen habe

1 Hugo Ball und sein Byzantinisches Christentum

Balls Byzantinische Christentum steht zwischen seiner Kritik der deut-


schen Intelligenz (1919) und deren Überarbeitung in den Folgen der
Reformation (1924), nach dem Abschluß des Byzanzbuches schrieb er
allerdings zunächst den Aufsatz Carl Schmitts politische Theologie,
der 1923 fertiggestellt war und im Juni 1924 im Hochland erschien
Über den Zusammenhang des Schmitt-Aufsatzes mit diesem Buch wird
später zu reden sein (Abschnitt 4) Zunächst ist die Feststellung von
Bedeutung, daß Ball einen inneren Zusammenhang zwischen der Kritik
bzw den Folgen und dem Byzantinischen Christentum immer gesehen
hat Am 6 8. 21 schreibt er an August Hoffnann „Was soll ich Dir
sagen'? Ich habe mich mit der Theologie eingelassen und sie läßt mich
nicht mehr los Ich fürchte fast, daß meine 'Kritik' dazu führte " 8 In der
Flucht aus der Zeit heißt es unter dem 24 5 21, zwischen Eintragun-
gen zur dionysischen Mystik: „Meine 'Kritik' ist eine Absage, eine
Flucht, nach ungefährer Benennung der diese Flucht bestimmenden
Gründe " 9 Offenbar wollte er mit dem Byzantinischen Christentum
über die bloß verneinende Tendenz der Kritik hinauskommen und et-
was Positives setzen, zugleich aber die Absage nicht ungeschehen ma-
chen, sondern ihre Gründe nun genauer benennen können Dazu paßt
eine Äußerung in einem Brief an Adolf Saager vom Februar 1920, die
man wohl als die erste Erwähnung eines Planes zu einem neuen Buch
nach der Kritik ansehen darf er sei ganz besessen von einer Anregung,
„nämlich nun, nach dem negativen, ein positives System aufzubauen."
Ball sprach in diesem Brief noch sehr allgemein von einer „Philosophie

8
Ball, Bnefe (Anm 2), S 138.
9
Flucht aus der Zeit (Anm 6). S 292; Hervorhebung von Ball
186 Ball und der Weimarer Katholizismus

des produktiven Lebens", die auf der Achtung und Anerkennung des
Nächsten aufruhen und eine Ordnung des „bevorstehenden neuen Rei-
ches" erkennen lassen sollte, „in der die gewaltige Pflege der Produk-
tivität die Grundlage der Moral abgibt" 10 Zur Einlösung dieser noch
sehr humanistisch bewegten, auf jeden Fall aber politisch gemeinten
Pläne ist es dann nicht gekommen, wenn auch Balls Hinweis auf die
„Katastrophe", aus der „wenigstens Charakter kommen soll", seine
spätere Bewunderung der Askese schon andeutet " Als das Byzantini-
sche Christentum dann bereits zwei Jahre vorlag, hielt Ball auch im
Rückblick an der thematischen Einheit dieses Buches mit der Kritik
bzw den Folgen fest: „Mein 'Byzantinisches Christentum' ist ein viel
stärkerer, prinzipieller Angriff gegen den Protestantismus Es wird sich
einmal herausstellen Was in meinen 'Folgen' nicht steht, das steht
dort Die beiden Bücher gehören in diesem Sinne zusammen Sie stüt-
zen und erklären einander "12 Versteht man bei Ball unter dem „Angriff
gegen den Protestantismus" nicht nur ein kontroverstheologisches Pro-
gramm, sondern auch den Angriff gegen die Allianz von Thron und
Altar, die er in der Kritik bzw in den Folgen vorgenommen hatte, dann
wird deutlich, daß er auch sein Byzantinisches Christentum in der
Fluchtlinie einer Auseinandersetzung mit jenen Geistesmächten in
Deutschland ansiedelte, die den Krieg möglich und die Deutschen in
der Welt verhaßt gemacht hatten Er hat es also als politisches Buch
verstanden, nur daß er jetzt nicht mehr bei der Negation stehenbleiben,
sondern vom christlichen Glauben aus die Grundlage einer neuen Ord-
nung entwerfen wollte.
Das Byzantinische Christentum ist nicht nur ein politisch-program-
matisches, sondern zugleich ein sehr persönliches Buch Hugo Balls,
und es spiegelt seinen Weg zurück zum Glauben der römisch-
katholischen Kirche Emmy Hennings-Ball hat auf die verborgenen
Verbindungslinien hingewiesen, die zwischen diesem Buch und Balls
religiös durchtränkter Kindheit sowie seiner jugendlichen Auseinander-
setzung mit Nietzsche bestehen 13 Zur Zeit der Abfassung des Buches
gaben ihm seine dramatisch beschränkten Lebensumstände Anlaß, sich

10
Ball. Bnefe (Anm. 2), S. 125 f. vgl dazu Hennings-Ball (Anm 5). S. 82 f
11
Ball, Briefe (Anm 2). S 126.
12
Brief an Hans Rost vom 21 12 25. in Ball. Bnefe (Anm 2), S 236.
13
Vgl Hennings-Ball (Anm 5), S. 11, 15, 21, 27 f.
Thomas Rüster 187

mit der asketischen Lebensweise des Johannes Climacus zu identifizie-


ren; was von außen zwangvoll auferlegt war, konnte so zur innerlich
bejahten Haltung werden 14 Der Asketen und Mystiker „Verschwin-
dungssucht" und ihre Lust am Sich-Verlieren waren auch seine eigene,
wie er in einem Brief an Hermann Hesse vom 29 5 22 bekennt15 Ein
kurzer Durchgang durch die Notizen der Flucht aus der Zeit, die in die
Phase der Vorbereitung und Entstehung des Byzanzbuches fallen, gibt
Aufschluß über das Ineinander von persönlichen und wissenschaftli-
chen Motiven Balls und ihrer Verquickung mit seiner religiösen Exi-
stenz:
Am 17 6 1919 spricht er von Plänen für ein Buch über die Religion
der deutschen Klassiker, mit dem er eine Lücke in seiner Kritik zu
schließen gedachte Erste Überlegungen dazu folgen, aber der Abstand
zu dem dann nicht ausgeführten Projekt ist schon deutlich den Klassi-
kern fehle die Mystik, sie hätten die Grenzen der Humanität nicht über-
schritten und dem Heidentum Einlaß gewährt16 Am 12. 7. 1919 liest er
interessiert über die Mystiker und bereits über Dionysius Areopagita 17
Am 7 12 d J berichtet er von einem rauschhaften Erlebnis mit dem
Credo, der Glaube seiner Kindheit erfaßt ihn mit Macht, wenn auch
noch unter eher ästhetischen Vorzeichen 18 Am 12 2 1920 findet er in
dem „Heiligen" das Gegenbild zu dem im Krieg korrumpierten Helden-
begriff und will mit ihm „den Glauben wiederherstellen und eine neue
Ordnung ermöglichen" 19 In den Juli 1920 fallen Eintragungen über die
Lektüre verschiedener Bücher, die Theologen, Asketen und Mystiker
betreffen: „ein Zusammenschluß aller meiner verschiedenartigen Sehn-
süchte und Bestrebungen Welch ein Umweg war nötig, um dahin zu

14
Vgl ebd S 91 Hier läßt sich womöglich bereits ein Motiv erkennen, das in der
Theologie des Weimarer Katholizismus überall zu greifen ist: Glaube als Verin-
nerlichung äußeren Zwangs mit dem Ziel der freiwilligen Übernahme Vgl dazu
Rüster (Anm. 7), S. 368 f., 372
15
Bnefe (Anm. 2), S. 145
16
Vgl Ball, Flucht aus der Zeit (Anm 6), S. 237 ff
17
Ebd. S. 251 f.
18
Ebd S 256 E Przywara hat später - wie ich meine, mit Recht - auf die ästheti-
sche Strukturverwandtschaft zwischen Balls hier berichtetem Glaubenserlebnis
und seinen früheren dadaistischen Manifestationen hingewiesen, vgl Ench Przy-
wara: Integraler Katholizismus, in: ders : Ringen der Gegenwart Gesammelte
Aufsätze 1922 bis 1927, Bd I Augsburg 1929, S. 133-145, 134-137
19
Ball, Flucht aus der Zeit (Anm 6), S 257
188 Ball und der Weimarer Katholizismus

gelangen!"20 Weitere scholastische und patristische Studien lassen ihn


am 9 8 1920 ein Bekenntnis zu einem ,,integrale[n] Katholizismus"
äußern, das, im Stile des sieghaften kirchlichen Selbstbewußtseins der
ersten Nachkriegszeit gehalten, den Affirmationen eines Karl Adam,
Engelbert Krebs oder Theodor Haecker in nichts nachsteht nur der
Katholizismus sei die „Macht, die der auflösenden Tradition gewachsen
ist, der sich nicht einschüchtern läßt, der die Interessen verachtet,
der den Satan kennt und die Rechte verteidigt, koste es, was es wol-
le "21 Im Oktober 1920 werden in Agnuzzo die Acta sanctorum gele-
sen, Ball findet bei ihnen einen „unverirrbaren Standort" 22 Die Arbeit
am Byzantinischen Christentum beginnt zunächst, gemäß einem Ein-
trag vom 29 12 20, mit einem Kapitel über den Mönchsvater Antoni-
us, das später verworfen wird Bereits am 3 1 1921 notiert Ball Vom
„christlichen Mönchtum der ersten Zeiten [...] könnte der Gegenstoß
gegen eine unheilbar gewordene, ringsum besessene Welt erfolgen Die
Zeiten haben eine merkwürdige Ähnlichkeit Wir empfinden heute die
Akademie nicht anders als Tertullian [...] , [ihr ist] die rigoroseste Ab-
stinenz [...] entgegenzusetzen"23 In das Jahr 1921 fällt die Beschäfti-
gung mit dem Areopagiten Am 17 4 21 hält ihn Ball für die „vor-
gesehene Widerlegung Nietzsches", leider hier ohne jede Erläuterung 24
Einläßliche Beschäftigung mit dem antiken Mysterienwesen, der Gno-
sis und den christlichen Sakramenten füllt die nächsten Seiten der
Flucht aus der Zeit Hier geht es für Ball um das Wirken der Gnade,
um die Stufen der Erlösung und um Neuwerdung, und darum, wie das
Taufpneuma im innersten Grunde der Seele „das Gewürm und Gezüch-
te" ausbrennt „Damit finde und komme ich zu meinem speziellen und
persönlichen Interesse zurück Ich bin ein getaufter Katholik "25
Zusammenfassend läßt sich sehen: Das Byzantinische Christentum
spiegelt einen Weg, den Hugo Ball in der Zeit der Erarbeitung des Bu-
ches zurückgelegt hat Es ist ein persönliches Buch: er deutet seine
eigene Existenz vor dem Hintergrund des mönchischen Asketismus und
teilt mit diesem einen Überdruß an Leben und Zeit Es ist ein politi-
20
Ebd. S. 266
21
Ebd S. 273.
22
Ebd. S 276.
23
Ebd S. 279.
24
Ebd S 284
25
Ebd. S 298.
Thomas Rüster 189

sches Buch Unter veränderten Vorzeichen führt er seine Kritik an der


bürgerlichen Moderne weiter, die er in der Kritik der deutschen Intelli-
genz begonnen hat Der Rigorismus der Asketen und Einsiedler er-
scheint Ball als strahlendes Gegenbild zu seiner Zeit, der er mangelnde
Ernsthaftigkeit und Oberflächlichkeit vorzuwerfen hat Die Neue Ord-
nung kann nur von einer Haltung aus entstehen, wie die Mönche sie
vorlebten: Strenge gegen sich selbst, Einklang von Wort und Leben,
„strengste Selbstausschließung" 26 Und es ist ein religiöses Buch: Ball
sucht hier den Glauben, den „Katholizismus" zu definieren, zu dem er
sich neu bekannte Es läßt sich zeigen, daß es diesen Ball'sehen Katho-
lizismus zu seiner Zeit nicht gab Darum zog er sich auf Byzanz zu-
rück
Zwei Anmerkungen noch zum Byzantinischen Christentum in Balls
werkbiographischem Kontext 1 Ball hat spätestens ab Juni 1921 seine
Beschäftigung mit der Askese in einen Zusammenhang mit (Psycho-)
Analyse, Therapie und Exorzismus gerückt.27 Damit ist die Brücke zu
seinem anschließend geplanten Werk über Exorzismus und kirchliche
Therapieformen geschlagen Seine spätere, extensive Heiligen- und
Klerikerverehrung ist ebenfalls in seinem Byzantinischen Christentum
angelegt und vorgezeichnet Es wird auch deutlich werden, warum ihn
die Haltung des Byzanzbuches zu jener unpolitischen Existenz und der
dann nicht mehr erzwungenen, sondern freiwilligen Zurückgezogenheit
bestimmte, die die letzten Jahre seines Lebens kennzeichneten So steht
das Byzantinische Christentum zeitlich und programmatisch am Beginn
eines neuen, des letzten Lebensabschnitts Balls
2 Offenbar war für Ball nicht von Anfang an klar, welche Heiligenle-
ben er zeichnen wollte Ein Kapitel über Antonius (ca 250-356), den
Begründer des Mönchstums in Ägypten, war bereits fertiggestellt, Cy-
prian von Karthago (+258), der Märtyrer und vor Augustinus führende
Theologe des Westens, und Ignatius von Antiochien (+ ca 117) stan-

6
Vgl Ball, Briefe (Anm 2), S 201 Am 14 2 1925 schreibt Ball an August Hof-
mann: „Im Grunde bin ich ganz derselbe geblieben Kannst du das sehen? Ich bin
sehr für Selbstausschließung Das wollte ich im Byzanzbuch mit der Asketik und
in den Folgen mit der Verneinung und Ablehnung der Kultur' in aller Bestimmt-
heit und Zuverlässigkeit ausgedrückt haben."' (ebd S 204)
7
Vgl ebd. S 133; Ball, Flucht aus der Zeit (Anm.6), S. 289; Hennings-Ball
(Anm. 5), S. 170.
190 Ball und der Weimarer Katholizismus

den ebenfalls zur Auswahl28 Vielleicht gehört auch Suso (Heinrich


Seuse, +1366) in diese Reihe, den Ball „dionysisch" nennt und von dem
er für das Verständnis der Mystik manche Anregung entnahm.29 Dar-
aus ist zu folgern, daß die Eingrenzung auf die Epoche des palästi-
nisch-syrischen Christentums des 5 bis 7 Jahrhunderts, die Ball dann
unter den Begriff „byzantinisch" faßte, nicht von Anfang an in seinem
Sinn lag Interessierten und faszinierten ihn allein die Gestalten, die er
schließlich auswählte, oder war ihm an dem „Byzantinismus", gemein-
hin verstanden als Synonym für ein „Staatskirchentum mit stark privi-
legierter Kirche und Einfluß des Staates auf das Dogma"30, gelegen7
Letzeres hätte Aussagewert, es lassen sich aber im Umfeld des Byzan-
tinischen Christentums keine Äußerungen finden, die in diese Richtung
deuten, wie auch das Buch selbst alle Anspielungen auf den zeitge-
schichtlich-politischen Kontext unterläßt

2 Das Byzantinische Christentum Struktur und Aussage

Hugo Ball führt drei Heiligenleben vor: Johannes Climacus (579-649),


Dionysius Areopagita (Hauptwerke um das Jahr 500) und Symeon
Stylites (396-466) Er beginnt also mit dem Jüngsten und endet mit
dem Altesten Diese Reihenfolge ist sprechend historische Entwick-
lungen, Abhängigkeiten. Umstände wollte er nicht sehen, wie hätte er
sonst den Climacus, der auf drei Jahrhunderte mönchischer Askese
zurückblickte und sie zur Technik verfeinerte, dem Styliten voranstel-
len können, der sich am Anfang der asketischen Entwicklung befindet
und dessen Saulenstehertum sich nicht hat durchsetzen können?31 Ball
kehrt die Reihe um und gewinnt so den Anschein der Überzeitlichkeit,
28
Vgl Ball. Bnefe (Anm. 2), S 137; Hennings-Ball (Anm 5), S 89
29
Ball, Flucht aus der Zeit (Anm 6), S 291 f
30
Ench Bayer (Hg ) Wörterbuch zur Geschichte Stuttgart 1965, S. 69.
31
Ball macht einige Angaben zur Entwicklung des Styhtentums, vgl Byzantini-
sches Christentum. Drei Heiligenleben. Frankfurt a M 1979. S 249, Anm 8
Dabei erörtert er nicht die regionale Bedingtheit dieses Phänomens, die wohl mit
dem frühen syrischen Enkratismus zusammenhängt Vgl dazu Peter Brown Die
Keuschheit der Engel Sexuelle Entsagung. Askese und Körperlichkeit am Anfang
des Christentums München-Wien 1991, S 332-346 Brown informiert überhaupt
hervonagend über die frühchristliche Askese in ihren verschiedenen Ausprägun-
gen; sein Buch gibt die Erklärungen, die man bei Ball vermißt Zu Johannes Cli-
macus s bei Brown S 250-253
Thomas Rüster 191

an dem ihm gelegen ist, um in die Gegenwart sprechen zu konren Das


steigert sich zum Schluß seines Werkes hin, deutlich hervorgeloben in
der Einleitung zum Teil über Symeon den Styliten: dieser steae nicht
für eine vergangene Zeit, sondern für die zeitlose Sprache Gottes in der
Welt, für die „gigantischen Schätze", die die Kirche der Welt ZJ geben
hat, für den „Schrei nach den geistigen Gütern der Kirche" und das
„Signal für die Rückkehr in ihren Schoß" 32 Man mag das, mit Walde-
mar Gurian, einen „christlichen Symbolismus" nennen, der sich licht an
das Geschichtliche hält, sondern an die übernatürliche Ordnung33 Was
soll aber hier symbolisiert werden?
Ein Hinweis darauf liegt wieder im Aufbau des Buches und in der
Zusammenstellung der Heiligen Ball hat hier wohl kaum zufallig ein
Moment der Verfremdung eingebaut In Johannes und Symeon preist
er genau jene Form der radikalen mönchischen Askese, die er mit Di-
onysius auf den letzten Platz der kirchlichen Hierarchie verweist Die
Mönche und Einsiedler sind, nach Dionysius, ja noch im Büßerstande,
sie haben noch zu kämpfen „mit Versuchungen und Ängsten, persönli-
chen Widersprüchen und deren Nachwirkungen" „Aber die Schrift
fordert mehr " 34 Von der Höhe des Priesterstandes sind die Mönche
weit entfernt Ball rezipiert das zustimmend, es gehört zum Herzstück
seiner Ausführungen über die kirchliche Hierarchie Wenn er aber diese
Kämpfer und Entsager, deren Radikalismus nicht erschwinglich ist und
nicht das Höchste bedeutet, dann doch behandelt, dann wegen des
„Symbolismus" Das Symbol nennt er im ersten Satz des Werkes:
„Johannes Klimax ist soviel wie Johannes mit der Leiter "35 Die Leiter
ist nun einmal ein Instrument, mit dem man von unten nach oben und
wieder zurück gelangen kann Sie setzt ein Unten und ein Oben voraus
und eine Verbindung zwischen beidem Bei den Heiligen reicht iie bis
in den Himmel, wie Ball leitmotivisch hervorhebt, auf ihr steigen Engel
auf und nieder Immer geht es in diesem Buch um Aufstieg und Erhe-
bung und zugleich um die Verbindung von Himmel und Erde Sc wird
32
Ball. Byzant Chnstentum (Anm 31). S 233 ff
33
Waldemar Gurian Vorwort zur Ausgabe des Byzant Chnstentums Minchen
1931, S VIII f
34
Ball, Byzant Chnstentum (Anm 31). S 200; s zur Nachordnung der Nönche
unter die Pnester auch ebd S. 166-177 und S 199-214 Das Thema ist BU1 also
viele Seiten wert
35
Ebd S. 9
192 Ball und der Weimarer Katholizismus

auch seine Gliederung plausibel Climacus ist der Programmatiker des


Aufstiegs, Dionysius ihr Theoretiker, Symeon aber, mit seiner Säule
verwachsen, der zum stehenden Bild gewordene Aufgestiegene selbst,
das Symbol des Christentums Die Säule ruht indessen fest auf der Er-
de Vom Styliten sagt Ball „Vom De profündis bis zum In Excelsis
ermißt er den ganzen Raum des Gebetes Sein Fuß ruht in der Verwe-
sung, sein Scheitel rührt an die Sterne " 36 So wird er zum Symbol der
Kirche Zu ihm strömen die Völker, daß er sie richte und tröste,
„Könige unter die Bettler gemischt " 37
Es hat Logik, daß Ball die Leiter leitmotivisch nimmt Er hatte ja sei-
ner Zeit eine zu enge Verquickung von Religion und Politik, von Altar
und Thron vorzuwerfen gehabt Die Freiheit und Eigenständigkeit der
Religion, ihre Transzendenz, ihr Irrationales, ihre Eschatologie wollte
er retten Andererseits war er in einen Katholizismus hineingestellt, der
nach dem Krieg neu angetreten war, Welt und Gesellschaft zu retten
Mit reiner Weltflüchtigkeit konnte es da nicht getan sein, da wäre die
Welt sich selbst überlassen geblieben So richtete er die vertikale
Eschatologie des von Unten nach Oben auf, ohne die am Fuße der
Leiter aus dem Blick zu verlieren Ja sie konnten selbst aufsteigen,
wenn sie es den Asketen nachmachten Transzendenzbezug und
Weltauftrag der Kirche waren miteinander vermittelt Hier stoßen wir
womöglich auch auf das Motiv, aus dem heraus sich Ball gerade der
monastisch-asketischen Seite des „byzantinischen" Christentum zu-
wandte Auch der Cäsaropapismus eines Kaiser Konstantin (325-337),
eines Justinian (527-65, die Zeit des PsDionysius) hatte Thron und
Altar in beispielloser Weise aneinandergekettet Die christliche Escha-
tologie war in Gefahr, insoweit sie sich zur bloßen Legitimation der
herrschenden Politik hergeben mußte Da standen die Mönche und
Asketen auf und retteten die Jenseitigkeit des Glaubens und der Kirche,
ohne doch die bestehende Ordnung zu suspendieren Die Denkungsart

6
Ebd S 262 Odo Casel. dem Ball wegen seiner Vorliebe für die Patristik und die
Mystenenkulte nahe steht, sagt von der Kirche, nur noch eben streiften ihre Füße
den Boden, „ihr Haupt ragt über die Sterne" (Odo Casel: Mystenum der Ekklesia.
Von der Gemeinschaft aller Erlösten in Christus Jesus, ausgew und eingel v
Theophora Schneider Mainz 1961. S 100) Die Kirche als Verbindung von Him-
mel und Erde ist dieser Theologie die leibgewordene gottgewollte Ordnung der
Welt
7
Ball. Byzant Chnstentum (Anm 31), S. 247.
Thomas Rüster 193

der Zeit gab ihnen die Mittel, der jüdisch-biblischen, geschichtlichen


Eschatologie abzusagen, die ohne Kritik an den Herrschenden nicht zu
haben ist, und die Hoffriungsrichtung ins Vertikale zu richten Der
Kampf gegen das Böse wurde weiterhin geführt, so wahr das Christen-
tum Erlösungsreligion bleiben wollte, aber er ging jetzt gegen das ma-
teriell-Untere und das triebhaft-Innere der Magen, die Kehle, das Ge-
schlecht sind die Feinde, wie es Ball für Climacus schildert38 Die
Preisgabe der geschichtlich-zukünftigen Eschatologie und die Indivi-
dualisierung der Heilserwartung gehen aber stets miteinander einher
Dionysius Areopagita hatte die Theorie dafür zu liefern Wenn man
sagen kann, daß im 6 und 7 Jahrhundert die Hellenisierung des Chri-
stentums zu einem Höhepunkt und Abschluß kam, dann zeigt Ball ohne
kritischen Vorbehalt auf, wie es dazu kam Sein Dionysius-Kapitel
verfolgt die Absicht, die Behauptung vom bloß neuplatonischen Ein-
fluß auf den Areopagiten zu modifizieren 39 Er stellt die Gnosis als die
eigentliche „geistige Großmacht"40 der Antike in Rechnung, mit der
sich sowohl das Christentum als auch der Neuplatonismus eines Jam-
blichus und Proklus hätten auseinandersetzen müssen.41 Dementspre-

38
Vgl. ebd. S 49
39
Vgl ebd. S 184 f
40
Ebd S. 152.
41
In der Flucht aus der Zeit heißt es zum 6 7. 21, S. 297: „Das Mystenenwesen
und die Gnosis geben ganz unverkennbar den letzten Schlüssel Auch zur
Kirchlichen Hierarchie'" Ball ist von dem weiten Gnosisbegnff abhängig, den
die Religionsgeschichtliche Schule in den ersten zwei Jahrzehnten des Jahrhun-
derts gebildet hatte Wichtige Werke waren: Adolf Harnack Lehrbuch der Dog-
mengeschichte, 1887, 41909; Richard Reitzenstein: Poimandres. 1904; Wilhelm
Bousset: Hauptprobleme der Gnosis, 1907; Richard Reitzenstein: Die hellenisti-
schen Mysterienreligionen, 1910, Eduard Norden: Agnostos Theos, 1913; Richard
Reitzenstein: Das iranische Erlösungsmysterium, 1921 (von Ball nicht mehr rezi-
piert) Im Einklang mit dieser Forschungsnchtung faßte Ball die Gnosis als
spätantikes Universalphänomen, das alle Bereiche des Geisteslebens (Mysterien,
Philosophie, Chnstentum) durchdrang Dementsprechend konnte er verschiedene
Phänomene wie Mystik. Philosophie. Mysterien, Kulte, Zauber, Ekstase unter die-
sen Begriff bringen. Die neuere Gnosis-Forschung unterscheidet vorsichtig zwi-
schen „Gnosis" als Erkenntniskategorie und „Gnostizismus" als den Syste-
men/Mythen des 2/3 Jahrhunderts und hat überhaupt den weiten Gnosisbegriff
als nicht hilfreich aufgegeben Vgl dazu die Beiträge von Kurt Rudolph in:
Theologische Rundschau 34 (1969); 36 (1971); 37 (1972); 38 (1973); 50 (1985)
sowie ders Gnosis und Gnostizismus (Wege der Forschung 262) Darmstadt 1975
194 Ball und der Weimarer Katholizismus

chend sei es zu Assimilationen zwischen Gnosis und Juden-


/Christentum einerseits und zwischen Gnosis bzw Mysterienreligionen
und Neuplatonismus andererseits gekommen In allem ging es um das
Problem der Stufüng zwischen irdischem und himmlischem Bereich, die
zu kennen die Erlösung bedeutete, und damit zusammenhängend um
die Frage, wer die berufenen Offenbarer und Vermittler des
„erlösenden" Aufstiegs sind Das Problem einer zweifachen Hierarchie
- einer himmlischen und einer kirchlichen - lag also dem Areopagiten
der Sache nach schon vor Die Gnostiker waren Spezialisten in Sachen
Stufüng und Hierarchie, wußten aber der Macht des Bösen nicht an-
ders gerecht zu werden als durch die Einführung eines bösen Schöpfer-
gottes, eines Demiurgen Ihre Leiter war also gebrochen Dies wider-
sprach dem christlichen Schöpfüngsglauben Dionysius übernahm das
gnostische Struktur- und Aufstiegsprinzip, verwandelte aber die
schroffe Dualität von Gut und Böse in ein dynamisches Ab- und Auf-
stiegsgeschehen, das in der inneren Trias, dem Überfließen Gottes
selbst begründet ist Dionysius mischte dem für den menschlichen Ge-
brauch ein pädagogisches Element bei, das er von Clemens von Alex-
andrien hatte 42 Er war also in zweifacher Hinsicht der Begründer einer
friedlichen, versöhnenden Theologie indem er den gnostisch-
demiurgischen Dualismus überwand und damit der Welt ihre Einheit
wiedergab, und indem er den Streit von fünf Jahrhunderten zu einer
ausgleichenden Synthese brachte 43 Sein System der doppelten Hierar-
chie - eine himmlische und eine kirchliche in je neun Rangstufen - ba-
lancierte die Ordnung der Welt aus und wies zugleich der Kirche eine
unersetzliche Stellung in der Heilsvermittlung zu Das kirchliche Amt,
das ehemals, so Ball, im Schatten der eifernden und gottunmittelbaren
Mönche stand, rückte auf diese Weise, nach göttlich-triadischen Vor-
bild gestuft in Bischöfe, Priester und Liturgen (Diakone), in das Zen-
trum des Erlösungswerks Ball hält sich an diesem Punkt lange auf der

und Carsten Colpe Gnosis II, in: Reallexikon für Antike und Christentum Bd 11
Stuttgart 1981. S 538-659 Ball sah die Geistesnchtungen, die in den antignosti-
schen Schnften des Irenäus und Tertullian im 2/3 Jahrhundert greifbar werden,
bis in die Zeit des PsDionysius weiterwirken, wird hienn aber von der Literatur
und wohl auch von den Tatsachen nicht bestätigt
42
Vgl Ball. Byzant Christentum (Anm 31), S 162 ff
43
Vgl ebd S 99 ff
Thomas Rüster 195

Areopagite habe die „Apotheose des Klerus vollzogen"44, es gebe Er-


lösung nur in den Fesseln der Hierarchiestufen, ohne diese zu über-
springen Da es sich nach Dionysius so verhält, daß die jeweils unterste
Stufe einer Hierarchie mit der obersten der darunterliegenden aufs
Engste kommuniziert, können auch die Bischöfe Engel genannt wer-
den 45 Sie allein wissen um die Heilsgeheimnisse, die sie unter gewissen
Kautelen an die Angehörigen der tieferen Stufe weitergeben Z*6 Ein
„mönchisches Mißverständnis", das „unter Verachtung der kirchlichen
Mittel und Stufen nach letzten Erkenntnissen strebt"47, habe dagegen
immer zur „Rebellion gegen den Priester"48 geführt bis hin zur Refor-
mation, die Ball in diese Linie stellt, und die Dionysius zugleich mit
dem Mönchtum überwunden habe - und mit ihr den Anthropomor-
phismus und Immanentismus der Neuzeit überhaupt 49
Mit Dionysius läßt sich eine fixierte Gesamtordnung der Welt und
ihrer gottgewollten Rangstufen aussagen, und es läßt sich eine Hoff-
nung auf Erlösung festhalten, die zu ihrer Erfüllung auf die bewährten
kirchlichen Mittel rechnen kann Die gnostischen Mächte und Gewalten
sind gleichsam domestiziert und dürfen fortan auf irgendeiner Hierar-
chiestufe ihr Dasein fristen Der Kirche als dem Abbild des Himmels
und in ihr wiederum den Bischöfen, wie Dionysius wohl selbst einer
war, fällt die überragende, entscheidende Position zu, wenn es sich um
die Darstellung der Schöpfüngsordnung und um den Vollzug der Erlö-
sung handelt Gleichwohl ist der Gefahr, die Kirche als ganze oder ein-
zelne herausragende Vertreter zu „vergotten" - es ist die Gefahr, die
von der Gnosis ausgeht - , gewehrt, denn die Rangstufen der Hierar-
chie bis hinauf zu Gott können nicht übersprungen werden.
Ball weiß die Leistung des Areopagiten kaum hoch genug zu würdi-
gen Ist ihm nicht aufgefallen, wie weit sich die dionysischen Hierarchi-
en vom Geist der Bibel, der Geschichte Israels und der Verkündigung
Jesu entfernt haben9 War ihm nicht bewußt, daß ein Herrschaftssystem
mit religiöser Legitimation - und sei es das kirchliche - von der Bibel

44
Ebd S 196
45
Vgl ebd. S. 227 f
46
Vgl ebd. S 197 f.
47
Ebd. S. 203
48
Ebd S. 211.
49
Vgl. ebd. S 202-214
196 Ball und der Weimarer Katholizismus

her nicht zu haben ist950 Stolperte er nicht über die gewaltsame Her-
meneutik des PsDionysius, der in der Einleitung zu den „Himmlischen
Hierarchien" die biblischen Geschichten nur zu Sinnbildern, ja zu ver-
hüllenden Gegenbildern des eigentlich gemeinten Sinns erklärte951
„Kennt Ball das Evangelium nicht besser?"
Der Auseinandersetzung mit dem Judentum, vor die jede Umdeutung
der biblischen Botschaft gestellt ist, konnte auch Ball nicht ganz aus-
weichen 52 Anlaß dazu gab ihm der Antijudaismus des Styliten Syme-
on tadelte Kaiser Theodosius heftig, weil er den Juden die Erlaubnis
zur Errichtung ihrer Synagogen erteilte, und er warnte davor, nach
Jerusalem zu pilgern, weil es in Byzanz geistlich an nichts mangle.53
50
Darüber wurde und wird indessen auch anders gedacht, nicht nur von Ball Ich
setze hier die Perspektive der biblischen Kntik an religiös begründeter Henschaft
voraus, die umfassend und großartig der Schweizer religiöse Sozialist Leonhard
Ragaz in Die Bibel eine Deutung, 4 Bde Neuausgabe Fribourg/Brig 1990 (zuerst
1947-50) entwickelt hat Sie trifft sich mit neueren befreiungstheologischen Inter-
pretationen, vgl z.B. Pablo Richard: Unser Kampf nchtet sich gegen die Götzen
Biblische Theologie, in: Hugo Assmann u.a.: Die Götzen der Unterdrückung und
der befreiende Gott Münster 1984, S 11-38.
51
Vgl nach der Ausgabe Dionysios Areopagita, Die Hierarchien der Engel und
der Kirche, übersetzt und hg von Walter Tritsch München 1955 (in die Balls
Dionysius-Kapitel als Einführung aufgenommen ist), die Seiten 102-109
52
Wo er sonst im Byzant Christentum von „urjüdischen Traditionen" spneht.
bezieht er sich fast immer auf die zwischentestamenthehe Literatur (Weisheit.
Apokalytik), vgl Byzant Chnstentum (Anm. 31), S. 152 ff, 156 ff. u.ö. Vgl zu
Balls Verhältnis zum Judentum auch den Beitrag von Wacker im vorliegenden
Band.
53
Vgl ebd. S 266 Ball schreibt (S. 262): „Schon in früher Zeit faßte man den
Styliten als ein Zeichen der göttlichen Allmacht auf" Der Geist Gottes, in dessen
Namen er auftrat, hatte keine Verbindung mehr mit dem konkreten Judesein des
Menschen Jesus Hier zeigt sich eine Theologie, die das filioque nicht anerkennt
und darum den Geist nicht vom Juden Jesus empfangen will. Der protestantische
Theologe F.-W. Marquardt schreibt mit Bezug auf dieses mcht nur „dogmatische"
Problem des filioque: „ [...] in der Frage der Bedeutung der geschichtlich-
konkreten, also der jüdischen Menschlichkeit Jesu muß nach unserem Verständnis
das alte Schisma der östlichen und der westlichen Kirchen von uns aus aufrecht-
erhalten werden [...] ihnen [den östlichen Kirchen] gegenüber müssen wir darauf
behanen. Jesus auch nach seiner Auferstehung Jesus bleiben zu lassen [...] Was
ihn betrifft, kann der Himmel mcht zum Konkunenzort für Nazareth und Ka-
parnaum, zu Jerusalem und Golgatha werden" (Friednch-Wilhelm Marquardt
Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden Bd II München 1991, S 49 f.)
Das ist wie gegen Symeon und seine Deutung durch Ball gesprochen Zwar hat
Thomas Rüster 197

Ball ergeht sich dazu in geheimnisvollen Andeutungen und Fragen


deutet nicht die Verwesung des Symeon auf das Schicksal des Gottes-
volkes, „das den Messias verkauft hat9" Aber der Leidende auf der
Säule deute auch auf „Lösung" des erwählten Volkes, nämlich dann,
„wenn sich das Judentum des Erlösers erbarmt", wenn also Israel um-
kehrt dann würden auch die Leiden des „aufgehängten Gottes" ein
Ende haben 54 So hat also Israel noch Christus und das Christentum zu
erlösen, um Israels Unglauben willen leidet der Stylit, er, den man
„nahezu mit Christus-Attributen ausgestattet findet"55 Auch diese
Schuld wird den Juden noch aufgeladen, sie sollen sich schließlich in
dem anstößigsten und ekelerregendsten aller Heiligen gedeutet finden.
Es ist eine Anmerkung wert, daß es in vorkonziliarer Zeit immer wie-
der schriftstellernde katholische Intellektuelle waren, die sich des Pro-
blems „Judentum und Christentum" annahmen In der Schultheologie
war dafür kein Platz Wie bei Leon Bloy56, auf den sich Ball hier be-
ruft, wie bei Theodor Haecker57, so findet sich auch bei Ball dieselbe
Figur Man verwahrt sich gegen einen vulgären Antisemitismus, will
die „Judenfrage" theologisch angehen, stößt dann auf der Juden Schuld
am Tode Jesu und ihre Verwerfung, vertieft sich in die unerforschli-
chen Wege Gottes und hofft auf die Bekehrung Israels Diese Art
Theologie, die die christlich-jüdische Solidarität im ungekündigten
Bund nicht in den Blick bekam, arbeitete nur um so mehr dem Antiju-
daismus zu, ja fundierte ihn noch durch intellektuellen Aufwand. - An
dieser Stelle genügt es, auf die Bibel- und Jesusferne des von Ball ge-
rühmten byzantinischen Christentums hingewiesen zu haben
Freischwebende Deutungen und Spekulationen wie die eben erwähnte
zum Judentum durchziehen das ganze Byzantinische Christentum Ball
ist vielleicht mehr als zuträglich fasziniert gewesen von den gnostischen
Geheimlehren, in die er sich so vertieft hat Überall sieht er geheimnis-
volle, heilsgeschichtliche Verbindungen. Symeon hatte ein Schlangen-

das auch den Westen nicht vor theologischem Antijudaismus bewahrt; die dogma-
tische Vorentscheidung liegt aber an dieser Stelle
54
Vgl Ball. Byzant Christentum (Anm 31). S. 263-65
55
Ebd S 266'
56
Leon Bloy Le Salut par les Juifs Paris 1892
57
Theodor Haecker Zur europäischen Judenfrage, in Hochland 24/2 (1927), S
607-619 Haecker setzt sich mit Hilaire Belloc auseinander, dessen Buch Die Ju-
den er 1927 übersetzt und herausgebracht hatte.
198 Ball und der Weimarer Katholizismus

weibchen geheilt: „Reicht des Styliten Bußgewalt bis zum Geheimnis


der Erbsünde hin9"58 Man mag das nachdenkenswert finden, aber es ist
der Grund, warum Balls Werk nicht in die patristische Fachliteratur
einging Dazu kommt seine lose Anbindung an die Quellen, er hält sich
überwiegend im Bereich der Sekundärliteratur auf59 Josef Stiglmayr
S.J., der Dionysius-Forscher und Übersetzer, auf den sich Ball vielfach
bezog, nahm denn auch das Byzantinische Christentum mit einiger
Reserve auf Was ist alle Spekulation wert, wenn sie keinen Anhalt an
den Fakten hat9 Dabei verdient nach Stiglmayr einiges in Balls Werk
„gewiß Beachtung", auch seine „Belesenheit" sei anzuerkennen 60 An-
dererseits müsse „gegen verschiedene unkorrekte Aufstellungen und
Flüchtigkeiten [...] entschieden Verwahrung eingelegt werden" Man-
ches sei mißverständlich, anderes „geradezu falsch" Während Ball „in
heißblütigem Forschungsdrang überstürzten und subjektiven Einbil-
dungen unterlag", träte doch der „maßvolle Sinn des echten Historikers
mehr als einmal in diesem wie in den anderen Büchern Balls zurück"
Stiglmayr schließt, und ich schließe mich dem an: „Man darf eben die
eigenartige Entwicklung seines inneren Menschen nicht übersehen."61

3 Das Byzantinische Christentum und der Weimarer Katholizismus

Drei Große der römisch-katholischen Theologie in der Weimarer Re-


publik haben auf Balls Byzantinisches Christentum reagiert Joseph
Wittig, Romano Guardini und Erich Przywara

8
Ball. Byzant Chnstentum (Anm 31), S. 270.
9
Dies merkte knüsch die Besprechung von Fernand Daunoy in „Echos d'Onent"'.
Pans, Tome 24, No.137 (1925), S 117 f an: „Enfin, il n'est pas dune methode
scientifique de negliger les documents de premiere main " (abgedruckt im Ausstel-
lungskatalog Hugo Ball [Anm 5], S 267).
0
Vgl, auch zum folgenden, Stiglmayr (Anm. 1) Stiglmayr hat das Byzant. Chri-
stentum zuerst in der Zeitschrift für Katholische Theologie 47 (1923). S 580-83
rezensiert Seine spätere Besprechung vertieft die Kntik der ersten
1
Eine Reaktion Balls auf die erste Rezension Stiglmayrs (Anm 60) ist in einem
Brief an E Hennings-Ball vom 7 10 23 erhalten, vgl Briefe (Anm 2), S. 158.
Ball hat wohl den eigentlich vernichtenden Charakter der Süglmayrschen Kntik
nicht ganz wahrgenommen Er hielt sie „im Ganzen" für eine „etwas sauersüße
Anerkennung der 'enthusiastischen Hingabe' des Verfassers " Stiglmayrs zweite
Besprechung (Anm 1) erschien erst nach Balls Tod
Thomas Rüster 199

Wittig widmet sich dem Buch im Rahmen einer Sammelrezension, in


der er sich unter anderem auch mit einem so gewichtigen Werk wie
Barths 2 Auflage des Römerbriefs zu beschäftigen hatte 62 Der Patri-
stiker und religiöse Volksschriftsteller Wittig ist hier wie sonst wahr-
scheinlich repräsentativ für das durchschnittliche katholische Empfin-
den der Zeit Vor dem Byzantinischen Christentum bleibt er verständ-
nislos und sprachlos Er zitiert, ohne zu kommentieren, lobt den Ein-
band, lobt die Sprache, macht vage Andeutungen hinsichtlich einer
Erneuerung des Christentums aus dem Osten, bescheinigt Ball Ver-
trautheit mit der Literatur, ringt sich schließlich den Satz ab, Ball sei
„ein Mann, der das 20 Jahrhundert überwunden und dadurch geheiligt
hat", und muß sich ansonsten „versagen, von der blühenden Schönheit
des ganzen Buches einige Zweige abzubrechen, um sie durch die Stra-
ßen zu tragen" Von seinen fachwissenschaftlichen Nachfragen will er
nichts sagen, „außer etwa, daß sie mich immer wieder in Erstaunen
gesetzt haben" Erstaunen worüber9 Wäre Wittig tiefer in dieses ihm
fremd gebliebene Buch eingedrungen, er hätte sicher den Gegensatz zu
seiner eigenen Theologie auf den Begriff bringen können 63 So steht er
typisch für die allgemeine Verständnislosigkeit und das Schweigen sei-
ner meisten Kollegen
Guardini, feinfühlig im Gebrauch der Sprache, macht bei Ball eifrig
vom Konjunktiv Gebrauch Er bespricht eine Reihe von Büchern über

2
Joseph Wittig: Neue religiöse Bücher, in: Hochland 21/2 (1924), S 414-430,
zum Byzant. Christentum S 417-19 Wittig befand sich zur Zeit der Abfassung
dieser Sammelrezension in einer dramaüschen und angespannten Situation, die
mit dem Konflikt um seinen Aufsatz Die Erlösten, der Verweigerung des Impri-
matur für seine neueren Veröffentlichungen und der drohenden Indizierung seiner
Werke zusammenhing Konnte er sich deswegen nur begrenzt auf Ball einlassen'?
Vgl dazu seinen Brief an Carl Muth vom 3. 11. 1923, der auf die Rezension Be-
zug nimmt, in: Joseph Wittig: Kraft in der Schwachheit Briefe an Freunde Hg v.
Gerhard Pachnicke Moers 1993, S 49-51 Wittigs Besprechung ging im Hoch-
land 21/1 (1923), S. 319 eine Kurzanzeige zu Balls Byzant. Christentum voran:
„Das Werk, aufgrund exakter Studien dargestellt, gehört zu den [...] gelehrten Bü-
chern, die in die [...] künstlensche Form eingegangen sind."
3
Vgl zum Thema von Wittig: Aedificabo ecclesiam Eine Studie über die Anfän-
ge der katholischen Kirche, in Hochland 18/2 (1921), S 257-282; Die Erlösten,
in Hochland 19/2 (1922), S. 1-26 sowie seine Beiträge in dem von Ernst Michel
hgg Sammelband Kirche und Wirklichkeit, Jena 1923 Dazu Rüster (Anm. 7), S.
208-224 Wittig war dezidiert antihierarchisch
200 Ball und der Weimarer Katholizismus

Heilige, und dann: „Hier müßte ich nun das Buch von Hugo Ball ein-
ordnen: Byzantinisches Christentum " 64 Ganz will er es nicht in die
Reihe der großen Hagiographien stellen, doch dann läßt er ihm das
größte Lob zuteil werden, das er zu vergeben hat „Das Buch ist ein
grimmiger, lichtsprühender Angriff auf die liberale Geisteshaltung [...]
Er [sie] stellt das Absolute hin, daß alles Endliche daran zersplittert."
Und dann wieder im Konjunktiv „Das alles wäre herrlich" Denn
Guardini stößt sich sehr an dem Buch, seinen „Übersteigerungen", den
Urteilen, Wertungen, Forderungen Der Satz kommt ihm in den Sinn
„Wer mit diesen Dingen Ernst macht, der spricht nicht so." Bleibt Ball
nicht rein literarisch9 Ist er der Literat, „der am Schreibtisch von den
fürchtbaren Wegen der Heiligen spricht und nachher ins Cafe geht"? So
fühlt sich Guardini in der Pflicht, den Autor, der solche außergewöhnli-
chen Forderungen aufstellt, nach seiner Legitimation zu fragen 65 Und
dann zur Sache Keinen Augenblick hält sich Guardini an dem ge-
schichtlichen Aspekt des Byzantinischen Christentums auf Er stellt es
gleich in die Gegenwart, in „unsere Zeit", die „Endzeit" ist, und in der
die „große Wesensspannung zwischen Christentum und Natur-Kultur
[...] hervortreten" muß, wo die „liberale Einssetzung von Religion und
Kultur-Natur [...] fallen" muß Dahinein gehört Balls Buch über die
byzantinischen Heiligen, dem liberale Einssetzung nun wirklich nicht
vorzuwerfen ist, aber Guardini wird einfach sein Mißtrauen nicht los.
Uberhitzung, Übersteigerung der religiösen Idee und Forderung helfe
der Ratlosigkeit nicht auf ja hier sei die Entfesselung irregeleiteter
religiöser Kräfte zu befürchten „Traut doch dem Superlativ nicht1
Wirkliche Lebendigkeit hat Maß " Dabei bleibt es für Guardini, es ist
halb fragend, halb vorwurfsvoll gesagt Auf Inhalte geht er nicht ein
Bezeichnend aber ist, daß er das Buch sofort auf die damals alle Ka-
tholiken bewegende Frage nach dem Verhältnis von Christentum und
Kultur bezieht 66

4
Romano Guardim: Heilige Gestalt Von Büchern und mehr als Büchern, in
Schildgenossen 4 (1923/24), S 256-268; zum Byzant. Christentum S. 260-262
5
Das Ungewöhnliche und Ungebührliche dieser Frage ist ihm bewußt
6
Im letzten Teil seiner Besprechung macht Guardini am Byzant Christentum
noch die Gefahr einer neu aufkommenden Literatur fest, in der Laien über religiö-
se Dinge sprechen Sie stehen in der Gefahr, „aus Verantwortung für die Idee ver-
antwortungslos zu werden gegen das Leben" „Laien-Gefahr ist Radikalismus der
Idee", während die Amtsverantwortung der Priester diese in die Gefahr bnngt. zu
Thomas Rüster 201

Das tut auch Przywara, wenn auch in anderen Begriffen 1923 hatte
er seine Vorträge Gottgeheimnis der Welt herausgebracht, in denen er
die für ihn in den nächsten Jahren richtungsweisende Formel „Gott in
uns und Gott über uns" gefunden hatte 67 Diese Formel sollte ebenso
der Auflösung Gottes in die Welt wie seiner Verbannung aus der Welt
wehren, sie sollte Immanenz und Transzendenz in dialektischer Span-
nung halten Eine Lösung des Problems des Verhältnisses von Chri-
stentum und Kultur war darin impliziert Als sich Przywara dem By-
zantinischen Christentum zuwandte, gab ihm die Formel die Kategori-
en der Beurteilung vor 68 Er ordnet es, zusammen mit der Theologie
der „Barth-Gogarten-Thurneysen-Gruppe"69 einer Theologie des blo-
ßen „Gott über uns" zu Das Buch diene „ganz einer Religiosität des
Erspürens und Einströmens in Gott im Welt- und Lebensabsterben",
„Also im Grunde Lobpreis der Lebensertötung, Hymnus des Ueber-
menschlichen nur darum, weil Alltagsleben und gewöhnliches Men-
schentum bewußt oder unbewußt als gottfern und gottleer angesehen
werden" 70 Darin konnte Przywara keine befriedigende Lösung des
Transzendenz-Immanenz- bzw des Christentum-Kultur-Problems er-

sehr zu bewahren und zu verhüten - Guardinis Freund Joseph Weiger hat in einer
Besprechung zu den Folgen der Reformation (Schildgenossen 5 [1924/25], S 302)
Guardinis Kritik an Ball bestätigt gefunden In den Folgen habe nur noch „der
Fanatismus des Parteigängers" das Wort, die von Guardini gesehene Gefahr sei
eingetreten Em solches Pamphlet wie die Folgen ließe sich ebensogut auch gegen
die Kirche schreiben, die gute Absicht allein zähle mcht. „Maßlosigkeit trifft sel-
ten das Rechte."
67
Ench Przywara Gottgeheimnis der Welt Drei Vorträge über die geistige Krisis
der Gegenwart München 1923; die Entwicklung der genannten Formel ebd S
139-171
68
Vgl Przywara: Ringen um Gott, in: Ringen der Gegenwart Bd I (Anm 18) S
240-250. zum Byzant. Christentum S 246-248 Der Aufsatz erschien zuerst in den
Stimmen der Zeit, August 1924.
69
Ebd. S. 242
70
Ebd. S 247; 248 Sehr positiv würdigt Przywara am Byzant. Christentum die
Rehabilitation der strengen Mönchsaskese und daß unter Balls „Meisterhänden
der vielumstrittene Pseudoareopagit ein ganz anderes Gesicht bekomme, das Ge-
sicht eines zweiten Irenäus und Klemens Alexandrinus. der die zähesten Formen
des Gnostizismus in positiver Arbeit überwand" Ball freute sich über die Bespre-
chung Przywaras. fand aber, daß dieser ihn „nicht genau gelesen habe" Hennings-
Ball (Anm 5), S. 132; vgl auch den Brief an Muth vom 6 2 15. Ball, Bnefe
(Anm. 2), S. 198
202 Ball und der Weimarer Katholizismus

kennen In seiner Stellungnahme zu Balls Flucht aus der Zeit im Jahre


1927 vertiefte Przywara seine bereits gegen das Byzantinische Chri-
stentum geäußerten Bedenken 71 Der „integrale Katholizismus", für
den Ball hier einstehe, suche Integrität, reine Ganzheit, reine Werke,
reine Ordnung, reine Liturgie, deshalb flüchte er notwendig in eine
heile katholische Vergangenheit Die Orientierung an der „Heiligen
Ordnung" gehe immer einher mit einer Flucht aus der Zeit So nahe
Przywara dieses Ordnungsdenken auch lag, und so dringend er mit den
Integralisten die Forderung nach einem „energisch seine Alleingeltung
betonendefn] Sieg-Katholizismus"72 teilte, so glaubte er doch den Zeit-
Flüchtigen einen mangelnden Glauben an den allezeit in seiner Kirche
wirkenden Gottesgeist vorwerfen zu müssen Es sei „katholische We-
senspflicht, in das 'katholische Antlitz' jeder Zeit hineinzusehen"73, und
zwar in „wahrhaft absolute[r] Unterwerfung unter Seine Kirche"74
Alles andere sei Subjektivismus, von dem auch Ball nicht frei sei, wenn
auch bei ihm „die stille Wirkung katholischer Demut bereits reifend
eingesetzt hat"75
Mit seiner exzessiven Theologisierung des hierarchischen Prinzips in
der Kirche, das zugleich das Prinzip einer ständischen Weltordnung
abgibt, lag Ball ganz und gar im Trend des zeitgenössischen Katholi-
zismus Das zeigt zumal die Reaktion Przywaras, aber auch die meisten
anderen katholischen Theologen der Epoche sind in diese Linie einzu-
ordnen: Adam, Casel, Krebs, Eschweiler, Heinen, Haecker, mit Modi-
fikationen auch Guardini 76 Auch darin, daß Ball jede Unmittelbarkeit
zu Gott bestritt und zwischen Gott und die Menschen die Kirche setz-
te, war Ball charakteristisch und traditionell katholisch Die offene Fra-
ge war nur, wie der antimoderne, hierarchische, autoritäre Katholizis-
mus sich zu seiner Zeit, zu der sich rapide modernisierenden Gesell-
schaft der Weimarer Republik verstehen wollte Schroffe Ablehnung
alles Neuzeitlichen und Modernen war für die keine Lösung, die zu-
gleich mit dem Katholizismus in die Zeit hineinwirken wollten, ja sie

71
Vgl Przywara Integraler Katholizismus, in Ringen der Gegenwart Bd I (Anm
18), S 133-145, zuerst in den Stimmen der Zeit, Mai 1927.
72
Ebd S 140
73
Ebd S. 142, Hervorhebung im Original.
74
Ebd S 144
75
Ebd S 137.
76
Statt ausführlicher Belege verweise ich auf Rüster (Anm 7), S 181 ff, 357 ff
Thomas Rüster 203

vor dem Untergang bewahren wollten, die eine nach katholischen


Grundsätzen gebildete Volks- und Gesellschaftsordnung anstrebten
Die Beweglicheren der katholischen Geister griffen in der Frage nach
der Verhältnisbestimmung von Christentum und Kultur immer wieder
nach dem Denkmittel der Analogie 77 Die Analogie erlaubt es, kurz
gesagt, die Einheit der Entsprechung zwischen Wesensverschiedenem
zu denken, sie enthält Einheit und Unterschiedenheit in sich, sie kann,
auf das Verhältnis von Gott und Kreatur, von Übernatur und Natur78,
und dann auf das Verhältnis von Christentum und Kultur angewandt,
die Beziehung von Immanenz und Transzendenz als Ähnlichkeit in je
größerer Unähnlichkeit aussagen Sie war für die Verhältnisse des
Weimarer Katholizismus der hierarchischen Leiter-Figur Balls klar
überlegen Ball war nicht einfach weltflüchtig, wie Przywara es sehen
wollte, auch er hielt die Verbindung zwischen Himmel und Erde im
Auf- und Niedersteigen auf den Stufen der Hierarchie Aber dem
„kreatürlichen Leben" am Fuße der Himmelsleiter war nur beschieden,
„ausgelöscht zu werden".79 „Abtötung ist die Geburt, und ein Jubel
sollte der Tod sein"80 - das war nicht die Botschaft, die ein kulturzu-
gewandter, 'allesumspannender' Katholizismus hören wollte Vielleicht
hatte Ball klarer als andere gesehen, daß das Unten und Oben der Hier-
archie nicht in seine Zeit paßte, und er hatte dies für das ganze Chri-

7
Vgl dazu Przywara Zwischen Religion und Kultur, in: Ringen der Gegenwart
Bd II. 502-522, zuerst in den Stimmen der Zeit, Febr. 1925; Guardini Gedanken
über das Verhältnis von Chnstentum und Kultur, in: Heinnch Kahlefeld (Hg):
Unterscheidung des Christlichen Mainz 1935, 177-221. zuerst in Schildgenossen
6 (1926); sowie Rüster (Anm 7), S. 158-163, 343-346
8
Wenn man neuscholastisch in den Kategorien „übernatürlich-natürlich" denkt
und dann über das Verhältnis von Christentum und Kultur nachsinnt, kommt
man, wie oben Guardini in seiner Besprechung zum Byzant. Christentum, zu dem
Synonym „Kultur-Natur" oder „Natur-Kultur".
9
Vgl Ball, Byzant Christentum (Anm 31), S. 230 - der letzte Satz zu dem Areo-
pagiten Ball erkannte, daß ihn das Kultur-Problem von Przywara und Guardini
schied Zu Przywara „Erich Przywara [...] schneb [...}, meine Asketik [...] und
meine Ablehnung der Kultur' seien übertrieben und man müsse sich davor hü-
ten." (Brief an Muth vom 6 2 1925, Briefe [Anm 2], S 199); zu Guardini: „Wir
sind entgegengesetzter Meinung über die sogenannte 'Kultur' Hen Prof G rech-
net mit dieser Kultur [...], ich dagegen stehe ablehnend dazu [. ]" (Bnef an Lud-
wig Feuchtwanger vom 9 2 1925, Bnefe [Anm. 2], S 201).
0
Ball. Byzant Chnstentum (Anm. 31), S 66 - zu Joannes Climacus auf der vor-
letzten Stufe der Himmelsleiter
204 Ball und der Weimarer Katholizismus

stentum geltend gemacht Seine theologischen Zeitgenossen aber sehen


wir mit dem aussichtslosen Versuch beschäftigt, Hierarchie und Autori-
tät mit Kulturfreudigkeit und Welt(zu)gewandtheit zu vereinen
Damit stehen wir bei Hugo Balls Verhältnis zu Carl Schmitt und zur
„politischen Theologie", soweit es sich vom Byzantinischen Christen-
tum aus übersehen läßt 81 Auch das Byzantinische Christentum ist po-
litische Theologie im Sinne Schmitts, wenn es sich darum handelt, der
Theologie ansichtig zu werden, die ein ganzes System trägt und be-
herrscht Mit Dionysius hatte Ball das „metaphysische Bild" des byzan-
tinischen Zeitalters aufgedeckt, von dem aus die „Form [seiner] po-
82
litischen Organisation ohne weiteres einleuchtet" Insofern er diesem
lebhaft zustimmte und es mit seinem Katholizismus identifizierte, war
seine Nähe zu Schmitt und dessen Herrschaftsprinzip der „Reprä-
sentation" gegeben 83 Die Repräsentation setzt die Hierarchie voraus'
Ball war aber die Ablösung der 'politischen Form' vom 'römischen
Katholizismus", d h des hierarchisch-repräsentativen Herrschaftsprin-
zips von seinem religiösen Grund, unvollziehbar Die Schmitt'sehe Sä-
kularisierung der katholischen Herrschaftsform teilte er nicht Für ihn
war, anders als für Schmitt in seiner Entwicklung bis zum Befürworter
des Nationalsozialismus, der „souveräne Diktator nur innerhalb der
84
Kirche zu begründen" Das bedeutet, daß Ball dem Nationalsozialis-
mus von seinen Voraussetzungen her nicht verfallen wäre, daß er aber
an die Souveränität und Diktatur des Papstes glaubte Nur in der

1
Vgl Balls Aufsatz Carl Schmitts Politische Theologie, in: Hochland 21/2 (1924),
S 263-286; dazu Bernd Wacker Die Zweideutigkeit der katholischen Verschär-
fung, in: ders (Hg), „Die eigentlich katholische Verschärfung..." Konfession.
Theologie und Politik im Werk Carl Schmitts München 1994, S 123-140. bes
132 ff (eine genaue Analyse der Beziehung Ball-Schmitt, deren Ergebmsse ich
hier voraussetze); Rüster (Anm 7), S. 377-386.
2
Vgl Carl Schmitt: Politische Theologie Vier Kapitel zur Lehre von der Souve-
ränität München-Leipzig 1922, S 42 f.
3
Vgl Carl Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form Stuttgart
1985
4
Carl Schmitts politische Theologie (Anm 81). S 278. Die Säkularisierung des
katholischen Autontätspnnzips. das heißt seine Ablösung von seinem religiösen
Begründungszusammenhang, läßt sich in der katholischen Theologie der Weima-
rer Zeit häufig beobachten Sie bereitete in der Regel die Zustimmung katholischer
Theologen zum Nationalsozialismus von; vgl dazu Rüster (Anm 7), S 99-107,
358 f.
Thomas Rüster 205

Rechtsform der römischen Kirche ist es möglich, das Irrationale, das


der Grund aller Souveränität ist, in eine politische Diktatur zu übersetz-
ten 85 Balls politische Theologie ist in dem Bild des Styliten gefaßt, der,
mit den Füßen in der Verwesung, mit dem Haupt im Himmel, von sei-
ner Säule herab die Völker richtet Die Zeiten, in denen die Styliten,
wie Ball berichtet, bei Hofe im Befehlston auftreten konnten, waren
aber vorüber 86 Ball forderte dergleichen für seine Zeit zurück, und er
mußte es von seinen Voraussetzungen aus tun „Ich möchte dieses un-
ser Vaterland katholisch haben von Grund aus, wie es einmal war in
seinen größten Zeiten [...] Ganz Deutschland muß wieder katholisch
werden, oder es ist nicht wahr, daß die katholische Kirche allein selig
macht und daß alle anderen Konfessionen nur Bekenntnisse zu Irrtü-
mern sind " 87 Das Gewaltsame88, Illusorische und Verstiegene dieser
Forderung aber brachte ihn in einen unaufhebbaren Gegensatz zur
„Kultur" und Politik der Zeit und zu den Repräsentanten des Katholi-
zismus 89 Da seine Politik nicht durchsetzbar war, blieb ihm nur der
Weg in die Vereinsamung und religiöse Introversion, den er gegangen
ist. Er suchte das Böse im Teufel zu bekämpfen, verfiel auf die Psycho-
logie der Mönche und die Innerlichkeit, bewunderte die Kleriker und
A
§verehrte die Heiligen Das ist, man kann es trotz Hermann Hesses
Einspruch nicht anders sehen, schlicht „Flucht aus der Zeit" 90 In der
Verbindung und Beschäftigung mit Hesse blieb ihm allerdings ein

5
Vgl. Carl Schmitts politische Theologie (Anm. 81), S 279 ff
6
Vgl Ball, Byzant Chnstentum (Anm 31), S. 267 Anm. 18.
7
Bnef an Hans Rost vom 21 12. 1925: Ball, Briefe (Anm. 2), S. 237 S dazu
Hennings-Ball (Anm 5). S 146-148, 158
8
Der Bnef (s Anm 87) fährt fort: „Der Erzengel Michael ist der Schutzpatron
Deutschlands, er wird uns helfen Auch er ist nicht zart gewesen mit seinem Wi-
dersacher Er hat Blitze und Lanzen gegen den Feind Er sucht nicht zu übene-
den. wo keine Übenedung mehr verfängt Er trifft den Drachen ins Herz, weil er
Drache ist"
9
Zu dieser Haltung s auch Balls Aufsatz Die religöse Konversion, in: Hochland
22/2 (1925), S 315-330, 463-476. in dem er die katholische Ausschheßlichkeit
vehement exerziert
0
Vgl Hermann Hesses Vorwort zu Emmy Ball-Hennings: Hugo Ball Sein Leben
in Briefen und Gedichten Berlin 1930; wiederabgedruckt in Ball, Briefe (Anm
2), S. 7-13
206 Ball und der Weimarer Katholizismus

Ausweg aus der Flucht offen, den er benutzt hat So kam es zu seinem
letzten und schönsten Werk.91

1
Hugo Ball: Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk. Berlin 1927; neu hg
Frankfurt 1977
Dokumentation:
Bernd Wacker

Vor einigen Jahren kam einmal ein Professor aus


Bonn ...
Der Briefwechsel Carl Schmitt / Hugo Ball

In den Beiträgen des vorliegenden Bandes ist verschiedentlich auf die


Affinitäten Hugo Balls zu Carl Schmitt (1888-1985) hingewiesen wor-
den Das bekannteste und wichtigste Zeugnis dieser Beziehung stellt
Balls 1924 in der katholischen Kulturzeitschrift Hochland erschienener
Aufsatz Carl Schmitts Politische Theologie1 dar, ein Stück beachtens-
werter Schmitt-Interpretation, deren Vorbehalt signalisierende Un-
stimmigkeiten2 freilich zumeist übersehen werden Mit diesem gut

1
Hugo Ball: Carl Schmitts Politische Theologie, in: Hochland XXI/2 (1924), S
263-286 Wiederabgedruckt in: Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit
Ausgewählte Schriften Hg von Hans Burkhard Schlichting Frankfürt 1988. S
303-335.
2
Seine große Bewunderung für Schmitt, seine mangelnde Quellenkenntnis sowie
die Suche nach einem dem eigenen religiösen Bildungsgang vergleichbaren Intel-
lektuellenschicksal verleiteten Ball zu einer Rekonstruktion des Schmittschen
Frühwerks, die darauf abhob, auch der Bonner Universitätslehrer sei. bevor er in
seinem persönlichen Glauben wie in seinem wissenschaftlichen Werk zur Kirche
zurückgefunden habe, auf seine Art den Weg der Bekehrung gegangen; wirklich
katholisch zu nennen sei sein Werk also nicht von Anfang an, sondern erst mit
seiner Politischen Theologie von 1922 Vgl dazu Bernd Wacker: Die Zweideu-
tigkeit der katholischen Verschärfung - Carl Schmitt und Hugo Ball, in: ders
(Hg ): Die eigentlich katholische Verschärfung Konfession. Theologie und Po-
litik im Werk Carl Schmitts München 1994, S. 123-145
An dort noch nicht berücksichtigter Literatur, die auf das Verhältnis Ball/Schmitt
eingeht, ist zu nennen: Günther Rösch Der Versuch, das Mißtrauen gegen die
Sprache zu überwinden Hugo Balls und Carl Schmitts Vermittlung von Theolo-
gie durch Kunst und Politik Diss masch GH Kassel 1994. bes. S 119-136;
Günter Meuter: Der Katechon Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kntik der
Zeit Berlin 1994, bes S 80f, 356ff. u ö.; Thomas Rüster: Die verlorene Nütz-
lichkeit der Religion Katholizismus und Moderne in der Weimarer Republik Pa-
208 Bernd Wacker

zwanzig Druckseiten umfassenden Zeitschriftenbeitrag wurden Name


und Werk des damaligen Bonner Staatsrechtlers erstmals einem breite-
ren katholischen Publikum bekannt, auch Schmitt selbst wußte den
Text noch bald 50 Jahre später in den höchsten Tönen zu loben3
Es war, wie wir inzwischen aus Balls noch unveröffentlichten Tage-
buchnotizen wissen, nicht erst dieser Aufsatz, der Schmitt und Ball
miteinander bekanntgemacht hat Vielmehr hatte der Bonner Gelehrte
den Verfasser der Kritik der deutschen Intelligenz schon im Frühjahr
1919 in München persönlich kennengelernt4, angesichts ihrer unschwer
zu erschließenden politischen Differenzen aber dürften beide Männer
damals kaum an einer Vertiefung des Kontaktes interessiert gewesen
sein Zu einem zweiten Treffen kam es dementsprechend erst wieder
gut fünf Jahre später, d. h kurz nachdem Balls Schmitt-Beitrag im
Hochland erschienen war Schmitt reiste, nachdem er bei Ball um ein
Treffen nachgesucht hatte und auf positive Resonanz gestoßen war, am
18 August 1924 an den Luganer See Man verbrachte die Zeit, soweit
es Balls Gesundheitszustand zuließ, mit intensiven Gesprächen, nicht
zuletzt über Schmitts Vorwort zur geplanten zweiten Auflage seiner
Politischen Romantik, sowie über Balls - unter dem Titel Die Folgen
der Reformation im November 1924 erschienene - Neufassung seiner
Kritik der deutschen Intelligenz, deren Druckfahnen Ball damals gera-
de zur Korrektur vorlagen Was in den gut vierzehn Tagen von
Schmitts Besuch im Tessin sonst noch Thema war, inwiefern hier vor
allem auch die alten Differenzen neue Bedeutung erhielten, entzieht
sich bis auf weiteres unserer Kenntnis, erst eine gründliche Auswertung
von Balls sog Zweitem Tagebuch dürfte hier weitere Aufschlüsse brin-
gen5 Jedenfalls sollte diese erste Begegnung, die mit Schmitts Abreise

derborn u a 1994. bes S 377-386 Vgl auch die Beiträge von Flasch, Hillach
und Rüster im vorliegenden Band.
3
Joachim Schickel: Gespräch über Hugo Ball, in: ders Gespräche mit Carl
Schmitt Berlin 1993, S 31-59 u. 92-163, hier S 33; der Text beruht auf einem
gut einstündigen Gespräch, das Schickel im 10 Februar 1970 in Plettenberg
führte; es wurde am 3 März d J. im Dntten Programm des Norddeutschen
Rundfunks Hamburg und des Senders Freies Berlin ausgestrahlt
4
Vgl dazu den Beitrag von Schutt im vorliegenden Band; meine Zweifel bezüglich
der von Schmitt auf 1919 bzw 1919/20 datierten ersten Münchener Begegnung,
wie ich sie in Wacker (Anm 2). S 126f formuliert habe, sind damit gegenstands-
los geworden
5
Verf hofft, dazu in absehbarer Zeit einen eigenen Beitrag vorlegen zu könnnen
Briefwechsel Schmitt / Ball 209

am 9 September zu Ende ging, auch die letzte sein Ball und Schmitt
haben sich entgegen anfänglichen Hoffnungen niemals wiedergesehen.
Bis zum plötzlichen Abbruch ihrer Beziehungen im Februar 1925 blieb
ihr Kontakt auf „kameradschaftliche" Korrespondenz beschränkt.
Ball hat die Geschichte dieser seltsamen Freundschaft in seinem gros-
sen - niemals abgeschickten - Brief((entwurf) vom 11 Februar 1925
zusammengefaßt6 Anlaß des Bruches mit Carl Schmitt war demnach
eine zunächst wahrscheinlich in der Kölnischen Volkszeitung erschie-
nene, dann in der Sonntagsbeilage der Augsburger Postzeitung vom
30. Januar 1925 nachgedruckte, fast vier Spalten füllende Rezension
der Folgen der Reformation, die Ball als „nicht nur für mein Buch,
sondern für mich selbst vernichtend" empfand Verfasser dieser Be-
sprechung war der Schmitt-Schüler Waldemar Gurian (1902-1954)8,
der - wie die vorliegenden Briefe nahelegen - mit dieser Arbeit von
Schmitt beauftragt war Zwar hatte der aus seiner Ablehnung des Bu-
ches nie einen Hehl gemacht, doch war insbesondere nach seinen Äus-
serungen und Kommentaren vom November/Dezember 1924 mit einem
Verriß solcher Art nicht zu rechnen gewesen. „Ein junger Russe, Dr
Gurian, schreibt ausführlich darüber", hatte Schmitt noch am 7 De-
zember mitgeteilt und ausdrücklich hinzugefügt, „ich schicke Ihnen den
Aufsatz zu."9
Bei diesem Versprechen ist es geblieben. Ball erhielt wohl Anfang
Februar von der Rezension Kenntnis, hatte, als er seiner Enttäuschung
in einem Brief an Carl Muth, den Herausgeber des Hochland, am 6. d.
M. Luft machte, den Text aber wohl noch nicht vor Augen10 Was da
genau geschrieben stand, bekam er erst einige Tage später zu Gesicht,

'Vgl Bnef(16)
Ebd; ein Exemplar der Kölnischen Volkszeitung, das die von Schmitt verspro-
chene Rezension enthält, ist bis dato unbekannt (vgl Brief 15); Koenen (Anm 8)
S 46f allerdings macht auf die engen Beziehungen Schmitts zu diesem wichtigen
katholischen Presseorgan aufmerksam: Die ,JCV war die Tageszeitung, in der
Schmitt die meisten seiner Beiträge veröffentlichte; Waldemar Gurian gehörte
zeitweise zu ihrer Redaktion
8
Vgl. Heinz Hurten: Waldemar Gurian Ein Zeuge der Krise unserer Welt in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Mainz 1972 sowie die weiterfuhrenden Hin-
weise bei Andreas Koenen: Der Fall Carl Schmitt Sein Aufstieg zum „Kronju-
risten des Dritten Reiches" Darmstadt 1995, passim.
9
Bnef (12)
10
Vgl Briefe S 199.
210 Bernd Wacker

vielleicht sogar erst, als Gurian, so Ball an Ludwig Feuchtwanger am 9


Februar, „(es) wagte, mir seine Besprechung, eingeschrieben, ohne
Begleitbrief zu senden"11 Auf eine Stellungnahme Schmitts, den er
noch in seinem - letzten - Brief vom 27 Januar gebeten hatte „behalten
Sie mich lieb"12, wartete Ball auch in den folgenden Wochen vergeb-
lich Am 25 März wandte er sich nochmals an Feuchtwanger, der als
Geschäftsführer und Lektor bei Duncker & Humblot Die Folgen der
Reformation ins Verlagsprogramm aufgenommen hatte und, wie Ball
wußte, zu Schmitt enge Kontakte unterhielt: „Sehr enttäuscht bin ich
von der Haltung Schmitts Gewiß, er hat mir von Anfang an sein Urteil
nicht verborgen Aber er weiß auch, daß meine Publikation die eines
Konvertiten ist, und daß ich nach einer kameradschaftlichen Korre-
spondenz mit ihm nicht erwartet hätte, in heimtückischer Weise von
einem Seminaristen beurteilt zu werden Er hat seit der Publikation Gu-
rians die Korrespondenz unterbrochen Da diese Besprechung aber
mancherlei Dinge enthält, die ich von Schmitt selbst schon in Agnuzzo
hörte, muß ich annehmen, daß er aus Verlegenheit schweigt."
Wann Schmitt Balls Vorwürfe erstmals zu Ohren kamen, läßt sich
nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, doch wäre es verwunderlich, wenn
er nicht schon bald Kenntnis davon erhalten hätte Eine Reaktion je-
doch blieb aus Zu den zuletzt zitierten Sätzen nahm er erst ein halbes
Menschenleben später Stellung Im April 1961 ließ er Annemarie
Schutt-Hennings, der Herausgeberin der Briefe Balls, die Fotokopie
eines an ihn gerichteten Briefes von Carl Muth vom 7 11 1927 zu-
kommen, der er den seiner damaligen Antwort zugrunde liegenden
Briefentwurf, auf „Nov 1927" datiert, hinzufügte Das nur wenige
Zeilen umfassende Begleitschreiben an Frau Schutt-Hennings schloß
mit den Sätzen: „Mit Herrn Gurian habe ich noch 1927 alle Beziehun-
gen abgebrochen Im Jahre 1932 schrieb er mir einen kurzen Brief, in
dem er um Verzeihung bat Ich habe nicht darauf geantwortet." 4

" E b d S 201
12
Bnef (15)
13
Bnefe, S 208
14
Carl Schmitt an Annemarie Schutt-Hennings, 28 Apnl 1961 Für die Überlas-
sung einer Kopie des Originals, das sich im Züncher Ball-Nachlaß befindet, dan-
ke ich Hans Burkhard Schlichting (Baden-Baden)
Briefwechsel Schmitt Ball 211

Gurians Entschuldigungsbrief hatte, so wird aus den Briefen vom


November 1927 klar, mit dessen Ball-Rezension nichts zu tun15 Auch
Schmitts Antwort an Muth aber geht auf die Frage nach seinem Anteil
an der Buchbesprechung, die Ball so tief verletzt hatte, nicht ein und
läßt auch nicht erkennen, wieso Schmitt, der sich doch einst nicht zu
schade gewesen war, in seinem Freundeskreis nach finanzieller Unter-
stützung für die Balls zu suchen, es nicht längst unternommen hatte,
erneut Kontakt zu Ball aufzunehmen Seine Versicherung „Diese
Nachricht [vom Tod Balls] war der stärkste Schlag, den ich jemals in
der Sphäre erhalten habe, in der sich das Geistige mit dem persönlichen
Schicksal der einzelnen Menschen verbindet", hätte dann wohl erheb-
lich glaubwürdiger geklungen
Auch das ausführliche Rundfünkgespräch über Ball, das Schmitt am
10 Februar 1970 mit Joachim Schickel führte16, bleibt die Antwort auf
Schmitts Rolle bei den Vorgängen im Januar/Februar 1925 schuldig:
Bei aller Freundlichkeit im Ton wird nur noch einmal deutlich, daß
Schmitt auch jetzt Balls Reversion und sein Anliegen letztlich nicht
ernstzunehmen gewillt war1 Schon in seinen tagebuchähnlichen Auf-
zeichnungen von 1948 ja hatte er notiert, auch Ball habe ihn - ähnlich
wie andere Gefährten der 20er Jahre - in seinem Kampf um „die ei-
gentlich katholische Verschärfung" alleingelassen Doch waren nicht
auch Balls letzte Lebensjahre auf ihre eigene Art vom Ringen um sol-
che Verschärfung bestimmt gewesen, vom Kampf „gegen die Neutrali-
sierer, die ästhetischen Schlaraffen, gegen Fruchtabtreiber, Leichenver-
brenner und Pazifisten"?18 Anders als Schmitts Notiz vermuten läßt,
dürfte der Kern ihrer Auseinandersetzung darum nicht hier, sondern in
der unterschiedlichen (Verhältnis-)Bestimmung von Theologie und
Politik, von Staat und Kirche, von „Gottes- und Menschenrechten" zu
suchen sein

1
Vgl Briefe (17) u (18) Zu den im Hintergrund stehenden Vorgängen vgl. Koe-
nen (Anm 8). S 624-627; der von Schmitt erwähnte Bnef Gunans durfte dem-
nach nicht von 1932. sondern vom 7 Juni 1929 stammen (vgl ebd S 626 Anm
125)
16
Vgl Schickel (Anm 3).
r
Vgl Wacker (Anm 2), bes S 130f u. 143
18
Vgl Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951 Hg v.
Eberhard Freihen von Medem Berlin 1991. S 165 (Eintrag v 16 Juni 1948)
212 Bernd Wacker

Doch wie auch immer: Das plötzliche Ende ihres kaum begonnenen
Gesprächs ist weder an Ball noch an Schmitt spurlos vorübergegangen
In beiden erweckte bzw verstärkte es, wie Schmitt im November 1927
gegenüber Muth formulierte, die „Überzeugung von der Nutzlosigkeit
des Sprechens" 19 Ganz ähnlich Ball: „Vor einigen Jahren kam einmal
ein Professor aus Bonn, an den habe ich die schlechtesten Erinnerun-
gen", so hatte er schon ein halbes Jahr zuvor an seine Schwester ge-
schrieben und dann fortgesetzt „[.. ] Ich habe die Erfahrung gemacht,
daß es eine schwierige und delikate Sache ist, sich von Person zu Per-
son zu verständigen Deshalb schreibt man ja Bücher." 20

Einige Hinweise zur Textgestalt der folgenden klemen Dokumentation sind


unumgänglich: Sie versucht, den Bnefwechsel Carl Schmitt / Hugo Ball chro-
nologisch zu rekonstiuieren Darüberhinaus bnngt sie die erwähnten, teilweise
schon andernorts veröffentlichten Bnefe Carl Muths (gekürzt) und Schmitts
vom November 1927 (Nr 17 u 18), auf die mich Hans Burkhard Schlichting
(Baden-Baden) hingewiesen hat und die in diesem Kontext nicht fehlen dürfen
Sie werden ebenso wie die Bnefe Schmitts an Ball (Nr 1, 3, 4, 6, 8, 10 u
12), deren Kenntnis und Kopien ich der Hilfe von Bernhard Echte verdanke,
im Ball-Nachlaß in Zünch verwahrt, daß sie hier erstmals zum Druck kom-
men, ist der freundlichen Erlaubnis von Frau Francesca Hauswirth (Con-
fignon) zu verdanken
Ihr danke ich auch für die Möglichkeit, einige der Bnefe bzw. Briefentwürfe
Balls in der Form nachzudrucken, wie sie von Annemane Schutt-Hennings für
ihre längst vergnffene Bnefedition von 1957 bearbeitet wurden Die Onginale
dieser Bnefe vom 19. November 1924 sowie vom 5. und 27 Januar 1925
(Nr. 11, 13, 15) liegen im Schmitt-Nachlaß im NRW-Hauptstaatsarchiv in
Düsseldorf, dort wird auch Balls Bnef vom 21 Oktober 1924 (Nr. 9) ver-
wahrt, der m die Ausgabe von 1957 nicht aufgenommen ist. Meine Bitte an
den Nachlaßverwalter, Herrn Prof Joseph H Kaiser (Freiburg), um entspre-
chende Druckerlaubnis wurde abschlägig beschieden, und dies, obwohl die
Bearbeiter der im Entstehen begnffenen kntischen Edition der Bnefe Balls,
Herr Ernst Teubner (Pirmasens) und Herr Prof Gerhard Schaub (Tner), mit
einem Vorabdruck im vorliegenden Band emverstanden waren Hen Teubner
und Herr Schaub haben mich freundlicherweise auch auf Ball Bnefentwurf
vom 4 Oktober 1924 (Nr 7) aufmerksam gemacht und nur dieses Schreiben
ebenso wie das Onginal des mcht abgeschickten „Abschiedsbnefes" Balls

19
Bnef (18)
20
Briefe, S 294
Briefwechsel Schmitt / Ball 213

vom 11 Februar 1925 (Nr. 16) in Kopie zur Verfügung gestellt; während die-
ser letzte Bnef schon in der 1957-Ausgabe, S 202f erschienen war, kommt
das Schreiben Nr 7 mit Erlaubms von Frau Hauswirth hier erstmals zum
Druck
Herr Teubner war so entgegenkommend, mir bezüglich der in der Bnefaus-
gabe von Annemane Schutt-Hennings gestnchenen Passagen schnfthch Aus-
kunft zu geben Diese Auskünfte liegen den Ergänzungen zugrunde, die ich,
wo für das Verstandms des Zusammenhangs sinnvoll, in die entsprechenden
Bnefe eingefügt und durch eckige Klammem und Kursivschrift kenntlich
gemacht habe Auch ansonsten gilt, daß alle kursiv gedruckten und/oder eckig
eingeklammerten Passagen im laufenden Text auf den Bearbeiter dieser Do-
kumentation zurückgehen Auch evtl Lese- und Übertragungsfehler gehen
alleine zu seinen Lasten Einige Erläuterungen finden sich in den Fußnoten;
sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Verweise auf Balls Werke erfolgen mit den Siglen: Kritik (Zur Kntik der
deutschen Intelligenz Bern 1919), Byzant. Christentum (Byzantinisches
Chnstentum Drei Heiligenleben München/Leipzig 1923), Folgen (Die Fol-
gen der Reformation München/Leipzig 1924), Briefe (Bnefe 1911-1927 Hg.
von Annemarie Schutt-Hennings Einsiedeln u. a 1957) Künstler (Der Künst-
ler und die Zeitkrankheit Ausgewählte Schnften Hg. von Hans Burkhard
Schlichting Frankfürt/M 1988).

*****

(1) Brief Carl Schmitts an Hugo Ball

Bonn, den 1 August 1924


Endenicher Allee 20.

Sehr verehrter Herr Ball!

darf ich Sie, bevor ich in die Ferien reise, bitten, mir zu schreiben, ob
ich Sie im Lauf der kommenden Monate aufsuchen darf oder ob es sich
einrichten läßt, daß wir uns treffen9 Meine Adresse ist für die nächsten
2 Wochen: Oberstdorf (Allgäu), Haus Tanneck
Ihr aufrichtig ergebener
Carl Schmitt
214 Bernd Wacker

(2) Brief Hugo Balls an Carl Schmitt

Der Verbleib des Antwortschreibens von Ball, auf das sich Schmitt in
seinem Brief von Mitte August 1924 bezieht, ist unbekannt.

(3) Brief Carl Schmitts an Hugo Ball

[ca Mitte August 1924]


Hotel Continental
München

Sehr verehrter Herr Ball'

Ihr Brief wurde mir von Oberstdorf nach München nachgeschickt Ich
möchte Montag 18 Aug hier abreisen und nach Lugano kommen
Wollen Sie mir einen Dienst erweisen und für mich und eine etwas lei-
dende Dame, die mit mir reist21, zwei Einzelzimmer besorgen9 Ich weiß
im Augenblick nicht, wann ich eintreffe, ob ich noch Montag abend
oder erst Dienstag ankomme, vielleicht darf ich Ihnen telegrafieren Ich
kenne das Land nicht, habe auch keine Vorstellung davon, wieweit
Agnuzzo von L entfernt ist Es kommt mir auch nicht darauf an, gera-
de in Lugano zu wohnen Möchten Sie vielleicht Nachricht in Lugano,
an meine Adresse postlagernd hinterlassen, wenn Sie noch nach Mün-
chen schreiben, bitte an die Adresse Pension Bristol, Schwanthalerstr
51 Ich möchte nur für den Fall, daß ich abends in L eintreffe, nicht
ohne Unterkunft sein
Herzlichen Dank und herzliche Grüße
Ihr
Carl Schmitt

21
Es handelt sich, wie aus Bnef (6) hervorgeht, um Schmitts spätere Ehefrau
Duschka Todorovic" (1903-1950)
Briefwechsel Schmitt /Ball 215

(4) Brief Carl Schmitts an Hugo Ball

Monte Bre, 6.9.24

Sehr verehrter, lieber Herr Ball!

hoffentlich sind Sie nicht krank geworden Um für alle Fälle etwas vor-
zuschlagen sollen wir nicht, wenn es Ihnen möglich ist, uns morgen,
Sonntag, vormittag treffen und alle 522 bei Biaggi zu Mittag essen9 Ich
bin jedenfalls um 12 Uhr da Ferner könnten wir nicht, ebenfalls zu 5,
vorher eine Stunde Kahn fahren9 Dann erwarte ich Sie um 9 Uhr in
Cassarate, wo einige Kähne sind, und komme um 10 Uhr mit dem Boot
wieder dorthin in die Nähe der Landungsstelle.
Vielleicht geht es so Ich würde mich sehr darüber freuen Von Her-
zen Ihr ergebener
Carl Schmitt

(5) Karte Hugo Balls an Carl Schmitt

Die Karte mit der Antwort Balls, die Schmitt im folgenden Brief vom
28. 9. 1924 erwähnt, ist unbekannt.

(6) Brief Carl Schmitts an Hugo Ball

Bonn, den 28 September 1924


Endenicher Allee 20

Lieber Herr Ball!


Ich habe mich über Ihre Karte sehr gefreut und sende Ihnen für Ihren
Aufenthalt in Rom2j die besten Wünsche Ich bin glücklich, jetzt Ihre
Adresse zu haben, denn ich wollte Ihnen schon lange schreiben, einmal

22
Neben Schmitt und seiner Begleiterin sind das Ehepaar Ball-Hennings und Balls
Stieftochter Annemane gemeint
23
Die Familie Ball lebte vom Oktober 1924 bis März 1925 in Rom.
216 Bernd Wacker

um mich für die freundliche Aufnahme in Lugano zu bedanken, dann


um Ihnen einige Mitteilungen zu machen
Anfang Oktober, spätestens vom 4 bis zum 20 ist ein Freund von mir
in Rom, Prof Neuss Er hat den lebhaften Wunsch, Sie kennen zu ler-
nen, nachdem er schon im vorigen Jahr Ihr Byzantinisches Christentum
gelesen hat Sein Fach ist Kirchengeschichte und kirchliche Kunstge-
schichte, durch seine Entdeckungen spanischer Bibelillustrationen aus
dem 10 Jahrhundert (großartigen Miniaturen und Zeichnungen zur
Apokalypse) hat er sich auf seinem Gebiet einen internationalen Namen
gemacht'4 Seine Adresse in Rom ist Camposanto Teutonico, Via
Sacristia, 17, (direkt am Vatikan)2 .
Dann habe ich vor, den Abt von Maria Laach, der mich seit langem
eingeladen hat26, zu fragen, ob Sie nicht dort einige Wochen wohnen
und arbeiten können Die Benediktiner sind sehr gastfreundlich Ihre
Frau würde allerdings nicht im Kloster wohnen dürfen, könnte aber in
der Nähe leicht eine Unterkunft finden Ich hoffe immer noch, daß es
mir gelingt, Sie für ein Semester nach Bonn zu ziehen Vielleicht fragen
Sie einmal Prof Neuss (unter Berufung auf mich), ob er Ihnen nicht
eine Einladung nach Monte Cassino27 vermitteln kann
Endlich das Schwierigste Eine gute, langjährige Bekannte, die Frau
eines mir besonders nahestehenden Freundes, Frau v. Schnitzler, in
Frankfurt28, die ich auf meiner Heimreise besuchte, möchte, aus reiner,
aufrichtiger Dankbarkeit für Ihr Buch über die byzantinischen Heiligen,
24
Wilhelm Neuss (1880-1965), Prof für Kirchengeschichte in Bonn; vgl auch
Bnefe, S 190
:s
Gemeint ist das südlich des Petersdomes gelegene Pnesterkolleg, das auch ein
kirchengeschichtliches und archäologisches Institut mit großer Fachbibliothek
beherbergte
26
Ildefons Herwegen OSB (1874-1946), seit 1913 Abt in Mana Laach Zu seiner
Bedeutung für Schmitt, den politischen Katholizismus und die katholische
„Reichstheologie" vgl die Hinweise bei Koenen (Anm 8), passim
1
Schmitt meint das 529 gegründete traditionsreiche Mutterkloster der Benedikti-
ner in Unteritalien
28
Lily von Schmtzler. geb von Mallinckrodt (1889-1981), und ihr Mann, Georg
von Schmtzler (1884-1962) waren seit Kriegstagen mit Schmitt befreundet Wie
dieser hatte von Schmtzler zu Knegsende als Jurist im Bayenschen Knegsmini-
stenum gearbeitet; später war er in der Zentralverwaltung der I G Farben in
Frankfurt/M tätig; vgl Piet Thomissen Bausteine zu einer wissenschaftlichen
Biographie, in: Helmut Quantsch (Hg) Complexio Oppositorum Über Carl
Schmitt Berlin 1988. S 77 sowie ders Schmittiana III Brüssel 1991, S. 156ff
Briefwechsel Schmitt I Ball 217

Ihnen regelmäßig einen Betrag überweisen Ich kenne ihre Begeiste-


rung für das Buch seit langem, sie ist eine innerlich vornehme, begei-
sterungsfähige Frau, ganz westdeutscher Art (eine geborene v Mal-
linckrodt) und ich stehe für ihre Motive ein Sie brauchen mir nur ja
oder nein zu schreiben Sie sagte mir, ganz ausdrücklich und von sich
aus, daß die Verpflichtung durchaus auf ihrer Seite wäre Ihr Mann ist
im Vorstand der Höchster Farbwerke, kein Politiker und, wie ich schon
sagte, seit langem mein Freund Die ganze Situation ist so, daß ich Ih-
nen ohne Bedenken davon sprechen darf - Die Bücher, die Sie mir in
Lugano liebenswürdigerweise geliehen hatten, sind Ihnen leider noch
nicht zurückgegeben Ich werde Fräulein Todorovic' gleich schreiben,
daß Sie Ihnen alles nach Rom schickt
Die Grüße Ihrer Frau haben mich besonders erfreut, ich erwidere sie
von ganzem Herzen Ist Annemarie bei Ihnen9 Auch ihr meine besten
Grüße
Ich bleibe, lieber Herr Ball, stets Ihr
Carl Schmitt

(7) Brief(entwurf) Hugo Balls an Carl Schmitt

Rom, Piazza Pollarola 19,


4 Okt 1924

Lieber Herr Professor,

grazie e benedizione di Dio, so sagen hierzulande die vielfachen Laza-


russe, die in den Kirchen-Nischen am Abend ihr Bett aufschlagen Es
ist ein Engelsgruss, der einem überall begegnet
Ihren lieben Brief übergab uns der freundliche Herr Portier, als wir
eben in unsere neue Behausung einzogen Die ist sehr verschieden von
unserem Gartenhaus in Agnuzzo Grün gibt es nicht mehr und die Son-
ne muss urr. die Ecke scheinen, wenn sie zu uns kommen will Aber die
Kirche des Filippo Neri ist in der Nähe und die des Ignatius auch, und
alle grosser Dinge sind nur ein paar Schritte entfernt Ihr lieber Brief
war der erste Freundesgruss, der auf uns wartete Das tat so gut nach
manchen öcen Jahren Sie haben uns so sorglich bedacht Als seien Sie
selbst mit mch Rom gekommen
218 Bernd Wacker

Und am nächsten Tag kam auch die Drucksache nebst der Karte des
würdigen Pater Beda, die mich ein wenig schmunzeln machte Der Ge-
gensatz zwischen den Jungfrauen, an die sein Buch sich wendet und
dem „gelehrten Herrn Ball" lässt sich nicht aufrechterhalten, versichern
Sie das bitte dem lieben Pater Ich würde mich gar sehr freuen, sein
Buch zu erhalten und mit dem direktesten Interesse es lesen29 Er kann
gar kein hungrigeres Publikum finden als gegenwärtig mich, gerade für
dieses sein Thema
Für die Adresse des Herrn Prof Neuss und Ihre Empfehlung danke
ich Ihnen sehr Ich freue mich seine Bekanntschaft zu machen und hätte
ihn gerne um einen Rat für Annemarie30 gefragt Sie ist hier bei uns und
wir möchten gerne, dass sie in eine strenge und schöne Schule kirchli-
cher Kunst Aufnahme fände
Ich selbst, lieber Herr Professor, möchte mich zunächst an meine Pi-
azza Pollarola halten Monte Cassino wäre ja sehr schön Es scheint
mir aber ein wenig hoch gelegen, erst muss man doch etwas leisten Ich
werde erst in Rom ein wenig Boden fassen Und es ist dasselbe mit
Maria Laach Nach Bonn würde ich ja gerne einmal kommen, vielleicht
ergibt es sich im Laufe dieses Winters irgendwie
Und nun zu dem schwierigen Punkt Ihres Briefes Gerne nehme ich
Ihre gütige Vermittlung an, und danke Ihnen innig, auch im Namen
meiner Frau Es wird mir, unter den Umständen, die Sie nennen, eine
wirkliche und aufrichtige Freude sein, mich verpflichtet zu fühlen
Die Bücher, die bei Frl Todoroviö blieben9 Ich erinnere mich nur an
BorgeseM Aber wollen Sie ihn nicht als eine kleine Erinnerung an Ag-

29
P Beda Ludwig OSB (1871-1941); Ball hat, wie die Briefe (vgl bes S 208f.
215. 223f, 228ff. 246-250) ausweisen, später selbst in engem Kontakt mit dem
zur Abtei St Bonifaz in München gehörenden Benediktiner gestanden, an dessen
Arbeit ihn nicht zuletzt die Beschäftigung mit der italienischen Mystikerin
Gemma Galgani (1878-1903) interessierte; bei dem angesprochenen Buch han-
delt es sich wohl um Ludwigs seit 1912 in mehreren Auflagen erschienene Tu-
gendschule Gemma Galganis, Dienerin Gottes und stigmatisierten Jungfrau vo
Lucca, das Ball vom Verfasser zu Weihnachten 1925 als Geschenk erhielt; vgl
Emmy Ball-Hennings Ruf und Echo Mein Leben mit Hugo Ball (1953) Frank-
furt 1990, S 249f
10
Vgl Franz L Pelgen: Annemarie Schutt-Hennings Stationen ihres Lebens und
Wirkens, in: Hugo Ball Almanach 1987. S 137-177, bes. 151f.
1
Giuseppe Antonio Borgese (1882-1952), italienischer Historiker und Literatur-
wissenschaftler, mit dem Ball befreundet war Bei dem Buch handelt es sich
Briefwechsel Schmitt / Ball 219

nuzzo annehmen9 Vielleicht dient er Ihnen irgendwie Wir bedauerten


sehr, dass wir Frl Todorovic nicht mehr Adieu sagen konnten Aber
wir winkten vom Zug aus in der Frühe noch hinüber und hoffen, dass
der Monte Bre sich ihr weiterhin freundlich erweist
Auf Wiedersehen, lieber Herr Professor Morgen will ich ernstlich zu
arbeiten beginnen Sie hören dann mehr von mir
Herzliche Grüße
Ihr

(8) Brief Carl Schmitts an Hugo Ball

Bonn, den 12 Oktober 1924

Lieber Herr Ball,

besten Dank für Ihren freundlichen Brief Ich freue mich sehr, daß Sie
eine Wohnung gefunden haben und hoffe, daß es Ihnen, Ihrer Frau und
Annemarie gut geht Von Prof Neuss bekam ich dieser Tage eine
Karte, auf der er mitteilt, daß Sie sich verfehlt haben Die Karte war
übrigens auch von Ehrhard32 unterzeichnet, den kennen zu lernen der
Mühe wert ist
Den beiliegenden Brief von Blei33 übersende ich Ihnen auf dessen
Wunsch Von der 2 Auflage Ihres ersten Buches dürfte er durch Sche-

vielleicht um das auch in Die Flucht aus der Zeit unter dem 15 April 1918 er-
wähnte Italia e Germania. II germanesimo, Timperatore, la guerra e Italia.
Mailand 1915 oder um den Roman Rübe Mailand 1925. (Für entsprechende
Hinweise danke ich Bernhard Echte und Ernst Teubner )
12
Albert Ehrhard (1862-1940) lehrte von 1920-1927 Kirchengeschichte in Bonn
Zu seinem Leben und Werk vgl neuestens: Otto Weiß: Der Modernismus in
Deutschland Ein Beitrag zur Theologiegeschichte Regensburg 1995, S 171-
180
" Franz Blei (1871-1942), der Schriftsteller, Kntiker, Übersetzer und ehemalige
Herausgeber der Zeitschnft Summa, war 1887 aus der Katholischen Kirche aus-,
ihr 1919 aber wieder beigetreten Sein hier gemeinter Brief an Carl Schmitt, da-
tiert „Berlin 8 10 1924*, findet sich in: Franz Blei: Bnefe an Carl Schmitt
1917-1933 In Zusammenarb m Wilhelm Kühlmann hg v Angela Reinthal
Heidelberg 1995, S 62f. „Lieber Doktor Schmitt", so heißt es dort, „mit dem
Aufsatz von Ball [Carl Schmitts Politische Theologie] haben Sie mir jede Freude
220 Bernd Wacker

ler erfahren haben, ich habe nie mit ihm darüber gesprochen oder ge-
schrieben Scheler, Inhaber einer Professur „katholischer Weltan-
schauung" hat jetzt auf dem Soziologentag in Heidelberg die Kirche für
eine „Massenheilsanstalt" erklärt, von der nichts mehr zu erwarten sei,
während das wahre Heil von den gnostischen Lehren Asiens komme34
Wohin schielt denn das?
Meine Vermutung35 hat sich bestätigt der große Beethoven-Brief an
Bettina von Arnim ist eine phantastische Fälschung der Bettina, die

gemacht dass ihre Arbeiten endlich ins Licht gestellt werden und dass es von so
intelligenter Hand geschieht wie der Balls Scheler hatte mir, ein bisschen eifer-
süchtig wie immer Professoren, schon davon erzählt, bevor Sie mir die schöne
Arbeit schickten [...] Auf die neue Ausgabe von Balls Buch, das er während des
Kneges veröffentlichte [also auf Die Folgen der Reformation, B W ] bin ich sehr
gespannt Die erste Ausgabe war ein bisschen durcheinander." Blei berichtet
Schmitt dann u a. von einem neuen publizistischen Projekt, einer Wochenzei-
tung, die den Titel Auf, auf, ihr Christen tragen könnte und für die er Hugo Ball
als Mitarbeiter gewinnen möchte Da er aber Balls Adresse nicht kenne, bittet er
Schmitt, den Brief weiterzuleiten.
14
Vgl Max Scheler Wissenschaft und soziale Struktur (1925). in: Volker Meja -
Nico Stehr (Hg.): Der Streit um die Wissenssoziologie I. Bd : Die Entwicklung
der deutschen Wissenssoziologie Frankfürt 1982, S 69-127. bes 76fu. 121f
,5
Der folgende Abschnitt greift auf die im August/September d J geführten Ge-
spräche über Schmitts neues Vorwort zur geplanten 2 Auflage seiner Politischen
Romantik zurück Bettina von Arnim hatte die gemeinten drei Beethovenbncfc
aus den Jahren 1810 bis 1812 erstmals 1839 in der Nürnberger Zeitschnft Athe-
näum veröffentlich. 1848 mit etlichen, auch die Datierung betreffenden Abwei-
chungen aber auch in Illius Pamphilius und die Ambrosia publik gemacht Die-
ser, ihr letzter Briefroman war 1920 als V Band der Ausgabe Bettina von Arnims
Sämtliche Werke. Hg mit Benutzung ungedruckten Materials von Waldemar
Oehlke neu erschienen (die Bnefe ebd.. S 436-442) 1922 folgte Band VII dieser
Ausgabe, der u a die authentische Briefe Bettinas an den Fürsten Pückler-Mus-
kau enthielt Im ersten dieser Bnefe. der vom März 1832 stammt, berichtet Betti-
na von ihren Begegnungen mit Beethoven in Wien und Teplitz und gibt dabei als
mündliche Erzählung aus. was sie 1839 und 1848 als den „großen" Beethoven-
Bnef vom August 1812 präsentierte Vielleicht stammt Schmitts Vermutung aus
der vergleichenden Lektüre des bei Oehlke gebotenen Matenals; wieso er sie je-
doch gerade jetzt, im Okt 1924. bestätigt sieht, ist unklar Heute gelten - legt
man die Datierung der.4r/7e«ä«/w.v-Fassung zugrunde - der Bnef vom 10 2. 1812
als authentisch, die beiden anderen, auf den 10 8 1810 und auf August 1812 da-
tierten aber als wahrscheinlich unecht, d h als bestenfalls aus onginalen. heute
verschollenen Bnefen kompiliert Schmitts Wertung dieser Texte als „schönes
Beispiel(s) romantischen Occasionalismus'* ist von solchen Festellungen freilich
Briefwechsel Schmitt / Ball 221

zahlreiche solcher sog „Briefromane" publiziert hat Die 2 kleinen


Briefe Beethovens scheinen echt zu sein, enthalten aber auch sehr be-
zeichnende Fälschungen, z B ist aus der ganz konventionellen Anrede
„Liebe Bettina" eine „Geliebteste Bettine" geworden Die ganze Sache
ist ein schönes Beispiel romantischen Occasionahsmus, ich hatte es mir
gleich gedacht Schade ist es nur um die Figur Beethovens, die einem
ganzen Jahrhundert in der falschen romantischen Beleuchtung gezeigt
wurde.
Ich sende Ihnen gleichzeitig einige Drucksachen.
Frau v Schnitzler hat jetzt Ihre Adresse
Herzliche Grüße, lieber Herr Ball, auch an Ihre Frau und an Annema-
rie Stets Ihr
Carl Schmitt

(9) Brief Hugo Balls an Carl Schmitt

[Rom , den 21. 10. 1924

Ball berichtet, daß Prof. Neuss morgen abreise. In ihm habe er in den
zwei Wochen seines Aufenthalts einen „lieben Berater" gehabt, mit
dem er auch einige Exkursionen im unter- und überirdischen Rom
sowie nach Ostia unternommen habe. Am liebsten aber erinnere er
sich an die von Neuss zelebrierte stille Gedächtnismesse für Clemens
Bäumker36 in der Basilika S. demente, die ihm einen kleinen „Extra-
segen " eingebracht habe.
Im Camposanto sei er, Ball, inzwischen schon sehr bekannt. U. a.
habe er sich dort mit den Herren Krebs und Göller3 aus Freiburg

unabhängig Vgl dazu Bettine von Anum: Goethes Bnefwechsel mit einem Kin-
de Hg v Walter Schmitz u. Sybille von Steinsdorff (Bibliothek deutscher Klas-
siker 76) Frankfurt 1992, S. 848-855.
Clemens Bäumker (1853-1924), katholischer Philosophiehistoriker und Erfor-
scher der mittelalterlichen Scholastik, dessen Arbeit über Die christliche Philo-
sophie des Mittelalters (in: Wilhelm Wundt u a : Allgemeine Geschichte der
Philosophie. Leipzig/Berlin 21913, S 338-441) Ball im Sommer 1919 gelesen
hatte
Engelbert Krebs (1881-1950), seit 1919 Prof für Dogmatik in Freiburg; Emil
Göller, Kirchen- und Rechtshistoriker, seit 1909 Prof. in Freiburg
222 Bernd Wacker

über Dionysius Areopagita38 unterhalten. Auch Ehrhard, der den Win-


ter in Rom verbringe, habe er dort getroffen und hoffe, ihm noch öfter
zu begegnen. Die deutsche Bibliothek des Hauses sei ihm zwar nach
Belieben zugänglich, leider aber sei es dort um die hagiographische
Literatur - von den Handschriften abgesehen - nicht zum besten be-
stellt.
Ball dankt Schmitt für seinen Brief vom 12. Oktober mit den beige-
fügten Drucksachen. Franz Bleis Einladung zur Mitarbeit an der neu-
en Wochenschrift wolle er gerne annehmen, fürchte aber, nur hie und
da ein Sonett beisteuern zu können. Die Kölnische Volkszeitung schei-
ne es ja gut mit ihm zu meinen, was aber werde geschehen, wenn sein
Buch über 'Die Folgen der Reformation' erschienen sei? Er werde
dann wohl, furchtet Ball, einen „tiefen Plumps" tun.
Den von Schmitt geschickten Aufsatz zum Summepiskopat kenne er
bereits, das Buch von Kurt Singer 'Staat und Wirtschaft,39 aber sei
ihm neu und lade zu gründlicher Lektüre ein. Er revanchiere sich für
die Zusendung seinerseits mit einer kleinen Drucksache. ]

(10) Postkarte Carl Schmitts an Hugo Ball

Lieber Herr Ball1 Seit Wochen bin ich ganz von Berufsarbeit verschüt-
tet und kann keinen Brief schreiben, wenn ich es möchte Prof Neuss
erzählte mir zu meiner großen Freude ausführlich von Ihnen Wie geht
es Ihnen jetzt in Rom9 Bitte geben Sie mir eine kurze Nachricht Ihre
Folgen der Reformation sah ich gestern zum erstenmal beim Buchhänd-
ler, ich hoffe, daß D&H mir ein Exemplar schicken Jedenfalls gebe ich
es 2 intelligenten Katholiken meines politischen Seminars (es sind nahe
Freunde von Guardini40) und berichte Ihnen Ihr Sonett im Hochland41

Balls Dionysius-lnterpretation im zweiten Teil des Byzant. Christentums war in


katholischen Kreisen zwar viel bewundert, aber gerade unter Fachleuten auch
nicht ohne Kntik geblieben
Vgl Kurt Singer: Staat und Wirtschaft seit dem Waffenstillstand Jena 1924
Gunan hatte Guardini im Ouickborn kennen und als kirchlichen Theologen
schätzen gelernt; vgl Heinz Hurten Waldemar Gunan. in Rudolf Morsey (Hg )
Zeitgeschichte in Lebensbildern Bd 2 Mainz 1975, S 114-124, 115
Hugo Ball Sonett im Advent, in Hochland XXII71 (1924/25), S. 156.
Briefwechsel Schmitt' Ball 223

ist wunderschön. Es steht gerade vor meinem Aufsatz42, den ich Ihnen
nicht schicke, weil ich vermute, daß Sie das Heft schon erhalten haben,
außerdem ist es ja ein Vorwort und Sie bekommen in einigen Monaten
das neue Buch43 Leider hat Muth die Bezeichnung Vorwort gestri-
chen, aber bei der Konfusion aller Kategorien, die eine Folge der Ro-
mantik ist, merkt heute niemand den Unterschied von Vorwort und
Aufsatz Die neuen Gedichte Ihrer Frau habe ich mir bestellt Herzliche
Grüße Ihnen, Ihrer Frau und Marianne44 von Ihrem Carl Schmitt
16 11 24

(11) Brief Hugo Balls an Carl Schmitt


(Briefe, S 190f)

Rom, Piazza Pollarola 19, 19 Nov 1924

Lieber Herr Professor,

[Es sei, so beginnt der Brief kalt geworden in Rom, alle Welt wolle
Olafen kaufen. ]
ich war eben im Begriff, Ihnen zu schreiben, als Ihre Karte kam Prof
Neuß ist also wohlbehalten in Bonn eingetroffen Ich sehe noch oft sein
schönes Lächeln vor mir-
Ihr Vorwort im „Hochland" las ich in diesen Tagen und erinnerte
mich lebhaft an den Abend in Sorengo, ich wusste noch Wort für Wort
Einige Milderungen und Präzisierungen, die Sie vorgenommen haben,
fördern noch die Energie des Ganzen
Mein Sonett wurde leider mit einem setzerischen Lapsus reproduziert
(ich hatte keine Korrektur bekommen). In der vorletzten Zeile bitte ich
"vor", statt "in" der Sonne Schild zu lesen Auch die Anordnung der
zwei Dreizeiler hat man verpatzt Es ist mir interessant genug Das
Manuskript war korrekt und perfekt, aber daran scheint man schon gar
nicht mehr gewöhnt zu sein

- Carl Schmitt: Romantik, in: Hochland XXII/1 (1924/25), S 157-171.


13
Carl Schmitt Politische Romantik München/Leipzig : 1925
14
So statt „Annemarie", ein Fehler, den Schmitt im Bnef vom 28 9 schon einmal
gemacht, aber bemerkt und durch Streichung und Neuschreibung korrigiert hatte
224 Bernd Wacker

In der Aufsatzfolge von Kurt Singer4S finde ich eine merkwürdige


Reinkarnation unseres G E Lessing Trotz aller Währungsfragen
mußte ich immerfort an die hamburgische Dramaturgie denken Was
dazumal der Vorteil einer jungen teutschen Literatur zu sein schien,
könnte heute der Vorteil einer jungen teutschen Republik sein Aber
das Resultat ist dasselbe Damals berief man die Diderot und Voltaire,
wie man heute die Keynes und Dubois ruft Während ein Idealist von
der Würde und Sendung des Vaterlandes spricht, holen die Praktiker,
die das Ding besser kennen, sich bei den Größen des Auslandes Rat
Auf das neue Exemplar Ihrer "Politischen Romantik" freue ich mich
[Ball hofft, demnächst einiges von Schmitts Schriften an italienische
Freunde in Rom weitergeben zu können. Morgen treffe er sich mit
Ernesto Buonaiuti, einem römischen Theologieprofessor, dessen Bü-
cher über Gnosis, Millenarismus und ähnliche das frühe Christentum
berührende Fragen heftig umstritten seien. Insbesondere Buonaiutis
'Saggi sul Christianesimo phmitivo' von 1923 scheine nicht unwichtig
• 46
zu sein .
Annemarie gehe es gut, sie mache in ihrer künstlerischen Entwick-
lung rasche Fortschritte.] Auch meine Frau arbeitet fleißig [...]. Nur
ich selbst bin noch unentschieden Den ursprünglichen Plan, mit dem
ich hierherkam, mußte ich aufgeben Aber es fehlt nicht an Entwürfen,
worüber ich Ihnen demnächst einiges sagen möchte
[Eine Nachricht von Frau von Schmtzler aus Frankfurt habe er, so
Ball weiter, noch nicht erhalten. Angesichts der Unzuverlassigkeit der
römischen Post könne man aber nicht ausschließen, daß der Brief
verloren gegangen sei.
Ball bittet, Prof. Neuss zu grüßen, dem er 'Die Folgen der Reformati-
on' gerne geschickt hätte. Aber ihm selbst sei an diesem Buch nicht
mehr viel gelegen. Ein Exemplar für Schmitt sei allerdings unterwegs.
Das Urteil der „Guardini-Jugend"47 interessiere ihn]

45
Vgl Bnef (9)
46
Ernesto Buonaiuti (1881-1946), Prof für Kirchengeschichte an der Universität
Rom (Sapientia); wichtiger Vertreter des italienischen Modernismus, nach zwei-
maliger Verurteilung bzw Exkommunikation (1921 u 1924) 1926 von Rom als
"vitandus" erklärt
47
Vgl Anm 40
Briefwechsel Schmitt > Ball 225

(12) Brief Carl Schmitts an Hugo Ball

Bonn, den 7 Dezember 1924

Lieber Herr Ball'

Ihren freundlichen Brief vom 19 November beantworte ich in einer


wenig gesammelten Stimmung und Verfassung, worin ein großes Un-
recht liegt, aber meine Entschuldigung, die Sie freundlichst gelten las-
sen wollen, liegt darin, daß ich um überhaupt zu antworten, in diesem
Zustande der Überarbeitung antworten muß Ich danke Ihnen sehr für
Ihren Brief und hoffe, daß es Ihnen in Rom erträglich geht Leider habe
ich nichts mehr von Frau v S 48 gehört, aber es ist mir noch nicht mög-
lich, den naheliegenden Grund ihres Schweigens tatsächlich anzuneh-
men Es ist so, wie Leon Bloy sagt, daß wenn man von Geld spricht,
immer ein böser Dritter unsichtbar am Geschäft beteiligt ist, und wenn
man über solche Dinge schreibt, überhaupt keine Hoffnung ist.
Inzwischen habe ich die „Folgen der Reformation" erhalten und seit
einer Woche mit zahlreichen Lesern darüber gesprochen Einige junge
Katholiken sind begeistert Die gelehrten Herren, wie Neuss und Prof
Peterson (ein protestantischer Theologe sympatischer Art)49 bewun-
dern Einzelheiten und ärgern sich über die ungründliche Dokumentie-
rung, am meisten, daß bei Luther nicht einmal Denifle50 herangezogen
ist. Ein junger Russe, Dr Gurian, schreibt ausführlich darüber, ich
schicke Ihnen den Aufsatz zu Sie wissen, was ich über die Publikation
denke Aber etwas so prachtvoll Treffendes wie den Abschnitt Seite

Vgl. Anm 28.


Persönlich war Schmitt dem späteren Konvertiten Erik Peterson (1890-1960)
erstmals im WS 1924/25 in Bonn begegnet; zu ihrer zeitweise engen Freund-
schaft und ihrem schließlichen Konflikt in Sachen politische Theologie vgl Bar-
bara Nichtweiß: Erik Peterson Neue Sicht auf Leben und Werk Freiburg 1992,
S. 727-830; dies : Apokalyptische Verfassungslehren Carl Schmitt im Honzont
der Theologie Erik Petersons, in: Wacker (Anm 2), S. 37-64.
Vgl Heinnch Suso Denifle OP (1861-1905 ) gehörte zu den „großen katholi-
schen Lutherpolemikern" (O H Pesch) vom Anfang unseres Jahrhunderts, vgl
seine hier gemeinte Schrift: Luther und Luthertum in ihrer ersten Entwicklung. 2
Bde Mainz 1904/09
226 Bernd Wacker

129/13051 habe ich doch in deutscher Sprache selten gelesen Daß eine
so wichtige Mitteilung, die wichtigste vielleicht, wie Ihre Äußerung
über Bakunin sich in der Anmerkung der letzten Seite verbirgt52, hat
mich etwas irritiert Es ist möglich, daß das Buch zu vielen öffentlichen
Auseinandersetzungen führt, dann hätte es ja seinen Zweck erreicht
und eine Rechtfertigung gefunden. Eventus judicabit
Die Besprechung von Holl in der D Lit Ztg53 ist eine üble Schulfüch-
serei, wie ein intelligenter Protestant mir sagte, hat Holl diese Gelegen-
heit, etwas zu lernen, leider versäumt und schimpft nun wie ein Ober-
lehrer
Die beste hagiographische Bibliothek der Erde soll in Beuron54 sein,
sie ist leicht zugänglich

Er lautet: „Der Begnff deutsch steht selbst unter Deutschen keineswegs fest
Hervonagende Führer haben sich vergebens bemüht, zu definieren, was eigent-
lich deutsch sei Sie widersprachen einander alle Fichte kam dem Problem am
nächsten Deutsch sein heißt originell sein, fand er Und da er Lutheraner war.
bedeutete das. die Originalität bestehe im Bruch mit der Tradition, in jenem stets
neu und von vorn Beginnen, das den Kanon verneint, statt ihn auszubauen, das
den Gedanken bekämpft, kaum daß er gefunden ist, Deutsch sein heißt quer zu
der Menschheit stehen: deutsch sein heißt alle Begriffe verwirren, umwerfen,
beugen, um sich die 'Freiheit' zu wahren Deutsch sein heißt babylonische Türme
emchten, auf denen in zehntausend Zungen der Eigensinn Anspruch auf Neuheit
macht; deutsch sein heißt renitente Systeme voller Sophistik ersinnen, aus einfa-
cher Furcht vor Wahrheit und Güte."'
52
Es sei, so der Textbezug der gemeinten Anmerkung, Bismarck in und mit seinem
Kampf gegen die römische Kirche gelungen, die Sympathie sogar jener rationa-
listischen Rebellen zu gewinnen, die auf politischen Gebiet seine wildesten Geg-
ner waren (Folgen, S 138) „So die Sympathien des dezidierten Staatsfeindes
Bakunin, ein Faktum, von dem ich hier gerne gestehe, daß es mich über den Ra-
tionalismus und Bakunismus zugleich aufklärte, denn damals, als ich dies Fak-
tum kennen lernte, war ich noch Freund der Bakuninschen Philosophie, wenn
auch nicht in dem Grade, daß ich einem preußischen Kulturkampf hätte Ge-
schmack abgewinnen können" (Folgen, S 158 Anm. 38).
Gemeint ist die Rezension des Byzantinischen Christentums durch den prote-
stantischen Theologen Karl Holl in: Deutsche Literaturzeitung 1924. H 32, Sp
2197ff
54
Die Benediktiner-Erzabtei St Martin in Beuron, die 1863 wiederbegründet wor-
den war, galt als Ausgangspunkt der liturgisch-monastischen Erneuerung in
Deuschland und war das Mutterkloster der Beuroner Kongregation, zu der auch
Mana Laach gehörte
Briefwechsel Schmitt Ball 227

Geben Sie mir bitte bald Nachricht, wie es Ihnen geht, lieber Herr
Ball Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Carl Schmitt

Sehr verehrte, liebe Frau Ball1 Auf Ihren schönen Brief kann ich nicht
so antworten, wie ich es gerne möchte, aber ich darf Ihnen doch sagen,
daß ich mich sehr darüber gefreut habe und hoffe, einmal eine Stunde
zu finden, in der ich Ihnen erwidern kann Ich sage Ihnen meine besten
Grüße auch für Annemarie und bleibe
Ihr Carl Schmitt

(13) Brief Hugo Balls an Carl Schmitt


(Briefe, S. 193/.)

Rom, Piazza Pollarola 19, [5.]. Januar 1925

Lieber Herr Professor,

wo kommt die Zeit nur hin? Zu meinem Schrecken sehe ich, daß ich
Ihren letzten Brief bereits anfangs Dezember erhielt und Ihnen noch
nicht einmal ein kurzes Dankwort schrieb Inzwischen erhielt ich auch
die mich sehr gefreut habenden Drucksachen Bitte seien Sie mir der
Versäumnis wegen nicht böse Ich hatte zum Jahreswechsel mancherlei
aufzuräumen und bin nun auch wieder mitten in der Arbeit Ja, wie soll
ich das sagen? Ich lernte Prof De Sanctis55 kennen (von der mediz
Fakultät der Regia Universitä) und studiere nun in seinem Laboratori-
um Psychiatrie und Analyse Es entspricht dies einem Wunsche, den ich
seit langem gehegt und dessen Interessen mit der Dämonologie zu-
sammenhängen Es muss Sie nicht überraschen Die Zusammenhänge
sind nicht von ungefähr Der frühchristliche Exorzismus interessiert
mich, und ich habe ein wenig das Gefühl, daß es gut sein könne, die dä-
monolog Theorien der modernen Therapeuten wieder dort unterzu-

Sante de Sanctis (1862-1935); vgl. Eugemo Gaddnu Psychoanalyse in Italien,


in: Die Psychologie des 20 Jahrhunderts Bd III: Freud und die Folgen (II). Hg
v Dieter Eicke Zürich 1977, S 78f u 82f
228 Bernd Wacker

bringen, wo sie allein können begriffen werden, nämlich in der Kirche


Gegenwärtig bin ich nun damit beschäftigt, die neuere Psychologie auf
ihre theologische Relativität hin zu untersuchen und gleichzeitig die
[sie!] frühchristlichen und gnostischen Exorzismus konkret zu inter-
pretieren Was mir vorschwebt, werde ich deutlicher zunächst vielleicht
in einem Aufsatz fürs Hochland sagen56 Es trifft sich gut, daß Prof
Muth gerade hier in Rom ist Wir waren en familie (seine Tochter und
ihr Gatte sind mitgekommen) in diesen Tagen öfters zusammen
Meine Adresse, lieber Herr Professor, bleibt einstweilen die alte Wir
versuchten, aus unseren beleuchteten Kajüten herauszukommen, haben
es aber nach einiger vergeblicher Anstrengung wieder aufgegeben Man
verlangt Garantiesummen in einer Höhe, daß einem schwindlig werden
konnte Ich weiß nun noch nicht, wie es werden wird: ob wir am 1
März nach Agnuzzo zurückreisen oder bis Semesterschluß (Ende Mai)
bleiben Es wird dies vom Erfolg eines Briefes abhängen, womit ich Dr
Feuchtwanger demnächst meine Situation mitteile Ich möchte ihn bit-
ten, mir von einem seiner Aktionäre eine Subvention zu erwirken, die
ich durch evtl Verpfändung meines Honorarvertrages zu erhalten hof-
fe Ich habe mit fast unüberwindlichen Schwierigkeiten aus dem einzi-
gen Grunde zu kämpfen, weil ich mir nicht leisten kann, ein oder das
andere Buch zu kaufen, und darum meine Kräfte mit der Exzerptarbeit
und endlosen Gängen zur Bibliothek erschöpfe Es ist aber am Ende
eine Angelegenheit, von der der liebe Gott am besten weiß, ob sie mir
nützt oder schadet
Ihre Nachrichten über die „Folgen der Reformation" freuten mich
recht sehr Ich fühle Ihre Sympathie, und das ist mir Erfolg genug Es
gibt Autoren, denen eine Demütigung guttut und die sie sich vielleicht
selbst schaffen Nehmen Sie ruhig an, das treffe auf mich zu Ich weiß
auch wohl, dass genug Gelegenheit war, Denifle57 zu zitieren Aber

Ball ist mcht mehr dazu gekommen, seine hier angedeuteten und auch in späte-
ren Briefen immer wieder angesprochenen Ideen in einem größeren Zusammen-
hang darzustellen; zum Druck brachte er allein die beiden großen Aufsätze Die
religiöse Konversion von 1925 und Der Künstler und die Zeitkrankheit von 1926
(vgl Künstler, S 336-376 bzw 102-149), doch auch in Hermann Hesse. Leben
und Werk von 1927 sind die Spuren seiner Beschäftigung mit Exorzismus und
Psychoanalyse nicht zu übersehen Eine eigenes Buch zu diesem Thema, das er
Die Therapie der Kirche nennen wollte (vgl Briefe, S. 229), kam nicht zustande
Vgl Anm. 50.
Briefwechsel Schmitt i Ball 229

wissen Sie, was derselbe Denifle einmal in einer Papstaudienz sagte, als
der heilige Vater ihm die Unterstützung der Kirche anbot „Das sind
Sachen", meinte Denifle, „da muss Seine Heiligkeit ganz draussen blei-
ben" Er empfand wohl, daß er mit seinen Gegnern allein fertig werden
könne Er überschätzte sie nicht Und sehen Sie doch diese Jülicher,
Holl, Seeberg58 und wie sie sonst heissen-: das sind doch keine Gegner
Herrn Dr Gurian danke ich sehr für seinfreundlichesInteresse Tref-
fen Sie wohl einmal mit ihm zusammen, oder gehört er gar zu Ihrem
Seminar9 Darf ich Sie in diesem Falle bitten, ihm einen Gruß zu vermit-
teln9 Ich hörte neulich von Prof Muth, daß mit einem Pilgerzug aus
Köln auch der Direktor der Volkszeitung hier war und daß man das
Buch dort anzeigen will, sich der Delikatesse dieser Anglegenheit aber
wohl bewußt ist.
Von den Ausschnitten, die Sie so liebenswürdig sandten, interessierte
mich besonders, was Prof Holzhausen (ist der Name richtig? Ich habe
den Ausschnitt nicht mehr zur Hand) über Katherina Emmerich59 sagte
Sie ist also eine „Schizoide" [im Original: „Schizophrene"] gewesen
Der Aufsatz war mir eine Bestätigung, er bestärkte mich in der Über-
zeugung, mit meinen Studien auf dem rechten Wege zu sein Schade,
daß Herrn Prof H. die Biographie der Maria von Agreda nicht ge-
genwärtig war Er wäre gewiß darüber völlig aus dem Häusel geraten

Die gerannten protestantischen Theologen hatte sich alle mehr oder weniger
kntisch 2um Byzantinischen Christentum geäußert; die bibliographischen Nach-
weisefindensich bei Ernst Teubner: Hugo Ball Eine Bibliographie Mainz 1992,
Nr. 988. )89, 1015.
Anna Kathanna Emmenck (1774-1824), stigmatisierte, visionär- und hiero-
gnostisch begabte Augustinernonne in Dülmen/Westfalen. deren „Schreiber"
Clemens Brentano wurde Ball kommt im Zuge seines Exorzismus/Therapie-
Projekts, in dessen Rahmen er sich auch intensiv mit der Hagiographie und Dä-
monologe der katholischen Spätromantik (Joseph Gönes, Brentano) befaßte,
verschiecentlich (vgl vor allem Folgen, S 83f) auf die Emmerick zurück. Sein
Interesse an den Vorgängen um Therese Neumann in Konnersreuth (vgl Briefe.
S 289, 292. 294-297 ) hat hier seine Wurzeln Die Artikel, die Schmitt gesandt
hatte, waen erschienen in der Kölnischen Zeitung 1924, Nr. 777, 783, 789, 795;
ihr Autoi war der Bonner Prof für Literaturgeschichte und Psychiater Paul Holz-
hausen.
Maria v«n Agreda (1602-1665), spamsche Nonne und Mystikenn. Ball meint
hier woh ihr 1670 erschienens Werk Mistica Ciudad de Dios, ain dessen Ende
sich die LebensbeschreibungfindetBall dürfte sie aus seiner intensiven Gönes-
230 Bernd Wacker

Leben Sie wohl, lieber Freund Sie arbeiten gewiß in aller Stille, wäh-
rend ich laue [im Original: „bunte"] Episteln schreibe [Frl. Todorovic
habe Grüße gesandt, und] von Herrn Prof. Neuß erhielt ich so uner-
wartet liebe Zeilen, daß ich ganz bewegt war
Herzlich Ihr
Hugo Ball

(14) Brief Carl Schmitts an Hugo Ball

Der Brief Schmitts, wohl vom Januar 1924, auf den sich Ball in seiner
Antwort vom 27. d. M. bezieht, ist unbekannt
(15) Brief Hugo Balls an Carl Schmitt
(Briefe, S. 196f)
Rom, Piazza Pollarola 19
27 Jan 1925

Lieber Herr Professor,

entschuldigen Sie meine zögernden Antworten bitte mit den neuen


Verhältnissen, vor die ich hier in Rom gestellt bin. Es ist eigentlich das
erste Mal, daß ich ungehindert und ganz wie ich möchte, meinen Studi-
en leben kann, und ich nutze dies recht aus Vormittags bin ich nun
täglich wenigstens drei Stunden im Laboratorium des Herrn De Sanctis
und betrachte es als ein großes Glück, gerade dieses Gelehrten in einer
bedeutenden Sache Schüler zu sein.
Nachmittags, wenn das Wetter schön ist, besuche ich mit meiner Frau
diese und jene Kirche, immer eine andere, und dies bleibt ganz dem
Zufall überlassen Da fand ich neulich in S Andrea delle Fratte - es ist
die Kirche, in der Alfons Ratisbonne konvertierte - also da fand ich
auch eine Gedenktafel für Ihren Freund Veuillot61, und mußte sehr an

Lektüre gekannt haben; vgl Joseph Gönes: Die christliche Mystik I Bd Re-
gensburg/Landshut 1836, S 482-495
Der französische Ultramontane Louis Veuillot (1813-1883) war ein glühender
Verehrer des spanischen Diplomaten und „Staatsphilosophen der Gegenrevoluti-
on" Donoso Cortes, mit dessen Werk Schmitt sich erstmals im IV Kapitel seiner
Politischen Theologie von 1922 befaßt hatte, vgl auch Bernd Wacker: Carl
Briefwechsel Schmitt > Ball 231

Sie denken Angelica Kauffmann hat in derselben Kirche eine Stätte


gefunden, und mit Recht, hat sie doch den jungen Goethe, nun, er war
akkurat in meinem Alter, hier zum deutschen Dichter bekehrt Das ist
ja auch etwas.
Und damit Sie den Stundenplan vollkommen kennen: abends, so zur
Erholung, lese ich gegenwärtig die deutschen Schriften des Manfred
Maria Ellis Kennen Sie diese Schriften wohl? Wenn nicht, so möchte
ich Ihnen besonders den Band I, 2 und 3 Teil (Sanssouci-Verlag, Ber-
lin 1924) angelegentlich empfehlen62 Ich finde darin eine überraschen-
de Bestätigung meiner Prussophobie Aber davon abgesehen, ist das
Werk dieses denkwürdigen Amerikaners gewiß der vorurteilsfreieste
Beitrag zur Geschichte des politischen Rokoko und es wäre nur zu
wünschen, daß es nicht in die große Versenkung fällt
[Ball bittet, Schmitt möge Frau von Schnitzler seinen herzlichsten
Dank übermitteln „für das gütige Geschenk". Auch Schmitt selbst
habe er für seine von Interesse und Wohlwollen getragene Vermittlung
zu danken, und da er wisse, daß er solche Aufmerksamkeit gar nicht
verdiene, sei er dabei „recht verlegen. "]

Schmitts Katholizismus und die katholische Theologie nach 1945, in: Wacker
(Anm. 2), S 190f.
' : Vgl Manfred Maria Ellis (d. i Werner Hegemann): Deutsche Schriften Ges in
3 Bdn v. Werner Hegemann. Berlin u Hellerau 1924 Auch wenn man Schmitt
mcht unbedingt als glühenden Verehrer Friedrich des Großen ansprechen darf, ja
Schmitt den Preußenkönig einmal als einen „Vorläufer des Bolschewismus'' be-
zeichnet haben soll (vgl Koenen [Anm 8], S 163), so empfiehlt Ball mit diesem
Hinweis auf Hegemann (1881-1936), den Berliner Architekturtheoretiker, -kri-
tiker und Publizisten, doch ausgerechnet die Werke eines mit der Linken sympa-
tisierenden bürgerlichen Demokraten, den Walter Benjamin in einer Rezension
von 1930 anerkennend „den Jakobiner von heute" genannt hat (Ges Schriften
Bd III, S 260-265) Gerade Hegemanns polemisch-kritische Auseinandersetzung
mit Friedrich II von Preußen, die unter dem Titel Fridericus oder das Königsop-
fer 1925 u 1926 in überarbeiteter Fassung in Hellerau erschien, wurde von Ball
außerordentlich geschätzt und gerne weiterempfohlen (vgl Briefe 197f.), Hege-
mann wurde 1933 aus Deutschland ausgebürgert, seine Bücher verbrannt Zur
zeitgenös Diskussion vgl Chnstoph Gradmann: Historische Belletristik. Populä-
re historische Biographien in der Weimarer Republik Frankrurt/New York 1993,
bes 58-74.
232 Bernd Wacker

Mit dem Aufsatz des Herrn Prof Peterson würden Sie mir eine gro-
ße Freude machen, umso mehr, als Sie ihm ein so schönes Prädikat
geben Aus Heidelberg erhielt ich - von Herrn Prof Ehrenberg64, gewiß
durch Ihre Vermittlung, lieber Freund - jenes merkwürdige Reform-
programm, das sich Nachwort zum II Bande des „Östlichen Christen-
tums" nennt Die seltsam verschlungenen Formen, die der Protestan-
tismus im Verscheiden annimmt, verdienten einmal besonders darge-
stellt zu werden Ich kann nicht recht verstehen, wie sich Ehrenberg bei
so hohen, teilweise auch wirren Einsichten noch immer als Protestanten
bekennt Aber es wird wohl seinen Sinn haben Betrüblich bleibt nur,
daß jemand aus freier Wahl sich der Unfruchtbarkeit verschreibt Was
über die „Universität" als „babylonische Hure" gesagt ist, würde ich
nicht zu sagen gewagt haben Wie gut es doch ist, daß die Kirche so
feststeht
Über meine verdrießlichen Reformationsfolgen treffen nun die ersten
Wetterberichte ein Es ist eine lehrreiche Angelegenheit, die ich nicht
gerne missen möchte Ich habe hinreichend Distanz, lassen Sie sich da-
rum bitte ja nicht abhalten, mir hie und da einen Ausschnitt zu schik-
ken, der Ihnen begegnet Sie versprachen mir eine Rezension der
„Volkszeitung" War es das Beiliegende, oder ist sonst noch etwas
erschienen9 Es interessiert mich wirklich, weil es doch die führende
katholische Zeitung ist. Und weiß vielleicht Herr Dr Gurian, wer K P.
(Kurt Pinthus etwa?) signiert? Erst so vornehm, und nun so übel, der
schweizer Verfasser -
Leben Sie wohl, lieber Herr Professor, und behalten Sie mich lieb Es
klingt kindlich, weil es sich so ruhig spielt in den fliehenden Räumen
Ihr Hugo Ball

Gemeint ist wohl Erik Peterson: Zur Theone der Mystik, in: Zeitschrift für Sy-
stematische Theologie 2 (1924/25). S 146-166
Hans Philipp Ehrenberg: Östliches Chnstentum 2 Bde München 1923ff.
Briefwechsel Schmitt' Ball 233

(16) Bneflentwurf) Hugo Balls an Carl Schmitt


(nicht abgeschickt)

Rom, Piazza Pollarola 19, 11 Febr 1925

Sehr geehrter Herr Prof Schmitt,

Im Juni 1924 schrieb ich im „Hochland" einen Aufsatz von mehr als
Bogenumfang über Ihre bis dahin erschienenen Schriften Ich wies auf
Ihr Werk hin in einer Weise, wie es bis dahin niemand getan hatte
Sie besuchten mich daraufhin in Lugano und versicherten mir, in mei-
nem Aufsatz Aufschlüsse gefunden zu haben, die Ihnen selbst überra-
schend und nicht bewußt waren.
Es lag Ihnen daran, Ihr neues Vorwort zur „Politischen Romantik"
mit mir zu besprechen und Sie interessierten sich lebhaft für meine neue
Arbeiten
Sie wußten bereits (vom Verlag oder von sonstwem), daß ich die
„Folgen der Reformation" vorbereite Obgleich Ihnen aber vom Inhalt
dieses Buches nicht mehr bekannt sein konnte, als daß es eine Bearbei-
tung meines unbekannt gebliebenen Buches „Zur Kritik der deutschen
Intelligenz" sein werde, rieten Sie mir in der dringendsten Weise von
der Publikation ab Sie gingen soweit, mir zuzumuten, ich solle dieses
Werk, dessen Korrekturen bereits eintrafen, unterdrücken Um die Ab-
findung des Verlegers und um die Rückzahlung des Honorars, das ich
bereits empfangen hatte, solle ich mir keine Sorgen machen, das wür-
den Sie schon übernehmen65
Ich lehnte diese Zumutung, die ich für einen Fanatismus von Freund-
schaft hielt, nach reiflicher Überlegung ab
Nun ist vor kurzem das Buch erschienen und in einer tonangebenden
katholischen Zeitung erscheint (als erste Besprechung, so eilig hatte
man es) eine Rezension von Dr Gurian, die nicht nur für mein Buch,
sondern für mich selbst vernichtend ist.
Dr. Gurian ist ein unbedeutender junger Mensch, das sehe ich aus
Sätzen, die er bei anderer Gelegenheit geschrieben hat Aber Dr Guri-
65
Für die Summe, die Schmitt angeboten hatte, bürgte Schmitts Freund Georg von
SchnitzJer (vgl Anm 28 und die dort angegebenen Arbeiten von Tomnussen);
Schmitt war also, wie Ball zu Recht vermutete, schon vor seinem Besuch im
Tessin über Balls neuestes Publikationsvorhaben untemchtet gewesen
234 Bernd Wacker

an ist, wie Sie mir selbst einmal mitteilten, Schüler Ihres Seminars und
ich darf ruhig annehmen, Ihr bevorzugter Schüler Daß seine Rezension
keinen Anspruch auf Selbständigkeit erheben kann, geht (freilich nur
privatim für mich) daraus hervor, daß sie Fakten und Meinungen ent-
hält, die auf Ihre Gespräche mit mir in Lugano zurückgehen
Sagen Sie mir, verehrter Herr Professor, was soll ich von all dem
halten9 Denn nicht wahr, es ist doch so, dass Sie seit Monaten mir mir
in vertraulicher Korrespondenz stehen?
Zu der besonderen Technik der Gurian'schen Besprechung habe ich
folgendes zu sagen
1 Herr Dr G bespricht nicht sowohl meine „Folgen der Reformati-
on", als meine frühere Mitarbeit an der (allgemein verhassten) „Freien
Zeitung" und im Anschluß daran, mein in der Neuausgabe um 2/3 re-
duziertes und desavouiertes Buch „Zur Kritik der deutschen Intelli-
genz" von 1918
2 Er kommt zu rein negativen Resultaten, weil er den Zusammenhang
der "Folgen" mit meinem Buche „Byzantinisches Christentum" außer
Acht läßt oder nicht sehen will, obgleich diese beiden Bücher sich ein-
ander ergänzen
3 Herr Dr G bespricht mein Buch nicht mit dem Interesse eines
Katholiken, sondern so, wie ein protestantischer oder nationalistischer
Gegner es besprechen würde Er hätte reichlich Gelegenheit gehabt,
aus dem Vergleich meines desavouierten Buches von 1918 mit meinen
späteren Büchern von 1923 und 1924 auf eine entschiedene Konver-
sion zu schließen und dieses Faktum (in einem Katholikenblatte) ent-
sprechend zu würdigen Statt dessen läßt er (an solcher Stelle) mein
Verantwortungsgefühl fraglich erscheinen
Glauben Sie nicht, lieber Herr Professor, daß ich um mein Buch, oder
um meinen Ruf kämpfe, mein Geschick liegt nicht in der Hand eines
Rezensenten
Ich möchte nur gerne wissen, was Sie mir auf diesen Brief zu sagen
haben
In besonderer Ergebenheit
Ihr
Hugo Ball
Briefwechsel Schmitt / Ball 235

(17) CarlMuth an Carl Schmitt

München 7 11. 27

Sehr verehrter, lieber Herr Professor!

Sie haben mich schon vor mehreren Wochen durch die Uebersendung
eines Sonderdruckes Ihres Aufsatzes „Ueber den Begriff des Politi-
schen"66 geehrt und erfreut Ich danke Ihnen herzlich für diese Auf-
merksamkeit und die richtige Einschätzung meiner Teilnahme für Ihre
Arbeiten Ich habe den Aufsatz auch sofort gelesen, und wieder gele-
sen, denn Ihre Gedankengänge sind nicht so, dass man damit fertig
werden könnte
[Daß er Schmitt nicht schon früher gedankt habe, erklärt Muth mit
dem Hinweis auf seine Überlastung durch die Redaktionsarbeit. Erst
seit kurzem habe er wieder Zeit auch für andere Dinge. Er verspricht,
sich mit Schmitts Aufsatz, den er auf der richtigen Spur sieht, gründ-
lich auseinanderzusetzen, verweist auf die zu erwartenden Verständ-
nisprobleme auch bei der großen Mehrzahl der Gebildeten und kün-
digt eine „Stellungnahme " in seiner Zeitschrift an.
Im weiteren dankt er Schmitt für dessen Aufsatz über „Donoso Cor-
tes in Berlin ", der gerade als Beitrag zur Festschrift zum 60. Geburts-
tag von CarlMuth 7 erschienen war. Dann fährt er fort:]
Darf ich diesen Worten noch einige Bemerkungen anschliessen, die
mir durch einen Brief des Dr Gurian vom 15 Oktober nahegelegt
werden Wie Sie wissen, hat ein Dr Knapp, ein Mann in reifen Jahren
und von durchaus besonnener und wirklich katholischer Haltung, einen
Aufsatz im Hochland geschrieben, worin er über das „Journal intime"
und die Briefe von Hyacinthe Loyson berichtet68 Darin geschieht auch
der Tatsache Erwähnung, daß Meriman in ihren Aufzeichnungen von

Carl Schmitt Der Begriff des Politischen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und
Sozialpolitik 58 (1927), S. 1-33.
Vgl Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland Eine Gabe für
Karl Muth München 1927, S 338-373.
Vgl Hochland XXIV/2 (1924), S. 520-531. Carles Loyson (1827-1927), kath
Ordenspnester (P Hyacinthe) und Theologe in Pans. 1869 aufgrund seiner Kir-
chenkntik exkommuniziert; 1872 Heirat mit E Menman
236 Bernd Wacker

einer vorübergehenden Schwäche des P. Gratry berichtet Herr Dr


Knapp hat, wie er mir versichert, einen Augenblick geschwankt, ob er
diese Aufzeichnung der Frau Meriman ignorieren sollte, aber er hat aus
einem Gefühl der intellektuellen Redlichkeit sich doch nicht dazu ent-
schließen können Gegen die Aufzeichnungen zu polemisieren, fehlte
ihm jegliche Handhabe Er erklärte mir ausdrücklich, dass er Verständ-
nis dafür habe, wenn man aus klerikalem Interesse solche Eröffnungen
als unbequem empfinde, aber er selbst habe nicht das Gefühl, dass da-
mit dem katholischen und dem religiösen Interesse wesentlich gescha-
det werde Herr Dr Knapp ist auch heute noch, nach dem Versuch des
Dr Gurian, die Aufzeichnung der Frau Meriman als eine Täuschung
oder Unwahrhaftigkeit hinzustellen, der Meinung, dass alles, was da-
gegen vorgebracht wurde, nichts beweise Psychologisch aber sei es
fast nicht denkbar, daß eine Frau sich über das. was man einen Heirats-
antrag nennt, täuschen könne Wie es auch immer sei, ich habe mich
jedenfalls nach gewissenhafter Ueberlegung nicht entschließen können,
den Versuch einer Korrektur durch Dr Gurian in das Hochland aufzu-
nehmen, zum Teil auch deshalb nicht, weil ich einer Sache, die weiter
kein Aufsehen erregte, nicht einen sensationellen Anstrich durch eine
breitere Behandlung geben wollte Nun hat Dr Gurian seinen Aufsatz
im „Heiligen Feuer" drucken lassen70, was schliesslich sein gutes Recht
war In dem Brief, in dem er mir diese Tatsache mitteilt, beruft er sich
aber in einer so auffällig nachdrücklichen Weise auf Sie, dass ich mich
ernstlich frage, ob Sie wirklich Freude daran empfinden können, für das
Tun des Herrn Dr Gurian als Autorität und Kronzeuge herhalten zu
müssen U a schreibt Herr Dr Gurian, Sie hätten lediglich auf Grund
der kleinen Stelle in dem Hochlandaufsatz des Dr Knapp Gratrys
Werke aus Ihrer Bibliothek entfernt Auch hätten Sie sich für die Ob-
jektivität der Entgegnung Gurians ausgesprochen und ihr juristischen
Sinn nachgerühmt Schliesslich hätten Sie erklärt, dass meine Distinkti-
on zwischen Referenten und Darsteller unmöglich sei, ja dass sie diesen
Unterschied nicht verstünden Mir liegt nun nichts ferner, als Sie ob
dieser Reportage des Herrn Dr Gurian irgendwie zu interpellieren Ich
wollte Sie nur wissen lassen, wie Herr Dr Gurian mit Ihren angebli-

Auguste-Joseph-Alphonse Gratry (1805-1872), kath Pnester. bekannter Theolo-


ge und Philosoph, seit 1862 Prof an der Sorbonne
Vgl Um die Ehre Gratrys. m: Heiliges Feuer 15 (1927/28). S 20-28
Briefwechsel Schmitt / Ball 237

chen Urteileni und Verhaltungsweisen hausieren zu gehen scheint Wie


ungenau er stelbst in der Deutung von Aeusserungen anderer verfährt,
geht aus seiniem Briefe auch inbezug darauf hervor, dass er von einer
„Drohung" meinerseits spricht, seine Entgegnung durch den Verfasser
des Hochlandaufsatzes angreifen zu lassen Ich habe ihm, weit entfernt,
zu drohen, vielmehr die Ablehnung seiner Entgegnung damit begrün-
det, dass Herr Dr Knapp durch sie vielleicht veranlasst sein könnte,
daraufhin auch seine persönliche Auffasssung darzulegen, dass ich aber
eine solche Weiterung fernhalten möchte, eben im Interesse Gratrys
Als Sie am 17 9 schrieben, Sie hätten lange nichts von Hugo Ball
gehört, war er bereits ein totgeweihter Mann Er hatte sich in Zürich
wenige Wochen zuvor einer Magenoperation unterziehen müssen, und
ist selber mit guten Hoffnungen nach dem Süden zurückgereist, aber
der Arzt hatte Frau Ball nicht im Unklaren gelassen, dass das Krebslei-
den nicht behoben werden könnte und in kurzem seinen Tod herbeifüh-
ren würde. - Mir hat immer wehgetan, dass Hugo Ball, der seiner Ge-
sinnung nach zweifellos ein lauterer Mensch war, Ihr Verhalten ihm
gegenüber in Sachen der Reformationsbroschüre nie verstanden hat Er
ging zweifellos mit dem Gefühl aus dem Leben, von Ihnen verfolgt
gewesen zu sein Ich habe wiederholt ihm diesen Glauben auszureden
gesucht, ich habe sogar einmal, woran mich dieser Tage seine Frau er-
innerte, in diesem Zusammenhang von Verfolgungswahn gesprochen,
aber es war nichts zu machen Hugo Ball starb in einer tief frommen
Ergebung und mit dem echten Glauben des Christen Ich habe den Ein-
druck, dass sein Leben auch im letzten geistigen Sinn vollendet war
Ihre gütige Nachfrage an mein Ergehen kann ich mit der Mitteilung
beantworten, dass ich mich trotz der grossen Anstrengungen in letzter
Zeit verhältnismässig recht wohl fühle Ein Gleiches von Ihnen hoffend
und Ihnen wünschend, begrüsse ich Sie, sehr verehrter, lieber Herr
Professor, in immer gleicher Hochschätzung als
Ihr ergebener Carl Muth

(18) Carl Schmitt an CarlMuth

Entwurf einer Antwort auf das Schreiben von Prof Carl Muth an Carl
Schmitt vom 7. November 1927
238 Bernd Wacker

(Dieser Entwurf stammt vom November 1927, er ist im Original steno-


graphiert und hier wörtlich in Kurrentschrift übertragen Der nach die-
sem Entwurf an Prof Carl Muth geschriebene Brief müßte sich in des-
sen Nachlaß finden)

Ihr Brief hat mich in einem Zusammenhang erreicht, der auf eine merk-
würdige Weise zeigt, wie sehr ich mit Ihnen verbunden bin und auch in
Zeiten gegenseitigen Schweigens immer neue Verbindungen entstehen
Am meisten ist es der Gedanke an Hugo Ball, der mich nicht losläßt
Ich hatte schon in den letzten Wochen vor Ihrer Nachricht zwischen
einer nervenaufreibenden, beruflichen Handwerksarbeit seine Flucht in
[sie1] die Zeit gelesen, die ich früher wegen ihrer Formlosigkeit und
ihrer Notizenhaftigkeit nicht leiden mochte Jetzt gewinne ich sie all-
mählich lieb, wie mit einem Menschen, ja, wie mit einem Bruder Ich
bleibe dabei, daß es niemand gab, der Hugo Ball näherstand als ich
Wir sind beide rheinische Katholiken und geistig wie moralisch von
gleicher Bildung71 Damals, im Herbst 1924, als sein Buch über die
Folgen der Reformation erscheinen sollte, habe ich mit ihm offen dar-
über gesprochen und ihn beschworen, es nicht zu veröffentlichen Ich
habe ihm keinen Gedanken verheimlicht, aber der Einfluß von Hermann
Hesse72 war stärker Das ist menschlich und psychologisch begreiflich,
aber das Mißverständnis bleibt schrecklich Es ist heute nicht mehr die
71
Vgl Briefe, S. 176 u. 248f sowie Paul Noack: Carl Schmitt Eine Biographie
Berlin/Frankfurt 1993, S 16f
2
Wie immer es um Hesses Einfluß auf die Folgen tatsächlich bestellt gewesen sein
mag - wie die Lektüre der Konespondenz Hesse / Ball bzw Hesse / Ball-
Hennings und seine über Jahre durchgehaltene sensible und tatkräftige Unterstüt-
zung der Familie deutlich macht, dürfte er Ball sehr viel näher gestanden haben
als Schmitt oder andere Katholiken, mit denen Ball in Berührung gekommen
war. „Der offizielle Katholizismus", schreibt Hesse im April 1934 an Adolf Ba-
den, ohne Schmitts Namen zu nennen, „hat sich gegen Hugo Ball gleich benom-
men wie gegen jeden intransigenten Außenseiter, er hat ihn bald benutzt, bald
verleugnet Ich erinnere mich, daß damals, als die Kritik der deutschen Intelli-
genz' vergriffen war und umgearbeitet werden sollte, sich ein machtiger und be-
rühmter Katholik bei Ball einfand, der sehr auf die Umarbeitung drückte (sie
heißt Folgen der Reformation') und Ball weiter trieb, als er hatte gehen wollen,
dann aber als Ball es merkte und sich wehrte, abreiste und sich später wenig nett
gegen Ball benahm Dieser Katholikenfiihrer spielt, glaube ich. noch heut eine
Rolle, er stand immer dort, wo die Macht war" (Gesammelte Bnefe Bd 2: 1922-
1935 Hg. v Ursula u Volker Michels Frankfurt 1979. S 4210
Briefwechsel Schmitt Ball 239

Frage, mich zu verteidigen, sondern meinen Teil Schuld daran festzu-


stellen Die Schuld liegt in meiner Abneigung gegen Auseinanderset-
zungen und einer tiefen Überzeugung von der Nutzlosigkeit allen Spre-
chens Ich sah plötzlich das rein biographisch Trennende, das, was
mich trotz der gemeinsamen Herkunft von Ball trennt, und ging meiner
Wege
Jede Zeile von ihm habe ich mit gespannter Erwartung gelesen und
immer wieder eine Begegnung mit ihm vorbereitet Ich habe ihn nie-
mals aus den Augen verloren i. In meinem Begriff des Politischen ist
jede Zeile an ihn gerichtet74 Als die Nachricht von seinem Tode ein-
traf, überlegte ich schon den Begleitbrief, mit dem ich ihm den Aufsatz
zuschicken wollte Diese Nachricht war der stärkste Schlag, den ich
jemals in der Sphäre erhalten habe, in der sich das Geistige mit dem
persönlichen Schicksal der einzelnen Menschen verbindet
Ihr Interesse an diesem Aufsatz über das Politische berührt mich des-
halb auf das Lebhafteste Der Aufsatz ist auch innerlich nicht konzili-
ant Wenn Sie sagen, daß die Mehrzahl auch der Gebildeten nicht mit-
geht, so ist das sicher richtig Ich war deshalb glücklich, von Ihnen zu
hören, daß Sie eine Auseinandersetzung mit ihm für fruchtbar halten
Ich glaube, daß ich niemals etwas Besseres geschrieben habe Die The-
senhaftigkeit ist vielleicht ermüdend, aber sie war nötig, um auf einem
verhältnismäßig kleinen Raum eine [sie!] solches Gebiet zu enkadrie-
ren.
Nov 1927.

73
Vgl den Brief v 7. März 1927 in der Dokumentation von Barbara Nichtweiß:
"Die Zeit ist aus den Fugen" Auszüge aus den Briefen von Paul Adams an Erik
Peterson. in: Wacker (Anm. 2). S 65-87, 70f
4
Eine gründliche Auseinandersetzung mit diesem Bekenntnis' steht noch aus Im
Gespräch mit Schickel (Anm 2) spielte es keine Rolle; auch Heinrich Meier
kommt in seiner einläßlichen Studie Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff
des Politischen". Zu einem Dialog unter Abwesenden (Stuttgart 1988) auf Ball
nicht zu sprechen
Ansgar Hillach

„Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer


Wirkung"
Hugo Balls Normsetzung gegen die Zeitkrankheit
oder: Die Wiedergewinnung des Symbols durch den Logos

Was ist eigentlich ein Ideologe" Eine Lesemeister im


übernatürlichen Bilderbuch Sind unsere Denker bilder-
süchtig? Man kann es nicht sagen Was lehren sie vom
bildhaften Denken und Sein? Plato war ein Ideologe,
Hegel ist keiner, Kant auch nicht Vor allem zu fordern
ist die Verschmelzung von Namen und Sachen; die
möglichste Vermeidung von Worten, zu denen es keine
Bilder gibt Um Ideologe zu sein, müßte man die Ge-
setze der Magie kennen Wer kennt sie noch9 Wir
spielen mit einem Feuer, das wir nicht zähmen kön-
nen .

Unterm 8. April 1916 findet sich in Hugo Balls Tagebuch folgender


Eintrag:
„Die vollendete Skepsis ermöglicht auch die vollendete Freiheit
Wenn über den inneren Umriß eines Gegenstandes nichts Bestimmtes
mehr geglaubt werden kann, muß oder darf, - dann ist er seinem Ge-
genüber ausgeliefert und es kommt nur darauf an, ob die Neuordnung
der Elemente, die der Künstler, der Gelehrte oder Theologe damit
vornimmt, sich die Anerkennung zu erringen vermag Diese Anerken-
nung ist gleichbedeutend mit der Tatsache, daß es dem Interpreten
gelungen ist, die Welt um ein neues Phänomen zu bereichern Man
kann fast sagen, daß, wenn der Glaube an ein Ding oder eine Sache
fallt, dieses Ding und diese Sache ins Chaos zurückkehren, Freigut

1
Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit. Hg v. Bernhard Echte Ztnch 1992, S. 157
(Eintrag v. 23. 4. 1917)
242 "Das Wort als ein Gottwesen ..."

werden Vielleicht aber ist das resolut und mit allen Kräften erwirkte
Chaos und also die vollendete Entziehung des Glaubens notwendig,
ehe ein gründlicher Neuaufbau auf veränderter Glaubensbasis erfolgen
kann Das Elementare, Dämonische springt dann zunächst hervor, die
alten Namen und Worte fallen Denn der Glaube ist das Maß der Din-
ge, vermittels des Wortes und der Benennung " 2
Der Abschnitt eröffnet historische Bezüge in zwei Richtungen Schon
an der Formulierung dessen, was „vollendete Freiheit" sein könne,
nämlich der Durchgang durch die kritische Reflexion und als deren
Resultat die „vollendete Skepsis", wird die Nähe zur frühen Romantik
deutlich Was die Reflexion notwendigerweise auflöst, sind kollektiv
verbürgte Glaubensgehalte Sie bestimmen auch das, was man den
„inneren Umriß eines Gegenstandes" nennen kann, sein unter allen
denkbaren Hinsichten sich durchhaltender Bedeutungskern, das, wozu
der Gegenstand 'eigentlich' da ist Der „Glaube an ein Ding oder eine
Sache" ist in diesem Sinne ihre Evidenz Es bedarf erst einer fundamen-
talen Entsicherung des Weltbildes, um die beliebige Verwendbarkeit
und Interpretierbarkeit der gegenständlichen Welt auch nur in den
Blick zu rücken
Diese Weltbildentsicherung - und damit spreche ich den zweiten hi-
storischen Bezug an - wurde zuerst manifest im Barockzeitalter Die
innere Kontur der Dinge und ihrer bildlichen Darstellung wurde frag-
lich, nachdem der christlich-symbolische Kosmos, wonach das von
Gott in seinem Schöpfüngswerk Gemeinte in seinem Wort und in dem
der Kirche beschlossen lag, von einer kopernikanischen Wendung zur
Perspektive der Erfahrung ergriffen worden war Die aus der symboli-
schen Ordnung sich emanzipierende Dingwelt fiel der Allegorisierung
anheim, der subjektiven Verleihung von Sinn, die allerdings zur Sub-
jektivität sich nicht bekennen wollte Sie spekulierte daher und schöpfte
aus Traditionsbeständen Vermeintliches Wissen wurde aber zum Ab-
grund, das Subjekt der Allegorie fiel, wie Walter Benjamin in seinem
Ursprung des deutschen Trauerspiels (1923-25) ausgeführt hat, dem
bohrenden Tiefsinn und der Melancholie anheim, während in der unbe-
griffenen Dingwelt Chaos wahrnehmbar wurde Die aus der christlichen
Lebenswelt ausgeschiedenen Dinge konnten von Dämonen besetzt
werden Ehe das geschah, standen sie als tote dem Allegoriker zur

:
Ebd s. 90
Ansgar Hillach 243

Sinnstiftung zur Verfugung, „auf Gnade und Ungnade ihm überliefert",


wie Benjamin, auf den ich mich hier in aller Kürze beziehe, schreibt3
Es verdient aus inhaltlichen Gründen Beachtung, daß Benjamins For-
mulierung rund acht Jahre früher schon von Ball ganz ähnlich verwen-
det wird
Die Gewaltsamkeit der allegorischen Intention, der subjektiven Will-
kür, die notgedrungen aus der Entleerung der Realien von ihren her-
kömmlichen Bedeutungsinhärenzen sowie der ausweglosen Melancho-
lie, in die das den Betrachter stürzt, resultiert, wird von Benjamin mit
einer Assoziation an die unumschränkte Herrschaftsgewalt des barok-
ken Absolutisten ausgedrückt Daß am Grunde der Dingwelt das Cha-
os lauere, wenn durch menschliche Schuld - durch Schuld der Erbsün-
de und durch aktuellen Glaubensverlust - die Schöpfungsordnung in ihr
unerkennbar wird und die Dinge ihre tradierte Signatur verlieren, fällt
ebenso in barockes Denken wie die dazugehörige Dämonologie, auf die
Ball später expliziter zurückgreifen wird Plausibel war diese Chaos-
fürcht, solange die empirische Erforschung der materialen Welt in den
Kinderschuhen steckte und radikaler weltbildlicher Zweifel mit hohem
Risiko behaftet war Theologisch ist der Chaos-Gedanke jedoch so
nicht begründbar, er war im Barock vielmehr durch den Nominalismus
möglich geworden, durch das scholastisch erkämpfte Auseinandertre-
ten von ordnender Begrifflichkeit und dinglich-fraglichem Substrat
Seither war die Karriere des Chaos-Gedankens, der fast immer kon-
trastiv im Dienste einer Herrschaftsordnung stand, nicht zu stoppen, so
daß schon verwunderlich ist, daß Hugo Ball hier eher vorsichtig for-
muliert. In romantischer Tradition und in der des Genie-Gedankens
wurde „Chaos" dann aber auch zunehmend produktiv verstanden, als
schöpferischer Urgrund, aus dem originär Neues erwachsen kann Um
die Jahrhundertwende wird im Kreis der Münchner Kosmiker, nament-
lich durch Alfred Schuler, eine vitalistisch-zyklische Auffassung ent-
wickelt, wonach Zerstörung und Chaos in ihrer Todbedeutung zugleich
ein treibendes Moment der Geschichte sind 4

' Walter Benjamin Ursprung des deutschen Trauerspiels In: Gesammelte Schnf-
ten, Bd. 1/1. Frankfurt/M 1974, S 359
4
Vgl Gerhard Plumpe Alfred Schuler Chaos und Neubegann. Zur Funktion des
Mythos in der Moderne Berlin 1978. S 99 ff
244 "Das Wort als ein Gottwesen ..."

Mit dem Prinzip der Skepsis und der Rückkehr der Dinge ins „Chaos"
knüpft Ball an eine gnoseologische Konstellation der frühen Neuzeit
an, in der gegen eine angsterzeugende Verselbständigung von Realien
und ihren Bildkorrelaten eine allegorisch-emblematische Bewältigungs-
form gefunden wurde Die bestand damals darin, daß mittels des Wor-
tes, der Bezeichnung und der sentenzenhaften Sprache meist aus her-
beizitiertem Traditionswissen gegen die andringende Sach- und Bilder-
flut und ihren vermeintlich dämonischen Untergrund dogmatisch neu
verfügt wurde Es war eine Scheinlösung der Probleme, die der Anstoß
des Nominalismus und der Weltbildverlust des Christentums mit sich
geführt hatten Denn die barocke Allegorie war nicht darauf aus, die
entseelten Dinge dem Leben in anderer Weise zurückzugeben, sondern
sie stellte sie in den Dienst der Ewigkeitsbetrachtung Darin unter-
scheidet sich Hugo Ball an der zitierten Stelle Die aus subjektiver
Vollmacht verfügende „Neuordnung der Elemente, die der Künstler,
der Gelehrte oder Theologe (mit seinen Gegenständen) vornimmt",
bereichert die Welt dann, wenn das Resultat gesellschaftlich anerkannt
wird, mit neuen Phänomenen, die vielleicht einem „gründlichen Neu-
aufbau" zugute kommen können
Im Abstand von drei Jahrhunderten greift also Hugo Ball, als Ange-
höriger einer Generation von Artistenrebellen gegen die Zumutungen
der technologisch hochgerüsteten Moderne, die ihre Sinnleere gerade
als weltgeschichtliches Vernichtungsspektakel inszeniert, die barocke
Problemstellung am gnoseologischen Punkte wieder auf Gewitzigt
durch romantische Reflexion und Ironie und auf die Fährte gesetzt
durch Nietzsches ästhetische Opposition, postuliert er „die vollendete
Entziehung des Glaubens" und einen „Neuaufbau auf veränderter
Glaubensbasis" Zu gewährleisten hätte diese Glaubensbasis eine äs-
thetisch-künstlerische Gegenwelt, gemäß dem Artistencredo, das er
spätestens 1910 Nietzsche entnommen hatte „Die Schöpfung einer
(neuen) Religion würde darin liegen, daß einer für sein in das Vakuum
hineingestelltes mythisches Gebäude Glauben erweckt" In diesem Sin-
ne wollte Nietzsche „eine ganz neue Art des Philosophen-Künstlers
imaginieren, der ein Kunstwerk hinein in die Lücke stellt mit ästheti-
schem Wert " Natürlich vermerkt Ball an dieser Stelle mit einem weite-
Ansgar Hillach 245

ren Nietzsche-Zitat, daß es dabei um „die Verbesserung der als verän-


derlich erkannten Seite der Welt" gehe.5
Lange vor der besiegelten Konversion, schon im Laufe des Jahres
1916, nehmen Balls Reflexionen über Glauben, Skepsis und die Valenz
der sinnlich-konkreten Welt eine weltanschaulich-dogmatische Färbung
an, im Sinne eines Bemühens um Letztbegründung der Kunst und des
Künstlertums Daß „nur als ästhetisches Phänomen die Welt ewig ge-
rechtfertigt" und daher in Kunst zu übersetzen sei, wie Nietzsche
meinte, reicht Ball nicht mehr aus Angelpunkt einer Wendung von der
ästhetischen zur religiösen Weltauffassung ist die Autorität und Ver-
bürgtheit, die Ball dem Wort und der Sprache wiederzugewinnen hofft
Der letzte Satz der eingangs zitierten erkenntnisästhetischen Skizze
formuliert die Richtung, deren gedankliche Konsequenz - unbeschadet
mystischer Erfahrungen - zur Konversion führt: „Denn der Glaube ist
das Maß der Dinge, vermittels des Wortes und der Benennung " Das
kündigt den Sprachtheologen Ball an Die durch alle Schichten der
Wirklichkeit hindurchgreifende „dämonische" Korruption der weltli-
chen Dinge ist von Gnaden eines Künstlergenies zwar mythopoietisch
zu konterkarieren, aber nicht aufzuhalten Auch eine ästhetisch ans
Christentum anschließende Utopie hält dem modernen Druck materia-
listischer Gesinnungen und verselbständigter Willensstrebungen (Par-
tialtriebe, „Dämonismen") nicht stand Balls Ringen um eine Glaubens-
grundlage, sein steiles Abheben von der „Politik" und seine - trotz re-
tardierender Momente - fast meteoritenhafte Rückkehr in den Schoß
der Kirche lesen sich heute wunderlich Aus einem uns weit entrückten
Zeitklima heraus, dem die Kategorien des Wunders und des Heiligen
zentrale Positionen eines Kampfes um den Geist waren, wären sie
gleichwohl verständlich zu machen

II

Ich möchte im Hinblick auf den Essay Der Künstler und die Zeitkrank-
heit von 1926 versuchen, einen von Ball nur angezeigten Wirklich-

Fnednch Nietzsche, von Ball zitiert in: ders Nietzsche in Basel Eine Streit-
schnft. in: ders Der Künstler und die Zeitkrankheit Ausgewählte Schriften Hg
v. Hans Burkhard Schlichting Frankfurt 1988. S 90 f.
6
Hugo Ball Der Künstler und die Zeitkrankheit (1926), in: Ball (Anm. 5), S 102-
149
246 "Das Wort als ein Gottwesen ..."

keitsbegriff zu rekonstruieren, der die normative Folie für die von ihm
(und freilich nicht nur von ihm) damals behauptete „Zeitkrankheit"
darstellt Die unvermittelten Bezugnahmen auf die Kirche und auf zu
exorzisierende Dämonismen verkürzen und verstellen das Verständnis
dessen, was an konstitutiven Theorieelementen sich möglicherweise
darin verbirgt
Zunächst noch einige Beobachtungen anhand des Tagebuchs Die
letzte Bastion des Ästheten und Dandy, der Ball längst nicht mehr sein
wollte, gegen die autoritative, durch Offenbarung und Tradition ver-
bürgte Deutungsmacht der Kirche lag im empirischen Sprachgebrauch
von deren Amtsträgern „Wie kann man", so fragt Ball für den Dandy,
„zum ewigen Wort einen lebendigen Zugang haben, wenn man das
zeitliche und relative Wort brutalisiert?" Es ist hier, im November
1919, schon ein Rückzugsgefecht, Ball hat zu diesem Zeitpunkt die für
ihn wesentlichen Reflexionsschritte zum kirchlichen Glauben offenbar
vollzogen Eine Woche später, am 25 November 1919, postuliert er
mit dem Gestus des Logikers die Unfehlbarkeit „der kontrollierenden
Kirche" (nicht etwa des Papstes, wenn er ex cathedra spricht!) Es geht
Ball um die Gewinnung einer für objektiv erkannten Wirklichkeit, die
dem Fluß des Werdens entzogen, gleichwohl erfahrbar sein soll, und
die in Gott kulminiert „Ohne die Unfehlbarkeit bliebe alles Bemühen
nur ein Versuch, zu subjektiven, d h befangenen, begrenzten, wenn
nicht privaten und interessierten Ansichten zu verleiten Auch der
höchste Begriff, den Menschen von Gott sich bilden können, unterliegt
notwendig der kontrollierenden Kirche, und was wäre diese Kontrolle,
wenn sie nicht unfehlbar wäre " 8 Wenn nicht klar ist, wie Ball sich hier
denkerisch auf einen Begriff Gottes bezieht, dessen Auffassung
„kontrolliert" werden müsse, so scheint sich doch zu ergeben, daß Gott
gewissermaßen als das Rückgrat einer jeglichen Wirklichkeitsauffas-
sung gesehen wird, die Objektivität beansprucht
In der Kritik Spinozas hat Ball zuvor begründet, warum es einen
„abstrakten Beweger, wie ihn Spinoza annimmt", nicht geben könne 9
Gott muß ein persönlicher Gott sein, kraft des verbindenden Logos
„Bewegung, die uns angeht, kann nur eine Person verleihen Personare

• Ball: Flucht (Anm. 1), S. 255 (Eintrag v 18. 11. 1919)


Ansgar Hillach 247

heißt durchtönen Die Sprache ist die Substanz im Menschenbereich,


und zwar die Sprache Gottes "10 Die Sprache Gottes ist Hauch und
Zeichen, und als solche eine Kraft, die nicht zwingt, sondern ergreift:
„Sie erzielt die größte Wirkung mit dem geringsten Kraftaufwand
(vermittels des Hauches und des Zeichens) Das Erleiden und die Be-
wegung geschehen durch ein Ergriffensein " Was dann im folgenden als
mystische Erfahrung formuliert ist, wird jedoch von Ball wenige Tage
zuvor in einer radikal antiprotestantischen Wendung aus der Gottun-
mittelbarkeit in die Welt geholt, als Treue- und Verantwortungsver-
hältnis zur Kirche und, kraft Amtes, zum einzelnen Amtsträger: „Man
sollte beginnen, sich mehr noch dem Priester als Gott verantwortlich zu
fühlen, man sollte den Namen Gottes mehr aus dem Spiele lassen."
Dies ist von Ball gesagt im Sinne der Objektivierung einer Glaubens-
praxis, die ansonsten leicht zu „lächerlichen Blasphemien" führt
Grundsätzlich soll aber die Einbildungskraft des Menschen objektiv
und diesseitsbezogen sein, sie soll den Leib Christi in der Kirche erken-
nen und soll demgemäß auch den Logos, obzwar seiner Substanz nach
ewig, in seinem Wirken als immanent erkennen „Die Kirche ist der
Leib Christi Das vorsehende und vorsorgende Haupt kann keinen Ge-
danken denken, der nicht im ganzen Körper entstanden ist und durch
ihn zur Ausführung kommt " Dieser Gedanke einer objektiven mysti-
schen Gegebenheit, die von der Gemeinschaft der Gläubigen konstitu-
iert wird, nämlich der lebendigen Kirche als des mystischen Leibs
Christi, gehört zum festen Bestand katholischer Lehre Er erfährt hier
eine organologische Pointierung auf der Basis der zeitgenössischen
Bestrebungen, zu einer ganzheitlichen Menschen- und Weltauffassung
zu gelangen: Was der Kopf denkt, muß im ganzen Körper entstanden
sein - kommt es doch auch durch ihn zur Ausführung Diese nicht un-
bedingt zwingende Logik wird in der Analogie der Kirche vollends
fragwürdig, wenn damit Herrschafts- und Kontrollfunktionen kirchli-
cher Amtsträger begründet werden sollen Der mystisch-pneumatische
Grundgedanke wird damit ab absurdum geführt bzw mutiert zu einem
repräsentativ-magischen
Derlei kritische Einsichten sind gegenüber Ball leicht zu gewinnen An
dieser Stelle zeigt sich der Pferdefuß des Holismus und Organizismus,

10
Ebd
" E b d S 248
248 "Das Wort als ein Gottwesen ..."

sofern sie praktische Relevanz als Modell für Institutionen beanspru-


chen Es geht mir jedoch nicht um Ideologiekritik, sondern um die in-
nere Logik einer Positionsnahme, die noch immer „Freiheit" auf ihre
Fahnen geschrieben hatte - Freiheit i S der Heilung von einer den
Geist und die Sinne versklavenden „Zeitkrankheit" Dazu eine letzte
Beobachtung aus Die Flucht aus der Zeit Wenn in dem Essay von
1926 die „Zeitkrankheit" allgemein als Symptomatik verselbständigter
Materialismen, namentlich im Bereich der Willensnatur des Menschen,
beschrieben wird, dann wird 1919, in der bereits zitierten Eintragung,
schon die allgemeine Begründung dafür gegeben: „Nur die Verwerfung
der Kirche konnte zu solcher Präponderanz des rein Animalischen und
zur Auffassung aller Metaphysik und allen Jenseits als zu Illusionen
führen Die Kirche ist keine Illusion, sie kann nicht einmal als Illusion
erscheinen, Gott aber kann es "12 Die Bedeutung dieser Aussage kann
nicht im Apologetischen gefunden werden, wenngleich sie sich solcher
Lesart fügt Das Argument ist aber Gott ist der Grund aller Transzen-
denz, soll diese offen gehalten werden, muß er in religiösen Formen, d
h in Gestalt einer Kirche repräsentiert werden Der Gott der Transzen-
denz braucht eine Weltpräsenz, damit die Welt nicht in Faktizität, Ani-
malität und dämonischer Bildlichkeit versinkt Für Ball kann das keine
protestantisch oder individual-mystisch interpretierte sein, da solche
Positionen den gesellschaftlichen Nexus, die Präsenz Gottes in der
Form ritueller Vermittlungen zu verankern, vermeintlich preisgeben
Zwar ist Gott auch für Ball der unendlich Ferne, aber er hat sich in der
Kirche eine Repräsentanz geschaffen, die ihn nicht nur verbildlicht,
sondern rituell und in diesem Sinne praktisch in das Leben einer Ge-
meinschaft integriert Der Heilserwerb aber ist damit an die rituelle
Ordnung der Kirche, im institutionellen Sinne an das Priesteramt ge-
bunden Die Baiische Rezeption der Gnosis fugt diesem Gedanken ri-
tueller Repräsentanz und Heilswirkung den der hierarchischen Stufung
aller Wirklichkeit, und damit das Konzept einer symbolischen Wirk-
lichkeit der Welt hinzu

i:
Ebd
Ansgar Hillach 249

III

Wenden wir uns nun dem 1926 für das Hochland verfaßten Aufsatz
Der Künstler und die Zeitkrankheit zu Balls zeitsymptomatisches Lei-
den an den gesellschaftlichen Wirkungen einer Ära, die qua System
hberahstisch zu sein versuchte und damit ungebärdige Kräfte in die
Bindungslosigkeit entließ, setzt sich in ein diagnostisches und thera-
peutisches Konzept um, in dessen Mittelpunkt Rolle und Aufgabe von
Kunst und Künstler stehen Ball macht eingangs deutlich, daß er die
aufzuwerfenden Fragen im Rahmen prinzipieller Überlegungen epocha-
len und metaphysischen Zuschnitts zu verhandeln gedenkt Er glaubt zu
erkennen, daß „der reine Intellekt versagte", daß er „sich als unzuläng-
lich erwies, die ringsum in aller Unvernunft hervorbrechende Geschich-
te und ihre greifbaren Elemente zu bändigen".13 In heutigen Termini
ausgedrückt: Das Kausalitätsparadigma wissenschaftlicher Erkenntnis,
das zeitliche Abläufe zur Folie der materiell erfaßbaren Vorgänge
nimmt, wird durch ein Paradigma der Formerfassung abgelöst In einer
wie mir scheint typischen zweideutig-apodiktischen Formulierung heißt
es: „Die Kunstgeschichte tritt als Erfahrung anstelle der Profange-
schichte, die Tatsachen haben Bedeutung nur noch soweit sie gestaltet,
d h dem faktischen Strome der Zeit überhoben sind " Ball stellt aber
auch sofort klar, daß Formelfassung nicht Formalismus meint, der ei-
ner „rein verstandesmäßigen Ansicht der Dinge folgt" Form ist als
Wesenskategorie und als Wirken einer autoritativen Formkraft ge-
dacht, die aus dem Logos kommt „Letzter Urheber der Dinge muß ein
Künstler, oberstes Kriterium einer neuen Wertskala die Kunst selber
sein, in ihrer ganzen Vermögensfülle "14 Die metaphysische Bezugnah-
me verweist auf einen Demiurgen, als welcher der alexandrinische Lo-
gos, wie sich zeigen wird, aller Wirklichkeit vorgeordnet wird. Der
Mensch fügt sich als nach Gott orientierter Formwille dem ein Nicht
nur der Gedanke eines demiurgischen Weltschöpfers, der der aller-
höchsten Gottheit nachgeordnet sein muß, sondern auch ein Hinweis
auf Lichtmetaphysik weist diese Konzeption als gnostisch, den Wirk-
lichkeitsbegriff als emanatisch (und gradualistisch) aus: „Der Wert ei-

13
Ball. Künstler (Anm 5). S 102
14
Ebd S 103
250 "Das Wort als ein Gottwesen ..."

ner Leistung ergibt sich aus ihrer bis in die kleinsten Teilformen strah-
lenden Lichtspiegelung "15
Daran anknüpfend könnte man, mit leichter Pointierung, die Feststel-
lung treffen, daß Balls weitere Ausführungen der Musterung der Er-
scheinungsformen einer generellen Logosvergessenheit gelten sowie
dem theoretisch anspruchsvollen Versuch, der pathogenen Auswir-
kungen dieses Mangels an religio, an Rückbindung und Wesensorien-
tierung durch ein erneuertes Amtsverständnis von Kirche und Künstler-
tum Herr zu werden
Zu den Symptomen der umfassenden Zeitkrankheit gehört an vorder-
ster Stelle die Unfähigkeit, Persönlichkeit auszubilden, bzw die Ver-
hinderung dieser elementaren Aufgabe der Selbstbestimmung des Men-
schen, die er in Rücksicht auf den in ihm angelegten Formgedanken
einzulösen hat Exemplarisch wird dies gerade am Künstler gezeigt Er,
der die Formbildnerei zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, arbeitet
auf der Basis eines Formwillens, den er an sich selbst nicht realisieren
kann, weil die künstlerische Aufgabenstellung sich zur Anonymität ver-
schoben hat Auftraggeber und Rezipienten fallen entweder aus oder
sind zu unklaren Größen, ihre Hoffnungen und Wünsche unkalkulierbar
geworden, der Künstler selbst hat keine Chance mehr, über sein rezen-
sierbares Werk hinaus Interesse zu erwecken Ball beschreibt den damit
einhergehenden Wirklichkeitsverlust als gesellschaftliche „Katastro-
phe" Da die gegliederte Vermittlung der Formidee in der Trias Auf-
traggeber - Künstler - werdendes Werk und andererseits im Rückbezug
auf eine Transzendenz, eine pneumatische Inspirationsquelle ausfällt,
wird auch der Realitätsgehalt des Kunstbetriebs dünner, werden die
Formen vagabundierend, ohne Beziehungsreichtum und ohne Zeichen-
kraft im Hinblick auf eine metaphysische Sinnschicht „Zum Künstler
gehört es wesentlich, daß er den Empfänger kennt und dessen Glauben,
dessen Liebe, dessen Hoffnung in die Form miteinbezieht Im Auswie-
gen des beiderseitigen Anteils beruht vielleicht das Geheimnis der
Form Wie nun, wenn der Künstler auf die Realität verzichten muß, wie
er bereits auf seine Person verzichtet hat7"16 Ball sieht das Dilemma
des Künstlers angesichts dieser Lage in einer neuerlichen romantischen
Zerrissenheit zwischen Intellekt und Vision, Abstraktion und Phanta-

" E b d S. 105
16
Ebd S. 109
Ansgar Hillach 251

stik, da der Glaube an einen normsetzenden Logos ausfällt Der


Künstler fühle sich „zwischen zwei au seinander strebenden Motiven
torturiert zwischen einem traditionellen Erbe von Sitte, Schulung, Stil
und Adel, und einem ringsum widerlich flutenden Triebleben, dem er
bald mit einer Überbetonung des Ideals, bald mit einer Besinnung auf
seine eigenen höhnischen Triebe zu antworten genötigt ist."17 Die Fol-
ge ist auf der Seite des Künstlers ein psychischer Zwiespalt, der die
Gefahr der Neurose in sich birgt, auf der Seite der Kunst eine ästheti-
zistisch entfesselte Bilderflut, die sich romantisch auflädt mit ziellosen
Überwindungs- und Befreiungsphantasien
Breiten Raum widmet Ball seiner Sicht auf die als Signatur des Zeital-
ters begriffene Neurose Auch Ball sieht Verdrängung eines unbewäl-
tigten Konflikts zwischen Triebansprüchen und normativen, illusionär
gewordenen Vorstellungen am Ursprung der Neurose Die Nichtzulas-
sung eines Triebwunsches durch das Bewußtstein, das seine modifizier-
te Annahme und schließlich seine Integration in das Selbstbild gewähr-
leisten könnte, ist der neurotisierende Tatbestand, der zu Ersatzbildun-
gen fuhrt wie eben einer phantasmatischen Kunst Im Unterschied zu
Freud aber, den er insoweit auch wohl mißversteht, glaubt Ball an eine
substanzialistisch verstandene seelische Einheit, auf die alle erwachen-
den Teilkräfte der Psyche apriori orientiert sind, um das Persönlich-
keitsideal im Sinne einer transzendenten Formidee zu erfüllen Driften
die Kräfte auseinander, so ist eine neurotische Störung der natürlichen
und geistigen Entwicklungsrichtung gegeben, derart, daß ein Zwiespalt
zwischen „den rohen libidinösen und den heftig widerstreitenden reli-
giösen Trieben" ausbricht 18 Die ersteren müssen eine Bearbeitung er-
fahren, indem der Therapeut ihnen „zunächst zum Bilde (Traum, Sym-
bol) und dann zum bindenden Worte verhilft" Das bindende Wort ist
für Ball nicht nur eines der Bewußtmachung, sondern ein Element des
Glaubens an die in Sprache eingelassene Kraft des Logos, der göttli-
chen Ordnungsmacht Seelische Heilung kann nur durch diese Öffnung
zur Sprache und zum Logos geschehen Bei den zeitgenössischen tie-
fenpsychologischen Therapien sieht Ball einen immanenten Lösungs-
weg „Die Beruhigung und endliche Heilung erfolgt durch die Herstel-
lung einer vorher gespaltenen seelischen Einheit" Es gehe darum, die

17
Ebd S 110
18
Ebd S 120
252 "Das Wort als ein Gottwesen ..."

als Zumutung empfundenen Ansprüche der Triebnatur in ein ordnendes


Verhältnis zur Gesamtpersönlichkeit zu setzen, „die romantischen An-
sichten des Patienten herabzustimmen (und) sein Wissen um Leib und
Seele reicher, tiefer, sachlicher zu gestalten und dadurch seinen Wi-
derstand zu stärken " 19
Immanent-seelische Therapiewege aus den grassierenden Neurosen
sind für Ball zwar defizitär, aber immerhin achtbare Bewältigungsver-
suche, die eine Richtung auf Integration hin weisen, wie parallel dazu
bestimmte Tendenzen in Kunst und ästhetischer Theoriebemühung
Was letztere betrifft, so beobachtet Ball ein Anknüpfen an ethnologi-
sche Forschungen zu magisch-animistischen und totemistisch verfaßten
Kulturen, deren Denkart und künstlerische Zeugnisse mit denen von
Kindern und Geisteskranken in einem Ähnlichkeitsverhältnis stehen, in
dem sie allesamt archaische Muster aufzudecken scheinen „Das Ver-
langen, aus ferner Urzeit neue Kräfte der Vereinfachung und der Ver-
bundenheit zu schöpfen, erklärt den Eifer dieser Studien Das Ergebnis
aber ist eine Inthronisation der Magie, in der man den Schlüssel aller
primitiven Kunstübung und -Wirkung zu erkennen glaubt "20
Ähnlich wie in Prinzhorns damals Aufsehen erregender Unterneh-
mung, die Kunst der Geisteskranken vorzustellen, vermißt Ball bei aller
wertvollen Einsicht in die Struktur dieser Bildwelten die Sicht auf ein
eigentliches Formproblem, das eben nicht in der Immanenz der Bilder
und der Beschreibung ihrer Ausdrucksmittel eingeholt werden könne
Prinzhorn allerdings bescheidet sich, wie Ball anerkennend vermerkt,
im Bewußtsein der Notwendigkeit „eines neuen Normbegriffes des
Menschen" und „einer Metaphysik der Gestaltung" 21 Was Ball jedoch
gerade an der Kunst psychisch Kranker interessiert, ist deren instinkti-
ves Bemühen, sich selbst einen Heilungsweg in der Kunst zu eroffnen
„Der Geisteskranke kann dabei sogar als mystische Avantgarde gelten
Er hat den 'Vorteil', den ihm jeder Künstler neidet in den Mutterschoß
der Dinge eingekehrt zu sein, und seine wachen Sinne sind ihm doch
geblieben Er lebt in einer Welt direkter Wahrnehmung, in der die We-
sen ihren inneren, unbeschwerten Lebgeist zeigen [...]. Seltsam genug,
daß er in seiner anonymen Abgeschiedenheit zu ähnlichem Gestalten

19
Ebd S 116
20
Ebd S 106
:1
Ebd S 117
Ansgar Hillach 253

kommt wie der bewußte Künstler Wundersam aber ist es, daß eine Art
tieferer Ratio nicht einmal von der Geisteskrankheit erreicht und zer-
stört wird, ja diese Ratio nimmt bei fortschreitendem Verfall der
Sprach- und Deutfähigkeit eher noch zu."22 Für Ball ist dies Beweis
einer transzendent, also zuletzt im Logos als der ursprünglichen Form-
kraft garantierten Persönlichkeitskategorie, die sich im Weg der Hei-
lung zeigt und dabei die Bilderflut der Psyche strukturiert Es ist Be-
weis der metaphysischen Befugnis und ästhetischen Kompetenz von
„Persönlichkeit", auch im gesellschaftlichen Raum Heilung einzuleiten
Die Opfer psychischer Zerrüttung zeigen am unwiderleglichsten die
bleibende Kraft der Substantialität So bezeichnet das Lehrstück, das
Prinzhorn anhand der Kunst der Geisteskranken erbringt, für Ball „den
Wendepunkt zweier Epochen Der Kranke belehrt die Gesunden [...],
noch nicht der Dissoziierung Verfallenen, aber mit ihr Kämpfenden
[...], indem er eine Einheit der Anschauungsformen in der fernsten To-
temvorstellung des Wilden und den letzten Verwirrungen einer über-
völkerten Kultur erweistZ'23 - Der Künstler, ebenfalls zurückgeworfen
auf sein bloßes Selbst, wird, wenn er „zum Urbild seiner Neurose
durchdringt und sich mit ihm identifiziert",24 einen archaischen Form-
impuls erhalten, der ihn der Zone der Ritualität näherbringt und viel-
leicht dann auf die Spur des Logos und der Kirche setzt
Ball konfrontiert den Wissensbestand der Tiefenpsychologie mit einer
analogen Kenntnis bei den Kirchenvätern, die, auch aus Erfahrungswis-
sen, eine dämonische Triebnatur des Menschen in Rechnung stellten
und deren neurotische Verirrungen als „Besessenheit" verstanden Die
Abhilfe dagegen war der Exorzismus, den Ball als geistlich-rituelle
Verstärkung der Glaubenskraft, also der pneumatischen Persönlichkeit
versteht Die große Bedeutung, die Ball diesem Rekurs beimißt, wird
verständlich, wenn man das darin enthaltene, wirklichkeitskonstituie-
rende Verhältnis von Bild weit und Logos betrachtet Dämonen, die
nach altem Glauben in den Menschen fahren konnten, waren „Per-
sönlichkeiten der gestürzten Kulte, oder sie hängen mit Symbolen, Bil-
dern und Gebrauchsgegenständen dieser Kulte zusammen " Daher wur-
de der Exorzismus regulär bei der Erwachsenentaufe angewendet, bis

22
Ebd. S 118
23
Ebd S 119
24
Ebd S 128
254 "Das Wort als ein Gottwesen ..."

er auch zum festen Bestandteil der Kindertaufe wurde Hier lag die
Vorstellung zugrunde, daß die durch die Erbsünde verdorbene Men-
schennatur mangels positiver Besetzung (Gnadenstand) vom Bösen
besessen sein müsse - wobei das Böse, wie Ball mit einem Hinweis auf
Dionysius Areopagita festhält, nicht dualistisch zu verstehen ist als
eigenständige Kraft, es ist nach Lehre der Kirche die Negativität, die
aus dem Abfall vom Guten entstanden ist Dämonen sind demnach
„Phantasmata, (die) aus dem individuellen und phylogenetischen Bil-
derschatze der Phantasie" kommen 25 Der Exorzismus ist, ob in der
Weise der Dämonenbeschwörung oder verbunden mit dem Ritual der
Taufe, die Anrufung des Namens Gottes und die Mitteilung des Hl
Geistes als Taufpneuma bzw als Macht des Logos, und als Bann über
eine anarchisch dem gottfernen Naturgrund entsteigende Bilderwelt

IV

Ball reflektiert schon 1917 über die „Unvernunft und Nichtigkeit der
bloßen Natur"26 und rehabilitiert damit Schopenhauer gegen die eigene
Apotheose des frühen Nietzsche, jenen pessimistischen Philosophen,
der die Erbsünde für eine der tiefsten Einsichten der Menschheit gehal-
ten hatte Den „Bildergeist" schlägt Ball implizit dem Dionysischen zu
und charakterisiert beides als romantisch und nihilistisch: „Der Spiritus
phantasticus, der Bildergeist, gehört also zur Naturphilosophie Die
Metapher, die Imagination, und die Magie selbst, wo sie nicht auf Of-
fenbarung und Tradition gegründet sind, verkürzen und garantieren nur
die Wege zum Nichts, sie sind Blendwerk und Diabolik Vielleicht ist
die ganze assoziative Kunst, mit der wir die Zeit zu fangen und zu fes-
seln glauben, ein Selbstbetrug " 2? Die Frage, woher eigentlich Ordnung
zu denken ist, konnte sich beim Apollinischen als einer eingeborenen,
wie immer göttlichen Kraft nicht beruhigen „Woher nehmen wir die
autoritären, die stilbildenden Reihen und Vorstellungen7 Was konstitu-
iert unseren Geist9 Woher schöpfen wir den Glauben, die Form9 Steh-
len wir nicht aus allen magischen Religionen die Elemente zusam-

25
Ebd. S. 137.
26
Ball. Flucht (Anm. 1). S. 159
r
Ebd S. 161
Ansgar Hillach 255

men 9 " Letzten Endes bezeichnet beides, das Dionysische wie das
Apollinische, nur die gefallene Natur, und Ball sucht angesichts der im
Weltkrieg sich aufdrängenden Erfahrung, daß die „Hölle tiefer und
schrecklicher (ist) als (Ästhetizisten) ahnen"29, nach einem Absoluten,
das als „Urbild" oder Wort, platonisch-anamnetisch oder aristotelisch
im Sinne der Kraft der Abstraktion, zu gewinnen ist Die Lösung ist für
ihn, aller noch hinzutretenden Gedankenwindungen ungeachtet, klar
vorgezeichnet: „Aber es gibt Worte, die zugleich Bilder sind Gott ist
vorgestellt als der Gekreuzigte Das Wort ist Fleisch, ist Bild gewor-
den: und doch ist es Gott geblieben."30 Das hat für Ball ontologische
Konsequenzen, die jedes Ding, jedes Seiende betreffen, und die eine
„protestantische" Lösung ausschließen die Welt ist mit dem Vorschuß
des Heils und der ewigen Rettung versehen, wenn sie der Kirche sich
unterstellt Die Dignität des Wortes liegt in der Wiederverschmelzung
von Sinngehalt und Bild, die im göttlichen Schöpfüngsakt eins waren
und in der Inkarnation, im Bild des Gekreuzigten als Versöhnungszei-
chen der vom Sündenfall gezeichneten Geschichte implantiert worden
sind als Heilsgeschichte Diese jedoch bedarf, angesichts der Natur-
verhaftung des Menschen und der abgründigen Bilderflut reiner Natur-
vermögen, des Priesters, der im Ritus den transzendenten Logos zur
Präsenz bringt
Die therapeutischen Möglichkeiten der Tiefenpsychologie werden von
Ball an diesem Maßstab, an der Bindekraft des Logos und der spirituel-
len Macht des Priesters gemessen Letztere sieht Ball durchaus in einer
historisch-vergleichenden Perspektive, indem er sich neuere Einsichten
in alte Stammeskulturen zunutze macht, anknüpfend insbes an Levy-
Bruhl und Freud Es war die magische Macht der Totems und der mit
ihr verbundenen Praktiken und Rituale, die den kirchlich-liturgischen
Formbegriff und seine therapeutische Zuständigkeit damals neu in den
Blick ruckte Das Totem, ein Bild, das die Stammeseinheit symbolisiert
und verkörpert, ist aufgrund einer besonderen Weihe „mit Zauber, mit
Kräften, mit Einheiten, mit Extrakten geladen"31, es hat ein Pneuma,
das ihm rituell zugesprochen wurde Seitdem ist es tabu und setzt wei-

:
* Ebd S 160
29
Ebd
30
Ebd
31
Ball. Künstler (Anm 5). S 141
256 "Das Wort als ein Gottwesen ..."

tere Tabuschranken in dem ambivalenten Sinn, den Freud expliziert


hat, und der eine Vorform des Heiligen darstellt Durch Zeremonien
und rituelle Sprache werden diese Kräfte, ihre ordnende und heilende
Macht, aktualisiert und für den Stamm zur dauernden Sinnstiftung, die
zugleich eine gefährliche, dämonische Unterwelt in Schranken hält - die
ihrerseits in Bildern zur Herrschaft drängt Die magischen Wirkungen
erklären sich auf der Grundlage einer kosmischen Verbundenheit des
sog primitiven Menschen, welche Levy-Bruhl „participation mystique"
nannte
Dies ist der Punkt, wo der Katholizismus strukturell abweicht. Das
Christentum ist keine Naturreligion und darf es nicht sein Logos und
Schöpfergott sind radikal transzendent und konstituieren eine Welt des
Heiligen, die bildlich nicht einholbar ist, für deren Schriftoffenbarung
man auf platonischer oder aristotelischer Grundlage Kommentare lie-
fern kann Daß dies Heilige in die Lebenswelt hineinwirkt, ist - von der
creatio continua einmal abgesehen - der Inkarnation zu verdanken, in
der der transzendente Logos nun nicht Bild oder anthropomorphe We-
sensform, sondern wirklicher Mensch geworden ist, als Einheit zweier
„Naturen", der abstrakt zu fassenden und der menschlichen. Das aber
heißt für die gesamte, dem Christen verstehbare Wirklichkeit, daß das
schlechthin Transzendente, das doch zur Wirklichkeit gehört (weil die-
se der Rettung bedarf), im sanktionierten Bild nicht einfach gegeben ist
und von ihm als Heilswirkung abgerufen werden kann (das ist Magie),
sondern im Bewußtsein der Transzendenz und Selbstoffenbarung Got-
tes verkündet und priesterlich vermittelt werden muß Da es nach Ball
eine „Naturgnade" so wenig gibt wie ein „Natursymbol", also weder
Bedeutung noch Pneuma als bare Naturgaben anzutreffen sind, hängt
deren Kraft von der Vermittlung der Transzendenz ab, die sich ge-
schichtlich in Leben und Kreuzestod Christi vollzogen hat und von ihm
auch als Form der Vermittlung gestalthaft vorgegeben worden ist. De-
ren, also der Sakramente Autorität und Heiligkeit erfordert daher die
spezielle Machtbefugnis des Priesteramts, in dem Vermittlungsmacht
nicht nur funktional, sondern personal verkörpert ist, in der Reprä-
sentanz der göttlichen Priesterschaft In Balls ästhetischem Katholizis-
mus spielt dieser Gedanke der Repräsentanz als verbürgter Machtbe-
Ansgar Hillach 257

fügnis eine wesentliche Rolle, wie auch sein Carl Schmitt-Aufsatz


zeigt
Daß damit die „Vater-Imago" religiös institutionalisiert ist, weiß Ball
und erkennt darin eine Position, die zu verteidigen ist gegen Sym-
boltheorien, die an die Bachofensche Konstruktion des Mutterrechts
anschließen (Bernoulli, Klages), denn in der Tat ist dies in den zwanzi-
ger Jahren zur Gretchenfrage im Kampf um den Geist33 geworden Ball
lehnt als „Romantik" ab, was sich dem Forderungscharakter des Logos,
durch den „Norm und bewußte Form" erst möglich werden, entzieht
Mit Carl Schmitt scheint er es für eine Illusion und einen gefahrlichen
Irrationalismus zu halten, daß Geist mit Demokratie kompatibel sein
könne Geist ist kraft der transzendenten Geheimnisschicht, kraft eines
unaufgebbaren religiösen Apriori per se Autorität und muß als Macht-
position dargestellt werden Wie sonst ist die Affirmation einer Kon-
trollfünktion der Kirche und ihrer Priester zu begreifen?
Der entscheidende Einwand Balls gegen die Tiefenpsychologien und
ihre Therapieformen ist denn auch der „Mangel eines jenseitigen
Standpunktes" und Jener Einheit und Eindeutigkeit, die sie erzielen
will und ohne die keine Heilung von Dauer bestehen kann "34 Dies be-
zieht sich auf den inneren Zusammenhang zwischen der Instanz des
Therapeuten und dem erwünschten Heilerfolg, der integrierten Person
Beide Seiten sind einem Bild der Persönlichkeit verpflichtet, das ihnen
als Forderungsgestalt, als anagogische Norm individuell vorgegeben
ist, nur daß der Neurotiker aufgrund seiner Verdrängungen und
Zwangsmechanismen gehindert ist, dieses Telos in sich zu erfüllen
Daraus resuliert für Ball die Aufgabe des Therapeuten und die Analo-
gie zwischen dem Priester, dem Tiefenpsychologen und dem Künstler
im Zeitalter der Massenneurosen Denn die Persönlichkeit ist diejenige
Integrationsform des Menschen, in der sich „der Gegensatz von Bild
und Wort (Imago und Logos) nicht findet"35, die also eine - in bezug

32
Vgl Hugo Ball Carl Schmitts Politische Theologie, in Künstler (Anm 5). insb
S 33 lf
33
Ein Kompendium von 1927 trägt diesen Titel Fnednch Niebergall: Im Kampf
um den Geist Von Weltanschauungen und Religionen München 1927 Es geht
den weltanschaulichen Lösungsmöglichkeiten der Frage nach "Gibt es Geist als
Baumaterial jener Welt, auf die die Bildwöner hinzielen 9 " (S 9)
34
Ball. Künstler (Anm 5), S 120.
35
Ebd S. 140
258 "Das Wort als ein Gottwesen ..."

auf die Transzendenz - symbolische Wirklichkeitsform begründet, wel-


che auch die gesamte Außenwelt durchherrschen sollte, was natürlich
davon abhängt, ob die Persönlichkeitsform zur gesellschaftlichen Norm
geworden ist Als Gegenstandsfeld der Tiefenpsychologie, der Psycho-
logie allgemein, ist in dem Schichtenmodell der Gesamtwirklichkeit,
das Ball von dem Neuplatoniker Dionysius Areopagita bezieht, die
Psyche oder „Naturseele" als Zusammenhang von libidinöser Energie
und spontaner Bilderzeugung („Bildseele", Phantasie) verstanden36
Die Person aber sei die Form aller Seelenkräfte, die durch deren Ver-
schmelzung mit dem (transzendenten) Pneuma, dem Geist als wirken-
der Kraft zustande kommt Dadurch werde die Person zum Sinnbild
oder Symbol, zur Persönlichkeit mit ihrer Verankerung in einer platoni-
schen Urform, zur Verkörperung einer pneumatischen Seele
Ich komme zurück auf Balls Darstellung und Kritik der Tiefenpsycho-
logie Deren verschiedene Verfahrensweisen sieht er darin überein-
kommen, daß sie „verurteilte Triebregungen aufzuspüren und sie be-
wußt zu machen" streben „Dies geschieht, indem ihnen der Analysator
zunächst zum Bilde (Traumsymbol) und dann zum bindenden Worte
verhilft Die Anerkennung der verdrängten Wünsche kommt ihrer Auf-
nahme in das reale Weltbild des Erkrankten gleich Die Beruhigung und
endliche Heilung erfolgt durch die Herstellung einer vorher gespaltenen
seelischen Einheit" Anders als der aktualistische Seelenbegriff der
Wissenschaft lehrte, setzt Ball ein einheitliches Seelensubstrat voraus,
dem eine natürliche Entwicklungstendenz zu höherer Integration inne-
wohnt. So kann er den „Zwiespalt" der Seelenkräfte, der den Gehalt
der zeitgeschichtlichen Neurosen ausmache, in demjenigen „zwischen
den rohen libidinösen und den heftig widerstreitenden religiösen Trie-
ben" sehen38, als welche er fraglos einen in sich vielfältigen Transzen-
dierungswillen annimmt Verdrängt mit der Folge seelischer Schaden
werden also nicht nur libidinöse Strebungen, die der Selbstzensur ver-
fallen, sondern in der agnostischen Gegenwart auch religiöse Bedürf-
nisse, die auf eine Sphäre des Heiligen und der transzendenten Norm-
ergründung (den Logos bzw die in der Sprache der Offenbarung
grundgelegten Wertformen) gerichtet sind Ball spricht von einer

Ebd S 141.
Ebd S 116
Ebd. S 120.
Ansgar Hillach 259

„dritten Normsphäre", eben der des Heiligen, die profan ausgedrückt


eine geistige und eine „Welt der Dauer, der ewigen Urform" ist.39 Von
ihr aus allein seien die Dämonismen zu bewältigen, als welche er die
neurotisch-regressiven Triebverfbrmungen erkennt Die Verdrängung
der Strebungen, die sich auf die geistige, transzendente oder religiöse
Normsphäre richten, bedeutet aber auch, im Schichtensystem Balls,
einen Wirklichkeitsverlust, weil damit die konstitutive Rolle der Spra-
che als der Trägerin immaterieller Geistigkeit negiert oder depotenziert
ist. Der tiefenpsychologische Therapeut verfehlt also seine Aufgabe,
wenn er - wie es der analytischen Psychologie als empirischer Wissen-
schaft entspricht - innerhalb der psychischen oder gar der somatischen
Norm bleibt, indem er die Bearbeitung der Libido-Verdrängungen,
ihrer Verschiebungen und Symptombildungen und der damit verknüpf-
ten Bildreihen mit rein analytischen Mitteln sich angelegen sein läßt
Ohne die Wahrnehmung des normativen Rangs der Sprache und ohne
die daraus erwachsende Verpflichtung zu rückhaltloser Selbstprüfüng
und Klarheit, die es im therapeutischen Prozeß einzuholen und zu de-
nen es hinzuführen gilt, bleibt der Ertrag jeder Analyse und bleibt auch
der theoretische Aufwand vorläufig, weil Personalität als Aufgabe
geistiger Durchdringung und Formung nicht einmal in den Blick kom-
men kann So etwa lassen sich Balls Einwände gegen die analytischen
Methoden psychologischer Therapie interpretieren.
Wenn Ball zum Vergleich den kirchlichen Exorzismus und anderer-
seits den Normierungszwang von Totems und Tabus anführt, deren
bloß magische Wirkungsweise er keineswegs als wünschbares Modell
ansieht, so geht es ihm um den nach seinem Verständnis unabdingbaren
Machtfaktor der Repräsentation von Transzendenz Das mag man fol-
genden Sätzen entnehmen: „Der Patient wird ein feines Gefühl dafür
haben, ob der Arzt jene Sicherheit der Person besitzt, die der Reprä-
sentation seines Normcharakters entspricht Es ist kein Zweifel, daß
davon vor allem die Schnelligkeit der Heilung abhängt Es ist bekannt,
daß Heilige, wie Bernhard von Clairvaux und viele andere, wo sie als
Exorzisten auftraten, eine Besessenheit (Teufelsneurose nach Freud)
oft durch ihr pures Auftreten zu heilen vermochten Der Kranke emp-
fand die Geschlossenheit ihrer heiligen Person so unwiderstehlich, daß
er durch einen Anblick allein seinen libidinösen Verstrickungen (der

Ebd S. 124 f.
260 "Das Wort als ein Gottwesen ..."

Macht des Teufels) entrissen war " Angesichts der Zurückhaltung in


der Präsenz von Autorität, die zumal Freud dem Analytiker empfahl
und die dem individualistischen Weltbild der Moderne entspricht, ver-
wundert es nicht allzu sehr, daß Ball ein Defizit an geistiger Fuhrung in
der Psychoanalyse wahrnimmt, und daß er im Hinblick auf psychische
Zwangsstrukturen mit Systemcharakter an die Macht der Priester und
der Exorzisten erinnert Ein „metaphysische(r) Wert" wie die Persön-
lichkeit, die nach Ball als Frucht des therapeutischen Prozesses ange-
strebt werden sollte, kommt nicht ohne Grund „in der psychoanlyti-
schen Theorie schlecht weg "41
Die Auffassung der Persönlichkeit als der „Form", die die Ganzheit
des Menschen sich durch hierarchische Unterordnung der niederen
Seelenanteile gibt, und die den Machtfaktor an sich erfahren haben
muß. um ihn internalisiert als Formkraft in sich wirksam werden zu las-
sen, ist platonischer Abkunft Bei Ball erscheint sie vitalistisch aufgela-
den, wenn er von einer „Energiesumme der Einheit" spricht, die sogar,
wenn sie in magischer Stellvertretung eines Numinosen auftritt,
„schlagartig zu töten vermag" 42 Jedoch ist dies nicht die Macht, die
christlich-platonischer Prägung wäre Ihr Wirklichkeitskorrelat ist die
animistische Weltsicht, in der der kultische Gebrauch des Wortes Ma-
gie entbindet, ähnlich dem Natursymbol, das in ein Kultbild gefaßt wur-
de und nun als solches machtvoll werden kann Eine wirkliche Tran-
szendenz fehlt Dennoch sieht Ball den übergeordneten Rang des Wor-
tes überall gesichert, wo von Religion und Kunst in einem höheren Sin-
ne die Rede sein kann Entscheidend mag dabei der offenbar aus der
Mysterienforschung bezogene Gedanke sein, daß eine hieratische Ko-
difikation heiliger Sprache stattgefunden haben muß, um der Sprache
die kulturelle Leitfünktion zu gewinnen, die die eigentliche Formkraft
einer Kultur ausmacht Interessant ist in diesem Zusammenhang Balls
Feststellung, daß „pneumatologische Stiluntersuchungen" im Bereich
kirchlicher Dichtung „eine hieratische Welt (enthüllen), in der das
Pneuma etwas sehr anderes ist als Magie und Animismus im primitiven
Sinne, in welcher der inspirierte Künstler aber nicht weniger als der

4
"Ebd S. 132 f.
41
Ebd S. 132.
12
Ebd S. 142
Ansgar Hillach 261

Primitive das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung


kennt" 43
Erst in christlich-platonischer Weltsicht freilich, erst in der Ver-
schmelzung des jüdisch-christlichen Monotheismus mit griechischer
Logos- und Ideenphilosophie gewinnt Sprache die transzendente
Schöpferkraft, die den Menschen als das Ebenbild Gottes zur Gestal-
tung der Geschichte als Heilsgeschichte ermächtigt. Der ästhetische
Formbegriff Balls - und der der Persönlichkeit - muß in diesen Zusam-
menhängen gesehen werden Sprache als Logos, Form als Idee und
Persönlichkeit als eine - die Urform der Gottebenbildlichkeit repräsen-
tierende - Einheit in der hierarchischen Schichtung menschlicher Le-
benskräfte sind metaphysisch gesichert in einer höchsten „Norm-
sphäre" Persönlichkeit ist, so könnte man im Sinne Balls sagen, der
originäre Formauftrag des Menschen, der sich zunächst vor allem auf
das eigene Leben, auf die christliche Personwerdung bezieht Sie wäre
im individuellen Sinne auch die Lösung und Heilung der „Zeitkrank-
heit", an der die normlosen oder in einer Naturseelensphäre normierten
Psychologien blindlings scheitern müssen, mit der Folge, daß das, was
als Symptom der Krankheit hervorgetreten ist, der Verlust an Wirk-
lichkeit im Sinne einer bindenden Umfassung der Weltmaterie, perpetu-
iert wird, und niedere Seelenanteile sich weiterhin zu Dämonismen
verselbständigen können Nur im Hinblick auf diese für Ball offenkun-
dige Ohnmacht zeitgenössischer Seelenkunde und Therapieversuche
erinnert er an den Exorzimus, welcher seit den Zeiten Jesu die Oberho-
heit des (heiligen) Geistes mit der Macht des Logos und der autoritären
Handlung da wiederaufrichtete, wo sie zur Unerkennbarkeit verdunkelt
war - Der Formaspekt darin, wie er bei Ball dominierend wird, ist frei-
lich moderner Piatonismus mit Anleihen bei der Gnosis - und beim
'römischen' Denken Carl Schmitts Ball bezieht sich zustimmend auf
Schmitt und dessen Auffassung, der Wert der Kirche liege in der Re-
präsentation des Glaubens an das Übervernünftige, wodurch es als
Formprinzip über die Lebensmaterie wirksam werde, der Rationalismus
der Kirche, der von einer Kritik aus irrationalem Engagement gar nicht
berührt werden könne44, liegt eben in dieser Weisheit des Institutionel-
len, in einer „spezifisch formalen Überlegenheit über die Materie des

Ebd S. 106
Ebd S. 320
262 "Das Wort als ein Gottwesen ..."

menschlichen Lebens", die „auf der strengen Durchführung des Prin-


zips der Repräsentation" beruht.45

Wie der Eingang des Baiischen Essays exponiert, erhofft sich Ball -
diesseits einer kirchlichen Einflußsphäre - von einer zu beobachtenden
Rückbesinnung auf den Wert der Form in allen Lebensäußerungen des
Menschen eine Wende in der blinden Verlaufsgeschichte der „Zeit-
krankheit" Mit dieser Neuorientierung fällt der Kunst und den Künst-
lern die entscheidende Rolle zu Gerade in einer bildersüchtigen Zeit
können sie, die allenthalben „den innersten Phantasieraum abtasten und
dabei auf die Grundformen der Anschauung" stoßen, Form nicht als
freies Spiel, sondern als strenges, zu erkundendes Prinzip sichtbar ma-
chen In seiner Kandinsky-Rede von 1917 hatte er den Gedanken so
formuliert: „Die 'innere Notwendigkeit' allein gibt der freien Intuition
Grenzen, die innere Notwendigkeit bildet die äußere, sichtbare Form
des Werkes Die innere Notwendigkeit ist es, auf die alles zuletzt an-
kommt, sie verteilt die Farben, Normen und Gewichte, sie trägt die
Verantwortung auch für das gewagteste Experiment Sie allein ist die
Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Urgrund der Bilder."
1926 formuliert Ball eine hierarchisch-strategische Mittelstellung des
Künstlers, die ihm die Kompetenz zur Erzeugung zeichenhaft-uto-
pischer Formqualität zuspricht und ihn damit zu einer gesellschaftlichen
Bindekraft ermächtigt: „Der Künstler hat die Norm der sozialen Welt
zu gestalten Das heißt er hat die ihm aus der untergeordneten Sphäre
entgegenkommenden Materien und Bilder in seinen Phantasieschatz
einzutragen und dann mit Mitteln seiner Phantasie und den ihm aus der
übergeordneten Sphäre zuströmenden Formelementen ein neues, feine-
res Gebilde, das Vorbild, den Typus, aufzustellen " 47 Der Künstler ist
der Kundige und Erbe eines alten Formwissens, und er soll in den drei
Sphären menschlicher Existenz beheimatet sein, denn: „Sein Werk [...]
wird ihm, ohne daß er eine Persönlichkeit, und zwar der sozialen, äs-
thetischen und der religiösen Sphäre zugleich sei, das heißt über den

45
Carl Schmitt zitiert nach Ball, Künsüer (Anm 5), S 333
46
Ball, Künstler (Anm 5), S. 46.
47
Ebd. S. 128
Ansgar Hillach 263

freien Gebrauch der Mittel aller drei Normsphären verfüge, unmöglich


sein."48
Wenn „Prinzip der Gestaltung [...] immer die Person"49 sein soll, dann
ist das im Sinne einer zeichenhaften Formgebung zu verstehen, die die
symbolische Integrationsform der Personalität, im höchsten Sinne der
„Persönlichkeit", zum Maßstab der Bedeutsamkeit macht Das Per-
sonare verweist auf eine Geheimnismitte, ein Sinnzentrum, also das,
was in den Voraussetzungen der Allegorie der frühen Neuzeit abhan-
den gekommen war Ball rehabilitiert das Symbol im Postulat der Per-
sönlichkeit mit ihrer christlich-platonischen Verankerung Fraglos ist
das eine antimoderne Wendung des einstigen Protagonisten der Avant-
garde Sie resultiert zunächst aus einem extremen Leidensdruck, der
schon die dadaistische Subversion Balls fundiert hatte, dann aber aus
einer unzureichenden Interpretation der Tendenzen der Zeit, die
schließlich nur noch aus einer Fluchtbewegung heraus wahrgenommen
werden können Der Nenner der zeitkritischen Einwände Balls kann in
der Auflösung letzter Einheiten gesehen werden: des Atoms in der
Physik, der Seele in der Psychologie, der Wortbedeutung im Sprach-
verschleiß, des Gottes der Inkarnation im protestantischen Verlust des
Rituals Ball erkennt, daß letzte Einheiten nur im Glauben zu retten und
vielleicht gesellschaftlich wiederzugewinnen sind. Dafür steht sein
Konzept der Persönlichkeit und einer in ihrem Namen therapeutischen
Kunst
Indes bleibt ein Element von ästhetischer Modernität auch beim 'spä-
ten' Ball erhalten, jenes, mit dem die Moderne des frühen 20 Jahrhun-
derts an die Kunst der sog Primitiven anknüpfte Der erstmalige Ge-
brauch der Maske in einer dadaistischen Produktion, die Entdeckung,
daß ungeahnte Form- und Darstellungskräfte aus der magischen Rück-
wirkung der reduktionistisch-expressiven Gesichtsverkleidung erwach-
sen können50, muß ein Schlüsselerlebnis für Balls insistente Beschäfti-
gung mit den Wurzeln der Zeitkrankheit und deren Heilungschancen
gewesen sein Die Perspektive auf Archaismen dürfte den Blick für die
Ambivalenzen der menschlichen Natur und insonderheit des „Dionysi-
schen" geschärft und als Katalysator für die Wendung zum Mysterien-
wissen der frühen Kirche gewirkt haben

Vgl Ball, Flucht (Anm 1), S 96f


Julian Schutt

Hugo Balls „Zweites Tagebuch"


Ein Hinweis

Spätestens seit 1913 und bis zu seinem Tod hat Hugo Ball seine so
disparaten intellektuellen Aktivitäten in diaristischen Notaten, Exzerp-
ten, Gesprächsaufzeichnungen regelmäßig dokumentiert Die Tagebü
eher 1913 bis 1921 verarbeitete er in der Flucht aus der Zeit Das so
genannte 'Zweite' Tagebuch umfaßt ein vierseitiges Fragment (15. Jul
- 16. Juli 1921) sowie 13 Quarthefte unterschiedlichen Umfangs x Dit
Benennung der Hefte nach ihrem Entstehungsort, ebenso die Numerie-
rung geht nur zum Teil auf Ball zurück (Bezeichnungen in eckigei
Klammern stammen von Emmy Hennings bzw Annemarie Schutt
Hennings):

1 [Agnuzzo/München], 28 8. 1921 -28 10. 1922, 123 Seiten,


2 [Agnuzzo I], 28. 10. 1922 -11.11 1922, 68 Seiten,
3 Agnuzzo II (Augustinus, Rousseau), 16. 11 1922 - 29 11 1922
120 Seiten,
4 Agnuzzo III, 1 12 1922-27 12 1922, 144 Seiten,
5 Agnuzzo V, 3 2 1923 - 3 6 1923, 92 Seiten,
6 Agnuzzo VI, 3 6. 1923 - 26. 6. 1923, 36 Seiten,
7. Agnuzzo VII, 26. 6. 1923 - 26. 8 1923, 88 Seiten,
8 [Agnuzzo VIII], 30 8 1923 - 30. 11 1923, 92 Seitem,
9. Agnuzzo IX, 6. 12. 1923 - 18. 8. 1924, 82 Seiten,
10 Agnuzzo X/Rom I, 21. 8 1924 - 19 11. 1924, 86 Seihen,
11 Rom II, 22 11 1924- 17 12. 1925, 153 Seiten;
12 Vietri sul Mare, 21 12. 1925 - 12 4 1926 und 10 10 1926 - 20
11 1926, 158 Seiten,
13 [Sorengo, Zürich], 27 11 1926 - 31 8 1927, 125 Seiten

1
Das Zweite Tagebuch (ZTB) befindet sich im Hugo Ball-Nachlaiß Balls Nachlaß
befindet sich seit 1995 als Depositum im Robert Walser-Archiv. Beethovenstraße
7, Zürich)
266 Julian Schutt

Aufgrund der Numerierung läßt sich außerdem auf ein Heft für den
Zeitraum Ende 1922 bis Anfang Februar 1923 schließen, das sich indes
nicht im Nachlaß erhalten hat.
Bekanntlich hat Ball am 1 Juli 1927 für den Fall, daß er die andern-
tags bevorstehende Krebsoperation nicht überstehen würde, verfugt,
„daß aus meinem schriftlichen Nachlaß (das heißt aus gelegentl Noti-
zen, sei es in Tagebüchern oder sonst Aufzeichnungen) nichts publi-
ziert werden soll Alle derartigen nichtstilisierten und darum nichtexi-
stierenden Hefte, Blätter, Manuskriptteile müssen vernichtet werden "2
Die Rechteinhaberinnen, zunächst Emmy Hennings, später ihre Tochter
Annemarie Schutt-Hennings, haben diesen letzten Willen respektiert,
wenn glücklicherweise auch nicht strikt ausgeführt Das Gros des
Nachlasses wäre sonst verloren, darunter auch das Zweite Tagebuch,
das die Verfügung enthält Andererseits blieben die Notate 1921 bis
1927 - eben weil sie nicht bearbeitet oder, in Balls Terminologie,
„stilisiert" worden sind - der Forschung bis heute weitgehend vorent-
halten Indirekt dürfte sich das Zweite Tagebuch zwar gleichwohl in
der Literatur über Ball niedergeschlagen haben, indem die Nachlaß-
verwalterinnen verschiedentlich Informationen und Anreize daraus
weitergaben Auf anderem Wege eingebrachte Forschungsresultate
konnten so bestätigt und im einen oder anderen Fall auch Kurskorrek-
turen vorgeschlagen werden. Diese indirekte Rezeption kann freilich
die unvermittelte Einsichtnahme nicht ersetzen, und so ist es zu begrü-
ßen, daß das Tagebuch in Zukunft begründeten Forschungsvorhaben
zugänglich sein soll Gegenwärtig werden zentrale Notatesequenzen
erfaßt sowie ein Namen- und Werkregister erstellt, um den Steinbruch
möglichst bald in eine Fundgrube zu verwandeln Eine integrale Publi-
kation ist nicht vorgesehen, drängt sich auch nicht auf, da ein Gutteil
der Einträge aus reinen Bücherexzerpten, agendarischen Vermerken
sowie Gesprächsprotokollen besteht Die gedankliche und sprachliche
Intensität der Flucht aus der Zeit blitzt nur sporadisch auf, und die
Biographie des späten Hugo Ball muß bestimmt nicht neu geschrieben,
höchstens einzelne Akzente anders gesetzt werden
Dennoch finden sich im Zweiten Tagebuch originelle Denkräume,
zentrale und marginale Die nachstehenden Bemerkungen können nur

2
ZTB, Heft 13, Eintrag vom 1 Juli 1927
Balls Zweites Tagebuch 267

einen provisorischen und impressionistischen Eindruck davon vermit-


teln
Das Tagebuch enthält ganz unterschiedliche Notatesorten bzw. the-
matische Schwerpunkte:
• Exzerpte und Kommentierungen von Texten,
• Aufzeichnungen und Reflexionen nach Gesprächen mit Emmy Hen-
nings, Hermann Hesse, Johannes R Becher, Hans Arp, Ernst Alex-
ander Michel (Flamingo), Carl Muth, Ludwig Feuchtwanger, Pater
Beda Ludwig, Carl Schmitt ete ,
• Beschreibungen von Aufenthalten (München 1921/22, Rom, Albori,
Vietri 1924-1926) und von Reisen nach Berlin und Pirmasens
(Sommer 1923) sowie München (Sommer 1923 und Juli/August
1926);
• Biographische Aufschlüsse und autobiographische Reminiszenzen
an frühere Perioden (Kindheit, München, Dadaismus, Berner Zeit),
• Datierungen und Hinweise, die auf zum Teil unbekannte Texte (v. a.
von Emmy Hennings) und auf Briefe schließen lassen 3
• Ausfuhrungen zur Entstehungsgeschichte und Konzeption der Wer-
ke Tenderenda der Phantast, Byzantisches Christentum, Die Fol-
gen der Reformation*, Die Flucht aus der Zeit und Hermann Hesse
sowie zu diversen Werkprojekten: „Priesterbiographie", „Dämonen"
/"Therapie der Kirche'VPsychoanalyse und Exorzismus" In unse-
rem Konnex muß primär die Produktionsgeschichte der Flucht aus
der Zeit interessieren, da darin sehr pointiert Balls Einstellung zum
Tagebuchschreiben zur Kenntlichkeit gelangt
Ich möchte einige der aufgelisteten „Bestandteile" des Zweiten Tage-
buchs kursorisch etwas charakterisieren:

Den entsprechenden Hinweisen wird gegenwärtig nachgegangen, so daß neu


auftauchende Korrespondenzen noch in der geplanten Brief-Edition (Hg. Gerhard
Schaub und Ernst Teubner) berücksichtigt werden können Einmal entdeckt Ball
beim Aufräumen das Manuskript einer Novelle von Hans Leybold: Der Unfall des
Joachim Kümmerlich. Leybold habe ihm den Text 1914 übergeben (ZTB, H. 7,
Eintrag vom 18. 8. 1923); der unbekannte Leybold-Text hat sich im Nachlaß
mcht erhalten
4
ZTB, H. 5, Eintrag vom 4 4 1923: Das Buch sei sehr beeinflußt von Nietzsches
antideutscher Haltung, viel mehr als von der deutschfeindlichen politischen Um-
gebung in Bern.
268 Julian Schutt

1 Exzerpte und Exerzitien

Die Notate reflektieren sehr eingehend Praktiken des Bekennens resp


Beichtens Augustins Confessiones geht Ball Buch für Buch durch,
exzerpiert längere Passagen daraus und schließt eigene Bemerkungen
zum Exzerpierten an Diese Bemerkungen sind nicht in Form strenger
textimmanenter Exegesen gehalten, sondern integrieren mehr und mehr
die eigene Person und münden nicht selten in eigentliche Exerzitien und
Gewissensprüfüngen Ball entwirft im Oktober 1922 Pläne zu einer
„Art Priesterbiographie" mit autobiographischen Zügen Es zieht ihn in
jenen Jahren vorzugsweise zu konfessorischer Literatur (neben Augu-
stinus vor allem Rousseau), doch gehört er auch zu den frühen Lesern
von Kafkas Hungerkünstler Und wie schon in der Flucht aus der Zeit
dokumentiert, sind Wildes Bildnis des Dorian Gray und Baudelaire
ständige Begleiter.

2. Ball als Tagebuchschreiber

Wem es gelingt, im kubistischen Bischofspappkostüm Lautgedichte


vorzutragen, um wenige Jahre später Heiligenviten zu verfassen, nicht
ohne dazwischen noch den Sprung in den politischen Journalismus zu
wagen, muß zwangsläufig mit einem exotischen Image und einem er-
heblichen autobiographischen Erklärungsbedarf rechnen Zumal wenn
sich, wie in Balls Fall, das Zielpublikum zuletzt vornehmlich aus
Theologen rekrutiert Wie aber einem Pater Beda und anderen katholi-
schen Amtsträgern die eigenen Dada-Eskapaden erklären9 Wie einem
autoritär-rechten Intellektuellen wie Carl Schmitt das Engagement ge-
gen den deutschen Machtstaat plausibel machen9 Wie „mit allen
Sprüngen, Rissen und unwahrscheinlichen Widersprüchen" zurecht-
kommen95 Das ist das kardinale Dilemma Balls nach der Hinwendung
zu fromm-spiritualistischen Inhalten Die Generalbeichte in München
beseitigt dieses Problem nicht Erschwerend kommt eher noch hinzu,
daß es vor allem Autorenkollegen aus der Boheme-Vergangenheit sind
(Arp, Huelsenbeck), die Ball unbeirrbar ihren Respekt bezeugen, sein
religiöses Eremitendasein aber im stillen bedauern Aus diesem und

5
Ebd , H. 1, Eintrag vom 23 10 1922.
Balls Zweites Tagebuch 269

verschiedenen andernorts eingebrachten Gründen6 wächst das Bedürf-


nis, eine „öffentliche Beichte" abzulegen, gleichsam dem „Publikum das
eigene Leben vor die Füße werfen", zu konturieren, „wer ich bin und
was ich will Mit welchem Recht ich schreibe " 7 Auch ein ganz profa-
ner finanzieller Grund spielt hinein: Ball sieht ein, daß er sich publizi-
stisch verstärkt wieder nach Deutschland ausrichten muß Der Titelslo-
gan „Flucht aus der Zeit" täuscht also in gewissem Sinne - über Balls
wahres Vorhaben hinweg Mit der Bearbeitung und Publikation der
frühen Tagebücher will er sich in Tat und Wahrheit aus dem Abseits, in
das er sich hauptsächlich mit dem Reformationsbuch hineingeschrieben
hat, wieder zurückmelden
Anfang 1923 faßt er endgültig den Entschluß, das Tagebuch 1913-
1923 zu publizieren Ihn treibt es, Zusammenhänge zwischen seinen
Büchern herauszuarbeiten „Andere dokumentieren sich häufiger, so
daß ihre Publikationen ihre Entwicklung zeigen Bei mir liegen zwi-
schen dem Theater und der Kritik 4 Jahre, und zwischen der Kritik und
den Byzantinern wiederum 4 Jahre Und was für Jahre! Voller Kriege,
Revolutionen und Untergänge Auch möchte ich zeigen, wie ich mich
gefunden zu haben glaube, das Fazit ziehen " 8 Gleichzeitig quälen ihn
Skrupel, weil seine Privatperson dabei zwangsläufig in den Vorder-
grund rückt So veranstaltet er daneben Rückzugsgefechte, trägt sich
gar mit dem Gedanken, keine Privatkorrespondenzen mehr zu führen
Zudem sucht er verzweifelt nach einer geeigneten Form für die auto-
biographische Bekenntnisschrift, wobei ihm eine ästhetische Gestaltung
grundsätzlich suspekt scheint

3 Biographische Erhellungen

Zu den historisch nur sehr vage erschlossenen, aber zweifellos span-


nendsten Abschnitten in Balls Leben gehört die Berner Zeit (1917-
1920) An Akten darüber fehlt es nicht, doch darf man den Gang in

6
Vgl das Nachwort und die Anmerkungen in Die Flucht aus der Zeit Hg v Bern-
hard Echte. Zürich 1992. 303-345 Der Herausgeber konnte sich verschiedentlich
auf Notate aus dem Zweiten Tagebuch stützen, um Motivation und Entstehungs-
geschichte der Flucht darzulegen
7
ZTB. H 3, Eitrag vom 24 11. 1922.
* Ebd , H 5, Eintrag vom 11.2. 1923.
9
Ebd.. H 7. Eintrag vom 6 8. 1923.
270 Julian Schutt

politische und militärische Archive nicht scheuen, um aus dem Dunst-


kreis von Geheimdiensten und Geheimverhandlungen auf wirklich gesi-
cherten Boden zu gelangen Im Zürcher Hugo Ball-Nachlaß harren ein
vollständig erhaltenes Exemplar der Freien Zeitung und weitere rele-
vante Materialien der dringend nötigen Auswertung Einige ergiebige
Aufschlüsse dazu liefert auch das Zweite Tagebuch. So kann Ball lange
nach Kriegsende noch auf die Dienste der französischen Diplomatie
zählen Sein Berner Engagement im Sinne (und Sold) Frankreichs hat
man nicht vergessen Als er im Sommer 1923 die Mutter in Pirmasens
ein letztes Mal besuchen will, stellen sich vorerst ungeahnte und schier
unüberwindliche Schwierigkeiten ein. Man läßt ihn nicht in die franzö-
sisch kontrollierte Zone einreisen Kurzentschlossen besteigt Ball den
nächsten Zug nach Berlin, wo man ihn bei der Französischen Botschaft
und bei der 'Kommission für Wiedergutmachung' in „vertrauter Herz-
lichkeit"10 empfängt und ihm speditiv einen Reisepaß für das besetzte
Gebiet ausstellt Den Umweg über Berlin nutzt Ball noch zu einem
Abstecher nach München, wo er im Romanistencafe einkehrt und bei
Kurt Zander logiert (Dort hat er, wie wir nebenbei erfahren, seine al-
ten Tagebücher, Briefe, Zeitungsnotizen, Bücher aus den Jahren 1910-
1920 deponiert.)"

4 Gespräche und Begegnungen:

Das Zweite Tagebuch enthält zahlreiche Aufzeichnungen, die eine dif-


ferenzierte Betrachtung der Beziehung zwischen Ball und Emmy Hen-
nings erlauben Das gleiche dürfte für die Freundschaft mit Hennann
Hesse zutreffen Am 26. Juli 1923 hält er über Hesse fest, es sei gut,
„daß es einige wenige Menschen gibt, die Widerstand leisten und nicht
zu verstehen sind Die Zeit sucht die letzten Widerstände in den großen
Prostitutionsapparat zu ziehen. Der Geist ist keine Funktion der Gesell-
schaft oder der Ökonomie. Er ist gegen die Zeit und momentane Ge-
sellschaft Es ist ein Mißverständnis, wenn man die 'wenigen Großen'
auffördert, sich ins Getümmel zu begeben und zu 'sprechen' Sie haben
dort nichts zu sagen Je mehr sie sich entfremden, desto besser."1

10
Ebd . H 7, Eintrag vom 27 7 1923
"Ebd
12
Ebd., H. 7, Eintrag vom 26 7 1923
Balls Zweites Tagebuch 271

Zum Wiedersehen mit Künstlerkollegen und Intellektuellen aus der


Vorkriegszeit kommt es, als Ball im Oktober 1921 nach München
übersiedelt Er trifft unter anderen Blei, Wolfenstein, Bing, Kurt Wolff,
Sorgel, Mary Wigman, den Lektor Ludwig Feuchtwanger Nach der
Generalbeichte am 2 März 1922 nehmen die Kontakte merklich ab
Am 18 Juni wird Ball noch von Hans Arp überrascht, der die baldige
Ankunft von Tzara aus Paris und Sophie Taeuber aus Zürich meldet
und eine Dada-Soiree bei Steinicke vorschlägt Ball lehnt nicht etwa
empört ab, sondern empfiehlt speziell die Auffuhrung einer „Mithras-
messe".13
Ab Mitte September 1922 fristen er und Emmy Hennings wieder ihr
asketisches Dasein im Tessin Manchmal kommt es aber auch hier zu
Begegnungen kurioser Art Unter dem Datum des 6. Oktober 1922
heißt es im Tagebuch. „Unterwegs in der Via Canova ruft jemand hin-
ter mir meinen Namen Ich drehe mich um: es ist: Flamingo. Er hat
sein Ensemble dabei, trägt einen flotten blauen Anzug und zeigt mir in
seinem Notizbuch, daß er mit seinen Leuten in allen eleganten Hotels in
Lugano und Umgebung auftritt Er will uns besuchen. Man habe ihm
sein letztes Exemplar Flametti gestohlen, und von der Spinne (die Ru-
biner lobte) habe er auch nur noch den Schluß, aber nicht mehr den
Anfang Eine phantastische Sache, daß er mir nicht nur in Bern, son-
dern nun auch hier unten wieder in den Weg läuft. Er kommt jeden
Herbst und Frühling mit seinen Leuten zur Saison Emmy meint, es
wäre nett, wenn wir die ganze Gesellschaft einmal zu uns einlüden, und
vielleicht Hesse dazu Das würde ihn gewiß interessieren " Ernst Alex-
ander Michel alias Flamingo, der Variete-Impresario aus gemeinsamen
Zeiten im vordadaistischen „Maxim"-Ensembie, steht zehn Tage später
prompt vor der Tür Im Tagebuch der Vermerk: „Er bewunderte das
weiße Tischtuch, den See und den Feigenbaum " Ball begleitet den
Lebenskünstler nach Sorengo „Unterwegs erzählt er mir von seinen
letzten Geschäften Er tritt allein auf, und zwar als Gedächtniskünstler,
und übertrifft in seiner Nummer Malini. Er hat keinen ständigen
Wohnsitz mehr, sondern ist bald in den Hotels von Lugano, bald in
Davos und Arosa zu Gast "14

13
Ebd , H 1, Eintrag vom 18 6 1922
14
Ebd., H. 1, Einträge vom 6 10. 1922 und 16 10 1922
272 Julian Schutt

Ferner ist die Bekanntschaft mit Carl Schmitt recht ausführlich doku-
mentiert Balls Tagebuch läßt sich entnehmen, daß er Schmitt 1919 in
München kennengelernt hat 15 1923 entsteht der Essay über Carl
Schmitts Schriften für die Zeitschrift Hochland Über Die Diktatur16
äußert Ball im Tagebuch, die juristische Behandlung von politischen
Fragen sei ihm neu Mit Vergnügen lese er die scharfsinnigen Ausfüh-
rungen dieses Gelehrten, „in dem sich ein umfassender Ideologe mit
einem glänzenden Stilisten und Historiker treffe"17 Am 16 Oktober
schickt Ball den Aufsatz ab Im darauffolgenden Jahr verbringt Schmitt
seinen Urlaub im Tessin Fast täglich kommt es zwischen dem 19 Au-
gust und 9 September zu „lebhaftem Austausch" Allmählich zeigen
sich indessen auch unüberbrückbare Differenzen Im Tagebuch lesen
wir am 1 September 1924, Schmitt rate dringend von einer Publikation
der Folgen der Reformation ab, weil ihm das Buch nicht genügend
dokumentiert zu sein scheine Noch ehe der Schmitt-Trabant Walde-
mar Gurian in diskreditierender Weise die Folgen bespricht18, stoßen
Ball seinerseits Schmitts Diktaturideen ab, sie seien exageriert und
schädlich und kämen „der preußischen Restauration und der Revan-
chepolitik zugute" Im weiteren hält Ball gegen Schmitt: „Dasselbe gilt
von seiner Detestierung der Ideen von 1789 Seine Beurteilung der
Menschenrechte ist ungerecht und unsachlich Eine Katholische Dikta-
tur wird er im heutigen Deutschland und auch im Deutschland der
nächsten Jahrzehnte vergebens erwarten und durch seine Doktrin zu-
nächst auch nicht befördern "19
Eine zentrale Frage zum Abschluß Wohin steuert Ball in seiner Iso-
lierung? Diese Frage stellt sich hinsichtlich der weiteren politischen
Entwicklung Deutschlands und der späteren Faschisierung von Intel-
lektuellen wie Schmitt, mit denen Ball in Kontakt gestanden hat Hat

15
Ebd., H. 7, Eintrag vom 22 7 1923
16
Schmitts Buch Die Diktatur Von den Anfängen des modernen Souveränitätsge-
dankens bis zum proletarischen Klassenkampf (München u. Leipzig 1921) befin-
det sich, mit Randnotizen Balls versehen, im Hugo Ball / Emmy Henmngs-Nach-
laßdepositum des Robert Walser Archivs, Zürich
17
ZTB. H 8, Eintrag vom 5. 9. 1923.
18
Vgl. Augsburger Postzeitung. Sonntagsbeilage Nr. 5 v. 30. 1 1925, S 3; vgl den
v. Ernst Teubner hg Ausstellungskatalog: Hugo Ball (1886*1986) Leben und
Werk Berlin 1986, S. 211/268 (Anhang 34).
19
ZTB, H 10, Eintrag vom 1 9 1924
Balls Zweites Tagebuch 273

ihn das mitunter eskapistische Abseitsstehen vor Schlimmerem bewahrt


oder seinen religiösen Extremismus gerade heraufbeschworen9 Die
subtile Auseinandersetzung Balls mit Carl Schmitt warnt uns zumindest
vor voreiligen Entscheidungen in dieser Frage

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