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Kir Bulytschow

D a s M ädchen aus der Z u k u n ft

Aus dem Russischen von Aljonna Möckel


Illustrationen
von Heinz Handschick

Der Kinderbuchverlag Berlin


Originaltitel: fle m . pojK fleH na A jimcm
IIjieHHMKM acTepon/ja

Erschienen im Band »fleBOHKa M3 6y,gymero«,


Verlag »Lumina«, Kischinjow 1984

ISBN 3 358-001^5-5

1. Auflage 1987
© DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN - DDR 1987
(für diese Ausgabe)
© Verlag »Lumina«, Kischinjow 1984
Lizenz-Nr. 304-270/61/87
Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30
LSV 7733
Für Leser von 10 Jahren an
Bestell-Nr. 632 886 1
00580
A lissas Geburtstag
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Alissa wurde an einem 17. November geboren, einem günsti­
gen Tag für solch ein Ereignis. Es hätte ja durchaus schlimmer
kommen können. Zum Beispiel kenne ich jemanden, der am
1.Januar geboren wurde. Sein Geburtstag wird nie richtig gefei­
ert, weil Neujahr ein Feiertag für alle ist. Schlecht hat’s auch,
wer im Sommer zur Welt gekommen ist - da sind Ferien und
die Freunde sonstwohin gefahren. Nein, Alissa hat in dieser
Hinsicht keinen Grund zum Klagen.
Ungefähr eine Woche vor ihrem Geburtstag, auf dem Nach­
hauseweg vom Tierpark, überlegte ich, was ich ihr schenken
könnte. So was ist ja immer ein Problem. Ich zum Beispiel habe
von meinen Ehrentagen bereits acht Schlipse zu Hause, die
sich aufs Haar gleichen, sechs Ballerinen, aus Wurzeln und
Zapfen gefertigt, drei aufblasbare Unterseeboote, vierzehn
Atomfeuerzeuge, jede Menge Chochlomer Holzlöffel und eine
Vielzahl anderer unnützer Dinge, die man bei solcher Gele­
genheit geschenkt bekommt und unauffällig wegsteckt: die
blaue Tasse zu den übrigen gerade erhaltenen fünf blauen Tas­
sen, den Ascher in Form eines Raumschiffes zu den gleichen
Aschern.
Ich saß also da und versuchte mich zu erinnern, um welches
Geschenk Alissa mich im September gebeten hatte. Es war et­
was ganz Bestimmtes gewesen, das sie offenbar brauchte. Wun­
derbar, hatte ich damals gedacht, das kriegt sie von mir zum
Geburtstag. Und nun hatte ich’s vergessen.
In diesem Augenblick klingelte das Videofon. Ich drückte
die Taste, und auf dem Bildschirm erschien das furchteinflö­
ßende Gesicht meines alten Freundes Gromoseka, des Kosmos-
3
archäologen vom Planeten Tschumaros. Gromoseka ist dop­
pelt so groß wie ein gewöhnlicher Mensch, er hat zehn Fang­
arme, acht Augen, einen Panzer auf der Brust und drei gütige,
doch recht einfältige Herzen.
»Professor«, sagte er, »du mußt bei meinem Anblick nicht
gleich vor Freude in Tränen ausbrechen. Ich bin in zehn Minu­
ten bei dir und werde dich an meine Brust drücken.«
Ich konnte grade mal »Gromoseka, du?!« ausrufen, als der
Bildschirm auch schon erlosch und mein Freund verschwand.
»Alissa«, rief ich, »Gromoseka ist hier!«
Meine Tochter war im Nebenzimmer bei den Schularbeiten,
ließ sie aber nur zu gern liegen und kam zu mir herüberge­
rannt. Watschelnd folgte ihr ein kleiner Wanderbusch, den wir
von unserer letzten Reise mitgebracht hatten. Er war verwöhnt
und verlangte, daß man ihn ausschließlich mit Kompott goß.
Deshalb hatten wir ständig süße Pfützen im Haus, und unser
Roboter brummte von früh bis spät, weil er ständig hinter der
Pflanze aufwischen mußte.
»Ich erinnere mich sehr gut an Gromoseka«, sagte Alissa,
»wir sind ihm voriges Jahr auf dem Mond begegnet. Was gräbt
er denn jetzt aus?«
»Ach, er ist auf irgendeinem toten Planeten«, erwiderte ich.
»Sie haben dort die Überreste einer Stadt gefunden. Das weiß
ich aus der Zeitung.«
Gromoseka führt ein unstetes Wanderleben. Im allgemeinen
hocken die Einwohner vom Planeten Tschumaros lieber zu
Hause, doch keine Regel ist ohne Ausnahme. Tausend Lands­
leute Gromosekas zusammengenommen haben in ihrem Leben
nicht so viel Planeten umrundet wie er.
»Alissa«, sagte ich, »was möchtest du von mir zum Geburts­
tag haben?«
Meine Tochter kraulte die Blätter des kleinen Busches und
antwortete nachdenklich: »Das ist eine ernsthafte Frage, Papa,
laß mich überlegen. Aber besorg auf keinen Fall etwas, bevor
wir uns nicht beraten haben. Sonst schleppst du bloß unnützes
Zeug an.«
In diesem Augenblick fuhr die Eingangstür auf, und der
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Fußboden erzitterte unter dem Gewicht des Gastes. Gromo-
seka wälzte sich in mein Arbeitszimmer, riß seinen weiten, mit
Haifischzähnen gespickten Rachen auf und rief schon von der
Schwelle aus: »Da bin ich also, meine teuren Freunde! Ich
komme geradewegs vom Kosmodrom zu euch. Ich bin müde
und würde gern ein bißchen schlafen. Breite deinen Lieblings­
teppich für mich aus, Professor, und weck mich in zwanzig
Stunden.« Dann fiel sein Blick auf Alissa, und er brüllte noch
lauter: »Mein Mädchen! Tochter meines Freundes! Wie groß
du geworden bist! Wie alt bist du eigentlich?«
»In einer Woche werd ich zehn«, sagte Alissa, »geh ins
zweite Lebensjahrzehnt.«
»Wir haben gerade über ein Geburtstagsgeschenk für sie
nachgedacht«, fügte ich hinzu.
»Ja und, ist euch etwas eingefallen?«
»Noch nicht.«
»Du solltest dich schämen«, sagte Gromoseka, setzte sich auf
den Fußboden und breitete seine Fangarme um sich aus, damit
sie ausruhen konnten. »Wenn ich so eine entzückende Tochter
hätte, würde ich ihr jede Woche eine Geburtstagsfeier ausrich-
ten und jedesmal einen Planeten schenken.«
»Na gewiß doch«, erwiderte ich, »bei euch auf dem Tschuma-
ros dauert ein Jahr ja auch länger als achtzehn unsrer Erden­
jahre und eine Woche folglich bei uns vier Monate.«
»Daß du einem auch immer die Laune verderben mußt, Pro­
fessor«, sagte Gromoseka gekränkt. »Hast du wenigstens etwas
Baldrian da? Aber unverdünnt, ich habe furchtbaren Durst.«
Es war kein Baldrian im Haus, und so wurde der Roboter zur
Apotheke geschickt.
»Aber nun erzähl endlich«, drängte ich, »was treibst du so,
wo gräbst du gerade, hast du was gefunden?«
»Das kann ich dir nicht sagen«, antwortete Gromoseka.
»Wirklich, ich schwör’s bei der Galaxis, das ist schrecklich ge­
heim. Wer weiß, vielleicht ist’s eine Sensation.«
»Wenn du’s nicht sagen willst, dann laß es«, erwiderte ich.
»Freilich wußte ich bisher nicht, daß Archäologen Geheim­
nisse haben.«
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»Oje«, seufzte Gromoseka, und gelber Rauch stieg aus sei­
nen Nüstern, »ich hab meinen besten Freund beleidigt! Du bist
böse auf mich! Schluß und aus. Ich geh jetzt und werde mei­
nem Leben ein Ende setzen. Man hat mich der Heimlichtuerei
verdächtigt!« Acht schwere, dampfende Tränen kullerten aus
den acht Augen meines empfindsamen Freundes.
»Nehmen Sie’s nicht so schwer«, sagte Alissa, »Papa wollte
Sie nicht kränken. Ich kenne ihn.«
»Ich hab mich selbst gekränkt«, erwiderte Gromoseka. »Wo
ist der Baldrian! Wieso kann man diese Roboter nie in einer
ernsthaften Angelegenheit losschicken! Gewiß steht er
irgendwo rum und macht mit seinesgleichen ein Schwätzchen.
Über das Wetter oder Fußball. Und vergißt dabei völlig, daß
ich vor Durst umkomme.«
»Soll ich Ihnen Tee bringen?« erbot sich Alissa.
»Nein, bloß nicht!« Gromoseka wedelte erschrocken mit den
Fangarmen. »Tee ist für mich das reinste Gift!«
Da kam zum Glück der Roboter mit einer großen Flasche
Baldrian. Gromoseka goß sich ein Glas voll und leerte es in
einem Zug, dabei quoll weißer Dampf aus seinen Ohren.
»Jetzt geht’s mir schon viel besser«, sagte er, »und nun kann
ich dir auch ein hochwichtiges Geheimnis anvertraun, Profes­
sor. Selbst wenn sich mein Zustand danach wieder verschlech­
tern sollte.«
»Dann verrat es mir lieber nicht«, sagte ich. »Ich möchte
nicht, daß es dir schlecht geht.«
»Außer mir weiß aber niemand, daß es ein Geheimnis ist«,
erwiderte Gromoseka.
»Sie sind vielleicht ein seltsamer Archäologe«, sagte Alissa,
»dann gibt es also gar kein Geheimnis?«
»Ja doch, natürlich gibt es eins, ein absolut richtiges sogar, al­
lerdings nicht so, wie ihr es versteht.«
»Gromoseka«, sagte ich, »wir verstehen jetzt gar nichts
mehr.«
»Wir verstehen nicht das geringste«, sagte auch Alissa.
Nun trank Gromoseka den Baldrian, um keine Zeit zu ver­
schwenden, gleich aus der Flasche. Als sie leer war, stieß er
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einen solchen Seufzer aus, daß das Fensterglas klirrte. Dann
gab er seinen Bericht.
Die archäologische Expedition, in der Gromoseka arbeitete,
kam auf den ausgestorbenen Planeten Koleida. Früher hatten
auf der Koleida Menschen gelebt, doch aus unerklärlichen
Gründen waren sie vor etwa hundert Jahren allesamt umge­
kommen. Übrigens auch alle Tiere des Planeten, alle Insekten,
Vögel und Fische. Kein einziges Lebewesen mehr, ringsum
nur Ruinen, um die der Wind heulte und auf die der Regen
fiel. Hier und da standen sogar noch Autos auf den Straßen
und Denkmäler einstmals berühmter Leute.
»Hatten sie Krieg?« fragte Alissa. »Haben sie sich gegenseitig
umgebracht?«
»Wie kommst du auf solche Gedanken?« Gromoseka war er­
staunt.
»Wir behandeln in Geschichte grade das Mittelalter«, ant­
wortete Alissa.
»Nein, es gab keinen Krieg«, sagte Gromoseka. »Bei einem
Krieg solchen Ausmaßes wären auch nach hundert Jahren noch
Spuren zu finden.«
»Vielleicht haben sie Giftgas eingesetzt«, wandte ich ein,
»oder die Atombombe. Es gab eine Kettenreaktion.«
»Du bist zwar ein kluger Mensch«, sagte Gromoseka, »redest
aber Dummheiten. Glaubst du vielleicht, so erfahrene Archäo­
logen wir wir, Meister ihres Fachs, mit mir an der Spitze, der
ich durch die Erde hindurch einen Regenwurm beobachten
kann, glaubst du, wir wären nicht allein auf diese Idee gekom­
men?« Gromoseka schüttelte den Kopf .und blitzte dabei so
furchterregend mit den Augen, daß ich unwillkürlich zu Alissa
hinüberschaute. Womöglich hatte mein gutmütiger Freund sie
erschreckt.
Doch das war ganz und gar nicht der Fall - Alissa dachte
nach.
»Wir haben einen bestimmten Verdacht«, fuhr Gromoseka
fort, »der aber betrifft das Geheimnis.«
»Sie wurden überfallen«, sagte Alissa.
»Von wem?«
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»Na von wem schon, von den kosmischen Piraten natürlich.
Ich hab sie selbst gesehn.«
»Ach Unsinn«, sagte Gromoseka. Er lachte so laut, daß all
seine Fangarme in Bewegung gerieten und die Vase mit den
Blumen zerschlugen, die auf dem Fensterbrett stand.
Ich tat, als bemerkte ich es nicht, und auch Alissa gab sich
diesen Anschein. Wir wußten, daß Gromoseka sehr zerknirscht
wäre, hätte er erfahren, was er da angerichtet hatte.
»Die kosmischen Piraten könnten nie einen ganzen Planeten
vernichten«, fuhr Gromoseka fort, »außerdem gibt es sie längst
nicht mehr.«
»Und was hat die Koleida dann zugrunde gerichtet?«
»Genau deswegen bin ich hier«, sagte Gromoseka.
Wir schwiegen, stellten nun keine Fragen mehr. Auch Gro­
moseka blieb still. Er wartete darauf, daß wir ihn ausfragten.
Dann würde er sich eine Weile zieren und schließlich nachge­
ben.
So schwiegen wir uns etwa zwei Minuten lang an. Gromo­
seka war am Ende regelrecht beleidigt. »Ich sehe schon«, sagte
er, »es interessiert euch nicht.«
»Aber nein, wieso denn«, entgegnete ich, »es interessiert uns
sogar sehr. Wir hören nur auf, in dich zu dringen, weil du ja
nicht reden willst.«
»Wie kommt ihr darauf, daß ich nicht reden will«, jaulte der
Archäologe auf, »wer behauptet das!«
»Na du selber.«
»Ich?! Das kann doch nicht wahr sein!«
Da beschloß ich, meinen Freund noch ein bißchen zu ärgern.
Ich merkte ja, daß es ihn geradezu vor Ungeduld zerriß, alles zu
erzählen. »Du wolltest doch zwanzig Stunden schlafen, Gromo­
seka«, sagte ich, »du kannst dich auf dem Teppich im Eßzimmer
langmachen. Du müßtest nur den Tisch in die Ecke schieben.
Und du, Alissa, geh wieder an deine Schularbeiten ...«
»Ach, so ist das also«, sagte Gromoseka. »Und das wollen
meine Freunde sein. Ich eile durch die ganze Galaxis zu ihnen,
um interessante Neuigkeiten zu berichten, sie aber schicken
mich schlafen. Sie langweilen sich mit mir. Ich bin uninteres-
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sant für sie. Na bitte, ganz wie ihr wollt. Dann zeigt mir jetzt
das Bad, ich will mir die Fangarme waschen.«
Alissa sah mich flehentlich an, sie hätte Gromoseka gar zu
gern ausgefragt. Der aber war bereits ins Badezimmer getrappt,
wobei er sich mit seinen Tentakeln an Wänden und Möbeln
festhielt.
»Warum mußtest du bloß so mit ihm umspringen, Papa«, flü­
sterte Alissa, als Gromoseka verschwunden war, »er war doch
drauf und dran, uns alles zu erzählen.«
»Er soll sich nicht so zieren«, sagte ich. »Wenn wir Interesse
gezeigt hätten, würde er uns noch zwei Stunden lang quälen.
So wird er ganz von allein anfangen zu erzählen, darauf kön­
nen wir wetten.«
»Einverstanden, um was wetten wir? Ich behaupte, daß Gro­
moseka böse mit uns ist und nicht das geringste verrät.«
»Und ich sage, er ist zwar böse mit uns, fängt aber gerade
deshalb sehr schnell zu reden an.«
»Gut, um ein Eis.«
»In Ordnung, um ein Eis.«
Wir schlugen ein, hatten jedoch kaum unsre Hände gelöst,
als im Flur die Wände zu zittern begannen. Gromoseka war im
Anmarsch.
Er war naß, Wasser ergoß sie über seinen Brustpanzer, und
seine Fangarme hinterließen ungleichmäßige feuchte Spuren
auf dem Fußboden. Unser Roboter folgte ihm und wischte mit
einem Lappen hinter ihm auf.
»Sag mal, Professor, wo liegt bei euch eigentlich die Seife?«
fragte Gromoseka.
»Die Seife?« sagte ich verblüfft. »Auf dem Bord natürlich.
Oder ist da etwa keine?«
»Klar ist da welche«, Gromoseka lachte, »das war nur ein
Vorwand. Du dachtest bestimmt, ich komme so schnell zurück,
um dir mein Geheimnis zu verraten. Und hast wahrscheinlich
zu deiner Tochter gesagt: Da kommt der dumme Gromoseka,
der es nicht erwarten kann, uns in sein Geheimnis einzuweihn.
Vor lauter Eifer hat er sogar vergessen, sich die Tentakel abzu­
trocknen. Stimmt’s etwa nicht?«
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Ich zuckte bloß die Achseln, doch Alissa verriet mich gleich.
»Wir haben sogar gewettet«, sagte sie, »ich war der Meinung,
Sie würden nicht kommen.«
»Na bitte«, Gromoseka nahm erneut auf dem Fußboden
Platz und breitete, Blütenblättern gleich, seine nassen Fang­
arme um sich aus, »jetzt bin ich zufrieden. Ihr wolltet euch
einen Spaß mit mir machen, dabei hab ich ihn mir mit euch er­
laubt. Nun sind wir quitt. Deshalb hört zu, meine Freunde. Er­
innert ihr euch noch an die kosmische Pestepidemie?«

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Natürlich erinnerten wir uns an diese Epidemie. Genauer ge­
sagt, ich erinnerte mich - Alissa hatte nur darüber gelesen.
Vor etwa fünfzehn Jahren war eine Expedition aus dem acht­
zehnten Sektor der Galaxis zur Erde zurückgekehrt. Wie zu je ­
ner Zeit üblich, landete sie nach so langer Reise aber nicht di­
rekt auf der Erde, sondern auf einem Pluto-Stützpunkt, um
eine Quarantäne zu durchlaufen. Nur dieser Umstand rettete
damals unseren Planeten.
Zwei Mitglieder der Besatzung litten nämlich an einer unbe­
kannten Krankheit, und man brachte sie auf die Isolierstation.
Doch ihr Zustand verschlechterte sich trotz aller Medikamente
zusehends. Am nächsten Tag erkrankten die übrigen Besat­
zungsmitglieder und weitere zwei Tage später alle anderen
Leute auf dem Stützpunkt.
Auf der Erde wurde Alarm ausgelöst, und man schickte ein
medizinisches Spezialschiff zum Pluto. Mehrere Tage lang
währte der Kampf um das Leben der Kosmonauten und Mitar­
beiter des Stützpunkts, doch er endete mit einer Niederlage.
Nicht nur, daß die Ärzte die Kranken nicht zu heilen vermoch­
ten - sie steckten sich vielmehr, ungeachtet aller Vorsichts­
maßnahmen, auch selber an.
Deshalb erhielt diese Krankheit die Bezeichnung »kosmi­
sche Pest«.
Eine allgemeine Quarantäne wurde verhängt, und um den
Pluto kreisten ständig Patrouillenboote, damit niemand verse­
il
hentlich landete. Gleichzeitig waren die besten Ärzte der Erde
und anderer Planeten bestrebt, dem Geheimnis dieser Krank­
heit auf die Spur zu kommen. Es sah ganz so aus, als gäbe es
keinerlei Mittel dagegen und als sei sie durch nichts aufzuhal­
ten. Weder Medikamente noch die dicken Mauern einer Iso­
lierstation halfen.
Erst nach drei Monaten gelang es um den Preis riesiger O p­
fer und durch die Anstrengung vieler tausend Gelehrter, die
Ursache dieser Krankheit zu finden, ein Gegenmittel zu ent­
wickeln.
Gegen die Pest anzukommen aber war deshalb so schwierig,
weil sie von Viren übertragen wurde, die über zwei erstaunli­
che Eigenschaften verfügten: Erstens verstanden sie es, sich zu
maskieren, das heißt das Aussehen ihrer unschädlichen Artge­
nossen anzunehmen, so daß sie im Blut völlig unauffindbar wa­
ren, zweitens bildeten sie alle zusammen ein vernunftbegabtes
Wesen. Ein einzelner Virus konnte weder denken noch einen
Entschluß fassen, doch wenn sich einige Milliarden zusam­
menfanden, ergab sich daraus ein seltsamer, bösartiger Ver­
stand. Waren die Ärzte nahe daran, das Rätsel zu lösen, dann
sandte dieser Verstand unverzüglich den Befehl an alle Viren
aus, ihre Form zu verändern, entwickelte ein Gegengift und
fand neue Wege, die Menschen zu töten.
Als die Gelehrten erkannten, daß sie es mit einem Virusver­
stand zu tun hatten, versuchten sie, eine Verbindung herzu­
stellen. Das Wesen jedoch wollte keinen Kontakt mit den Men­
schen. Oder es konnte ihn nicht aufnehmen - all seine Gedan­
ken, sein Trachten waren einzig auf Zerstörung aus,
schöpferisch zu handeln war ihm nicht möglich.
Später, als die kosmische Pest bereits besiegt war, fand man
in den Archiven anderer Planeten Hinweise auf diese Viren.
Wie sich herausstellte, war das Sonnensystem nicht der erste
Ort im All, wo diese Pest auftauchte. Auf das Schuldkonto der
Viren kamen viele verödete Planeten, ja ganze Planetensy­
steme. Und da es kein Mittel gab, der Krankheit entgegenzu­
wirken, gaben die Viren erst Ruhe, wenn sie alles Leben auf
dem Planeten vernichtet hatten. Waren Menschen und Tiere
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ausgerottet, flogen die Viren wie ein Bienenschwarm davon,
hinein in den freien Kosmos, wo sie einem Raumschiff oder
Planeten auflauerten, um sich drüber herzustürzen. Manchmal
blieben sie aber auch am alten Ort und verfielen in Schlaf.
Deshalb waren Gromoseka und seine Kollegen der Mei­
nung, daß der Planet Koleida der kosmischen Pest zum Opfer
gefallen sein mußte. Seine Bewohner hatten kein Mittel gefun­
den, mit der Epidemie fertig zu werden. Auf die Erde war Gro­
moseka nur gekommen, um eine Bestätigung für diese An­
nahme zu erhalten. Bei uns gibt es nämlich ein Zeitinstitut,
dessen Mitarbeiter in die Vergangenheit reisen können. Gro­
moseka wollte das Institut um eine Zeitmaschine bitten, damit
jemand in die Vergangenheit der Koleida fliegen konnte. Dort
sollte ergründet werden, ob der Planet wirklich an der kosmi­
schen Pest zugrunde gegangen war.

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Am nächsten Tag begab sich Gromoseka schon am frühen Mor­
gen ins Zeitinstitut. Er hielt sich bis zum Mittag dort auf, und
Alissa, die über sein Vorhaben informiert war, blieb nach der
Schule zu Hause, um auf seine Rückkehr zu warten. Sie wollte
unbedingt wissen, ob der Archäologe Erfolg hatte.
Wir hörten Gromoseka schon von weitem kommen und
schauten durchs Fenster. Die Scheiben zitterten, ja das ganze
Haus vibrierte leicht. Gromoseka ging mitten auf der Straße,
sang lauttönend ein Lied und trug einen so riesigen Blumen­
strauß, daß er damit rechts und links die Häuser streifte. Die
Passanten preßten sich beim Anblick unsres lieben llngeheu-
ers erschrocken an die Häuserwände, denn noch nie hatten sie
einen Blumenstrauß von fünf Meter Durchmesser zu sehen
bekommen, unter dem lange dicke Fangarme mit großen Kral­
len hervorschauten. Gromoseka schenkte jedem der Passanten
eine Blume.
»He!« rief er, als er unter unserem Fenster angelangt war.
»Grüß dich, Gromoseka!« sagte Alissa und öffnete das Fen­
ster. »Hast du gute Nachrichten?«
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»Gleich erzähl ich alles, meine Lieben«, antwortete Gromo-
seka und gab eine der Blumen einem alten Mann, der sich vor
Verblüffung geradenwegs auf den Bürgersteig setzte. »Doch
jetzt nehmt erst mal dieses bescheidene Sträußchen entgegen.
Ich geb’s euch ratenweise, sonst komm ich nicht durch eure
Tür.« Und Gromoseka streckte uns seine Tentakel mit der er­
sten Portion Blumen entgegen.
Fünf Minuten später war das Zimmer so mit Blumen ange­
füllt, daß ich sogar Alissa aus dem Blick verlor. Endlich wurde
der letzte Blumenschub hereingereicht, und ich rief: »Alissa,
wo bist du?«
Meine Tochter antwortete aus der Küche: »Ich hole sämtli­
che Töpfe, Tassen, Schüsseln, Teller und Vasen, um die Blu­
men ins Wasser zu stellen.«
»Vergiß die Wanne nicht«, sagte ich, »und laß Wasser ein.
Dort können wir einen großen Strauß unterbringen.« Dann
bahnte ich mir, das Blütenmeer mit den Armen zerteilend,
einen Weg zur Tür, um Gromoseka einzulassen.
Als der Archäologe sah, was sich in unsrer Wohnung ab­
spielte, war er äußerst zufrieden. »Ich glaube«, sagte er und
half uns, die Blumen auf Töpfe, Vasen, Schüsseln, Tiegel, Tel­
ler und Tassen zu verteilen, sie in Wanne und Küchenausguß
zu packen, »ich glaube, euch hat noch niemand ein so üppiges
Bukett geschenkt.«
»In der Tat, noch niemand«, stimmte ich zu.
»Also bin ich euer bester Freund«, sagte Gromoseka. »Den­
noch gibt’s bei euch im Haus wieder mal keinen Tropfen Bal­
drian.«
Mit diesen Worten machte er es sich auf dem Fußboden be­
quem, auf einem Teppich von Blütenblättern, und begann zu
erzählen. »Zuerst suchte ich das Zeitinstitut auf«, sagte er.
»Dort hat man sich sehr über mein Auftauchen gefreut. Einmal
natürlich, weil Gromoseka, der berühmte Archäologe, höchst­
persönlich zu ihnen kam ...«
»Und woher kannten sie dich?« unterbrach Alissa ihn.
»Mich kennen alle«, erwiderte Gromoseka. »Und überhaupt,
einen Erwachsenen unterbricht man nicht ... Als sie mich in
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der Tür stehen sahen, fielen sie jedenfalls vor Freude alle erst
mal in Ohnmacht.«
»Das war vor Schreck«, stellte Alissa richtig. »Wer dich noch
nie gesehen hat, kann schon Angst vor dir bekommen.«
»Ach Unsinn«, sagte Gromoseka, »bei uns zu Hause gelte ich
als ausgesprochen stattlicher Mann.« Er lachte, daß die Blüten­
blätter aufstiebten. »Glaub ja nicht, Alissa, daß ich so naiv bin.
Ich weiß genau, wann man mich fürchtet und wann man sich
über meinen Anblick freut. Ich klopf nämlich immer erst an
und frage, ob sich kleine Kinder oder Frauen mit schwachen
Nerven im Zimmer befinden. Wenn nicht, geh ich rein und
gebe mich als der berühmte Archäologe Gromoseka vom Plane­
ten Tschumaros zu erkennen. Bist du nun zufrieden?«
»Ja«, sagte Alissa. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf
einem von Gromosekas Fangarmen, den er zum Knäuel gerollt
hatte. »Aber jetzt erzähl weiter. Sie haben sich.also erstens ge­
freut, weil Gromoseka höchstpersönlich zu ihnen kam. Und
zweitens?«
»Zweitens«, sagte Gromoseka, »weil sie gerade gestern die
Versuche mit ihrer neuen Zeitmaschine abgeschlossen hatten.
Während die Maschinen vorher nur im Institutsgebäude selbst
arbeiten konnten, funktioniert die neue Apparatur auch an an­
deren Orten. Sie wird von Atombatterien gespeist. Die W issen­
schaftler wollten ihre Maschine gerade an den Beifußsee brin­
gen.«
»Wohin?« fragte ich verblüfft.
»Gromoseka meint bestimmt den Peipussee, nicht wahr?«
sagte Alissa. »Es ist sein gutes Recht, daß er einige Dinge bei
uns nicht kennt.«
»Hab ich doch gesagt - Peipussee«, ereiferte sich Gromo­
seka. »Wer das nicht verstanden hat, sollte sich mal die Ohren
waschen ... Die vom Zeitinstitut wollen sich ansehn, wie Alex­
ander von Mazedonien dort die Keuschen Ritter besiegt hat.«
»Richtig«, sagte Alissa, »sie wollen sich ansehn, wie Alexan­
der Newski dort die Deutschen Ritter besiegt hat.«
»Himmel«, stöhnte Gromoseka, »dauernd werde ich unter­
brochen! Also noch mal. Als ich erfuhr, daß sie ihre Zeitma-
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schine sowieso woanders hinbringen wollen, sagte ich: >Was ist
schon ein kleiner See, wenn ihr einen ganzen Planeten haben
könnt! Zu eurem See kommt ihr allemal, noch dazu, wo mitt­
lerweile jeder Schüler weiß, daß Alexander Newski diese Ritter
geschlagen hat. Was dagegen mit dem Planeten Koleida ge­
schehen ist, weiß nicht einmal ich, der berühmte Archäologe
Gromoseka. Sehr wahrscheinlich ist er an der kosmischen Pest
zugrunde gegangen!«
»Und sie haben sich auf die Sache eingelassen?« fragte
Alissa.
»Nicht sofort«, bekannte Gromoseka. »Zuerst meinten sie,
die Maschine sei noch nicht erprobt und könne unter den
schwierigen Kosmosbedingungen versagen, so daß es zu einer
Havarie käme. Als ich darauf erwiderte, die Bedingungen auf
der Koleida wären kein bißchen schwieriger als an ihrem Bei­
fußsee, argumentierten sie, die Atombatterien mit dem Zube­
hör seien so schwer, daß zehn Raumschiffe benötigt würden,
um alles zur Koleida zu bringen. Doch da war mir bereits klar,
daß ich ihr Einverständnis so gut wie in der Tasche hatte:
Schließlich ist es auch für sie verführerisch, die Zeitmaschine
auf einem fremden Planeten auszuprobieren. Und so erklärte
ich, daß wir das größte Kraftwerk auf der Koleida zur Verfü­
gung stellen könnten. Außerdem hätten wir einen sehr lei­
stungsstarken Atomreaktor und sogar Gravitationstriebwerke.
Sollte aber für die Bedienung der Maschine eine größere
Mannschaft notwendig sein, so würden wir sie herzlich will­
kommen heißen, verpflegen und sogar mit auf Exkursion neh­
men. Das gab dann den Ausschlag. Na, .was sagt ihr, bin ich
nicht schlau?«
»Das bist du«, bestätigte ich.
»So, und nun geh ich schlafen, denn morgen beginnen wir
mit dem Verladen. Selbst ohne die Atombatterien benötigen
wir für den Transport der Zeitmaschine drei Schiffe. Die aber
muß ich erst mal auftreiben.«
Gromoseka lehnte seinen dicken, weichen, an einen kleinen
Luftballon erinnernden K opf gegen die Wand und schlief
augenblicklich ein.
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Den ganzen folgenden Tag hetzte Gromoseka durch Moskau,
flog nach Prag, telefonierte mit dem Mond und beschaffte
schließlich die drei Schiffe. Er traf auch Anweisungen über die
Verladung, so daß er erst gegen Abend zu uns zurückkehrte.
Diesmal ohne Blumen, dafür aber nicht allein.
Er war in Begleitung zweier Zeitler - so heißen bei uns die
Mitarbeiter des Zeitinstituts.
Der eine Zeitler war jung, langbeinig, sehr dünn und viel­
leicht deshalb nicht eben lustig. Er hatte dunkles Kraushaar
wie ein Papua, und Gromoseka, verwundert darüber, was für
schmächtige Wesen es doch auf der Welt gab, war ständig be­
strebt, ihm mit seinen Krallen Halt zu geben. Der zweite Zeit­
ler war ein untersetzter, schon älterer Mann mit kleinen grauen
und sehr flinken Äuglein. Er stotterte leicht und war furchtbar
altmodisch gekleidet.
»Petrow«, stellte er sich vor, »M-michail Petrow. Ich bin der
Leiter des Projekts. Richard ist unmittelbar für die Maschine
verantwortlich.«
»Na so was«, sagte ich. Der Name dieses berühmten Physi­
kers, der die Zeitverschiebungen im supraflüssigen Plasma ent­
deckt und später die Leitung des Zeitinstituts übernommen
hatte, war mir bestens bekannt. »Ich bin sehr erfreut, daß Sie
unser Gast sind.«
»Feiern Sie etwas?« fragte Petrow, »vielleicht G-geburtstag?
Entschuldigen Sie bitte, das haben wir nicht gew-wußt, sonst
hätten wir ein Geschenk mitgebracht.«
»Aber nein, wir feiern nichts«, sagte ich, »unser Freund Gro­
moseka hat uns gestern bloß einen Blumenstrauß gebracht.
Und da er immer ein bißchen viel des Guten tut, hat er gleich
ein ganzes Treibhaus geplündert.«
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Gromoseka, »wir trinken
einen Schluck Baldrian und besprechen alles.« Er holte aus
einer tiefen Tasche, die jedem Tschumaroser auf dem Bauch
wächst, eine große Flasche mit Baldrian, dazu alle möglichen
Leckerbissen und Getränke. D an n jetzte er sich auf den T ep­
pich und legte seine Fangarme "uni‘uns, als hätte er Angst, wir
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könnten davonlaufen. »Also, die Schiffe sind beschafft«, be­
gann er, »und die Akademie der Wissenschaften hat Ihrer
Reise in den Kosmos zugestimmt. Somit steht der baldigen Er­
probung Ihrer Maschine im All nichts mehr im Wege. Freuen
Sie sich?«
»Vielen Dank«, sagte Petrow höflich, »wir danken Ihnen für
die Einladung.«
»Da hast du’s«, sagte Gromoseka gekränkt zu mir, »er freut
sich kein bißchen. Und weißt du auch, warum? Weil er lieber
zum Beifußsee gefahren wäre.«
»Peipussee«, berichtigte Alissa.
Gromoseka tat, als hätte er nichts gehört, und wiederholte:
»Er wäre lieber zum Peipussee gefahren, weil er genau weiß,
was dort geschieht. Da kann er hinkommen, so oft er will - die
Ritter werden diesen Alexander ... Newski ohnehin nicht
besiegen. Auf der Koleida dagegen weiß man nicht, wie die
Sache ausgeht. Wär ja durchaus möglich, daß nicht die kosmi­
sche Pest sie vernichtet hat, sondern etwas ganz anderes,
stimmt’s?«
»Wenn Sie uns Feigheit vorwerfen wollen«, entrüstete sich
Richard, »so sind Sie an der falschen Adresse. Sie haben nicht
die geringste Ahnung, wie riskant die Arbeit in der Zeit ist.
Zum Beispiel haben unsre Leute versucht, Giordano Bruno zu
helfen und ihn vor dem Scheiterhaufen zu retten; sie haben
sich unter die Kreuzzügler gemischt und unter die Insassen
eines faschistischen Konzentrationslagers. Wissen Sie über­
haupt, daß wir uns zu diesem Zweck ganz und gar in die Men­
schen der jeweiligen Zeit hineinversetzen, alle Gefahren und
Nöte mit ihnen teilen müssen?«
»Reg dich nicht auf, Richard«, beschwichtigte ihn Petrow,
»m-merkst du nicht, daß Gromoseka dich bloß ärgern möchte?
Und du fällst drauf rein.«
»Ich wollte ihn nicht ärgern!« protestierte Gromoseka. »Ich
bin ein ehrlicher und geradliniger Archäologe.«
Das freilich stimmte nicht ganz. Gromoseka vermochte durch­
aus durchtrieben zu sein. So wie zum Beispiel jetzt, da er
Angst hatte, die Zeitler könnten ihren Entschluß, mitzufahren,
18
wieder rückgängig machen und damit all seine Pläne über den
Haufen werfen.
»Sie können beruhigt sein«, sagte Petrow, ein kluger und
scharfsinniger Mann, »wenn das Zeitinstitut Ihnen verspro­
chen hat, das V-versuchsmodell dieser Maschine in Ihrer E xpe­
dition zu testen, bleibt es auch dabei.«
»Na wunderbar!« rief Gromoseka aus. »Daran hab ich nicht
im mindesten gezweifelt, andernfalls hätte ich Sie nicht mit
meinen besten Freunden bekannt gemacht - mit Professor Se-
lesnjow und seiner tapferen Tochter Alissa, von der Sie vorerst
nur wenig, doch schon sehr bald mehr wissen werden.«
»Was meinst du damit?« fragte ich.
»Damit will ich sagen, daß ich mir für deine Tochter ein
wunderbares Geburtstagsgeschenk ausgedacht habe.«
»Und das wäre?«
»Ich nehme sie mit zur Koleida.«
»Was denn, jetzt?«
»Natürlich jetzt.«
»Aber sie muß doch zur Schule.«
»Ich geh gleich morgen persönlich hin und spreche mit ihrer
Lehrerin. Gewiß gibt sie ihr ein paar Tage frei.«
»Oje«, sagte Alissa, »vielen Dank, aber komm lieber nicht zu
mir in die Schule.«
»Wieso denn nicht?«
»W eil..., weil unsre Lehrerin sehr schwache Nerven und
Angst vor Spinnen, Mäusen oder ähnlichem Getier hat.«
»Und was hab ich damit zu schaffen?« erkundigte sich Gro­
moseka streng.
»N-natürlich nichts«, beeilte sich Alissa zu versichern, »sie
könnte bei deinem Anblick bloß ein bißchen erschrecken und
Angst bekommen, mich mit dir loszuschicken ..., das heißt,
nicht mit dir, sondern mit einem, wie du es bist ... Also ich
meine ..., du darfst nicht böse sein, Gromoseka ...«
»Alles klar«, sagte mein Freund betrübt, »ich habe verstan­
den. Du bist in die Hände einer grausamen Frau geraten und
fürchtest, sie könnte mir, deinem besten Freund, Böses zufü­
gen.«

19
»Nicht doch, du hast mich ganz und gar nicht verstanden ...«
»Und ob ich dich verstanden habe ... Professor!« rief er, an
mich gewandt.
»Ja?« sagte ich und hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrük-
ken.
»Nimm dein Kind unverzüglich aus dieser Schule, es wird
dort zu Tode gequält. Wenn du es nicht tust, geh ich morgen
selber hin und rette Alissa.«
»Alissa rettet selber jeden, den sie will«, erwiderte ich, »du
brauchst dir ihretwegen keine Sorgen zu machen. Sag mir lie­
ber, für wie lange du sie mitnehmen möchtest.«
»Ich dachte an dreißig bis vierzig Tage.«
»Ausgeschlossen, das kannst du vergessen.«
»Na dann achtundzwanzig Tage.«
»Weshalb gerade achtundzwanzig?«
»Weil ich mit dir feilsche und du mir bereits zwei Tage abge­
handelt hast. Mach nur weiter.«
Die Zeitler lachten. »Ich wußte gar nicht«, sagte Richard,
»daß die Kosmosarchäologen so lustige Leute sind.«
»Ich denke gar nicht daran, mit dir zu feilschen, Gromo-
seka«, sagte ich. »Begreifst du wirklich nicht, daß Alissa zur
Schule gehen muß?«
»Was denn, zu so einem Monster von Lehrerin, die Mäuse
und Spinnen quält? Die womöglich auch über mich hergefallen
wäre, wenn Alissa mich nicht gewarnt hätte?«
»Genau. Dieses Monster ist nämlich eine bezaubernde, gü­
tige und zartfühlende Frau - das ganze Gegenteil von dir dick­
häutigem Egoisten.«
»M-moment mal, so streiten Sie doch nicht«, sagte da Pe-
trow. »Wann beginnen Alissas Ferien?«
»In fünf Tagen«, antwortete meine Tochter.
»Und wie lange dauern sie?«
»Eine Woche.«
»Na wunderbar, Professor, lassen Sie Ihre Tochter diese eine
Woche mit uns fahren. Wahrscheinlich werden wir sowieso
erst zu Ferienbeginn mit dem Verladen fertig.«
»Halt!« protestierte Gromoseka. »Ich bin doch noch gar nicht
20
richtig zum Feilschen gekommen ... Also dann - sechsund­
zwanzig Tage.«
»Nein.«
»Zweiundzwanzig!«
»Kommt nicht in Frage!«
»Du bist ein grausamer Mensch, Selesnjow. Jetzt tut mir’s
richtig um das kleine Sträußchen gestern leid ... Nun gut -
achtzehn Tage und keine Minute weniger.«
»Weshalb muß es denn so lange sein?«
»Na, zwei Tage Hinflug, zwei Tage zurück und zwei Wo­
chen vor Ort.«
»Einverstanden«, sagte ich. »Vier Tage Weg, fünf Tage Ko-
leida und einen Tag für unvorhergesehene Zwischenfälle.
Macht zusammen zehn Tage. Ich geh gleich morgen in die
Schule und bitte darum, daß man Alissa nach den Ferien für
weitere drei Tage beurlaubt. Das ist mein letztes Wort.«
»Also gut«, stimmte Gromoseka zu. »Und was ist, wenn wir
plötzlich in einen Meteoritenschwarm geraten und aufgehalten
werden?«
»Das wäre dann nicht eure Schuld.«
»Hast du eben gut zugehört, Alissa?« sagte Gromoseka.
»Morgen bekommst du genaue Anweisungen von mir. Doch
nun möchte ich Ihnen, verehrte Zeitler, erst einmal erläutern,
was für ein Glück wir haben, daß dieser hartherzige Professor
einverstanden ist, uns sein prächtiges Töchterchen anzuver­
trauen. Hören Sie also aus meinem Munde, wie Alissa seiner­
zeit die Drei Kapitäne fand und die Galaxis vor den kosmi­
schen Piraten rettete.«
Und Gromoseka berichtete ausführlich, wie wir mit dem
»Pegasus« unterwegs gewesen waren, um Kosmostiere zu fan­
gen, und dabei den Zweiten Kapitän ausfindig gemacht hatten.
Seine Schilderung war so weit von der Wahrheit entfernt, daß
ich ihn gar nicht erst unterbrach, sondern zu Petrow und Ri­
chard sagte: »Glauben Sie von allem nur den zehnten Teil. Und
du, Alissa, geh an deine Schularbeiten, sonst bist du am Ende
wirklich noch überzeugt, all diese Heldentaten vollbracht zu
haben.«
21
»Na ja«, erwiderte Alissa, »sagen wir mal so: Heldentaten hab
ich nicht gerade vollbracht, mich aber wacker geschlagen. Doch
nun tschüs, ich setz mich an die Schularbeiten. Wir sehen uns
im Kosmos wieder.«
Als Gromoseka seinen Bericht über Alissa beendet hatte,
fachsimpelten die Zeitler noch eine Weile. Sie klärten ab, was
zusätzlich zur Koleida mitzunehmen sei, und brachen erst weit
nach Mitternacht auf.
Beim Zubettgehen fragte ich meinen Freund: »Und jetzt ver­
rat mir mal, du alter Heimlichtuer, warum du so darauf bestan­
den hast, Alissa mit zur Koleida zu nehmen.«
»Ach, nicht der Rede wert«, erwiderte Gromoseka, »ich
wollte der Kleinen bloß eine Freude machen.«
»Das glaub ich dir nicht, trotzdem, was soll’s ...«
»Ich werde höchstpersönlich auf sie aufpassen«, versprach
Gromoseka und ringelte sich behaglich zu einer großen glän­
zenden Kugel zusammen. »Kein einziges goldenes Haar wird
von ihrem hübschen Köpfchen fallen.«
Vier Tage später nahmen die Schiffe Kurs auf die Koleida,
an Bord die in ihre Einzelteile zerlegte Zeitmaschine. Gromo­
seka und Alissa flogen mit dem ersten Schiff. Was sich auf je­
nem Planeten zutrug, erfuhr ich allerdings erst zwei Wochen
später, als Alissa wieder zu Hause war.

5
Die Schiffe setzten am frühen Morgen auf der Koleida auf. Als
sich die Luken öffneten, hatte der diepsthabende Funker be­
reits alle Archäologen geweckt, und sie eilten, sich im Laufen
ankleidend, über das staubige, von den Robotern und Ausgra­
bungsmaschinen zerwalzte Feld zu den Schiffen.
»Ich steige als letzter aus«, sagte Gromoseka zu Alissa und
den Zeitlern, »ihr seid Gäste, ich dagegen bin bloß ein beschei­
dener Archäologe. Man weiß hier schon, daß wir die Zeitma­
schine mitbringen, und wird sich sehr über euch freuen. Zieh
dich schön warm an, Alissa, ich habe deinem Vater verspro­
chen, daß du dir keine Erkältung holst. Allerdings besteht
22
diese Gefahr nicht im geringsten, denn Erkältungen werden
von Mikroben verursacht, und die gibt es auf der Koleida
nicht.«
»Wieso denn nicht?« fragte Alissa.
»Weil es auf der Koleida rein gar nichts gibt. Weder Men­
schen noch Tiere, weder Pflanzen noch Fliegen oder Mikro­
ben. Die kosmische Pest vernichtet sämtliches Leben.«
Als erste verließ Alissa das Raumschiff.
Der Expedition gehörten fünfunddreißig Archäologen an,
doch kein einziger stammte von der Erde. Es gab Lineaner, Fi-
xaner und Großohrige unter ihnen, und das einzige, was sie
gemeinsam hatten, war ihr Beruf. Was da zur Begrüßung ange­
treten war, besaß zwei, drei oder acht Beine, einer verfügte so­
gar über hundertvierundvierzig. Manche hatten gar keine
Füße, manche bewegten sich auf Tentakeln oder kleinen Rä­
dern vorwärts. Der kleinste der Archäologen hatte die Größe
eines Kätzchens, der gewaltigste von allen aber war unser
Freund Gromoseka. Und alle unterschieden sich auch in der
Anzahl von Händen, Augen, ja selbst Köpfen.
All diese Köpfe aber waren in Richtung Schiffsluke gewandt,
und als Alissa heraustrat, um ihren neuen Bekannten zuzuwin­
ken, schwenkten sie zur Antwort Arme und Tentakel, rie­
fen ihr in mehr als zwanzig Sprachen ein »Guten Tag!« entge­
gen.
Noch mehr freuten sich die Archäologen über das Auftau­
chen der Zeitler, und als sich der lustige Gromoseka mit einem
prallen Sack voller Briefe und Päckchen zur Luke heraus­
quetschte, sprangen sie vor Freude sogar in die Höhe. Sie nah­
men Gromoseka auf Arme und Tentakel und trugen ihn zu
den bunten Lagerzelten. Unterwegs wäre einer der Archäolo­
gen - der kleinste und zerbrechlichste - versehentlich fast tot­
getreten worden, doch Alissa hatte ihn rechtzeitig unter all den
Beinen, Tentakeln und Rädern entdeckt und hervorgezerrt.
»Danke, mein Mädchen«, sagte der Archäologe, der sich auf
Alissas Hand zu einem Knäuel zusammengerollt hatte. »Viel­
leicht kann ich dir mal Gutes mit Gutem vergelten. Meine
Freunde haben sich ein bißchen hinreißen lassen.«
23
Der Archäologe hatte ein hellgrünes flauschiges Fell und ein
kleines stupsnasiges Gesicht mit einem fliederfarbenen Auge.
»Ich bin der größte Spezialist der Galaxis auf dem Gebiet al­
ter Sprachen«, erklärte er. »Es gibt keine kybernetische Ma­
schine, die sich mit mir messen könnte. Wenn sie mich totge­
trampelt hätten, wäre das ein großer Verlust für die Wissen­
schaft insgesamt und für die Expedition im besonderen
gewesen.«
Selbst in einem so schweren Augenblick dachte der kleine
Archäologe nicht an sich, sondern an die Sache.
Alissa brachte den Verletzten, der Rrrr hieß, ins größte der
Zelte, wo sich bereits die andern versammelt hatten. Mit Pe-
trows Hilfe machte sie den Arzt der Expedition ausfindig -
einen traurig wirkenden und an eine Gießkanne erinnernden
Bewohner vom Planeten Kromanjan. Nachdem ihr der Arzt
versichert hatte, daß dem Kranken keinerlei Gefahr drohe, be­
gann sie der Unterhaltung der Archäologen zu lauschen.
Wie sich herausstellte, hatten die Mitglieder der Expedition,
während ihr Leiter wegen der Zeitmaschine zur Erde geflogen
war, nicht die Hände in den Schoß gelegt. Sie hatten eine kom­
plette kleine Stadt ausgegraben, mit all ihren Häusern, Straßen,
Schuppen, Fabriken, Kinos und der Eisenbahnstation. Nach
dem Mittagessen an der langen, gemeinsamen Tafel, wo Gro-
moseka den anderen von seinen Abenteuern auf der Erde er­
zählte, wurden diese Ausgrabungen besichtigt.
Natürlich hatten die hundert Jahre seit dem Untergang der
Stadt mit Wind, Regen und Schnee das Ihre zur Vernichtung
beigetragen. Dennoch hatten die Steinhäuser standgehalten,
wenn auch ihre Dächer und Fenster fehlten. Verwittert, doch
nicht gänzlich verschwunden waren die Fahrbahnen, zu deren
Seiten hohe, rindenlose Baumstümpfe aufragten. Am besten
war das alte Schloß auf einem Hügel über der Stadt erhalten.
Es zählte mehr als tausend Jahre, aber seine Mauern, aus ge­
waltigen Steinplatten gefügt, hatten allen Angriffen von Regen
und Wind standgehalten.
Die Archäologen hatten das ausgetrocknete Holz mit einer
Leimlösung bestrichen, umherliegende Steine und Ziegel wie-
24
der an ihre ursprüngliche Stelle gelegt, vorsichtig den hundert
Jahre alten Staub und Schmutz von den Straßen gekehrt, und
so wirkte die Stadt an diesem hellen, sonnigen Tag zwar ein
bißchen alt und mitgenommen, doch immerhin sauber und fast
echt. Ganz so, als hätten die Menschen sie erst vor kurzem ver­
lassen.
Die Bewohner der Stadt mußten von kleinem Wuchs gewe­
sen sein, kleiner jedenfalls als Erdenmenschen, ihnen jedoch
sehr ähnlich. Als Alissa eines der restaurierten Häuser betrat,
erwies sich, daß Tisch, Bett und Stühle darin eigens für sie ge­
macht schienen.
Neben dem Bahnhof stand ein kleiner Zug. Die Lokomotive
besaß einen langen Schornstein, und die Wagen mit den gro­
ßen runden Fenstern und den gewölbten Dächern erinnerten
an alte Kutschen.
Einer der Archäologen, der sich besonders aufs Restaurieren
verstand und diesen Zug aus einem Haufen Schrott wiederher­
gestellt hatte, wollte die Gäste lange nicht von der Bahnstation
weglassen. Sie sollten unbedingt die Genauigkeit würdigen,
mit der er all die Griffe, Knöpfe und Hebel in dem alten Trans­
portmittel angebracht hatte.
Dann besichtigten die Gäste das Museum, in dem die Ar­
chäologen die kleineren Funde zusammengetragen hatten: Bil­
der, Statuen, Geschirr, Kleidung, Hausrat, Schmuck und ande­
res mehr. Man sah, wieviel Mühe sie hatten aufwenden müs­
sen, um all diese Gegenstände wieder zum Leben zu erwecken.
»Konnten Sie eigentlich g-genau feststellen, wann und wo­
durch die Koleida zugrunde ging?« erkundigte sich Petrow, als
sie das Museum wieder verlassen hatten.
»Ja«, erwiderte der kleine Archäologe Rrrr. »Ich habe ein
paar übriggebliebene Zeitungen und Zeitschriften durchgese­
hen und viele Dokumente gefunden. Ursache für den Unter­
gang war eine Epidemie, die vor genau einhundert Jahren, drei
Monaten und zwanzig Tagen ausbrach. So, wie sie von den ver­
ängstigten Planetenbewohnern beschrieben wird, muß es sich
tatsächlich um die kosmische Pest handeln.«
»Aber wie ist ihr Erreger auf die Koleida gekommen? Die
25
Viren selbst können die Atmosphäre doch nicht durchdrin­
gen. Hat sie jemand eingeschleppt? Brachte ein Meteorit sie
mit?«
»Das konnten wir bisher nicht herausfinden«, erwiderte Rrrr,
»aber es gibt verschiedene Möglichkeiten. Bekannt ist nur, daß
die ersten Meldungen über diese rätselhafte Erkrankung im
Jahre dreitausendachtzig hiesiger Zeitrechnung in den Zeitun­
gen erschienen. Am achten Tag des dritten Monats.«
»Den genauen Hergang der Dinge werden unsere Freunde,
die Zeitler, ergründen«, ergänzte Gromoseka. »Deswegen sind
sie ja hergekommen. Wir können also feststellen, daß wir das
Problem fast geklärt haben!«
Gromoseka gestikulierte mit den Fangarmen, riß den gewal­
tigen Rachen auf, und alle Archäologen riefen »Hurra!« Bloß
der Zeitler Petrow sagte leise: »Richtig, aber eben nur fast.«

6
Fünf Tage lang waren sämtliche Archäologen, Zeitler und
Schiffsbesatzungen damit beschäftigt, die Zeitmaschine und
die für sie notwendigen Atombatterien aufzustellen. Schließ­
lich ragte mitten auf dem Feld ein Gebilde auf, das die Höhe
eines dreistöckigen Hauses besaß.
Die Zeitkabine selbst nahm nur wenig Platz im Zentrum die­
ses Gebildes ein, alles übrige waren Kontrollgeräte, Steuer­
pulte, Ersatzblöcke, Hilfsapparaturen und das kybernetische
Hirn.
Die Ausgrabungen waren gestoppt worden - welchen Sinn
hatte es, in Überresten zu wühlen, wenn man all diese Dinge
und ihre Besitzer in natura betrachten konnte?
»N-na dann«, sagte am Morgen des sechsten Tages Petrow,
»die Montage der Zeitmaschine ist beendet. Die Kabine bietet
nur einer Person Platz, und da sich dieses Modell noch im Ver­
suchsstadium befindet, also niemand weiß, wie das Ganze aus­
geht, werde ich selbst in die Vergangenheit reisen.«
»Kommt gar nicht in Frage!« protestierte Richard und gesti­
kulierte mit seinen langen dünnen Armen. »Schon vier Tage
26
streiten wir uns darüber, und ich hatte Sie doch überzeugt, daß
ich fahren muß.«
»Und warum?« fragte Alissa, die sich überall mit Staub und
Graphit beschmiert hatte. Sie war so beschäftigt, daß sie nicht
einmal die Zeit zum Waschen und Kämmen fand: Da mußte
den Technikern geholfen, ein Blick auf die Ausgrabungsstätten
geworfen und mit dem gutmütigen Rrrr auf Erkundungsflug
gegangen werden; der kleine Archäologe konnte ihr nichts ab-
schlagen - schließlich hatte sie ihn vor dem Tod bewahrt.
»Ganz einfach«, erwiderte Richard. »Sollte mir etwas zusto­
ßen, so können hundert andere Mitarbeiter des Zeitinstituts
meinen Platz einnehmen. Würde aber dem Akademiemitglied
Petrow etwas passieren, gibt es niemanden in der Galaxis, der
ihn ersetzen könnte. Das ist doch nur logisch. Und dann - was
kann mit unsrer Maschine schon schiefgehn?«
»Um so besser«, sagte Petrow, »D-disziplin muß sein. Ich
trage die V-Verantwortung sowohl für die Maschine als auch
für dich, Richard.«
»Ich würde ja selbst in die Vergangenheit reisen«, erbot sich
Gromoseka, »nur passe ich partout nicht in die Zeitkabine.«
»Die Sache ist klar«, sagte da Alissa, »ich werde fliegen.«
Alle lachten, niemand nahm ihren Vorschlag ernst. Alissa
war richtig gekränkt und hätte um ein Haar losgeheult, doch
während die beiden Zeitler noch immer stritten, wer von ihnen
als erster starten sollte, zog Gromoseka sie mit einem seiner
Fangarme sacht beiseite und flüsterte: »Hör mal, Mädchen, daß
ich dich hierher eingeladen habe, war nicht gar so uneigennüt­
zig. Ich denke, du mußt auf jeden Fall in die Vergangenheit
reisen. Nur nicht gleich. Später allerdings wirst du dafür den
schwierigsten Teil der Arbeit zu erfüllen haben. Für Einzelhei­
ten ist es noch zu früh, doch schwöre ich dir bei allen Unge­
heuern des Kosmos, daß wir beide im entscheidenden Augen­
blick das Kommando übernehmen.«
»Wie denn?« sagte Alissa. »Wir sind bereits sechs Tage hier,
und übermorgen geht die Frachtrakete zur Erde ab, in der
schon ein Platz für mich reserviert ist.«
»Du glaubst mir wohl nicht!« Der Archäologe blies empört

27
gelben Rauch aus seinen Nüstern. »Stellst das Ehrenwort eines
Gromoseka in Zweifel! Wenn das so ist, habe ich mich tief in
dir getäuscht, und du bist der dir zugedachten Ehre nicht
wert.«
»Und ob ich ihrer wert bin«, beeilte sich Alissa zu versi­
chern, »ich schweig ja schon.«
Sie gesellten sich wieder zu den Zeitlern.
»Also a-abgemacht«, sagte Petrow zu Richard, mit einem
Blick, als wolle er ihn hypnotisieren. »Morgen früh starte ich in
die Vergangenheit. Fürs erste wählen wir einen Zeitpunkt, da
die Epidemie auf der Koleida bereits in vollem Gange war. Es
wird sich um einen Kurzflug handeln, nicht länger als eine
halbe Stunde. Ich entferne mich nicht allzu weit von der Ma­
schine und komme zurück, sob-bald ich etwas in Erfahrung ge­
bracht habe. Wenn alles gut geht, dauert der nächste Ausflug
in die Vergangenheit länger. Ist alles klar?«
»Aber Michail Petrowitsch ...«, begann Richard.
»Schluß jetzt. Überprüf lieber noch mal das Sicherheitssy­
stem, wenn du willst, daß dein Vorgesetzter keinen Schaden
nimmt.«
»Wichtig wäre«, meldete sich Rrrr zu Wort, der den Streit
verfolgt hatte, »daß Sie eine Zeitung von dort mitbringen.
Oder gleich ein paar.«
»Geht in Ordnung«, versprach Petrow. »Noch etwas?«
»Ja. Sie müßten mit in mein Labor kommen«, sagte der Dok­
tor, der an eine Gießkanne erinnerte, »und in einem Hypnose­
kurs die Landessprache erlernen. Das dauert zwei Stunden und
könnte Ihnen von Nutzen sein.«

7
Am nächsten Morgen erwachte Alissa von einem Summen, das
von einer riesigen Biene direkt über dem Zelt zu stammen
schien. Es war kalt, der Wind zauste den Zeltvorhang, und
Gromoseka wälzte sich auf seiner Unterlage, wobei er im
Schlaf mit den Fangarmen zuckte wie ein Welpe mit den Pfo­
ten.
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»Alissa«, ertönte es leise vom Zelteingang her. Der untere
Rand des Vorhangs war seitlich angehoben, und in der schma­
len Öffnung funkelte das fliederfarbene Auge von Rrrr. »Willst
du zuschaun, wie die Zeitmaschine erprobt wird?«
»Aber ja!« flüsterte Alissa. »Sofort, ich zieh mich nur schnell
an.«
»Und zwar schön warm«, sagte plötzlich Gromoseka, ohne
die Augen zu öffnen. Er hatte ein ausgezeichnetes Gehör,
selbst im Schlaf.
»Hast du ihn geweckt?« fragte Rrrr.
»Nein, er schläft. Nur muß er sich immerfort um mich küm­
mern, das hat er meinem Vater versprochen.«
Alissa kroch aus dem Zelt. Auf der Erde lag stellenweise
bläulicher Reif. Die Zelte waren zugebunden, und nur über
dem äußersten, das die Küche beherbergte, stieg feiner Rauch
auf. Das Lager hielt noch Ruhe.
Die Sonne kam gerade erst hinter den Bergen hervor, die an
einen dichten Kamm mit ausgebrochenen Zähnen erinnerten,
sie warf lange Schatten, und das von den Archäologen freige­
legte Städtchen schimmerte fliederfarben wie Rrrrs Auge.
Alissa rannte zur Maschinenhalle, aus der das tiefe Brum­
men drang.
»Ich glaube«, plapperte ohne Unterlaß Rrrr, der wie ein klei­
nes Kätzchen hinter ihr herlief, »die Zeitler wollten ihre Ma­
schine ohne Zuschauer in Betrieb nehmen. Um so wenig Auf­
hebens wie möglich zu machen. Es sind sehr vorsichtige, ja, ich
würde sagen, seltsame und bescheidene Leute. Doch ich hielt
es für meine Pflicht, dich zu wecken, Alissa, schließlich bist du
meine Freundin. Allein hätte ich auch nicht das moralische
Recht, zu beobachten, wie der allererste Mensch auf der Welt
um hundert Jahre in die Vergangenheit reist und dort zu erfah­
ren sucht, was mit diesem unglücklichen Planeten passiert
ist ... Vorsicht! Wenn sie uns entdecken, jagen sie uns viel­
leicht weg ...«
Doch es war schon zu spät. Petrow, in langem Kittel und mit
einem hohen Hut, wie sie die Barbiere auf der Koleida trugen,
schaute aus der Tür. Er erblickte die beiden.
30
»Und ich dachte, wir hätten niemanden wach gemacht«,
sagte er aufgeräumt. »Na, dann kommt mal herein, wenn ihr’s
schon mitgekriegt habt - draußen ist es ja so kalt. Schläft Gro-
moseka?«
»Ja«, sagte Alissa.
»Ein Glück, er hätte mich sonst womöglich mit Musik und
Reden feierlich verabschiedet. Nun tretet schon näher, der
Versuch fängt gerade erst an.«
Im Innenraum stand neben der offenen Tür zur Zeitkabine
Richard und drückte nacheinander sämtliche Knöpfe. Dabei
beobachtete er die Instrumente auf dem Steuerpult.
»Alles bereit?« erkundigte sich Petrow.
»Ja, Sie können starten. Trotzdem würde ich Sie ein letztes
Mal bitten ...«
»K-kommt nicht in Frage«, erwiderte Petrow und stülpte sich
die Kapuze über die Stirn. »Ich seh wohl schwerlich wie ein
echter Friseur aus, aber ich hab ja nicht vor, mich weit von der
Maschine zu entfernen.«
Richard richtete sich auf, bemerkte Alissa und den kleinen
Archäologen und sagte: »Guten Morgen, ihr seid schon aufge­
standen?« Die Überprüfung der Zeitmaschine nahm ihn so in
Anspruch, daß er nicht einmal erstaunt war.
»Auf Wiedersehen, F-freunde«, sagte Petrow, »zum Früh­
stück bin ich wieder da. Gromoseka wird Augen machen!« Er
betrat die Kabine und schloß die durchsichtige Tür hinter sich.
Richard ging zum Steuerpult, beobachtete dort aber, ohne
etwas zu berühren, nur weiter die Instrumente. Sämtliche
Knöpfe befanden sich in der Kabine selbst und wurden von Pe­
trow bedient.
Das Brummen verstärkte sich plötzlich und erstarb gleich
darauf. Petrow war verschwunden. An seiner Stelle hatte sich
ein Nebelballen gebildet, der sich aber ebenfalls auflöste.
»Das wär’s«, sagte Richard, »wie’s scheint, ist alles normal
verlaufen.«
Alissa sah, daß er die Hände gefaltet hatte, und wunderte
sich. Die Zeitwissenschaftler waren genauso abergläubisch wie
die Schüler vor der Prüfung.
31
»Wann kommt er denn zurück?« fragte sie, stolz darauf, daß
sie als erste mit angesehen hatte, wie ein Zeitler in die Vergan­
genheit aufbrach. Selbst Gromoseka hatte diesen Augenblick
verschlafen.
»In einer Stunde«, erwiderte Richard.
In der Zentrale der Zeitstation war es jetzt sehr still. Alissa
holte einen Kamm aus der Tasche ihrer Kombination, kämmte
sich und gab ihn dann an Richard weiter. Er hatte es am Mor­
gen ganz offensichtlich vergessen.
»Hören Sie«, begann Rrrr, »in der Vergangenheit gibt es
doch keine zweite Zeitkabine, nicht wahr? Da landet Akade­
miemitglied Petrow dort wohl ganz ungeschützt?«
»So ist es«, bestätigte Richard, der sich ein bißchen wun­
derte, was für naive Fragen ihm gestellt wurden. »Wenn wir im
Zeitinstitut arbeiten, installieren wir am anderen Ende der Lei­
tung genau die gleiche Kabine. Die Reise hin und zurück ist
dann einfach und sicher. Bei Versuchsmodellen und transpor­
tablen Maschinen wie hier dagegen müssen wir mit nur einer
Kabine auskommen. Für diese Erfindung hat Akademiemit­
glied Petrow ja auch den Nobelpreis bekommen.«
»Heißt das, er bewegt sich auf freiem Feld?« fragte Alissa
entsetzt. Sie stellte sich vor, wie Petrow allein und schutzlos
vor aller Augen herumlief, und sie bekam Angst um ihn.
»So ungefähr«, antwortete Richard. »Vielen Dank auch für
den Kamm.«
»Bitte sehr.«
»Petrow kennzeichnet exakt den Punkt, an dem er in der
Vergangenheit ankommt«, fuhr der Zeitler fort, »und stellt sich
bei der Rückkehr auf genau dieselbe Stelle. Das Rechenhirn er­
hält dann das Signal: Zeitreisender wieder eingetroffen und
zur Heimkehr bereit. Dadurch wird die Automatik ausgelöst.
Meine Anwesenheit ist eigentlich gar nicht erforderlich. Ich
steh bloß für alle Fälle hier.«
»Und wenn ein anderer diese Stelle betritt?« fragte Alissa.
»Wenn sich zum Beispiel eine Kuh dorthin verirrt?«
»Eine gute Frage«, erwiderte Richard. »In solch einem Fall
wird das Signal ausgelöst: Objekt im Wirkungsbereich der Zeit-
32
maschine nicht mit dem der Herreise identisch. Dann verwei­
gert die Apparatur schlicht und einfach den Dienst.«
»Und was ist, wenn er zum Beispiel verletzt ist, nicht auf­
recht stehen, sondern nur kriechen kann?« Alissa ließ nicht lok-
ker.
»Red keinen Unsinn!« fuhr Richard erbost auf. »Natürlich
kann alles mögliche passieren, deshalb wollte ja ich fahren. Du
aber kommst mit deinen blöden Fragen!«
Alissa schwieg - ihre Fragen waren ganz und gar nicht blöde
gewesen. Sie trat dichter an die Zeitkabine heran und betrach­
tete die Schaltknöpfe. Ins Innere freilich ging sie nicht, denn
jeden Augenblick konnte Petrow wieder auftauchen und mit
ihr zusammenprallen.
Richard trat gleichfalls näher. Er fühlte sich unbehaglich,
weil er dem Mädchen so grob gekommen war, und begann das
Gerät zu erklären: »Siehst du den grünen Knopf rechts? Petrow
hat ihn gedrückt, damit sich die Tür der Zeitkabine schloß.
Dann betätigte er den zweiten, den weißen Knopf und schal­
tete damit das Zeitfeld ein. Zu diesem Zeitpunkt hast du ihn
noch gesehen. Schließlich drückte er den roten Knopf - und
befand sich in der Vergangenheit. An jenem Punkt, den wir
vorher genau berechnet hatten und auf den die Apparatur ein­
gestellt ist.«
»Er selbst kann also nicht bestimmen, wohin er will?«
»Nein, das ist kompliziert und nur mit einer Vielzahl von In­
strumenten möglich. Wir haben die ganze Nacht gebraucht,
um die Maschine darauf auszurichten.«
»Und wohin ist er nun geraten?«
»In die Zeit vor einhundertundeinem Jahr. Es sind jene
Tage, als die Epidemie bereits ausgebrochen war, die Leute
aber noch lebten.«
Unvermutet verstärkte sich das Brummen wieder.
»Achtung!« sagte Richard.
Drei Sekunden später bildete sich ein Nebelwölkchen in der
Kabine, das sich gleich darauf in Petrow verwandelte.
Er hatte sich kein bißchen verändert. Er warf die Kapuze zu­
rück, öffnete die Kabinentür und kam heraus.
33
»Das wär’s«, sagte er, wie ein Zahnarzt, der gerade eine
Plombe angebracht hatte. »Ich bin wieder da.«
»Ja und?! Was ist?!« fragte der kleine Rrrr aufgeregt. Er
rannte zu Petrow und sah gespannt zu ihm hoch.
»Das weiß ich noch nicht«, sagte Petrow, »ich war sehr in
Eile, weil ich nicht wollte, daß ihr euch Sorgen macht. Hier -
Ihre Zeitungen.« Er holte einen Packen Zeitungen aus der In­
nentasche seiner Jacke und reichte alles dem Archäologen.
Rrrr nahm die Zeitungen mit seinem langen haarigen Ärm­
chen entgegen und schlug eine davon auf. Sie war größer als er,
so daß der kleine Archäologe völlig dahinter verschwand.
»Dann gehn wir jetzt mal«, sagte Petrow. »Richard, schalte
den Strom ab. Es wird Zeit, daß wir die anderen informieren.
Außerdem gibt’s bald Frühstück. Bestimmt sind schon alle
wach.«
»Gromoseka wird gewiß böse sein, weil Sie ihn nicht ge­
weckt haben«, sagte Alissa.
»Das w-wird er nicht«, erwiderte Petrow und legte den lan­
gen Kittel ab.
Sie begaben sich zum Ausgang: allen voran Richard, danach
Petrow mit Alissa an der Hand, und zum Schluß die aufge­
schlagene Zeitung mit Rrrr dahinter.
»Gromoseka ...«, begann Alissa erneut, denn sie platzte vor
Stolz, etwas gesehen zu haben, was ihr Freund verschlafen
hatte. Doch sie kam nicht dazu, den Satz zu vollenden - vor
der Tür zur Zeitstation saß im Sand Gromoseka, und alle ande­
ren Archäologen standen um ihn herum.
»Na so was«, sagte Richard, »und wir dachten, Sie schlafen.«
»Niemand hat geschlafen«, sagte Gromoseka gekränkt. Aus
seinen Nüstern quoll dichter gelber Rauch, der stark nach Bal­
drian roch.
»Niemand hat geschlafen«, bestätigten auch die übrigen Ar­
chäologen.
»Wir wollten Sie bloß nicht stören. Und wir haben unse­
ren Stolz. Wenn wir nicht eingeladen werden - um so bes­
ser.«
»Entsch-schuldigen Sie bitte«, stotterte Petrow.

34
»Keine Ursache«, Gromoseka lächelte, »so böse sind wir
Ihnen gar nicht. Wir gehn jetzt rüber in den Speiseraum, und
dort erzählen Sie uns alles. Oder glauben Sie, daß es uns leicht
gefallen ist, hier in der Kälte zu warten?«
»Und zu bangen?« fügte jemand hinzu.
Und alle begaben sich in den Speiseraum.

8
»Sie essen ja gar nicht«, sagte Petrow mit einem Blick auf die
Archäologen. »Gut, dann erzähle ich Ihnen jetzt kurz, was ich
in der Vergangenheit gesehen habe. Danach machen wir uns
ans Frühstück.«
Die Versammelten nickten zustimmend.
»Ich verließ die Kabine wohlbehalten«, begann Petrow, »alles
war haargenau berechnet. Der Zielpunkt befand sich auf einer
Lichtung nahe der Stadt, etwa dreihundert Meter vom letzten
Haus entfernt. Ich markierte den Landeort und eilte zur Stadt.
Es war früher Morgen, und alle Leute schliefen noch. Genauer
gesagt, nicht alle, doch die meisten. Ich hatte aber kaum hun­
dert Schritt zurückgelegt, als ich auf der Straße, die in die Stadt
führte, mehrere Autos mit blauen Kreisen sah.«
»Das ist die drin glich e Hilfe<«, sagte Gromoseka, »das ha­
ben wir bereits herausgefunden.«
»Genau, die drin glich e Hilfec Mir war das auch bekannt,
und ich begriff, daß unsere Vermutung stimmte: In der Stadt
herrschte eine Epidemie. Ich mußte dorthin.«
»Moment«, rief plötzlich Rrrr, »haben Sie sich überhaupt
impfen lassen?!«
»Aber ja«, sagte Petrow. »Sämtliche Impfungen gegen sämtli­
che bekannten kosmischen Krankheiten, folglich auch gegen
die kosmische Pest.«
Gromoseka schien ein Gedanke gekommen zu sein, denn er
holte ein Notizbuch aus der Tasche auf seinem runden Bauch
und kritzelte ein paar Worte hinein.
»Die Wagen machten am K-krankenhaus halt ...«, fuhr Pe­
trow fort.
35
»Das wissen wir«, sagte ein Archäologe, der an eine Libelle
mit langen Beinen erinnerte, »wir haben es freigelegt.«
Petrow seufzte.
»Wer unsern Professor noch mal unterbricht«, sagte grollend
Gromoseka, »wird fortgebracht und ins Zelt gesperrt.«
»Richtig«, unterstützten ihn die Archäologen.
»Ich sah, wie Kranke auf Tragen aus den Autos gehoben
wurden, doch ich hielt mich dort nicht weiter auf. Ich wußte ja,
daß Richard auf mich wartet und sich Sorgen machen würde.
Dann begab ich mich zum Zeitungskiosk. Der hatte zwar geöff­
net, doch war keiner zu sehen. Ich warf einen Blick hinein und
sah den Verkäufer am Boden liegen.
>Ist Ihnen schlecht?< fragte ich.
>Mich hat’s anscheinend auch erwischtt, sagte der Mann.
>Ich brauche ein paar Zeitungent, sagte ich.
>Nehmen Sie, was Sie wollent, erwiderte der Verkäufer, >nur
holen Sie die Sanitäter. Ich hab nicht mehr die Kraft, allein
wegzukommen.<
Da griff ich mir sämtliche Zeitungen, derer ich habhaft wer­
den konnte, und eilte zum Hospital. Ich erklärte den Sanitä­
tern, im Zeitungskiosk läge ein Kranker, doch sie winkten bloß
ab. Sie waren offenbar zu Tode erschöpft. Ich warf einen Blick
durchs Fenster und sah, daß das Krankenhaus übervoll war.
Ich rannte zurück zum Kiosk und schleppte den Verkäufer
heraus. Der Mann war ganz klein ..., na ja, fast wie Alissa ...,
und überhaupt nicht schwer. Ich legte ihn am Eingang zum
Krankenhaus nieder, ging aber nicht hinein, weil mich ohne­
hin alle mißtrauisch beobachteten - immerhin war ich fast
doppelt so groß wie die Leute dort.
Dafür hab ich aber ununterbrochen fotografiert, alles, was
mir in den Weg kam. Bestimmt können sich die Spezialisten
unter Ihnen auf Grund des Materials jetzt ein Bild machen.
Außerdem hab ich etwas Kleingeld aus dem Kiosk mitgenom­
men - der Verkäufer brauchte es sowieso nicht mehr, und uns
kann es, wenn wir erneut in die Vergangenheit aufbrechen,
von Nutzen sein ... Das ist eigentlich schon alles. Nun können
wir frühstücken.«
36
»Augenblick noch«, sagte Gromoseka, »bevor wir mit Essen
anfangen, möchte ich alle Archäologen und Gäste ohne Aus­
nahme bitten, den Sanitätsstützpunkt aufzusuchen.«
»Wieso denn das?«
»Sie müssen gegen die kosmische Pest geimpft werden. Und
wie ich schon sagte - ausnahmslos alle.«
Alissa liebte Impfungen ganz und gar nicht, dennoch hatte
sie es eilig aufzubrechen. Gromoseka bemerkte es, ging zu ihr
und sagte, laut flüsternd: »Hör zu, Töchterchen, an dich hab
ich eine besondere Bitte. Du wirst dich nicht nur gegen die
kosmische Pest impfen lassen, sondern auch gegen alle ande­
ren nur möglichen Krankheiten. Der Arzt weiß schon Be­
scheid.«
»Aber weshalb denn das? Ich vertrag die Spritzen so
schlecht.«
»Weißt du nicht mehr, daß ich dir eine besondere Aufgabe
versprach? Ohne die Spritzen brauchen wir gar nicht darüber
zu reden.«
So blieb Alissa nichts weiter übrig, als sich im Stützpunkt
impfen zu lassen, acht Tabletten zu schlucken und furchtbar
salzige Tropfen gegen das Haarezittern einzunehmen - eine
merkwürdige Krankheit, die noch niemand je gehabt hatte.
Doch die Ärzte nahmen an, daß irgendwer sie unbedingt be­
kommen würde.
Alissa ließ mannhaft alle Qualen über sich ergehen, denn sie
glaubte Gromoseka; grundlos hatte er sie gewiß nicht darum
gebeten.
Nach all den Spritzen und Tabletten ging es Alissa schlecht.
Sie bekam Schüttelfrost, Kopfschmerzen und Zahnweh, doch
der Doktor, der an eine Gießkanne erinnerte, sagte, das müsse
so sein, am nächsten Morgen wäre alles wieder vorbei. So lag
Alissa im Zelt und brauchte nichts zu tun, während alle ande­
ren Petrow ausfragten und die Fotos betrachteten.

37
9
Der treue Rrrr brachte Alissa das Mittagessen. Es fiel ihm
schwer, das Tablett mit den Tellern zu schleppen, denn es war
viel größer als er selbst. Deshalb hatte er eine Art Karren dafür
konstruiert.
»Hier, iß«, sagte er, »sonst wird es kalt.«
»Ich möchte nicht, Rrrr«, erwiderte Alissa. »mir geht’s
scheußlich.«
»Was für ein schwaches Wesen du doch bist«, sagte Rrrr vor­
wurfsvoll. »Ich zum Beispiel laufe nach dieser Spritze herum
wie nichts.«
»Sie haben ja auch nur eine einzige bekommen, ich dagegen
viele.«
»Warum denn das?« fragte der kleine Archäologe erstaunt.
Er wußte offenbar nicht, daß Alissa das komplette Impfpro­
gramm eines Kundschafters über sich ergehen lassen mußte,
der auf einen unerforschten Planeten geschickt wird.
»Wahrscheinlich hat Gromoseka Angst um mich. Er hat mei­
nem Papa doch versprochen, auf mich aufzupassen.«
»Sicher, so wird es sein«, bestätigte Rrrr. »Und ich versichere
dir, daß du mir sehr leid tust. Ich hätte dir die Spritzen gern ab­
genommen.«
»Danke«, sagte Alissa. »Gibt’s was Neues?«
»Aber ja, eine ganze Menge«, antwortete der kleine Archäo­
loge. »Wenn du die Suppe ißt, erzähl ich dir einiges davon.
Und wenn du dazu das Hauptgericht ißt, fast alles.«
»Ich eß lieber das Kompott, und Sie erzählen mir das Wich­
tigste«, schlug Alissa vor.
Doch der kleine Archäologe lächelte‘nur, zwinkerte mit sei­
nem fliederfarbenen Auge, und Alissa blieb nichts weiter übig,
als mit der Suppe anzufangen. Unterdessen begann Rrrr mit
seinem Bericht.
Am meisten waren den Archäologen die Zeitungen von N ut­
zen gewesen, die Petrow aus der Vergangenheit mitgebracht
hatte. Aus ihnen erfuhren sie, wie der unheilbringende Pestvi­
rus auf die Koleida gelangt war. Eine Woche zuvor war näm­
lich das erste Raumschiff des Planeten aus dem Kosmos zu-
38
rückgekehrt. Es sollte die Koleida einige Male umrunden und
danach ihren Trabanten, den kleinen Mond, umkreisen. Der
Flug verlief normal, und Tausende Koleidaner waren zum K os­
modrom geströmt, um die ersten Kosmonauten willkommen
zu heißen. Am Abend desselben Tages sollten die Raumfahrer
auf einem Meeting im Zentrum der Hauptstadt sprechen.
Doch sie erschienen nicht, denn sie wurden von einer rätsel­
haften Krankheit befallen. Die Zeitungen des betreffenden Ta­
ges berichteten darüber nur knapp und sehr verschwommen.
Am nächsten Tag aber, als auch die Angehörigen der Kosm o­
nauten erkrankten und all jene, die zur Begrüßung erschienen
waren, wurde klar, daß eine schlimme Infektion die Koleida
heimgesucht hatte. Drei Tage später hatte die Krankheit den
gesamten Planeten erfaßt.
»Du siehst also«, sagte Rrrr zum Abschluß seines Berichts,
»Gromoseka hatte von Anfang an recht. Es handelt sich ohne
Zweifel um die kosmische Pest. Unsere Spezialisten haben die
Fotos, die Petrow mitbrachte, aufmerksam studiert und bestäti­
gen diese Vermutung.«
»Das ist ja entsetzlich!« rief Alissa aus. »Kann man ihnen
denn kein bißchen helfen?«
»Wie soll man Leuten helfen, die vor mehr als hundert Jah ­
ren gestorben sind?« fragte der kleine Rrrr verwundert. »Aber
jetzt iß dein Kompott auf und schlaf. Morgen besuche ich dich
wieder.«
»Danke«, sagte Alissa. »Und was werden die Zeitler jetzt ma­
chen?«
»Die bereiten ihre Maschine für andere Reisen vor. Im
Augenblick sind sie gerade dabei, sie auf den Tag einzustellen,
an dem die Kosmonauten zurückkehrten. Sie wollen sich end­
gültig davon überzeugen, daß es tatsächlich die kosmische Pest
ist. Wir müssen soviel wie möglich über diese Krankheit in Er­
fahrung bringen, damit sie nicht auch noch andere Planeten be­
fällt. Deshalb begibt sich Richard morgen in die Vergangen­
heit, diesmal aber um eine Woche weiter zurück.«
Rrrr verbeugte sich und huschte davon - seine Flauschfüß­
chen tappten weich über den Zeltboden. Er hatte es so eilig, zu
39
seinen Zeitungen und Zeitschriften zu kommen, daß er sogar
den Karren vergaß.
Seine Schrittchen waren noch nicht verhallt, als der Zeltvor­
hang erneut beiseite geschoben wurde und Gromoseka höchst­
persönlich eintrat.
»Wer war eben bei dir?« fragte er. »Und was soll dieser Kar­
ren?«
»Der kleine Rrrr«, erwiderte Alissa.
Gromoseka trug ein Tablett mit Mittagessen. »Und wo hast
du das Kompott her?« fragte er streng.
Alissa schluckte den Rest der Nachspeise hinunter und
sagte: »Rrrr hat es mir gebracht. Und Suppe hab ich auch schon
gegessen.«
»Ajajaj!« Gromoseka war betrübt. »Und ich hab mir vom
Koch ein paar besonders leckere Sachen für dich geben lassen.
Willst du nicht ein zweites Mal essen? Deinem Onkelchen
Gromoseka zuliebe?«
»Nein, wirklich nicht, vielen Dank.«
»Du brauchst aber dringend Kalorien, Alissa.«
»Nicht mehr als sonst.«
»Und ob du mehr brauchst«, erwiderte Gromoseka, »deshalb
bin ich gekommen: Ich muß ernsthaft mit dir reden, von Wis­
senschaftler zu Wissenschaftler. Wie fühlst du dich?«
»Schon besser.«
»Viel besser oder nur wenig?«
»Viel. Ich kann sogar aufstehn.«
»Nein, das laß mal.«
Gromoseka stellte das Tablett mit dem Essen zerstreut auf
dem Fußboden ab, streckte zwei seiner Tentakel zum Zeltvor­
hang und band ihn zu. Dann kippte er sich den Teller Suppe in
den Rachen und sagte: »Die gute Nahrung darf schließlich
nicht umkommen. Das Kompott laß ich für dich.«
»Danke.«
»Alissa«, begann Gromoseka feierlich, »ist dir bekannt, daß
mich alle für ein naives, einfältiges Wesen halten?«
»Nicht alle«, widersprach Alissa.
»Nun ja, schlechte Menschen gibt es überall. Ich bin in der
40
Tat naiv und einfältig. Dafür kann ich aber auch in die Zukunft
schaun und nicht bloß in die Vergangenheit, wie einige unsrer
Freunde. Doch nun sag mir, weshalb ich dich mit in unsre E x­
pedition genommen habe.«
»Um mir ein Geburtstagsgeschenk zu machen«, anwortete
Alissa, obwohl ihr bereits klar war, daß dies nicht der einzige
Grund sein konnte.
»Richtig!« heulte Gromoseka begeistert auf. »Doch nicht nur
deshalb. Du darfst zwar den Planeten hier kennenlernen, einen
Blick auf die Ausgrabungen werfen und dich mit meinen Ka­
meraden bekannt machen, du darfst auch drei Tage Schule
schwänzen - das heißt, letzteres ist kein Geschenk, sondern
ein kleines Verbrechen - , doch nicht darum geht es mir. Wenn
du willst, kannst du übermorgen ins Frachtschiff steigen und
wieder nach Hause fliegen, wir bleiben trotzdem Freunde.
Aber ich glaube nicht, daß du das tun wirst. Denn ich kenne
deinen Vater, ich kenne dich, und ich weiß, daß du mir helfen
wirst.«
»Natürlich werd ich das«, bestätigte Alissa.
»Ich habe auf dem Flug zur Erde viel nachgedacht«, fuhr
Gromoseka fort, »und ich sagte mir: Da ist also der Planet Ko-
leida, zugrunde gegangen an der kosmischen Pest. Wir Archäo­
logen aber kommen hundert Jahre später hierher und schauen
auf die Scherben, die von ihm übriggeblieben sind. Wir
schauen nur und basta. Dann bringen wir diese Scherben ins
Museum und schreiben drauf: >Eine tote Zivilisation^«
»Und da habt ihr beschlossen, euch ans Zeitinstitut zu wen­
den.«
»Nein, das hatte ich schon eher. Sich bloß hinwenden bringt
übrigens gar nichts. Wir erfahren lediglich, welche Scherben
wir wo suchen müssen - das ist alles. Es mußte etwas anderes
unternommen werden, ich kam bloß nicht drauf, was. Dann
aber hab ich euch besucht, mich mit euch unterhalten, bin ins
Zeitinstitut gegangen und hab um eine Zeitmaschine gebeten.
Da erst kam mir die entscheidende Idee, deshalb brachte ich
euch die vielen Blumen. Und weißt du auch, welche Idee mir
kam?«
41
»Nein, welche denn?«
»Erinnre dich, Alissa. Warst du, als du zum ersten Mal die
Stadt betratst, nicht erstaunt, wie klein die Häuser, Betten und
Tische sind?«
»Doch, ja.«
»Aber sie sind nicht einfach klein - sie passen genau zu dir!
Und weißt du noch, was Petrow über die Blicke sagte, die ihn
begleiteten, als er den kranken Zeitungsverkäufer ins Hospital
trug?«
»Nein.«
»Er sagte, alle hätten ihn mißtrauisch angesehen, weil er
doppelt so groß war wie sie. Welche Schlußfolgerungen sind
daraus zu ziehen?«
Alissa schwieg. Sie wußte es nicht.
»Mein erster Schritt bestand darin, eine Zeitmaschine zu be­
sorgen«, fuhr Gromoseka fort. »Zweitens war herauszufinden,
ob sie wirklich an der kosmischen Pest zugrunde gingen. Der
dritte Schritt - die Zeitler mußten überredet werden, einen
Blick auf jenen Tag zu werfen, an dem die Krankheit den Pla­
neten befiel. Und der vierte Schritt?«
»Ja?!«
»Aha, du errätst es bereits! Der vierte Schritt besteht darin,
Alissa hinzuschicken. Vorausgesetzt natürlich, daß die Zeitma­
schine funktioniert und meiner Freundin keine Gefahr droht.
Weshalb aber schicken wir Alissa hin?«
»Damit ich ...«
»Richtig: Damit du zu genau dem Zeitpunkt an genau der
Stelle bist, wo die kosmische Pest auf .den Planeten gelangt,
und ein Mittel findest, sie im Keim zu ersticken. Was folgt dar­
aus? - Es wird keine Pest geben, der Planet lebt, und wir Ar­
chäologen haben hier nichts verloren. Alle werden >Hurra!< ru­
fen, und eine ganze Milliarde Menschen ist von einem einzi­
gen kleinen Mädchen gerettet worden.«
»Oh, ist das toll!« rief Alissa.
»Ps-s-st!« Gromoseka verschloß ihr mit einem seiner Tenta­
kel den Mund. »Man könnte uns vor der Zeit hören.«
»Und weshalb gerade ich?« fragte flüsternd Alissa.
42
»Weil du dieselbe Größe hast wie die Planetenbewohner.
Weil weder Petrow noch Richard, geschweige denn ich unbe­
merkt aufs Kosmodrom zu dem Schiff gelangen könnten. Du
aber wirst niemandem auffallen, denn du bist genauso klein
wie sie.«
»Und warum muß es geheim bleiben?«
»Nein wirklich, du bist doch nicht so schlau, wie ich dachte.
Soll ich vielleicht zu deinem Vater sagen: Hör zu, Professor,
ich möchte deine Tochter in die Vergangenheit eines fremden
Planeten schicken, damit sie ihn von einer schrecklichen
Krankheit befreit? Was, glaubst du wohl, würde er darauf er­
widern?«
Alissa überlegte einen Moment und s^gte: »Im großen und
ganzen ist mein Vater recht vernünftig, aber ich fürchte, er
würde antworten: Kommt gar nicht in Frage.«
»Genau. Denn du bist für ihn noch immer das kleine, unver­
ständige Mädchen, um das man sich sorgen muß. Dein Vater
hat nämlich einen Vaterinstinkt. Weißt du, was das ist?«
»Aber ja. Der Großvater hat seinen Großvaterinstinkt und
die Mutter ihren Mutterinstinkt. Und all diese Instinkte flü­
stern ihnen ein, daß ich mich immer warm anziehn soll und
nicht den Regenmantel vergessen darf, wenn es regnet.«
»Na wunderbar«, sagte Gromoseka, »wir verstehen uns groß­
artig! Ich hab nur deshalb nicht schon eher mit dir gesprochen,
weil ich die Zuverlässigkeit der Maschine prüfen und abwarten
mußte, was die Zeitler in der Vergangenheit finden. Doch nun
ist alles klar.«
»Und ich fahre morgen in die Vergangenheit?«
»Kommt gar nicht in Frage! Das wäre zu gefährlich. Morgen
fährt erst einmal Richard. Er soll alles erkunden, den Weg zu
dem Tag, an dem das Raumschiff gelandet ist. Dann fährt er­
neut Petrow. Sie sind ja noch gar nicht in meine Pläne einge­
weiht, und es wird Stunden dauern, sie zu überzeugen. Sie ah­
nen nicht mal, daß man die Pest im Keim ersticken kann. Weil
sie einfach noch nie versucht haben, die Vergangenheit zu ver­
ändern. Es gibt sogar ein Gesetz bei ihnen, daß sie nicht verän­
dert werden darf. Dabei ist die Koleida so fern, daß ihre Ver-
43
gangenheit unmöglich einen Einfluß auf die Vergangenheit
und Gegenwart anderer Planeten nehmen kann. Die erste
Schwierigkeit besteht also darin, sie zum Eingreifen zu überre­
den. Die zweite Hürde bist du.«
»Und wenn sie vorschlagen, selbst zum Kosmodrom zu
gehn, um das Raumschiff von der Pest zu säubern?« fragte
Alissa. »Dann ist alles aus.«
»Wieso denn aus? Wenn sie es selbst tun, um so besser, dann
brauch ich mir um dich keine Sorgen zu machen.«
»Da haben wir’s«, Alissa war beleidigt. »Erst versprichst du’s,
und dann sagst du: Um so besser, wenn sie ohne dich auskom-
men!«
Gromoseka begann zu lachen, daß das Zelt wackelte.
»Wart’s ab«, sagte er, »wir werden sehn. Jedenfalls freu ich
mich, daß du keine Angst hast. Heute vor dem Abendbrot
gehst du zum Arzt und absolvierst den Hypnosekurs zum Er­
lernen der Koleida-Sprache. Er weiß schon Bescheid. Doch be­
vor es soweit ist - zu niemandem ein Wort, nicht einmal zu
deinem Freund Rrrr. Und noch etwas: Solltest du in die Ver­
gangenheit fahren, wird einer von den Zeitlern mitkommen
und auf dich aufpassen. Zur Sicherung gewissermaßen. Glaub
also ja nicht, du könntest allein schalten und walten. Jetzt aber
ruh dich aus.«
Doch als Gromoseka das Zelt verlassen hatte, war an Aus-
ruhn natürlich nicht mehr zu denken. Alissa sprang aus dem
Bett und lief zur Zeitstation, um zu beobachten, wie die Ma­
schine für den nächsten Tag vorbereitet wurde.

10
Schlecht wäre es nicht, in die Vergangenheit zu fahren, dachte
Alissa, die nahe an die Zeitmaschine herangetreten war und
das Steuerpult betrachtete. Selbst wenn ich zusammen mit Pe-
trow oder Richard reisen müßte - ich wäre einverstanden. Der
Passagier könnte mich beim Hin- und Rücktransport auf die
Arme nehmen, dann säh’s so aus, als würde nur einer fahren.
Die Maschine hält das schon aus.
44
Die Zeitler beachteten Alissa kaum, sie hatten anderes zu
tun. Sie mußten die Maschine so Umrüsten, daß sie den Zeit­
reisenden um eine Woche weiter zurückbeförderte als beim
letzten Mal. Genauer gesagt - um eine Woche und zwanzig
Stunden. Petrow erklärte dem Mädchen, er müßte den Zug er­
reichen, der von dem Städtchen, das die Archäologen ausgegra­
ben hatten, zur Hauptstadt fuhr. Den Fahrplan hatten sie der
Zeitung entnommen, und Geld für die Fahrkarte besaßen sie
ja. Der Zeitreisende mußte lediglich den Zug besteigen und zu
dem Zeitpunkt am Kosmodrom sein, da das Raumschiff lan­
dete. An Aussehen und Verhalten der Kosmonauten konnten
sie dann feststellen, ob es sich wirklich um die kosmische Pest
handelte.
Das Mädchen hatte alles um sich her vergessen, aber da er­
scholl Gromosekas Stimme: »Alissa-a-a!« Die Stimme drang
selbst durch die dicken Mauern der Zeitstation, so daß die
Lämpchen der Armaturen unruhig zu flackern begannen.
»L-lauf schnell zu ihm«, sagte Petrow, »sonst stürzen hier
noch die Wände ein.«
Alissa wußte sofort, weshalb der Chefarchäologe sie
suchte - es wurde Zeit, den Doktor aufzusuchen, um die Spra­
che der Koleida zu erlernen.
Der Doktor, der an eine Gießkanne erinnerte, schüttelte
mehrmals den auf seinem dünnen, geraden und unwahrschein­
lich langen Hals sitzenden Kopf, als hätte er vor, eine ausge­
dehnte Rede zu halten. Doch er sagte nur: »Setzen Sie sich,
junger Mensch« und zeigte auf einen Sessel, von dem verschie­
denfarbige Drähte herabbaumelten.
Alissa nahm gehorsam Platz. Der Sessel veränderte sogleich
seine Form, umfloß das Mädchen von allen Seiten, der Doktor
aber trat näher und begann die Drähte mit ihren Saugnapfen­
den an Alissas Schläfen zu befestigen.
»Keine Angst«, sagte er, als das Mädchen zusammenzuckte.
»Ich hab keine Angst«, erwiderte Alissa, »es hat bloß ge­
kitzelt.« In Wirklichkeit war sie doch ein bißchen erschrok-
ken.
»Schließen Sie das da«, sagte der Doktor.
45
»Was denn?«
Der Doktor seufzte laut und nahm ein Wörterbuch vom
Tisch. Etwa drei Minuten lang suchte er das nötige Wort, ehe
er fortfuhr: »Na die Augen.«
Aus dem schwarzen Kasten, in den die Drähte führten, er­
tönte ein Summen. Es übertrug sich auf Alissas Kopf, und ihr
wurde schwindlig.
»Versuchen Sie’s auszuhalten«, sagte der Doktor.
»Mach ich ja«, erwiderte Alissa. »Dauert es lange?«
Der Doktor schwieg. Alissa öffnete einen Spalt das eine
Auge und sah, daß er abermals im Wörterbuch blätterte.
»Eine Stunde«, sagte er endlich. »Schließen Sie die Augen.«
Alissa gehorchte, konnte sich aber die Frage nicht verknei­
fen: »Und Sie selbst? Warum lernen Sie die russische Sprache
nicht auf diesem Weg?«
»Ich?« wunderte sich der Doktor. »Ich hab keine Zeit.« Er
überlegte einen Augenblick, ging in die Ecke des Labors, wo er
geräuschvoll mit irgendwelchen Gläsern zu hantieren begann,
und fügte leise hinzu: »Ich bin sehr unbegabt, was Sprachen
betrifft. So unbegabt, daß selbst die Hypnopädie mir nicht ...,
da, ich hab’s wieder vergessen.«
»Hilft?«
»Genau.«
Alissa fühlte sich äußerst behaglich. In ihrem Kopf summte
es leise, sie hätte direkt einschlafen können, doch gerade als sie
sich sagte, das dürfe sie unter keinen Umständen, hörte sie die
Stimme des Doktors: »Wachen Sie auf, wir sind fertig.« Der
Doktor nahm die Saugnäpfe von ihrem Kppf und entwirrte die
Drähte.
»Das war’s schon? Ist etwa eine ganze Stunde vergangen?«
»Aber ja.«
Gromoseka zwängte sich ins Labor. Er musterte Alissa auf­
merksam und fragte dann: »Bunto todo barakata a wa?«
Noch bevor Alissa denken konnte, was redet er da für einen
Unsinn, begriff sie, daß es sich keinesfalls um Unsinn handelte.
Gromoseka hatte sie bloß auf koleidisch gefragt, ob sie die
Sprache gelernt hätte. Als ihr das klar wurde, antwortete sie ge-
46
lassen: »Kra barakata to bunta.« Was soviel bedeutete wie: Ja ­
wohl, ich habe die Sprache gelernt.
Gromoseka lachte und ging mit ihr Abendbrot essen, der
Doktor aber war so betrübt, daß er darauf verzichtete. »N ie­
mals«, sagte er, »niemals werde ich auch nur eine Sprache erler­
nen!« Und aus seiner Tülle ergossen sich bittere Tränenstrah­
len.
Beim Abendbrot setzte sich Gromoseka ein Stück von Alissa
weg, damit sie ihm keine Fragen stellen konnte. Wie durch
Zauberhand standen plötzlich acht Kompottschalen vor ihr.
Die ganze Expedition wußte bereits, daß Alissa Kompott
liebte, und wäre nicht der gestrenge Gromoseka gewesen - sie
hätten das Mädchen damit vollgestopft, bis sie nicht mehr
konnte.
Diesmal jedoch beachtete Alissa das Kompott überhaupt
nicht. Sie war einzig darauf bedacht, Gromosekas Blick einzu-
fangen und zu hören, was er mit Petrow besprach. Doch als sie
mit Essen fertig waren, sagte Gromoseka nur: »Was für ein
herrlicher Sonnenuntergang! Hätten Sie nicht Lust, ein biß­
chen mit mir spazierenzugehn und sich an der Natur zu er-
freun?«
»An der N-natur?« fragte Petrow verblüfft. »Daß Sie für Son­
nenuntergänge schwärmen, ist mir noch nie aufgefallen.
Eigentlich möchte ich lieber zu meiner Maschine zurück.«
»Ach was, die Zeit läuft Ihnen nicht davon«, dröhnte Gromo­
seka friedfertig und schleppte Petrow mit sich fort.
Alissa begriff, daß jetzt das Wichtigste erfolgen sollte: das G e­
spräch über die morgige Reise und über Gromosekas Plan. D es­
halb tat sie etwas nicht eben Feines - sie horchte. Zuerst war­
tete sie, bis die beiden an einem großen Stein stehenblieben,
dann schlich sie sich leise hin und versteckte sich dahinter.
»Was meinen Sie«, fragte Gromoseka den Zeitler, »kann man
eine kosmische Pestepidemie verhindern, indem man sie in
ihren Anfängen bekämpft?«
»Natürlich kann man«, sagte Petrow, »nur ist diese F-frage
für uns völlig g-gegenstandslos; die Koleida ist vor hundert
Jahren zugrunde gegangen.«
47
»Aha«, sagte Gromoseka, als hätte er lediglich den ersten
Teil der Antwort gehört. »Es ist also möglich.« Und nun berich­
tete er, auf welche Weise er die Geschichte der Koleida verän­
dern und den Planeten wieder zum Leben erwecken wollte.
Zunächst nahm Petrow die Sache nicht ernst, lachte sogar,
doch Gromoseka zuckte mit keinem seiner Fangarme. Er ließ
schnaubend gelben Rauch ab und erklärte, daß man sich dem
Raumschiff in dem Augenblick nähern müßte, da es aufsetzte.
Dann gälte es, die Viren zu vernichten.
»Aber wie?« fragte Petrow.
»Ich hab alles bedacht«, erwiderte Gromoseka. »Bevor wir
von der Erde abflogen, war ich in einem medizinischen Institut
und hab mir Impfstoff gegen die kosmische Pest geben lassen.
Ich sagte, unsre Expedition würde auf einem Planeten arbei­
ten, wo die Gefahr einer Ansteckung bestünde, da haben sie
genügend Serum rausgerückt. Jedes medizinische Zentrum der
Erde verfügt ja über Impfstoffreserven. Sollte dieser Virus die
Erde erneut heimsuchen, hätte er keine Chance.«
»Heißt das, Sie hatten von Anfang an vor, in die Geschichte
der Koleida einzugreifen?«
»Völlig richtig, Petrow!« rief Gromoseka aus. »Von Anfang
an! Noch lange bevor Ihr Institut zugestimmt hat, eine Zeitma­
schine hierher zu entsenden.«
»Und Sie haben auf der Erde kein Wort darüber verlauten
lassen?«
»Kein Wort. Sie hätten mich ja nicht mal angehört.«
Alissa kam zu dem Schluß, daß Gromoseka ziemlich miß­
trauisch und ein Geheimniskrämer war. Wahrscheinlich hätten
ihn die Zeitler durchaus angehört.
»Es ist klar«, fuhr Gromoseka fort, »daß Sie oder Richard
große Mühe hätten, mit dem Impfstoff bis zum Schiff vorzu­
dringen, deshalb habe ich Alissa mitgenommen. Sie hat die­
selbe Größe wie die Koleidaner und ist einverstanden, sich als
Einheimische auszugeben. Sie wird die Kosmonauten mit dem
Serum besprühen.«
»Was denn, Sie wollen das Mädchen mit reinziehn?«
»Ich bitte Sie, Professor, was sind das für Ausdrücke!« Gro-
48
moseka war beleidigt. »Ich will niemand reinziehn. Alissa ist
ein erfahrener Mensch und immerhin zehn Jahre alt. Außer­
dem hat sie bereits mehrere Kosmosreisen hinter sich. Mit die­
ser kleinen Aufgabe wird sie spielend fertig.«
»Kommt gar nicht in Frage!« sagte Petrow in einem Ton, wie
ihn Alissa von ihrem Vater kannte. »Ich oder Richard würden’s
ja noch riskieren, doch die Kleine - ausgeschlossen.«
»Aber Professor ...«
»Ich will kein Wort mehr davon hören! Ihre Idee ist in ge­
wisser Hinsicht kühn und interessant. Obwohl die Folgen, die
das haben könnte, völlig ungewiß sind. Dennoch, ich werde
mich mit Richard beraten und dann die Erde um Erlaubnis fra­
gen.«
Alissa konnte von ihrem Versteck aus sehen, wie Gromoseka
immer kleiner wurde. Er hatte den Kopf so tief zwischen die
Schultern gezogen, daß sich über den Tentakeln lediglich ein
flacher Hügel vorwölbte.
»Dann ist alles verloren«, sagte er, »alles verloren. Sie werden
einen Briefwechsel mit der Erde beginnen, die daraufhin acht­
hundert Experten herschickt, und die wiederum werden am
Ende sagen, wir dürfen das nicht tun. Weil das Risiko für die
Galaxis zu groß sei.«
»Na bitte«, sagte Petrow. »Sie begreifen’s selber ...«
»Selber begreife ich, daß ...«
»Morgen früh wird Richard also in die V-vergangenheit auf­
brechen und versuchen, den Zug in die Hauptstadt zu neh­
men. Dort wird er die Ankunft des Raumschiffs beobachten,
wieder kehrtmachen und uns einen Lagebericht geben. Jedoch
nichts - ich wiederhole - nichts unternehmen. Wenn Sie mit
Ihrer Vermutung recht haben sollten und die kosmische Pest
tatsächlich durch das Schiff auf die Koleida gelangt ist, werden
wir der Erde Mitteilung darüber machen und den Rat der E x­
perten einholen. Das wäre alles. Ich wünsche Ihnen eine gute
Nacht, und nehmen Sie mir’s bitte nicht übel.« Mit diesen
Worten begab sich Petrow zur Zeitstation, um die Maschine
für den nächsten Tag startklar zu machen.
Gromoseka allerdings machte keine Anstalten, sich zu erhe-
49
ben. Er saß auf den Steinen und erinnerte an einen großen
traurigen Achtfüßer.
Alissa hatte richtig Mitleid mit ihm. Sie kam hinter ihrem
Stein hervor und trat zu ihm. »Gromoseka«, sagte sie leise und
streichelte seinen rauhen Fangarm.
»Was ist?« fragte er und öffnete ein Auge. »Ach, du bist’s,
Alissa. Hast du alles gehört?«
»Ja.«
»Nun weißt du’s, alle meine Pläne sind zunichte gemacht.«
»Sei nicht traurig, Gromoseka, ich bin trotzdem auf deiner
Seite. Sollte uns denn wirklich nichts einfallen?«
»Und ob uns was einfällt«, ertönte da ein dünnes Stimmchen.
Hinter einem anderen Findling kam wie ein Kätzchen der
kleine Rrrr hervorgesprungen. Sein fliederfarbenes Auge
leuchtete in der Abenddämmerung wie eine winzige Laterne.
»Ich hab ebenfalls alles gehört«, bekannte er. »Ich konnte
meine Neugier einfach nicht bezähmen, und ich stimme euch
zu. Wir können nicht warten, bis hunderttausend Experten
hunderttausend Beratungen durchführen. Wir sind Archäolo­
gen und fördern die Vergangenheit zutage, ohne sie zu verän­
dern. Diesmal jedoch tun wir’s. Wenn sich die Zeitler widerset­
zen, fesseln wir sie, und an ihrer Stelle fahre ich mit Alissa hin.«
»Das fehlte gerade noch.« Gromoseka lächelte betrübt. »Da­
für würde man uns aus der Expedition rauswerfen, und das so­
gar zu Recht.«
»Sollen sie uns doch rauswerfen. Wie bleiben auf diesem Pla­
neten, und die dankbaren Koleidaner werden uns ein Denkmal
setzen.«
»Wißt ihr was«, sagte Gromoseka und erhob sich zu seiner
vollen Elefantengröße, »wir sollten jetzt aufhören, Märchen zu
erzählen, und lieber schlafen gehn.«
Er marschierte voran und hatte, zerknirscht wie er war, rich­
tig Mühe, einen Tentakel vor den andern zu setzen. Alissa und
Rrrr gingen dicht hinter ihm und versuchten ihn zu beschwich­
tigen, doch Gromoseka war untröstlich.
An seinem Zelt, wo auch Alissa schlief, blieb er stehen, um
sich von Rrrr zu verabschieden.
50
»Ist doch gar nicht so schlimm«, sagte der kleine Archäologe.
»Morgen beobachtet Richard die Ankunft des Raumschiffs,
und wir schreiben einen Brief an die Erde. Die Koleidaner sind
ohnehin schon hundert Jahre tot. Selbst wenn Ihre Idee erst in
zehn Jahren verwirklicht wird, ist das kein Beinbruch.«
»Na, das ist vielleicht ein Trost«, brummte Gromoseka und
kroch ins Zelt.
Alissa blieb noch kurz am Eingang stehen, sie hatte einen
Gedanken. »In welchem Zelt schläfst du?« fragte sie den klei­
nen Rrrr.
»Im dritten von außen.«
»Dann schlaf mal noch nicht«, sagte Alissa. »Ich muß was mit
dir bereden, sobald hier alles zur Ruhe gekommen ist.«
Gromoseka machte sich geräuschvoll, unter Seufzern und
Stöhnen, fürs Bett fertig.
»Hör mal«, fragte Alissa ihn, »wie wolltest du die Kosmonau­
ten eigentlich impfen? Sie werden sich schwerlich eine Spritze
verpassen lassen.«
»Dummchen«, erwiderte Gromoseka mit schon schlaftrunke­
ner Stimme, »ich wollte ihnen gar keine Spritze geben. Vom
medizinischen Institut habe ich diesen Ballon hier«, Gromo­
seka wies auf einen kleinen, an ein Thermosgefäß erinnernden
Behälter, der an einem Riemen über seinem Bett hing. Alissa
hatte ihn schon tausendmal gesehen, ihm jedoch nie sonderli­
che Beachtung geschenkt. »Er funktioniert wie ein Feuerlö­
scher«, erklärte Gromoseka. »Wenn man den Knopf da drückt,
gibt er einen Serumstrahl frei. Der wiederum hüllt wie Nebel
alles um sich her ein. Richtet man diesen Strahl nun auf die of­
fene Luke des Raumschiffs, so gelangt das Serum ins Schiffsin­
nere und tötet sämtliche Viren ab. Zusammen mit der Luft ge­
langt es in die Lungen der Kosmonauten und heilt sie, falls sie
erkrankt sein sollten. Drei Minuten später wird es auf der gan­
zen Koleida keinen einzigen Pestvirus mehr geben ... Aber
schlaf jetzt, wir können sowieso nichts mehr mit dem Ballon
anfangen. Lösch das Licht, wir müssen morgen früh raus.«

51
11
Alissa löschte gehorsam das Licht und begann auf Gromosekas
Atemzüge zu lauschen. Es war schwer herauszufinden, ob er
schon schlummerte, denn er hatte einen ganz leichten Schlaf.
Außerdem besaß der Archäologe ja drei Herzen, weshalb sein
Atem ohnehin sehr unregelmäßig ging.
Alissa beschloß, bis tausend zu zählen. Als sie bei fünfhun­
dertfünfzig anlangte, merkte sie, daß sie selbst kurz vorm Ein­
schlafen war. Da sie das nicht zulassen durfte, kniff sie sich in
den Arm. Freilich fiel dieses Kneifen so zahm aus, daß sie
gleich darauf vermeinte, sie würde im Zug auf der Koleida da­
hinfahren. In einem kleinen Wagen - nur die Räder ratterten
leise und gleichmäßig ihr »Tuck-tuck-tuck ...«
»Alissa«, flüsterte der Schaffner, der offenbar ihre Fahrkarte
sehen wollte. Doch Alissa hatte keine, sie hatte das Geld zu
Hause vergessen. Das wollte sie dem Schaffner auch sagen,
aber die Lippen gehorchten ihr nicht.
»Alissa ... Tuck-tuck-tuck ...«
Der Schaffner nahm sie bei der Hand, er beabsichtigte wohl,
sie aus dem Zug zu setzen. Alissa machte Anstalten, sich loszu­
reißen. Im selben Augenblick begriff sie, daß es um sie her völ­
lig finster war und sie sich ganz und gar nicht im Zug befand,
sondern im Zelt. Sie hatte alles verschlafen.
Sie sprang auf, das Bett quietschte. Gromoseka bewegte sich
im Schlaf und fragte: »Wer kann denn da nicht schlafen?«
Alissa erstarrte. Neben sich hörte sie hastiges Atmen.
»Wer ist da?« fragte sie leise.
Der Zeltvorhang war halb zurückgeschlagen.
»Ich bin’s«, antwortete Rrrr.
Alissa griff nach ihrer Kombination und kroch ins Freie.
Ein heller Mond leuchtete herab, es war unangenehm kühl,
und im Lager brannte keine einzige Laterne. Rrrr wirkte jetzt
wie ein kleines schwarzes Knäuel.
»Ich hab auf dich gewartet«, sagte der kleine Archäologe, »du
aber kamst und kamst nicht. Ich dagegen bin es gewohnt, Wort
zu halten. Wenn ich versprochen habe, nicht zu schlafen, dann
tu ich’s auch nicht.«
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»Entschuldige, Rrrr«, sagte Alissa, »ich wollte bis tausend
zählen und warten, bis Gromoseka schläft, darüber bin ich ver­
sehentlich selber eingenickt.«
»Was wolltest du mit mir bereden?«
»Errätst du’s nicht?«
»Doch«, erwiderte er, »aber ich möchte es von dir hören.«
»Also hör zu. Morgen früh fährt Richard in die Vergangen­
heit. Er wird sich das Raumschiff anschaun, aber nichts unter­
nehmen. Petrow hat es ihm verboten. Die Zeitmaschine jedoch
ist startklar. Was hältst du davon, wenn wir sie einschalten und
ich an Richards Stelle hinfahre? Gromoseka hat mir alles er­
klärt.«
»Kannst du sie denn einschalten?«
»Ich weiß genau Bescheid.«
»Und was wirst du in der Vergangenheit tun?«
»Ich fahre zum Kosmodrom, empfange das Schiff und töte
die Viren.«
»Aber wie denn?«
»Gromoseka hat alles vorbereitet. Ich bin informiert.«
Der kleine Archäologe dachte nach.
»Tja, das ist wohl unsre einzige Chance«, sagte er schließlich.
»Wenn wir jetzt nicht handeln, wird’s nie. Andererseits versto­
ßen wir damit mächtig gegen die Disziplin!«
»Still doch, du weckst alle auf. Überleg selbst - was ist ein
einziger Disziplinverstoß, wenn es um einen ganzen Planeten
geht. Ich bin verpflichtet, dieses Risiko einzugehn.«
»Du redest wie Jeanne d’Arc«, sagte der kleine Rrrr. »Ist sie
dir bekannt?«
»Natürlich. Sie hat Frankreich gerettet.«
»Richtig. Ich hab ebenfalls davon gelesen. Nur war diese
Jeanne schon siebzehn, während du erst zehn bist.«
»Na gut, dafür hat sie auch vor etlichen hundert Jahren
gelebt, ich dagegen lebe im einundzwanzigsten Jahrhun­
dert.«
»Du hast recht«, sagte das schwarze Knäuel zu Alissas Fü­
ßen. »Mitunter muß man gegen die Disziplin verstoßen.«
»Gut«, sagte Alissa, »und morgens, wenn alle wach sind, ge-
53
stehen wir die Wahrheit. Ich bin wieder zurück, sobald ich die
Sache erledigt habe. Sie sollen mich also nicht suchen.«
»Sie werden es unweigerlich tun.«
»Das ist unmöglich, Rrrr, aber das kannst du nicht wissen.
Die Zeitmaschine läßt nur eine Person passieren und speichert
deren Daten für den Rücktransport. Wenn eine zweite Person
die Maschine betritt, bevor die erste zurückgekommen ist, muß
die erste für immer in der Vergangenheit bleiben. Petrow weiß
das besser als alle andern. Sie müssen einfach warten, bis ich
wieder da bin.«
»Das ist ziemlich gefährlich.«
»Ach wo, halb so schlimm.«
»Doch, es ist gefährlich, deshalb werde ich mit dir fahren.«
»Du - mit mir?«
»Jawohl.«
»Aber du siehst den Leuten dort kein bißchen ähnlich, du
wirst auffallen.«
»Dafür hab ich Ähnlichkeit mit ihren Katzen. Du gehst eben
einfach mit einem Kätzchen auf Reisen. Außerdem beherrsche
ich ihre Sprache besser als du. Ich hab alles über sie studiert
und kann dir im Notfall einen Hinweis geben. Und überhaupt
werd ich ein Auge auf dich haben.«
»Es gefällt mir ganz und gar nicht, wenn man ein Auge auf
mich hat«, sagte Alissa. In Wirklichkeit aber war sie sehr froh,
vom kleinen Rrrr begleitet zu werden. Allein hätte sie trotz al­
lem Angst vor der Reise gehabt. Sie führte immerhin hundert
Jahre zurück in ein fremdes Land.
»Gut, ich werde dich wie ein Kätzchen auf den Arm neh­
men«, sagte sie.
»Leg mich lieber in die Tasche«, schlug Rrrr vor.
»Na schön, nehm ich eben eine Tasche mit. Ich muß ohne­
hin den Behälter mit dem Impfstoff verstauen, denn den brau­
chen wir.«
»Dann pack jetzt deine Sachen, ich hab auch noch was zu er­
ledigen.«
»Was denn?«
»Erstens muß ich das Koleida-Geld aus meinem Labor
54
holen, wir werden es für die Fahrkarte benötigen. Zweitens
will ich mir einen Schwanz nähen und die Kleider ablegen,
schließlich laufen die Katzen dort nicht in Anzügen rum. Ob­
wohl es mir mächtig widerstrebt, nackt auf einem fremden Pla­
neten herumzuspazieren. Aber was bleibt mir anderes übrig?«
»Ach weißt du«, tröstete ihn Alissa, »so ganz nackt bist du ja
nicht, bist von Kopf bis Fuß mit einem puschligen Fell be­
deckt.«
»Danke«, piepste Rrrr, »wir beide haben wohl verschiedene
Ansichten von denselben Dingen.« Damit raschelte er über
den Sand zu seinem Zelt davon.
Alissa zog ihre Kombination an, schlich vorsichtig ins Zelt
und nahm den Ballon mit dem Impfstoff vom Haken. Gromo-
seka schlief. Er atmete laut, seine Tentakel hingen von dem
breiten Bett herab auf den Fußboden. Dann suchte Alissa ihre
Tasche hervor, legte einen Pullover und den Behälter mit Impf­
stoff hinein. Nach kurzem Überlegen beschloß sie, lieber nicht
in dem Anzug in die Vergangenheit zu reisen. Sie nahm aus
einem Köfferchen ein Kleid, das sie bisher nie getragen hatte,
und zog sich um. Gromoseka schlief nach wie vor. Als sie je­
doch, schon im Weggehn, nochmals zurückschaute, schien es
ihr, als habe er ein Auge offen.
»Schläfst du nicht?« flüsterte sie.
»Doch, ich schlafe«, flüsterte Gromoseka zurück. »Hast du
auch den Pullover nicht vergessen?«
»Nein.« Alissa wunderte sich. Sie wartete noch eine Se­
kunde, doch Gromoseka schien fest zu schlafen. Hatte sie sich
nur eingebildet, mit ihm zu sprechen? ... Schließlich kroch sie
ins Freie.
»Alles in Ordnung?« fragte jemand leise.
Alissa beugte sich hinunter und bemerkte im Schein des
Mondes ein kleines flauschiges Kätzchen mit kurzem Schwanz
zu ihren Füßen.
»Woraus hast du den Schwanz gemacht?« fragte sie den Ar­
chäologen.
»Mein Zeltnachbar besitzt einen Pelzmantel, der aus dem
Fell meiner Geschwister gefertigt ist - wie er zu spaßen pflegt.
55
Nun aber kommt mir der Mantel zupaß. Gefällt dir der
Schwanz?«
»Ja«, sagte Alissa, »du bist jetzt ein richtiges Kätzchen.
Schade, daß du bloß ein Auge hast.«
»Tja, da kann man nun wirklich nichts machen.« Rrrr
seufzte. »Muß ich eben, so weit es geht, in der Tasche blei­
ben ... Schläft Gromoseka eigentlich?«
»Ja«, antwortete Alissa, »aber er schläft irgendwie seltsam. Er
hat mich im Schlaf aufgefordert, meinen Pullover nicht zu ver­
gessen.«
»Na so was ...«, erwiderte Rrrr, und es klang, als glaubte er
nicht, daß Gromoseka geschlafen hatte.
Dann begaben sie sich zu dem dunklen Gebäude der Zeitsta­
tion.

12
Alissa drückte zunächst den grünen Knopf, und die Kabinen­
tür schloß sich. Dann schob sie ihre Umhängetasche bequemer
auf die Schulter und preßte den kleinen Archäologen fest an
sich. Rrrr kniff ängstlich das Auge zusammen.
»Hab keine Furcht«, sagte Alissa, »es geht alles in Ordnung.«
Nun betätigte sie den weißen Knopf.
Danach den roten.
Sofort umfing Nebel sie, ihr wurde schwindlig, das Laborato­
rium verschwand, und es war absolut unklar, ob sie nun flog
oder am Fleck stand - keinerlei Wände, keine Decke, kein Bo­
den, nur eine undefinierbare kreisende Bewegung, die sie vor­
wärts trug.
Dann ein kleiner Stoß und wieder Nebel um sie her, der sich
bald zerstreute.
Es war bereits Morgen. Alissa stand genau an jener Stelle,
wo sich eben noch die Station befunden hatte. Jetzt dagegen
konnte sie weder Station noch Zeltstadt auch nur andeutungs­
weise entdecken.
Um sie her war grüne Wiese, an die sich ein kleiner Wald an­
schloß. Dahinter waren Hausdächer zu sehen. Die Dächer be­
fanden sich genau dort, wo die Archäologen das Städtchen aus-
56
gegraben hatten. Verblüffend war nur, daß dieses Städtchen
gerade noch völlig ausgestorben dagelegen hatte, ohne
Dächer und Fensterscheiben. Auch Bäume und Gras hatte es
nicht gegeben. Allein der Himmel und der Hügel waren unver­
ändert.
»Du hättest mich beinahe erdrückt«, ertönte eine schwache
Stimme, und Alissa zuckte vor Überraschung zusammen. Da
wurde ihr bewußt, daß sie noch immer den kleinen Archäolo­
gen an sich preßte.
»Ich kann ja kaum atmen«, brummte Rrrr. »Laß mich erst mal
runter, auf die Dauer wird es sowieso zu schwer für dich, mich
ständig zu tragen.«
Alissa öffnete die Arme, und der Archäologe fiel stöhnend
zu Boden. Er war eben doch kein Kätzchen - sie hatte es ganz
vergessen.
»Oh, entschuldige«, sagte Alissa, »ich bin völlig durcheinan­
der.«
Rrrr rieb sich das schmerzende Bein und antwortete ärger­
lich: »Wir haben keine Zeit, durcheinander zu sein, wir müs­
sen in die Stadt. Sonst fährt der Zug noch ohne uns ab, und
dann sind wir ganz umsonst hergekommen.«
»Wenn sich die Zeitmaschine nun geirrt hat und das Raum­
schiff gar nicht heute ankommt?«
»Maschinen irren sich nicht«, sagte der Archäologe und
rannte über die Wiese in Richtung Stadt.
Alissa folgte ihm. Sie pflückte eine Kamillenblüte, ab und
schnupperte daran. Sie roch kein bißchen. Über Alissa kreiste
eine Biene.
»Verschwinde«, sagte Alissa zu ihr und überlegte sich gleich
darauf, daß es, sollte ihr Vorhaben mißlingen, eine Woche spä­
ter hier kein einziges Lebewesen mehr geben würde, weder
Bienen noch Menschen, ja nicht einmal Bäume.
Der Archäologe erreichte einen schmalen Pfad. »Beeil dich«,
brummte er erneut und winkte heftig mit dem Schwanz.
»Weißt du was?« sagte Alissa. »Du solltest möglichst wenig
mit dem Schwanz wedeln, das sieht bei dir nicht gerade natür­
lich aus.«
57
»Fest sitzt er jedenfalls«, erwiderte Rrrr, ohne den Schwanz
stillzuhalten.
Sie gelangten zu den Bäumen, die sich in schnurgeraden
Reihen hinzogen, als wären sie eigens so gepflanzt.
»Warte hier«, sagte der Archäologe leise, »ich will erst nach­
sehn, ob niemand vor uns ist.«
Alissa blieb stehen und begann vor Langeweile Kamillenblü­
ten zu pflücken, um sich daraus einen Kranz zu flechten.
Kränze aus Kamillen und anderen Blumen, zum Beispiel aus
Klee, flocht sie für ihr Leben gern, doch Klee wuchs auf der
Koleida nicht.
»Ajajaj!« Ein leiser Schrei drang an ihr Ohr, dann lautes Ge-
knurre. Sie ließ die Blumen fallen und rannte zu den Bäumen.
Irgendwas mußte dem Archäologen zugestoßen sein.
Sie kam gerade noch zurecht. Der kleine Rrrr raste in Win­
deseile auf sie zu, hinter ihm aber, den puschligen Katzen­
schwanz zwischen den Zähnen, hetzte ein großer Hund.
»Zurück! Mach, daß du wegkommst!« rief Alissa.
Das Tier fletschte die Zähne, blieb aber stehen.
Alissa nahm den Archäologen auf den Arm, und der flü­
sterte erleichtert: »Danke.«
»Gib den Schwanz her«, sagte Alissa zu dem Hund, der in
einiger Entfernung von ihnen stand und keine Anstalten
machte, den Puschelschwanz loszulassen. »Der gehört uns,
nicht dir, gib ihn sofort her!«
Alissa machte einen Schritt auf den Hund zu, der aber wich
ein Stück zurück, als wollte er mit dem Mädchen spielen. Es
war ein großer Hund, weiß, mit rötlichen Sprenkeln und zottig.
Ein kleiner Mann, nur wenig größer als Alissa, trat aus dem
Gesträuch.
»Was ist hier los?« fragte er, und Alissa verstand seine
Worte, weil sie ja seit gestern die Landessprache konnte.
»Ihr Hund hat mein Kätzchen angefallen«, antwortete Alissa
auf koleidisch.
»Paß auf, du Schlingel!« sagte der Mann zu dem Hund.
Er trug graue Hosen und ein graues Hemd, in der Hand hielt
er eine lange Peitsche. Offenbar war er Hirt.
59
»Er hat meinem Kätzchen den Schwanz abgerissen«, sagte
Alissa, »ich will den Schwanz wiederhaben.«
»Was soll deine Katze jetzt noch damit«, sagte der Mann ver­
wundert, »er wächst ja doch nicht wieder an.«
»Er soll ihn trotzdem hergeben«, beharrte Alissa.
»Resra, laß los!« befahl der Mann.
Der Hund ließ den Schwanz fallen, und Alissa, den Archäo­
logen fest an sich gepreßt, hob ihn auf.
»Danke«, sagte sie. »Wann fährt eigentlich der Zug?«
»Was für ein Zug?«
»Der in die Hauptstadt.«
»In einer Stunde«, antwortete der Hirt. »Aber wer bist du
überhaupt, warum kenne ich dich nicht? Ich kenne doch alle in
der Stadt.«
»Ich bin auf Exkursion hier«, sagte Alissa, »und will zurück
nach Hause. Ich wohne in der Hauptstadt.«
Der Hirt ließ sich nicht beirren. »Irgendwie seltsam sprichst
du auch. Die Wörter stimmen zwar, aber wir reden anders.«
»Ich wohne weit weg«, sagte Alissa.
Der Mann, nach wie vor zweifelnd, schüttelte den Kopf.
»Gekleidet bist du gleichfalls nicht wie wir«, sagte er.
Der Archäologe ruckte und preßte sich enger an Alissa.
»Wie meinen Sie das?« fragte Alissa.
»Du wirkst wie ein Kind, bist aber fast so groß wie ich.«
»Ach, das täuscht«, sagte Alissa, »ich bin schon sechzehn.«
»Na, ich weiß nicht ...«, murmelte der Mann. Dann drehte er
sich zu seinem Hund um, rief ihn und entfernte sich, noch im­
mer kopfschüttelnd, in Richtung Gebüsch. Doch plötzlich,
Alissa glaubte schon, die Gefahr sei vorüber, blieb er nochmals
stehen. »Und überhaupt, was ist das für ein Kätzchen? Wenn
ihm der Schwanz abgerissen wurde, müßte man doch Blut se­
hen.«
»Ach, es ist nicht weiter schlimm, machen Sie sich keine G e­
danken.«
»Zeig die Katze mal her.«
»Auf Wiedersehn«, sagte Alissa schnell, »ich verpasse sonst
meinen Zug.« Dann ging sie eilig auf dem Pfad davon, der in
60
die Stadt führte. Sie schaute sich nicht um, obwohl der Mann
sie noch ein- oder zweimal anrief, sie wäre am liebsten gerannt.
Doch sie fürchtete, damit den Hund auf sich zu lenken.
»Na, was macht er?« flüsterte der Archäologe.
»Keine Ahnung, ich dreh mich lieber nicht um.«
Der Pfad wurde breiter, mündete in eine staubige Straße.
Vor ihnen tauchte eine Art Schuppen oder Lagergebäude auf,
und Alissa lief ganz nahe an der Wand, um aus dem Blickfeld
des Mannes zu verschwinden; sie glaubte immer noch, er
würde ihr folgen.
Hinter dem Schuppen blieb Alissa stehen und holte tief
Luft.
»Wir sind schlecht vorbereitet«, sagte der Archäologe unzu­
frieden. »Wie es scheint, hapert’s bei uns mit der Aussprache.
Und das mit der Exkursion klingt auch nicht gerade glaubwür­
dig. Kein Mensch verläßt seine Gruppe im Alleingang zu so
früher Stunde! Also merk dir: Du hast deine Großmutter be­
sucht und bist auf der Heimfahrt ... Übrigens hatte ich ganz
vergessen, daß die jungen Mädchen hier ihr Haar anders tra­
gen - sie kämmen es in die Stirn.«
»Aber ich hab doch kurze Haare.«
»Trotzdem, kämm sie in die Stirn.«
»Dann muß ich dich für einen Augenblick absetzen.«
»Kommt gar nicht in Frage, hier gibt’s gefährliche Hunde!«
»Ich sehe keinen. Soll ich dich trotzdem wieder in die Ta­
sche setzen?«
»Ja, das ist das beste. Aber nimm mein Messer und schneid
ein kleines Loch in die Tasche. Wie soll ich sonst etwas
sehn?«
Alissa setzte den Archäologen in ihre Tasche, wo sich bereits
der Behälter mit dem Impfstoff befand, und packte den abge­
rissenen Schwanz dazu. Dann schnitt sie das gewünschte Loch
in die Tasche, damit Rrrr beobachten konnte, was sich um ihn
her zutrug.
»Schade, daß du kein Garn hast«, sagte er, »wie soll ich jetzt
den Schwanz annähn?«
»Und du hast behauptet, er sitzt fest.«
61
»Du hast gut lachen«, erwiderte der Archäologe, »dich hat ja
noch nie ein Hund beim Schwanz gepackt.«
»Ich lach doch gar nicht. Aber sieh mal in der Tasche
nach, im Seitenfach, vielleicht liegt dort Faden und Nadel.
Großmutter packt mir immer alles mögliche unnütze Zeug hin­
ein.«
Alissa schloß den Reißverschluß ihrer Tasche, kämmte sich
die Haare in die Stirn und machte sich auf den Weg zur Bahn­
station.
Zum Glück schlief die Stadt noch. Die Fenster waren ge­
schlossen, die Rollos heruntergezogen, und niemand ahnte,
daß schon in einer Woche durch die Straßen, die dann genauso
ausgestorben dalägen wie jetzt, nur noch Wagen der »Medizi­
nischen Hilfe« fahren würden.
»Ihr tut mir leid«, sagte Alissa zu den Häusern, in denen die
Menschen schliefen. »Aber ihr könnt euch auf mich verlassen.«
»Vielleicht sind sie uns schon auf der Spur«, ließ sich der Ar­
chäologe aus der Tasche vernehmen; seine Stimme klang
dumpf, wie von weit her.
»Nicht reden«, erwiderte Alissa, »sonst hört es noch jemand
und wundert sich zu Tode über die sprechende Tasche.«
Der Zeitungskiosk war bereits geöffnet - den Verkäufer
kannten sie schon: Petrow hatte ihnen sein Foto gezeigt; er
hatte ihn ja seinerzeit ins Krankenhaus gebracht. Das heißt, er
würde ihn hinbringen, wenn Alissa nicht half.
Das Mädchen holte Kleingeld aus der Tasche. »Haben Sie
Zeitungen von heute?« fragte sie.
Der Verkäufer war ein älteres Männchen mit viereckiger
Hornbrille. »Einen Augenblick, meine’ Dame«, erwiderte er,
»sie müssen gleich kommen. Wenn Sie warten wollen ...«
»Dauert es noch lange?«
»Aber nein. Hören Sie den Zug nicht? Es ist der Morgenzug
aus der Hauptstadt. Er bringt die Post.«
»Fährt er wieder zurück in die Hauptstadt?«
»Ja, in zwanzig Minuten.«
»Dann geben Sie mir bitte eine Zeitung von gestern«, sagte
Alissa.
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»Sind Sie von auswärts?« erkundigte sich der Mann.
»Ich bin eine ausländische Touristin.«
»Aha«, sagte der Verkäufer, »hab ich mir gleich gedacht, daß
Sie nicht von hier sind.«
Als Alissa den Kiosk hinter sich gelassen und einen kleinen
Platz überquert hatte, vorbei am Denkmal eines ihr unbekann­
ten Mannes hoch zu Pferd, das auch in einhundertundeinem
Jahr noch stehen würde, sagte sie zu Rrrr: »Ich hätte mir ein
Kleid nähen sollen, wie man es hier trägt.«
»Wer wußte denn über ihre Mode Bescheid!« erwiderte der
Archäologe.
»Gromoseka natürlich.«
An den Platz schloß sich eine kleine Grünanlage an; beide
Seiten des Weges waren von Blumenbeeten gesäumt. Die Blü­
ten streckten sich den Sonnenstrahlen entgegen und öffneten
sich.
Vor dem Bahnhof hielt ein Bus. Kleine Menschen in Ar­
beitskluft stiegen aus und betraten die Halle. Über dem nicht
sehr hohen Bahnhofsgebäude stieg eine Rauchsäule in die
Luft, die Lokomotive schnaufte.
»Hast du schon in die Zeitung gesehn?« fragte Rrrr.
»Im Laufen kann ich das nicht.«
»Dann gib sie mir.«
Alissa rollte die Zeitung zusammen und steckte sie in die
Tasche, doch sie bekam das Blatt umgehend zurück.
»Begreifst du denn nicht«, zischte der Archäologe, »daß ich
in der Tasche unmöglich lesen kann? Es ist dunkel und eng
hier drin.«
»Warum hast du mich dann darum gebeten?«
»Such dir eine Bank«, sagte Rrrr, »setz dich drauf und lies
vor.«
»Zuerst kauf ich die Fahrkarte«, erwiderte Alissa, »sonst ver­
passen wir noch den Zug. Danach können wir lesen bis zum
Umfallen ... Wieso hast du auf einmal so schlechte Laune?«
»Mir ist schwindlig«, antwortete Rrrr. »Bist du noch nie in
einer Tasche getragen worden?«
»Nein.«
63
»Ich nämlich auch nicht. Übrigens hast du einen sehr un­
gleichmäßigen Gang, irgendwie hüpfend.«
»Das ist ja was ganz Neues!«
Sich mit Rrrr streitend, betrat Alissa die Bahnhofshalle und
wandte sich gleich den Fahrkartenschaltern zu. Sie wußte ja,
wo sie waren, denn die Archäologen hatten das Gebäude nach
der Ausgrabung fast vollständig rekonstruiert. Wie sich heraus­
stellte, nicht ganz originalgetreu, doch das spielte im Augen­
blick keine Rolle.
»Eine Kinderkarte«, sagte Alissa und reichte das Geld durchs
Kassenfensterchen.
Die Kassiererin steckte ihr rundes rotes Gesicht heraus und
musterte Alissa von Kopf bis Fuß. Dann sagte sie vorwurfsvoll:
»Ein erwachsenes Mädchen und möchte an der Fahrkarte spa­
ren! Sie müssen schon noch acht Münzen drauflegen!«
»Aber ich fahre immer auf Kinderkarte ...«, sagte Alissa.
Gleich darauf stutzte sie jedoch, denn der Archäologe in ihrer
Tasche ruckte heftig. »Aber ja, natürlich«, sagte sie hastig und
holte das restliche Geld hervor. Viel war es nicht mehr, sie
hatte gerade noch zehn Münzen. »Wann genau geht der Zug?«
fragte sie.
Doch die Frau gab keine Antwort und knallte das Fenster-
chen zu.
»Die Fahrkartenverkäuferinnen sind hier aber unhöflich«,
sagte Alissa, »bei uns gibt’s das nicht.«
Das Mädchen trat auf den Bahnsteig hinaus und blieb hinter
einem Eisenpfeiler stehen. Sie wollte nicht vor aller Augen
herumspazieren.
Der Zug stand schon da, die Lok dampfte und qualmte, ver­
einzelte Fahrgäste nahmen ihre Plätze ein. Einige waren eben
erst aufgestanden und noch ganz verschlafen.
Alissa steuerte schnurstracks einen besseren Wagen an. An
der Tür stand ein Schaffner mit hoher orangefarbener Mütze.
»Ihre Fahrkarte?«
Alissa gab ihm ihr Billett.
»Können Sie nicht lesen?« fragte er. »Da steht doch eindeu­
tig - dritte Klasse. Das hier aber ist ein Wagen erster Klasse.«
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»Ja und, wo liegt da der Unterschied?« fragte Alissa.
Der Schaffner musterte sie eingehend und erwiderte: »Im
Preis.«
Während Alissa, um nicht weiter angestarrt zu werden, zum
nächsten Wagen eilte, der ärmlicher war, bunt gestrichen und
voller Leute, hörte sie den Schaffner sagen: »Die gibt mir
vielleicht Spaß! Ist wohl Ausländerin.« Da beschloß sie, sich
künftig immer als Ausländerin auszugeben. Sie blieb neben
dem Wagen, ein Stück von der Tür entfernt, stehen, beugte
sich zur Tasche hinunter und fragte den Archäologen flü­
sternd: »Was hältst du davon, wenn ich mich als Ausländerin
ausgebe?«
»Meinetwegen, aber sag, daß du aus dem Norden bist. Kei­
nesfalls darfst du aus dem Süden stammen.«
»Warum?«
»Zu den Nachbarn im Norden haben sie gute Beziehungen,
mit denen im Süden dagegen kann es jeden Augenblick zum
Krieg kommen.«
»Kann es nicht«, sagte Alissa bestimmt, »es ist zu spät dazu.«
»Mit deiner Hilfe kommt es vielleicht doch dazu«, sagte Rrrr.
»Mit wem sprechen Sie eigentlich, meine Dame«, hörte
Alissa plötzlich eine strenge Stimme.
Sie richtete sich erschrocken auf. Neben ihr stand ein klei­
ner dicker Mann in gelber Uniform mit einem großen goldenen
Wappen auf der Mütze. Sie hielt ihn für einen Polizisten, und
ihre erste Regung war, aufs Geratewohl wegzulaufen.
»Halt«, sagte das Männchen in Gelb und packte sie am Är­
mel. »Ich will wissen, wo Sie herkommen und mit wem Sie da
reden.«
»Ich bin aus dem Norden«, erwiderte Alissa, »bin Auslände­
rin. Eine Ausländerin aus dem Norden.«
»Sehr merkwürdig«, sagte der Mann.
Doch in diesem Moment stieß die Lok einen Pfiff aus, Alissa
riß sich los und sprang aufs Trittbrett.
Während der Mann in Gelb noch überlegte, was zu tun sei,
reichte Alissa dem Schaffner die Fahrkarte und zwängte sich in
den vollen Wagen. Es gelang ihr, ein Abteil zu finden, in dem
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drei Leute in ärmlicher Kleidung dahindämmerten, der vierte
Platz war frei.
»Wer war das?« fragte Alissa, nachdem sie tief Luft geholt
hatte, dicht über die Tasche gebeugt.
»Der Gepäckträger«, kam flüsternd die Antwort.
Der Zug ruckte an und bewegte sich, über die Schienen rat­
ternd, in Richtung Hauptstadt.
»Hätte er mich verhaften können?«
»Ich weiß nicht«, sagte Rrrr, »hört dich auch niemand?«
»Nein, sie schlafen.«
»Dann lies jetzt endlich die Zeitung. Und stell die Tasche
auf den Fußboden, so schaukelt es weniger.«
Alissa schlug die Zeitung auf. Sie war vom Vortag, und über
die ganze erste Seite erstreckte sich in roten Buchstaben die
Aufschrift: »Morgen empfängt die Koleida die Helden des K os­
mos!«
»Alles in Ordnung«, flüsterte Alissa, »wir kommen zurecht.
Die Zeitler haben sich nicht geirrt.«

13
Zum Glück stiegen die anderen Passagiere nach zwei Stationen
aus, so daß sie allein im Abteil blieben. Alissa holte den klei­
nen Rrrr aus der Tasche, dann lasen sie gemeinsam in der Zei­
tung sämtliche Mitteilungen über den Flug der Kosmonauten
und die geplante Begrüßung. Sie konnten sich auch ein unge­
fähres Bild davon machen, welchen Weg sie selbst durch die
Stadt nehmen mußten, obwohl die von den Archäologen ja
noch nicht ausgegraben worden war. Doch Rrrr hatte in der Bi­
bliothek einen Stadtplan gefunden und ihn übertragen.
Schlecht stand es freilich um ihre Finanzen - das Geld würde
allenfalls für einen Straßenbahn- oder Busfahrschein reichen,
nicht den kleinsten Imbiß konnten sie sich leisten.
»Was soll’s«, der Archäologe lächelte betrübt und zwinkerte
Alissa mit seinem einen Auge zu, »da mußt du eben, wie im
Märchen, mich, deinen einzigen Freund, verkaufen.«
»Wer kauft dich schon ohne Schwanz«, sagte Alissa.
66
»Keine Bange«, erwiderte Rrrr, »ich habe Nadel und Faden
gefunden. Allerdings hast du so mit der Tasche geschaukelt,
daß ich Angst hatte, mich zu stechen. Doch jetzt kann ich ihn
mir annähn, wir haben noch anderthalb Stunden zu fahren.«
Alissa sah durchs Fenster. Draußen zog eine ganz gewöhnli­
che, doch im Vergleich zur Erde sehr rückständige Landschaft
vorbei. Aber die Erde war ja früher auch rückständig gewesen:
Es hatte keinerlei Einschienenbahnen, Expreßluftblasen, Anti­
gravitationsfahrzeuge, fliegende Häuser und ähnliche normale
Dinge gegeben.
Der kleine Rrrr summte beim Nähen leise vor sich hin.
Alissa hätte ihm zwar helfen können - sie war geschickter mit
Nadel und Faden - , bot ihm ihre Unterstützurig aber nicht an;
schließlich soll sich jeder seinen Schwanz allein annähn, ist es
nicht so?
Alissa betrachtete die Kosmonautenfotos in der Zeitung.
Einer der Raumfahrer gefiel ihr besonders. Er war jung, dun­
keläugig und lächelte so breit, als könne er einfach nicht an­
ders. »Ingenieur Tolo«, las sie und merkte sich den Namen.
Die Abteiltür klappte, und eine alte Frau trat ein. Sie war
klein, hatte ein rundes, rotes Gesicht und trug ein langes
blaues Kleid. Alissa sah sie an und bemerkte, wie die Augen
der Frau plötzlich groß wurden, einen erschrockenen Aus­
druck annahmen. Sie waren auf die Bank gerichtet.
»Was ist denn das!« rief die alte Frau aus.
Alissa folgte ihrem Blick und bemerkte, daß der kleine Rrrr,
in seiner Arbeit überrascht, den Schwanz in der einen, die N a­
del in der andern Hand, in die Tasche zurückklettern wollte.
Mit einer schnellen Bewegung öffnete sie das Behältnis etwas
weiter, damit er besser hineinkam. Dann sah sie die alte Frau
erneut an.
Das Mütterchen trat in den Gang zurück, ihr Mund war zu
einem Schrei geöffnet.
»Keine Angst, Großmutter«, sagte Alissa, »wirklich, Sie brau­
chen keine Angst zu haben, das ist nur seine Art zu spielen.«
»Jeoje!« sagte die alte Frau, die sich beim Klang von Alissas
Stimme etwas zu beruhigen schien. »Und ich glaubte schon ...«
67
»Was denn?«
»Klingt zu dumm, Töchterchen, aber mir kam es so vor, als
nähe sich dein Kätzchen den Schwanz an. Da haben mir meine
Augen wohl einen Streich gespielt.«
Das Mütterchen hatte ihren Schrecken schnell vergessen,
setzte sich ans Fenster, band einen Beutel auf und entnahm
ihm zwei Tomaten. Eine behielt sie selbst, die andere reichte
sie Alissa.
»Wo willst du hin, Kindchen?« erkundigte sie sich.
»In die Hauptstadt.«
»Klar, wohin sonst«, stimmte die Frau zu, »und was willst du
dort?«
»Die Kosmonauten begrüßen.«
»Natürlich«, sagte das Mütterchen, wurde dann aber nach­
denklich. »Sag mal, meine Liebe«, fragte sie unvermittelt, »hat
dein Kätzchen eigentlich ein Auge oder zwei?«
»Zwei«, erwiderte. Alissa seelenruhig, »das eine hält es nur
meist geschlossen.«
»Na schön«, die alte Frau warf noch einen mißtrauischen
Blick auf die Tasche und erklärte dann: »Ich fahre ebenfalls
zum Kosmodrom.«
»Auch die Kosmonauten begrüßen?«
»Ach was, die Kosmonauten. Mein Sohn ist dabei, als Inge­
nieur.« Die Frau holte ein großes Foto jenes Raumfahrers aus
der Tasche, der Alissa besonders gefallen hatte.
»Hier, sieh mal.«
»Ich kenne ihn«, sagte Alissa, »er heißt Tolo.«
»Wer kennt ihn nicht«, erwiderte das Mütterchen stolz.
»Aber weshalb fahren Sie dann mit einem gewöhnlichen
Zug?« fragte Alissa.
»Weshalb denn nicht?«
»Sie sind schließlich die Mutter eines Kosmonauten. Bei uns
werden die Eltern der Raumfahrer immer gemeinsam mit ihren
Kindern geehrt.«
»Ach, was soll das«, die alte Frau lächelte. »Ich hab seit jeher
im Dorf gelebt und bin dort geblieben. Mein Tolo ist ebenfalls
bescheiden. Niemand würde glauben, daß er Kosmonaut ist.
68
Wahrscheinlich hast du in der Zeitung von der Havarie damals
gelesen, die sie hatten, weil ein Meteorit ihnen ein Loch in die
Verschalung schlug? Mein Tolo war’s, der hinausgeklettert ist
und den Schaden behob.«
Die Tasche gab Alissa einen Puff in die Seite, doch das M äd­
chen hatte ohnehin begriffen: Auf diese Weise wohl war die
kosmische Pest aufs Schiff gelangt. Offenbar war Tolo bereits
krank.
»Keine Angst«, sagte sie laut, »wir machen ihn wieder ge­
sund.«
»Wen machen wir gesund?« fragte die Frau.
»Ach, ich meine bloß ...«, verbesserte sich Alissa.
»Mein Tolo ist kerngesund, er war noch niemals krank.
Nicht mal Zahnschmerzen hatte er, so ein Prachtbursche ist
das«. Sie streichelte das Foto und steckte es zurück in die
Handtasche.
Alissa verspürte abermals einen Stoß - den Archäologen
schien irgendwas zu beunruhigen. Was wollte er bloß?
»Versuch, bei ihr zu bleiben«, flüsterte er plötzlich.
»Hast du was gesagt?« fragte das Mütterchen.
»Ja«, erwiderte Alissa, »ich hab vor mich hin gesprochen. Ich
sagte, Sie müßten sehr glücklich sein.«
»Natürlich bin ich das. Wo ich einen solchen Sohn großgezo­
gen habe. Nicht mal Zahnschmerzen hatte er!«
»Ich meine etwas anderes«, entgegnete Alissa, »Sie werden
doch gewiß direkt bis zum Raumschiff vorgelassen.«
»Na und ob. Schließlich muß ich meinen Sohn umarmen.«
»Ich dagegen muß aus einer riesigen Entfernung zusehn,
womöglich komm ich gar nicht aus der Stadt. Dabei gefällt mir
Ihr Tolo! Ehrenwort, er gefällt mir viel besser als die andern.«
»Ist das dein Ernst, Kindchen?« fragte die alte Frau ernsthaft.
»Ehrenwort.«
»Na, dann muß ich wohl ein gutes Werk tun.«
Das Mütterchen begann zu überlegen, Alissa preßte unter­
dessen die Tasche stärker gegen die Bank; der kleine Rrrr ge­
bärdete sich so unruhig, daß die Tasche zitterte, als wäre nicht
bloß ein einziges Kätzchen, sondern ein ganzer Wurf drin.
69
»Sie ist ziemlich wild«, sagte die Frau, »laß sie doch raus.«
»Das geht nicht«, erwiderte Alissa, »sie würde fortlaufen.«
»Hör zu, Kindchen«, begann die alte Frau erneut, »für mich
ist heute ein großer Tag - mein Sohn kehrt als Held zurück.
Deshalb möchte ich etwas Gutes tun, ich denke, Tolo wird es
mir nicht verübeln. Du kommst mit mir zum Schiff und sagst,
du wärst meine Tochter, also Tolos Schwester. Hast du verstan­
den?«
»Oh, vielen Dank, vielen, vielen Dank!« rief Alissa. »Sie kön­
nen sich gar nicht vorstellen, was für ein gutes Werk Sie damit
tun. Nicht nur für mich, sondern auch für sich und überhaupt
für alle!«
»Eine gute Tat ist nie bloß für den einzelnen, sondern für
die Allgemeinheit.«
Natürlich wußte die alte Frau nicht, was Alissa meinte, und
das Mädchen hätte gar zu gern alles erzählt. Sie biß sich so fest
auf die Zunge, daß sie fast blutete. Der Archäologe schien
gleichfalls erraten zu haben, wie es um sie stand - er piekte
Alissa durch das Loch in der Tasche mit dem Messer, so daß
sie vor Schreck aufsprang.
»Du freust dich also sehr«, sagte das Mütterchen, äußerst zu­
frieden, einen anderen Menschen glücklich gemacht zu haben.
»Ja«, antwortete Alissa und kniff die Tasche.
Der Zug drosselte das Tempo. Draußen zogen neuerbaute
Hochhäuser vorbei.

14
So was gibt’s ja - wenn man schon mal Glück hat, dann richtig.
Die alte Frau versprach Alissa nicht nur, sie als ihre Tochter
mit aufs Kosmodrom zu nehmen, sie spendierte ihr auch ein
Mittagessen in einem Restaurant neben dem Bahnhof und
zeigte ihr die Stadt, denn das Mädchen kam ja von weit her.
Dann fuhren sie mit einem Taxi zum Kosmodrom.
Schon lange vor dem Ziel verlangsamte der Wagen das
Tempo. Wenn er mit Mühe den einen Stau überwunden hatte,
mußte er hundert Meter weiter erneut halten. Es hatte den An­
schein, als sei die ganze Hauptstadt unterwegs zum Kosmo­
70
drom. Aber war das etwa verwunderlich - schließlich kehrte
das erste Raumschiff des Planeten zurück. Die Straßen waren
mit Fahnen und Bildern der Kosmonauten geschmückt, und je­
desmal, wenn das Mütterchen ein Porträt ihres Sohnes ent­
deckte, zupfte sie Alissa am Ärmel und fragte: »Na, wer ist
das?«
»Unser Tolo«, antwortete Alissa dann.
»Richtig, unser Junge.«
Das Mütterchen schien allmählich selbst daran zu glauben,
daß Alissa ihre Tochter sei. Als schließlich in einiger Entfer­
nung die Gebäude des Kosmodroms auftauchten, hatte sich
das Taxi endgültig zwischen all den Autos, Bussen, Fahrrädern
und sonstigen Transportmitteln festgefahren. Der Chauffeur
drehte sich zu seinen Fahrgästen um und sagte betrübt: »Ich
würde Ihnen raten, den Rest zu Fuß zurückzulegen, sonst
stehn wir heut abend immer noch hier. Es ist völlig aussichts­
los.«
Sie bezahlten, verabschiedeten sich und gingen zu Fuß wei­
ter. Der Chauffeur holte sie nach etwa zwanzig Schritten ein.
»Ich hab den Wagen zurückgelassen«, sagte er, »was soll ihm
schon passieren. Der nützt heute niemandem was. Ich aber
würd’s mir nicht verzeihen, die Ankunft des Schiffes zu ver­
passen.«
Am äußersten Gebäude des Kosmodroms stand bereits eine
erste Reihe von Polizisten in weißen Festtagsuniformen. Der
Chauffeur wurde nicht durchgelassen, er mußte in der riesigen
Menge jener Zurückbleiben, die keine Eintrittskarte besaßen.
Das Mütterchen und Alissa aber durften ohne weiteres passie­
ren. Die alte Frau zeigte ihren Paß, woraufhin sich einer der
Polizisten sogar erbot, sie zum Flugfeld zu begleiten, damit sie
nicht mehr behelligt würden.
Das Mütterchen beugte sich zu Alissas Ohr und flüsterte:
»Der würde ohne uns nämlich selber nicht bis zum Flugfeld
kommen, deshalb wohl hat er die Leute so eifrig zurückgehal­
ten. Er will ebenfalls sehn, wie unser Tolo aus dem Schiff
steigt.«
Eine halbe Stunde später waren das Mütterchen und Alissa
71
»Sie ist ziemlich wild«, sagte die Frau, »laß sie doch raus.«
»Das geht nicht«, erwiderte Alissa, »sie würde fortlaufen.«
»Hör zu, Kindchen«, begann die alte Frau erneut, »für mich
ist heute ein großer Tag - mein Sohn kehrt als Held zurück.
Deshalb möchte ich etwas Gutes tun, ich denke, Tolo wird es
mir nicht verübeln. Du kommst mit mir zum Schiff und sagst,
du wärst meine Tochter, also Tolos Schwester. Hast du verstan­
den?«
»Oh, vielen Dank, vielen, vielen Dank!« rief Alissa. »Sie kön­
nen sich gar nicht vorstellen, was für ein gutes Werk Sie damit
tun. Nicht nur für mich, sondern auch für sich und überhaupt
für alle!«
»Eine gute Tat ist nie bloß für den einzelnen, sondern für
die Allgemeinheit.«
Natürlich wußte die alte Frau nicht, was Alissa meinte, und
das Mädchen hätte gar zu gern alles erzählt. Sie biß sich so fest
auf die Zunge, daß sie fast blutete. Der Archäologe schien
gleichfalls erraten zu haben, wie es um sie stand - er piekte
Alissa durch das Loch in der Tasche mit dem Messer, so daß
sie vor Schreck aufsprang.
»Du freust dich also sehr«, sagte das Mütterchen, äußerst zu­
frieden, einen anderen Menschen glücklich gemacht zu haben.
»Ja«, antwortete Alissa und kniff die Tasche.
Der Zug drosselte das Tempo. Draußen zogen neuerbaute
Hochhäuser vorbei.

14
So was gibt’s ja - wenn man schon mal Glück hat, dann richtig.
Die alte Frau versprach Alissa nicht nur, sie als ihre Tochter
mit aufs Kosmodrom zu nehmen, sie spendierte ihr auch ein
Mittagessen in einem Restaurant neben dem Bahnhof und
zeigte ihr die Stadt, denn das Mädchen kam ja von weit her.
Dann fuhren sie mit einem Taxi zum Kosmodrom.
Schon lange vor dem Ziel verlangsamte der Wagen das
Tempo. Wenn er mit Mühe den einen Stau überwunden hatte,
mußte er hundert Meter weiter erneut halten. Es hatte den An­
schein, als sei die ganze Hauptstadt unterwegs zum Kosmo­
70
drom. Aber war das etwa verwunderlich - schließlich kehrte
das erste Raumschiff des Planeten zurück. Die Straßen waren
mit Fahnen und Bildern der Kosmonauten geschmückt, und je­
desmal, wenn das Mütterchen ein Porträt ihres Sohnes ent­
deckte, zupfte sie Alissa am Ärmel und fragte: »Na, wer ist
das?«
»Unser Tolo«, antwortete Alissa dann.
»Richtig, unser Junge.«
Das Mütterchen schien allmählich selbst daran zu glauben,
daß Alissa ihre Tochter sei. Als schließlich in einiger Entfer­
nung die Gebäude des Kosmodroms auftauchten, hatte sich
das Taxi endgültig zwischen all den Autos, Bussen, Fahrrädern
und sonstigen Transportmitteln festgefahren. Der Chauffeur
drehte sich zu seinen Fahrgästen um und sagte betrübt: »Ich
würde Ihnen raten, den Rest zu Fuß zurückzulegen, sonst
stehn wir heut abend immer noch hier. Es ist völlig aussichts­
los.«
Sie bezahlten, verabschiedeten sich und gingen zu Fuß wei­
ter. Der Chauffeur holte sie nach etwa zwanzig Schritten ein.
»Ich hab den Wagen zurückgelassen«, sagte er, »was soll ihm
schon passieren. Der nützt heute niemandem was. Ich aber
würd’s mir nicht verzeihen, die Ankunft des Schiffes zu ver­
passen.«
Am äußersten Gebäude des Kosmodroms stand bereits eine
erste Reihe von Polizisten in weißen Festtagsuniformen. Der
Chauffeur wurde nicht durchgelassen, er mußte in der riesigen
Menge jener Zurückbleiben, die keine Eintrittskarte besaßen.
Das Mütterchen und Alissa aber durften ohne weiteres passie­
ren. Die alte Frau zeigte ihren Paß, woraufhin sich einer der
Polizisten sogar erbot, sie zum Flugfeld zu begleiten, damit sie
nicht mehr behelligt würden.
Das Mütterchen beugte sich zu Alissas Ohr und flüsterte:
»Der würde ohne uns nämlich selber nicht bis zum Flugfeld
kommen, deshalb wohl hat er die Leute so eifrig zurückgehal­
ten. Er will ebenfalls sehn, wie unser Tolo aus dem Schiff
steigt.«
Eine halbe Stunde später waren das Mütterchen und Alissa

71
bis zur letzten Absperrung vorgedrungen. Dahinter begann das
unübersehbare Betonfeld, auf dem das Schiff aufsetzen sollte.
Über die Lautsprecher wurde ständig mitgeteilt, daß sich das
Schiff der Koleida näherte. Es bremste bereits ab - bis zur An­
kunft würde nicht mehr viel Zeit vergehn.
Ringsum standen Generäle und hochwichtige Persönlichkei­
ten - Staatsmänner, Gelehrte, Schriftsteller und Künstler. Alle
warteten und waren aufgeregt. Niemand freilich ahnte, daß am
aufgeregtesten in der riesigen Menge, die sich hier eingefun­
den hatte, ein kleines Mädchen namens Alissa war, extra aus
der Zukunft und vom anderen Ende der Galaxis hierher ge­
kommen.
Alissa spürte, wie ihr die Knie zitterten und die Hände
feucht wurden. Sie begann sich sacht zur Absperrung vorzuar­
beiten.
»Wo willst du hin«, fragte das Mütterchen, »ich komme mit.«
Alissa zog unauffällig den Reißverschluß der Tasche auf und
tastete nach dem kleinen Ballon. Sie nahm ihn heraus und
hängte ihn sich über die Schulter.
»Was hast du da?« fragte die alte Frau.
»Eine Thermosflasche«, antwortete Alissa. »Wenn ich Durst
kriege, kann ich draus trinken.«
Die Frau stellte keine weiteren Fragen - sie schaute zum
Himmel hinauf, wo ein heller, schnell größer werdender Punkt
sichtbar wurde.
Das Raumschiff mit der kosmischen Pest an Bord war im Be­
griff, auf der Koleida zu landen.
Es ging sacht, wie im Traum, nieder. Etwa eine Minute lang
hing es unmittelbar über dem Flugfeld, bläuliche Flammen
schossen aus seinen Düsen und brachten den Beton zum
Schmelzen. Dann setzte es auf dem Boden auf, was einen kur­
zen, heftigen Windstoß zur Folge hatte, der den Zuschauern
Hüte und Mützen vom Kopf riß.
Laut setzten die Orchester ein, und mehrere Angestellte des
Kosmodroms entrollten einen weißen Läufer, auf dem die K os­
monauten den Weg vom Schiff bis zu den Gratulanten zurück­
legen würden.
72
»Und was jetzt?« fragte Alissa den Archäologen. Sie wußte,
keiner würde sie hören, denn alle warteten nur darauf, daß sich
die Luke öffnete und die Kosmonauten zum Vorschein kamen.
»Sind wir weit vom Schiff entfernt?« fragte Rrrr.
»Drei- bis vierhundert Schritt. Das schaffe ich nicht, sie wer­
den mich einfangen.«
»Oje«, seufzte Rrrr. »So nah am Ziel und doch unerreichbar!
Aber vielleicht würde ich es schaffen?«
»Ausgeschlossen, wie willst du den Behälter tragen?«
Und wieder war es die alte Frau, die Alissa aus der Klemme
half. Als sie sah, daß die Regierungsmitglieder der Koleida zu
beiden Seiten des weißen Teppichs auf das Schiff zugingen,
weil auch sie es nicht mehr erwarten konnten, schob sie einen
der Polizisten beiseite und sagte: »Mein Sohn ist an Bord.« Sie
sagte es so bestimmt, daß der Polizist sie mit einer Verbeugung
passieren ließ.
Alissa packte die Hand der alten Frau, die sich nochmals um­
drehte, als der Beamte das Mädchen zurückhalten wollte, und
hinzufügte: »Das ist seine Schwester, ohne sie geh ich keinen
Schritt.«
»Dann lassen Sie wenigstens die Tasche da«, sagte der Poli­
zist, »mit Gepäck dürfen Sie hier nicht durch.«
Alissa klammerte sich an die Tasche, so daß etwas Wirrwarr
entstand. Die Frau zog das Mädchen vorwärts, der Polizist zu­
rück, und sie selber wußte nicht, was sie tun sollte. Da sagte
der Archäologe in Kosmossprache, damit niemand sie verste­
hen konnte: »Laß los. Denk an das Wichtigste.«
Zum Glück hatte der Polizist nichts gehört, war auch be­
strebt, mit der anderen Hand die Schaulustigen zurückzuhal­
ten. Alissa ließ die Tasche los und eilte weiter.
Sie waren nun fast am Schiff angelangt, und alle blieben ste­
hen, auch die alte Frau.
Die Luke fuhr langsam auf.
Irgendwann ist Gagarin so auf der Erde begrüßt worden,
dachte Alissa, schade, daß ich zu spät geboren bin. Und dann:
Jetzt wird es aber Zeit!
Im Augenblick, da die Luke voll geöffnet war und der erste
73
Kosmonaut, der Raumschiffkommandant, zum Vorschein kam,
schlüpfte Alissa zwischen einem General und dem Ersten Mi­
nister der Koleida hindurch, entzog sich dem Zugriff des Eh­
renwachenchefs und rannte auf die Luke zu.
»Halt!« schrie es hinter ihr.
»Keine Bange«, hörte sie das Mütterchen sagen, »das ist
meine Tochter.«
Alissa riß im Laufen den Behälter mit dem Impfstoff von der
Schulter.
Der Raumschiffkommandant, als er sie sah, lachte und wies
mit der Hand zur Seite. Alissa blieb für einen Augenblick ste­
hen - sie begriff, daß die Luke zu hoch, für sie also unerreich­
bar war; der Serumstrahl würde nicht bis ins Schiffsinnere ge­
langen.
»Gleich kommt die Treppe!« rief ihr der Kommandant zu,
der offenbar glaubte, Alissa wollte die Kosmonauten willkom­
men heißen und habe die Erlaubnis dazu.
Und da kam auch schon die automatische Gangway ange­
rollt.
»Halt!« rief Alissa dem Kommandanten zu, der bereits den
Fuß auf die Treppe setzen wollte. Dann sprang sie selbst auf
die Gangway, obwohl die noch gar nicht richtig stand.
Sie hörte das Getrappel der Polizisten hinter sich, die sie
einholen und aufhalten wollten. Da hastete Alissa, den Ballon
in den Händen, pfeilschnell die Treppe hoch, richtete den Be­
hälter genau auf das Gesicht des Kommandanten und betätigte
den Knopf.
Ein kräftiger, trüber, stinkender Serumstrahl traf den Kom­
mandanten mit voller Wucht, und er prallte verblüfft zurück.
Millionen Koleidabewohner auf dem Kosmodrom und vor den
Fernsehern schrien vor Schreck auf. Alle dachten, es handle
sich um ein Attentat auf die Kosmonauten.
Alissa aber stand unmittelbar an der Schiffsluke und drückte
unablässig den Knopf des Behälters. Der Nebel hatte das ganze
Schiff schnell eingehüllt und sich in seinem Innern ausgebrei­
tet.
Dann klickte der Knopf ganz von selbst und kehrte in die
74
Ausgangsstellung zurück - der Ballon war leer. In dem Nebel
aber, der sich noch nicht gelichtet hatte, griffen kräftige Hände
nach Alissa und zerrten sie nach unten.

15
Die Zelle, in die man Alissa gebracht hatte, war klein und völ­
lig kahl, nicht einmal ein Stuhl befand sich darin. Hinter der
Tür waren Stimmen zu hören. Es war im Grunde nicht mal
eine Zelle, sondern einfach ein Lagerraum innerhalb des K os­
modroms, aus dem eilig alles entfernt worden war, um die
Hochverräterin einzusperren, die einen Anschlag auf die K os­
monauten verübt hatte.
Alissa setzte sich auf den Fußboden. Sie war glücklich, doch
auch müde und besorgt wegen des Archäologen - was mochte
aus ihm geworden sein?
Sie konnte sich sehr wohl die Panik vorstellen, die jetzt auf
dem Planeten herrschte, denn niemand begriff ja das geringste.
Alle fragten sich, ob die Raumfahrer Schaden genommen hät­
ten, und tausend schlimme Gerüchte gingen um.
Fünf Minuten verstrichen, dann weitere fünf. Wahrschein­
lich, so dachte Alissa, sind sie vollauf mit den Kosmonauten
beschäftigt und haben keine Zeit für mich. Doch gleich darauf
kam ihr ein anderer Gedanke: Nun gut, sie hatte die Koleida
retten können, aber was weiter? Sie würde auf immer und ewig
hier festsitzen und den lärmenden, gutmütigen Gromoseka nie
wiedersehn. Auch nach Hause, auf die Erde würde sie nicht
mehr zurückkehren ...
Ihr war nach Weinen zumute, und sie tat es. Tat es wohl we­
niger aus Mitleid mit sich, sondern weil sie erschöpft und über­
reizt war. Nachdem sie ein bißchen geweint hatte, ging es ihr
wieder besser, denn sie begriff, daß man sie nie und nimmer
im Unglück allein lassen würde. Wenn nötig, würden sie drei
weitere Zeitmaschinen von der Erde herbeischaffen, und dann
würden Petrow, Richard oder vielleicht Gromoseka selbst sie
holen kommen. Sie würden den Koleidanern alles erzählen
und die wiederum ihr möglicherweise ein Denkmal setzen ...
75
Über diesem Gedanken schlief Alissa, gegen die Wand gelehnt,
ein. Und in der Tat wurde sie von niemandem befragt, denn
auf dem Kosmodrom herrschte furchtbare Panik. Doch als
Alissa weggebracht worden war und der Nebel sich lichtete,
zeigte sich, daß die Raumfahrer keinerlei Schaden genommen
hatten. Und da sie nun einmal gelandet waren, wurden die Fei­
erlichkeiten auch fortgesetzt, Alissa aber für einige Zeit verges­
sen.

16
Alissa wußte nicht, wie lange sie geschlafen hatte, ob zehn Mi­
nuten oder drei Stunden. Plötzlich rief jemand leise ihren N a­
men. Sie öffnete die Augen und schaute sich um. Die Zelle war
leer, hinter der Tür ertönten Schritte - sie wurde sorgsam be­
wacht.
»Alissa, hörst du mich?«
»Bist du es, Rrrr?«
»Ja, ich. Geh in die Ecke, die am weitesten von der Tür ent­
fernt ist, und hilf mir.«
Alissa erhob sich leise und ging zu der angegebenen Stelle.
Dort entdeckte sie ein kleines Gitter im Fußboden, an das sich
von unten her das flauschige Gesicht des Archäologen preßte.
»Sei nicht traurig«, flüsterte Rrrr und blinzelte mit dem flie­
derfarbenen Auge, »ich hol dich hier raus.«
»Wie bist du hierhergekommen?«
»Das kann ich dir jetzt nicht so schnell erzählen. Jedenfalls
hab ich, während sie schreiend hinter dir herliefen, den Reiß­
verschluß der Tasche geöffnet und bin rausgesprungen. Ich
wär fast totgetrampelt worden. Dann hab ich aufgepaßt, wo sie
dich hinbringen - auf ein Kätzchen achtet niemand. Um so
mehr, als ich mir inzwischen den Schwanz wieder angenäht
hatte.«
»Und weiter?«
»Na ja, dann hab ich mich im Gebäude hier umgesehn und
dieses Gitter entdeckt. Ich hab es von unten entriegelt, bin
aber nicht kräftig genug, es aufzustoßen. Also mach schnell,
streng dich ein bißchen an.«
76
Alissa packte das Gitter, doch es gab kaum nach.
»So zieh doch!« flehte der kleine Rrrr. »Sie werden dich
gleich holen.«
Hinter der Tür wurden Stimmen laut, Schritte näherten sich
der Zelle. Da zerrte Alissa aus Leibeskräften an den Stäben,
und das Gitter brach laut klirrend heraus.
»Los, spring!« rief Rrrr. »Hab keine Angst, hier ist es nicht
tief!«
In diesem Moment wurde die Zellentür aufgeschlossen, und
Alissa sprang, die Augen zukneifend, in das schwarze Loch un­
ter ihr. Der kleine Rrrr konnte gerade noch zur Seite hüpfen.
»Lauf hinter mir her«, sagte er.
Alissa rannte lange durch die dunklen verzweigten Flure des
unterirdischen Kosmodromgeländes. Sie stieß sich blaue
Flecke an Armen und Knien, zerriß sich einen Ärmel, doch ein
Verschnaufen war unmöglich - der Archäologe lief voran und
drängte: »Ausruhn kannst du zu Hause. Hörst du nicht, die
Verfolger sind uns auf den Fersen.«
Sie erreichten den Hinterhof des Flughafens, eine Minute
bevor das gesamte Gebäude von Militär umstellt war. Dabei
kam ihnen der Umstand zu Hilfe, daß sich noch immer sehr
viele Menschen auf dem Kosmodrom befanden. Die Soldaten
und Polizisten, die die Hochverräterin greifen wollten, wurden
so am schnellen Vorwärtskommen gehindert.

17
Ein langer, aufregender Tag auf der Koleida ging zur Neige.
Die Sonne versank hinter den hohen Bäumen des Waldes, der
sich an das Kosmodrom anschloß.
»Oje, bin ich müde!« sagte Alissa. Sie steuerte den erstbesten
Baum an und hielt sich an seinem Stamm fest. »Ich könnte glatt
Umfallen.«
Der puschlige Rrrr lugte hinter dem Baum hervor und verge­
wisserte sich, ob auch keine Verfolger zu sehen waren.
»Laß dich nicht so gehn, Alissa«, rügte er, »reiß dich zusam­
men. Wir haben erst die Hälfte der Aufgabe erfüllt.«

77
»Wieso die Hälfte? Wir haben doch alles erledigt und den
Planeten gerettet.«
»Ich weiß nicht, mein Mädchen, ich weiß nicht«, erwiderte
der kleine Rrrr, und er sagte das wie ein alter, weiser Opa. »Es
stimmt schon, du hast den Impfstoff versprüht, doch ob das
irgendwas bewirkt hat, werden wir erst erfahren, wenn wir wie­
der zurück sind.«
»Willst du damit sagen, wir fahren zurück, und alles ist beim
alten geblieben?«
»Das weiß ich eben nicht ...«
»Dann lieber gar nicht erst zurückkehren.«
»Du bist müde, Alissa«, sagte Rrrr, »und überreizt.«
Dumpfe Trommelschläge hallten herüber - in der Ferne
spielte noch immer das Orchester. Die satte warme Luft erzit­
terte jedesmal unter dem Trommelgedröhn. Über dem Flugha­
fengebäude stieg eine riesige bunte Luftballongirlande hoch.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie alle krank
werden«, sagte Alissa.
»Sie werden schon verschont bleiben«, tröstete der Archäo­
loge. »Hättest du das Serum nicht versprüht, wüßtest du jetzt
mit Sicherheit, daß sie zum Tode verurteilt sind. Das wäre
noch viel schlimmer.«
Alissa nickte, der kleine Rrrr hatte recht.
»Na, hast du dich etwas erholt?« fragte er. »Wir müssen uns
beeilen und bis Anbruch der Dunkelheit die Stadt möglichst
weit hinter uns lassen.«
»Und wo geht’s jetzt hin?« fragte Alissa, die nirgends mehr
hin wollte. Sie hätte sich am liebsten ins Gras gelegt und ge­
schlafen, um zu Hause wieder aufzuwachen. »Zum Bahnhof?«
»Auf gar keinen Fall«, erwiderte Rrrr, »dort würden sie uns
sofort erkennen! Du bist doch jetzt nach den Kosmonauten der
bekannteste Mensch auf dem Planeten, schließlich haben dich
mehrere Millionen Koleidaner auf dem Bildschirm gesehn.
Nein, wir kehren zu Fuß zurück.«
Und so nahmen sie den Weg durch den Wald. Rrrr lief
vorneweg, orientierte sich an der Sonne, um die Bahngleise
anzusteuern und, ihnen folgend, das Städtchen zu erreichen,
78
in dessen Nähe die Archäologen ihr Lager aufgeschlagen hat­
ten.
Alissa hatte sich den Fuß aufgerieben, doch Rrrr erlaubte ihr
nicht, zu verschnaufen und den Schuh auszuziehn. Sieh an,
dachte Alissa, auf der Herfahrt war ich gut für die Führung,
jetzt aber fällt ihm ein, daß er älter und für mich verantwortlich
ist. Doch sie hatte keine Lust, mit dem kleinen Archäologen zu
streiten, hielt es auch für sinnlos, ihn davon zu überzeugen,
daß Petrow und Richard sie schon finden würden. Rrrr würde
ihr unweigerlich entgegenhalten, eine solche Suchaktion
könnte durchaus mißlingen.
Plötzlich war der Wald zu Ende. Brachland streckte sich hin,
dahinter standen Häuser. Doch die beiden mußten im Schutz
der Bäume bleiben, denn über dem freien Gelände kreiste ein
kleiner gelber Hubschrauber.
»Eine Patrouille«, sagte Rrrr, »sie vermuten, daß wir uns im
Wald versteckt haben.«
»Und was jetzt?« fragte Alissa. »Wollen wir auf einen Baum
klettern?«
»Nein, da finden sie uns schnell. Laß uns zurücklaufen.«
Wie sich herausstellte, hatte der Archäologe etwas im Wald
entdeckt - dorthin führte er Alissa.
Auf einer großen, staubigen und ziemlich zertrampelten
Lichtung befand sich eine Art Rummelplatz, und dort standen,
von einem niedrigen Zaun umgeben, Luftschaukeln, Karus­
sells, Riesenräder, denen der Erde ähnlich und doch ganz an­
ders. Die beiden krochen unter eins der knarrenden Karussells
und legten sich flach hin. Dicht über ihnen befand sich der
Bretterboden, und durch einen Spalt konnte Alissa einen
schmalen Streifen hellen Himmels sehen.
Sie hatten sich genau zur rechten Zeit versteckt. Drei Minu­
ten später näherten sich Polizisten dem Rummelplatz. Sie rie­
fen sich gegenseitig etwas zu, dann stieg einer von ihnen auf
das Karussell, so daß sich die Bretter unter seinen Schnürstie­
feln durchbogen.
Alissa unterdrückte mit Mühe ein Niesen, denn unter dem
Gefährt war es staubig und schwül. Als der Polizist genau über

79
ihr stand - seine Sohlen verdeckten den hellen Spalt fragte
er einen Kollegen: »Hast du schon da drunter nachgesehn?«
»Nein«, rief der andere, »mach du das.«
»Ich hab keine Taschenlampe mit.«
»Das geht auch ohne, da paßt sowieso kaum jemand drun­
ter.«
Der Polizist kniete sich hin, und Alissa rutschte schnell zur
äußersten Wand, preßte sich fest an sie.
Eine kleine Holztür wurde aufgestoßen, die schwarzen Um­
risse des Polizisten zeichneten sich ab. Er starrte lange ins
Dunkel und fragte sicherheitshalber: »Ist da jemand?«
»Kommst du endlich?« rief aus einiger Entfernung der an­
dere.
»Ja doch«, antwortete der Polizist und knallte das Türchen
zu. »Hier ist niemand. Wahrscheinlich ist sie mit ’nem Flug­
zeug weg.«
»Bestimmt«, sagte die zweite Stimme, »einen solchen An­
schlag führt man nicht im Alleingang aus.«
»Wir bleiben hier bis zur Dunkelheit«, sagte Rrrr, als die
Schritte der Polizisten verhallt waren, »sonst fassen sie uns im
Nu.«
Es gelang ihnen erst am späten Abend, ihr Versteck zu ver­
lassen. Etwa eine Stunde nachdem die Polizisten gegangen wa­
ren, begann sich der Vergnügungspark zu füllen. Der Besitzer
des Karussells putzte lange an seinem Gefährt herum, fegte al­
les und schaltete dann den Motor ein. Etwa drei Stunden hin­
durch drehte es sich quietschend über ihren Köpfen, zu einer
fröhlichen Musik, die Alissa aber bald - satt hatte. Außerdem
kam es den beiden vor, als würde jeden Augenblick einer der
Fahrgäste durch den Boden brechen und sie erdrücken.
Als Alissa kaum noch liegen konnte und furchtbar genervt
war, weil sie bei der dröhnenden Musik und dem Karussellge­
quietsche nicht schlafen konnte, ließ das Treiben auf dem
Rummel nach. Das Karussell drehte seine Runden immer selte­
ner, die Stimmen draußen wurden weniger, und gegen Mitter­
nacht kehrte Ruhe ein.
Sie krochen ins Freie, und Rrrr massierte mit seinen kräfti­
80
gen Ärmchen lange Alissas Beine. Sie waren dermaßen einge­
schlafen, daß das Mädchen nicht laufen konnte. Danach aller­
dings wurde es noch schlimmer: Als Alissa wieder Gefühl in
ihnen bekam, hatte sie den Eindruck, Tausende kleiner Nadeln
würden darin stechen.
»Na, geht’s wieder?« fragte Rrrr.
»Ja«, sagte Alissa. Jetzt, da sie so viel erduldet hatten, begriff
sie eins: Sie mußten auf Biegen und Brechen zu ihren Leuten
zurück.
Erneut durchquerten sie den Wald, traten auf das Brachland
hinaus und erreichten schließlich in einem Bogen um Gruben
und Abfallhaufen ein Neubaugebiet am Stadtrand. Bevor sie
nicht die letzten Häuser hinter sich gelassen hatten, bewegten
sie sich langsam voran - Rrrr lief voraus, prüfte die Lage, und
erst dann folgte ihm Alissa.
Es war fast zwei Uhr nachts, als sie endlich die Eisen­
bahngleise erreichten. Die Schienen schimmerten im Mond­
licht.
Sie gelangten auf einen Pfad, der an der Strecke entlang­
führte, und ließen die Hauptstadt endgültig hinter sich. Alissa
stellte sich dauernd die Mutter des Kosmonauten Tolo vor, wie
sie auf das fremde Mädchen schimpfte, das ihr Vertrauen er­
schlichen hatte. Ja, sie hörte regelrecht die Stimme der alten
Frau, die alles ihrem Sohn erzählte: »Und ich hab ihr sogar
noch eine Tomate geschenkt! Hätte ich das gewußt - sie hätte
keinen Bissen abbekommen. Schon diese verdächtige Katze,
die sie bei sich hatte.«
Gegen Morgen gelang es ihnen, auf die Plattform eines G ü­
terzuges zu klettern, der an einer Weiche hielt. So erreichten
sie, zerlumpt zwar, gemartert und halbtot, doch überglücklich
mit den ersten Sonnenstrahlen die kleine Anhöhe, von der aus
nur noch ein Schritt zu tun war. Gleich konnte die Zeit­
maschine sie wieder in Empfang nehmen und ins Archäologen­
lager zurückbringen.
Da plötzlich stellte Alissa fest, daß ihr dieser letzte Schritt
sehr schwerfiel.
»Ich hab Angst«, sagte sie.
81
»Das versteh ich«, erwiderte der kleine Rrrr, »ich hab eben­
falls Angst.«
»Wenn wir nun zurückkommen und alles beim alten geblie­
ben ist? Wenn wir nichts erreicht haben?«
»Beschrei das bloß nicht«, sagte der Archäologe. Er hatte sei­
nen Schwanz erneut verloren, diesmal unwiederbringlich.
Sie schwiegen eine Weile, dann bückte sich Alissa und nahm
Rrrr auf die Arme. Sie tat den letzten Schritt.
Ein Klicken ertönte, leichter Nebel umfing Alissa, sie
glaubte sich weit fortgetragen, dann fiel sie, fiel ...
Und stand plötzlich in der Zeitkabine.

18
Durchs Glas war die massige Gestalt Gromosekas zu erkennen,
neben ihm standen Petrow und, übers Steuerpult gebeugt, Ri­
chard. Alissa aber, in der Kabine, wagte nicht, sich zu rühren.
Die Tür machte keine Anstalten aüfzugehn. Da hob Gromo-
seka seinen Tentakel und deutete an, daß sie vergessen hatte,
den grünen Knopf zu drücken. »Ach ja«, sagte Alissa und betä­
tigte ihn. Die Tür rollte zur Seite. Alissa entließ den kleinen
Rrrr aus ihren Armen, und er fiel zu Boden.
»Alles in Ordnung«, sagte Gromoseka, »wir können starten.«
»Zu Befehl, starten!« ertönte es aus dem Lautsprecher.
Dumpf heulten die Triebwerke auf, das Steuerpult
schwankte, und Alissa spürte zunehmende Schwere - die Gra­
vitationsvorrichtungen begannen zu arbeiten.
»Na was ist?« fragte schließlich Rrrr.
Gromoseka streckte seine langen Fangarme vor, hob Alissa
hoch, und sie sah plötzlich dampfende Tränen über sein grü­
nes Gesicht rollen. »Mein Töchterchen«, sagte er, »mein Lie­
bes! Ich danke dir!«
»Na was ist?« fragte nun auch Alissa.
»Alles in O-ordnung«, erwiderte Petrow, »es ist alles in O-
ordnung, wenn auch eine Ungehörigkeit.«
»Über Sieger wird nicht gerichtet«, sagte Richard. »Und Sie,
Michail Petrowitsch, wissen das.«
83
»Ich jedenfalls«, sagte Gromoseka und ließ Alissa noch im­
mer nicht aus seinen Tentakeln, »bin bereit, jede Strafe auf
mich zu nehmen.«
»Es ist also geglückt?« vergewisserte sich der kleine Rrrr.
»Ja, es ist geglückt.«
»Und wieso bewegen wir uns?«
»Wir fliegen«, antwortete Gromoseka, »wir fliegen zurück.«
»Weshalb denn das?« fragte Alissa erstaunt. Sie fühlte sich
sehr behaglich in Gromosekas Armen.
»Kaum daß du mit Rrrr in die Vergangenheit aufgebrochen
warst, habe ich das ganze Lager geweckt«, erwiderte Gromo­
seka.
»Um unsre Verfolgung aufzunehmen?«
»Ach wo. Ich wußte doch, daß du in der Nacht versuchen
würdest, in die Vergangenheit zu entwischen. Meine Meinung
dazu kennst du - ich hab dich nicht gehindert.«
»Du schliefst also nicht?«
»Im Gegenteil, ich hab dich ja noch an deinen Pullover erin­
nert.«
»Ich hab mich so bemüht, leise zu sein!« sagte Alissa.
»Und ich tat alles, was in meinen Kräften stand: Hab dir die
Wirkungsweise des Serumbehälters erklärt, dich gegen alles
impfen lassen und Rrrr gebeten, dich zu begleiten, denn allein
hätt ich dich sehr ungern losgeschickt.«
»Was denn, Kätzchen«, sagte Alissa zu ihrem Begleiter, »du
wußtest von Anfang an, daß ich in die Vergangenheit reisen
würde?«
»Aber ja«, erwiderte der kleine Archäologe, »wer denn sonst
hätte mit dir fahren sollen. Ich bin der Kleinste von allen, und
den Schwanz hatte ich auch beizeiten vorbereitet. Du mußt zu-
gebeh, daß ich dir von Nutzen war.«
»Sehr sogar. Er hat mich nämlich aus der Gefangenschaft be­
freit, Gromoseka.«
»Wirklich? N a wunderbar. Das erzählst du mir aber alles spä­
ter. Wir hier waren inzwischen in heller Aufregung, wollten
schon einen Rettungstrupp losschicken.«
»Trotzdem - weshalb sind wir im Raumschiff?«
84
»Weil ich, kaum daß ihr weg wart, sicherheitshalber unser
Lager und die Zeitstation startklar machen ließ. Wir konnten ja
nicht wissen, was in den hundert Jahren hier passiert ist. Viel­
leicht war an der Stelle, wo unsre Zelte standen, eine neue
Stadt entstanden. Oder ein Stausee.«
»Das war vielleicht eine Schufterei!« sagte Richard. »Inner­
halb von sechs Stunden brachen wir das gesamte Lager ab, de­
montierten die Station und verluden die Zeitkabine auf das
letzte Raumschiff. Dann warteten wir ab.«
»Ja und, ist etwas geschehn?« fragte Alissa.
Gromoseka trug sie zum Bullauge.
Das Schiff hatte bereits ziemliche Höhe erreicht, und die
Koleida nahm den halben Himmel ein. Das gesamte Antlitz
des Planeten aber zeigte sich von hellen Punkten übersät - es
waren die Lichter seiner Städte und Fabriken.
»Es passierte am Nachmittag«, begann Gromoseka. »Wir
standen an den Bullaugen und paßten auf, denn wir wußten ja,
wann das Raumschiff landen sollte. Wir schauten also und
zählten die Minuten. Ehrlich gesagt, glaubten wir nicht recht
daran, daß du zum Schiff Vordringen könntest ...«
»Plötzlich«, unterbrach ihn Richard, »sahen wir, wie von
einer Sekunde zur andern die Felder grün wurden.«
»Und wie dort, wo sich die alte Stadt befunden hatte, Hoch­
häuser wuchsen«, fügte Petrow hinzu.
»Und ein Vogel über ihnen hinflog«, sagte Gromoseka.
»Da begriffen wir, daß Alissa die kosmische Pest besiegt hatte.«
»Aber wieso bemerkte man euch nicht?« fragte Rrrr.
»Wir haben unser Raumschiff in die Erde versenkt und ein
Tarnnetz drübergebreitet. Dabei hatten wir auch Glück - es
handelte sich um ein brachliegendes Feld. Beim Aufsteigen ha­
ben sie uns allerdings bestimmt um so besser bemerkt.«
Und genau in diesem Moment ertönte eine Stimme im Laut­
sprecher: »Hier spricht der Kommandant des Raumschiffs. So­
eben haben Wachsatelliten des Planeten Koleida Verbindung
zu uns aufgenommen. Sie fragen, wer wir sind, wohin wir flie­
gen und weshalb wir uns nicht bei ihrem Dispatcher gemeldet
haben.«
85
»Antworten Sie, daß wir Kurs auf ihren Wachsatelliten neh­
men«, sagte Gromoseka, »sie sollen uns erwarten, dann erklä­
ren wir ihnen alles.«

- 19
Gromoseka ging mit Alissa, die sich inzwischen gewaschen
und umgezogen hatte, durch die Korridore des Wachsatelliten,
und das Mädchen bat den Chefarchäologen: »Wenn du ihnen
alles erklärst, vergiß bitte nicht zu fragen, ob sie mir auf der
Koleida ein Denkmal gesetzt haben.«
»Was ist?« fragte Gromoseka erstaunt.
»Na, ob sie Rrrr und mir ein Denkmal gesetzt haben«, wie­
derholte Alissa, »immerhin haben wir sie gerettet.«
Gromoseka lächelte, gab aber keine Antwort.
Der diensthabende Dispatcher begrüßte die Gäste am zen­
tralen Steuerpult. Er war ein kleines Männchen, kaum größer
als Alissa, und besaß Ähnlichkeit mit dem Ingenieur Tolo. Bei
Gromosekas Anblick zuckte er vor Schreck zusammen und trat
einen Schritt zurück, doch dann fing er sich wieder und ver­
suchte zu lächeln.
»Wir stammen von der Erde«, sagte Gromoseka nach der Be­
grüßung, »und von anderen Planeten der Galaktischen G e­
meinschaft, der Sie wahrscheinlich in Kürze beitreten werden.
Entschuldigen Sie, daß wir ohne Ihre Erlaubnis auf der K o­
leida weilten, es hatte sich so ergeben.«
»Mir ist völlig unverständlich, wie Sie neben einer großen
Stadt niedergehen konnten, ohne bemerkt zu werden«, sagte
der Dispatcher.
»Wir sind nicht nur gelandet, sondern haben fast ein halbes
Jahr auf Ihrem Planeten zugebracht«, erwiderte Gromoseka.
»Wie denn das?«
»Wir sind Archäologen und fanden heraus, woran Ihr Planet
zugrunde ging.«
»Aber unser Planet ging niemals zugrunde«, sagte der Mann
verblüfft, »soll das ein Scherz sein?«
»Keinesfalls«, beteuerte Gromoseka. »Doch sagen Sie bitte,
ob Ihnen dieses Mädchen bekannt ist«, er zeigte auf Alissa.
86
»Natürlich nicht.«
»Sie war schon einmal auf Ihrem Planeten, freilich ist das
lange her.«
»Wann soll das gewesen sein?«
»Vor hundert Jahren.«
»Also wirklich«, sagte der Dispatcher, »Sie sprechen in Rät­
seln. Und wenn es doch ein Scherz sein sollte, ist’s ein sehr
merkwürdiger.«
»Vor hundert Jahren«, entgegnete Gromoseka, »ist doch Ihr
erstes Raumschiff zurückgekehrt, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt«, bestätigte der Dispatcher, »voriges Jahr fei­
erten wir den hundertsten Jahrestag dieses Ereignisses.«
»Und gab es damals, als das Raumschiff landete, keinerlei
Zwischenfall?«
»Nein«, sagte der Dispatcher, »alles verlief normal. Der Tag
wird seither jedes Jahr als Feiertag begangen.«
»Ich bestehe dennoch darauf, daß an genau diesem Tag und
zu dieser Stunde das Mädchen hier - sie heißt Alissa - auf
dem Kosmodrom weilte und Ihren Planeten vor dem Unter­
gang bewahrte.«
»Man hat mich sogar eingesperrt«, fügte Alissa hinzu.
Der Dispatcher seufzte tief, als sei er es leid, sich das Gerede
solch verrückter Gäste anzuhören. »Er glaubt uns nicht,
Alissa«, sagte Gromoseka, »man glaubt uns einfach nicht. Hö­
ren Sie, haben Sie nicht eine Bibliothek an Bord?«
»Ja, wieso?«
»Dort findet sich vielleicht ein Geschichtsbuch.«
»Meinetwegen«, der Dispatcher zuckte die Schultern, »war­
ten Sie einen Augenblick.« Er drückte einen Knopf auf seinem
Pult, eine der Armaturen an der Wand fuhr zur Seite und gab
den Blick auf mehrere Bücherregale frei. Der Dispatcher griff
sich eins der Bücher.
»Ist darin die Ankunft der ersten Kosmonauten beschrie­
ben?« erkundigte sich Gromoseka.
»Einen Augenblick«, erwiderte der Mann und begann in
dem Buch zu blättern.
»Na lesen Sie schon«, forderte Gromoseka. In Erwartung des
87
bevorstehenden Vergnügens trat er von einem Tentakel auf
den anderen.
»>Dann kam das Schiff in Sicht ...<«, las der Dispatcher.
»Weiter, weiter«, drängte der Archäologe und schaute dem
Männchen über die Schulter. »Hier«, er stukte seinen Fingerna­
gel auf die betreffende Zeile.
»>Das feierliche Ereignis wurde durch die ungewöhnliche
Tat eines jungen Mädchens verschönt<«, las der Dispatcher
weiter. »>Sie lief als erste zum Schiff und besprühte die K os­
monauten mit Parfüm. Ihr Name blieb unbekannte«
»Das ist alles?« fragte Alissa.
»Aber ja.«
»Dieses Mädchen war ich. Allerdings hab ich die Kosmonau­
ten nicht mit Parfüm besprüht, sondern mit Serum.«
Spätestens hier war der Dispatcher mit seiner Geduld am
Ende. Gromoseka, der das begriff, sagte: »Scherz beiseite, uns
steht ein langes und ernsthaftes Gespräch bevor. Ich wende
mich jetzt ganz offiziell an Sie: Das Raumschiff >Erde< erbittet
die Erlaubnis der Koleida, auf einem ihr genehmen Kosmo­
drom landen zu dürfen. Ich will nun nicht weiter in Rätseln re­
den und werde den Vertretern Ihrer Regierung alles ausführ­
lich darlegen.«
»Einen Augenblick«, antwortete der Dispatcher erleichtert,
»ich bringe sofort in Erfahrung, auf welchem Kosmodrom noch
Landeplätze frei sind.«
Als Gromoseka und Alissa wieder auf dem Weg zu ihrem
Schiff waren, legte der Archäologe dem Mädchen sacht einen
Tentakel auf die Schulter und sagte: »Mach dir nichts draus.
Vielleicht setzen sie dir später hier doch noch ein Denkmal.«
»Ach was«, erwiderte Alissa, »ich brauch ihr Denkmal nicht.
Das wichtigste ist, daß sie leben und gesund sind.« Sie schwieg
einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Ärgerlich ist bloß,
daß in ihrem Geschichtsbuch steht, ich hätte sie mit Parfüm
besprüht.«
»Die Geschichte«, erwiderte Gromoseka, »speichert nur die
entscheidenden Fakten. Die Einzelheiten werden von den
Menschen oftmals vergessen.«
88
SA

D ie Gefangenen des Asteroiden


1
Die »Arbat« war früher ein Erkundungsboot gewesen. Für ge­
wöhnlich befinden sich an Bord eines Raumschiffs für Fern­
erkundung zwei solcher Boote. Sie sind für eine Landung
auf Planeten und zur Erforschung innerplanetarer Systeme
bestimmt. Da solche Boote in schwierige Situationen geraten
können, besitzen sie eine ausgezeichnete Qualität, sind
schnell, stabil, strapazierfähig und von langer Lebensdauer.
Polina Metelkina, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zeitin­
stitut und Koordinator der Sektion für fremde Planeten, hatte
sich mit einiger Mühe ein solches aus dem Verkehr gezogenes
Boot verschafft, weil sie des öfteren zu Stützpunkten ihres In­
stituts auf dem Mars oder Pluto fliegen mußte. Und da derar­
tige Boote keinen Namen besitzen, hatte sie es »Arbat« getauft.
Diese Bezeichnung erscheint nur auf den ersten Blick unge­
wöhnlich, die Erklärung dafür ist ganz einfach: Polina war in
Moskau, in der Arbat-Straße, geboren und aufgewachsen.
Als sie im Juli wieder einmal zum Pluto fliegen wollte, be­
kam sie einen Anruf von ihrem alten Bekannten Professor Se-
lesnjow, dem Direktor des Moskauer Zoos für Kosmostiere. Er
bat sie, seine Tochter Alissa mitzunehmen, denn seine Frau -
Alissas Mutter - war als Architektin auf dem Asteroiden Pal-
lada gerade mit dem Bau eines Kulturzentrums beschäftigt,
Alissa aber hatte Ferien und wollte die Mutter besuchen. Das
Passagierschiff zur Pallada ging erst in zwei Wochen, und nun
hatte er von dieser günstigen Gelegenheit gehört.
Polina war sofort einverstanden, Alissa mitzunehmen, denn
sie hätte sonst allein fliegen müssen, in Gesellschaft aber flog
sich’s angenehmer.

89
Bei Licht besehen, gingen sie freilich zu dritt auf die Reise.
Polina hatte nämlich von der Fernerkundung zusammen mit
dem Erkundungsboot auch einen alten Roboter namens Posei­
don erhalten. Poseidon hatte während der Expeditionen sein
Bestes gegeben, nun arbeiteten dort neue Automaten, die ge­
wandter, klüger und geschickter waren. Doch bei gewöhnli­
chen Planetenflügen war er als Bordhilfe durchaus zu gebrau­
chen.
Im Laufe seines langen Roboterlebens hatte Poseidon Cha­
rakter entwickelt, Erfahrungen gesammelt, kleine Eigenheiten
und Launen erworben - kurz, er hatte menschliche Züge ange­
nommen. Mit Polina flog er nunmehr das dritte Jahr, sie hatten
sich angefreundet und gelernt, die Schwächen des anderen zu
akzeptieren. Dennoch war ein Roboter eben nur ein Roboter.
Polina hatte keine eigenen Kinder, doch sie mochte Kinder.
Deshalb kümmerte sie sich auch - so sah es jedenfalls Alissa -
weit mehr um sie, als nötig gewesen wäre. Im übrigen aber ka­
men sie bestens miteinander aus und bedauerten fast, daß die
Reise so kurz war.

2
An jenem Tag saß Alissa im Pilotensessel und beobachtete die
Sterne, die auf dem Bildschirm für die Frontansicht aufleuchte­
ten und wieder verlöschten - die »Arbat« war in den Asteroi­
dengürtel eingetaucht, und der Autopilot hatte die Geschwin­
digkeit verringert, weil hier die Navigationsbedingungen
schwierig waren.
Schräg über den Bildschirm kam ein Funken geflogen. Das
Schiff erzitterte, denn es wechselte den Kurs, um nicht mit
dem Meteoriten zusammenzustoßen.
»Vorsicht«, rief Polina aus der Kombüse, »ich verschütte ja
die Suppe!«
Diese Worte galten dem Autopiloten, der sie natürlich nicht
hörte. Dafür hörte Poseidon sie um so deutlicher. Er saß in der
Gemeinschaftskajüte und las, die Metallbeine auf ein niedriges
Tischchen gelegt, in einem Videobuch.
Das Mannschaftslogis auf einem Erkundungsboot war ein
90
kleiner Raum, in dem gerade mal ein Eßtisch und drei bis vier
Sessel Platz fanden. Außerdem bildete die eine Ecke mit Herd
und Ausguß, durch eine halbrunde Trennwand abgeteilt, die
Kombüse.
»Kein Grund, den Autopiloten zu rügen«, ließ sich Poseidon
vernehmen. »Im Asteroidengürtel herrscht nun mal erhöhte
Meteoritengefahr. Deshalb rate ich dir, Polina, dich bei der Zu­
bereitung der Speisen zu beeilen. Es sind noch weit schärfere
Kursfluktuationen möglich.«
»Du bist ein Pessimist, Poseidon«, antwortete Polina. »Ich
bin diese Route schon an die zwanzigmal geflogen, ohne je
solch scharfe Kursfluktuationen beobachtet zu haben, wie du
es zu nennen beliebst.«
»Kein Wunder«, brummte Poseidon, der es nicht ertrug,
wenn ihm widersprochen wurde. »Sonst hast du dich ja auch
von Konserven ernährt, während du jetzt die Hälfte der Zeit in
der Kombüse zubringst. Ich erkenne dich nicht wieder.«
»Konservennahrung ist nicht gut für Alissa«, erwiderte Po­
lina.
Das Schiff erbebte erneut, so daß im Schrank die Tassen
klirrten.
»Und doch wäre ich an deiner Stelle nicht so leichtsinnig«,
sagte der Roboter, der gern das letzte Wort hatte. »Erinnerst
du dich noch, was voriges Jahr mit dem Containerraumschiff
>Dahlia< passierte? An diesen furchtbaren Zusammenstoß, des­
sentwegen der ganze Jupiter und die Stützpunkte auf dem Ura­
nus ohne Erdbeeren blieben?«
»Und was war passiert?« fragte Alissa.
»Natürlich die Touristen«, erwiderte Poseidon, »von denen
kommt alles Unheil.«
»Lieber Poseidon, spann mich nicht länger auf die Folter, er­
zähl schon«, bat Alissa.
»Die >Dahlia< war mit einem unvorhergesehenen Meteori­
tenschwarm zusammengestoßen. Bei genauerer Untersuchung
aber erwiesen sich diese Meteoriten als künstliche Gebilde.«
»Wer soll die geschaffen haben?«
»Na die Touristen. Oder einfacher ausgedrückt - diese G e­
91
bilde stellten den Inhalt eines Abfallcontainers dar, den irgend­
wer über Bord geworfen hatte. Die Abfälle und Speisereste ver­
wandelten sich augenblicklich in harte Eisklumpen und flogen
mit der gleichen Geschwindigkeit weiter, in der sich das Schiff
fortbewegte, aus dem man sie geworfen hatte. Die >Dahlia<
aber kam ihnen entgegen. Nun verdoppel die Geschwindigkeit
und stell dir vor, was dabei herauskommt! Ein Glück nur, daß
die >Dahlia< keinen Piloten an Bord hatte, sondern automatisch
gesteuert wurde.«
»Aber es ist doch streng untersagt, etwas in den Kosmos zu
werfen«, sagte Alissa.
»Genau! Nicht genug, daß sie schlecht gelöschte Lagerfeuer
auf der Erde zurücklassen und die Überreste der Dulderstadt
auf dem Mars mit ihren dummen Namen vollkritzeln, sie ver­
schmutzen sogar den Asteroidengürtel. Ich jedenfalls, wenn
ich ein Mensch wäre, würde den Tourismus verbieten.«
»Du übertreibst, Poseidon«, sagte Polina lächelnd und deckte
den Tisch. »Das sind doch Ausnahmen.«
»Wart’s ab, bis wir mit so einer Konservendose Zusammen­
stößen, dann wirst du anders reden. Sofern du noch dazu im­
stande bist.«
Polina hatte keine Lust, mit dem alten Roboter zu streiten,
und rief deshalb Alissa zum Mittagessen.
»Hältst du solange für mich Wache, Poseidon?« fragte Alissa.
Dazu bestand eigentlich keine Notwendigkeit - der Bord­
computer reagiene ohnehin schneller als ein Mensch auf jede
beliebige Gefahr. Doch es war nun mal üblich, daß auf kompli­
zierten Streckenabschnitten ein Mitglied der Besatzung am
Steuerpult saß.
»Mit Vergnügen«, sagte Poseidon und begab sich, ohne das
Buch aus der Hand zu legen, zum Pilotensessel.
»Das Buch mußt du dalassen«, sagte Alissa. Seit sie denken
konnte, sagten die Erwachsenen zu ihr: >Leg das Buch weg, bei
Tisch liest man nicht.< Wie angenehm, wenn da jemand war,
dem sie mit den gleichen Worten kommen konnte.
»Das ist kein Buch«, erwiderte Poseidon friedfertig, »es ist
ein Lexikon der Kleinen Planeten. Ich lerne es auswendig.«
92
»Wozu? Der Computer hat ohnehin alles gespeichert.«
»Ich hab in meinem Innern ebenfalls einen Computer«, ent-
gegnete Poseidon, »außerdem lerne ich sehr gern. Das Leben
ist kurz, und man möchte so viel wissen! Ihr Menschen habt’s
gut. Ihr könnt Mittag essen, Tee trinken, schlafen, ihr habt
Bauchschmerzen, seid Stimmungen unterworfen, ihr verliebt
und streitet euch. Alles das ist mir fremd. Ich bin nur eine alte
Blechbüchse auf der Grundlage von Flüssigkristallen, und
meine einzige Zerstreuung besteht darin, mir neue Informatio­
nen anzueignen. Sag mir, ob du zum Beispiel den Durchmes­
ser wenigstens der größten unter den Kleinen Planeten
kennst.«
»Wenn’s nötig ist, seh ich im Lexikon nach.«
»Alissa, die Suppe wird kalt!« rief Polina.
»Und wenn du keine Zeit mehr hast, nachzusehn? Der
Durchmesser der Pallada zum Beispiel, wo dich deine Mutter
erwartet, beträgt 490 Kilometer. Die Vesta dagegen hat fast
hundert Kilometer weniger als die Pallada ...«
»Danke«, erwiderte Alissa, die nun merkte, wie hungrig sie
war, und setzte sich an den Tisch.
»Übermorgen sind wir da«, sagte Polina, »hast du schon
Sehnsucht nach deiner Mama?«
»Und ob«, gestand Alissa. »Die meisten Mütter sitzen zu
Hause und fliegen kaum weiter als bis zur Antarktis. Meine da­
gegen hat sich den Beruf einer Kosmosarchitektin ausgesucht!
Da könnte man glatt den Verstand verlieren.«
»Und was willst du mal werden?« fragte Polina. »Auch was
mit Architektur?«
»Nein, meine Berufung ist die Biologie. Ich werde Kosmos­
biologe wie mein Papa.«
»Und dann wirst du zu Hause sitzen, ja? Keinen Schritt wei­
ter fliegen als bis zur Antarktis?«
Alissa hörte zwar die Ironie in diesen Worten, nahm sie aber
nicht übel. Polina hatte ja recht - ein Kosmosbiologe war öfter
und weiter fort als alle andern.
»Eine Expedition ist was ganz anderes«, sagte Alissa, »sie
dauert zwei, drei Monate, und dann ist man wieder zu Hause.«
93
Aus der Steuerzentrale drang das laute Lachen des Roboters
herüber; er wollte eindeutig die Aufmerksamkeit auf sich len­
ken.
»Das ist herrlich!« dröhnte er. »Nein so was, dieser Eros, ha-
ha-ha-ha!«
»Was ist denn?« Polina erhob sich vom Tisch. »Was für ein
Eros?«
»Der Eros besitzt die Form einer Birne«, verkündete Posei­
don. »Eine Birne von zweiunddreißig Kilometer Länge! Also
nein, so was kann sich wirklich keiner ausdenken!«
»Du hast mich erschreckt«, sagte Polina erleichtert, »du
darfst nicht so laut lachen.«
»Ich lach so laut, weil der Lautsprecher in meinem Innern
entsprechend eingestellt ist«, erwiderte Poseidon.
»An der Suppe fehlt etwas Salz«, sagte Polina zu Alissa.
»Aber nein, sie schmeckt sehr gut«, antwortete das Mädchen.
»Könnten Sie nicht ein bißchen länger auf der Pallada bleiben?
Dann würden wir zusammen weiterfliegen. Ich war noch nie
auf dem Pluto.«
»Das geht nicht«, sagte Polina. »Erstens werde ich erwartet,
zweitens würdest du den Schulbeginn verpassen.«
»Schade«, sagte Alissa, »ich fliege gern mit Ihnen.«
»Mir macht’s zusammen mit dir auch mehr Spaß. Und Posei­
don hängt ebenfalls an dir.«
Der Roboter hatte natürlich alles mit angehört, und der
Wunsch zu widersprechen veranlaßte ihn erneut, sich einzumi­
schen. »Über Anhänglichkeit verfüge ich nicht«, verkündete er
entschieden, »ich bin eine alte Blechbüchse ...«
Seine Worte wurden von Sirenengeheul unterbrochen.
Alarm!
Polina und Alissa sprangen blitzschnell auf und stürzten in
die Steuerzentrale.
»Was ist los?« fragte Polina.
Die Hand des Roboters lag auf dem Alarmknopf - er hatte
ihn betätigt.
»Da ist ein unbekanntes Schiff auf unserm Kurs«, antwortete
Poseidon.
94
»Ja und?« fragte Alissa. »Hier gibt’s doch immer mal Raum­
schiffe, deshalb brauchst du keinen Alarm auszulösen.«
»Das war ein Probealarm«, erwiderte der Roboter, »ich wollte
eure Bereitschaft überprüfen.«
»Also weißt du«, schimpfte Polina, »ich laß dich im erstbe­
sten Flughafen abheuern.« Doch da sie ihm damit auf jeder
Reise drohte, nahm er ihre Worte nicht ernst.
Da das Mittagessen nun schon unterbrochen war, ließ sich
Polina im Sessel des Kopiloten nieder. Einem Raumschiff im
Kosmos zu begegnen war in jedem Falle eine willkommene
Abwechslung nach langen Tagen des Alleinseins. Polina schal­
tete die Vergrößerung ein. Das Raumschiff erschien vorerst
noch als heller Punkt, wurde aber zusehends größer, so daß
man seine diskusähnliche Form erkennen konnte.
Der Bordcomputer begann die Daten auf dem Display aus­
zudrucken: Geschwindigkeit des fremden Schiffes, seine
Maße, die Flugrichtung.
»Ein Tourist«, sagte Poseidon, nachdem sich herausgestellt
hatte, daß es sich um ein kleines Schiff handelte. »In meinem
Herzen sticht’s - ich spür’s, daß es ein Tourist ist.«
»Du hast kein Herz, sondern einen fühllosen Computer«, er­
innerte Alissa.
Polina schaltete das Funkgerät ein, kam aber gar nicht erst
dazu, das Schiff zu rufen, denn schon schallten seltsame, rhyth­
mische Signale durch den Raum: dreimal kurz, dreimal lang,
dreimal kurz und so weiter.
»SOS!« rief Poseidon. »Der Tourist muß sich verirrt haben!
Geschieht ihm recht.«
»Es ist in der Tat ein Notruf«, sagte Polina. »Poseidon, wir
ändern den Kurs.«
»Na das fehlte noch«, brummte der Roboter, dachte in Wirk­
lichkeit aber ganz anders. Er gab dem Computer umgehend
Anweisung, und der begann den neuen Kurs zu berechnen.
Polina aber sagte ein ums andre Mal: »Hier Raumschiff >Ar-
bat<, was ist mit Ihnen, melden Sie sich.«
Doch es kam keine Antwort.
»Wahrscheinlich leben sie nicht mehr«, sagte Poseidon, »es
95
ist der automatische Notruf. Ich hab mal so was gelesen. >Der
fliegende Holländer< im Kosmos.«
»Du solltest dich schämen«, sagte Alissa empört. »Die Leute
sind in Not, du aber machst Witze.«
»Leider geht mir jedes Gefühl für Humor ab, wie sollte eine
Blechbüchse Gefühle haben«, erwiderte Poseidon, der natür­
lich genau wußte, daß er sehr wohl über Gefühle verfügte, das
des Humors eingeschlossen.
Polina versuchte noch immer, Verbindung zu dem unbe­
kannten Raumschiff aufzunehmen, doch vergebens. Die »Ar-
bat« hatte ihren Kurs inzwischen geändert und näherte sich
ihm.
Ganz unvermutet, als Polina es schon aufgegeben hatte,
einen Kontakt herzustellen, ertönte eine hohe schwache
Stimme im Lautsprecher: »Ich habe keinen Treibstoff mehr
und nichts zu essen ... Ich ergebe mich ... Sie können mich in
Schlepp nehmen.«
»Er muß den Verstand verloren haben«, sagte Alissa, »vor
Entbehrung den Verstand verloren.«
»Alle Touristen ...«, begann Poseidon, doch Polina unter­
brach ihn: »Fertigmachen zum Ankoppeln!«
»Das Ankoppeln übernehme ich«, erbot sich Poseidon, »es
ist gefährlich hier. Wegen der Asteroiden.«
Und er hatte recht. Auf dem gesamten Bildschirm waren als
dunkle oder auch leuchtende Punkte Asteroiden zu erkennen,
weit weg zwar und meist nur so groß wie Pflastersteine, doch
deswegen nicht weniger gefährlich.
Das unbekannte Raumschiff wurde auf den Bildschirmen all­
mählich größer.

3
Während der Annäherung und Ankopplung unterließ das in
Not geratene Schiff jeglichen Funkkontakt. Die »Arbat«, von
den geschickten Eisenhänden Poseidons gesteuert, legte gefü­
gig an dem Schwesterfahrzeug an, und während die Bordgrei­
fer das fremde Schiff an sich zogen, so daß sie Luke an Luke zu
liegen kamen, entzifferte Alissa die Aufschrift: »SfB-24«.
96
»Was bedeutet SfB?« fragte Alissa. »Du weißt doch immer al­
les, Poseidon.«
»Einiges weiß ich schon«, bestätigte der Roboter. »Ich teile
also ohne Lexikon mit: Sonnensystemregister, Seite eintau­
sendneunhundertachtzig. SfB - bedeutet eine Serie von drei­
ßig Planetenkuttern, die zur Schule für Berufsraumfahrt auf
dem Mars gehören. Abgekürzt: SfB. Noch mal dreißig solcher
Schiffchen sind auf dem Mond stationiert, tragen aber die Auf­
schrift SfL an der Bordwand, was soviel heißt wie Schule für
Laienraumfahrt. Zur Fahrt in den freien Kosmos ungeeignet,
denn ihr Vorrat an Treibstoff ist begrenzt, die Geschwindigkeit
gering. Namen haben sie nicht, lediglich laufende Nummern
zur Unterscheidung. Ich war übrigens schon immer der Mei­
nung, daß eine Nummer viel besser ist als irgendein dummer
Name.«
»Ich hab dir schon zehnmal erklärt, Poseidon, daß der Arbat
eine Straße ist ...«, sagte Polina.
»... in der du aufgewachsen bist«, beendete Poseidon den
Satz. »Trotzdem überzeugt’s mich nicht. Du willst doch bloß,
daß dich alle danach fragen und dabei sehen, wie hübsch du
bist.«
»Was verstehst du schon von Schönheit!« erwiderte Polina.
»Ich hab die bedeutendsten Museen der Welt besucht«, ant­
wortete Poseidon.
Sie verspürten einen Ruck - die Ankopplung war erfolgt.
»Nun«, fragte Poseidon, »wer soll rübergehn zu SfB-24? Ich
würde vorschlagen, am besten ich selbst. Sollte dieser Tourist
übergeschnappt sein und schießen, so ist’s um mich nicht
schade.«
»Schalten Sie das Video ein«, sagte Polina ins Mikrofon, »Wir
sehen Sie nicht.«
»Ich weiß nicht, wie man das macht«, antwortete eine schwa­
che Stimme.
»Sag ich doch, ein Verrückter«, erklärte Poseidon entschie­
den. »Ich geh jetzt rüber und rette ihn.«
»Du bleibst hier«, sagte Polina. »Es gibt Situationen, wo dein
Verstand nicht ausreicht. Sei nicht böse, aber ich bin über­

97
zeugt, daß sich an Bord dieses Kutters ein unglückliches We­
sen befindet, das in erster Linie Fürsorge braucht.«
»Ich hab dir schon tausendmal gesagt«, erwiderte Poseidon
und tat, als habe er ihre Worte nicht gehört, »du sollst dir auf
dem Stützpunkt eine Waffe geben lassen. Wenn doch mal was
passiert, stehn wir mit leeren Händen da. Ich seh’s noch deut­
lich vor mir, wie unser Kapitän Mericka auf die Lichtung hin­
austrat - sie sah ganz ungefährlich aus - und sich über eine
Blume beugte, um sie zu pflücken. Aus der Blume aber ...«
Hier mußte Poseidon feststellen, daß Polina längst nicht
mehr im Raum und Alissa ihr gefolgt war. Deshalb wandte er
sich den Instrumenten zu und begann den Umstieg Polinas ins
andere Schiff zu verfolgen. Er brummelte zwar gern herum,
blieb aber stets der Roboter, der sich dem Kapitän unbedingt
unterordnete. Und Polina war sein Kapitän.
Im Steuerraum des Planetenkutters entdeckte Polina einen
Jungen. Er war zehn bis zwölf Jahre alt, dünn und ziemlich
klein. Seine schwarzen Augen standen leicht schräg, und die
dunklen Haare waren zu einem Igel geschnitten.
Als der Junge Polina erblickte, wollte er sich aus dem Sessel
erheben, vermochte es aber nicht - man sah, daß er erschöpft
und schwach war.
»Ich ergebe mich«, sagte er. »Sie jagen bereits seit dem Mars
hinter mir her, nicht wahr? Ich aber hab mich verirrt, dann ging
der Treibstoff zur Neige, und ich hatte Angst, Funkverbindung
aufzunehmen.«
»Bist du allein an Bord?« fragte Polina. '
»Ja, ganz allein. Ich dachte, ich hätte keine Angst, aber es
war furchtbar.«
Der Junge hatte sich nun doch erhoben. Er preßte starrsin­
nig die Lippen zusammen, und seine Augen verengten sich. Er
schwankte und wäre wohl hingefallen, hätte Polina ihn nicht
aufgefangen und auf die Arme genommen. Und so, mit dem
Jungen auf den Armen, kehrte sie in ihr Raumschiff zurück.

98
4
Die »Arbat« besaß nur eine einzige Kajüte, in der zwei Kojen
standen. Hier schliefen Polina und Alissa. Poseidon war nicht
imstande zu schlafen und nachts, wenn er nicht gerade Wache
hatte, damit beschäftigt, die Bordbibliothek zu verschlingen.
Zu seinem Glück war die Bibliothek umfangreich. Sie nahm
aber nur wenig Raum ein, weil sie aus Mikrofilmen bestand.
Polina legte den Jungen auf ihr Bett, zog ihm die Schuhe aus
und deckte ihn mit einem Plaid zu. Inzwischen brachte Alissa
ein Glas Saft.
»Das soll er trinken«, sagte Alissa, »es sind die reinsten Vit­
amine.«
Polina führte das Glas an die Lippen des Jungen, und er
leerte es gehorsam in kleinen, gierigen Schlucken. Das ermü­
dete ihn so, daß er den Kopf aufs Kissen fallen ließ und die
Augen schloß.
»Du hast wohl lange nichts mehr gegessen?« fragte Polina.
»Fast drei Tage«, antwortete der Junge. »Ich mußte eilig auf­
brechen und hatte vergessen, Lebensmittel mitzunehmen.«
»Ich mach ihm eine Brühe, ja?« erbot sich Alissa.
»Tu das«, sagte Polina und öffnete das Apothekenschränk­
chen.
Alissa ging aus der Kajüte, doch schon im nächsten Augen­
blick stand Poseidon an der Tür.
»Bist du ein Tourist?« fragte er barsch.
Der Junge öffnete die Augen und sah den massigen Roboter
erschrocken an.
»Nein«, sagte er, »ich bin kein Tourist. Ich besuche die K os­
monautenschule und habe das Schiff entführt. Aber nicht aus
Leichtsinn ... Ich mußte, verstehen Sie, ich mußte unbe­
d in g t... Ich hatte keinen anderen A usw eg...« Der Junge
schloß erneut die Augen und schlief ein.
Alissa schaute zur Kajüte herein, die Tasse mit der aufge­
wärmten Brühe in der Hand, doch Polina legte den Finger an
die Lippen und ging ihr entgegen.
»Laß ihn schlafen«, flüsterte sie.

99
Der Junge erwachte erst nach sieben Stunden, als die »Arbat«
gerade an einem kleinen Planeten vorbeiglitt, der von Kratern
zerfressen und von Rissen zerklüftet war. Alissa konnte sich
nicht satt sehen an diesen rätselhaften toten Miniwelten, von
denen einige bereits erforscht, andere noch völlig unberührt
waren. Sie stellte sich vor, auf dem Ozean zwischen Korallen­
riffen und Atollen dahinzuschwimmen und der Schiffsjunge
auf dem Mast zu sein, der immerzu hoffte, von einem der
Atolle plötzlich ein Rauchfeuer aufsteigen, einen Menschen
am Ufer herumspringen zu sehn: Robinson vielleicht, der
schiffbrüchig geworden war, oder einen Wilden, der noch nie
ein Segelschiff gesehen hatte.
»Wie viele es davon gibt!« sagte Alissa. »Wär nicht schlecht,
auf so einem Atoll zu leben.«
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt«, erscholl zur Antwort die
knarrende Stimme Poseidons, »sind sechstausendachthundert­
zweiunddreißig Kleinplaneten entdeckt und registriert, nicht
gerechnet die Steine, die zu zählen sinnlos wäre, weil sie
ohnehin verlorengehen. Doch sei angemerkt, daß die Gesamt­
masse der Asteroiden tausendmal geringer ist als die der
Erde ... Die Theorien, die ihr Entstehen auf den Untergang
des Planeten Phaeton zurückführen, dürften also kaum haltbar
sein ...«
Poseidon war gerade von der Besichtigung des Planetenkut­
ters zurückgekehrt, deshalb unterbrach Polina ihn mit der
Frage: »Hast du etwas Interessantes gefunden?«
»Die Untersuchung des Schiffes hat nichts Neues ergeben«,
erwiderte Poseidon. »Mit Ausnahme eines Laienführerscheins
für Kinder zur Führung eines Fahrschulschiffes, ausgestellt auf
den Namen Judso Komura, Ausstellungsort Marsopol, ständi­
ger Wohnsitz des Jungen - Stadt Osaka, Erde.«
»Osaka - das liegt doch in Japan«, sagte Alissa. »Ich dachte
mir schon, daß er Japaner ist.«
»Wir wollen keine übereilten Schlüsse ziehen«, erwiderte
Poseidon, »Städte dieses Namens kann es auch in anderen Län­
dern geben. Übrigens habe ich auf dem Steuerpult diese Foto­
grafie entdeckt.« Er legte das Bild eines älteren lächelnden
101
Mannes auf den Tisch; dieser Mann hatte schwarze Augen und
ähnelte dem aufgefundenen Jungen. Die Unterschrift auf dem
Foto bestand aus Hieroglyphen.
»Wer ist das?« fragte Alissa.
»Aber das ist doch mehr als einfach«, sagte Poseidon verwun­
dert. »Hier steht schwarz auf weiß: Professor Takeo Komura.«
»Ist das japanisch?«
»Natürlich. Und ich muß hinzufügen, daß ihr Glück mit mir
habt - nicht jeder hat einen Linguistik-Roboter auf dem Schiff,
einen so begabten und arbeitsamen Sprachkenner. Ich kann
nämlich ganz gut japanisch lesen und schreiben und bringe
überdies ein leidliches Tanka zustande.«
»Was denn, einen Tanker?« fragte Alissa verblüfft.
»Aber nein - bei Tanka handelt es sich um eine japanische
Form der Poesie, um Kurzgedichte, die auf paradoxe Weise
die Seele von Natur und Dichter freilegen.«
»Schon klar«, sagte Alissa.
Polina nahm die Fotografie zur Hand. »Wie’s scheint, han­
delt es sich bei Professor Takeo Komura um den Vater unseres
Findelkindes.«
»Das ist noch nicht erwiesen«, entgegnete Poseidon. »Wir
hatten auf unserm Schiff mal drei Iwanows, und keiner von
ihnen war mit dem anderen verwandt. Dieser ältere Mann hier
kann auch der Onkel, Nachbar oder einfach ein Namensvetter
des Jungen sein ..., und nicht zuletzt könnte der vorige Pilot
das Bild an Bord zurückgelassen haben ...«
»Nein, es ist mein Vater«, hörten sie eine Stimme in ihrem
Rücken - der Junge stand in der Tür.
»Du heißt Judso Komura?« fragte Polina.
»Ja. Und mein Vater ist Professor Takeo Komura. Habe ich
lange geschlafen?«
»Ein paar Stunden. Hast du dich erholt?«
»Ja«, sagte Judso, »aber ich wollte gar nicht so lange schla­
fen.«
»Hast du Hunger?« fragte Alissa.
»Ehrlich gesagt - großen. Trotzdem müssen Sie mir nicht
unbedingt etwas zu essen geben. Ich verdiene Strafe.«
102
»Alissa, meine Kleine, mach die Brühe warm und ein paar
Zwiebacke zurecht«, sagte Polina.
Der Roboter trat einen Schritt vor und betrachtete den Ju n ­
gen aufmerksam. »Ich heiße Poseidon«, verkündete er, »und
bin Universalgehilfe.«
»Ich habe verstanden, Roboter-san«, antwortete der Junge.
»Sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Bist du versehentlich mit dem Schiff weg oder mit Ab­
sicht?« fragte Alissa.
»Mit Absicht«, antwortete der Junge und senkte den Kopf.
»Aber ich hatte keine andere Wahl.«
Er sah so unglücklich aus, daß Polina Mitleid mit ihm bekam
und sagte: »Judso ist sehr müde und noch geschwächt. Hört
auf, ihn mit euren Fragen zu quälen. Später wird er uns alles
selber erzählen, nicht wahr?«
Der Junge nickte.
Poseidon aber war nicht einverstanden mit Polina. »Manch­
mal muß ich mich doch sehr wundern«, sagte er, »du verwech­
selst Humanismus mit Leichtsinn.«
»Aber wieso denn, mein Lieber?.«
Der freundliche Ton beschwichtigte den Roboter keines­
wegs, er fuhr starrsinnig fort: »Weil wir gar nicht wissen,
wem wir da Asyl geben. Ist doch nicht auszuschließen, daß es
sich bei ihm um einen gefährlichen Verbrecher handelt, der
vom Mars geflohen ist, weil er von der Patrouille gesucht
wird.«
Polina seufzte. Streit liebte sie ganz und gar nicht.
Der Junge aber unterstützte den Roboter unverhofft. »Sie
haben recht, Roboter-san«, sagte er, ohne den Kopf zu heben,
»ich habe eine strenge Strafe verdient. Und ganz gewiß sucht
mich auch die Patrouille. Anfangs dachte ich sogar, daß Sie die
Patrouille sind.«
»Aber warum suchen sie dich«, fragte Alissa, »weil du das
Schiff gestohlen hast?«
»Natürlich. Ich hab das Schiff entführt und es beinahe zu
Bruch gefahren. Ihr hattet recht, hinter mir herzujagen und
mich einzufangen.«
103
»Wir waren nicht hinter dir her«, erwiderte Polina. »Wir ha­
ben deinen Notruf gehört und sind dir zu Hilfe geeilt.«
In diesem Augenblick machte die »Arbat« einen Schlenker
und wechselte den Kurs, offenbar war ihr wieder mal ein klei­
ner Asteroid im Wege.
»Beinahe wären wir gegen ein Riff gestoßen«, verkündete
Alissa.
»Setz dich dorthin«, sagte Polina zu dem Jungen und wies
auf einen Sessel. »Ich will dir ein paar Informationen geben.
Zum Beispiel, daß ich dienstlich zum Pluto fliege, Alissa aber
ist die Tochter meiner Freunde und besucht ihre Mama auf der
Pallada.«
»Du Glückliche«, brach es aus dem Jungen heraus, »du weißt
wenigstens, wo deine Mutter ist!«
»Offenbar hat dich ein Unglück getroffen«, sagte Polina,
»sonst hättest du dich wohl kaum auf ein so unsinniges Unter­
nehmen eingelassen.«
»Wie sprichst du bloß mit diesem minderjährigen Verbre­
cher!« mischte sich Poseidon ein. »Du mußt ihn härter anpak-
ken, Polina, strenger. Du hast kein bißchen Metall in der
Stimme.«
Polina wehrte ihn mit einer Handbewegung ab.
»Versuch ja nicht, mir den Mund zu verbieten!« empörte
sich Poseidon. Er war auf Zank aus.
»Noch ein Wort, und ich bitte dich hinauszugehn«, erwi­
derte Polina.
»Ich schweige ja schon«, grollte Poseidon, »schweige ange­
sichts der Androhung von Gewalt. Innerlich aber ergebe ich
mich nicht.«
»Beachte ihn nicht weiter«, sagte Alissa zu dem kleinen Jap a­
ner, »er ist alt und ein bißchen nervös, obwohl das einem Ro­
boter eigentlich nicht passieren dürfte. Erzähl uns lieber, was
dir passiert ist.«
»Mein Vater«, begann Judso, »ist Geologieprofessor. Nach
dem Tod meiner Mutter nahm er mich mit auf den Mars, und
wir lebten dort. Wir kamen gut miteinander aus. Vor vier Mo­
naten jedoch begab er sich auf Expedition zu den Asteroiden,
104
er flog allein mit dem Schiff >Sakura<. Er schickte mir Briefe
und Kosmogramme von unterwegs, das letzte Kosmogramm
stammt von der Vesta. Darin teilte er mir mit, daß er zu den
Kleinen Asteroiden weiterfliegen wollte. Und plötzlich war er
verschwunden.«
»Was heißt verschwunden?« fragte Alissa verblüfft.
»Niemand weiß etwas. Man hat ihn gesucht und sucht ihn
wahrscheinlich auch jetzt noch, doch Asteroiden gibt’s sehr
viele.«
»Hier bricht sich selbst der Teufel ein Bein«, sagte Poseidon.
»Ich aber hatte große Sehnsucht nach meinem Vater«, fuhr
Judso fort, und seine Stimme zitterte. Er schluckte die Tränen
hinunter und wandte sich ab. Die anderen schwiegen. Sie be­
griffen, daß sie ihn jetzt nicht trösten durften, das hätte seinen
Stolz verletzt.
»Ich glaube«, fuhr der Junge nach einer Weile fort, »daß er
meine Hilfe braucht. Ihm geht es schlecht. Alle sagten zu mir,
ich soll ausharren und warten, bis sie meinen Vater finden,
doch in Wirklichkeit waren sie überzeugt, daß er tot ist. Sie ha­
ben ja nicht mal sein Schiff gefunden. Schließlich teilten sie
mir mit, sie würden mich zur Erde zurückbringen, zu meiner
Tante nach Osaka. Aber ich weiß genau, daß mein Vater lebt,
ich weiß es am besten! Ich weiß es einfach!«
»Beruhige dich, Judso«, sagte Polina und umarmte den Ju n ­
gen. »Wir verstehen dich ja. Es war dir unmöglich, zur Erde
zurückzufliegen, so weit fort von deinem Vater.«
»Und da hast du das Schulschiff genommen«, rief Alissa, »das
finde ich toll! Ich hätte an deiner Stelle genauso gehandelt.«
»Aber es war dumm«, mischte sich Poseidon ein. »Wenn du
schon ein Schiff entführst, mußt du genügend Treibstoff und
Lebensmittel mitnehmen.«
»Dazu hatte ich keine Zeit mehr. Ich schlich mich nachts
zum Kosmodrom und zu diesem Schiff, weil ich in der Kosmo­
nautenschule darauf gelernt hatte. Es war mir unmöglich, auch
noch Lebensmittel mitzuschleppen. Trotzdem schwor ich mir,
nicht eher zurückzukehren, als bis ich meinen Vater gefunden
habe. Nur hätte ich nie gedacht, daß man so weit fliegen und
105
so lange suchen müßte. Zuerst gingen die Lebensmittelvorräte
zur Neige, danach der Treibstoff. Und zurückkehren konnte
ich auch nicht mehr - mein Funkgerät war zu schwach, sie
hörten mich nicht auf dem Mars.«
»Wie sollten sie das«, erwiderte Poseidon. »Niemand konnte
annehmen, daß ein Schulschiff sich so weit entfernen würde.
Dafür ist es schließlich nicht bestimmt. Das wäre ja dasselbe,
als würde man mit einem kleinen Boot auf den offenen Ozean
hinausfahren. Dein Glück, daß wir dir begegnet sind.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Roboter-san«, sagte Judso,
»aber ich konnte einfach nicht anders handeln.«
»Na, ich weiß nicht. Jedenfalls hast du dich ganz wie ein
Mensch verhalten. Ihr Menschen seid sehr unverständige We­
sen.«
»Wenn wir so unverständig wären, wie du behauptest«, ent-
gegnete Alissa, »hätte Kolumbus Amerika niemals entdeckt.«
Judso gefiel ihr, und sie war überzeugt, an seiner Stelle hätte
sie dasselbe getan wie er.
»In der gegebenen Situation«, sagte der Roboter, »ist es das
vernünftigste, wenn Judso noch eine Tasse Brühe trinkt, wäh­
rend ich Verbindung mit dem Mars aufnehme und mitteile,
daß wir den Jungen gefunden haben. Ich stell mir die Panik
vor, die dort herrscht - schließlich ist ein Kind verschwun­
den!«
• »Also gut, mach die Brühe warm«, sagte Polina zu dem Ro­
boter.
»Was denn, ist das etwa eine Beschäftigung für Poseidon?«
brummte der Roboter, trollte sich aber in die Kombüse.
»Und was wirst du tun, wenn du wieder auf dem Mars bist?«
fragte Alissa den Jungen.
Judso antwortete nicht sofort. Doch dann gab er sich einen
Ruck und sagte entschlossen: »Ich werde mir wieder ein Schiff
nehmen. Werde darum bitten oder, wenn es sein muß, eins
stehlen und erneut meinen Vater suchen. Ich fürchte nur, daß
es dann schon zu spät ist.«
»Seltsam«, sagte Polina, »mir ist kein einziger Fall bekannt,
wo ein Raumschiff spurlos verschwunden wäre. Erst recht
106
nicht im Sonnensystem, wo sämtliche Wege bekannt sind und
es kaum noch Gefahren gibt!«
»Da irrst du«, antwortete aus der Kombüse Poseidon. »Es
gibt einen Asteroidengürtel, der sich großtun könnte, viele O p­
fer geschluckt zu haben. Kürzlich gab’s den sechsten Fall der
letzten Monate. Bevor wir aufbrachen, hab ich noch die Be­
richte des Rettungsdienstes durchgesehn - die Frachtschiffe
>Robinson< und >24 plus< sind spurlos verschwunden, und nie­
mand weiß, wo das Raumschiff >Lautes Lachem abgeblieben
ist. Das Schicksal zweier Touristenschiffe ist bis heute eben­
falls ungewiß. Wie soll man auch ein Schiff finden, das auf
solch einem Asteroiden zerschellt.«
Nach diesen Überlegungen begab sich Poseidon in die Steu­
erkabine, um einen Blick auf den zentralen Videoschirm zu
werfen, bevor er Verbindung mit dem Mars aufnahm.
Auf dem Bildschirm zeigte sich eine flachgedrückte
schwarze Kugel. Keinerlei Licht ging von diesem Asteroiden
aus, er wirkte am Sternenhimmel wie ein finsterer Abgrund.
Poseidon streckte schon die Hand nach dem Funkgerät aus,
als er plötzlich erstarrte. »Polina«, rief er, »spürst du nichts?«
»Merkwürdig«, antwortete Polina, »ich hab den Eindruck,
daß sich die Schwerkraft erhöht hat.«
»Sieh doch mal auf die Instrumente - wir ändern den Kurs!«
»Aber ich hab dem Computer keinen Befehl dazu gegeben«,
sagte Polina. Sie ging hastig zum Steuerpult und rief die Daten
auf dem Bordcomputer ab. Der schwarze Asteroid, matt und
undurchdringlich, wurde auf dem Bildschirm allmählich grö­
ßer. Er strahlte etwas Unheilvolles aus.
Polina und Poseidon studierten die Angaben des Compu­
ters.
»Seltsam«, wiederholte die Frau.
»So ein Phänomen ist mir noch nicht begegnet«, sagte der
Roboter.
»Was ist passiert?« fragte Alissa.
»Die Anziehungskraft dieses Asteroiden ist um ein Vielfa­
ches größer als berechnet«, antwortete Polina.
»Wirkt er wie ein Magnet?« fragte Alissa.
107
»So kann man es ausdrücken«, bestätigte Poseidon.
»Hurra«, rief Alissa, »wir haben eine Entdeckung gemacht!«
»Ob das eine Entdeckung ist, weiß ich nicht«, erwiderte Po­
seidon und setzte sich in den Pilotensessel, »aber wir sollten
den Asteroiden schnellstens hinter uns lassen, um uns nicht
die Nase an ihm einzuschlagen. Ich bitte die Passagiere, sich
anzuschnallen.«
»Er hat recht, Kinder«, sagte Polina, »bitte beeilt euch.«
Alissa drückte auf einen Knopf an der hinteren Wand der
Kabine, und zwei Sessel klappten heraus. Sie setzte sich in den
einen und bot den anderen Judso an: »Na los, mach schnell!«
Sie schnallten sich mit den Auffanggurten fest.
»Seid ihr zur Beschleunigung bereit?« fragte Poseidon.
»Ich bin bereit«, antwortete Polina.
»Wir auch«, antwortete Alissa.
»Also dann, Beschleunigung!« sagte Poseidon.
In der Steuerkabine war es sehr still, kaum hörbar surrten
die Apparaturen. Poseidon erhöhte die Leistung der Trieb­
werke, und die »Arbat« begann gegen die Kraft anzukämpfen,
die sie zum schwarzen Asteroiden ziehen wollte.
In den ersten Minuten spürte Alissa, wie sie in den Sessel
gedrückt wurde - das Schiff machte Anstalten, sich aus dem
Spinnennetz zu befreien. Doch der Kampf währte nicht lange.
Alissa hörte Poseidon mit finsterer Stimme sagen: »Der Com­
puter weist unsere Kraft als zu schwach aus.«
»Wieso das?« fragte Polina.
»Die Anziehungskraft wächst. Je stärker wir zu entkommen
suchen, desto heftiger werden wir angezogen. Aber so etwas
kann es nicht geben!«
»Wieso nicht?« fragte Alissa erstaunt.
»Weil es eben nicht möglich ist.«
Die Anwesenden, niedergeschmettert von dieser kategorisch
vorgebrachten Erklärung, schwiegen.
»Was also sollen wir tun?« fragte Poseidon nach einer Weile.
»Was schlägst du vor?« fragte Polina zurück.
»Der Computer und ich«, sagte Poseidon, »sind der Mei­
nung, dieses Phänomen am besten an Ort und Stelle zu ergrün­
108
den. Dazu wäre es am günstigsten, auf dem Asteroiden zu lan­
den und herauszufinden, was los ist.«
»Was denn«, sagte Alissa, »wir sollen uns so einem lausigen
Stück Stein ergeben?«
»Einem Stein kann man sich nicht ergeben«, erwiderte Posei­
don, »doch um euch nicht zu kränken - ihr seid ja so stolz - ,
würde ich es anders ausdrücken: Wir sollten freiwillig auf dem
Asteroiden landen und ihn ganz auf die Schnelle erkunden.«
»Du meinst, wir sollten dort den Graviationsgenerator su­
chen und ihn ausschalten?« vergewisserte sich Alissa.
»Sieh mal an, wie schlau du bist«, bestätigte der Roboter.
»Und wenn wir die Triebwerke auf Höchstleistung schal­
ten?« fragte Polina.
»Wir würden nur sinnlos Treibstoff vergeuden«, erwiderte
Poseidon. »Außerdem erlaube ich nicht, die Belastung noch
weiter zu erhöhen. Meine erste und wichtigste Aufgabe ist es,
die Menschen zu beschützen. Und wir haben zwei junge Leute
an Bord, für die solche Überbelastungen schädlich sind. Wenn
aber du, Kapitän, mir befehlen solltest, den Kampf gegen den
Asteroiden fortzusetzen, so müßte ich sagen: Verzeih, Polina,
ich bin dagegen.«
Der Asteroid bedeckte mittlerweile den ganzen Bildschirm.
Das Schiff wurde zu einem Punkt in seiner Mitte hingezogen,
der selbst auf dem schwarzen Hintergrund noch wie ein Ab­
grund wirkte.
»Dort ist eine Vertiefung«, sagte Judso, »sieht aus wie eine
Grube.«
»Du hast recht«, bestätigte Poseidon, »es ist eine große
Grube.«
Polina hatte einen Entschluß gefaßt. »Hört gut zu«, sagte sie.
»Wir schalten jetzt die Triebwerke ab und landen auf dem
Asteroiden. Die Auffangsessel müssen auf Havariebedingun­
gen umgestellt werden. Die Anziehungskraft wird sich verstär­
ken, so daß wir immer schneller fallen. Bevor wir uns dann un­
mittelbar der Oberfläche des Asteroiden nähern, werde ich die
Triebwerke auf volle Kraft schalten, damit wir nicht zerschel­
len. Seid also darauf eingerichtet und quietscht nicht herum.«
109
»Zu Befehl, Kapitän, nicht herumquietschen!« antwortete
Alissa und stellte zunächst den Sessel des Jungen auf Havarie­
betrieb um, ehe sie ihren eigenen bediente.
Beide Sessel fuhren breite, elastische Greifer aus den Rük-
kenlehnen aus und umschlangen damit gleichsam ihre Passa­
giere. Sanft, doch entschieden, als wären es lebendige mensch­
liche Arme.
Der Boden schien unter ihren Füßen wegzugleiten - Polina,
ebenfalls in ihren Sessel »gewickelt«, hatte die Triebwerke wie­
der eingeschaltet, dazu noch die Bremstriebwerke.
Die schwarze Wand des Asteroiden hatte den Bildschirm in
einen undurchdringlichen dunklen Fleck verwandelt, in des­
sen Zentrum ein schwaches Glimmen zu erkennen war. Doch
Alissa kam nicht mehr dazu, die Sache genauer zu betrachten,
weil das Schiff plötzlich in dem qualvollen Bestreben erzit­
terte, sich der Anziehungskraft zu widersetzen, die es gegen
die schwarzen Steine schmettern wollte. Die »Arbat« blieb
einige Dutzend Meter über der Oberfläche des Asteroiden
hängen, um gleich darauf, seiner Gnade ausgeliefert, auf dem
steinernen Grund der Senke aufzusetzen.
Und obwohl Polina alles Menschenmögliche getan hatte, den
Aufprall zu mildern, war er noch so gewaltig, daß die »Arbat«
auf ihren Stützpfeilern mehrmals hoch- und niedersprang,
tanzte und sich zur Seite neigte, ehe sie schließlich zur Ruhe
kam ...
Das Licht verlosch, Stille trat ein.

5
»Seid ihr alle wohlauf?« ertönte in der Dunkelheit Poseidons
Stimme.
Erst klickte der Verschluß des einen Auffangsessels, dann
der des zweiten. Jemand stöhnte.
»Schön ruhig bleiben«, sagte Poseidon, »ich schalte sofort die
Havariebeleuchtung ein.«
Gleich darauf flammte ein schwaches Licht an der Decke der
Steuerkabine auf und an der Stirn des Roboters ein zweites.
110
Die Passagiere kletterten aus ihren Sesseln, brachten sich in
Ordnung. Zum Glück war niemand ernstlich zu Schaden ge­
kommen, nur Judso hatte einen Kratzer an der Wange - eines
der Anzeigegeräte hatte ihn gestreift. Alissas Sessel stand
schräg zur Seite geneigt, doch stabil, da. Der Hauptbildschirm
war zu Bruch gegangen, nur die Behelfsschirme funktionierten
noch.
»Hast du so gestöhnt, Judso?« fragte Poseidon mit einem
Blick auf den Jungen, über dessen Wange sich ein schmaler ro­
ter Streifen zog.
»Ich nicht«, antwortete er entschieden.
»Das war ich«, bekannte Polina. »Mir ist eingefallen, daß das
Geschirr im Schrank nicht befestigt war.«
»Oje, meine Lieblingstasse ist drin«, rief Alissa und rannte in
die Gemeinschaftskajüte. Poseidon machte sich inzwischen an
der Beleuchtung zu schaffen; das Licht wurde allmählich stär­
ker.
»Die Schwerkraft hier ist ganz normal«, rief Alissa. »Wie auf
dem Mond.«
»Stimmt, nur eben geringer als auf der Erde«, erwiderte
der Roboter. »Ich habe es gleichfalls bemerkt.« Im selben
Augenblick ging das Licht auch in der Gemeinschaftskajüte
an.
Alissa öffnete den Schrank, Scherben von Tellern, und T as­
sen fielen heraus.
»Wie oft hab ich darauf hingewiesen, daß Bordgeschirr aus
Metall oder Plast sein soll«, ließ sich der Roboter vernehmen,
als er das Klirren hörte. »Die Leidenschaft der Menschen fürs
Porzellan ist unvernünftig.«
»Meine Tasse ist trotzdem heil geblieben«, sagte Alissa.
Polina ging zum Verbandschränkchen, holte Pflaster und
Spiritus. »Alissa«, rief sie, »versorg du Judso, ich muß Verbin­
dung mit dem Mars aufnehmen.«
»Das hättest du längst tun sollen«, brummte Poseidon und
wandte sich dem Funkgerät zu.
Judso trat ans Bullauge; er wollte herausfinden, was sich
draußen tat. Alissa mußte ihn, um seine Wange zu verarzten,
111
regelrecht fortziehn. Das Abwaschen mit dem Spiritus tat weh,
doch der Junge verzog keine Miene.
»Und wenn nun mein Vater ...«, begann er, »wenn er nun
hier ebenso runtergezogen wurde ...«
»Na wie steht’s, Poseidon«, fragte Polina, »hast du die Ver­
bindung hergestellt?«
»Wir müssen uns gedulden«, antwortete Poseidon, »das
Funkgerät ist kaputt.«
»So ein Pech!« sagte Polina. »Wie lange wirst du brauchen?«
»Etwa zwei Stunden«, erwiderte der Roboter, »ich hol erst
mal Ersatzteile.«
Polina räumte unterdessen die Splitter vom Steuerpult und
versuchte, den Außenbordscheinwerfer einzuschalten.
»Halt«, rief Poseidon, »die Reparatur von Beleuchtungsein­
richtungen steht Frauen nicht an.« Er öffnete das Pultgehäuse,
wechselte einen der Blöcke aus, und draußen vor dem Bullauge
wurde es hell - der Strahl des leistungsstarken Bordscheinwer­
fers zerschnitt die Finsternis.
Alle traten ans Bullauge, und Alissa rief als erste: »Oje, was
hat denn das zu bedeuten!«

6
Das Raumschiff »Arbat« steckte in einer großen runden Senke,
die an einen Mondkrater erinnerte. Die Wände dieses Kraters
waren hoch und sehr steil. Doch nicht das verwunderte die
Raumfahrer, sondern die Tatsache, daß sich die »Arbat« keines­
wegs allein hier befand. Rechts und links von ihr standen noch
andere Raumschiffe oder deren Überreste. Einige von ihnen
waren offenbar schon vor langer Zeit zerschellt und ließen kei­
nen Schluß auf ihr früheres Aussehen mehr zu. Andere waren
so verwüstet, als hätte irgendein böser Narr sie ihrer Verklei­
dung beraubt und nur das Schiffsskelett übriggelassen. Wieder
andere waren wohl erst vor kurzem bei der Landung zu Bruch
gegangen, und drei oder vier der Schiffe schienen völlig unver­
sehrt.
Poseidon fuhr mit dem Scheinwerferstrahl langsam über
112
diese seltsame Anhäufung und leuchtete reihum ein verun­
glücktes Schiff nach dem anderen an. Plötzlich verharrte der
Strahl auf einer goldenen Bordaufschrift.
»>Robinson<«, entzifferte Alissa.
»Grüß dich, mein Alter«, sagte Poseidon, »wo sind wir uns
das letzte Mal begegnet? Ich glaub, auf dem Ganymed. Aller­
dings hast du damals bedeutend besser ausgesehn. Hier also
bist du gelandet, hast deinen ruhmreichen Weg beendet!«
Der Strahl glitt zur Seite und verhielt bei der Aufschrift
»Lautes Lachen«.
»Ein seltsamer Name«, sagte Polina mit einem Blick auf das
verbogene, zerfetzte Schiff.
»Hast du nie von ihm gehört?« fragte Poseidon. »Es hatte
eine besondere Besatzung an Bord - lauter lustige Musikan­
ten: Sänger und Clowns. Sie reisten zu verschiedenen Planeten
und gaben Konzerte.«
»Sie sind doch nicht etwa umgekommen?«
»Wenn es im Innern des Asteroiden keine Atmosphäre gibt,
ist die Sache aussichtslos«, erwiderte Poseidon.
Der Strahl kroch weiter, und plötzlich rief Judso durchdrin­
gend: »Da, mein Vater! Mein Vater ist hier! Ich hab ja gesagt,
daß ich ihn finde!«
Der Junge zeigte auf ein Schiff, das hinter dem »Lauten La­
chen« lag. Auf seiner Bordwand stand die Aufschrift »Sakura«,
daneben das Zeichen des geologischen Dienstes.
»Das ist unser Schiff!« wiederholte Judso. »Bitte lassen Sie
mich dorthin, ich muß hin!«
»Du wirst deinen Vater dort nicht finden«, sagte Polina leise.
Unter dem kalten, unbarmherzigen Strahl des Scheinwerfers
sah man, daß das Raumschiff bei der Landung stark gelitten
hatte, überdies war ein Teil der Metallverkleidung entfernt
worden.
»Ich muß trotzdem hin, begreifen Sie denn nicht!« erwiderte
Judso. »Mein Vater hat vielleicht zumindest eine Notiz hinter­
lassen ...«
»Beruhige dich, Judso«, sagte Polina, »wir gehn hin und un­
tersuchen das Schiff.«
113
»Meinst du, daß es im Innern des Asteroiden eine At­
mosphäre geben könnte?« fragte Alissa den Roboter. Sie sprach
leise, weil sie nicht so recht daran glaubte.
»Schwerlich«, erwiderte Poseidon. »Asteroiden sind tote
Körper, sie haben keine Atmosphäre. Sie könnte sich auch
gar nicht halten, weil die Anziehungskraft sehr gering
ist.«
»Hier ist sie aber im Gegenteil sehr groß!«
»Schau mal durchs Bullauge. Ist doch klar - nichts als Va­
kuum.«
»Und im Innern?«
»Im Innern ist nur Gestein«, antwortete Poseidon.
»Und wenn es nun im Innern eine Höhle gibt, in der ein
paar Leute mit einem Gravitationsgenerator sitzen?«
»Na weißt du, Alissa, jetzt fängst du aber an, einen phanta­
stischen Roman zu erzählen. Wer sollte sich in einem toten
Asteroiden ansiedeln, und weshalb?«
»Die Kosmospiraten zum Beispiel! Sie sind vielleicht nur ins
Sonnensystem gekommen, um diese Falle aufzustellen. Sie sau­
gen die Schiffe ein und plündern sie aus, die Passagiere aber
nehmen sie gefangen.«
»Sind doch Hirngespinste!« sagte Poseidon entschieden.
»Selbst wenn es den Piraten gelungen wäre, unbemerkt ins
Sonnensystem einzudringen, weshalb sollten sie das Fracht­
schiff >Robinson< plündern, das Ersatzteile für Bohrvorrichtun­
gen transportierte? Weshalb das >Laute Lachem mit Musikan­
ten an Bord, deren einziger Reichtum aus Trommeln und
Trompeten bestand? Weshalb die >Sakura<, auf der Professor
Komura Gesteinsproben mitführte?«
»Du begreifst die einfachsten Dinge nicht, Poseidon«, schal­
tete sich Polina ein, die gerade den Wandschrank öffnete, um
ihren Skaphander herauszuholen. »Man darf uns Menschen
nicht die Hoffnung nehmen.«
»Hoffnung ist eine Hypothese, die nicht von Fakten unter­
mauert wird«, entgegnete Poseidon.
»Bis jetzt ja«, sagte Polina, »doch diese Fakten können noch
kommen.«
114
»Die unlogische Denkweise von euch Menschen setzt mich
immer wieder in Erstaunen«, sagte Poseidon.
Judso war hinter Polina an den Schrank mit den Skaphan­
dern getreten. Plötzlich fragte er: »Und wo ist mein Rauman­
zug? Oje; wir haben ihn auf dem Kutter gelassen!«
»Mit dem Kutter müssen wir uns Zeit nehmen«, erklärte
Poseidon. Er hatte den Strahl des Scheinwerfers dicht zur
»Arbat« selbst herumgeschwenkt, und es wurde klar, daß der
angekoppelte Kutter »SfB-24« die Notlandung nicht überstan­
den hatte.
»Mach dir keine Sorgen«, tröstete Polina den Jungen. »Ich
geh jetzt zur >Sakura< hinüber, Poseidon aber untersucht dein
Schiff und bringt dir den Raumanzug.«
»Falls noch etwas davon übrig ist«, ergänzte der Roboter.
»Dann nehme ich eben Alissas Skaphander«, sagte Judso.
»Hör mal«, sagte Polina nun streng, »du befindest dich auf
einem Raumschiff. In einer ungewissen Situation. Der Schiffs­
kommandant aber bin ich, und alle andern haben sich mir strikt
zu fügen. Hast du das verstanden?«
»Jawohl, Kapitän-san«, antwortete der Junge. »Und wenn ich
nun doch Alissas Skaphander nehmen dürfte?«
»Wir wissen ja nicht einmal, wo wir hier sind«, begann Po­
lina geduldig zu erklären, »wir haben keine Ahnung, was uns
erwartet. Du und Alissa, ihr bleibt, was auch geschieht, auf
dem Schiff, hier ist es ungefährlicher.«
»Richtig«, unterstützte sie der Roboter, »sonst müssen wir
euch auch noch retten. Übrigens ist ein Asteroid mit solchen
Parametern im gesamten Verzeichnis der Kleinplaneten nicht
aufgeführt. Wäre es unter diesen Umständen nicht besser, ich
würde dich zur >Sakura< begleiten? Sollte etwas passieren,
braucht sich niemand um mich zu scheren - ich bin doch bloß
eine alte Blechbüchse ...«
»Das wissen wir bereits, damit sagst du uns nichts Neues«,
erwiderte Polina. »Du holst jetzt also Judsos Skaphander, den
werden wir vielleicht brauchen. Dann kommst du umgehend
zurück, schließlich bist du für die Sicherheit der Kinder verant­
wortlich.«
115
»Ich weiß auch ohne deine Befehle, wofür ich verantwortlich
bin.« Poseidon war unzufrieden, er hatte Angst um Polina.
Die Frau überprüfte ihren Raumanzug und klappte den
Helm herunter. Ihre Stimme aus dem Mikrofon im Helm klang
dumpf, wie durch ein Kopfkissen.
»Ich werde versuchen, über das Funkgerät der >Sakura< Ver­
bindung zum Mars aufzunehmen«, sagte sie und öffnete die
Luke zur Schleuse.
Noch bevor sich die Luke schließen konnte, rief Poseidon
hinterher: »Ich wette hundert zu eins, daß du dort keinerlei
Funkgerät vorfindest.«
Die Schleusenverriegelung klickte, und eine halbe Minute
später tauchte Polina auf der schwarzen glatten Oberfläche des
Asteroiden auf.
»Achtung, Sprechprobe«, hörte Poseidon sie sagen.
»Die Verbindung ist stabil«, antwortete der Roboter.
»Sollte etwas Unvorhergesehenes passieren«, fuhr Polina
fort, »wird Alissa Selesnjowa Kommandant des Schiffes.«
»Alles klar«, erwiderte der Roboter und folgte Polina mit
dem Scheinwerferstrahl. Er hatte nur deshalb nicht widerspro­
chen, weil nach den Regeln der Raumfahrt kein Roboter die
Schiffsführung übernehmen konnte, solange Menschen an
Bord waren. Selbst dann nicht, wenn es sich um einen klugen,
erfahrenen Universalroboter handelte. Faktisch würde in Poli-
nas Abwesenheit natürlich er der Chef sein, auch wenn in kriti­
scher Situation Alissa das letzte Wort hätte, die gerade mal elf
Jahre alt war.
»Alles klar«, sagte nun auch Alissa, di^ auf dem Bildschirm
verfolgte, wie sich die kleine glänzende Gestalt Polinas immer
weiter entfernte. Die Frau ging um die Wrackteile herum und
gab hin und wieder eine Erklärung.
»Das hier ist ein Schiff unbekannter Konstruktion - ihr
könnt es nicht sehen, es liegt hinter dem >Lauten Lachem. Es
stammt ganz offensichtlich nicht aus dem Sonnensystem und
muß schon vor langer Zeit hergekommen sein. Folglich zieht
dieser Asteroid die Raumschiffe nicht erst seit gestern an. Selt­
sam, daß niemand ihn bisher entdeckt hat. Schon vor zwanzig
116
Jahren hat in diesem Gebiet eine Komplexexpedition gearbei­
tet, die ihn einfach hätte bemerken müssen ... Sag mal, Posei­
don, wie groß schätzt du den Radius des Asteroiden?«
»Auf mehr als einen Kilometer«, antwortete der Roboter.
»Doch er besitzt eine unregelmäßige Form, erinnert an eine
plattgedrückte Kugel oder eine Linse. Wir selbst sind auf der
eingedellten Seite niedergegangen.«
»Ich nähere mich jetzt der >.Sakura<«, meldete Polina.
Als sie vor dem Raumschiff stand, erwies es sich als etwa
fünfmal so hoch wie sie.
Polina begann ihre Handlungen laut zu kommentieren - das
war Vorschrift, wenn ein Kundschafter das Schiff allein verlas­
sen hatte.
»Hier ist eine Luke«, sagte sie, »und zwar offen. Da der Dek-
kel fehlt, befindet sich wahrscheinlich niemand im Schiff. Ich
gehe trotzdem hinein, untersuche es und versuche zu klären,
in welchem Zustand sich das Funkgerät befindet. Poseidon,
hast du den Skaphander geholt?«
»Nein, aber ich hab’s nicht vergessen.« Und an Alissa ge­
wandt: »Du hältst die Verbindung zu Polina. Weißt du, wie
man den Scheinwerfer bedient?«
»Na klar.«
Poseidon ging zur Schleusenkammer, und Alissa nahm wei­
ter Polinas Informationen von der »Sakura« entgegen. Judso
aber fühlte sich zwischen dem Schiff seines Vaters und dem
Schulkutter hin und her gerissen. Er rannte sogar zur Luke, als
wollte er den Roboter, der sich gemächlich dort zu schaffen
machte, zur Eile antreiben. Der Junge hoffte nämlich, gleich­
falls zur »Sakura« hinüberlaufen zu können, sobald er den Skaph­
ander hätte.
»Ich bin jetzt im Innern der >Sakura<«, hörten sie Polina sa­
gen. »Es ist ein merkwürdiger Anblick: als hätten hier Räuber
gehaust. Die Verkleidung ist abgerissen, die Apparatur zer­
trümmert, das Geschirr zerschlagen, sämtliches Inventar aus
den Kajüten und vom Zwischendeck verschwunden. Und das
Funkgerät ..., das Funkgerät ist gleichfalls weg. Es ist mit G e­
walt entfernt worden und nicht auffindbar.«
117
»Und was ist mit der Notiz?« rief Judso. »Mein Vater muß
mir doch eine Notiz hinterlassen haben!«
Polina hörte den Jungen nicht und fuhr in ihrem Bericht
fort: »Im Schrank hängt auch kein Skaphander, folglich konnte
Judsos Vater ihn noch anziehen.«
Alissa dachte, daß jemand, der das Schiff geplündert hatte,
auch den Skaphander mitnehmen konnte. Es war klar, daß Po­
lina den letzten Satz nur gesagt hatte, um den Jungen zu beru­
higen.
»Tja, mehr kann ich hier nicht tun«, schloß Polina, »wir müs­
sen einen Weg ins Innere des Asteroiden suchen.«
Poseidon hatte vielleicht doch unrecht, wenn er Alissa mit
ihrer Theorie von den kosmischen Piraten auslachte.
»Schau doch mal, Alissa!« rief Judso unvermittelt.
Alissa drehte sich zum Bullauge um, das dem Kutter zuge­
wandt war, und sah Poseidon, der mit Judsos Skaphander kam.
Doch nicht das schien den Jungen aufzuschrecken.
»Was ist los?« fragte Alissa.
»Leuchte mal mehr nach rechts!« bat der Junge. »Noch wei­
ter rechts. Siehst du nichts?«
Der Scheinwerferstrahl holte Schiffsgerippe aus dem Dun­
kel, Gesteinsbrocken, verbogene Metallteile ... Und zwischen
alldem erhaschte Alissa plötzlich eine Bewegung: Von der Kra­
terwand her hasteten seltsame Gestalten auf das Schiff zu. Sie
waren schwarz gekleidet, deshalb konnte man nur schwer er­
kennen, wie sie wirklich aussahen.
In diesem Augenblick ging die Schleusentür auf, und Posei­
don stand, Judsos Skaphander in der Hand, an der Schwelle.
»Komm doch mal her, Poseidon!« sagte Alissa.
Der Roboter begriff sofort, daß etwas geschehen sein mußte.
Er warf dem Jungen den Raumanzug hin und stürzte zum
Steuerpult, um die Vergrößerung auf dem Bildschirm einzu­
schalten.
»Polina«, sagte er und heftete seinen Blick auf die dahinha­
stenden Gestalten, »wir sehen hier Leute. Sie bewegen sich auf
die >Sakura< und auf unser Schiff zu.«
»Na wunderbar«, antwortete Polina, »ich werde ihnen entge­
118
gengehn. Das bedeutet doch, hier arbeitet ein uns unbekanntes
Labor.«
»Aber sei vorsichtig!« mischte sich Alissa ins Gespräch. »Po­
seidon glaubt mir zwar nicht, doch ich bin nach wie vor über­
zeugt, daß es sich um die kosmischen Piraten handelt. Welches
Labor zerstört schon fremde Schiffe und plündert sie.«
»Achtung«, rief da der Roboter, »es sind keine Menschen!«
»Was dann?« fragte Polina.
»Außerirdische. Vielleicht solltest du lieber auf der >Sakura<
bleiben.«
Doch es war bereits klar, daß die Frau sich nicht mehr würde
verstecken können. Die schwarzen Wesen hatten sich in zwei
Gruppen aufgeteilt. Die eine rannte zur »Arbat«, die andere
stürzte auf die »Sakura« zu.
»Sie' kommen zu dir«, sagte Poseidon. »Ich vermute, sie ha­
ben uns beobachtet und wissen, daß du an Bord der >Sakura<
bist. Ich eile dir zu Hilfe.«
»Nein, bleib auf dem Schiff.«
»Das geht nicht, du bist in Gefahr. Unser Schiff kann verrie­
gelt werden, so daß die Kinder in Sicherheit sind, bis ich wie­
derkomme. Du dagegen bist ohne jeden Schutz.« Und ohne
noch weitere Worte zu verlieren, begab sich Poseidon erneut
zur Schleuse.
»Ich verlasse das Schiff gleichfalls«, hörte Alissa Polinas
Stimme. »Ich fühl mich in dieser Schachtel sonst wie eine Maus
in der Falle.«
»Poseidon ist auf dem Weg zur dir«, sagte Alissa. Sie sah den
Roboter mit großen Schritten über das freie Gelände hasten.
Dann entdeckte sie auch Polina: Sie hatte ihr Schiff gerade in
dem Moment verlassen, als die ersten der schwarzen Gestalten
es erreichten.
»Wer seid ihr?« konnte Polina gerade noch fragen, bevor die
Wesen sich auf sie warfen wie ein Wolfsrudel auf ein Rentier
und sie zu Boden rissen.
»Poseidon ...«, rief sie, dann war die Verbindung unterbro­
chen. Offenbar hatten ihr die Wesen die Helmantenne abgeris­
sen.
119
Der Roboter sprang in großen Sätzen auf Polina zu, er­
reichte sie aber nicht mehr. Einige der schwarzen Gestalten
hielten ihn auf, und er prallte gegen sie, fegte diejenigen, die
ihm am nächsten standen, einfach hinweg. Dem Ansturm der
anderen konnte er jedoch nicht standhalten.
»Achtung, Alissa«, rief er, »ihr dürft das Schiff unter keinen
Umständen verlassen! Ich gebe vorübergehend meinen Wider­
stand auf, um Polina ins Innere des Asteroiden zu folgen. War­
tet auf mich ...«
Dann war auch die Verbindung mit Poseidon unterbrochen.
In der Steuerkabine herrschte nun Stille.
Alissa und Judso waren völlig allein.

7
Alissa bemerkte, daß Judso eilig seinen Skaphander anlegte,
und beschloß, seinem Beispiel zu folgen. Vielleicht würden sie
das Schiff verlassen müssen. Deshalb lief sie zum Schrank, um
ihren Raumanzug zu holen.
»Paß auf, daß sie nicht zu nahe an uns herankommen«, rief
sie Judso zu, »und berichte mir, was sie tun.«
Doch am Schrank angelangt, zögerte sie. Nein, es war wohl
doch besser, zuerst das Schiff zu verschließen. Sie stellte sich
auf die Zehenspitzen, um die Außenverriegelung einzuschal­
ten. Jedes Schiff verfügte über solch ein elektronisches Blockie­
rungssystem: War es eingeschaltet, würde die Luke mit keiner­
lei Schlüsel zu öffnen sein. Dann konnte man nur ins Schiff
eindringen, wenn man seine Verschalung aufschweißte.
»Sie bewegen sich auf uns zu«, sagte Judso.
»Alle?«
»Die meisten sind dabei, Polina und Poseidon zur Wand ab­
zudrängen. Nur drei kommen her.«
»Richtig schade«, sagte Alissa, »daß wir keinen Blaster ha­
ben.«
»Stimmt«, antwortete der Junge, »wir würden ihnen den Gar­
aus machen.«
»Und wenn nun ...« Alissa, den Skaphander in der Hand,
121
verfiel in Nachdenken. Sie hatte eine lebhafte Phantasie und
fand für alle Ereignisse die unwahrscheinlichsten Erklärun­
gen. »Und wenn dieser Asteroid nun steuerlos ist und die
schwarzen Wesen so etwas wie einen Rettungstrupp darstel­
len? Bloß daß sie nicht aus unserem Sonnensystem stammen
und nicht unsere Sprache kennen. Sie holen alle Verunglück­
ten aus ihren Schiffen, um sie ins Innere des Asteroiden zu
bringen.«
»Das glaub ich nicht«, erwiderte Judso. »Retter stürzen sich
nicht wie Tiere auf diejenigen, denen sie helfen wollen.«
Alissa zog endlich den Skaphander an, stülpte den Helm auf,
klappte aber das Visier noch nicht herunter. Das schaffte man
notfalls in einer Sekunde.
»Sie sind jetzt am Schiff«, berichtete Judso.
»Mal sehn, was sie Vorhaben«, antwortete Alissa.
Sie mußten nicht lange warten - ein Stoß gegen die Luke er­
folgte, danach ein zweiter, stärkerer.
»Ihr Zicklein mein, laßt mich ein, ich bin’s, euer Mütter­
lein ...«, murmelte Alissa.
»Was sagst du da?« fragte Judso verblüfft.
»Das ist ein Märchen bei uns, du wirst es nicht kennen. Ein
Wolf hat sich als Ziege verkleidet und geht zu ihr nach Hause,
um ihre Kinderchen zu fressen.«
»Natürlich kenne ich dieses Märchen«, sagte der Junge.
»Aber uns betrügen sie nicht«, erklärte Alissa.
Der folgende Stoß war noch stärker.
»Womit hämmern die bloß«, dachte Judso laut, »haben sie
vielleicht Eisenfäuste?«
Die Schläge folgten jetzt einer nach dem andern, gleichmä­
ßig und monoton.
»Wenn sie nicht ganz dumm sind«, sagte Alissa, »lassen sie
sich bald was einfallen.«
Wie um Antwort auf ihre Vermutung zu geben, näherten
sich dem Schiff noch ein paar schwarze Gestalten. Eine von
ihnen schleppte so etwas wie einen Blaster an, nur mit langem
Lauf. Ein feiner weißer Strahl schoß heraus und berührte die
Luke.
122
»Sie wollen aufschweißen«, sagte Alissa, »und wahrscheinlich
schaffen sie’s auch.«
»Wir werden kämpfen«, erwiderte Judso.
»Und was hätten wir davon?« fragte Alissa. »Wenn sie schon
Poseidon bezwungen haben, wirst du dich erst recht nicht hal­
ten können.«
»Was bleibt uns anderes übrig? Wenn schon sterben, dann
ehrenvoll.«
»Übers Sterben denk ich anders«, erwiderte Alissa, »ich hab
ja noch nicht mal die Schule beendet. Setz den Helm auf.«
Während Judso den Helm überstreifte und durchs Bullauge
verfolgte, wie die schwarzen Wesen beharrlich der Schiffswand
zu Leibe rückten, schlug Alissa eine Ecke des Teppichs in der
Gemeinschaftskajüte zurück. Sie wußte, daß dort eine kleine
Luke war, die zum technischen Segment des Schiffes führte.
Poseidon war einmal in ihrer Anwesenheit hinuntergeklettert,
um das Heizungssystem zu überprüfen.
Judso stieg als erster hinab, nach ihm Alissa, die den Luken­
deckel so hinter sich zuzog, daß der Teppich auf den alten
Platz zurückgleiten mußte. Freilich konnte sie nicht sehen, ob
ihr das auch gelang. In der Stille hörte sie die schnellen Atem­
züge des Jungen.
Alissa knipste für einen Augenblick ihre Helmlampe an. Das
Segment, in das sie sich geflüchtet hatten, war niedrig, eng und
sehr lang. An den Seiten zogen sich die Luftschächte hin,
Rohre für Trinkwasserzubereitung und für die Heizung. Alissa
winkte den Jungen näher, und sie krochen noch ein Stück von
der Luke fort. »Jetzt ganz still«, flüsterte sie, »verhalt dich ru­
hig, was auch geschieht.«
Sie brauchten nicht lange zu warten, vielleicht fünf Minuten.
Als erstes verspürten sie einen Lufthauch. Das konnte nur be­
deuten, daß die schwarzen Wesen, die Alissa bei sich die Ban­
diten nannte, die Schiffseinstiegsluke trotz allem aufbekom­
men hatten. Und sofort entwich die Luft aus dem Schiff, wie
die Luftblasen aus einem Krug, wenn man ihn schnell ins Was­
ser taucht. Aus dem Segment, in dem sich Alissa und Judso
verborgen hielten, drang die Luft allerdings nicht ganz so
123
schnell. Zwar war es nicht hermetisch verschlossen, doch die
Ritzen und Verbindungskanäle zu den übrigen Räumen des
Schiffes waren so klein, daß sie einige Sekunden benötigte, um
zu entweichen. Die Skaphander der beiden paßten sich der
Druckveränderung augenblicklich an, aber Alissa spürte den
Übergang zum Vakuum trotzdem. Sie kannte dieses Gefühl be­
reits - so ähnlich war es immer, wenn sie aus dem Schiff in
den freien Raum ausstieg.
Bald darauf näherten sich Schritte. Freilich nahm Alissa sie
nicht mit den Ohren wahr - Geräusche werden im luftleeren
Raum ja nicht weitergeleitet, im Kosmos herrscht stets Stille.
Sie spürten lediglich, wie der Boden unter den schweren Trit­
ten vibrierte. Und wenn man die behandschuhte Hand an die
Decke des Segments legte, konnte man jeden Schritt verfolgen,
der oben getan wurde.
Die Fremden streiften ziemlich lange im Schiff umher. Dann
erzitterte die »Arbat« heftiger, unregelmäßiger, und Alissa kam
nicht gleich darauf, daß die Banditen mit der Plünderung
begonnen hatten. Sie brachen die Apparaturen heraus, rissen
und schraubten ab, was irgend möglich war, um es fortzu­
schleppen.
Plötzlich sah man dort, wo sich der Lukendeckel befand,
einen dünnen runden Lichtschein - jemand mußte den T ep­
pich zurückgeschlagen haben. Alissa erstarrte, sie glaubte,
einer der Banditen würde im nächsten Augenblick die Luke
entdecken und öffnen. Doch das geschah nicht, vielmehr
kehrte bald darauf Stille ein. Das Schiff war verwaist.
»Und was jetzt?« fragte Alissa.
»Wie meinst du das?« Judso begriff nicht.
»Ich denke, sie sind bloß fort, um einige Dinge vom Schiff
zu bringen. Aber sie werden mit Sicherheit wiederkommen
und unser Versteck finden. Ich fürchte, wir müssen weg von
hier.«
»Dann klettern wir eben raus«, stimmte Judso zu, »mir ist’s
hier sowieso zu langweilig.«
»Wir haben wenig Zeit«, sagte Alissa und kroch zur Luke.
»Durchaus möglich, daß sie in mehreren Schichten arbeiten.
124
Die einen gehen, die andern kommen, wir haben ja keine Ah­
nung, wie viele das sind.«
Mit diesen Worten öffnete sie die Luke und kletterte nach
einem Blick in die Runde schnell hinaus. Judso folgte ihr.
Auf dem Schiff befand sich niemand, doch in den Minuten,
die vergangen waren, hatte es sich völlig verändert. Die Appa­
raturen, das Geschirr, sogar die Möbel, Laken und Kleidungs­
stücke waren verschwunden, vom Steuerpult war nur noch das
Skelett übrig. Selbst den Teppich hatten sie mitgenommen.
Alissa stürzte zum Bullauge. Der Scheinwerfer brannte nicht
mehr, dennoch konnte sie die vagen Schatten der Räuber er­
kennen. Sie entfernten sich zur Kraterwand hin, im Gänse­
marsch, wobei sie die Beute hinter sich herschleiften. Die
zwei letzten trugen den zusammengerollten Teppich aus der
Gemeinschaftskajüte.
»Komm«, sagte Alissa.
»Wohin«, fragte Judso, »auf die >Sakura<?« Obwohl Polina
versichert hatte, daß es dort nichts gab, wollte er gern hin:
Vielleicht hatte die Frau etwas Wichtiges übersehen, irgend­
eine Botschaft, die einzig Judso als Botschaft erkennen würde.
»Nein«, antwortete Alissa, »ich denke, wir sollten lieber den
Banditen folgen. Wir müssen herausfinden, wie sie ins Innere
des Asteroiden gelangen.«
»Und wenn sie uns entdecken?«
»Wenn du Angst hast, geh auf die >Sakura< und warte dort
solange.«
»Ich hab vor nichts Angst.« Judso war gekränkt und ging als
erster zur Ausstiegsluke.
Die Lukentür war herausgerissen und lag auf dem Steinbo­
den neben dem Schiff. Die beiden sprangen hinaus und nah­
men eilig die Verfolgung der Banditen auf.

8
Polina bekam nicht mit, wie sich die Tür zum Innern des Aste­
roiden öffnen ließ. Dabei hatte sie genau aufpassen wollen.
Schuld daran waren die schwarzen gesichtslosen Wesen, die sie
125
zur Kraterwand schleppten; sie hasteten dahin, sich gegensei­
tig stoßend und behindernd. Sie erinnerten Polina an Ameisen,
die einen gefangenen Käfer zu ihren Bau schleppen. Auch
wenn ihr Treiben auf den ersten Blick unüberlegt anmutet, so
bewegen sie den Käfer letztendlich doch auf ihre Behausung
zu.
Die erste Tür fuhr auf, und die Wesen blieben stehen - of­
fenbar warteten sie den Druckausgleich ab. Dann öffnete sich
eine zweite Tür, und Polina begriff, daß das Innere des Aste­
roiden Luft enthalten mußte.
Sie befand sich jetzt in einem dunklen Korridor, wurde aber
gleich weitergezerrt. Etwa hundert Schritt vor ihr flammte ein
schwacher Lichtschein auf. An der Flurdecke glimmte eine
matte Lampe, ließ erkennen, daß der Gang direkt ins Gestein
gebohrt war, und zwar nicht eben sorgfältig. Die Wände waren
nicht verkleidet. An ihnen zogen sich Kabel und Drähte hin,
alles von dickem Staub überzogen. Polina spürte die Verwahr­
losung ringsum.
Ihre Gegner jedoch vermochte sie nicht genauer zu betrach­
ten, dazu war das Licht zu schwach. Die Lampe in ihrem Helm
aber wagte sie nicht einzuschalten - sie fürchtete, die Banditen
würden sie zerschlagen. Schließlich waren sie ja auch so schlau
gewesen, die Funkantenne herunterzureißen.
Bald gelangten sie zu einer weiteren Lampe, und Polina er­
blickte einen Gang, der nach rechts führte. Er war von einer
nicht allzu hohen Barriere versperrt. Sie glaubte das bleiche
Gesicht eines Menschen dahinter gesehen zu haben, das G e­
sicht eines Kindes fast. Sie war nicht sicher, ob sie dieses Ant­
litz wirklich wahrgenommen hatte oder ob es sich um ein
Trugbild handelte, denn die Banditen gönnten ihr keinen
Augenblick Ruhe - stießen sie vorwärts, zausten sie, schlepp­
ten sie weiter.
»Schubst doch nicht so«, sagte Polina, »ich geh auch allein!
Wenigstens könntet ihr mir erklären, was ihr von mir wollt.«
Doch ihre Worte machten auf die schwarzen Wesen keiner­
lei Eindruck. Sie zerrten sie unablässig weiter. Nach einigen
Metern spürte Polina, daß der Boden abschüssig wurde, sie be­
126
kam einen derben Stoß in den Rücken und wäre beinahe ge­
fallen.
Vor ihr öffnete sich eine Tür, die in einen halbdunklen
Raum führte. Dort hinein wurde sie von den Wesen gestoßen.
Die Tür fuhr quietschend wieder zu und trennte Polina vom
Korridor. Sie war allein.
Die einzige spärliche Lichtquelle an der Decke erhellte nur
mit Mühe den großen Raum. Graue Wände, grauer Fußboden,
graue Decke. In den Ecken Lumpenhaufen, auf der Fußboden­
mitte eine zerbrochene Tasse, eine Puppe ohne Arme und an
der einen Wand, unerklärlich weshalb, eine Ansammlung von
Musikinstrumenten: eine zerbeulte, matt glänzende Tuba, eine
Flöte, eine Geige mit gesprungenen Saiten und sogar ein Vio­
loncello.
Doch Polina berührte nichts von alledem. Sie ging langsam
den Raum ab, vergewisserte sich, daß sie allein war, versuchte
herauszufinden, ob es noch einen anderen Ausgang gab. Sie
befand sich in der Tat allein hier, und einen zweiten Ausgang
gab es nicht. Die Wände waren glatt und massiv, nur in der
Zimmerdecke befand sich vom Ventilationssschacht her eine
kleine vergitterte Öffnung.
Unverhofft entdeckte Polina genau neben dieser Öffnung
eine Inschrift, die mit einem spitzen Gegenstand eingeritzt
worden sein mußte: »Wir stammen vom Schiff >Lautes Lachern.
Menschen, vernichtet dieses N e s t ...« Ein Stück weiter stand
eine andere Inschrift, diesmal eine schwarze, offenbar mit
Kohle oder Tusche angebracht: »Heute sind wir an der Reihe.
Wir wissen, daß noch niemand lebend den Krallen der Eisdra­
chen entkommen ist. Lebt w o h l...«
Polina drehte sich unwillkürlich um, ihr schien, als schaue
ihr jemand über die Schulter. Doch da war niemand, nur hatte
sich die ohnehin unheilvolle Stille noch verdichtet wie kalt
gewordener Mehlbrei.
Polina wurde unheimlich zumute. Sie stürzte zur Tür, be­
gann mit den Fäusten dagegenzuhämmern und rief: »Laßt
mich raus! Ihr habt kein Recht, mich einzusperren! Laßt mich
sofort frei!«

127
Alissa und Judso ließen sich Zeit, denn sie wollten den Bandi­
ten nicht gar zu nahe kommen. Die aber drehten sich kein ein­
ziges Mal um - sie waren damit beschäftigt, ihr Diebesgut zur
Kraterwand zu transportieren.
So gelangten die beiden schließlich, von einem Schiff zum
andern laufend, fast bis zur Wand, wo sie jedoch um ein Haar
gefaßt worden wären. In dem Augenblick nämlich, da die Ban­
diten in der Wandöffnung verschwunden waren und die Kin­
der auf ungeschütztes Gelände heraustraten, um ihnen zu fol­
gen, fuhr die Tür in der Wand ein zweites Mal auf, und drei
andere Räuber sprangen heraus.
Zum Glück ragte nicht weit von den beiden die runde Bord­
wand eines der gekaperten Schiffe auf, und Alissa ließ sich,
den Jungen am Ärmel mitziehend, auf die Steine fallen, wo sie
reglos verharrte. Judso schaltete schnell und tat es ihr nach.
Doch die Banditen erwarteten wohl nicht, hier jemanden zu
entdecken. Sie hasteten auf ihrem Beutepfad dahin, Ameisen
vergleichbar und wild durcheinander.
»Was ist, wollen wir warten?« fragte Judso.
Sie mußten sich schnell entscheiden.
»Nein«, sagte Alissa. »Wir wissen nicht, wie lange es dauert,
bis sie zur Ruhe kommen. Unsre Leute aber sind dort drin.
Vielleicht auch dein Vater.«
»Mein Vater ist unter Garantie dort drin«, sagte Judso.
»Gehn wir?«
Sie rannten zu der Stelle an der Wand, wo die Banditen ver­
schwunden waren. Alissa schaltete für eine Sekunde ihre
Helmlampe an und gewahrte in ihrem Licht einen dünnen
schwarzen Streifen im glattgeschliffeneri Gestein - die Um­
risse einer großen Luke. Daneben aber befand sich eine kleine
Wölbung, die die Wesen stets berührten, wenn sie zur Wand
kamen.
Alissa führte ihre Hand gleichfalls an diese Wölbung, und
nach einer Sekunden währenden Pause fuhr die Luke seitlich
auf.
Sie befanden sich nun in einem dunklen Zwischengang.
Alissa schaltete abermals ihre Lampe an und fand die Tür, die
128
ins Innere des Asteroiden führte. Diese Tür öffnete sich, so­
bald sich der Druck aus der Schleusenkammer dem des Aste-
roideninnern angeglichen hatte. Alissa warf einen Blick auf
ihren Armreif, der die Daten für die äußeren Bedingungen an­
zeigte. Grünliche Funken flammten auf - die Luft war also
zum Atmen geeignet, und die Temperatur betrug plus sieb­
zehn Grad. Dennoch behielt sie den Helm auf, nicht mal das
Visier klappte sie hoch - wer wußte, war für Mikroben in die­
ser Luft verborgen sein konnten.
»Bleib drei Schritt hinter mir«, sagte Alissa zu ihrem Beglei­
ter. »Sollte mir etwas zustoßen, kannst du noch zurück.«
Nach einigen Schritten «kamen sie an eine Korridorbiegung.
Der Flur hier war eng, die Wände kalt und uneben, ganz so, als
wären sie in den Fels gehauen. Nach der Biegung wurde der
Korridor breiter, die Wände wiesen nun Nischen und Abzwei­
gungen auf, doch Alissa riskierte es vorerst nicht, einen Blick
dahinter zu werfen, denn sie sagte sich, daß der Hauptgang sie
wohl am ehesten zum Zentrum des Asteroiden führen würde.
Der Korridor war nur spärlich erhellt. Die Entfernung von
einer Lampe zur andern betrug an die dreißig Meter, zudem
brannten sie nur schwach. Da aber das Licht in den Nischen
und Nebengängen gleich gar fehlte, kam es Alissa und Judso so
vor, als lauerten dort irgendwelche Wesen und beobachteten
jeden ihrer Schritte. Doch obwohl Alissa auf alles gefaßt war,
erschreckte sie das, was nun folgte, zu Tode.
Eine große schwere Hand kam aus einer der schwarzen
Nischen hervor und legte sich ihr auf die Schulter. Alissa
stieß einen Schrei aus und ging in die Knie. Sie hätte nicht
mal mehr weglaufen können - die Beine versagten ihr den
Dienst.
Judso prallte auf sie auf. »Was ist los?« fragte er gepreßt.
»Pssst«, antwortete jemand, und diese fremde Stimme schien
irgendwoher von der Decke zu kommen. »Keinen Laut!« Und
dann trat Poseidon aus der Nische.
Als Alissa begriff, daß es sich um den Freund handelte, ga­
ben ihre Beine gänzlich nach, und sie mußte sich an den Robo­
ter lehnen. Das Metall seiner Beine war glatt und warm.
129
»Poseidon«, flüsterte Alissa, »so darf man die Leute nicht er­
schrecken.«
»Entschuldige«, erwiderte der Roboter, »doch ich konnte dir
unmöglich schon von weitem zurufen, daß du nicht erschrek-
ken sollst. Ich bin unter Mühen mit dem ersten Angreifertrupp
fertig geworden, der nächste könnte härter vorgehen.«
»Was soll das heißen?« fragte Judso, den Poseidons Auftau­
chen kein bißchen aus der Fassung gebracht hatte.
»Du hast doch Augen, sieh dich um«, sagte Poseidon und
schaltete seine Helmlampe auf volle Stärke.
Hinter der Biegung lagen in einer tiefen Nische einige der
Banditen auf einem Haufen - anders konnte man das nicht
nennen. Ihre schwarzen Leiber hatten sich mit Armen und Bei­
nen ineinander verhakt, und einige der Wesen waren ganz und
gar ohne Kopf.
»Oh«, rief Alissa, »du hast ein furchtbares Verbrechen began­
gen, Poseidon! Ein Roboter darf keine Menschen töten, was ist
bloß in dich gefahren?«
»Wenn es nun Feinde und Mörder sind, soll ich da vielleicht
zuschaun?«
»Feinde und Mörder werden vom Gericht bestraft«, sagte
Alissa.
»Wo ist denn das Gericht, zeig es mir! Sag mir, wo wir sie
hinschaffen, wie wir es anstellen sollen, daß sie brav sind und
tun, was von ihnen verlangt wird.«
»Das versteh ich ja, trotzdem hättest du das nicht tun dür­
fen.«
Judso hockte sich hin und betrachtete die Toten genauer.
»Aber das sind doch gar keine Menschen!« rief er plötz­
lich.
»Bist ein schlauer Kerl!« Poseidon lachte laut, zufrieden, daß
er Alissa an der Nase herumgeführt hatte. »Sowie ich begriffen
hatte, daß es einfach Roboter sind, nichts als blinde Maschi­
nen, machte ich mich voll ans Werk. Auf offenem Gelände wa­
ren sie natürlich stärker als ich und hätten mich auseinander­
nehmen können. Doch im engen Korridor war ich im Vorteil,
und wißt ihr auch, warum?«
130
»Weil Sie klüger sind, Roboter-san«, sagte Judso.
»Ich freu mich, dir begegnet zu sein«, erwiderte Poseidon.
»Es ist immer angenehm, die Bekanntschaft eines gescheiten
jungen Menschen zu machen.«
»Und meinen Vater, haben Sie den gesehen?« erkundigte
sich der Junge.
»Wann denn. Ich bin hier genauso neu wie ihr.«
»Aber Polina, wo ist Polina?« fragte Alissa.
»Die werden wir jetzt suchen. Und Professor Komura eben­
falls. Wir werden sie alle finden. Nur möchte ich zunächst den­
jenigen kennenlernen, der seelenlose Roboter gegen ehrliche
Kosmosreisende loshetzt, und ein ernstes Wort mit ihm re­
den.«
Poseidon schob den abgebrochenen Arm eines der Banditen
beiseite, und drunter hervor kam Alissas Tasse. Das Mädchen
griff hastig nach ihr.
»Wirklich erstaunlich«, sagte sie. »Schon bei der Landung ist
sie heil geblieben, und hier auch.«
»Du wirst noch ausgiebig Tee draus trinken«, versprach Po­
seidon.
In der Stille des unterirdischen Gewölbes war fernes Füße-
trappeln zu hören.
»Es tut mir richtig leid, das Schlachtfeld zu räumen«, sagte
Poseidon, »doch ich halte es für ratsamer, den Rückzug anzu­
treten. Der Krieg ist nicht nach unserem Gesetz.«
Sie eilten weiter, bis Poseidon einen schmalen seitlichen
Gang entdeckte. Dort versteckten sie sich mit ausgeschalteten
Lampen.
Einige Minuten später liefen nacheinander mehrere
schwarze Roboter vorbei. Doch bald darauf verstummten ihre
Schritte. Statt dessen waren jetzt kurze, klickende Laute zu hö­
ren, mit denen sich die Wesen verständigten. Danach Knir­
schen und Getöse - offenbar trugen sie den Haufen ihrer to­
ten Artgenossen ab, ohne ergründen zu können, was eigentlich
geschehen war.
»Gleich werden sie dahinterkommen, daß sich ein Feind auf
ihrem Asteroiden eingeschlichen hat«, flüsterte Poseidon. »Wir
131
sollten jetzt lieber von hier verschwinden. Je weiter wir von
diesem Ort weg sind, desto besser.«
Und sie rannten los, immer die Korridore entlang, wobei sie
möglichst enge, schwach erhellte Gänge wählten, um ihre Spu­
ren zu verwischen.

9
Polina brachte die Untätigkeit um, sie mußte etwas unterneh­
men. Sie wußte ja weder, was mit Alissa und Judso los war,
noch, wo sich Poseidon aufhielt, wußte nicht einmal, wo sie
selbst sich befand und weshalb man sie in diese Zelle gesperrt
hatte. Das wichtigste aber: Sie hatte keine Ahnung, was mit
den Leuten geschehen war, die man vor ihr hier gefangenge­
halten hatte.
Polina erhob sich und begann erneut an die Eisentür zu
klopfen. »Laßt mich raus!« rief sie. »Wer ist euer Vorgesetzter?
Ich verlange, zu ihm gebracht zu werden!«
»Ruhe da!« schrie eine Stimme hinter der Tür. »Du störst die
Aschikleken bei ihrer Ruhe!«
»Wen?«
Keine Antwort.
Polina sah sich nach einem harten Gegenstand um, einem
Stock vielleicht oder einem Stück Holz, mit dem sie kräftiger ge­
gen die Tür hämmern konnte. Da fiel ihr eine zerbeulte, doch
insgesamt intakte Tuba ins Auge - eine riesige gewundene Trom­
pete, die von der Gruppe »Lautes Lachen« stammen mußte.
Sie nahm das Instrument, streifte es sich über den Kopf wie
ein Musiker, fand das dazugehörige Mundstück und brachte
nach einigen erfolglosen Versuchen einen lauten, tiefen Ton
zuwege.
Sie spürte förmlich, wie dieser Ton die Tür durchdrang und
sich auf dem gesamten Asteroiden ausbreitete. In der Tat
schallte er so weit, daß auch Poseidon und seine Begleiter ihn
vernahmen, die, durch mehrere Wände von Polina getrennt,
einen Korridor entlangliefen.
»Hast du gehört, Poseidon?« fragte Alissa. »Hier müssen
Menschen sein.«
132
»Woraus schließt du das?« erwiderte der Roboter verwun­
dert. »Die hier können ja eigene Musikanten haben.«
»Schade«, sagte Alissa, »ich hätte nicht gedacht, daß andere
Wesen ebenfalls musizieren können.« Und an Judso gewandt:
»Hat dein Vater nicht zufällig eine Trompete?«
»Nein«, erwiderte der Junge erstaunt, »und er hat nie ge­
spielt.«
»Moment mal!« Alissa blieb reglos stehen.
Polina, bemüht, der Posaune einige Töne zu entlocken, hatte
es in diesem Augenblick nämlich geschafft, die ersten Noten
des bekannten Kinderliedchens »Im Wald ein Tännlein ward
geboren« zu spielen.
»Du hast recht«, stimmte nun auch Poseidon zu, »sie könn­
ten zwar eine Trompete besitzen, doch dürfte ihnen kaum das
Lied bekannt sein. Wir wollen versuchen, uns in diese Rich­
tung durchzuschlagen.«
Was ihnen jedoch nicht gelang. Sie waren kaum in den Gang
eingebogen, der zu dem unbekannten Musikanten führen
mußte, da hasteten schon ein paar schwarze Wesen auf sie zu,
und sie waren gezwungen, schleunigst wieder kehrtzumachen.
Polina aber spielte solange, bis sie nicht mehr konnte. Hinter
ihrer Tür war kein einziger Laut zu hören. Dafür jedoch ver­
nahm sie, als sie das Instrument auf dem Boden ablegte, eine
leise Stimme, die von oben kam.
»Hören Sie mich?«
»Ja.« Polina wandte sich der Stimme zu. Sie drang aus dem
vergitterten Lüftungsschacht. »Wer sind Sie?«
»Treten Sie näher heran.«
Polina kam der Aufforderung nach.
»Ich bin genauso ein Gefangener des Asteroiden wie Sie«,
fuhr die Stimme fort, »Ihnen droht tödliche Gefahr. Sie müssen
diese Zelle unbedingt verlassen.«
»Aber wie?! Ich hab alle Wände untersucht, es gibt keinen
Fluchtweg. Wie sind denn Sie herausgekommen? Vielleicht
könnte ich denselben Weg nehmen.«
»Nein, mir ist die Flucht gelungen, als sie uns zur Schlucht
führten. So lange dürfen Sie nicht warten. Bei mir war’s reiner
133
Zufall. Die Chancen sind sehr gering, Sie müssen sofort han­
deln.«
»Wie nur, wie?!«
»Sehen Sie den Lumpenhaufen dort in der Ecke?«
»Ja.«
»Darunter ist eine Feile versteckt. Und am Fußboden ist
auch schon ein Spalt ausgefeilt. Die Gefangenen vor Ihnen
wollten auf diese Weise entkommen, haben es aber nicht mehr
geschafft. Wenn es Ihnen gelingt, eine Öffnung herauszufei­
len, gelangen Sie in den Techniktunnel, dort kann ich Sie hö­
ren. Kriechen Sie nur immer diesen Tunnel entlang... Und
vergessen Sie nicht, Sie haben nicht länger als zwei Stunden
zur Verfügung ...«
Polina spürte, daß die Tür in ihrem Rücken geöffnet wurde.
Sie trat schnell vom Ventilationsschacht weg, hob die Tuba auf
und setzte das Mundstück an.
Der schwarze Roboter blieb stehen, als wäre er gegen den
lauten, langgedehnten Ton geprallt.
»Aufhören!« schrie er. »Es ist Mittagsruhe, du weckst sie
auf!«
Polina sprang zur Seite, denn der Roboter kam mit ausge­
streckten Armen auf sie zu, um ihr das Instrument wegzuneh­
men. Polina hob die Posaune hoch über den K opf und don­
nerte sie dem Wesen mit der Breitseite so auf den Schädel, daß
es sofort Ähnlichkeit mit einem Narren in Goldkappe bekam.
Der Roboter blieb vor Verblüffung reglos und wie blind, mit
ausgebreiteten Armen stehen. Diesen Augenblick nutzte Po­
lina, stürzte zur Tür. Doch ihr Vorhaben mißlang - ein ande­
rer Roboter kam seinem Gefährten zu Hilfe, stieß Polina grob
zurück und zog dem ersten Automaten mit einiger Mühe die
Posaune vom Kopf.
Das Instrument in den Händen, verließ er die Zelle wieder,
gefolgt von dem überrumpelten Roboter, der den K opf um
hundertachtzig Grad gewandt hielt, um Polina nicht aus den
Augen zu lassen.
Als es erneut still war, kehrte Polina zum Lüftungsschacht
zurück. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie, »die Feinde haben
134
nach kurzem Kampf den Rückzug angetreten.« Sie lächelte bei
dem Gedanken, wie komisch der Roboter mit der Posaune auf
dem Kopf ausgesehen hatte, und bedauerte, daß Alissa dieser
Anblick entgangen war. »Es ist alles in Ordnung«, wiederholte
sie, »hören Sie mich?«
Doch sie bekam nicht die leiseste Antwort.
Da begab sich Polina, die Tür im Blick, zur Zellenecke und
schob den Lumpenhaufen beiseite. Tatsächlich entdeckte sie
auf dem Fußboden darunter ein kleine Feile. Der unsichtbare
Verbündete hatte recht gehabt.
In der Wand, ein kleines Stück über dem Fußboden, war ein
dünner Streifen ausgefeilt. Allerdings mußten noch senkrechte
Schlitze gesägt werden - Polina stand eine schwere und lang­
wierige Arbeit bevor. Doch was blieb ihr anderes übrig, sie
ging in die Hocke und begann das Werk fortzusetzen, das die
ihr unbekannten Gefangenen dieser Zelle begonnen hatten.

10
Kurz nachdem Poseidon und seine Begleiter die Verfolger ab­
geschüttelt hatten, erreichten sie den Eingang zu einem langen
niedrigen Saal, in dem reihenweise schmale, flache Bettgestelle
mit verschlissenen Matratzen standen. Auf diesen Matratzen
lagen oder saßen eine Menge Wesen, die sich von den Robo­
tern unterschieden. Offenbar handelte es sich hier um die wah­
ren Bewohner des Asteroiden, genauer gesagt, um seine Her­
ren.
Freilich wirkten sie irgendwie seltsam und verwahrlost, ja
geradezu beklagenswert. Die meisten trugen weite graue Män­
tel, die aus Säcken gefertigt schienen und Schlitze für die dün­
nen Arme besaßen. Offenbar ihre einzige Kleidung - unter
diesen Säcken schauten dünne schmutzige Beinchen hervor.
Man konnte sie nicht anders bezeichnen, denn die Wesen wa­
ren schwerlich größer als Alissa. Doch man sah selbst bei dem
schwachen Licht dieses riesigen Schlafraums, daß sich unter
den Menschlein, wie Alissa sie bei sich nannte, nicht einfach
Erwachsene, sondern auch alte Leute befanden.
135
Die Haare waren lang und verfilzt, die Augen trübe und die
Bewegungen schlaff wie im Schlaf.
In dem Gang zwischen den Pritschen stand ein schwarzer
Roboter mit gelber Schürze und roter Kappe. Er stellte so et­
was wie eine Mischung zwischen Kindermädchen und Hans­
wurst dar.
»Da sind sie«, sagte Poseidon mit spürbarer Erleichterung.
»Richtige Menschen«, fügte Alissa hinzu.
»Gehen wir zu ihnen«, schlug Judso vor, »wir müssen mit
ihnen reden, ihnen alles erklären.«
»Moment noch«, sagte Alissa, »irgendwie gefallen sie mir
nicht.«
»Wieso denn nicht?«
»Glaubst du, sie sind tatsächlich die Herren des Asteroiden«,
fragte Alissa, »und können dieses Schiff steuern, den Robotern
Befehle erteilen?«
»Der äußere Schein trügt«, sagte Poseidon. »Wer mich an­
sieht, würde auch niemals glauben, daß ich vier Universitäten
im Abendstudium absolviert habe.«
»Wir sollten’s trotzdem nicht übereilen«, sagte Alissa. »Viel­
leicht treffen wir einen, mit dem wir reden können.«
Die beiden waren einverstanden, und so setzten sie ihren
Weg fort, obwohl sie die Menschlein gern weiter beobachtet
hätten. Doch bereits nach den ersten Schritten im Gang stie­
ßen sie gleichfalls auf eine von den kleinen Gestalten.
Dieses Menschlein erwies sich als alter Mann. Sein spärli­
cher Bart reichte fast bis zur Gürtellinie, und das Gesicht war
so zerfurcht, als hätte es jemand mit einem dünnen schwarzen
Stift ausgestrichelt.
Bei Poseidons Anblick war der Alte kein bißchen erschrok-
ken, lief auch nicht fort, sondern steckte lediglich den schmut­
zigen Finger in den Mund und begann daran zu lutschen.
»Psst«, sagte Alissa flüsternd, »hab keine Angst, wir tun dir
nichts Böses ... Poseidon, mein Guter, streng deinen Kopf ein
bißchen an und find heraus, in welcher Sprache wir uns mit
ihm unterhalten können.«
Das Menschlein hörte Alissa zu. Dabei neigte es den Kopf,
136
nahm schließlich den Finger aus dem Mund und griff nach
dem kleinen Stern, der an ihrer Brust leuchtete. Seine Finger
umklammerten ihn und machten Anstalten, ihn abzuschrau­
ben. Das aber war unmöglich, weil der Stern fest am Skaphan­
der saß.
»Das darfst du nicht«, sagte Alissa zu dem Menschlein.
Der alte Mann verzog das Gesicht vor Anstrengung. Er
machte keine Anstalten aufzugeben, und Poseidon sagte: »Soll
er sich ruhig plagen, ich werd ihm inzwischen ein paar Fragen
in sämtlichen bekannten Sprachen der Galaxis stellen.«
Doch dazu kam Poseidon gar nicht erst, weil der Alte, in sei­
nem vergeblichen Bemühen, den Stern abzureißen, plötzlich
gekränkt aufheulte, genau wie ein kleines Kind. Sein Schrei
war so schrill, daß er durch sämtliche Wände drang.
Die drei standen wie erstarrt. Als erster besann sich Posei­
don. Er packte das Menschlein und setzte zur Flucht über den
Korridor an.
Die Flure wurden enger, das Thermometer an Alissas Hand­
gelenk zeigte an, daß die Temperatur stieg.
Plötzlich hielt Judso an und rannte zurück.
»Wo willst du hin?« rief Alissa.
»Keine Bange, ich komme gleich. Ich glaub, ich hab hier et­
was von meinem Vater gefunden ...«
Der Junge war einige Schritte zurückgelaufen und bückte
sich. Auf dem Fußboden lag ein flacher Rotstift - der gleiche,
wie ihn sein Vater besessen hatte: An seinem Ende war ein
kleiner Kirschblütenzweig eingepreßt.
»Er gehört meinem Vater!« rief Judso. »Ich hab doch gesagt,
daß er hier ist!« Er hob den Stift auf und stürmte hinter Alissa her.
Hier muß bemerkt werden, daß all diese Ereignisse kaum
eine Minute in Anspruch nahmen. Aber auch in einer Minute
kann vieles geschehen, vor allem wenn man bedenkt, daß kei­
ner der Flüchtenden eine Ahnung von der Richtung besaß, in
die sie laufen mußten, nichts von der Anordnung der Flure
und Zimmer im Asteroiden wußte.
Judso rannte noch ein paar Meter und gelangte an eine G a­
belung. Drei völlig gleiche Korridore führten vom Hauptgang

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ab wie die abgespreizten Finger einer Hand. Der Junge
lauschte. Es kam ihm so vor, als dringe das Kreischen des klei­
nen Alten aus dem rechten Flur, deshalb steuerte er ihn an,
den Rotstift fest in der Faust.
Genau in dem Augenblick verstummte das Geschrei.
Das aber geschah, weil Alissa Poseidon zugerufen hatte:
»Laß ihn laufen, er verrät uns!«
»Was ist los?« fragte der Roboter und schaute verwundert
auf das Männchen, das unter seinem Arm zappelte. »Ich muß
eine Sklerose haben - den hatte ich total vergessen.«
Poseidon setzte das Wesen auf dem Fußboden ab, und das
Menschlein rannte, empört brabbelnd, den Korridor zurück.
Der Roboter aber fragte: »Wir sind doch nicht vollzählig, wo
steckt Judso?«
»Er ist ein Stück zurückgeblieben«, antwortete Alissa, »weil
er etwas gefunden hat. Aber er wird uns gleich einholen.«
»Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« rügte Poseidon.
»Ich dachte, du hättest es selbst gehört.«
»Wahrscheinlich hat der da«, Poseidon wies auf den davonei­
lenden Alten, »so laut gezetert, daß ich nichts anderes mehr ge­
hört habe. Aber es ist meine Schuld; wenn man mit Kindern
durch unterirdische Gewölbe läuft, sollte man sich von Zeit zu
Zeit umdrehn und seine Schäfchen zählen.«
Alissa liebte es ganz und gar nicht, wenn man sie als Kind
bezeichnete, begriff aber, daß sie Judso nicht hätte allein lassen
dürfen. Deshalb lief sie als erste die Strecke wieder zurück.
Schon nach einigen Sekunden hatten sie die Gabelung er­
reicht, an der Judso eben erst stehengeblieben war. Sie kamen
nur aus dem mittleren Gang, während der Junge ja den rechten
genommen hatte. Doch während Poseidon und Alissa noch
verwirrt dastanden, unschlüssig, was sie tun sollten, befand
sich Judso bereits in Gefangenschaft. Er war im Korridor auf
drei Roboter gestoßen, die ihn schnappten und so schnell fort­
schleppten, als wollten sie ihm behilflich sein zu fliehen - dem
Jungen blieb regelrecht der Atem weg.
Poseidon rief: »Judso! Judso Komura!«
Als Antwort darauf war Getrappel von verschiedenen Seiten

138
zu hören. Das Getrappel von Eisenfüßen. So blieb ihnen nichts
weiter übrig, als sich in den linken Korridor zu flüchten.
Die Verfolger kamen immer näher, und Poseidon rief Alissa
zu: »Lauf weg, ich halte sie auf!«
»Ich lauf nirgends hin«, erwiderte Alissa, »was soll ich denn
allein anfangen!«
Glücklicherweise entdeckte sie in diesem Moment seitlich
einen schmalen Spalt und dahinter eine Treppe, die nach un­
ten führte. »Poseidon, hierher!« rief sie und schlüpfte durch
den Spalt, durch den sich dann auch Poseidon mit einiger
Mühe zwängte. Sie rannten die Treppe - es handelte sich um
eine Wendeltreppe - hinunter; ihre Stufen waren verrostet, so
als wären sie schon lange nicht mehr benutzt worden.
Von unten drang ein undefinierbares Summen an ihr Ohr.
Die Treppe führte in einen neuen Gang, dessen Boden diesmal
aus quadratischen Eisenplatten bestand. Ihre Schritte hallten
dumpf darauf wider - unter den Platten müßte sich ein Hohl­
raum befinden.
Nach etwa zwanzig Schritten tauchte vor ihnen unvemutet
eine blinde Mauer auf. Hinter sich aber hörten sie das dumpfe
Gepolter der Roboter, die nun gleichfalls die Treppe hinunter­
rannten.
Poseidon begriff, daß ein Rückzug unmöglich war, und
machte,' zum Kampf bereit, eine Kehrtwendung. Da fuhr eine
der Bodenplatten zur Seite, und eine Stimme sagte: »Schnell,
runter mit euch!«
Unter der Platte befand sich ein dunkles Gewölbe, zu dem
ein Eisentreppchen führte. Alissa stieg, sich an den Sprossen
festklammernd, als erste hinunter. Nach ihr rutschte Poseidon
in die Tiefe, der - auch wenn er massig und ungelenk wirkte -
viel gewandter war als ein Mensch. Einmal hatte er sich sogar
allen Ernstes darauf vorbereitet, bei der Olympiade außerhalb
der Konkurrenz in Zehnkampf anzutreten. Und er hatte allen
versichert, daß er zwar nicht gerade den ersten, doch einen
durchaus ehrenhaften Platz belegen würde.
Die Stimme befahl, die Platte wieder zu schließen, und Po­
seidon kam dieser Aufforderung nach.

139
Alle standen sie erstarrt da, und das genau im richtigen Mo­
ment, denn über ihnen waren jetzt Schritte zu hören. Sie don­
nerten auf den Eisenplatten direkt über ihren Köpfen hin und
verstummten gleich darauf. Es konnte nichts anderes bedeu­
ten, als daß die Verfolger an der blinden Mauer angelangt wa­
ren. Dumpfe Schläge ertönten - wahrscheinlich klopften die
Roboter die Wand auf eventuelle Öffnungen ab. Nach einer
kurzen Pause waren abermals Schritte zu vernehmen, diesmal
in umgekehrter Richtung. Die Automaten liefen jetzt bedeu­
tend langsamer und ruhiger, ganz so, als wären sie bedrückt
und enttäuscht. Bald darauf hallten ihre Schritte, sich immer
weiter entfernend, über die Stufen der Wendeltreppe ... Dann
trat Stille ein.
»Das scheint noch mal gut gegangen zu sein«, sagte Poseidon
leise.
»Ich bin froh, daß ich euch helfen konnte«, antwortete die
Stimme von vorhin.
Ein Rascheln, dann ein Klicken, und schließlich flammte ein
kleines gelbes Licht auf. Auf einer leeren Kiste mitten im
Raum, in den es sie verschlagen hatte, stand ein Schälchen mit
einer Flüssigkeit und einem Docht. Diese Funzel war es auch,
die das schwache, unwirkliche Licht verbreitete.
Die kleine Flamme erhellte das Gesicht eines Greises. Es
wirkte hager, ausgemergelt und erschöpft. Lange schwarze, mit
Grau durchsetzte Haare fielen ihm über die Wangen. Der alte
Mann war völlig zerlumpt, sein Antlitz dunkel verfärbt. Nur
die lebhaften schwarzen Augen brannten und hoben sich deut­
lich vom Weiß der Augäpfel ab.

11
Polina sägte unterdessen verzweifelt an der Wand. Der
schmale Spalt wuchs so langsam, daß ihr bald klar wurde -
nicht mal zwei Tage, geschweige denn zwei Stunden würden
reichen, um eine Öffnung dort hineinzubekommen. Doch sie
ergab sich nicht.
Sie verlor allmählich das Gefühl in den Händen und mußte
140
die aussichtslose Arbeit mehrmals unterbrechen, um auszu-
ruhn. Ihre Finger waren voller Eisenstaub; die rechte Hand war
angeschwollen und blutete etwas.
»Ssst ssst ...«, sang die Feile, und von diesem gleichför-
- migen Geräusch klangen Polina regelrecht die Ohren. Sie war
so in ihre Arbeit vertieft, so darauf versessen weiterzufeilen
trotz der inzwischen völlig fühllosen Hand, daß sie das erneute
Öffnen der Zellentür überhörte.
»Hallo, Mensch«, sagte eine laute, schneidende Metall­
stimme, »beende deine Arbeit. Du verdirbst bloß mein Schiff,
und bei deinem Bemühen kommt ja doch nichts heraus, weil
du mir ohnehin nicht entfliehen kannst.«
Polina sprang auf und drehte sich um, bemüht, die Feile hin­
ter dem Rücken zu verstecken.
In der Zelle stand ein diesmal andersgeartetes Wesen. Auch
das war gewiß ein Roboter, nur größer und furchteinflößender
als die vorherigen. Er war ganz und gar schwarz gekleidet,
hatte einen langen, weiten Umhang um und auf dem Kopf
einen blitzenden anthrazitfarbenen Helm mit hohem Kamm.
Sein Gesicht, genauso dunkel wie das der anderen Roboter, be­
saß gleichfalls weder Augen noch Mund. Deshalb war nicht
auszumachen, wo die Stimme eigentlich herkam.
»Ich beobachte euch voller Interesse«, sagte der große Robo­
ter. »Ihr seid schon seltsame Wesen, strampelt euch ab, wollt
immer etwas erreichen. Dabei nützt das niemandem.«
»Wer sind Sie?« fragte Polina.
»Ich bin der H err hier«, erwiderte der Roboter, »der Oberste
von allen. Ich regiere über diese Welt, und sie zittert vor mir.«
»Wenn das so ist, müssen Sie mich freilassen.«
»Und weshalb?«
»Weil ich nicht zu Ihrer Welt gehöre«, sagte Polina. »Ich
wollte nicht zu Ihnen, wir waren unterwegs und ...«
»Ihr seid ziemlich dicht an mir vorbeigeflogen«, sagte der
H err, »und so hab ich euch gezwungen, euch mir zu unterwer­
fen.«
»Aber wozu?«
»Um euer Hab und Gut an mich zu bringen, um meine Un-
141
tergebenen zu zerstreuen und euch aus der Nähe zu betrach­
ten, denn ich bin neugierig.«
»Sind Sie auch ein Roboter?« fragte Polina. Sie trat näher an
das Wesen heran und betrachtete es.
»Ich weiß von diesem dummen Wort, es ist auf der Erde er­
funden worden. Schon die haben es verwandt, die vor euch
hier waren und jetzt nicht mehr am Leben sind. Man hat mir
sogar erzählt, daß es vor vielen Jahren von einem Geschichten­
schreiber der Erde namens Karel Capek erdacht wurde. Ein
Roboter aber ist eine Maschine aus Eisen, ein Sklave der Men­
schen, der ihre Befehle ausführt. Folglich bin ich kein Robo­
ter.«
»Was denn, Sie sind ein lebendes Wesen?«
»Genau, ein lebendes, denn ich bin imstande zu denken.«
»Aber von anderen Lebewesen gefertigt.«
»Ja, irgendwann einmal wurde der konstruiert, der mich ge­
schaffen hat.«
»Alles klar«, sagte Polina, »ein Roboter zweiter Generation.
Und wozu hat man euch hergestellt?«
»Damit wir für andere sorgen, sie bewachen und voranbrin­
gen.«
»Ihr habt also Pflichten?«
»Pflichten?«
»Man kann auch >Aufgaben< dazu sagen.«
»Also gut, ich habe Pflicht-Aufgaben«, stimmte der schwarze
H err zu. »Meine Pflicht ist es, diese Welt zu regieren und alles
so einzurichten, daß die Aschikleken glücklich sind.«
»Die Aschikleken sind wohl eure wahren Herren?«
»Nein, die Aschikleken sind Wesen deiner Gattung. Sie sind
warm, in ihren Adern fließt Blut, sie sind dumm, unbeständig
und schwach. Ich mache sie glücklich.«
»Indem du dich unterordnest und ihnen dienst?«
»Ich ordne mich niemandem unter und diene auch nicht«,
antwortete der schwarze Roboter. »Doch ohne meine Fürsorge
würden die Aschikleken sterben.«
»Ruf sie her«, verlangte Polina, »ich will mit ihnen sprechen
und nicht mit einer Maschine.«
143
»Was bist du doch für ein dummes Wesen«, erwiderte der
schwarze Roboter. »Ich dachte, du wärst es wert, am Leben zu
bleiben und mir bei meinem wichtigen Werk zu helfen. Aber
du begreifst nicht das geringste.«
»O doch«, sagte Polina, »ich begreife sehr wohl. Du bist ein­
fach defekt. Ein Roboter mit Größenwahn.«
»Empörung und Gekränktsein sind mir fremd«, erwiderte
der schwarze H err. »Du kannst mich nennen, wie du willst. Ich
bin der Herrscher über diese Welt, und meiner Macht sind
keine Grenzen gesetzt.«
»Seltsam, ein Roboter mit eingerostetem Programm«, Polina
konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Die Furcht, die sie
beim Anblick dieses Wesens überkommen hatte, war längst
verflogen. Angst hat man nur vor etwas, das man nicht ver­
steht. Und als hätte er begriffen, daß er für diese Frau nicht der
H err, sondern bloß eine Maschine war, dröhnte er mit erhobe­
ner Stimme durch die Zelle: »Wenn dich die Krallen des Eis­
drachen zerfleischen, wirst du dich deiner unbedachten Worte
erinnern und sie bitter bereuen. Ich kann Beleidigungen un­
möglich verzeihen, doch nicht etwa, weil sie mich verletzen,
sondern weil sie meine Autorität antasten. Ich bin Gott, ich bin
der Herr\ Und alle müssen vor mir zittern.«
»Es lebe der H errh riefen einmütig die anderen Roboter. »Es
lebe seine Weisheit!«
Doch diese Szene wurde auf ihrem Höhepunkt unterbro­
chen. Im Korridor war Lärm zu hören - zwei Roboter zerrten
den sich verzweifelt wehrenden Judso in die Zelle.
Der H err drehte sich jäh um, musterte den Jungen mehrere
Sekunden lang mit seinem augenlosen schwarzen Gesicht und
sagte schließlich: »Noch einer? Wo habt ihr ihn gefunden?«
»Im Korridor. Er war allein.«
»Das ist gut so und wird uns eine nette Zerstreuung brin­
gen.«
Die Roboter ließen den Jungen los, er aber konnte sich nicht
auf den Beinen halten, so daß Polina ihn auffangen mußte.
Judso erkannte die Frau und begann hastig draufloszureden,
ohne darauf zu achten, daß die Roboter noch um sie herum­
144
standen: »Polina, mein Vater ist hier, er lebt! Ich hab seinen
Rotstift gefunden, sehen Sie mal!«
»Was für ein Vater?« Der H err merkte auf.
»Das bildest du dir nur ein, Judso, der Stift muß einem ande­
ren gehören«, berichtigte Polina hastig, doch der Junge begriff
nicht.
»Aber ich hab ihn genau wiedererkannt ...«
»Auf dem Schiff müssen noch Fremde sein!« jaulte der H err
auf. »Sofort alles durchsuchen! Durchkämmt das ganze Schiff,
sonst nehm ich euch selbst auseinander!«
»Entschuldige, großer H e m , sagte einer der Roboter und trat
einen Schritt vor, »aber ich denke, wir brauchen uns nicht zu
beeilen. Diese Wesen zeichnen sich durch große Anhänglich­
keit aus. Weshalb etwas suchen, das schwierig zu finden ist?
Wir bringen sie noch heute zur Eisschlucht und werden daraus
kein Geheimnis machen. Sein Vater wird dann ganz von selbst
angelaufen kommen, wir aber stehen in Bereitschaft.«
»Eine vernünftige Idee und meines Dieners würdig«, sagte
der H err. Er strebte zur Tür, blieb dort aber noch einmal stehen
und sagte zu Polina: »Bereitet euch auf einen grauenvollen Tod
vor, ihr nichtswürdigen Klumpen aus Protoplasma.«
Die Tür schloß sich, doch Polina und Judso waren nicht al­
lein. Einer der Roboter blieb in der Zelle und baute sich genau
an der Stelle auf, wo Polina die Wand ausfeilen wollte. Sie
führte den Jungen zu dem Lumpenhaufen, dort setzten sich
beide hin.
Der Junge weinte nicht, doch er war sehr blaß und niederge­
schlagen. »Ich war dumm«, sagte er, »ich hätte schweigen sol­
len. Aber ich freute mich so ...«
»Ja wirklich, du hättest lieber nicht reden sollen«, stimmte
Polina zu. »Doch jetzt ist es zu spät, sich Vorwürfe zu machen.
Wo sind die anderen?«
Der Junge beugte sich zu Polina und flüsterte ihr etwas ins
Ohr. Der Roboter trat einen Schritt auf sie zu, konnte aber
nichts verstehen. Und da er keine Anweisung hatte, was in
einem solchen Fall zu tun sei, kehrte er nach kurzem Zögern
zu der angefeilten Stelle an der Wand zurück.
145
12
Offenbar hatte dieser Raum früher als Lager gedient, denn
überall standen offene Container, jede Menge Plastsäcke und
kaputte Kisten herum. Eine der Kisten, zum Tisch umfunktio­
niert, befand sich in der Mitte des Raumes, der so gut es ging
gesäubert worden war. Neben der brennenden Funzel waren
eine Schüssel mit Brei und ein Becher mit Wasser zu erkennen.
»Es war euer Glück, daß ihr in diese Richtung gelaufen
seid«, sagte der alte Mann, »sonst hätte ich euch nicht helfen
können.«
»Da haben wir in der Tat Glück gehabt«, bestätigte Alissa
und lauschte den sich entfernenden Schritten über ihr. »Sie le­
ben wohl hier? Aber weshalb, Sie sind doch kein Roboter?«
»Das sind ziemlich viele Fragen auf einmal.« Der Mann lä­
chelte. »Ich bin ein genauso zufälliger Gast wie ihr. Und nicht
aus freien Stücken.«
»Haben Sie ebenfalls eine Havarie erlitten?« erkundigte sich
Poseidon.
»Ja, ich bin in eine Falle geraten. Man hat mich in eine Zelle
geschleppt, in der sich schon andere Leute befanden. Musikan­
ten. Das Ensemble >Lautes Lachem. Wir haben dort gemein­
sam etwa eine Woche zugebracht und hatten nicht die ge­
ringste Ahnung, was mit uns wird. Wir bekamen ausschließlich
Roboter zu Gesicht, die uns später mitteilten, man würde uns
umbringen. Sie wollten uns in die Eisschlucht werfen. Wir
konnten uns nichts darunter vorstellen und versuchten, auf
dem Weg dorthin zu fliehen. Doch das ist nur mir gelungen.
Seither verberge ich mich hier, und das schon den zweiten Mo­
nat.«
»Und was ist aus den Musikanten geworden?« fragte Alissa.
»Sie leben nicht mehr«, erwiderte der alte Mann.
»Aber wie ist es Ihnen gelungen, sich zu verstecken, ohne
daß man Sie bisher entdeckte?« fragte Poseidon.
»Dieser Asteroid ist sehr groß und alt«, sagte der Greis, »und
zum Glück gibt es viele leerstehende Gewölbe, von denen
nicht mal der H err eine Ahnung hat.«
»Wer?«
146
»Der Herr des Schiffes. Es ist ein Roboter. Doch im Gegen­
satz zu den anderen Robotern ist er die ganze Zeit mit dem
Elektronenhirn des Schiffes verbunden. Er ist gewissermaßen
sein ausführender Arm. Alle unterwerfen sich ihm, sowohl die
Roboter als auch die Aschikleken.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Poseidon, »da wir erst kurze Zeit
hier sind, kaum mehr als eine Stunde, wissen wir noch nicht
allzuviel über diesen Asteroiden. Ihre Worte besitzen für uns
keinen Informationswert. Deshalb erklären Sie uns bitte, wer
diese Aschikleken sind.«
»Ich weiß es«, sagte Alissa, »das sind diese Menschlein. Wir
haben einen mitgenommen und dann wieder freigelassen.«
»Das Mädchen hat recht«, sagte der Alte. »Es sind die Aschi­
kleken. Ehemalige Kosmonauten.«
»So sehn doch keine Kosmonauten aus!« entrüstete sich
Alissa.
»Wenn du weiterhin immer dazwischenredest«, rügte Posei­
don, »werden wir noch in zwei Tagen hier sitzen. Dabei müs­
sen wir schnellstens handeln.«
»Das ist wahr«, stimmte der Mann zu. »Ihr habt nicht viel
Zeit. Doch ein paar Minuten für eine Unterhaltung bleiben
schon ... Seid ihr vielleicht hungrig? Allerdings hab ich nicht
viel zu essen da, ihr seht ja selbst - nur Brei und Wasser, aber
ihr könnt gern was abhaben.«
»Nein danke«, sagte Alissa. »Ich selbst hatte noch gar nicht
die Gelegenheit, hungrig zu werden, Poseidon aber, das wer­
den Sie verstehen, braucht nichts zu essen.«
»Ich habe schon bemerkt, daß er ein Roboter ist«, sagte
der Mann. »Was aber die Nahrung betrifft, so muß ich sie bei
den Aschikleken stehlen. Wenn es hier still wird und alle aus-
ruhn, schleiche ich mich zu ihren Kochtöpfen und kratze sie
leer ...«
»So erzählen Sie schon, erzählen Sie«, bat Alissa. »Diese
schlimmen Geheimnisse bringen uns noch um. Wie konnte es
geschehen, daß die Piraten diesen Asteroiden in ihre Gewalt
bekamen? Und wieso hat man sie nicht schon eher entdeckt?«
»Piraten? Aber das sind keine Piraten, sondern unsre Gäste,
147
vernunftbegabte Brüder aus dem All. Kommt, ich zeige euch
etwas.« Der Alte erhob sich und ging durch einen schmalen
Gang zwischen den Containern tiefer in den Raum hinein. Sie
stießen auf eine kleine Wendeltreppe, die ins nächste Geschoß
führte. Dort befand sich ein gleiches Lager, nur war in seine
hintere Wand ein Loch gebrochen worden, aus dem ein Licht­
strahl zu ihnen drang. Der Alte führte sie dorthin.
Vor Alissas Augen breitete sich eine große grüne Lichtung
aus. Doch das Gras erwies sich bei genauerem Hinsehn als un­
echt, es bestand aus Plast. Künstlich waren auch die Sträucher,
Bäume und Blumen. Die niedrige Decke über der Lichtung
war hellblau gestrichen und mit Wolken bemalt.
Einige Menschlein - haargenau denen gleichend, die sie ge­
sehen hatten - spazierten über die Lichtung, saßen auf dem
Plastikgras, zwei waren mit irgendeinem Spiel beschäftigt, bei
dem sie abwechselnd eine große rote Figur über ein Brett scho­
ben. Am Ufer eines Sees aus Glas saßen gleich fünf Menschlein
und sangen, sich im Takt wiegend, ein Lied. Auf den ersten
Blick hätte man meinen können, es handle sich um eine fried­
volle Erholungsszene vernunftbegabter Wesen, doch je länger
Alissa die Wiese betrachtete, um so klarer wurde ihr, daß alles
nur Verstellung war. Die Aschikleken taten bloß so, als gingen
sie spazieren, gaben bloß vor, sich zu erholen, sogar daß sie
sangen, war nur Schein.
»Hier muß es irgendwo Fäden geben«, sagte Poseidon unver­
mittelt.
»Ich verstehe nicht«, antwortete der Alte.
»Aber das sind doch Puppen«, erwiderte der Roboter. »Ma­
rionetten, die von irgendwem an Fäden gezogen werden, da­
mit sie sich bewegen.«
»Sie verfügen ja über ein bildhaftes Denken, ■ Poseidon«,
sagte der Alte.
»Ich habe ein langes und nicht eben leichtes Leben hinter
mir«, erwiderte Poseidon, »in dessen Verlauf ich begriff, daß
nur eins wichtig ist - zu lernen.«
Am entfernten Ende der Wiese tauchte ein Roboter in wei­
ßer Schürze und mit einem großen Besen in der Hand auf. Zu
148
Alissas Verblüffung begann er damit ohne jede Scheu die
Aschikleken zur Tür zu treiben.
Die Aschikleken sträubten sich, wollten weglaufen, doch der
Roboter trieb sie vor sich her wie ein abgerichteter Hund eine
Herde dummer Kühe.
»Was macht er da?« fragte Alissa.
»Es ist Zeit fürs Mittagessen«, antwortete der Alte, »danach
ist die Zerstreuung für sie vorgesehen ...« Seine Miene verdü­
sterte sich, als er fortfuhr: »Wir haben nur noch wenig Zeit. Es
reicht gerade, um euch in zwei Sätzen zu erklären, was es mit
diesem Asteroiden auf sich hat. Den Rest später - bei günsti­
gerer Gelegenheit.«
Die Lichtung hatte sich geleert, die Lampen waren nach und
nach verloschen und die künstlichen Büsche schwarz gewor­
den.
»Irgendwann«, begann der Mann, »vor mehreren hundert
Jahren, startete in einem sehr fernen Sternensystem ein Raum­
schiff. Ich weiß nicht, weshalb es entsandt wurde - vielleicht
drohte jenem Planeten Gefahr, vielleicht wollte man auch nur
die Galaxis erkunden. Das Schiff war mit allem Notwendigen
ausgestattet, und man hatte das Möglichste getan, um Arbeit
und Sorgen von der Besatzung fernzuhalten. Alle anstrengen­
den Tätigkeiten wurden durch Roboter ausgeführt: Sie bereite­
ten das Essen, kümmerten sich um die Gewächshäuser, repa­
rierten, putzten, wuschen, ganz zu schweigen von der Steue­
rung des Schiffes und all seiner Systeme.
»Woher wissen Sie das?« fragte Poseidon.
»Auf dem Schiff gab es früher eine Bibliothek. Sogar die Ro­
boter vergaßen den Weg dorthin, ich aber stieß zufällig auf das,
was davon übrigblieb. Dort sind die Dokumente der ersten
Jahrzehnte ihrer Reise aufbewahrt.«
»Und das Raumschiff war so lange unterwegs, daß es Ähn­
lichkeit mit einem Asteroiden bekam?« fragte Alissa.
»Aber nein. Ursprünglich war das hier in der Tat ein Aste­
roid, der in der Nähe des Aschiklekenplaneten kreiste. Er
wurde erst allmählich zum Raumschiff umgerüstet: In sein In­
neres wurden Gewölbe gebohrt und Gravitationstriebwerke

149
montiert, denn im offenen Kosmos ist es unwichtig, ob ein
Schiff groß oder klein, quadratisch oder rund ist. Fehlt erst mal
der Luftwiderstand, so läßt sich ein Sandkorn ebenso leicht auf
Tempo bringen wie ein Asteroid - vorausgesetzt, der An­
triebsstoß ist ausreichend stark. Die Konstrukteure aber sagten
sich: Erstens ist es billiger, bereits vorhandene Wände zu nut­
zen, als sämtliche Einzelteile vom Planeten aus in den Kosmos
zu transportieren. Zweitens lieferte der Asteroid selbst den
Raumfahrern Metalle, Sauerstoff und andere Elemente, die im
Gestein enthalten sind.«
»Alles klar«, sagte Poseidon. »Und auch vernünftig, vielleicht
werden wir künftig genauso verfahren. Was aber geschah wei­
ter?«
»Dann vergingen Jahre, Jahrzehnte. Die Reise zog sich hin.
Soweit ich verstanden habe, war der von ihnen angesteuerte
Planet für eine Besiedlung ungeeignet, und so flogen sie wei­
ter. Wieder vergingen Jahre. Und stellt euch vor ...« Der Greis
verstummte, als wollte er sich selbst verdeutlichen, was da­
mals, vor mehreren Jahrhunderten und Tausende Parsek von
hier entfernt, geschehen war. »Stellt euch eine Gruppe von
Kosmonauten vor, doch nicht mehr jene, die einst aufgebro­
chen waren, sondern ihre Ur-Urenkel, für die stets und in al­
lem die Roboter bereitstanden. Sie wurden immer zahlreicher,
die Roboter, sie vervollkommneten sich und überließen den
Menschen, sprich Aschikleken, immer weniger Verantwor­
tung. Die Nachfahren der Kosmonauten gewöhnten sich
daran, daß die Roboter alles für sie erledigten. Sogar wenn
Kinder zur Welt kamen, übergab man sie umgehend an die
Automaten, damit diese sie aufzogen und unterrichteten. So
wurden die Menschen, nur nach außen weiterhin die Herren
des Schiffes, allmählich zu Sklaven der Roboter. Zu Sklaven
der Untätigkeit. Bis der Tag kam, an dem die Kosmonauten
vergaßen, wer sie waren, wohin sie flogen und weshalb sie leb­
ten. Sie glaubten, das Asteroiden-Schiff sei schon das ganze
Universum. Nur die Roboter mit ihrem unsterblichen H errn an
der Spitze wußten noch, zu welchem Zweck das Schiff gebaut
worden war.«
150
»Die Roboter wußten um diesen Zustand und duldeten
ihn?« fragte Alissa.
»Sie duldeten ihn nicht nur, er befriedigte sie sogar. Was soll­
ten sie als Automaten mit neuen Planeten und Gefahren? Sie
hatten ja ihr Programm - das Überleben der Aschikleken zu si­
chern. Und das verwirklichten sie auch. Es sind Ammen, die
ihre Kinder nicht groß werden lassen möchten, damit sie für im­
mer in ihrer Obhut bleiben. Selbst wenn dieser Zustand noch
eine Million Jahre andauern sollte, würden sie zufrieden sein.«
»Aber schon jetzt ...«, begann Poseidon, doch der Alte un­
terbrach ihn.
»Schon in tausend Jahren werden sich die Aschikleken in
Amöben verwandelt und sämtlichen Verstand eingebüßt ha­
ben. Bereits jetzt ist kaum noch etwas davon übrig. Es ist ein
Völkchen stumpfsinniger Kreaturen, die nur wissen, wie man
ißt, schläft und sich zerstreut. Es heißt, die Arbeit habe den A f­
fen zum Menschen gemacht. Umgekehrt ist festzustellen: Das
Fehlen von Arbeit verwandelt den Menschen unweigerlich in
einen Affen.«
»Ach, wie gern würde ich die Aschikleken einem Jungen bei
uns zeigen«, murmelte Alissa. »Der hat nämlich nichts anderes
im Kopf, als sich vor den Schulaufgaben zu drücken.«
»Ich aber«, sagte finster Poseidon, »schäme mich für meine
Artgenossen. Wie kann man zu einer so widerwärtigen und
verbrecherischen Pflichtauffassung kommen!«
»Am traurigsten an alldem ist, daß es sich hier weder um
Verbrecher noch um Bösewichter handelt«, sagte der Mann.
»Wir haben geistig verarmte Menschen vor uns, die nicht wis­
sen, was sie tun, und unbedarfte Roboter mit nur einem
Wunsch - daß es den Aschikleken gut geht. Sie füttern und
wärmen sie und sorgen leider auch für ihre Zerstreuung - auf
Kosten der anderen Menschen, die ja von den Robotern nicht
als Menschen angesehen werden.«
»Erklären Sie uns bitte noch«, sagte Alissa, als der Alte sie
weiter durch die unterirdischen Gänge des Asteroiden führte,
»wie dieses Schiff eigentlich hierhergekommen ist. Und wes­
halb man es nicht schon früher entdeckt hat.«
151
»Es ist erst vor kurzem, vor einigen Monaten, hier aufge­
taucht. Die Anziehungskraft der Sonne muß es eingefangen
haben, und so konnte es unbemerkt in den Asteroidengürtel
eintauchen, sich unter Tausenden gleichartiger Körper verber­
gen. Ich weiß nicht, weshalb sie nicht weitergeflogen sind.
Vielleicht ging ihr Treibstoff zur Neige, vielleicht hofften sie,
Beute zu machen. Möglicherweise wollen sie uns auch erst er­
forschen, ehe sie ihren Weg fortsetzen. Ich bin nicht imstande,
einen Blick in ihre eisernen Schädel zu werfen. Jedenfalls ha­
ben sie nicht die Absicht, Verbindung zur Erde aufzuneh­
men.«
»Na gut, aber daß sie fremde Schiffe kapern - dient das etwa
der Erforschung?«
»Nein, das geschieht zur Zerstreuung der Aschikleken und
um zu plündern.«
»Und gewiß befürchten sie, entdeckt zu werden«, sagte Po­
seidon. »Wenn sie die Sicherheit der Aschikleken über alles
stellen, müssen sie das einfach befürchten.«
»Ihr habt recht«, stimmte der Alte zu. »Dennoch ist das
Wichtigste für sie die Plünderung und Zerstreuung. Sie räu­
bern die Schiffe, die ihnen in die Falle gegangen sind, vollstän­
dig aus, die Besatzungen aber ... Ihr müßt wissen, daß die
Aschikleken von ihrem Entwicklungsstand her zurückgeblie­
bene Kinder sind - grausam, launisch und unverständig. D es­
halb ...«
In den Gewölben des Asteroiden ertönte, immer stärker wer­
dend, durchdringendes Sirenengeheul.
»Nanu, was ist das?« fragte Poseidon. »Sind sie uns auf der
Spur?«
»Nein, es ist das Mittagssignal«, erklärte der Alte. »Eine hei­
lige Zeit für diese Dummchen.«
Gleich darauf wurden in sämtlichen Korridoren und Etagen
des Schiffes hastige Trippelschritte laut - die Aschikleken ka­
men gelaufen. Zwei der Menschlein stürzten unverhofft hinter
einer Ecke vor und sausten, die leeren Schüsseln an ihre K u­
gelbäuche gepreßt, vorüber.
»Das wär’s«, sagte der Alte, »unsre Unterhaltung ist beendet,
152
jetzt ist höchste Eile geboten. Die Zerstreuung, von der ich
sprach, beginnt gleich nach dem Mittagessen. Und der Frau,
die mit euch hergeflogen ist, droht tödliche Gefahr.«
»Sie haben Polina gesehen?« fragte Alissa. »Wo ist sie? Wir
haben sie verloren.«
»Eure Gefährtin ist im Gefängnis, aus dem es nur einen Aus­
gang gibt - den zur Eisschlucht. Auch scheint sie nicht allein
zu sein. Ich wollte ihr helfen, doch sie hat, wie ich glaube, we­
nig Chancen.«
»Stimmt, es ist wahrscheinlich noch jemand bei ihr«, bestä­
tigte Alissa. »Ein Junge namens Judso. Wir haben ihn in dem
Augenblick verloren, als die Roboter über uns herfielen und
Sie uns die Luke öffneten.«
»Judso?« Der Mann merkte auf. »Hast du Judso gesagt? Ist
das ein Freund von euch?«
»Wir sind erst kürzlich im Kosmos auf ihn gestoßen«, sagte
Poseidon. »Sein Vater ist im Asteroidengürtel verschollen, des­
halb hat der Junge ein Schulschiff entwendet, das für den Welt­
raum nicht zugelassen ist, und sich auf die Suche nach seinem
Vater gemacht. Ein erstaunlicher Leichtsinn, der nur den Men­
schen eigen ist.«
»Himmel«, die Stimme des Mannes bebte, »es ist mein
Sohn!«
»Haben Sie sich denn so verändert?!« rief Poseidon aus. »Erst
heute habe ich aufmerksam Ihr Foto betrachtet. Das ist ja un­
glaublich!«
»Die letzten Monate waren sehr schwer«, sagte der Alte.
»Aber was macht denn nun mein Junge? Wo habt ihr ihn zum
letzten Mal gesehen? War er gesund? Und ihr habt ihn im K os­
mos gerettet?«
»Er hatte keinen Treibstoff mehr«, erklärte Alissa.
»So eine Unvernunft, nun ist er in ihren Fängen.«
»Vielleicht ist er wirklich unvernünftig«, sagte Poseidon,
»trotzdem hätte nicht jeder Junge sein Leben riskiert, um im
Kosmos den Vater zu suchen.«
»Wir wollten zu ihm zurück«, sagte Alissa traurig, »aber wir
haben es einfach nicht geschafft.«
153
»Ich mach euch doch keinerlei Vorwürfe«, erwiderte der
Mann, »nur müssen wir uns jetzt beeilen.«
Professor Komura, so hieß ja Judsos Vater, rannte als erster
los, durch die Korridore und Etagen des Asteroiden - selbst
Poseidon mit seinem guten Gedächtnis hätte sich in all diesen
Gängen verirrt, die den Asteroiden wie einen Ameisenhaufen
durchzogen. Von Zeit zu Zeit durchquerten sie geräumige
Säle, zweimal begegneten sie ein paar Aschikleken, die sich
zum Mittagessen verspätet hatten, und einmal stießen sie auf
eine Roboteramme, ohne sich freilich auch nur eine Sekunde
aufzuhalten.
»Bleibt hier stehen«, sagte Komura unverhofft. Er öffnete
eine hohe, schmale Luke und kletterte gewandt hinein.
»Kommen Sie bald zurück?« fragte Poseidon.
Der Professor gab keine Antwort.
»Ich hätte ihn von Anfang an erkennen müssen«, sagte Posei­
don, »meine Beobachtungsgabe läßt nach. Zur Fernerkundung
würden sie mich jetzt nicht mehr nehmen. Nein, bestimmt
nicht.«
»Polina«, hörten sie von weitem die Stimme des Professors,
»sind Sie noch da?«
Und aus einer noch viel größeren Entfernung, als käme sie
vom anderen Ende der Galaxis, ertönte zur Antwort Judsos
Stimme: »Vater! Es ist die Stimme meines Vaters! Ich habe sie
erkannt. Er lebt. Ich hab doch immer gesagt, daß er am Leben
ist und uns helfen wird.«
Dann wurde alles still.
»Judso ist bei Polina«, sagte Alissa, »das ist gut.«
»Ich weiß schon nicht mehr, was hier gut ist und was nicht«,
erwiderte Poseidon finster.
Eine Minute später tauchten die Beine des Professors in der
Luke auf, dann sprang er mit Poseidons Hilfe auf den Boden.
»Dort ist ein Roboter«, sagte er, »er bewacht sie. Sie können
unmöglich fliehen und wir nicht zu ihnen in die Zelle. Deshalb
gibt es für uns nur einen Ausweg - wir müssen sie an der Eis­
schlucht abfangen.«

154
13
Professor Komura brachte seine Gefährten in einen großen,
schwach erhellten Raum, dessen Längswand aus Glas bestand.
Hinter dieser Wand war schwärzeste Finsternis. Poseidon trat
an die Wand heran und fragte: »Ist dort die Schlucht?«
Das Licht aus dem Raum drang nicht weit, und so sah man
nur steil abfallende Hänge aus schwarzem Gestein mit Eis­
adern. Unweit des Raumes aber, unmittelbar über dem Ab­
grund, befand sich ein kleiner Platz, zu dem eine in den Fels
gehauene Tür führte. Sie war geschlossen.
»Jetzt werdet ihr gleich etwas zu sehen bekommen«, sagte
der Professor und blieb an einem kleinen Pult stehen. »Es
stimmt, das hier ist die Schlucht - eine natürliche Höhle im In­
nern des Asteroiden, die irgendwo einen Ausgang nach oben
besitzen muß. Sie ist so riesig, daß es ein ziemlich kostspieliges
Vergnügen wäre, sie mit Sauerstoff zu füllen und zu heizen.
Deshalb veränderte man sie der Einfachheit halber gar nicht
erst, trennte sie von den Wohnräumen und überließ sie ihren
eigentlichen Bewohnern, den Eisdrachen.«
Ein Scheinwerfer flammte auf und tauchte den kleinen Platz
über dem Abgrund in grelles Licht. Alissa und Poseidon traten
dicht an die Glaswand heran, versuchten die Eisdrachen in der
Tiefe zu erkennen.
»Vielleicht hat es diese Eisdrachen noch gar nicht gegeben,
als der Asteroid für den Flug umgerüstet wurde«, sagte der Pro­
fessor, »sondern lediglich ihre Samen, deren Stunde erst kom­
men mußte. Dann stieg die Temperatur der Steinwände etwas
an - vielleicht um ein paar Grade nur, doch die reichten be­
reits aus, die Entwicklung der Drachen in Gang zu bringen.«
»Es gibt doch aber keinerlei Lebewesen, die im luftleeren
Raum leben können«, wandte Alissa ein.
»Wir wissen noch sehr wenig über die Geheimnisse des Kos­
mos«, erwiderte der Professor. »Das Leben paßt sich den
äußeren Bedingungen an, auch wenn diese noch so aussichts­
los scheinen. Es gibt zum Beispiel Bakterien, die in Vulkankra­
tern gedeihen, und Würmer, die sich in unvorstellbaren Mee­
restiefen wohl fühlen. Es ist bekannt, daß einige Organismen
155
im Keim- und Sporenstadium den Raum zwischen Gestirnen
durchquert haben. Allem Anschein nach sind die Eisdrachen
imstande, aus den organischen Stoffen, die irrt Gestein des
Asteroiden enthalten sind, Energie zu gewinnen. Doch am
stärksten reagieren sie auf Licht. Zu ihm streben sie wie die
Nachtfalter ... Da, seht selbst!«
Alissa prallte unwillkürlich von der gläsernen Trennwand
zurück, als aus der Tiefe des Abgrunds plötzlich so etwas wie
ein dickes, von Panzerringen bedecktes Rohr mit einer ge­
krümmten Kralle am Ende auftauchte. Danach ein zweites
Rohr, ein drittes ... »Das sind ihre Fangarme«, erklärte der Pro­
fessor. »Sie besitzen eine Länge von etwa dreißig Metern. Die
Drachenkörper selbst sind ziemlich klein.«
Nun ragten bereits mehrere Dutzend Krallenarme aus der
Tiefe. Sie bewegten sich sehr langsam, doch stetig voran, nichts
schien sie aufhalten zu können - immer höher erhoben sie
sich aus der Schlucht, strebten zum Scheinwerferlicht.
»Ich glaube«, fuhr der Professor fort, »daß diese Drachen an­
fangs die Hauptzerstreuung für die Aschikleken darstellten.
Sie kamen hierher, auf die Galerie, die von den Robotern ei­
gens dafür errichtet worden war, um zu beobachten, wie das
Licht die Drachen weckte und nach oben trieb. Später aber,
nachdem der Asteroid ins Sonnensystem eingetaucht war, viel­
leicht auch schon früher, in irgendeinem anderen besiedelten
System, erschienen die ersten Gefangenen auf dem Asteroi­
den. Mit der Zeit wurden es immer mehr, doch sie zu ernäh­
ren, waren die Roboter nicht gewillt - die Nahrung reichte
kaum für die Aschikleken. Da muß einem der Roboter die Idee
gekommen sein, den Drachen all jene als Opfer darzubringen,
die unfreiwillig auf das Schiff gelangt waren.«
»Was denn, lebende Menschen?!« rief Alissa aus.
»Ja. Man führt die Gefangenen auf diesen Platz, dann wird
das Licht eingeschaltet und die Schwerkraft verringert, damit
es die Drachen leichter haben, an ihre Opfer heranzukommen.
Menschen aber - das bedeutet Wärme und Energie für die
Drachen, die von einer solchen Nahrung früher nicht mal zu
träumen wagten.«

157
»Und Sie glauben, diese stumpfsinnigen Ungeheuer wollen
Polina und Judso hierherbringen?« fragte Poseidon.
»Davon bin ich überzeugt. Es wird übrigens schon bald ge­
schehen, sofort nachdem sich die Aschikleken satt gegessen ha­
ben.«
»Was stehen wir dann noch hier herum?« sagte Alissa:
»Der Professor hat recht«, sagte Poseidon. »Nur hier können
wir etwas ausrichten.«
»Und auch nur, wenn wir gemeinsam handeln«, ergänzte Ko-
mura. »Allein war ich machtlos. Doch wenn sie ..., wenn mein
Sohn umkommt, bedeutet das genauso mein Ende. Denn ich
wäre schuld an seinem Tod.«
»Nicht doch, Professor«, unterbrach ihn Alissa, »erstens sind
wir alle noch am Leben, zweitens hat Poseidon nicht bloß
einen Kopf auf den Schultern, sondern eine regelrechte Enzy­
klopädie. Ihm fällt unbedingt etwas ein.«
Und Poseidon war bereits etwas eingefallen. »Wissen Sie, wo
sich das Steuerpult für den Computer befindet?« fragte er.
»Nur ungefähr«, antwortete der Professor. »Bis dorthin
konnte ich noch nicht Vordringen.«
»Wenn ich Verbindung mit dem Hirn des Schiffes aufneh­
men könnte, würde ich es vielleicht umstimmen.«
»Schwerlich«, sagte Komura. »Mit gewöhnlicher Logik
kommt man ihm nicht bei. Wäre dieses Kyberhirn normal,
würde es sich nicht so aufführen.«
»Dann müssen wir es eben sprengen«, schlug Alissa vor.
»Nein, dann würde der Asteroid aller Wahrscheinlichkeit
nach manövrierunfähig werden. Keins seiner Systeme würde
mehr funktionieren, was den Tod von uns allen zur Folge
hätte.«
»Und doch werde ich versuchen, mit ihm zu sprechen. Ver­
gessen Sie nicht, daß ich ein Roboter bin, Maschinenlogik mir
also verständlicher ist als Ihnen.«
Komura ging zur Tür, öffnete sie, und gleich darauf hörten
sie fröhliches Glöckchengetön. »Es ist zu spät«, sagte der Pro­
fessor, »das Mittagessen ist beendet. Die Zeit für die Zerstreu­
ung ist gekommen.«
158
»Aber wieso denn, wir befreien die beiden«, sagte Poseidon.
»Auf welchem Weg wird man sie herbringen?«
»Über den benachbarten Korridor. Er führt geradenwegs zur
Galerie über der Schlucht.«
Bis zum benachbarten Korridor war es nicht weit, dennoch
fiel es ihnen schwer, dorthin vorzudringen; ein Strom von
Aschikleken rollte auf sie zu. Kaum vorstellbar, wie viele sol­
cher Menschlein auf dem Asteroiden lebten - wahrscheinlich
mehrere hundert. Poseidon bahnte sich als erster einen Weg
durch den Menschenstrom, durch die lärmende, kreischende,
fröhliche Menge. Die drei kamen nur langsam voran, und das
wurde ihnen zum Verhängnis.
Hinter einer Biegung hervor, aus einem Verbindungsgang,
kamen ein paar Roboter mit Polina und Judso. Und die Wäch­
ter waren kein bißchen verblüfft. Sie hatten Poseidon schon
von weitem bemerkt, wandten sich ihm zu und bildeten eine
dichte Mauer um ihn. Poseidon, der die Situation mit einem
Blick erfaßte, drehte den Kopf um hundertachtzig Grad und
rief seinen Gefährten im Vorwärtsschreiten zu: »Zurück in den
Glassaal! Ich schlag mich ohne euch durch! Ihr könnt mir oh­
nehin'nicht helfen. Schließt euch ein und laßt keine Roboter
rein! Habt ihr verstanden?«
»Er hat recht«, sagte der Professor zu Alissa. »Hier kämen
wir bloß sinnlos um.«
Sie rannten zurück, diesmal kamen sie schneller voran. Sie
liefen an trödelnden Aschikleken vorbei und versperrten,
kaum daß sie den bereits vollen Zuschauerraum erreicht hat­
ten, sofort die Tür. Zum Glück besaß sie nicht nur ein Schloß,
sondern auch einen schweren Riegel.
Die Aschikleken bemerkten nicht einmal, daß sich Fremde
unter ihnen befanden, und machten es sich bequem.
Jemand hämmerte von außen an die Tür, doch Alissa und
der Professor schenkten dem keine Beachtung. Sie schauten
gleichfalls zur Glaswand hinüber, warteten, daß auf dem Platz
über der Schlucht Leute auftauchten. Doch das Türchen zum
Abgrund blieb aus irgendeinem Grund geschlossen - etwas
mußte auf dem Korridor geschehen sein, das die Hinrichtung

159
hinausschob. Der Professor und Alissa waren verzweifelt, denn
sie hatten keinerlei Verbindung, tappten völlig im dunkeln.
Vielleicht starb Poseidon draußen im Kampf, sie aber hockten
hier, abgeschnitten von ihren Freunden ...

14
Doch an der Tür zur Schlucht fand in diesen Augenblicken
keine Schlacht statt. Poseidon, nicht imstande, den Angriff
eines Dutzend von Robotern anzuwehren, blieb stehen und
vernahm im selben Moment eine trockene, knarrende Stimme:
»Laßt ihn durch. Ich will mit ihm reden.«
Die Roboter gaben den Weg frei. Poseidon war zerbeult vom
Kampf, mit Kratzern auf der Plastverkleidung, die in den lan­
gen Jahren ihres Bestehens ohnehin vielfach beschädigt wor­
den war. Mehr als einmal hatte er, obwohl aus superfestem Ma­
terial gefertigt, feststellen müssen, daß es noch festere Stoffe
gab als seinen alten Körper. Er trat durch die feindliche Mauer
auf einen großen schwarzen Roboter zu.
»Halt!« sagte der Herr. Poseidon blieb stehen. Er war wuchti­
ger als sein Gegenüber, doch kleiner.
»Ich sehe, du Menschenroboter, daß es dich zu deinen Herr­
schaften zieht. Dich ruft die Pflicht, zu ihnen zu stoßen. Ich
werde dich nicht daran hindern, möchte dir aber zuvor einen
Vorschlag machen.«
»Sprich, Cousin«, antwortete Poseidon.
»Ich kenne kein solches Wort.«
»Das ist ein altes Wort und stammt aus dem Französischen.
Es bedeutet - Vetter.«
»Weshalb hältst du mich für deinen Vetter?«
»Weil alle Roboter in gewissem Sinne Brüder sind, du aller­
dings bist es nur insofern, als wir beide von Menschen gemacht
sind. Im übrigen gibt es nichts Gemeinsames zwischen uns.«
»Du könntest ein richtiger Bruder für mich werden«, sagte
der Herr. »Du wärst für mich von Nutzen. Du brauchst nicht
ernährt und gekleidet, nicht betreut zu werden. Bleib bei mir
und vergiß deine Herren. Ich würde meine Macht auf dem
160
Schiff und in allen Welten mit dir teilen, die wir uns unterwer­
fen. Hast du mich verstanden?«
»Ich habe dich verstanden. Doch ich werde alles in meinen
Kräften Stehende tun, um jene zu retten, die du umbringen
willst. Glücklicherweise gibt es für mich keine Herren, und ich
bin niemandes Diener. Du hältst Freunde von mir gefangen,
die auch mich als ihren Freund betrachten. Aber das begreifst
du nicht. Ich werde nicht zum Verräter.«
»Ist das nicht reichlich viel Philosophie für eine einfache
Blechbüchse?« sagte der Herr. »Du solltest dich an deinesglei­
chen halten. Heute brauchen dich die Menschen noch, doch
schon morgen wirst du von ihnen zerlegt und in den Schmelz­
ofen gesteckt. Sie kennen keine Dankbarkeit.«
»Kennen etwa jene Dankbarkeit, die neben dir auf diesem
Asteroiden leben? Sie sind keine richtigen Menschen mehr, du
aber bist einer der dafür Verantwortlichen, daß sie zu Tieren
wurden. Und was den Tod betrifft, so wartet er auf jeden. Kein
Grund also, ihn zu fürchten!«
Poseidon sprach gemächlich, er wollte Zeit gewinnen. Er
hätte nicht sagen können, weshalb er das tat - ihm war bereits
klargeworden, daß er den Herrn nicht würde überzeugen kön­
nen. Dennoch blieb ein Rest Hoffnung, und darin war Posei­
don Mensch. Was er auch immer über Logik und nüchternes
Denken zu Polina sagen mochte - der lange Umgang mit den
Menschen hatte ihn gelehrt, daß man die Hoffnung nicht ver­
lieren durfte, selbst wenn es keine mehr zu geben schien.
»Dummkopf«, sagte der H err, »dann geh zu deinen Freun­
den.« Die Tür zu dem Platz über der Schlucht wurde geöffnet,
und Poseidon sah dort Polina und Judso stehen. Polina hielt
den Jungen bei der Hand, und der Scheinwerferstrahl lag glän­
zend auf den Metallteilen der Skaphander.
Poseidon würdigte die Roboter keines Blickes mehr. Ent­
schlossen und gelassen ging er durch die Tür auf den Platz hin­
aus. Die Tür schloß sich hinter ihm.
Polina drehte sich zu ihm um. »Es ist gut, Poseidon, daß du
gekommen bist«, sagte sie. »Danke. Zusammen wird es für uns
leichter sein.«
161
»Es ist noch nicht aller Tage Abend«, erwiderte Poseidon,
»wir beide werden noch über den Pluto spazieren.«
»Haben Sie meinen Vater gesehen, Poseidon-san?« fragte
Judso.
»Dein Vater ist in Sicherheit«, antwortete der Roboter, »und
er beobachtet uns jetzt. Siehst du die Glaswand dort mit den
vielen Aschikleken dahinter? Dort befinden sich auch dein Va­
ter und Alissa. Wir haben vereinbart, daß sie unsere Rettung
organisieren, während wir hier mit den Drachen kämpfen.«
Judso drehte sich zu der gläsernen Wand um und hob die
Hand in der Hoffnung, sein Vater würde ihn sehen. Und auch
der Professor hob zur Antwort die Hand.
In diesem Augenblick wurden die Zusatzscheinwerfer einge­
schaltet.

15
Vom Zuschauerraum aus konnten der Professor und Alissa ver­
folgen, wie Poseidon auf die Plattform hinaustrat, wie Judso
sich zu ihnen umdrehte und winkte.
»Halte durch, mein Junge«, sagte der Professor traurig, wäh­
rend er zurückwinkte.
»Poseidon wird ihnen helfen«, sagte Alissa, »er ist stark.«
»Gewiß doch, natürlich ist er stark«, bestätigte Komura. Aber
Alissa hatte den Eindruck, der Professor habe resigniert und
sehe keinen Ausweg mehr.
Sie wurde von einem seltsamen Gefühl erfaßt. Einerseits
wußte sie nur zu gut, daß alles, was dort draußen geschah, lei­
der die reine Wirklichkeit war - Polina und Judso drohte in
der Tat schon sehr bald unweigerlich der'Tod - , andererseits
schien es ihr, als wäre das alles nur ein Traum. Als brauchte sie
sich nur zu kneifen, um daraus zu erwachen. Solche schlimmen
Dinge hatte es nur in Büchern und Filmen zu geben, sie durf­
ten einem selbst nie widerfahren, und wenn doch, so mußte al­
les glimpflich abgehn. Es gehörte sich, daß ein Ausweg gefun­
den wurde, wenn man sich nur anstrengte.
Musik dröhnte durch den Saal, unangenehm und durchdrin­
gend, so daß man eine Gänsehaut davon bekam. Die Aschikle-
162
ken lärmten nun immer mehr, genau wie eine Menschenmenge
im Stadion, wenn die Fußballmannschaft aufs Feld gelaufen
kommt. Plötzlich ging ein erschrecktes Raunen durch die Zu­
schauer, dann wurde es mucksmäuschenstill. Alissa sah, daß
Polina den Jungen hochhob und an sich drückte, während Po­
seidon schwankte.
»Was ist das?« Alissa klammerte sich an den Professor, denn
der Boden glitt ihr unter den Füßen weg wie in einem Fahr­
stuhl, der schnell abwärts fuhr.
»Sie haben die Schwerkraft verringert«, antwortete Komura.
Alissa erriet den Grund: »Damit es die Drachen leichter ha­
ben hochzukommen, nicht wahr?«
»Ja.«
Gleich darauf tauchte aus dem Dunkel und in den Schein­
werferstrahlen gut sichtbar ein Tentakel mit einer steinernen
Kralle am Ende auf. Er bewegte sich allmählich auf die Platt­
form zu. Nach ihm griff ein zweiter Fangarm aus der Finsternis
und krallte sich nach einigem Schwanken an den steinernen
Rand der Plattform. Poseidon trat einen Schritt nach vorn und
stieß die Kralle mit dem Fuß weg. Durch die Menge der Aschi-
kleken ging ein Seufzer.
Alissa wollte näher an die Glaswand herantreten, doch eins
der Menschlein geriet ihr unter die Füße und kreischte auf,
weil Alissa ihm auf die Zehen trat. Es wollte sie sogar beißen,
doch seine schwachen Zähnchen konnten das Gewebe des Ska­
phanders nicht durchdringen. Alissa betrachtete den aufge­
brachten Aschikleken, und ihr kam ein Gedanke.
Der Aschikleke seinerseits hatte Alissa bereits vergessen.
Die Schreie von allen Seiten ließen darauf schließen, daß auf
der Plattform etwas im Gange sein mußte. Alissa schaute nun
gleichfalls hinüber und stellte fest, daß sich die Lage der G e­
fangenen verschlechtert hatte. Nun waren es nicht mehr nur
eine, sondern mindestens fünf Krallen, die sich dort festklam­
merten, und Poseidon kam nicht nach, sie fortzustoßen. Die
Tentakel krochen jetzt auch schon über die Wand - einer
schwebte über Polina, so daß sie erschrocken zur Seite sprang.
Die Aschikleken jaulten vor Begeisterung.
163
»Ich könnte euch allesamt umbringen, ihr Dummköpfe!«
schrie Alissa, während der Professor in ohnmächtiger Wut mit
den Fäusten gegen das Glas hämmerte. »Ja wirklich, ich könnte
euch umbringen«, wiederholte sie.
Merkwürdig - ein so naheliegender Gedanke, und doch kam
er ihr erst jetzt. Natürlich konnte der Versuch auch mißlingen,
doch wenn sie die Psychologie der Roboter, selbst überge­
schnappter Roboter, richtig verstand, so mußte ihr Schachzug
Erfolg haben. Immerhin gab es ja ein Prinzip, um dessentwil-
len die Roboter gefertigt worden waren, und diesem Prinzip
ordneten sie sich zweifelsohne unter. Schade, daß Poseidon
nicht da war, er hätte ihr gewiß helfen können.
Alissa drehte sich um, sie brauchte einen schweren Gegen­
stand. Zum Glück lagen in einer Ecke des Raumes, im Rücken
der Aschikleken, irgendwelche Eisenteile und sogar ein Metall­
balken von etwa zwei Meter Länge herum. Alissa stürzte hin­
über und hob den Balken mit einiger Mühe hoch. Die Schwer­
kraft war jetzt zwar dreimal geringer als auf der Erde, dennoch
hatte der Balken noch immer sein Gewicht.
»Professor«, rief Alissa, »helfen Sie mir!«
Komura hörte sie und schaute verblüfft zu ihr hin. Offenbar
glaubte er, sie habe den Verstand verloren.
»Was ist mir dir?«
»So helfen Sie schon!«
»Aber dort ...« Der Professor zeigte auf die Trennwand, hin­
ter der ein erbitterter Kampf im Gange war.
»Schnell doch«, drängte Alissa, »vielleicht gelingt es!«
Der Professor rannte nun zu ihr; seine Bewegungen waren
verlangsamt und die Schritte sehr ausladend, wie das bei gerin­
ger Schwerkraft immer ist.
»Ich will es versuchen«, sagte Alissa. »Es handelt sich ja um
Roboter, und ihre Aufgabe ist es, die Aschikleken zu beschüt­
zen. Mit anderen Worten, wenn den Aschikleken Gefahr
droht, wird sie das aufstören.«
»Was denn für eine Gefahr? Du willst sie doch nicht etwa
umbringen?«
»Aber nein. Wenn wir so tun, als wollten wir das Glas hier
164
zerschlagen, dann droht doch* allen Aschikleken der Tod. Also
los, helfen Sie mir schon.« Alissa gab sich Mühe, leise zu spre­
chen, damit das Kyberhirn des Schiffes sie nicht hörte.
»Aber wenn wir das Glas nun wirklich zerbrechen?«
»Das wäre dann wenigstens die Rache für unsre Leute.«
Der Professor zögerte.
»Schnell doch!« Alissa begann den Metallbalken zur Glas­
wand zu schleppen. Ein paar der Aschikleken gerieten ihr un­
ter die Füße, kreischten und sträubten sich, waren jedoch so
von dem Anblick der Schlacht da draußen gefesselt, daß sie
sich nicht mal umdrehten. Der Professor griff nun mit zu, und
sie arbeiteten sich gemeinsam zur Trennwand durch. Dann
stießen sie das Ende des Balkens dumpf gegen das Glas. Der
dröhnende Laut schien das ganze Schiff zu durchdringen, so­
gar die Aschikleken hielten in ihrem Geschrei inne.
»Na los«, rief Alissa, so laut sie konnte, »nur kräftig Zuschlä­
gen! Und wenn wir selber draufgehn, sie werden mit uns ster­
ben!« Sie hämmerten abermals gegen das Glas. Es begann zu
klingen, und Alissa fürchtete, es könnte in der Tat zerbrechen.
Die Aschikleken schienen die Gefahr allmählich zu begrei­
fen und begannen kläglich zu wimmern. Ein furchtbares, mit­
leiderregendes Geräusch von mehreren hundert Kreaturen, die
um ihr sinnloses Leben heulten.
»Hurra!« rief Alissa. »Vorwärts zur Attacke!« Sie nahm ein
paar Schritte Anlauf. Trotzdem fand sie die Zeit, einen
Blick durch die Scheibe zu werfen. Die Situation war bedroh­
lich. Poseidon erinnerte an die bekannte antike Skulptur des
Laokoon, der mit den Schlangen kämpft. Polina und Judso hat­
ten sich in eine kleine Wandnische gepreßt, wobei die Frau die
Krallen abzuwimmeln versuchte, die bereits über ihren Skaph­
ander glitten. Wenn das Kyberhirn uns jetzt nicht hört, dachte
Alissa, nicht begreift, was wir Vorhaben, ist es zu spät.
Im selben Augenblick ertönte eine Stimme über ihnen: »Hal­
tet ein! Eure Handlungen stellen eine Gefahr für die Aschikle­
ken dar. Sofort aufhören!«
»Wir denken nicht daran!« rief Alissa erleichtert. Vor Freude
darüber, daß ihr Gedanke richtig gewesen war, hätte sie auf der
165
Stelle lostanzen können. »Wir denken nicht daran! Erst wenn
das ganze Nest hier ausgeräuchert ist.«
Jetzt wurde gegen die Tür gewummert.
»Na los, gleich noch einmal!« rief der Professor, der sich
ebenfalls über das Ergebnis freute.
Und sie stießen den Balken erneut so heftig gegen das Glas,
daß es erzitterte, die Aschikleken aber vor Entsetzen das
Schauspiel vergaßen und sich in die Ecken flüchteten.
»Wenn ihr nicht aufhört, meine Untertanen zu bedrohen«,
fuhr die Stimme fort, »werde ich euch vernichten.«
»Versuchen Sie’s doch«, erwiderte Alissa, »versuchen Sie’s.«
Der Bildschirm über der Tür flammte auf - der H err er­
schien darauf. Sein schwarzes augenloses Gesicht war aus­
druckslos wie vorher, nur sprach er jetzt etwas schneller als
sonst. Und wenn man das Wort »erschrocken« mit einem Robo­
ter in Verbindung bringen darf, so sah Alissa erstmals in ihrem
Leben einen erschrockenen Roboter.
»Was wollt ihr?« fragte der schwarze Herr.
»Als erstes und zwar unverzüglich ist die Schwerkraft um
das Dreifache zu erhöhen«, verlangte der Professor. »Unver­
züglich, haben Sie verstanden!«
»Wozu denn das?« Alissa begriff nicht gleich.
»Na los«, sagte Komura zu dem Mädchen, »auf ein neues!«
Alissa griff gehorsam nach dem Balken, wollte ihn bequemer
packen, doch zu einem erneuten Ausholen kam es nicht: Ihre
Beine wurden urplötzlich schwer, und der Balken rutschte ihr
aus den Händen - erst jetzt merkte sie, daß er ein unglaubli­
ches Gewicht besaß.
»Was haben Sie angerichtet!« rief Alissa ‘d em Professor zu.
»Es ist schon alles in Ordnung«, antwortete Komura. »Schau
mal.«
Alissa sah durch die Scheibe und begriff augenblicklich.
Die Lage auf der Plattform hatte sich geändert. Polina und
Judso hatten sich auf die Steine niedergekauert, Poseidon aber,
am Rand stehend, beobachtete, wie die Arme und Krallen der
Drachen in die Tiefe der Schlucht zurückglitten und ver­
schwanden.
166
Aber ja doch - die Schwerkraft zog die Drachen in den Ab­
grund zurück!
»Sie sind ein Genie!« Alissa stürzte auf den Professor zu und
umarmte ihn. Sie hätte um ein Haar losgeweint, aber konnte
man im Skaphander vielleicht weinen? Wie sollte man sich da
die Tränen abwischen?
»Und nun«, forderte Komura, »lassen Sie augenblicklich
meine Freunde frei.«
»Kommt nicht in Frage«, erwiderte der schwarze H err. »Sie
werden trotzdem sterben.«
»Überleg es dir«, sagte der Professor ruhig. »Wir zerschlagen
das Glas, sobald du die Schwerkraft erneut verringerst. Wir zer­
schlagen es auch in dem Fall, wenn deine Roboter versuchen
sollten, die Tür aufzuschweißen. Ich werde dann zwar sterben,
aber ich bin ein alter Mann und habe mein Leben hinter mir.
Für die Rettung meines Sohnes und meiner Freunde sterbe ich
mit Freuden. So etwas kannst du natürlich nicht verstehen.
Meine Freunde dagegen werden am Leben bleiben, denn sie
tragen Skaphander. Sterben werde nur ich ... und alle deine
Aschikleken. Schau sie dir an, ein letztes Mal ...«
»Das kann ich nicht zulassen«, sagte der schwarze Herr. »Da­
mit hätte ich keine Existenzberechtigung mehr.«
»Das weiß ich«, erwiderte Komura, »und ich schäme mich,
daß das Mädchen Alissa als erste daraufgekommen ist, wie
man dir Mörder beikommen kann. Dabei ist es so einfach ...«
Die Aschikleken vertrugen die Erdenschwerkraft nur
schlecht - sie krochen über den Fußboden und stöhnten.
»Du hast nicht mehr viel Zeit«, sagte der Professor.
Der H err gab keine Antwort, der Bildschirm erlosch.
Doch gleich darauf wurde es leichter: Die Schwerkraft ver­
ringerte sich. Die Aschikleken, beleidigt, rappelten sich vom
Boden auf. Einige eilten sofort zur Glaswand, um zu sehen,
wie die Dinge standen, doch sie wurden enttäuscht: Die Tür
zur Plattform wurde widerstrebend geöffnet, und heraus kam,
von Poseidon unterstützt, Polina mit dem Jungen. An der Tür
wandte sich Poseidon noch einmal um. Sein Kopf, der sich
rund um die Achse bewegen konnte, vollführte eine volle Dre­
167
hung, als wollte sich der Roboter diese Umgebung in allen Ein­
zelheiten einprägen.
»Und jetzt«, verlangte der Professor, und Alissa wunderte
sich, wie sie diesen kraftvollen, selbstsicheren Mann für einen
Greis hatte halten können, »jetzt ziehst du alle deine Diener
zurück und läßt meine Freunde zu mir.«
Eine Stimme antwortete: »Nein, zuerst verlaßt ihr diesen
Raum, ihr stellt eine Gefahr für meine Aschikleken dar.«
»Die Aschikleken sind unsere Garantie, daß wir am Leben
bleiben«, antwortete Komura. »Deshalb kann ich erst etwas ver­
sprechen, wenn die restlichen Gefangenen bei uns sind.«
Eine Verzögerung trat ein.
Die Aschikleken hatten mittlerweile begriffen, daß die Vor­
stellung zu Ende war. Einige von ihnen blieben noch an der
Glaswand und starrten ins Dunkel der Schlucht - offenbar in
der Annahme, sie hätten jenen süßen Moment einfach verpaßt,
wo die Opfer im Abgrund verschwanden. Andere wieder
drängten sich an der Tür und warteten darauf, hinausgelassen
zu werden. Einer der Aschikleken, noch sehr jung, trat zu
Alissa und begann sie am Ärmel zu zupfen. Er war so groß wie
sie selbst, und wären nicht seine Blässe gewesen, der stumpfe
tierische Blick und die Verwahrlosung - er hätte einen ganz
passablen Jungen abgegeben. Und als Alissa das begriff, als sie
sich die Situation dieses jungen Aschikleken vergegenwärtigte,
der keine Schuld daran trug, daß seine Großväter und Groß­
mütter ein Dasein als Herren-Sklaven akzeptiert hatten, ver­
jagte sie ihn nicht, sondern wartete, bis seine neugierigen Fin­
ger das Skaphandergewebe ausgiebig untersucht hatten.
Dann wurde dreimal an die Tür geklopft, und draußen sagte
Poseidon: »Unser Regiment begehrt Einlaß. Es ist von den vor­
dersten Linien zurückgekehrt und möchte ausruhn.«
Alissa rannte zur Tür, schob den Riegel zurück und ließ die
Gefangenen ein. Judso erblickte seinen Vater und stürzte auf
ihn zu. Der Professor schloß ihn in die Arme. Da flammte der
Bildschirm erneut auf, und der H err verlangte: »Ich habe deine
Bedingungen erfüllt, jetzt seid ihr dran. Verlaßt diesen Raum
und beunruhigt meine Aschikleken nicht weiter.«

168
»Ich hab solche Angst um dich gehabt, Vater«, sagte Judso,
ohne die Worte des Herrn zu beachten.
»Du hast dich wie ein richtiger Mann verhalten«, versetzte
Professor Komura.
»Ich warte!« drängte der Herr.
»Ja, ja, warte nur«, erwiderte Komura, »wir müssen erst bera­
ten.« Dann wandte er sich zu Polina um. »Wie fühlen Sie sich?«
»Danke, um mich brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Ohne
Poseidon freilich wären wir längst nicht mehr am Leben.«
»Ich hab nur meine Pflicht erfüllt«, sagte Poseidon. »Aber
wieso wurden wir freigelassen? Wie habt ihr das erreicht?«
»Das hat sich Alissa ausgedacht«, antwortete der Professor.
»Ihr muß ich mein Leben lang dankbar sein. Während ich näm­
lich schon ganz verzweifelt war, ist sie auf die Idee gekommen,
daß den Robotern nur Einhalt geboten werden kann, wenn
man ihnen mit dem Tod der Aschikleken droht. Deshalb taten
wir so, als wollten wir die Glaswand zertrümmern.«
»Was denn, ihr habt nur so getan?« fragte der H err, der das
Gespräch mit angehört hatte.
»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete der Professor. »Im
Notfall hätte ich das Glas wirklich zerschlagen.«
»Und dafür den Tod in Kauf genommen?«
»Jawohl, den Tod.«
»Das hätte ich schon nicht zugelassen«, sagte Alissa zu Po­
lina. »Der Professor und ich haben alles richtig berechnet. Spä­
ter hat er die Verhandlungen so geschickt geführt, daß sich die
Roboter einfach ergeben mußten.«
»Wir haben uns nicht ergeben, wir ergeben uns nie!« prote­
stierte der Herr.
»Schweig!« rief Poseidon. »Du störst die Menschen beim G e­
spräch. Wenn es soweit ist, werden wir dich schon rufen, du
Mörder.«
»Mit dir wünsche ich gleich gar nicht zu reden, du Blech­
büchse«, schrie der H err erzürnt. »Dich bring ich sowieso um,
du kommst nicht lebend von hier weg!«
»Das ist noch gar nicht so sicher. Eher werde ich dich in
deine Einzelteile zerlegen.«
169
»Hör zu, Roboter«, sagte der Professor zum Herrn. »Wir blei­
ben so lange mit allen Aschikleken hier, bis deine Diener eines
unserer Schiffe repariert und alles dorthin zurückgebracht ha­
ben, was gestohlen wurde. Danach fliegen wir ab.«
»Das ist unmöglich«, erwiderte der H err nach einigem Über­
legen. »Die von euren Schiffen entwendeten Gegenstände sind
unbrauchbar gemacht oder aufgebraucht worden. Ihr kommt
von hier nicht weg.«
»Lügst du auch nicht?«
»Ich kann nicht lügen«, antwortete der H err. »Ich habe es
nicht nötig, zu solch menschlichen Torheiten wie der Lüge Zu­
flucht zu nehmen.«
Die Aschikleken drängten sich kreischend um sie, als bäten
sie darum, freigelassen zu werden. Poseidon fuhr sie an, und
die Menschlein stoben in alle Richtungen auseinander.
»Nun gut«, sagte der Professor schließlich, »wir bleiben so
lange hier, bis wir einen Ausweg gefunden haben.«
»Auf gar keinen Fall!« protestierte der Herr. »Die Aschikle­
ken haben Hunger, sie sind nervös und werden womöglich
krank. Es ist Zeit für sie auszuruhn.«
»Dann schlag du einen Ausweg vor«, verlangte Komura.
»Ich kann euch nicht ernähren«, sagte der H err , »bei mir ist
alles genauestens bemessen. Ich vernichte alle, die hierherkom­
men, nicht aus Grausamkeit, sondern um die Aschikleken
nicht ihrer Nahrung zu berauben. Ihr müßt abfliegen oder frei­
willig sterben.«
»Ein Teufelskreis«, sagte Poseidon. »Und völlig unlogisch:
Wir können nicht fortfliegen, also müssen wir fortfliegen.
Deine Gedächtnisblöcke müßten mal überholt werden, Cousin,
bei dir ist offenbar eine Reparatur fällig.«
»Ich bring dich um«, wiederholte der H err. »Ich ertrage keine
Beleidigungen, nicht von Menschen und gleich gar nicht von
einem Roboter!«
»Ich geh jetzt raus zu ihm«, sagte Poseidon.
»So wartet doch, ihr habt weiß Gott den Verstand verloren!«
schimpfte Polina. »Ihr seid wie die Kinder! Wo gibt’s denn so
was, daß Roboter sich prügeln!«

170
»Das wird keine Prügelei«, sagte der H err, »es wird ein
Kampf auf Leben und Tod.«
»Einverstanden«, erwiderte Poseidon, »genau das brauche
ich.« Er ging entschlossen zur Tür.
»Poseidon, ich befehle dir hierzubleiben!« rief Polina.
»Wenn ich diesen Schweinehund kaltgemacht habe, sind alle
Probleme gelöst«, antwortete Poseidon und öffnete die Tür.
Da alle Aufmerksamkeit auf Poseidon gerichtet war, ver­
nahm zunächst nur der H err die Frage des Professors: »Funk­
tionieren eigentlich die Gravitationstriebwerke Ihres Schiffes?«
»Die Triebwerke unseres Schiffes sind völlig in Ordnung«,
erwiderte der Herr, dann erlosch der Bildschirm. Der Roboter
ging Poseidon entgegen. Die Aschikleken stürzten alle zur of­
fenen Tür, doch Judso und Alissa schlossen sie schnell.
»Wie können wir bloß den Bildschirm einschalten, um zu se­
hen, was draußen geschieht?« fragte Alissa. »Wir haben doch
sonst keine Ahnung.«
Wie als Antwort auf ihre Frage flammte der Bildschirm er­
neut auf, zeigte jetzt den Schnittpunkt zweier Korridore. Von
der einen Seite kam Poseidon, von der anderen - in Begleitung
einiger Roboter - der Herr.
»Aber die machen ihn doch fertig!« rief Alissa.
»Einen alten Erkundungsroboter wie Poseidon macht man
nicht so schnell fertig«, antwortete Polina. »Er wird ihnen
schon zeigen, was Sache ist.«
»Poseidon handelt richtig«, sagte Judso, »so handeln wahre
Männer. Und wenn er ums Leben kommt, trete ich an seine
Stelle.«

16
Sie konnten sehen, wie sich der H err zu Poseidon umdrehte
und ihm mit einer Geste zu folgen bedeutete. Sie betraten
einen großen niedrigen Saal, offenbar eine Art Maschinen­
raum. Die Decke des Raumes ruhte auf Metallsäulen, und
durch eine Hülle geschützt, standen irgendwelche Apparatu­
ren herum.
Der H err blieb stehen, und einer der Roboter brachte ihm
171
ein Rohr mit verdicktem Ende. Auch Poseidon bekam ein sol­
ches Rohr - es handelte sich um eine Waffe. Da jedoch kein
Laut zu Alissa und ihren Leuten drang, bekamen sie nicht mit,
wie diese Waffe funktionierte. Doch schon hob der H err den
Arm, und aus der Rohrmündung flog ein hellgrüner Feuer­
strahl. »Eine Art Laserblaster«, konstatierte Professor Komura.
Die Aschikleken gerieten in Aufregung - nun schien die
Zerstreuung doch noch zu kommen.
Poseidon machte eine Kopfbewegung, daraufhin stürzten
die Roboter auseinander, versteckten sich hinter den Metall­
säulen. Grüne Strahlen zerschnitten das Halbdunkel.
Mit einer Schnelligkeit und Gewandtheit, die den zufälligen
Betrachter verblüffte, huschten die Roboter zwischen den Säu­
len hin und her, verbargen sich hinter Apparaturen und Ma­
schinen, während sich die Strahlen kreuzten wie lange Degen.
Für eine Sekunde waren die beiden Kämpfenden aus dem
Blickfeld verschwunden, gleich darauf aber sah man Poseidon
vorsichtig hinter einer der Säulen hervorspähen, um den Feind
auszumachen. In diesem Augenblick jedoch trat der H err hin­
ter einer der Apparaturen hervor und zielte auf Poseidons Rük-
ken. »Poseidon, mein Lieber, hinter dir!« rief Alissa.
Natürlich konnte Poseidon ihre Worte nicht hören, zumal
sie im Begeisterungsgeheul der Aschikleken untergingen, doch
der Instinkt des alten Kundschafters ließ ihn eine blitzschnelle
Wendung um seine Achse vollführen und ohne hinzuschaun
einen Strahl auf die Brust des Gegners abfeuern. Der schwarze
Roboter flammte augenblicklich von innen her auf, ein grüner
Feuerschein loderte über seinem dunklen Umhang. Dann stieg
Rauch auf, und er stürzte wie gefällt zu Boden.
Poseidon machte, den Blaster im Anschlag, einen Schritt auf
ihn zu. Der H err hob den Kopf, sagte etwas und warf die Waffe
weg. Dann erhob er sich mühsam und ging zum Bildschirm.
Da stand er nun und sah aus seinem augenlosen Gesicht ge­
radenwegs Alissa an.
Ein Klicken ertönte, dann hörte man die Stimme des schwar­
zen Roboters: »Ich habe verloren und unterwerfe mich. Gib
mir deine Befehle.«
172
»Gut«, sagte Professor Komura, »wir begeben uns jetzt in die
Steuerzentrale des Schiffes und zünden die Triebwerke. Dann
nehmen wir Kurs auf den Mars.«
»Das ist unmöglich«, erwiderte der Roboter. »Wir haben
den Menschen so viele Unannehmlichkeiten zugefügt, daß sie
sich bestimmt dafür rächen und meine Aschikleken töten wer­
den.«
»Unannehmlichkeiten ist sehr gelinde ausgedrückt«, be­
merkte Poseidon.
»Kommt zur Besinnung«, sagte Polina, »wir rächen uns nicht
an Wesen, die krank sind. Ihr aber und die Aschikleken seid
krank. Ihr müßt geheilt und nicht bestraft werden.«
»Wir sind sehr wohl gesund. Es wäre besser, wir würden
weiterfliegen und uns einen unbesiedelten Planeten suchen.
Oder im Kosmos umherirren.«
»Ich habe einige Monate hier zugebracht«, sagte der Profes­
sor, »und weiß, in welch beklagenswertem Zustand sich euer
Schiff und auch die Aschikleken befinden. Die Bordsysteme
funktionieren immer schlechter, die Aschikleken bleiben in
ihrer Entwicklung zurück und sterben aus. In einigen Dutzend
Jahren wird hier keine Seele mehr existieren.«
Eine Pause trat ein. Schließlich, als hätte er sich mit dem Ky-
berhirn beraten und sämtliche Argumente gegeneinander abge­
wogen, sagte der schwarze Roboter: »Ich habe keinen Ausweg
und unterwerfe mich, aber unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?« fragte der Professor.
»Die Aschikleken müssen am Leben bleiben.«
»Darauf geben wir euch unser Wort«, versicherte Polina.
»Auch ich gebe dir mein Wort, Cousin«, sagte Poseidon. »Du
weißt ja, Roboter können nicht lügen.«

17
Zwei Tage später orteten die Dispatcher auf dem Mars über V i­
deo einen Asteroiden, der sich mit großer Geschwindigkeit
dem Planeten näherte.
»Das ist doch zum Verrücktwerden«, rief der Wachhabende
173
seinem Kollegen zu, der gerade Kaffee trank. »Eine echte Sen­
sation - ein wandernder Asteroid!«
Sein Kollege ließ Kaffee Kaffee sein und stürzte zu den Bild­
schirmen. »Unverzüglich ein Patrouillenboot losschicken!« be­
fahl er. »Wenn diese Sensation gegen den Mars prallt, gibt’s
eine furchtbare Katastrophe.«
Gleich darauf wurde auf dem Planeten Alarm ausgelöst. Die
Computer errechneten den Kurs des Asteroiden und den mög­
lichen Aufprallpunkt auf dem Planeten, die sofortige Evakuie­
rung von Kindergärten und Laboratorien in polare Gegenden
wurde in Angriff genommen. Mehrere Patrouillenboote stie­
gen vom Kosmodrom aus eilig auf, um den Asteroiden aus der
Nähe zu erforschen und in Erfahrung zu bringen, ob eine
Kurskorrektur möglich sei.
Doch schon eine Stunde später drosselte der Asteroid das
Tempo und leitete von sich aus eine Kurskorrektur ein, als
hätte er die Absicht, auf eine Umlaufbahn um den Mars einzu­
schwenken. Als die Patrouillenboote ihn erreichten, war be­
reits alle Gefahr gebannt.
Das Bild aber, das sich den Leuten vom Mars bot, als sie den
Asteroiden betreten hatten, war einfach umwerfend: Sie er­
blickten Poseidon, der eine Werkstatt für Roboterreparaturen
eingerichtet hatte, sie sahen Professor Komura, der wagemutig
in die Eisschlucht hinuntergestiegen war, um die Drachen aus
der Nähe zu erforschen, sie entdeckten Polina, die mit Hilfe
des finsteren schwarzen Roboters das Schiff steuerte, und sie
konnten schließlich Alissa betrachten, die dabei war, die Aschi-
kleken zu waschen und zu kämmen, ihnen beizubringen, wie
man Betten macht und Geschirr abwäscht.
Am Tag darauf wurden die Aschikleken zum Mars gebracht,
wo sie ganz allmählich wieder in vernunftbegabte Wesen ver­
wandelt werden sollten. Der verwaiste Asteroid aber verblieb
auf der Umlaufbahn. Er hat jetzt Wissenschaftler an Bord, die
noch große Anstrengungen unternehmen müssen, um allen
Geheimnissen dieses riesigen Raumschiffs auf die Spur zu
kommen.

175
Inhalt

A lissas Geburtstag
5

D ie Gefangenen des Asteroiden


92
X

Manche Leser kennen Alissa schon aus anderen Bü­


chern; sie lebt im 21. Jahrhundert und stammt aus
Moskau, häufig aber ist sie unterwegs im Kosmos.
Kaum auszudenken, was sie dabei alles erlebt! Dieses
Buch berichtet von ihren neuen Abenteuern. Einmal
wird sie auf den Planeten Koleida geschickt und über­
nimmt einen riskanten Auftrag: eine Katastrophe zu
verhindern, die sich bereits hundert Jahre zuvor ereig­
net hat. Ein andermal muß das Raumschiff, mit dem
sie zu ihrer Mutter reist, auf einem Asteroiden notlan­
den. Roboter stürmen das Schiff und nehmen Alissas
Begleiter gefangen. Die Lage scheint aussichtslos. In
einem unterirdischen Gewölbe trifft das Mädchen den
Professor Komura und erfahrt von ihm, daß es noch
eine Möglichkeit gibt, die Kosmonauten zu retten ...

Der Kinderbuchverlag Berlin .

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