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Die Kugelform der Erde im mittelhochdeutschen Schrifttum

von Rudolf Simek

Die traditionelle Meinung, daß die Vorstellung von der Kugelgestalt ge-
genüber der Auffassung von einer scheibenförmigen Erde im Mittelalter
nur langsam an Boden gewinnen konnte und sich erst im späteren Mittel-
alter, im 14./15. Jahrhundert und mit Hilfe der Fahrten des Kolumbus
völlig durchsetzen konnte, ist auch in wissenschaftlichen Kreisen weit ver-
breitet. Diese Auffassung ist uns durch den offenbar auf popularisierten
Forschungen des 19. Jahrhundert aufbauenden Schulunterricht so sehr
eingeimpft worden1, daß sich vereinzelte Wissenschaftler bei Widerle-
gungen dieser Meinung für kleinere Gruppen mittelalterlicher Quellen
noch immer gezwungen sehen, einerseits ihre „ketzerischen" Ergebnisse
durch eine Apologie zu entschuldigen, andererseits nachträglich versu-
chen, ihre eigenen Forschungsergebnisse auf den kleinen untersuchten
Teilbereich zu beschränken und damit die traditionelle Lehrmeinung
nicht zu relativieren. Beispiele dafür sind junge und ansonsten sehr fun-
dierte Arbeiten von J. Tattersall über die mittelalterliche französiche Lite-
ratur 2 , von A.-D. v.d. Brincken über die mittelalterlichen Weltkarten3 und
die Edition der spätmittelalterlichen Sacrobosco-Übersetzung des Nürn-
berger Mathematikers Jacob Heinfogel durch F.B. Brévart4.

1
Die Gründe für diese Entwicklung und ihre Geschichte in den letzten beiden Jahrhun-
derten können hier nicht untersucht werden. Belege für die Annahme einer scheibenförmi-
gen Welt im Mittelalter bis mindestens 1400 finden sich bekanntlich in allen einschlägigen
Handbüchern zur Geschichte der Geographie, Kartographie und der Geschichte der Natur-
wissenschaften.
2
J. T a t t e r s a l l , Sphere or Disc? Allusions to the shape of the earth in some 12th-century
and 13th-century vernacular French works, in: Modern Language Review 76,1981, S. 31—46.
3
A.-D. v . d . B r i n c k e n , Die Kugelgestalt der Erde in der Kartographie des Mittelalters,
in: AKG 58, 1976, S. 77-95.
4
F.B. B r é v a r t , Konrad Heinfogel: Sphaera materialis. Text und Kommentar ( = Göp-
pinger Arbeiten zur Germanistik, 325), Göppingen 1981, vgl. besonders S. 68: Hier wird
für die Scheibenform der Erde auf Belege bei Bauer verwiesen, der keinen einzigen derarti-
gen Beleg enthält: G.-K. B a u e r : Sternkunde und Sterndeutung der Deutschen im 9.-14.
Jahrhundert unter Ausschluß der reinen Fachwissenschaft ( = Germanische Studien, 186),
Berlin 1937, S. 11 ff.

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Es liegen jedoch auch Arbeiten vor, die sich ausschließlich kritisch mit
der überkommenden Meinung über die Kugelform der Erde im Mittelal-
ter auseinandersetzten: dazu gehört ein Artikel von E.G.R. Taylor 5 , die
im Zusammenhang mit mittelalterlichen Mappae mundi als erste darauf
hinwies, daß die üblicherweise als Beleg für die Annahme einer Scheiben-
form interpretierten T-O-Karten (Ökumenekarten) selten isoliert auftre-
ten, sondern in den meisten Fällen im Zusammenhang mit astronomi-
schen Zeichnungen oder mit Zonenkarten und Klimatenkarten, welche
alle die Kugelgestalt der Welt voraussetzen. Zitiert werden jedoch auch
in neueren Arbeiten vorwiegend ältere Werke, welche versuchen, die
Scheibengestalt unter Hinweis auf den immer wieder genannten Kosmas
Indikopleustes, der aber nicht einmal ins Lateinische übersetzt wurde, für
das ganze Mittelalter als repräsentativ zu postulieren 6 . Allerdings war
Kosmas gar kein Anhänger der Scheibentheorie, sondern vertrat ein ka-
stenförmiges Weltbild, griff aber die Anhänger der Kugel-und Antipo-
dentheorie ebenfalls an und versuchte sie lächerlich zu machen.
Die Betrachtung mittelalterlicher Primärtexte zeigt jedoch, daß sich
nach der Kirchenväterzeit kaum haltbare Beispiele für ein scheibenförmi-
ges Weltbild finden lassen: Isidor drückt sich über die Gestalt der Erde
nur vage aus, von Hraban wird noch zu sprechen sein, Beda dagegen
spricht ausdrücklich von der Kugelgestalt {De natura rerum XLVI: Mig-
ne, PL 90, Sp. 264 f.), bei den hochmittelalterlichen Enzyklopädisten
kann von einer scheibenförmigen Welt keine Rede sein.
Im folgenden sollen nun kosmographische Stellen vor allem in der
volkssprachlichen deutschen Literatur daraufhin untersucht werden, wie
in ihnen die Form der Erde betrachtet wird: dabei wird jedoch sofort eines
der Probleme bei der Betrachtung des mittelalterlichen Weltbildes offen-
bar, welches sich auch in der Untersuchung über die französische Litera-
tur des 12. und 13. Jahrhunderts durch J. Tattersall 7 findet, nämlich die
unsaubere Trennung zwischen Terra und Orbis in den mittelalterlichen
Texten: so ist auch bei Hrabanus Maurus, dem Praeceptor Germaniae des
9. Jahrhunderts, nur schwer sein Bild von der Erde rekonstruierbar, da
er zwar den Orbis ausdrücklich als radförmig bezeichnet — was auf die
Scheibenvorstellung deuten würde — jedoch dieses Kapitel über den orbis

5
E. G. R e m i n g t o n T a y l o r , Some Notes on Early Ideas on the Form and Size of the
Earth, in: The Geographical Journal 85, 1935, S. 64-68.
6
Die beste Darstellung der kosmologischen Vorstellungen der Spätantike und des frühe-
sten Mittelalters findet sich immer noch bei: K. K r e t s c h m e r , Die physische Erdkunde im
christlichen Mittelalter, Wien und Olmiitz 1889, über Kosmas besonders S. 41 ff.
7
Wie Anm. 2.

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Die Kugelform der Erde 363

terrarum deutlich absetzt vom Kapitel über die terra {De Universo. Lib.
XII, Kap. 2 und 1: PL 111, Sp. 331 f.), wo er kein Wort über die Form der
terra verliert: es liegt also auch hier nahe, den radförmigen orbis als oi-
koumene, also den bewohnten Teil der Erde, zu interpretieren; diese Be-
trachtungsweise ist auch der Schlüssel für die Interpretation der mittelal-
terlichen kreisförmigen T-O-Karten (nach Isidors Beschreibung auch
,Radkarten' genannt), welche in einem Kreis nur die drei bekannten Kon-
tinente Asien, Afrika und Europa eingetragen haben; Karten dieser Art
können sicherlich nicht, wie es bisher häufig geschah 8 , als Beleg für ein
scheibenförmiges Weltbild gewertet werde, da ihre Aufgabe ausschließ-
lich eine Darstellung der oikoumene sein soll, welche die Größenrelation
der Kontinente zueinander verdeutlicht: Asien nimmt die Osthälfte des
Orbis terrarum ein, Afrika und Europa teilen sich die Westhälfte. Nicht
ohne Grund ist der Großteil dieser Ökumenekarten in mittelalterlichen
Handschriften in der Gesellschaft anderer Darstellungformen der Welt zu
finden: in Isidorhandschriften neben meist rechteckigen Repräsentatio-
nen der auf die Noachiden aufgeteilten oikoumene, in enzyklopädischen
Handschriften häufig neben Zonenkarten, welche einen Südkontinent
jenseits des nach dem kratetischen Weltbild 9 die Mitte der Erdkugel um-
ziehenden Äquatorialozeans zeigen, während die bewohnte nördliche
Landmasse die geläufige Dreiteilung in die Kontinente aufweist. In rein
astronomischen Handschriften des Hochmittelalters finden sich neben
den Ökumenekarten auch Klimatenkarten, welche die seit der Antike als
Unterteilung der Nordhalbkugel tradierten sieben Klimazonen aufwei-
sen; daneben kommen noch die vielen sowohl in astronomischen wie auch
komputistischen und allgemein enzyklopädischen Handschriften zu fin-
denden astronomischen Darstellungen, etwa das Weltallbild der ptolemä-
isch-aristotelischen Tradition und Abbildungen zu Sonnen- und Mond-
finsternis. Alle bildlichen Darstellungen von Zonen- und Klimatenkarten
und die genannten astronomischen Zeichnungen setzen ein sphärisches
Weltbild voraus, es wäre also paradox, die im kodikologischen Kontext
damit überlieferten T-O-Karten als Belege für ein flaches, kreisförmiges
Bild der Erde werten zu wollen. Es darf dabei nicht vergessen werden, daß
sich die mittelalterlichen T-O-Karten bemühten, die Wiedergabe des rele-
vanten, d.h. bewohnten Teils der Erde (der vergleichsweise klein war, da
man das Verhältnis Wasser zu Land wie 6 zu 1 annahm), in der für die

8
Vgl. J.G. L e i t h ä u s e r , Mappae mundi, Berlin 1958, S. 61—74; B r i n c k e n (wie Anm.
3), S. 78 und 95; Tat t e r s a l i (wie Anm. 2), S. 45 f.
® Zum Weltbild desKrates von Mallos (2. Jh. v. Chr.)vgl. B r i n c k e n ( w i e Anm. 3) S. 79f.

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ganze Erdkugel bei zweidimensionaler Darstellung repräsentativen Form,


also dem Kreis, zu erreichen. Die im Mittelalter so weit verbreiteten T-
O-Karten können also nicht als Beleg für eine Auffassung von einer schei-
benförmigen Welt interpretiert werden.
In der volkssprachlichen deutschen Literatur des Mittelalters finden
sich kosmographische Stellen fast ausschließlich in der enzyklopädischen
Literatur, welche zum Großteil direkt oder indirekt auf lateinischen Vor-
lagen beruhte, später auch in der astronomischen Fachliteratur; in der
epischen Schönliteratur fehlen Hinweise auf die Vorstellungen von der
Form der Erde weitgehend, sogar die in der französischen (und in der Fol-
ge auch altnordischen) Alexanderdichtung zu findende Beschreibung der
Mappa mundi auf einer gläsernen Halbkugel auf dem Grab des Darius 10
fehlt in der ansonsten keineswegs wortkargen mittelhochdeutschen Ale-
xanderdichtung völlig.
Der älteste Beleg über die Form der Erde in deutscher Sprache stammt
noch vom Ende des 9. Jahrhunderts, als Notker der Deutsche in seiner
Übersetzung des Boethius dazu meint: SÔ ist tiu érda sínuuelbíu11 und
läßt damit keinen Zweifel an seiner Auffassung einer kugelförmigen Welt
offen, denn mhd. sinewel bedeutet in erster Linie „kugelig", „gewölbt"
und nur im weiteren Sinn kreisförmig; über die Lage dieser kugelförmigen
Erde im Kosmos (und wohl vor allem im Weltmeer) zeigt er sich ausdrück-
lich uninformiert: linde ist tins únchúnt. übe si úndenán erbárot sí. obe-
nan dâr sí erbárot ist. târ sízzent tie líute.
Von Notker abgesehen, fehlen kosmographische Belege für das Früh-
mittelalter in deutscher Sprache völlig; Informationen aus dem deutschen
Sprachraum bieten ansonsten nur deutsche Kleriker in lateinischer Spra-
che. Anfangs des 9. Jahrhundert gehören dazu der schon erwähnte Hra-
banus Maurus, im 10. Jahrhundert unter den Ottonen der 999 als Silve-
ster II. zum Papst gewählte westfränkische Gelehrte Gerbert von Reims
(ca. 940/50-1003) 12 . Im 11. Jahrhundert findet sich ein Beleg zur Kugel-

10
Belege für die französische Alexanderdichtung bei T a t t e r s a l l (wie Anm. 2); in der
altnordischen Alexanders saga (einer Übersetzung der Alexandreis des Walther von Chatil-
Ion): F. J ó n s s o n , Alexanders saga. Kebenhavn 1925, S. 112.
11
Nach der neuen kritischen Ausgabe von P e t r u s W. Tax (Hrsg.), Notker der Deutsche:
Boethius, „De consolatione Philosophiae". Buch I/II. (= Altdeutsche Textbibliothek, 94),
Tübingen 1986, S. 96; der Text ist allerdings völlig identisch mit dem der alten Ausgabe von
P. P i p e r , Die Schriften Notkers und seiner Schule, Bd. 1. Freiburg i. B. und Leipzig 1895,
S. 111: Boethius: De consolatione philosophiae II, Kap. 45.
12
N. Bubnov, Gerberti postea Silvestri II papae Opera Mathematica. Berlin 1899
[Nachdruck 1963], S. 116: terreni orbis.

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Die Kugelform der Erde 365

form der Welt bei dem sicherlich die wissenschaftliche wie soziale Elite
seiner Zeit repräsentierenden Hermann von Reichenau (1013—1054; PL
143. cols 408 f); bei dem um etwa eine Generation jüngeren Augustiner-
chorherren Manegold von Lautenbach (ca. 1030/40-nach 1103) findet
sich ein indirekter (und für Manegold negativer) Beleg, da er im Rahmen
seiner Polemik im Dienste des Investiturstreits auch einen gewissen Wolf-
helm von Köln wegen dessen Glauben an die Kugelform der Welt und die
Antipodenlehre angriff 1 3 .
Etwa derselben Zeit gehört der norddeutsche Kirchenhistoriker Adam
von Bremen an. Adams am Schluß seiner vor 1080 verfaßten Hamburgi-
schen Kirchengeschichte mitgeteilte Angaben haben mit dazu Anlaß ge-
geben, daß man ihm die Annahme einer scheibenförmigen Erde unter-
stellte 14; in der Tat sind die Angaben Adams, daß wagemutige friesische
Seefahrer auf der Fahrt in die Nähe des Nordpols von einem „gewaltigen
Sog dem Chaos entgegen" gerissen wurden und sie „umkehrend, nur mit
Mühe unversehrt dem gähnenden Schlünde des Abgrunds" entgingen
(Gesta Hammaburgensis IV, 39), jedoch ebenso dem sagenhaften Bereich
seiner Schilderungen zuzuzählen wie die auf der Reise von denselben See-
fahrern angelaufene Insel mit kyklopischen Bewohnern, die an Saxos
Schilderungen der mythischen Gegend Geirödargard (Saxo Grammati-
cus: Gesta Danorum VIII, 296, ed. A. Holder: Saxo Grammaticus. Gesta
Danorum. Straßburg 1886) erinnern. Hier dürfte nicht vom Abgrund zu
einem die Welt umfließenden Ozean gesprochen werden, sondern von ei-
nem sagenhaften Malstrom im Nordmeer; Adam wäre ansonsten der ein-
zige Geograph des mittelalterlichen Nordeuropa, der von der im mittel-
alterlichen Skandinavien weitverbreiteten Vorstellung einer Nordasien
mit Grönland verbindenden Landbrücke abwiche 15 . Adam spricht aber
schon kurz vorher (IV, 37) von der Form der Erde mit dem Begriff rotun-
ditas orbis terrarum. Wiewohl diese vage Formulierung auch als Kreis-

13
W. H a r t m a n n (Hrsg.:), Manegold von Lautenbach: Liber contra Wolfelmum ( =
MGH, Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 8), Köln 1972, S. 51 f.
14
F. P o s s a r t , Europa, besonders das nördliche, nach Ottars und Wulfstans Reiseberich-
ten, in: Zeitschrift für vergleichende Erdkunde 3, 1844, S. 1-32; A.A. B j ö r n b o , Adam af
Bremens Nordensopfattelse, in: Aarbeger for Nordisk Oldkyndighed II, 24, 1909, S.
120-244; L. W e i b u l l , Geo-etnografiska inskott och tankelinjer hos Adam av Bremen, in:
Scandia 4,1931, S. 210-223; Ausgabe von Adams Gesta Hammaburgensis Ecclesiae Pontifi-
cum in: Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und
des Reiches ( = Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 11), Darmstadt 1978.
15
Die Belege dazu finden sich bei R. S i m e k , Elusive Elysia, or: Which Way to Glaesisvel-
lir, in: Sagnaskemmtun, Wien 1986, S. 247-275.

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form der Ökumene zu deuten wäre, ist es Kohlmann 1 6 nach entsprechen-


den Vermutungen älterer Forscher gelungen nachzuweisen, daß es sich
hierbei um ein Zitat aus Beda (De temporum ratione: PL 90, cols. 437 f)
handelt, wo Beda in der Folge auch von der Erde in der Form eines Balls
(pila) spricht; da Adam auch andere Stellen aus diesem Werk verwendete,
und ihm zudem Macrobius ebenso geläufig gewesen sein dürfte wie Mar-
i a n u s Capeila, spricht alles für eine Interpretation dieser Stelle als Kugel-
form der Erde.
Für die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts sind zwar noch keine Stellen
in deutscher Sprache beizubringen, dafür häufen sich in der zweiten Hälf-
te dieses Jahrhunders Belege für ein kugelförmiges Weltbild aus dem
deutschen Sprachraum; für die lateinischen Autoren können hier stellver-
tretend die Äbtissin Herrad von Landsberg stehen, deren inzwischen ver-
lorener Hortus deliciarum eine Zonenkarte nach Macrobischem Muster
enthielt 17 , der Chronist Gottfried von Viterbo (ca. 1125-1192)18 sowie
der doctor universalis Albertus Magnus, der in De ccelo et mundo (II. 4,
9—11) das Bild eines recht kleinen, aber kugelförmigen Erdballs vertrat l 9 .
Ende des 12. Jahrhunderts finden sich nun auch volkssprachliche Tex-
te, welche kosmologische Informationen enthalten. Der mittelhochdeut-
sche Lucidarius aus der Zeit um 1190 — keine Übersetzung des Elucidari-
um des Honorius Augustodunensis, sondern eine nach dessen Vorbild
entstandene eigenständige Arbeit 2 0 —, bezeichnet im Kapitel Von der or-
denunge der weite die Erde ebenfalls als kugelförmig: Der meister sprach:
dise welt ist sinewel, unde ist unbeslozen mit dem wendelmer, da inne sue-
bet die erde alse der duter indem eige indem wisem (Heidlauf S. 8); der

16
Ph.W. K o h l m a n n , Adam von Bremen. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Textkritik
und Kosmographie, Leipzig 1908; vor ihm schon ähnlich S. G ü n t h e r , Adam von Bremen,
der erste deutsche Geograph ( = Sitzungsber. d. königl. böhm. Ges. d. Wiss., Phil.-hist. Cl.),
Prag 1894, S. 62; d e r s . , Die Lehre von der Erdrundung und Erdbewegung im Mittelalter
bei den Okzidentalen, Halle 1877, S. 8; G. M a r i n e l l i , Die Erdkunde bei den Kirchenvä-
tern, Leipzig 1884, S. 44; W. S c h l ü t e r , Die Ostsee und die Ostseeländer in der hamburgi-
schen Kirchengeschichte Adams von Bremen ( = Sitzungsber. d. Gel. Estn. Ges.), Jurjew
1902, S. 9.
17
R. G r e e n u.a. (Hrsg.), Herrad of Hohenbourg: Hortus deliciarum, Bd. 1, Lon-
don/Leiden 1979, S. 20.
18
G. W a i t z (Hrsg.): Gotifredi Viterbensis opera (MGH SS, 22), Hannover 1872, S.
1-338. Bei der Beschreibung des Reichsapfels setzt Gottfried dessen Kugelform mit dem
mundus gleich, implizit dann auch mit der wenig später erwähnten terra (S. 274 f.).
19
P. H o s s f e l d (Hrsg.), Alberti Magni Opera Omnia, Bd. 5, 1, Münster 1971, S. 196 f.
und 199 ff.
20
F. H e i d l a u f (Hrsg.), Lucidarius aus der Berliner Handschrift herausgegeben ( =
DTM. 28), Berlin 1915.

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Die Kugelform der Erde 367

(oder die) Verfasser übernehmen also diesbezüglich die Stelle des Honori-
us, aber nicht aus seinem Elucidarium, sondern aus der Imago mundi
(Lib. I., Cap. I), wo es heißt: Mundus dicitur quasi undique motus, est
enim in perpetuo motu. Hujus figura est in modum pilce rotunda. Sed
instar ovi elementis distincta. [. . .] Sic mundus undique coelo, ut testa,
circumdatur, coelo vero purus aether ut album, cetheri turbidus aer, ut vi-
tellum, aeri terra, ut pinguedinis gutta includitur (PL 172, col. 121).
Honorius spricht sich übrigens auch in seinem Elucidarium (Lib. I. 11)
im Zusammenhang über die Erschaffung des Menschen über die Form
der Welt aus: Caput ejus est rotundum, in coelestis sphcerœ modum (PL
172, col. 1116), und wenn diese Stelle auch nicht übersetzt wurde, so war
sie den Verfassern des Lucidarius doch sicherlich geläufig.
Nach dem Vorbild des Lucidarius und wohl auch nicht allzu lange da-
nach ist ein weiteres volkssprachliches religiös-enzyklopädisches Kom-
pendium entstanden, und zwar das Buch Sidrach, welches in etliche euro-
päische Volkssprachen übersetzt wurde(französisch, italienisch, proven-
calisch, englisch, niederländisch21), wovon die ältesten französischen
Handschriften dem Ende des 13. Jahrhunderts angehören; obwohl also
das Werk recht weit verbreitet gewesen sein dürfte, stammen die ältesten
deutschen (niederdeutschen) Handschriften aus dem 15. Jahrhundert,
drei niederrheinische Manuskripte stammen aus dem 15./16. Jahrhun-
dert. Diese deutschen Handschriften dürften auf einer 1318 verfaßten nie-
derländischen Vorlage beruhen, auffällig ist, daß sie im Vergleich mit den
ursprünglichen romanischen Fassungen um mehr als die Hälfte gekürzt
sind; so fehlen vor allem naturkundliche und astronomische Abschnitte.
Dementsprechend ist im niederdeutschen Buch Sidrach nur wenig über
den Aufbau der Welt zu finden, dennoch aber unter Frage 118 eine inter-
essante Stelle über die Form der Erde:
De konnigh vraget: Wo lank unde wo breit is de werlt? Sydrak antwor-
det unde sechi: CXVIII De werlt is allike breit unde allike lank und
allike dick. Wente see is ront also eyn appel.
0Buch Sidrach, S. 111)
Dieser Vergleich der Erde mit dem Apfel ist keinesweg auf diese Stelle im
Buch Sidrach beschränkt, obwohl sich allzuviele Belege im Mittelalter
noch nicht haben finden lassen. Das bekannteste Beispiel stammt aus
dem altnorwegischen Königsspiegel (Konungs-skuggsjd) von der Mitte

21
H. J e l l i n g h a u s , Das Buch Sidrach, Tübingen 1904, S. V - X .

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des 13. Jahrhunderts, wo mit dem Vergleich der Erde als Apfel und der
Sonne als Kerzenflamme die Klimazonen der Erde erklärt werden.
Shackelford22 hat gezeigt, daß sich eine Parallele dazu in einer mittelen-
glischen Legenden-Handschrift (MS Laud Misc. 108) findet, welche im
Rahmen einer „widely ranging, if rude cosmology" auch eine Reihe von
Stellen über die Kugelform der Welt enthält, darunter auch den schon er-
wähnten Vergleich der Erde mit dem Dotter aus Honorius. Shackelford
konnte noch keine weiteren Parallelstellen aus den enzyklopädischen Li-
teratur beibringen, da die großen lateinischen Enzyklopädien des 11.—14.
Jahrhunderts diesen Vergleich nicht enthalten; das Apfel/Kerzen-Gleich-
nis dürfte in der Tat relativ selten sein. Vergleiche der Erdkugel mit einem
Apfel kommen jedoch öfter vor, die hier angeführte Stelle aus dem Buch
Sidrach ist keineswegs die einzige kontinentale Parallele. Ein bildlicher
Beleg dafür findet sich in einer Darstellung der Figur der Astronomia in
einer Martianus Capella-Handschrift vom Beginn des 12. Jahrhunderts
(aus Nordfrankreich?) vor, in welcher die Figur eine Weltkugel mit der
Aufschrift pomum in der Rechten hält 23 , und daß der Vergleich dann im
14. Jahrhundert wenigstens gerüchteweise verbreitet gewesen sein muß,
zeigt Johann von Hildesheim in seiner Dreikönigslegende24 (entstanden
zwischen ca. 1351 und 1370), der den Nestorianern — bösen Ketzern, wie
er meint — vorwirft, sie überlegten die Frage der apfelförmigen Erde:
Dar in dem lande is eyn vragunge, sint dem mail, dai alle ardrijken
ru(n)t is als eyn appel Vnd dat water hoge in den landen stait Vnt neder
in anderen landen. Wo sich ardrijken gehalden kan, dat id nicht to
mail mit deme water versunken en is. Want dat mer heit dar Me-
diufmjterranum, dat stait hoge. Mare Occeanu(m), dat stait Neder by
Constantinopolen. De vragu(n)ge en is nicht solueirt in dem lande.
Wie die letzten Bemerkungen zeigen, ist Johannes kein Experte für
Kosmographie; allerdings könnte seine Ansicht gerade deswegen als

22
J. R. S h a c k e l f o r d , The Apple/Candle Illustration in The Kings Mirror and the
South English Legendary, in: Maal op Minne 1984, S. 72-84; der bei Shackelford unvoll-
ständige Quellenverweis für die kleine englische Kosmologie muß lauten: C. H o r s t m a n n
(Ed.), the Early South-English Legendary or Lives of Saints ( = Early English Text Society,
Original Series, 87), London 1887 [Reprint New York 1973], S. 311.
23
Florenz. Biblioteca Laurenziana. Cod. S. Marco 190, fol 96v; Abbildung bei L. H. H ey-
d e n r e i c h , Eine illustrierte Martianus Capella-Handschrift des Mittelalters und ihre Ko-
pien im Zeitalter des Frühhumanismus, in: Kunstgeschichliche Studien für Hans Kauff-
mann, Berlin 1956, S. 59-66, Abb. 6.
24
M. B e h l a n d , Die Dreikönigslegende des Johannes von Hildesheim, München 1968,
S. 194; vgl. auch B r i n c k e n (wie Anm. 3), S. 84.

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Die Kugelform der Erde 369
symptomatisch für die Auffassungen weiterer Kreise des ungebildeteren
Klerus und der Laien genommen werden.
Daß aber nicht alle Kleriker so vage Vorstellungen von der Form der
Erde hatten, zeigt die schon aus dem 13. Jahrhundert stammende Stelle
aus der Predigt ,Saslic sint die reines Herzen sint' des 1272 gestorbenen
deutschen Minoriten Berthold von Regensburg:
Wan diu erde ist rehte geschaffen alse ein bal. swaz dazfirmamant be-
griffen hat - daz ist der himel, den wir dà sehen, dà die Sternen ane
stent —, swaz der umbe sich begriffen hat, daz ist geschaffen als ein
ei. Diu ûzer schale daz ist der himel den wir dà sehen. Daz wìze al umbe
den tottern daz sint die lüfte. Sô ist der totter enmitten drinne, daz ist
diu erde25.

Der Vergleich des mundus mit dem Ei weist auf Honorius als die letzt-
endliche Quelle von Bertholds Weltbild, aber er geht den Schritt weiter,
daß er die Erde selbst als bal bezeichnet, ein im Mittelalter nicht unübli-
cher Vergleich; ob er ihn aus den philosophischen Schriften des jüngeren
Seneca (Quœstiones naturales IV. 11), Platon (Phaidon), Plinius {Natura-
lis historia II. 70) oder aus noch unbekannten Vermittlern bezog, muß
hier offenbleiben: Er führt jedoch wie der Rest des bei ihm von Honorius
übernommenen Ei/Dotter-Gleichnisses vor Augen, daß eine so allge-
meinverständliche Ausdeutung der Erdform wie die hier vorliegende in
Bertholds Predigt keineswegs zu einer Trivialisierung oder gar Verfäl-
schung des damals gültigen wissenschaftlichen Weltbilds führen mußte,
sondern daß auch ein Minoritenbruder wie Berthold sich auf dem Wis-
sensstand seiner astronomischen gebildeten Zeitgenossen befinden und
dieses Wissensgut - ohne Anstoß zu erregen - an das Predigtpublikum
vermitteln konnte.
Die immer erwähnte angebliche Anstößigkeit der Kugelförmigkeit der
Erde für die mittelalterlichen Dogmatiker beruht übrigens auf einer gän-
gigen Verwechslung, welche Verteidiger einer extremen Antipodenlehre
mit Verfechtern der Kugelgestalt der Erde gleichsetzt. Denn während die
Kugelform der Welt weitgehend unbestritten war, so gab es sehr wohl in-
nerkirchliche Widerstände gegen Vertreter der seit Augustinus als unka-
tholisch abgelehnten Lehre von der Existenz von Antipoden. Diese Ableh-
nung — so etwa wurde dafür bekanntlich schon Bischof Virgil von Salz-

25
F. P f e i f f e r (Hrsg.), Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten,
Bd. 1, Wien 1862, S. 392.

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370 Rudolf Simek

burg 748 durch Bonifatius bei Papst Zacharias verklagt, von diesem aber
nicht dafür verurteilt 26 — erstreckte sich aber keineswegs auf die Kugelge-
stalt der Erde, ja nicht einmal auf die mögliche Existenz eines Antipoden-
kontinents, sondern einzig und allein auf die Behauptung von der Exi-
stenz menschlicher Bewohner eines solchen Kontinents; diese wurde von
Augustinus und seinen geistigen Nachfolgern deswegen so entschieden
abgelehnt, weil im Alten Testament eine ihrer Meinung nach vollständige
Auflistung der Noachiden gegeben wird, welche keinen Raum für Bewoh-
ner eines vierten Kontinents läßt 27 . Darüber hinaus stellte die Annahme
eines vierten bewohnten Kontinente die Allgemeingültigkeit des Erlö-
sungswerkes in Frage.
Für die offenbar weitverbreitete Irrelevanz — eher als eine Gefährlich-
keit - der Frage nach der Form der Erde mag hier stellvertretend für ande-
re theologische Werke des Hochmittelalters das verbreiteste Handbuch
der Scholastik stehen, nämlich das noch in mehreren 100 Handschriften
erhaltene, dem Thomas von Aquin oder Albertus Magnus zugeschriebe-
ne, tatsächlich aber von Hugo Ripelin von Straßburg verfaßte Compendi-
um theologicae veritatis. Am Beginn des 2. Buchs (Cap. 3 ff) geht Hugo
im Rahmen der Schöpfung zwar recht detailliert auf den Aufbau des Kos-
mos, die Planeten und die Elemente ein, behandelt die Form der Erde
aber mit keinem Wort 28 .
Reine astronomische oder komputistische Werke, die sich mit kosmolo-
gischen Fragen eingehender befassen, finden sich in den europäischen
Volkssprachen erst im 13. Jahrhundert. Eines der frühesten deutschspra-
chigen Werke, und noch dazu eine recht eigenständige Arbeit, ist die in
nur einer Handschrift erhaltene sogenannte Mainauer Naturlehre, wel-
che eigentlich besser als Computus oder Buch von der Zeit 29 zu bezeich-
nen wäre: Dieses kleine Kompendium setzt bereits in den ersten Zeilen mit
einer dezidierten Beschreibung der Kugelgestalt der Erde ein: Dez men-
schin lip ist gemachet vz vier elemente davon so wil ich dir sagen welhes
siv sint. Das erste ist div erde, div ist kugeleht30. Kurz darauf ist auch von

26
P L 89. cols. 946 f; vgl. dazu die noch falsch verstandene Darstellung bei J o a c h i m G.
L e i t h ä u s e r , M a p p a e m u n d i , Berlin 1958, S. 62—64; richtiggestellt bei B r i n c k e n (wie
A n m . 3) S. 81.
27
Augustinus: De civitate Dei XVI, 9.
28
C o m p e n d i u m theologicae veritatis, in: Steph. Cxs. Aug. B o r g n e t (Hrsg.), B. Alberti
Magni Opera O m n i a . Vol. XXXIV, Paris 1895, S. 1 - 3 0 6 , bes. S. 42.
29
G. K e i l , Mainauer Naturlehre (Buoch von der zît), in: Die deutsche Literatur des Mit-
telalters. Verfasserlexikon. Bd. 5, Berlin/New York 2 1985, cols. 1175-1178.
30
H . R . P l a n t , Marie Rowlands u n d Rolf B u r k h a r t : die s o g e n a n n t e „ M a i n a u e r N a t u r -
lehre" der Basler Hs. Β. VIII 27 ( = Litterae. 18), Göppingen 1972, S. 17; die Ligaturen u n d
A b k ü r z u n g e n h a b e ich gegenüber der dort zu findenden Transkription aufgelöst.

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Die Kugelform der Erde 371
der Kugelform der Hydrosphäre die Rede: Das ander element ist das was-
ser vnd ist och cugeleht vmbe das ertriche als in eime eige das luter vmbe
den duttern gat also vmbegat das wasser die erde. Auch hier begegnen
wir dem alten Rekurs auf das Dottergleichnis des Honorius, wenn dieses
auch hier in einen wissenschaftlicherem Rahmen gestellt wird.
Gleichnisse dieser Art werden dann auch in der deutschen Rezeption
des englischen Astronomen John of Holywood (Johannes Sacrobosco)
durch empirische Versuche ersetzt; bei Sacrobosco findet sich nämlich als
Beweis für die gekrümmte Form der Hydrosphäre nicht das Bild des Ei-
klars, sondern der wesentliche nüchternere, durch Erfahrungen überprüf-
te Hinweis auf die Sichtbarkeit des Ufers vom Masttop eines Schiffes,
wenn das Ufer vom Deck des Schiffes aus gesehen schon hinter dem Hori-
zont verschwunden ist 31 ; diese Stelle ist in allen drei deutschen Fassungen
des Liber de sphaera des Johannes de Sacrobosco zu finden und ist auch
überall mit der einprägsamen bildlichen Illustration des Sachverhaltes
verbunden.
Die älteste deutsche Fassung des Liber de Sphcera ist Konrad von Me-
genbergs Deutsche Sphaera32; die Übersetzung entstand zwischen 1347
und 1350 und ist das erste populäre Lehrbuch der Astronomie in deut-
scher Sprache. Konrad hielt sich bei der Übersetzung zwar inhaltlich an
das Original, schob aber auch kleine Exkurse zur Erläuterung und zum
besseren Verständnis der astronomischen Terminologie ein. Eine sprach-
lich wesentlich enger an der Vorlage orientierte Übersetzung ist die Zweit-
älteste mittelhochdeutsche Übersetzung von Sacroboscos Liber de Sphae-
ra, das anonyme Püchlein von der Spera, welches in Wien in der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts wohl von einem Gelehrten der Wiener Uni-
versität übersetzt wurde 33 . Die dritte deutsche Übersetzung fällt bereits

31
L. T h o r η d i k e , The Sphere of Sacrobosco and its Commentators, Chikago 1949, S.
83.
32
Zu Konrad von Megenberg und seiner Deutschen Sphära vgl. im folgenden besonders
H. I b a c h , Leben und Schriften des Konrad von Megenberg, Würzburg 1928; G. H e t z e -
l e i n , Konrad von Megenberg, der erste deutsche Naturhistoriker, Nürnberg 1973; J.-P. De-
s c h l e r , Die astronomische Terminologie Konrads von Megenberg. Ein Beitrag zur mittelal-
terlichen Fachprosa, Bern/Frankfurt/M. 1977; F.B. B r é v a r t , Zur Überlieferungsgeschich-
te der „Deutschen Sphaera" Konrads von Megenberg, in: PBB 102, 1980, s. 189-214; G.
S t e e r , Konrad von Megenberg; in: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexi-
kon. Bd. 5, Berlin/New York 21985, S. 221-236. Der Text ist zweimal ediert: O. M a t t h a e i
(Hrsg.), Konrads von Megenberg Deutsche Sphaera aus der Münchener Handschrift ( =
DTM 23), Berlin 1912; F.B. B r é v a r t , Konrad von Megenberg: Die Deutsche Sphaera ( =
ATB 90), Tübingen 1980.
33
F.B. B r é v a r t (Hrsg.), Johannes von Sacrobosco: Das Puechlein von der Sphera. Ab-
bildung der gesamten Überlieferung, kritische Edition, Glossar ( = Litterae. 68), Göppin-

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372 Rudolf Simek

in die Zeit des Buchdrucks und stammt von dem Mathematiker und
Astronom Konrad Heinfogel, einem Nürnberger Kleriker (ca. 1455—
13.2.1517), der bei der Übersetzung des lateinischen Textes (den er mögli-
cherweise schon gedruckt in Form des Pariser Drucks von 1507 und des
Kölner Drucks von 1500 kannte) auch Konrad von Megenbergs mittel-
hochdeutsche Übersetzung vorliegen hatte, wobei er den lateinischen Text
meist neu und getreuer übertrug. Heinfogels Sphaera materialis erschien
zwischen 1516 und 1539 in vier verschiedenen Auflagen (Nürnberg 1516,
Köln 1519, Strassburg 1533, Strassburg 153934).
Alle drei Übersetzer folgten inhaltlich Sacroboscos Ausführungen und
nehmen — wie es dem Titel des Werks entspricht — die Kugelform der Erde
als selbstverständlich an, wobei die Begründungen nicht auf Autoritäten,
sondern astronomischen Beobachtungen beruhen; ein Beispiel ist die
oben angeführte Erklärung der Rundung der Hydrosphäre. Durch die Be-
liebtheit von Sacroboscos Werk (einige 100 Handschriften, 80 lateinische
Kommentare, 65 Drucke bis 1647) und seiner Übersetzungen (Megen-
bergs Fassung ist immerhin in 10 Handschriften und vier Drucken vor
1639 erhalten) ergibt sich aus dieser beachtlichen deutschsprachigen Re-
zeption ein von 1350 bis in die Neuzeit reichendes Kontinuum an kosmo-
logisch-astronomischem Wissen, das zwar noch dem alten pythagoräi-
schen geozentrischen Weltbild verhaftet ist, aber für welches die Kugelge-
stalt der Erde weder ein astronomisches noch ein ideologisches Problem
war. Zwar ist die Breitenwirkung solcher astronomischer Werke im Mittel-
alter nicht zu überschätzen, aber sowohl Sacroboscos Handbuch als auch
dessen deutsche Übertragungen waren Lehrbücher für den Unterricht des
Quadriviums an den Universitäten und als solche gehörte ihr Inhalt dem
minimalen Wissensstand jedes Graduierten an.
Da das Wissen über die Kugelgestalt der Erde also spätestens seit Grün-
dung der Universitäten zum verbreiteten Bildungsgut wenigstens der aka-
demischen Abgänger gehörte, ist es nicht überraschend, „gesunkenes"
Wissensgut dieser Art auch in populären Kompilationen zu finden, zu de-
nen John Mandevilles .Travels' sicherlich zu rechnen sind. Dieses angebli-
che Reisebuch, das um 1350 auf französisch verfaßt wurde und bald in
die meisten Volkssprachen übersetzt wurde (heute sind noch immer über
250 Handschriften erhalten), ist eine Kompilation aus enzyklopädischen

gen 1979; vgl. dazu F.B. B r é v a r t , Eine neue deutsche Übersetzung der lat.,Sphaera mundi'
des Johannes von Sacrobosco, in: ZfdA 108, 1979, S. 57-65.
34
F.B. B r é v a r t (Hrsg.), Konrad Heinfogel: Sphaera Materialis. Text und Kommentar ( =
Göppinger Arbeiten zur Germanistik, 325), Göppingen 1981.

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Die Kugelform der Erde 373
Quellen und älteren Reiseberichten und schon deswegen eher der Trivialli-
teratur zuzuzählen, als Mandeville sicher nicht alle beschriebenen Reisen
selbst erlebt hat 35 . Obwohl nun normalerweise mittelalterliche Reisebe-
richte wenig Interesse an Kosmologie zeigen, so finden sich in Mandevil-
les Werk nicht nur ausdrückliche Hinweise auf sein Wissen über die Ku-
gelgestalt der Erde (Und ist es da von wann die erd und daz mer sind sin-
wei, als ich úch vor geseyt hon.: 115; wen die sunn uff gät gen dem
paradyß, so ist es by uns mitenacht von des ertrichs wegen, das als sinwel
ist, als ich tich hön och geseitt.: 172), sondern auch ein interessanter Pas-
sus über die Folgerungen dieser Gestalt für Reisende:

Und da von sprich ich daz er über erd und wasser gefahren waz also
daz er die erden umb gangen hett und waz wider kumen in sin land.
Er wist sin aber nit und kert sich wider umb, und den weg den er waz
kumen zogt er wider und verlor manig tagwaid. Da von sprich ich daz
man wol mag umb und umb die weit faren36.
Die (bewußte?) Mystifikation - das Nichterkennen der eigenen Heimat
nach der Weltumrundung — könnte darauf hindeuten, daß Mandeville
aus der ihm selbstverständlichen Kugelgestalt der Erde den Schluß gezo-
gen hatte, den vor ihm noch niemand gewagt hatte und der ihn in gefährli-
che Nähe der heiklen Antipodendiskussion brachte: nämlich die mögli-
che Umschiffbarkeit der Erdkugel; damit war aber erstmals in dem jahr-
hundertealten Wissen um die Gestalt der Erde eine Tür aufgestoßen
worden, die direkt zu den Entdeckungsfahrten eines Christoph Kolumbus
und all den Umwälzungen im Weltbild des 16. und 17. Jahrhunderts
führte.

35
Vgl. Chr.K. Z a c h e r , Mandeville's Travels, in: Dictionary of the Middle Ages. Vol. 8,
New York 1987, S. 81 f., und E. B r e m e r , Mandeville, Jean de, in: Die deutsche Literatur
des Mittelalters. Bd. 5, Berlin/New York 21985. cols. 1201-1214, mit der älteren Literatur.
36
E.J. M o r r a l l (Hrsg.), Sir John Mandevilles Reisebeschreibung in deutscher Überset-
zung von Michel Velser ( = DTM 66), Berlin 1974, S. 115.

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