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Fachabschlussprüfung 2020

Deutsche Sprache und Kommunikation…,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,………

Die zweite Hälfte der Erde wird verteilt


1 Mit den Schätzen aus der Tiefsee nehmen wir uns das letzte unberührte Terrain der Erde. Doch
2 diese Landnahme verläuft anders als alle bisherigen in der Geschichte.

3 Was ausschlaggebend dafür war, den langen Verhandlungsweg durchzuhalten, ist schwer zu sagen.
4 Am Anfang standen Idealismus, die Vision von einer gerechteren und friedlicheren Welt, in der pfleglich
5 mit dem Planeten umgegangen wird. Die Zeit schien reif dafür, Ende der 1960er Jahre. Fest steht auch:
6 Es war Liebe im Spiel –die zum Meer und zu den Menschen, aber auch die zwischen einem Mann und
7 einer Frau. Das Ergebnis jedenfalls ist eindrucksvoll, ein einmaliges Zeugnis der Zivilisation: Ein Gross-
8 teil des Tiefseebodens – und damit über die Hälfte der Erdoberfläche – wurde zum gemeinsamen Erbe
9 der Menschheit erklärt. Wenn in naher Zukunft die letzte grosse Landnahme beginnt, geschieht es
10 anders als bei allen bisherigen Inbesitznahmen der Geschichte – dank dem Seerechtsübereinkommen
11 der Vereinten Nationen.

12 Man sieht es dem grünen Koloss nicht an, aber Patania II ist Avantgarde, eine Hightech-Kreuzung aus
13 Kartoffelroder und Staubsauger. Sie ist so stark, dass sie eine mehr als 4000 Meter hohe Wassersäule
14 auf ihren Schultern tragen kann, und gleichzeitig so behutsam, dass sie den Meeresboden kaum auf-
15 zuwühlen bestrebt ist, wenn sie mit einem Tempo von 0,3 Metern pro Sekunde irgendwo zwischen
16 Hawaii und Mexiko durch die Finsternis des Pazifiks fahren und Manganknollen einsammeln wird. Das
17 zumindest ist der Plan. Ob der funktioniert, sollte im April 2019 in der Clarion-Clipperton-Zone getestet
18 werden. Patania II sollte 4400 Meter abtauchen, bis auf den Meeresgrund. Jede Seegurke, über die
19 Patania II hinwegrollen, jede Anemone, die sie ihres Habitats berauben, jede Sedimentwolke, die sie
20 aufwirbeln würde, sollte dabei von Meeresforschern registriert und dokumentiert werden. Die Ergeb-
21 nisse sollte die International Seabed Authority (ISA) zur Kenntnis erhalten, damit sie in den sogenann-
22 ten Mining-Code einfliessen. Die Meeresbodenbehörde arbeitet unter Hochdruck an einem Regelwerk
23 für den Tiefseebergbau. Industrie, Umweltschutz und Gesetzgebung in enger Kooperation, geschmei-
24 dig wie ein Reissverschluss, so scheint es.

25 Auf hoher See galt lange Zeit die Freiheit der Meere. Der Niederländer Hugo Grotius hatte 1609 mit
26 seiner Schrift «Mare liberum» den Anspruch der Spanier und Portugiesen auf ein Monopol im Koloni-
27 alhandel zurückgewiesen und das Recht auf freie Schifffahrt und freien Handel verteidigt. Das Meer sei
28 zu gross, schrieb er, und frei wie die Luft. Es gehöre niemandem. Anderer Meinung war der Brite John
29 Selden, der 1635 die Doktrin des «Mare clausum» entwickelte, die die See in Interessensphären ver-
30 schiedener Staaten aufteilte. Erst der niederländische Jurist Cornelis van Bynkershoek fand 1703 die
31 Formel für eine Art Kompromiss: «Die territoriale Souveränität endet dort, wo die Kraft der Waffen en-
32 det.» Kanonenkugeln flogen zu jener Zeit drei Meilen weit.

33 Jahrhundertelang galt also ein Flickwerk aus willkürlichen Hoheiten und Freiheiten, im Zweifel entschie-
34 den durch eine Seeschlacht. Als aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur die Gross-
35 mächte damit anfingen, ihre territoriale Souveränität in den Ozeanen auszudehnen, zum Beispiel offs-
36 hore nach Öl und Gas zu suchen, wurde der Ruf nach einem neuen Seerecht lauter. Bis dahin war es
37 um Schifffahrt und Fischfang gegangen, doch nun ging es um Bodenschätze, die nicht nachwuchsen.
38 Manganknollen zum Beispiel. Sie enthalten nicht nur Mangan, sondern auch Nickel, Kobalt und Kupfer.
39 Immer dringlicher stellte sich die Frage: Wem gehören sie.
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40 1994 trat das Seerechtsübereinkommen in Kraft. Dass es so lange gedauert hatte, lag vor allem daran,
41 dass die Staatengemeinschaft sich nicht darauf einigen konnte, wie die Schätze im Meeresboden auf-
42 zuteilen seien. Erst nachdem ein kostenloser Technologietransfer der Industriestaaten an die Entwick-
43 lungsländer vom Tisch war, konnte man sich auf Modalitäten für den Tiefseebergbau verständigen.
44 Mittlerweile haben 167 Nationen und die Europäische Union das Seerechtsübereinkommen unterzeich-
45 net, der grösste Küstenstaat der Welt, die USA, allerdings noch immer nicht. Die Meeresbodenbehörde
46 hat ihren Sitz in Kingston, Jamaica, und ist nicht grösser als eine Primarschule. Etwa fünfzig Menschen
47 aus verschiedenen Nationen verwalten hier treuhänderisch 54 Prozent der Erdoberfläche. Wer in «the
48 area» Rohstoffe fördern will, muss hier eine Lizenz beantragen, die zunächst nur zur Erkundung eines
49 Areals berechtigt. Dafür ist eine Gebühr von 500 000 Dollar zu entrichten. Privatunternehmen können
50 nur gemeinsam mit einem Staat, dem sogenannten «sponsoring state», eine Erkundungslizenz bean-
51 tragen, der ihre Tätigkeit überwacht und für sie haftet.

52 Und das ist wirklich speziell: Geht es zum Beispiel um Manganknollen in der Clarion-Clipperton-Zone,
53 muss der Lizenznehmer zwei wirtschaftlich gleichwertige Flächen erkunden, von denen die ISA danach
54 eines für sich auswählt. Diese «reserved area» kann entweder Entwicklungsstaaten zur Verfügung ge-
55 stellt oder später von der ISA selber, quasi genossenschaftlich, abgebaut werden. Jeder Lizenznehmer
56 bekommt maximal 75 000 Quadratkilometer, immerhin eine Fläche fast zweimal so gross wie die
57 Schweiz. Diese Lizenz gilt für 15 Jahre, kann mehrmals um 5 Jahre verlängert werden und muss dann
58 entweder in eine Abbaulizenz umgewandelt oder an die ISA zurückgegeben werden. China, Japan,
59 Frankreich, Russland und Südkorea waren die Ersten. 2001 beantragten sie Erkundungslizenzen für
60 Manganknollen. Ebenso wie Bulgarien, Tschechien, die Slowakei, Polen, Russland und Kuba, die sich
61 zur Interoceanmetal zusammenschlossen. Die Zahl der Anträge für Erkundungslizenzen hat sich in den
62 letzten fünf Jahren verdreifacht. Auf dem Meeresgrund entstehen interessante neue Nachbarschaften:
63 An das deutsche Lizenzgebiet grenzen im Süden Tonga und Nauru an, im Osten liegt hinter einer
64 «reserved area» Grossbritannien, und mit Interoceanmetal hat sich der Osten im Westen angesiedelt.
65 Alle sind gleich gross, was umso beeindruckender ist, als Nauru mit 20 Quadratkilometern Festland im
66 echten Leben die kleinste Republik der Welt ist.

67 In der Clarion-Clipperton-Zone ist Patania II der Pionier. Auch sie ist nur ein Testroboter und gehört
68 Global Sea Mineral Resources (GSR), einer Tochter der belgischen Unternehmensgruppe Deme, die
69 seit 140 Jahren unter dem Slogan «We shape the planet» baggert, vor allem im Nassen. Sie ist spezi-
70 alisiert auf Hafenbecken, Flüsse und Offshore-Anlagen, trägt aber auch an Land kontaminierte Böden
71 ab, wie zum Beispiel vor dem Bau des Olympiastadions in London. Tiefseebergbau ist ein neuer Ge-
72 schäftszweig, für den Kris Van Nijen zuständig ist. Seit er sich 2010 des Tiefseebergbaus angenommen
73 hat, ist er ein Manager im permanenten Verteidigungsmodus. «Ich sehe schon wieder diese Schlag-
74 zeilen, sagt er, quasi zur Begrüssung: ‹Tiefseebergbau für Mobiltelefone›.» Und fügt mit kurzem, stren-
75 gem Blick hinzu: «Es geht nicht um Telefone.» Sondern erstens um das Bevölkerungswachstum – laut
76 UNO leben Ende des Jahrhunderts knapp elf Milliarden Menschen auf der Erde. Und zweitens um die
77 globale Transformation von fossiler zu erneuerbarer Energie.

78 Allein die Clarion-Clipperton-Zone birgt laut einer Studie des amerikanischen geologischen Dienstes
79 USGS mehr Mangan, Nickel und Kobalt als alle Lagerstätten an Land zusammen. Sie enthalten auch
80 beträchtliche Mengen an Kupfer sowie einige Seltenerdmetalle, die für viele Schlüsseltechnologien ge-
81 braucht werden. Ein Vorteil dieser marinen Lagerstätten sei, so Experten, dass vier Metalle auf einmal
82 zu finden seien; an Land müssten für dieselbe Ausbeute mindestens zwei oder drei Lagerstätten er-
83 schlossen werden. Trotzdem warnen Meeresforscher wie Matthias Haeckel vom Geomar- Helmholtz-
84 Zentrum für Ozeanforschung in Kiel vor dem Bergbau in der Tiefsee. «Wir wissen noch lange nicht
85 genug, um einschätzen zu können, was wir dort unten anrichten.»

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