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Kriminalroman
ISBN 978-3-8412-1231-3
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, November 2016
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2007
Die deutsche Erstausgabe erschien 2007 bei Aufbau Taschenbuch.
Aufbau Taschenbuch ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
© 2002 by Eksmo Agency, Inc.
Ich erwachte, als ein Lichtstrahl über mein Gesicht glitt. Hatte ich doch
tatsächlich vergessen, die Vorhänge zuzuziehen, und das Fenster meines
Schlafzimmers geht nach Osten hinaus. Wie spät war es eigentlich?
Zwanzig vor acht konnte es noch nicht sein, denn dann hätte der
abscheuliche Wecker bereits geklingelt, der mich morgens aus dem Bett
wirft, damit ich die anderen wecke. In diesem Haus kriecht keiner gern aus
dem warmen Nest. Rufe ich: »Aufstehen!«, verschwinden die Köpfe noch
einmal unter der Decke. Deshalb ist der Wecker auch auf eine so
merkwürdige Zeit gestellt – zwanzig Minuten vor acht. Die Kinder haben
ausgerechnet, daß Viertel vor acht zu spät, aber halb acht viel zu früh ist.
Die letzten zehn Minuten vor dem Aufstehen sind die süßesten.
Mit einem Seufzer streckte ich meine linke Hand aus und tastete auf dem
Nachttisch nach dem winzigen Casio, den mir Kira zu Neujahr geschenkt
hatte. Da ich ins Leere griff, schlug ich die Augen auf.
Direkt vor mir ein riesiger Schrank in Weiß und Himmelblau mit
Goldkante. Dazu eine Tapete, die wie ein Gobelin aus einem Petersburger
Palast anmutete. Neben dem Schrank eine Marmorfigur von beträchtlicher
Größe: eine füllige Dame, die mit gerundetem Arm einen Lampenschirm
hielt. An ihren mächtigen Schenkeln hatte es sich ein Hündchen aus
Marmor bequem gemacht …
Verblüfft starrte ich auf dieses Stilleben, bis mir wieder einfiel, was
gestern passiert war. Ich setzte mich auf. Ich war nicht zu Hause, sondern
würde in dieser fremden Wohnung wahrscheinlich längere Zeit verbringen.
Aber immer der Reihe nach.
Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Tatjana Romanowa. Ich wohne mit
meiner Freundin Katja zusammen, die – was für ein Zufall – meinen
Familiennamen trägt. Wir sind nicht miteinander verwandt und haben auch
nichts mit der letzten Zarendynastie zu tun. Wir sind einfach eng
befreundet. Schwestern, die um die Gunst ihrer Eltern buhlen, verstehen
sich oft nicht so gut wie wir. Solchen Streit haben wir nicht auszutragen.
Warum ich bei Katja eingezogen bin, obwohl ich eine Wohnung und sogar
eine Datsche mein eigen nenne, ist eine andere Geschichte, die wir hier
nicht erörtern wollen. Bevor ich Katja kennenlernte, war ich mit dem
reichen Geschäftsmann Michail verheiratet, der mich immer bei meinem
eigentlichen Vornamen Jefrossinja rief. Aber von einem Tag auf den
anderen brach mein schönes Leben zusammen. Michail entpuppte sich als
Krimineller. Er hat einen Menschen umgebracht und büßt dafür jetzt in
einem Lager im Komi-Gebiet. Wir sind geschieden, und von Gefühlen für
meinen Ex ist nichts geblieben. Kinder hatte ich nie, einen wirklichen
Arbeitsplatz ebenfalls nicht. Meine liebenden Eltern hatten mich von klein
auf für eine Künstlerlaufbahn bestimmt. Daher schickten sie mich zunächst
in die Musikschule und dann aufs Konservatorium, wo ich Harfe studierte.
In der heutigen Zeit ein äußerst passendes Instrument.
Stellen Sie sich einen Nachtclub vor: Auf der Bühne erscheint eine
Harfenistin und zupft hingebungsvoll eine klagende Melodie. Die Gäste
werfen bestimmt mit Besteckteilen und abgenagten Hühnerknochen nach
ihr … Die Bunten Abende der Sowjetzeit, als Opern- und Schlagersänger,
Tänzer und Rezitatoren einander abwechselten, gibt es heute nicht mehr.
Die wenigen Stellen in Sinfonieorchestern sind besetzt. Nur als Solistin
hätte ich noch auftreten können. Aber der Herr hat mir nicht genügend
Talent geschenkt, dafür um so mehr Sitzfleisch und Gehorsam. Soll doch
selbst der geniale Swjatoslaw Richter gesagt haben: »Talent ist wichtig,
aber ein Musiker braucht einen eisernen Hintern.« Meiner muß aus
Gußeisen sein. Mit sechs bis acht Stunden Üben am Tag meisterte ich die
Technik, aber Inspiration kann man nicht erzwingen. Die Finger liefen flink
über die Saiten, doch meine Seele war weit weg. Die Herzen des Publikums
blieben kalt. Also ließ ich das Musizieren sein und suchte mir einen Mann.
Um die Vergangenheit endgültig loszuwerden, legte ich mir den Namen
Tatjana zu. Vielleicht hätte ich doch etwas besser nachdenken und eine
Larissa, Mascha oder Lena werden sollen. Aber nun ist es passiert, und alle
rufen mich nur noch … Tanja.
Ich führe Katja die Wirtschaft – koche, putze, wasche und kümmere mich
um ihren kleinen Sohn Kira. Regelmäßig habe ich den Streit zu schlichten,
den der ältere Bruder Serjosha mit seiner Frau Julia vom Zaune bricht.
Außerdem wimmelt es im Hause von Hunden, Katzen und Hamstern …
Gäste und Verwandte geben sich die Klinke in die Hand.
Viele Frauen wären längst davongelaufen, müßten sie wie ich tagaus,
tagein am Herd stehen und abends auch noch Berge von schmutzigem
Geschirr bewältigen. Aber ich bin glücklich und liebe die Jungen wie meine
eigenen Söhne. Ich bin immer für sie da, denn Katja hat einfach keine Zeit.
Sie ist eine erstklassige Chirurgin, die mit Hingabe an der Schilddrüse
operiert. Fachleute wie sie kann man in Rußland an einer Hand abzählen.
Die Patienten stehen bei ihr Schlange. Sie kommen nicht nur aus den
ehemaligen Unionsrepubliken, sondern auch aus Deutschland, Frankreich
und Italien. Besonders die Ausländer sind gute Rechner. Sie wissen genau,
Frau Romanowa macht ihnen eine hervorragende Operation, und wesentlich
billiger als bei ihnen zu Hause.
Katja kann einem leidenden Menschen nichts abschlagen. An manchen
Tagen übernimmt sie nach drei Operationen auch noch Dienst in der Klinik.
Als ich in diesen chaotischen Haushalt einzog, ernährte man sich dort von
fertig gekauften Pelmeni, von Dosenwürstchen und Rührei. Als Höhepunkt
der Kochkunst kam am Sonntag eine Tütensuppe von Knorr auf den Tisch.
Und das nicht, weil Katja faul ist, sondern weil sie einfach keine Zeit hat …
Seit ich ihr die Wirtschaft führe, kümmere ich mich um alles, in erster Linie
um das Geld. Ich habe ein großes graues Heft, das mir bei der
Haushaltsplanung helfen soll. Also: Einnahmen: 5000, Ausgaben: 6000.
Wie sehr ich mich auch mühe, die Rechnung geht nie auf. Was habe ich
nicht schon alles probiert – das Geld in Häufchen eingeteilt, jedes in ein
Kuvert gesteckt und darauf geschrieben: »Essen vom 7.–14. Februar«,
»Lebensmittel vom 15.–22. Februar« … Aber dann zerriß sich Kira die
Hose, ging an Serjoshas Wagen die Zündung kaputt, brauchte Julia
Strumpfhosen, mußte ich für die Hunde, die sich überfressen hatten,
Abführmittel kaufen – drei Tabletten für 200 Rubel … Und schon war
meine Hand im Kuvert für die nächste Woche …
Als mit den Kuverts nichts mehr ging, versuchte ich es mit anderen
Behältnissen. Nun wanderten die Geldscheine in leere Kaffeedosen, die ich
an verschiedenen Orten versteckte. In meiner Naivität nahm ich an, wenn
ich länger nach dem Geld suchen müßte, werde es länger reichen. Nun
lösten sich 2000 Rubel zusammen mit der Dose einfach in Luft auf. Ich
wühlte alle Schränke, Kommoden und Matratzen durch, aber der so perfekt
versteckte Schatz tauchte nicht wieder auf.
Mein Leben ist ein täglicher Kampf um die Steigerung der Einnahmen
und die Senkung der Ausgaben. Aber am Ende bin ich damit kläglich
gescheitert. Was habe ich nicht alles versucht: Ich habe meine Rubel in
Dollar, Deutsche Mark und einmal sogar in japanische Yen
getauscht.Trotzdem war ich bald wieder auf der Wechselstelle, diesmal nur,
um die ganze Operation rückwärts zu vollziehen. Das Ganze erinnert sehr
an den Witz von den hungrigen Tschuktschen, die abends Kartoffeln
pflanzten und sie am nächsten Morgen wieder ausgruben, weil sie endlich
etwas zu essen haben wollten.
Manchmal konnte ich ein wenig hinzuverdienen, aber von diesen seltenen
Sümmchen wurde unser Budget nicht größer. Auch Katja, Serjosha und
Julia gaben sich alle Mühe, mehr beizutragen, aber … Am Ende führte die
Jagd nach dem großen Geld dazu, daß ich jetzt in diesem protzig
eingerichteten Zimmer sitze und traurig um mich blicke. Der
Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß ich eine große Datsche und
eine Sammlung von Bildern russischer Maler mein eigen nenne. Beides
habe ich von meinen Eltern geerbt. Aber die Datsche werden wir um nichts
in der Welt verkaufen. Im Sommer leben wir dort wie im Paradies. Und
auch nur ein einziges Bild zur Versteigerung zu bringen läßt meine neue
Familie nicht zu. Nicht wir haben sie gesammelt und nicht wir dürfen sie
verkaufen, meinen sie. Sie soll für die Kinder und Enkel bleiben.
Gestern war Montag, und Katja ist nach Miami geflogen. Man hat sie in
die USA eingeladen, wo sie ein Jahr lang in einer Spezialklinik
Schilddrüsen operieren soll. Als sie das Fax mit dem Gehaltsangebot
bekam, glaubte sie, jemand hätte aus Versehen ein paar Nullen zu viel
geschrieben. Aber am Telefon wurden ihre Zweifel bald zerstreut.
Kira mußte seine Mutter natürlich begleiten. Katja, die sich auch von
Serjosha und Julia nicht trennen wollte, stellte die Bedingung, daß der 25-
jährige Sohn mit Frau ebenfalls nach Miami kommen könne. Der Chefarzt
der Klinik, der Katja unbedingt haben wollte, stimmte sofort zu und fand
für den jungen Mann Arbeit in einer Werbeagentur. Das war bestimmt nicht
leicht, aber an solche Launen großer Chirurgen ist man dort offenbar
gewöhnt. Als Katja dann erklärte, auch ihre Hunde, die Möpse Mulja und
Ada, die Staffordshire-Terrierhündin Rachel sowie die Katzen Klaus und
Semiramis reisten mit ihr, sagten die Amerikaner gar nichts mehr, sondern
baten sie nur noch, an die Bescheinigungen vom Tierarzt zu denken.
Gestern habe ich mich, in Tränen aufgelöst, an der Zollkontrolle von
ihnen verabschiedet.
»Eine Artistenfamilie?« fragte der Grenzbeamte freundlich, als er die
Käfige mit den Tieren sah.
Bald standen diese auf einem Wagen, und Kira begleitete sie zur
Paßkontrolle. Er schaute sich noch einmal um und rief: »Sei nicht traurig,
Tanja, ein Jahr vergeht so schnell!«
Ich nickte ergeben: Natürlich. Kira tippte mit dem Finger auf seine Jacke
und kicherte. Ich seufzte auf. In der Innentasche saß die Kröte Gertrud, die
für die Einreise nach Amerika keine Genehmigung hatte …
Als alle fort waren, fuhr ich nach Hause und streifte noch einmal durch
die leeren Zimmer. Niemand rief mehr: »Tanja, wann gibt’s Essen?« oder
»Tanja, mein Hemd ist nicht gebügelt!« Keine Hunde tobten umher, keine
Katzen miauten, kein Fernseher heulte, keine Julia keifte und kein Serjosha
sang laut in der Badewanne. Wie sehr hatte ich mich manchmal nach ein
wenig Stille gesehnt, aber jetzt konnte ich damit gar nichts anfangen.
Außerdem mußte ich noch am selben Abend diesen Ort verlassen und mich
an meine neue Arbeitsstelle begeben.
Dabei hatte Katja mir angeboten, das Jahr einfach auszusetzen. »Tanja«,
meinte sie, »Geld ist doch nun kein Problem mehr. Wir schicken dir
welches, wenn jemand nach Hause fährt.« Aber die Vorstellung machte
mich krank. Was sollte ich allein in der leeren Wohnung anfangen?
Außerdem hatte ich mein Leben lang jemandem am Rockzipfel gehangen.
Erst waren das meine liebenden Eltern, dann, als Papa gestorben war, meine
tatkräftige Mutter, danach mein Mann und schließlich Katja … Gut, daß die
Amerikaner mir, einer unverheirateten Frau, das Einreisevisum verweigert
haben. Ich bin schon bald vierzig, und es wird Zeit, daß ich selbständig
werde.
Tagelang haben wir versucht, für mich eine richtige Arbeit zu finden.
Musiklehrerin? Notenkopistin? Hundefriseuse? Immobilienmaklerin?
Vertreterin? Was kann eine Frau heutzutage sonst noch tun, wenn sie nicht
mehr ganz taufrisch ist und einen so ausgefallenen Beruf wie ich hat?
»Geh doch in meine Schule als Hortnerin«, riet mir Kira.
»Das nun gerade nicht!« antwortete ich ihm. »Woher nehme ich die
Engelsgeduld?«
Schließlich hatte Katja den rettenden Einfall.
»Tanja«, sagte sie, »hast du schon mal was von Kondrat Rasumow
gelesen?«
Dumme Frage! Ich bin wild auf Krimis und verschlinge alles, was
herauskommt. Zwar gefallen mir die Frauen mehr – die Marinina,
Daschkowa und Poljakowa, aber einige Männer habe ich ebenfalls schon
mit Gewinn gelesen, zum Beispiel Leonow oder die Brüder Wainer. Auch
von Kondrat Rasumow hatte ich das eine oder andere in der Hand. So
richtig gefallen mir seine Romane allerdings nicht – sie enden immer
schlecht, und seine Helden sind meist nicht sehr sympathische Leute.
»Ich habe seine Frau Lena behandelt«, fuhr Katja fort. »Sie hat mich
gerade angerufen, verstehst du …«
Natürlich verstand ich. Fast alle Patienten Katjas enden als gute Bekannte,
denen ihr Arzt aus jeder Lebenslage zu helfen hat. Ihr Telefonbuch platzt
von solchen Nummern aus allen Nähten, und sie löst mit leichter Hand
fremde Probleme.
»Hör doch mal zu, Tanja«, beharrte Katja.
»Ja, ja«, murmelte ich, ohne zu begreifen, was sie sagen wollte.
Die Gattin des beliebten und sehr erfolgreichen Autors hatte geklagt, in
ihrem Hause sei die Hölle los. Die Zimmermädchen seien schnippisch und
machten lange Finger, was die Köchin auf den Tisch bringe, könne niemand
essen. Tausende Rubel Haushaltsgeld verschwänden wie in einem
schwarzen Loch, die Kinder trieben, was sie wollten, die Gouvernanten
kümmerten sich nicht um die Erziehung, sondern machten Kondrat schöne
Augen und umschlichen ihn mit schwingenden Hüften. Mit einem Wort, sie
brauche eine Haushälterin, am besten eine Dame um die Vierzig ohne
sexuelle Ambitionen, ehrlich und tüchtig, die mit fester Hand Ordnung
schaffen könne. Sie fragte, ob Katja nicht jemanden wüßte. Die Person
müßte ständig bei der Familie wohnen, für ein entsprechendes Gehalt,
versteht sich.
»Das ist dir doch wie auf den Leib geschrieben!« hatte Katja gemeint.
»Ich will aber keine Haushaltshilfe sein!«
»Haushälterin«, verbesserte mich Katja. »Du wirst Köchin und
Zimmermädchen, dazu noch die Hauslehrer der älteren Tochter unter
deinem Kommando haben. Sie geht nicht zur Schule.«
»Warum?«
Katja zuckte die Schultern.
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist sie nicht gesund. Also, wenn du keine Lust
hast, mußt du nicht, aber wenn du mich fragst, die Stelle ist nicht übel.«
Nach einigem Zögern sagte ich zu, und Katja rief im Hause des
Schriftstellers an.
»Liebste Lena«, säuselte sie in den Hörer, »ich glaube, ich habe die
Richtige gefunden. Ihr Name ist Tatjana Romanowa. Nein, nein, sie ist
kaum vierzig. Sie kann alles und ist eine ehrliche Haut. Sie hat ein Jahr bei
mir gearbeitet, aber ich gehe jetzt für ein Jahr nach Miami … Für sie lege
ich die Hand ins Feuer. Wo denkst du hin, von Kondrat will sie nichts.
Wenn wir schon mal dabei sind – sie hat einen jüngeren Liebhaber, mit dem
sie sich an ihrem freien Tag trifft.«
»Von wem redest du da?« fragte ich empört.
Katja kicherte.
»Lena ist Kondrats vierte Frau. Er soll ein großer Weiberheld sein,
deshalb ist sie so mißtrauisch.«
»Dann soll sie doch eine Alte anheuern!«
»Na hör mal!« gab Katja zurück, »manche ältere Dame hat nichts gegen
einen jüngeren Partner, aber was ist sie schon für eine Haushälterin? Nein,
Kräfte, die man bezahlt, müssen jung sein. Aber da kann es unerwünschte
Nebenwirkungen geben. Also, entscheiden mußt du!«
»Na gut«, murmelte ich ergeben, »dann soll es eben so sein.«
Ich drehte also das Gas ab, zog alle Stecker heraus, gab die Wohnung in
die Obhut der Miliz und stellte mich noch an diesem Montagabend mit
einer kleinen Reisetasche bei meiner neuen Herrschaft ein.
Das Haus, in dem Rasumow wohnt, machte schon auf den ersten Blick
einen äußerst seriösen Eindruck. An der Tür – Wechselsprechanlage und
Videokamera. Drinnen residierte ein Concierge. Nicht das übliche
Mütterchen, das sich kaum auf den Beinen halten kann, sondern ein
strammer Busche um die Dreißig in schwarzer Livree. Läufer auf den
Treppen und ein riesiger Spiegel im Lift, wo es nach Kognak,
französischem Parfüm und teuren Zigaretten duftet.
Die fünfte Etage hatte nur zwei Türen. Auf der einen prangte in goldenen
Ziffern eine 110.
Ich läutete. Hinter der stählernen Tür, die mit teurem Leder, Farbe
Milchkaffee, gepolstert war, ertönten sphärische Klänge. Ich mußte grinsen.
Es war die »Kleine Nachtmusik«. Nicht einmal vor dem Meister aus
Salzburg machen die Hersteller von Türgongs und Mobiltelefonen halt.
Warum sind sie gerade auf ihn verfallen, um den Ohren ihrer Kundschaft zu
schmeicheln? Viel besser paßt doch der »Säbeltanz« von Chatschaturjan,
wenn man zur Tür laufen muß. Der bringt einen richtig in Schwung.
Aber hier eilte niemand herbei, um zu öffnen. Die Nachtmusik dudelte vor
sich hin. Schließlich tönte es von irgendwoher: »Was gibt’s?«
Wie freundlich und gewählt man sich doch bei einem Schriftsteller
ausdrückte!
»Guten Tag, ich bin Tatjana Romanowa.«
Die Tür wurde geöffnet, und vor mir baute sich eine Matrone von etwa
fünfzig Jahren auf – riesig wie ein russischer Ofen. Ihr enormer Busen
wogte frei unter einer weiten Strickjacke, und der lange Rock ließ nur ein
paar riesige Hauspantoffeln mit giftgrünen Bommeln sehen. Das Haar hatte
die Schöne straff zu einem Schwanz gebunden. Aus einem teigigen Gesicht
blickten mir zwei unangenehm kleine, durchtriebene Augen entgegen.
»Sie sind Lena?« fragte ich verblüfft.
»Die Gnädige ist im Schlafzimmer«, knurrte die Person und entfernte sich
mit schwerem Tritt. Die Pantoffeln klatschten gegen die nackten Fersen.
Ich stand allein und ziemlich verloren in der Diele. Da hörte ich von fern
Absätze klappern, und vor meinen Augen erschien ein schlanker,
bildhübscher Teenager von etwa fünfzehn Jahren. Die kastanienbraunen
Locken glänzten seidig im Licht des Kronleuchters, die Wangen waren
gerötet, die purpurnen Lippen lächelten. Ein Wesen, wie gemalt.
»Du bist sicher Kondrat Rasumows Tochter«, sagte ich freundlich und
legte den Mantel ab. »Machen wir uns bekannt. Ich bin eure neue
Haushälterin Tatjana Romanowa. Wir werden bestimmt gute Freundinnen.
Du kannst Tanja zu mir sagen wie alle meine Bekannten. Und wo ist deine
Mutter?«
»Sehr angenehm«. Das Mädchen lächelte und reichte mir ihre schmale
blasse Hand, an der ein eleganter Brillantring blitzte. »Ich bin Lena,
Kondrat Rasumows Gattin.«
2. Kapitel
Kondrat lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet. Sein Körper nahm
fast die ganze Breite des Korridors von Lenas Schlafzimmer bis zum
Arbeitszimmer ein. Ein Hosenbein war hochgeschoben und ließ ein
nacktes Bein mit starker schwarzer Behaarung sehen. Vom Anblick dieses
schutzlos ausgestellten Schenkels wurde mir fast schlecht. Ein paar
Schritte weiter neben der Wohnzimmertür schrie immer noch Wanja.
»Anna!« kommandierte ich mit stählerner Stimme.
Die Kinderfrau erwachte aus ihrer Erstarrung, stürzte zu ihrem
Schützling, zog ihn an sich und redete beruhigend auf ihn ein:
»Komm, Wanja, wir gehen ins Kinderzimmer.«
»Nein!« brüllte der Kleine. »Papa, Papa …!«
»Dein Papa ist müde«, fiel Anna ein. »Wenn er ausgeschlafen hat, steht er
wieder auf.«
Wanja schluchzte auf und sagte: »So was hat Papa noch nie gemacht.«
»Das hat er sich heute ausgedacht, um dich ein bißchen zu erschrecken«,
flüsterte die Kinderfrau beruhigend und zog den Jungen weg. »Du
bekommst jetzt den Siegerpreis.«
Als sie fort waren, trat ich einen Schritt an den Schriftsteller heran und
fragte: »Kondrat Fjodorowitsch, ist Ihnen nicht gut?«
Keine Antwort, nicht einmal ein Stöhnen oder die Bitte um Hilfe. Ich
nahm all meinen Mut zusammen, hockte mich neben meinen Hausherrn und
blickte ihm ins Gesicht. Seine Augen waren weit geöffnet, das rechte mehr
als das linke, der Mund etwas zur Seite verschoben, und die Kinnlade hing
hilflos herab. Aber das war nicht das Schlimmste. Auf der Stirn, mitten
zwischen den Augenbrauen, wo die Inderinnen einen Fleck tragen, klaffte
ein kleines, kreisrundes Loch mit leicht gezackten Rändern.
Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, daß es von einer Kugel war.
Wie merkwürdig – es war fast kein Blut zu sehen.
»Kondrat Fjodorowitsch«, sprach ich ihn noch einmal an, diesmal beinahe
im Flüsterton, »geben Sie mir ein Zeichen, wenn Sie mich hören, bewegen
Sie die Hand oder die Augenlider!«
Aber der Schriftsteller lag reglos da. Etwas Schreckliches war passiert.
Beim Kriegsspiel hatte Wanja seinen Vater erschossen. Ganz in der Nähe
lag eine kleine schwarze Pistole. Ich schaute ängstlich zu ihr hin. Aus den
unzähligen Kriminalromanen, die ich gelesen hatte, war eines fest in
meinem Kopf hängengeblieben: Am Tatort nichts berühren!
Mehrere Minuten lang stand ich wie betäubt im Korridor. Als ich
begriffen hatte, daß Kondrat nicht mehr atmet, griff ich nach dem Telefon,
hielt aber noch einmal inne. Ich mußte die Miliz anrufen, das war klar. Aber
auf welcher Nummer? Auf der amtlichen 02 um keinen Preis. Kondrat war
ein bekannter Mann, der viel über die Kriminalpolizei geschrieben hatte.
Kommissare waren bei ihm in der Regel korrupte Typen, die für fette
Bestechungsgelder Verbrechen vertuschten. Deshalb gefielen mir auch
seine Romane nicht. Katja und ich haben nämlich einen Bekannten, Major
Wolodja Kostin. Wir sind gute Freunde und haben sogar unsere Nachbarin
Nina überredet, mit ihm die Wohnung zu tauschen, so daß wir jetzt direkt
nebeneinander wohnen.
Dieser Major, das kann ich mit absoluter Sicherheit sagen, nimmt kein
Schmiergeld an. Wer es nicht glaubt, braucht sich nur einmal seine
abgeschabten Anzüge und die ausgetretenen Schuhe anzusehen … Auch
unter seinen Kollegen habe ich noch keine geldgierigen Typen getroffen.
Sie tun gewissenhaft ihre Arbeit und können sich furchtbar aufregen, wenn
ihnen ein Krimi in die Hände fällt, wie sie Rasumow schreibt.
»Wenn ich den mal in die Finger kriege«, hörte ich Wolodja seufzen, als
er in einem solchen Bändchen herumblätterte. »Für den sind wir alle
Schweinehunde. Wer fürs Innenministerium arbeitet, ist der letzte Dreck.«
»Ich will es gar nicht abstreiten«, mischte sich Slawa Samonenko, ein
anderer Major, in das Gespräch ein. »Solche gibt’s auch, aber die Mehrheit
arbeitet auf Ehre und Gewissen. Kannst du dir vorstellen, wie sauer wir
sind?«
Ich biß mir auf die Zunge. Bevor ich sie kennengelernt hatte, stammten
meine Kenntnisse über unsere heldenhafte Miliz auch nur aus
Kriminalromanen. Die Jungs in der blauen Uniform flößten mir keinen
Respekt ein. Erst durch die Bekanntschaft mit Kostin und Samonenko
bekam ich mit, wie sie wirklich waren.
Eigentlich konnte ich jetzt nur Wolodja anrufen. Da fiel mir ein, daß er am
nächsten Tag seinen 40. Geburtstag feierte. Wir hatten ihm zu diesem
wichtigen Anlaß eine Reise in die Vereinigten Arabischen Emirate
geschenkt, noch dazu für ganze drei Wochen. Im März ist keine
Urlaubszeit, daher ließ ihn sein Vorgesetzter leichten Herzens ziehen. Er
mußte gerade in Dubai eingetroffen sein. Sicher lag er schon am Strand und
schaute hübschen Badenixen nach. Ich aber stand hier in einer fremden
Wohnung neben der Leiche eines berühmten Schriftstellers und verfluchte
den Tag, an dem Katja die Idee hatte, mich bei diesen Leuten
unterzubringen.
Dann fiel mir Slawa Samonenko ein, der im Dienst sein mußte. Mit
zitternder Hand drückte ich die Knöpfe des Telefons.
»Lieber Gott, mach, daß Slawa in seinem Büro sitzt …« Entweder war
mein Stoßgebet erhört worden, oder in dieser Stadt passierten zu wenig
Verbrechen, jedenfalls erklang es aus dem Hörer frisch und munter: »Hier
Samonenko.«
»Slawa«, hauchte ich und spürte, wie es mir den Hals zuschnürte, »hier ist
was Schreckliches passiert!«
Eine Stunde später drängten sich in Rasumows Wohnung die Leute.
Außer der Ermittlergruppe erschienen sogleich auch noch Kamerateams der
Sendungen »Straßenpatrouille« und »Die Kriminalpolizei berichtet« sowie
ein paar junge Männer mit Diktiergeräten. Wie hatten die nur von der Sache
Wind bekommen? Aber Kondrats Tod war natürlich ein gefundenes Fressen
für Schreiberlinge jedweder Sorte.
Slawa kam in die Küche, überflog mit entgeistertem Blick die endlose
Reihe der Elektrogeräte und seufzte auf. »Tanja, kannst du uns einen Tee
machen, oder erlaubt deine Herrschaft das nicht?«
»Die Herrschaft über die Küche steht vor dir«, brummte ich und schaltete
den Wasserkocher ein. »Lena, Verzeihung, Frau Rasumowa, ist das alles
ziemlich schnuppe.«
»Wo ist sie überhaupt?« wollte Slawa wissen.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Sie hat gesagt, sie geht ins Fitneßstudio. Aber auf ihrem Handy heißt es
immer nur: ›Der Teilnehmer ist zeitweilig nicht erreichbar‹.«
»In welches Studio geht sie denn?«
Wieder war ich nur sehr unvollständig informiert.
»Ich glaube, in den Zentralen Armeeklub. Zumindest sind die Quittungen
von dort.«
Da kam ein rundlicher Typ, den ich nicht kannte, in die Küche und rief
nach Slawa.
Lena tauchte wie immer erst gegen zehn Uhr abends auf. Der Leichnam
war bereits abtransportiert, der Korridor gewischt. Wanja hatte ein
Beruhigungsmittel bekommen und schlief fest. Auch Lisa lag mit einer
Dosis Valokordin in ihrem Bett. Für diese Zeit herrschte in der Wohnung
ungewöhnliche Stille.
Lena, mehrere Pakete im Arm, rauschte fröhlich trällernd in die Diele. Ich
ging zur Tür und wußte nicht, wie ich anfangen sollte.
Die junge Frau hängte ihre Jacke auf und fragte munter: »Hier ist es ja
still wie im Grab! Wo sind sie denn alle?«
Sie hatte mir selbst das Stichwort gegeben, und so stammelte ich nur:
»Kondrat ist ermordet worden!«
Lena blieb der Mund offenstehen. Dann faßte sie sich und lächelte schief.
»Bis zum 1. April haben wir noch einen ganzen Monat! Du machst
vielleicht Witze, Tanja!«
»Du irrst dich …«, begann ich und stockte wieder.
Merkwürdig, plötzlich waren wir per du. Bisher hatte sie mich stets sehr
korrekt mit Vor- und Vatersnamen angesprochen.
Eine Stunde lang saßen wir miteinander in der Küche. Lena rauchte
ununterbrochen. Wenn ich in ihr blasses, aber ruhiges Gesicht schaute,
konnte ich mich nur wundern. Ich hatte erwartet, sie würde in Tränen
ausbrechen, einen hysterischen Anfall bekommen oder in Ohnmacht
fallen … Für alle Fälle hatte ich ein Beruhigungsmittel und Salmiak
bereitgestellt. Und die Telefonnummer des Hausarztes herausgesucht. Aber
Lena zündete sich nur eine Zigarette an der anderen an und starrte stumm
auf das nachtdunkle Fenster. Endlich hatte sie offenbar einen Entschluß
gefaßt, schob die Zigarettenpackung beiseite und sagte: »Hier ist also ein
schrecklicher, unbegreiflicher Unfall passiert. Hauptsache ist jetzt, daß die
Wahrheit nicht in die Zeitungen kommt. Wanja begreift im Moment noch
nicht, was er da getan hat. Aber was soll später werden? Kannst du dir
vorstellen, was es bedeutet, den eigenen Vater getötet zu haben? Ich habe
dieses blöde Kriegsspiel nie gemocht, dieses Ballern und Hauen … Ich
habe immer das Gefühl gehabt, daß es gefährlich ist … Kannst du mit
diesem Slawa sprechen, Tanja? Soll er den Reportern sagen, Kondrat hätte
Selbstmord begangen. Es wird sein Nachteil nicht sein.«
Ich starrte sie verblüfft an.
»Aber Kondrat …«
»Kondrat …!« fiel mir Lena zornig ins Wort und goß sich reichlich
Kognak in ein Wasserglas. »Kondrat hat immer gesagt, ein Schriftsteller
lebt vom Skandal. Je lauter die Medien schreien, desto höher steigt die
Auflage. Da hat er nun seinen letzten Skandal!«
Und sie leerte das Glas in einem Zug.
»Aber für einen Selbstmord braucht es Gründe«, versuchte ich
einzuwenden.
»Daß ich nicht lache!« gab Lena schon etwas lallend zurück. »Jetzt geht
es um Wanja. Kondrat können wir sowieso nicht mehr helfen. Was meinst
du, ob Anna bereit wäre, sofort mit dem Jungen nach Zypern zu fliegen?
Ich habe dort eine Schulfreundin. Die ist mit einem Zyprioten verheiratet
und hat eine kleine Tochter.«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Wenn du gut zahlst? Aber das Geld
könnte ja jetzt auch zum Problem werden.«
»Unsinn!« Lena winkte ab. »Wanja muß sofort von der Bildfläche
verschwinden. Für Zypern braucht man kein Visum. Wenn die Kinderfrau
einverstanden ist, setze ich die beiden morgen früh ins Flugzeug … Lisa
kommt in ein Internat. Von der habe ich schon lange die Nase voll. Wenn du
wüßtest, was ich hier gelitten habe! Kondrat hatte ich auch satt, diesen
egoistischen, in sich selbst verliebten, launischen Kerl! Manchmal war er
einfach unerträglich. Lisa, dieses verwöhnte Ding, hat mich immer an seine
erste Frau erinnert! Die blöden Gäste und die ewigen Gelage! Dabei gehe
ich am liebsten mit den Hühnern ins Bett! Ich bin eine Frühaufsteherin,
Kondrat dagegen ein ausgesprochener Langschläfer! Und dann seine blöde
Art, in der Wohnung in Unterhosen herumzulaufen! Und die stinkenden
Zigarren! Oder die Angewohnheit, morgens um fünf aus der Badewanne zu
rufen: ›Lena, wasch mir den Rücken!‹ Soll das jetzt wirklich ein Ende
haben? Diesen Palast verkaufe ich und erstehe dafür eine kleine
Dreizimmerwohnung. Für mich und Wanja reicht das allemal. Mir wird es
so gut gehen wie nie zuvor!«
»Du wirst arbeiten müssen«, wagte ich einzuwerfen.
»Weshalb?« fragte Lena erstaunt.
»Wovon willst du denn leben?«
Die junge Witwe lachte laut auf und griff wieder nach der Kognakflasche.
»Ich hab so viel Geld, daß es für drei Leben reicht. Und im Computer
liegen zwölf neue Romane. Die verkaufe ich nach und nach.«
»An wen?«
Wieder mußte sie lachen.
»Was bist du doch naiv, Tanja. Kondrat ist berühmt! Mit seinen Büchern
verdienen die Verlage Unmengen von Geld. Wenn ich verlauten lasse, daß
ich neue Krimis von ihm habe, stehen sie Schlange! Sie werden sich
gegenseitig überbieten. Und ich werde den Preis hochtreiben. Nein, Geld ist
kein Problem für mich. Außerdem bringen die Wohnung, sein idiotischer
Jeep, groß wie ein Autobus, auch noch einiges ein. Mir genügt der
Volkswagen.«
»Du hast ihn also gar nicht geliebt«, stellte ich verwirrt fest.
Lena, nun völlig betrunken, sprang auf und erklärte mit gellender Stimme:
»Ich habe ihn gehaßt und immer befürchtet, daß das noch jahrelang so
weitergeht.«
»Aber du warst doch eifersüchtig auf ihn!«
»Kein Stück! Ich wollte einfach nicht, daß ihn mir irgendeine
Hergelaufene wegschnappt. So einen reichen Schriftsteller hätte doch jede
gern. Mir ging es nur ums Geld.«
»Kondrats Tochter hat aber Anspruch auf einen Teil des Erbes.«
»Nichts dagegen«, meinte sie grinsend. »Aber was ich in bar habe, davon
weiß keiner was. Und die Romane laß ich auf Disketten verschwinden. Was
bleibt dann noch? Die Wohnung und das Auto. Davon gehört die Hälfte
mir, und die andere Hälfte wird zwischen Wanja und Lisa aufgeteilt. Das
freche Ding kommt in ein Internat, und das wird von ihrem Erbe bezahlt!«
Darauf konnte ich nichts mehr sagen.
Am nächsten Morgen, schon bei Sonnenaufgang trat Lena mit festem
Schritt in mein Zimmer.
»Entschuldigen Sie, Tatjana«, sagte sie in offiziellem Ton. »Ich weiß, daß
ich Sie aus dem Schlaf reiße, aber ich muß Klarheit haben. Werden Sie
weiter für mich arbeiten?«
Ich blinzelte verschlafen und begriff nicht recht, was sie von mir wollte.
Lena deutete mein Schweigen auf ihre Weise und fügte hinzu: »Wir hatten
1000 Dollar im Monat vereinbart. Ich lege noch 500 drauf, wenn Sie
bleiben und mir die Sorge um Lisa, die Wohnung und das Essen vom Halse
halten. Sie können sicher sein, Gäste wird es keine mehr geben.«
»Aber Sie wollten die Wohnung doch verkaufen«, wandte ich schüchtern
ein und war auch wieder beim »Sie«.
Lena biß sich auf die Lippen.
»Das kann ich erst in einem halben Jahr, wenn ich das Erbe antrete.«
»Und Lisa wollten Sie ins Internat geben!«
»Das Mädchen bleibt erst einmal hier!« warf Lena hin und rauschte aus
dem Zimmer. Mir war ein Rätsel, was während der Nacht wohl geschehen
sein konnte. Ich kroch aus dem Bett und schlurfte in die Küche. Neben dem
Tisch lag einsam einer von Wanjas Hausschuhen. Ich hob ihn auf und ging
ins Kinderzimmer. Hier erwartete mich eine Überraschung. Das Bettchen
war gemacht und alles Spielzeug sorgfältig aufgeräumt.
Ich suchte nach Lena und fand sie am Computer in Kondrats
Arbeitszimmer.
»Verzeihen Sie«, begann ich vorsichtig.
Als sie meine Stimme vernahm, schloß sie sofort eine Datei. Die Worte
»Bis zum Hals im Unglück« hatte ich aber noch lesen können. Das war
wohl einer von Rasumows neuen Romanen.
»Was gibt’s?« fragte Lena. »Brauchen Sie Wirtschaftsgeld? Das Geld liegt
im Safe hinter dem Bild mit der Winterlandschaft. Den Code finden Sie hier
im Schreibtisch.«
»Nein, nein, wo ist Wanja?«
»Mit Anna nach Zypern unterwegs«, antwortete Lena ruhig, schaute auf
die Uhr und fügte hinzu: »Es ist neun. Jetzt starten sie gerade.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Soviel Entschlossenheit hatte ich ihr
gar nicht zugetraut. Im Handumdrehen hatte sie Tickets besorgt und die
beiden zum Flugplatz gebracht …
Lena klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch und ließ hören: »War’s das?«
Ich zog mich in die Küche zurück und bereitete das Frühstück zu.
Die nächsten beiden Tage gingen vorüber, als sei nichts geschehen. Lena
verschwand morgens und kam erst spätabends zurück. Lisa erhielt weiter zu
Hause Unterricht und spielte danach am Computer. Gäste ließen sich in der
Tat nicht sehen. Im Zentralen Haus der Schriftsteller gab es eine große
Trauerfeier, die für meinen Geschmack zu pompös geriet. Eine Unmenge
von Menschen kamen zusammen und ließen sich allesamt vollaufen, selbst
die Frauen. Am Ende waren nur noch drei Personen im ganzen Saal
nüchtern – Lisa, Lena und ich. Die Witwe, ganz in Schwarz, saß am
Kopfende der Tafel und rührte keinen Bissen an.
Beim Hauptgang wurden die Gespräche ringsum immer lauter.
»Es heißt«, mümmelte eine stark geschminkte Dame mit vollem Mund,
»er hat sich umgebracht.«
»Direkt in die Stirn hat er sich geschossen«, bestätigte ein Mann in
zerknautschtem Jackett. »Die halbe Schädeldecke ist ihm weggeflogen,
deswegen hat man auch den Sarg geschlossen gehalten.«
»Was war denn sein Problem?« seufzte die Dame. »Geld hatte er wie Heu,
bekam märchenhafte Honorare, nicht so wie wir armen Poeten.«
»Jetzt ist die Zeit der Idioten«, fiel ein anderer Mann im Kordsakko ein,
»der Groschenromane. Da gilt die hohe Literatur nichts mehr.«
Ich hörte aufmerksam zu, was die Leute miteinander schwatzten.
Irgendwer hatte geschickt ein Gerücht in Umlauf gesetzt. Überall war nur
von Selbstmord die Rede. Andere Versionen kamen gar nicht in Betracht.
Lena saß da, stumm und gramgebeugt. Lisa, das unbekümmerte Kind,
stopfte Berge von Eis in sich hinein. Ich hatte meine Hausherrin
unterschätzt. Wie mit einem Zauberstab hatte sie das alles arrangiert.
Am Freitag drohte die Sache jedoch aus dem Ruder zu laufen. Morgens
rief Slawa Samonenko an und forderte Lena auf, in sein Büro zu kommen,
um eine Aussage zu machen. Als sie bis Mitternacht immer noch nicht
zurück war, meldete ich mich bei Slawa zu Hause.
»Wer ist da?« flüsterte er in den Hörer.
Samonenko hat drei kleine Kinder. Ihn mitten in der Nacht anzurufen ist
eigentlich eine Frechheit.
»Slawa«, sagte auch ich im Flüsterton, »Lena ist verschwunden,
Rasumows Witwe.«
»Mein Gott, ich habe ganz vergessen, dir Bescheid zu sagen«, seufzte
Slawa auf. »Keine Sorge, Tanja, sie ist bei uns.«
»Was heißt, bei euch?« erwiderte ich verständnislos.
»In Untersuchungshaft.«
»Weshalb?«
»Sie steht im Verdacht, ihren Ehemann Kondrat Rasumow ermordet zu
haben«, erklärte mir mein Bekannter gähnend.
»Das kann nicht sein!«
»Bitte, Tanja, ich bin todmüde und will schlafen. Komm morgen früh in
mein Büro. Wir müssen dich sowieso vernehmen. Dort reden wir dann über
alles. Aber jetzt – entschuldige bitte.« Damit legte er auf. In dieser Nacht
bekam ich kein Auge zu. Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die
andere. Als Lisa gegen Mittag ihre Mathematikstunde begann, eilte ich zu
Slawa.
In seinem geräumigen Büro wurde ich mit einer Unmenge neuer
Tatsachen konfrontiert. Kondrats tödliche Verletzung stammte nicht von
einer Spielzeugpistole, die Plastikkugeln verschoß.
»Das weiß doch jeder«, meinte der Major eindringlich, »daß so ein Ding
kein Stirnbein durchschlägt. Schlimmstenfalls hätte es eine Beule gegeben.
Hätte Wanja das Auge getroffen, wäre es vielleicht tödlich gewesen, aber
die Stirn?«
»Ich hab das Loch in Kondrats Kopf selber gesehen«, flüsterte ich.
»Das Loch!« wiederholte Slawa. »Genau darum geht es. Der Junge hatte
eine scharfe Waffe.«
»Das ist ja unglaublich!« Mir nahm der Schreck fast die Luft. »Er hätte
sich selber umbringen können!«
»Ohne weiteres«, räumte Slawa ein. »Irgendwer hat ihm die Waffe in die
Hand gedrückt und erklärt, was für ein tolles Spielzeug das ist.«
»Bevor er schoß«, erinnerte ich mich, »hat er gerufen, er hätte einen
neuen Revolver. Wer konnte dem Jungen eine tödliche Waffe geben? Das
war doch gefährlich …«
»Wer das getan hat«, erklärte mir Slawa in aller Ruhe, »der wußte genau,
daß Vater und Sohn jeden Abend Krieg spielen. Das haben sie doch
regelmäßig getan?«
Ich nickte.
»Na, siehst du«, fuhr Slawa fort. »Der Junge hatte mehrere
Spielzeugwaffen. Kannst du dich erinnern, wer ihm als letzter einen
Revolver geschenkt hat?«
Ich seufzte tief auf. Da zählte man eher die Sterne am Himmel als Wanjas
Schießprügel. Er hatte beinahe jeden Tag einen neuen bekommen. In
Kondrats Haus gaben sich die Gäste die Klinke in die Hand. Jeder brachte
etwas für die Kinder mit. Lisa bekam Puppen oder Berge wahnsinnig teurer
Pralinen. Wanja fast immer Waffen. Die Kinderfrau Anna empörte sich
ständig, weil echte Danaergeschenke darunter waren, die in den Händen
eines Vierjährigen nun wirklich nichts zu suchen hatten. Erst am Dienstag
hatte er ein Gewehr bekommen, das kleine, aber durchaus nicht
ungefährliche Plastikkugeln verschoß. Zuerst traf Wanja damit mehrere
Kristallgläser, dann bekam seine Kinderfrau zufällig eine Kugel in die
Seite. Empört wies sie in der Küche einen ordentlichen Bluterguß vor.
Natürlich wurde ihm die Flinte sofort weggenommen. Außerdem besaß er
noch einen Bogen, zu dem scharfe Pfeile gehörten. Am Mittwoch hätte die
Kinderfrau am liebsten Semjon Goworow ermordet, den
Nachrichtensprecher im zweiten Fernsehprogramm. Dem war nichts
Besseres eingefallen, als Rasumow junior von einer Reise nach Japan einen
Harakiri-Säbel mitzubringen – zwar eine Imitation, aber immer noch scharf
genug.
»Du kannst dich also nicht erinnern?« fragte Slawa noch einmal.
Ich schüttelte den Kopf.
»Die Gäste hat Anna stets eingelassen. Ich habe in der Küche alle Hände
voll zu tun, daß nichts anbrennt. Die Geschenke bekamen die Kinder immer
als erstes. Lisa hat an dem Abend von einer Sängerin Kosmetik geschenkt
bekommen. Sie hat sie mir noch gezeigt. Aber Wanja … Stimmt, später
brachte die Kinderfrau leere Schachteln von Spielzeugwaffen in die
Küche …«
»Wo sind die jetzt?« wollte Slawa sofort wissen.
Ich meinte verwundert: »Bestimmt noch in unserer Abstellkammer. Gute
Kartons werfe ich nicht weg.«
»Warum?« fragte er.
»Die kann man doch noch gebrauchen. Kira hat zum Beispiel immer was
daraus gebastelt.«
»Du bist ein sparsamer Mensch, Tanja«, bemerkte Slawa beinahe
neidisch. »Meine Nussja wirft alles sofort weg. Wann ist denn Lena an
jenem Abend zu Hause aufgetaucht?«
»Gegen zehn. Und du hast sie wirklich festnehmen lassen?«
»Erst einmal vorläufig«, erläuterte der Major. »Wir haben noch keine
Anklage erhoben. Aber das wird bald passieren.«
»Was habt ihr denn gegen sie in der Hand?«
Slawa runzelte die Brauen.
»Sie hält sich für sehr klug, deine Hausherrin. Sie dachte, sie kann alle
Spuren verwischen. Wahrscheinlich hat sie zu viele Krimis ihres Mannes
gelesen. Aber damit kommt sie bei uns nicht durch. Weißt du, daß jede
Waffe eine Nummer hat?«
»Natürlich weiß ich das.«
»Also – die, mit der man Kondrat erschossen hat, ist ordentlich bei der
Miliz registriert. Ihr Besitzer heißt Anton Semjonow. Er ist sauber. Denn er
hat die Waffe schon vor einem Monat als vermißt gemeldet. Böse
Menschen haben sie ihm gestohlen. Er hatte sie immer im Handschuhfach
seines Ladas, sozusagen zur eigenen Sicherheit. Als er kurz in einem
Geschäft war, wurde in sein Auto eingebrochen. Danach waren das
Autoradio, seine Sonnenbrille, die Handschuhe und seine Sauer weg.
Verstehst du?«
»Was gibt’s da nicht zu verstehen? Wie oft werden Autos ausgeräumt!«
»Genau«, murmelte Slawa. »Die Diebereien nehmen zu, alle Gauner
erwischt man nicht. Aber jetzt wird es interessant: Dieser Anton Semjonow
ist Lenas Geliebter. Die Dame hat sich oft bei ihm beklagt, wie schwer sie
es hat. Neulich hat sie ihn direkt aufgefordert, Kondrat umzulegen.
Semjonow ist kein Held und hat das rundweg abgelehnt. Aber Lena hat
nicht lockergelassen und ihm goldene Berge versprochen. Er hat mit ihr
Schluß gemacht, und von Stund an war die Pistole verschwunden. Warum
sagst du denn nichts mehr?«
Was sollte ich darauf sagen? Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Lena
ihrem eigenen Sohn kaltblütig eine Mordwaffe in die Hand drückt. Sie
machte sich solche Sorgen um den Jungen, daß sie ihn gleich nach Zypern
bringen ließ. Aber vielleicht hatte sie das auch nur getan, um ihn von der
Bildfläche verschwinden zu lassen? Ich weiß nicht, ob das Gesetz erlaubt,
einen Vierjährigen zu verhören. Wanja ist ein aufgeweckter Junge. Wenn
Lena ihm wirklich die Pistole … Nicht auszudenken! Was sollte ich denn
jetzt machen? Was wurde aus Lisa? Mußte ich sie zu ihrer leiblichen Mutter
bringen?«
»Hör mal Slawa«, sagte ich in bittendem Ton, »ich möchte mit Lena
sprechen.«
»Warum?«
»Na, erstens habe ich eine ziemlich große Summe Wirtschaftsgeld, dann
ist da Lisa, und schließlich – was soll ich mit der Wohnung machen? Wenn
du sie schon eingesperrt hast, wird sie etwas brauchen – ihren Pyjama,
einen Morgenrock …«
»Na klar, ihren Pyjama!« Slawa lachte laut. »Daß du mir die
Lockenwickler nicht vergißt!«
»Na und, sind die verboten?«
»Also, Tanja, Sachen kannst du ihr morgen bringen. Die werden am
Seiteneingang abgegeben. Geh heute schon mal vorbei und schau auf die
Liste, was erlaubt ist. Sie kann höchstens hier in meinem Büro eine
Kleinigkeit essen und ein paar Zigaretten empfangen. Lauf ins nächste
Geschäft, es ist nicht weit. Du hast eine halbe Stunde. Eher wird sie nicht
gebracht.«
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und rannte in den Supermarkt.
4. Kapitel
In dem stillen Raum schwang meine Stimme wie in einer Kirche. Lisa
wühlte sich in ihre Kissen und schnaufte zufrieden. Ich blieb noch ein paar
Minuten sitzen und strich ihr sanft übers Haar. Als ich sah, daß mein
dreizehnjähriger Säugling tief und ruhig atmete, legte auch ich mich
schlafen.
5. Kapitel
Am Morgen setzte ich mich ans Telefon und rief Lenas Bekannte an.
Besuche im Gefängnis sind nicht nur nahen Anverwandten gestattet. Ich
wollte Leute finden, die sie ein wenig aufmuntern konnten. Schon beim
Buchstaben D in ihrem Telefonbuch mußte ich einsehen, daß dies
vergebliche Liebesmüh war. Sie reagierten alle gleich. Anfangs war man
höflich und freundlich, aber als das Gespräch auf Lena und das Gefängnis
kam, schlug der Ton sofort um. Freunde und Freundinnen waren plötzlich
sehr beschäftigt und hatten überhaupt keine Zeit. Die eine saß auf
gepackten Koffern, einem anderen ging es plötzlich gar nicht gut. Eine
einzige Dame war aufrichtig und blaffte: »Rufen Sie nicht wieder an. Mit
einer Mörderin wollen wir nichts zu tun haben!«
»Wie kommen Sie darauf, daß Lena eine Mörderin ist?«
»Haben Sie denn gestern nicht den ›Moskauer Komsomolzen‹ gelesen?
Nein? Dann tun Sie es!« Der Hörer knallte auf die Gabel.
Ich ging an den Briefkasten, zog das dicke Zeitungspaket heraus und
begann zu lesen. Fast in allen Zeitungen die gleiche Überschrift: »Heute
wird gegen die Ehefrau des bekannten Schriftstellers Kondrat Rasumow
Anklage wegen Mord an ihrem Ehemann erhoben.« Darunter die Meldung:
»›Natürlich streitet sie alles ab‹, hat Kommissar Mitrofanow, der die
Ermittlungen leitet, unserem Korrespondenten gesagt. ›Aber ich bin sicher,
unter der Last der Beweise wird sie bald geständig sein. Wir werden Lena
Rasumowas Schuld von A bis Z nachweisen.‹
›Sie sind also der Meinung, daß die Ehefrau dieses aufsehenerregende
Verbrechen begangen hat?‹
›Da gibt es für mich keinen Zweifel. Sie ist die einzige Verdächtige, und
wir haben mehrere Zeugen.‹«
Ein merkwürdiges Interview. Der Kommissar durfte Lena gar nicht für
schuldig erklären, solange kein Gericht das festgestellt hatte. Bis dahin gilt
auch in Rußland die Unschuldsvermutung. Aber diese knappen Sätze hatten
ihre Wirkung nicht verfehlt. Lena hatte offenbar fast alle ihre Freunde
verloren.
Ich wählte weiter hartnäckig Nummer um Nummer. Nach einer Stunde
hatte ich dann Gewißheit: Nicht fast alle hatten sich von Lena abgewandt,
sondern restlos alle, die sich einmal ihre Freunde nannten. Mit einer
Mörderin wollte niemand befreundet sein.
Das Gespräch mit Lisas Mutter hob ich mir für zuletzt auf. Erst nachdem
es fünfzehnmal geklingelt hatte, wurde abgenommen, und eine rauchige
Stimme brummte: »Hallo.«
»Ich möchte gern Ljudmila Safonowa sprechen.«
»Am Apparat«, dann folgte ein Gähnen.
Aber als sie hörte, was ich von ihr wollte, war sie mit einem Schlag
hellwach.
»Meine Liebe«, flötete sie, »ich kann Lisa nicht zu mir nehmen!«
»Warum?«
»Erstens, weil ich morgen um ein Uhr heirate und dann mit meinem
Gatten auf Hochzeitsreise gehe. Soll ich das vielleicht in Begleitung eines
dreizehnjährigen Teenagers tun?«
Darauf fiel mir keine Erwiderung ein.
»Und außerdem«, fuhr Ljudmila in leicht gereiztem Ton fort, »bin ich
nicht mehr Lisas Mutter.«
»Wie das?«
»Sehr einfach. Bei der Scheidung ist das Mädchen bei ihrem Vater
geblieben. Sie war damals ein Jahr alt. Kondrat hätte mir keine Abfindung
gegeben, wenn ich nicht auf mein Mutterrecht verzichtet hätte.«
»Eine Abfindung?« fragte ich ungläubig.
»Hören Sie, meine Liebe«, zischte die Safonowa, »Kondrat war ein
schrecklicher Schürzenjäger, ein Windhund, der keine Gelegenheit
ausgelassen hat. Er war mit mir verheiratet, wollte aber unbedingt dieses
kleine Miststück Katja Wawilowa. Ich durfte also meine Koffer packen.
Aber ich bin ja nicht blöd und habe eine Abfindung sowie monatlichen
Unterhalt verlangt. Kondrat wurde damals schon viel gedruckt und war
nicht knapp bei Kasse. Da hat er die Bedingung gestellt, daß unsere Tochter
bei ihm bleibt und ich offiziell auf das Erziehungsrecht verzichte, sonst gibt
es keine Kopeke. Was sollte ich denn machen? Die Kleine hatte es bei
ihrem Vater wirklich besser. Er konnte ihr alles bieten, was sie wollte. Ich
aber stand wie eine Bettlerin da … Klar?«
Sonnenklar. Sie hatte ihre Tochter verkauft und ließ sich’s wohl sein. Ich
legte auf. Aber was nun?
Nachdem ich fünf Minuten überlegt hatte, rief ich den Ermittler
Mitrofanow an und erklärte in herausforderndem Ton: »Ich muß mit Ihnen
reden.«
»Wer sind Sie überhaupt?« gab der Mann zurück.
»Romanowa, eine gute Freundin von Slawa Samonenko.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Slawa liegt mit Blinddarm im Krankenhaus.«
»Weiß ich.«
»Wann kann ich kommen?«
»Wozu denn?«
»Das kann ich Ihnen am Telefon nicht sagen!«
Ich wollte es spannend machen.
»Dann kommen Sie gleich«, entschied Mitrofanow.
Bald saß ich einem fülligen, kurzbeinigen Mann mit aufgeschwemmtem
Gesicht gegenüber. Entweder trank er heimlich, oder er hatte es mit den
Nieren. Die winzigen Äuglein verschwanden fast unter dichten, über der
Nase zusammengewachsenen Brauen. Die beginnende Glatze versuchte er
mit dünnem Haar von der Seite zu überkämmen. Die Lippen hatte er
abschätzig zusammengepreßt, was an einen Hühnerbürzel erinnerte. Mit
einem Wort, Mitrofanow gefiel mir gar nicht. Das beruhte offenbar auf
Gegenseitigkeit. Der Untersuchungsführer maß mich mit einem kalten
Blick und fragte dann sehr offiziell: »Womit kann ich dienen?«
»Ich bitte um die Genehmigung, mit Lena Rasumowa sprechen zu
dürfen.«
»Wozu denn das?«
Etwa zehn Minuten lang zählte ich alle Argumente her, die mir einfielen –
ohne Erfolg. Das änderte sich erst, als die Tür aufging und Lenja
Menschow ins Zimmer trat. Mit ihm bin ich nicht so befreundet wie mit
Slawa und Wolodja, aber wir sind alte Bekannte.
»Tanja? Was machst du denn hier?« fragte Menschow erstaunt. »Slawa ist
in der Botkin-Klinik, weißt du das schon?«
Ich nickte.
»Ihr kennt euch?« kam es von Mitrofanow verwundert.
»Klar«, lachte Lenja. »Das ist die Mutter von Slawas Sohn.«
Mitrofanow fiel fast vom Stuhl.
»Die Mutter seines Sohnes?!«
»Nur ein Scherz«, erklärte Lenja. »Tanja hat ein Mopspaar, und eines von
ihren Jungen, Walter, hat sie Slawas Frau geschenkt. Samonenko ist hin und
weg, nennt ihn bis heute sein ›Söhnchen‹ und schleppt sogar Fotos von ihm
mit sich herum. Hat er dir die noch nicht gezeigt? Walter auf dem Sofa,
Walter mit dem Ball, Walter, wenn er schläft …«
»Doch, doch«, brummte Mitrofanow.
Eine Stunde später wurde Lena hereingeführt. Mitrofanow nahm sich
demonstrativ eine Zeitung, raschelte aber nicht ein einziges Mal mit den
Blättern. Offenbar hörte er genau zu.
Lena wirkte deprimiert. Sie war nicht mehr blaß, sondern aschfahl und
roch etwas merkwürdig. Sie war geschminkt und trug das Haar aufgesteckt.
Als ich ihr von den Telefonaten mit ihren Bekannten und dem Gespräch mit
Lisas Mutter berichtet hatte, fragte sie gedehnt: »Glaubst du auch, daß du
eine Mörderin vor dir hast?«
Ich suchte nach der passenden Antwort.
»Ich weiß nicht allzuviel von dieser Sache.«
Lena kamen sofort die Tränen.
»Tanja, ich schwöre, ich habe Kondrat nicht umgebracht. Ehrenwort.«
Die so selbstbewußte Frau wirkte plötzlich wie ein unglückliches Kind,
das sich verlaufen hat.
»Das ist eine Verschwörung gegen mich. Ich habe Anton nicht gebeten,
Kondrat zu erschießen. Warum sollte ich damit ausgerechnet zu so einem
Waschlappen gehen?«
»Aber er sagt …«
»Man hat ihn dafür bezahlt!« erklärte Lena mit Nachdruck. »Geh hin und
nimm ihn dir mal richtig vor. Er wohnt Kolomenski Projesd 18.«
»Besuchszeit beendet!« warf Mitrofanow ein und faltete seine Zeitung
zusammen.
Lena griff nach meiner Hand und flüsterte ganz schnell: »Tanja, alle
meine Freunde haben mich verlassen, Verwandte habe ich nicht, mein
Anwalt ist ein Hohlkopf und tut nichts, hilf mir, geh zu Anton und biete ihm
Geld.«
Ein Milizionär trat ein.
»Rasumowa, los geht’s.«
Aber Lena blieb sitzen.
»Ich komm hier wieder raus, es soll dein Schaden nicht sein, nimm, was
du brauchst, aus dem Safe, nur hilf mir.«
»Rasumowa, Abmarsch«, kommandierte der Milizionär.
Sie erhob sich, ging bis zur Tür und wandte sich noch einmal um.
»Wenn du mich auch noch im Stich läßt, dann war’s das für mich. Du
siehst doch, was hier läuft.«
»Sind Sie überzeugt, daß sie eine Mörderin ist?« fragte ich Mitrofanow.
»Absolut«, antwortete der.
»Aber …«
»Es gibt kein Aber.«
»Sie bestreitet es doch!«
»Das tun alle …«
»Hören Sie …«
»Noch Fragen?« Der Ermittler verlor allmählich die Geduld. »Ich habe zu
tun!«
Ich schaute in das schwammige, abweisende Gesicht. Für Herrn
Mitrofanow war offensichtlich alles sonnenklar. Zu erschüttern war er nur
noch durch etwas ganz Außergewöhnliches, zum Beispiel das Geständnis
des wahren Mörders. Ich glaubte Lena, ich wußte selber nicht, warum. Ein
anderer würde das sicher kaum verstehen.
In einem kleinen Café, wo ich mir einen Becher abscheulichen Kaffees
und ein wunderbares Mohnbrötchen gönnte, faßte ich einen Entschluß. Lisa
sollte bei mir bleiben. Sie hatte sonst niemanden. Außerdem wollte ich alles
tun, um Kondrats Mörder zu finden. Ich konnte einfach nicht glauben, daß
eine Mutter es fertigbringt, ihrem kleinen Sohn kaltblütig eine geladene
Waffe in die Hand zu drücken. Selbst wenn sie ihren Mann haßt und eine
ganze Horde Liebhaber hat. Das tut keine Mutter, weil sie fürchten muß,
daß das Kind selbst Schaden nimmt. Und Lena liebt Wanja abgöttisch. Ja,
sie ist eine große Müßiggängerin, die nur ihr Vergnügen im Sinn hat – bis
Mittag schlafen und bis Mitternacht ausgehen. Ja, sie hat eine Kinderfrau
angestellt und sich nicht selber um den Jungen gekümmert. Aber sie liebt
ihn sehr. Ich habe gesehen, wie sie ihn umarmt und küßt … Und warum
sollte sie Kondrat umbringen? Inzwischen kannte ich diese Familie ganz
gut. Offenbar verbrachte der Schriftsteller nicht viel Zeit mit seiner Frau.
Wer weiß, was für ein Verhältnis sie früher zueinander hatten, aber zuletzt
war es ruhig, friedlich und ohne große Leidenschaften gewesen. Die
Eheleute schliefen getrennt. Schon die vielen Gäste ließen kaum
romantische Zweisamkeit zu. Doch offenbar waren beide Seiten mit dieser
Lage der Dinge ganz zufrieden. Außerdem, wer schlachtet schon ein Huhn,
das goldene Eier legt? Genau das war Kondrat für Lena. Zwar hatte sie in
der Tat von seinen neuen Romanen, dem versteckten Geld, der riesigen
Wohnung gesprochen, aber …
Lena war nicht dumm und wußte genau, daß es in dieser Gesellschaft
besser war, die Gattin eines Schriftstellers zu sein als seine Witwe. Denn
alle, die ihr beim Leichenschmaus noch ewige Treu schworen, hatten ihr
Versprechen, Telefonnummer, Adresse und sogar ihren Namen schon am
nächsten Tag vergessen. Sie könnte ja plötzlich kommen und ein Anliegen
haben. Lenas Verhaftung war ein endgültiger Schlußstrich.
Sie hatte tatsächlich nur noch mich. Ich war bei ihr angestellt, einen
Monat im voraus gut bezahlt und blieb damit ihre Haushälterin. Wenn also
meine Arbeitgeberin mich bat, Anton Semjonow aufzusuchen, dann war ich
verpflichtet, ihre Anordnung auszuführen.
Während ich immer noch nach Argumenten für meinen Entschluß suchte
und die Telefonkarte in den Automaten steckte, gestand ich mir endlich ein:
Ja, ich mochte Lena. Außerdem war es nicht meine Art, Menschen im
Unglück im Stich zu lassen. Und … dieser Fall hatte mich einfach gepackt.
»Hallo«, erklang im Hörer Lisas Stimme.
»Mach dir keine Sorgen, ich bin in zwei Stunden wieder da.«
»Ist gut«, antwortete das Mädchen bedrückt.
»Nimm dir was zu essen aus dem Kühlschrank.«
»Mach ich.«
Ich mußte mir dringend etwas einfallen lassen. Lisa hatte wirklich Angst,
allein in der Wohnung zu bleiben.
Das Haus Kolomenski Projesd Nr. 18 benötigte dringend eine Sanierung.
Die Haustür hing bedrohlich in einer einzigen Angel. Wahrscheinlich wollte
die Stadt kein Geld mehr ausgeben, denn der fünfstöckige Bau schien auf
die Abrißbirne zu warten.
In Antons Wohnung hörte niemand. Ich ließ mich im Treppenhaus auf
einem Fensterbrett nieder und steckte mir eine Zigarette an. In der
Wohnung gegenüber ging die Tür auf, und ein Teenager schaute heraus.
»Willst du dich hier niederlassen?«
Ich ignorierte den unhöflichen Ton und antwortete: »Ich warte auf Anton.
Wissen Sie nicht, wo er ist?«
Der Bursche kam heraus, kratzte sich am Kopf und sagte: »Zigaretten
holen gegangen, wollte mir auch welche mitbringen. Gibst du mir eine?«
»Das sind ›Vogue‹, mit Menthol.«
»Das reine Gift«, kommentierte der Nachbar. »Aber in der Not …«
Er steckte sich das Stäbchen an, drückte es aber nach wenigen Zügen
wieder aus.
»Schmeckt nicht?« fragte ich schadenfroh.
»Brrr!« knurrte der Junge. Dann wies er mit dem Finger zum Fenster
hinaus. »Da kommt Anton. Hoffentlich hat er ›Marlboro‹ gekriegt.«
Draußen überquerte ein großer, schlanker Bursche in schwarzer Jacke mit
mäßigem Schritt die breite Fahrbahn.
»Da kommt ja Ihr Kavalier«, spottete der Nachbar.
»Wieso Kavalier?« fragte ich mäßig interessiert. Aber ich erhielt keine
Antwort.
Plötzlich schoß aus einer Seitenstraße ein großer schwarzer Wagen in
Antons Richtung. Der dachte sich nichts Schlimmes und blieb mitten auf
der Straße stehen. Das Auto jagte direkt auf ihn zu. Anton tat einen Satz in
Richtung Gehsteig, aber der Fahrer war schneller. Ein dumpfer Aufprall.
Wir starrten mit offenem Mund auf die Szene. Der Mörderwagen wendete
mit quietschenden Reifen und entschwand über die breite Chaussee. Die
dunkle Gestalt blieb neben der Bushaltestelle liegen.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürzte ich auf die Straße. Vor Schreck
hätte ich beinahe laut aufgeschrieen. Antons Schädel war in der Mitte
gespalten, und etwas widerwärtig Gelbliches war zu sehen. Um ihn herum
bildete sich langsam eine große Pfütze, die bordeauxrot und bald beinahe
schwarz wirkte. Die Hand des Toten umkrampfte eine Stange Zigaretten.
Ich sah noch, daß es »Marlboro« waren, dann aber schrie ich auf: »Warum
hilft mir denn keiner?«
Langsam kam eine Menschenmenge zusammen. Endlich erschien die
Miliz. Eine strenge Beamtin von etwa vierzig Jahren stellte mir Fragen:
»Die Autonummer?«
»Hab ich nicht erkannt.«
»Farbe?«
»Ich glaube, schwarz.«
»Marke?«
»Weiß ich nicht, sah von hinten so quadratisch aus.«
Die Polizistin seufzte, notierte meine Personalien und erklärte dann: »Sie
können gehen.«
Mit watteweichen Knien schleppte ich mich zur Metro, stieg ein, setzte
mich in die hinterste Ecke des Wagens und schloß die Augen. Ich wurde das
Bild nicht los: Das heranjagende Auto, das den Mann wie einen Baum
fällte. Das war kein Unfall, sondern kaltblütiger Mord. Der Fahrer hätte
ohne weiteres ausweichen können. Vielleicht hatten seine Lenkung oder
seine Bremsen versagt? Aber so schnell, wie er vom Ort des Geschehens
geflüchtet war, konnte man auch das ausschließen.
Noch ziemlich benommen, betrat ich die Wohnung und rief sogleich:
»Lisa, du hast bestimmt Hunger!«
Die Gerufene erschien aus der Küche und erklärte stolz: »Nein. Ich habe
Suppe gekocht.«
»Waaas?«
»Suppe«, wiederholte Lisa strahlend. »Probier mal, ich habe zwei Teller
gemacht.«
Mir stieg ein Geruch nach Essen in die Nase.
In der Küche nahm Lisa stolz den Deckel von einem Topf und
verkündete: »Ich glaube, sie ist mir gut gelungen.«
Ich erblickte ein Gebräu in Grau, Gelb und Orange, in dem verdächtige
rosafarbene Stückchen schwammen.
»Nur saure Sahne fehlt noch«, sagte Lisa seufzend. »Wir haben keine im
Haus. Weißt du nicht, wo man saure Sahne kaufen kann?«
»Im Lebensmittelgeschäft an der Metrostation«, antwortete ich
mechanisch. Vorsichtig rührte ich mit einem Löffel in dem Topf und fragte:
»Was ist in der Suppe?«
»Würstchen«, teilte Lisa bereitwillig mit.
»Woher hast du die?«
»Lagen im Kühlschrank«, plapperte Lisa weiter und berichtete
ausführlich, wie sie vorgegangen war.
Sie wollte unbedingt Suppe kochen. Da sie nicht wußte, wie sie das
anfangen sollte, griff sie zum Kochbuch. Dort stand, man brauche dafür
eine gute Fleischbrühe. Im Kühlschrank fand sie kein Fleisch, nur eine
einsame Packung tiefgefrorener Würstchen, die schon seit ewigen Zeiten
dort lagen. Bei dem Durcheinander war ich mehrere Tage nicht zum
Einkaufen gekommen, und unsere Vorräte gingen zur Neige.
Würstchen sind auch Fleisch, dachte sich Lisa und schnitt sie klein. Dann
gab sie Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln, ein paar Nudeln und Graupen in den
Topf und schließlich Tomatenmark, um den Geschmack zu verfeinern. Die
Mischung war gar nicht schlecht geraten. Nur schade, daß die saure Sahne
fehlte, die in jede russische Suppe gehört.
Als ich Lisas strahlendes Gesicht sah, schöpfte ich Suppe in meinen Teller
und begann tapfer zu essen. Dabei erklärte ich verzückt: »Hm, schmeckt
das gut. Du bist ja richtig begabt, Lisa.«
Sie schlug bescheiden die Augen nieder und bat: »Bringst du mir bei, wie
man Tee macht? Aber nicht aus Beuteln, sondern richtigen.«
»Kein Problem«, antwortete ich und griff nach der Teedose.
Da schoß mir ein Gedanke durch den Kopf, und ich fragte erschrocken:
»Lisa, wie hast du denn das Gas angezündet?«
Sie seufzte auf.
»Das war das Allerschwerste. Ich habe an den Knöpfen gedreht und
gedreht, aber es tat sich nichts. Dann habe ich mir aus dem Arbeitszimmer
ein Feuerzeug geholt, ein Stück Zeitungspapier angezündet und an den
Brenner gehalten. Wie wird es denn richtig gemacht?«
»Ganz einfach«, antwortete ich erleichtert. »Du brauchst nur hier zu
drehen und auf das Knöpfchen zu drücken. Achtung, los!«
Der eingebaute Zünder knackte, und schon schossen blaue Flämmchen
aus dem Brenner.
»Bin ich blöd«, meinte Lisa ehrlich. »So eine dumme Gans gibt’s nicht
noch mal auf der Welt!«
Ich sagte nichts, sondern ließ Wasser in den Teekessel laufen. Dann
bekannte ich: »Weißt du, Lisa, ich war mal genauso dumm.«
»Du?« fragte sie verwundert.
»Es ist noch nicht lange her, da konnte auch ich rein gar nichts«, seufzte
ich. »Das Gas habe ich übrigens beim ersten Mal genauso angezündet.
6. Kapitel
Lisa und ich saßen bis Mitternacht beisammen und redeten darüber, wie es
mit uns weitergehen sollte. Dabei kamen wir zu mehreren Entschlüssen
von strategischer Bedeutung. Zwei Frauen brauchten nicht viel Platz. Viele
Zimmer fordern viel Zeit, um sie sauber zu halten. Daher wollten wir
fortan nur noch mein Schlafzimmer, Lisas Kinderzimmer, Wohnzimmer,
Küche und ein Bad mit Toilette benutzen. Die übrigen Räume, wo wir
nichts zu suchen hatten, wurden verschlossen. Die Hauslehrer wollte ich
abbestellen. Lisa sollte in eine staatliche Schule gehen, wo sie endlich auch
Freunde finden konnte.
»Wer wird mich denn nehmen?« fragte das Mädchen .
»Warum bist du überhaupt zu Hause unterrichtet worden?« erkundigte ich
mich.
Sie seufzte bedrückt auf. Zuerst war sie in einem College gewesen, wo sie
es bis zur zweiten Klasse geschafft hatte. Aber da man dort zu viel Geld
forderte, blieben die Schüler bald aus. Daraufhin schickte Rasumow sein
Töchterchen auf eine amerikanische Schule. Dort unterrichteten Lehrer aus
Washington nicht nur in ihrer Muttersprache, sondern auch die
entsprechenden Fächer – Geschichte, Literatur und Geographie Amerikas.
Als Kondrat Lisa nach einem ganzen Jahr zufällig über die Schule
ausfragte, fiel er fast vom Stuhl. Das Mädchen kannte zwar Dreiser, hatte
aber noch nie etwas von Lermontow gehört. Auch auf Russisch schreiben
und lesen konnte sie kaum. Hals über Kopf schickte der Vater sie in eine
andere Schule. Als Schriftsteller wünschte er natürlich, daß seine Tochter in
Liebe zur eigenen Muttersprache entbrannte. Daher fiel er nun ins andere
Extrem und steckte Lisa in ein slawisches Institut für höhere Töchter. Dort
gingen die Schülerinnen in Trachtenröcken einher, lernten sticken, singen,
tanzen und dichten. Außerdem gab es zweimal wöchentlich Unterweisung
in der Heiligen Schrift. Der Pope, der die Stunden erteilte, ängstigte die
Kinder mit den Flammen der Hölle. Zur Fastenzeit gab es am Buffet keine
Fleischgerichte, und morgens begann man den Unterricht mit einem Gebet.
Als Kondrat hörte, wie Lisa vor dem Essen ein Vaterunser murmelte,
wurde er wütend und nahm seine Tochter auch von dieser Schule, weil er
»in der Familie keine Nonne haben« wollte, wie er sagte. Als er seinerseits
Lisa ins Gebet nahm, wurde ihm klar, daß es in dem Köpfchen seiner
Tochter sehr durcheinander ging. Sie konnte alle kirchlichen Feiertage
hersagen, von den Leiden der ersten Christen erzählen und die
Basiliuskathedrale im Kreuzstich sticken. Statt russischer Märchen kannte
sie nur Heiligengeschichten. Das kleine Einmaleins und die einfachsten
Regeln der Rechtschreibung waren ihr fremd. Nun meinte Kondrat, eine
Schule mit verstärkten Naturwissenschaften sei das Richtige für sein Kind.
Eine solche fand sich aber nur draußen im Moskauer Gebiet. Lisa wurde
also früh am Morgen zur Schule gefahren und gegen acht Uhr abends
zurückgebracht. In diesem Lyzeum gab es alles – ein Schwimmbad,
Ponyreiten, ein Drei-Gänge-Menü zum Mittagessen und rhythmische
Gymnastik … Nur das versprochene Wissen erhielt sie auch dort nicht. Eine
Unterrichtsstunde dauerte nur 30 Minuten, um die Kinder nicht zu
überfordern. Viel Wert wurde auf Abhärtung gelegt. Sommer wie Winter
trieb man die Kinder barfuß zur Morgengymnastik auf den Schulhof. Und
tatsächlich hatte Lisa während der zwei Jahre, die sie in diesem Sanatorium
zubrachte, keinen einzigen Schnupfen. Aber das kleine Einmaleins
beherrschte sie immer noch nicht. Zwar warb das Lyzeum mit dem Spruch
»Wir lehren die beste Mathematik in ganz Rußland«, das kleine Einmaleins
jedoch hatten sie dort erst in der achten Klasse.
Nach all diesen Versuchen gab es Kondrat auf, für sein Kind eine gute
Schule zu finden. Er engagierte Lehrer, die Lisa zu Hause unterrichteten.
»Hast du nie versucht, in eine ganz normale städtische Schule zu gehen?«
fragte ich.
»Dort sitzen vierzig Kinder in einer Klasse, und die Lehrerin prügelt mit
dem Zeigestock«, erklärte Lisa, was sie von anderen gehört hatte.
»Das kann es schon geben«, stimmte ich zu. »Weißt du was, morgen
gehen wir in die Schule, in der Kira war. Sie ist gar nicht weit von hier –
nur eine Station mit der Metro. Das schaffst du allein.«
»Ich?« fragte Lisa erschrocken. »Ich soll allein auf die Straße gehen! Und
wenn ich vergewaltigt werde? Mädchen dürfen nicht ohne Begleitung auf
die Straße.«
»Na, hör mal!« rief ich empört. »Ich lebe schon etwas länger als du und
bin bis jetzt noch nicht vergewaltigt worden.« Dann fügte ich hinzu: »Zum
Glück.«
Am nächsten Morgen standen wir früh auf und gingen zu Kiras Schule.
Seine Klassenlehrerin Ljudmila Iwanowa hieß bei allen nur »die Nette«,
was durchaus zutraf. Sie unterrichtet Mathematik, und das mit einer
Engelsgeduld. Wenn sie den Schülern die Gesetze dieser schwierigen
Wissenschaft erklärt, kaut sie ihnen die so lange vor, bis sie sie nur noch zu
schlucken brauchen.
Wir kungelten mit ihr ein wenig im Lehrerzimmer und gingen dann
gemeinsam zum Direktor. Gegen elf verließ ich erleichtert die Schule. Lisa
hatte ich versprochen, sie um fünf Uhr abzuholen.
Nun wollte ich die Zeugin Angelina Brit aufsuchen, die so passend zu
Lenas Gespräch mit Anton gekommen war, um alles mit anzuhören. Ihre
Angaben erschienen mir sehr seltsam. Warum sollten die beiden im
Korridor direkt hinter der dünnen Wohnungstür laut über einen Mord
geredet haben? Warum hatten sie das nicht im Zimmer getan, wo kaum
jemand hätte mithören können? Außerdem war ich auf ihren, zugegeben,
recht seltenen Namen gestoßen, als ich Lenas Telefonbüchlein
durchblätterte.
Auf meinen Anruf meldete sich eine junge Frauenstimme.
»Ist Angelina zu sprechen?«
»Am Apparat.«
»Wir müssen uns treffen.«
»Weshalb?« fragte sie verständlicherweise.
Ich schwankte eine Sekunde, beschloß dann aber, nicht gleich mit der Tür
ins Haus zu fallen.
»Haben Sie Bekannte im Ausland?«
»Ja«, antwortete Angelina treuherzig. »Shenja Feigenberg in Israel.
Warum?«
»Sie hat ihnen ein Päckchen geschickt. Das soll ich Ihnen übergeben.«
»Toll«, jubelte Angelina auf. »Shenja hat meinen Geburtstag nicht
vergessen! Könnten Sie vielleicht zu mir kommen? Entschuldigen Sie, ich
bin im Moment nicht ganz gesund.«
Dann, aus Furcht, ich könnte mich weigern, in ein Haus mit Grippe zu
kommen, fügte sie rasch hinzu: »Nichts Schlimmes, eine kleine
Rippenfellentzündung. Ich war nach der Sauna zu lange im Tauchbecken,
und da hat es mich erwischt.«
»Na schön«, erwiderte ich ungnädig. »Wenn’s denn sein muß! Geben Sie
mir schon Ihre Adresse.«
Als ich bei Angelina ankam, war ich ganz außer Atem. Bei mir hatte ich
etwas, das das Päckchen ihrer Freundin sein sollte. Das zu fabrizieren war
nicht allzu schwer. In einem Schuhgeschäft bat ich um einen leeren Karton,
stopfte altes Zeitungspapier hinein und hüllte ihn in hübsches
Geschenkpapier. Ich wollte Angelina das Mitbringsel gleich an der Tür in
die Hand drücken. Sicher machte sie es nicht gleich auf, sondern bat mich
hoffentlich auf eine Tasse Kaffee herein. Dann würde ich sie schon
irgendwie auf das Thema lenken, das mich interessierte.
Aber es kam anders. Angelina, eine hübsche, große Brünette, klatschte bei
meinem Anblick in die Hände und rief: »Jetzt habe ich Ihnen aber
Umstände gemacht! Erst bringen Sie mir ein Päckchen aus Israel mit, und
nun liefern Sie es auch noch frei Haus. Trinken Sie wenigstens eine Tasse
Kaffee mit mir?«
Froh, daß alles so glatt ging, nickte ich und wurde sogleich in eine helle
Küche voller Nippsachen, Figürchen und Schleifchen bugsiert.
»Setzen Sie sich doch bitte«, flötete die Besitzerin liebenswürdig und
schaltete den Wasserkocher ein. »Sie nehmen doch sicher ein Stück von
meiner Napoleon-Torte.«
Ich atmete schon ein wenig ruhiger, da geschah etwas Unerwartetes. Mit
den Worten: »Nun wollen wir doch mal sehen, was Shenja mir geschickt
hat!« riß Angelina mit einer raschen Handbewegung das Geschenkpapier
auf, nahm den Deckel von der Schachtel und starrte entgeistert auf das
Knüllpapier.
»Was ist denn das?« rief sie verblüfft. »Ist Shenja verrückt geworden?«
»Nein«, antwortete ich. »Ihre Freundin kann für dieses Päckchen nichts.«
Da knackte der Schalter des Wasserkochers, und Angelina sprang auf.
»Wer sind Sie?«
»Tatjana Romanowa.«
»Was wollen Sie von mir?« fragte sie erschrocken. »Wer hat Sie
geschickt?«
»Niemand«, sagte ich lächelnd. »Ich muß Sie etwas fragen.«
»Was denn?« fragte Angelina und wurde blaß.
»Warum haben Sie dem Ermittler vorgelogen, Sie hätten ein Gespräch
Lena Rasumowas mit Anton Semjonow belauscht?«
Angelina wurde erst kreidebleich und dann puterrot. Dunkle Flecken
erschienen auf Wangen, Stirn und Hals. Das passiert Frauen eigentlich nur
im Klimakterium. Ihr war heiß. Die kleinen Schweißperlen, die auf ihrer
Oberlippe erschienen, leckte sie mit einer raschen Zungenbewegung ab. Bei
ihren zwanzig, fünfundzwanzig Jahren konnte es kaum das Klimakterium
sein. Sie hatte sich einfach zu Tode erschrocken und war einer Ohnmacht
nahe.
»Nun, meine Liebe?« säuselte ich, so liebenswürdig ich konnte. »Sagen
wir jetzt die Wahrheit, oder fahren wir zusammen zum Ermittler ins Büro?
Sie wissen doch, daß Falschaussage strafbar ist? Im schweren Fall kann es
dafür fünfzehn Jahre geben.
»Wieviel?« stammelte das Dummchen bestürzt. Vom Strafgesetzbuch
hatte sie sicher noch nie etwas gehört. »Wieviel?«
»Eine Menge«, sagte ich, schon etwas milder gestimmt. »Aber wer am
Ende die Wahrheit sagt, kommt unter Umständen mit einer Verwarnung
davon.«
»Wer sind Sie?« Das zu fragen fiel ihr erst jetzt ein.
»Ich arbeite als Privatdetektivin für den Anwalt von Lena Rasumowa«,
erklärte ich in aller Ruhe. Und da ich sah, daß sich Angelina noch immer
nicht von dem Schreck erholt hatte, fügte ich hinzu: »Gibt es bei Ihnen nun
einen Kaffee? Eigentlich ist mir ja Tee lieber, aus Ceylon und große
Blätter.«
»Aus Ce… Ceylon habe ich keinen«, stammelte Angelina. »Nur ›Liptons‹
im Beutel.«
»Auch gut«, beschied ich sie gnädig und erklärte: »Das hören Sie sicher
nicht gern, aber ich habe schon eine Menge herausbekommen und rate
Ihnen, reinen Tisch zu machen.«
Mit zitternden Händen wollte Angelina die Packung öffnen, aber ihre
Nägel glitten immer wieder an dem festen Zellophan ab. Ich nahm ihr die
Schachtel aus der Hand, holte zwei Beutel heraus, legte sie in die Tassen
und befahl: »Gießen Sie auf.«
Angelina nahm den Wasserkocher, und ein dünner, dampfender Strahl
ergoß sich in die Tassen. Mich ärgerte, daß sie schwieg, und ich holte mein
letztes Argument hervor.
»Lügen ist gefährlich. Anton hat gelogen. Und was meinen Sie, wo er
jetzt ist?«
»Wo denn?« fragte Angelina aufgeregt.
»Im Leichenschauhaus auf dem Seziertisch mit den Ablaufrinnen …«
»Wozu denn die Ablaufrinnen?« fragte sie mechanisch.
»Beim Aufschneiden muß doch das Blut ablaufen«, erläuterte ich trocken.
Angelina setzte den Wasserkocher ab und sank dann wortlos auf den
Teppich nieder. Ich sprang herzu und stellte fest, daß sie das Bewußtsein
verloren hatte. Ich erlebte zum ersten Mal, daß man etwas ordentlich
abstellte, bevor man in Ohnmacht fiel. Wahrscheinlich war mein letzter Satz
zu viel für sie gewesen. Ich machte mir Vorwürfe deswegen. Dann öffnete
ich meine Handtasche und kippte den Inhalt auf den Tisch. Kamm,
Schlüssel, Puderdose, zwei Bonbons, Portemonnaie, Lippenstift,
Kugelschreiber … Da war es schon. Vor kurzem hatte mir Kira einen
Mundspray geschenkt.
»Tolles Ding«, hatte er dabei erklärt. »Auf Knopfdruck ›Winterliche
Frische‹ im Mund. Probier mal, Tanja, wo du so viel rauchst!«
Ich rauche eigentlich wenig und nicht regelmäßig. Aber das Geschenk
hatte ich dankbar angenommen und sogleich ausprobiert. Ehrlich gesagt,
etwas Widerwärtigeres ist mir noch nicht begegnet. Ich hatte sofort eine
Menge bitteren Speichels im Mund und auf der Zunge den Geschmack von
billiger Zahnpasta. Kindheitserinnerungen kamen hoch: Mama hatte mich
nach jedem Bonbon gezwungen, mir die Zähne mit bulgarischer Zahnpasta
Marke »Pomorin« zu putzen. Danach hatte ich den ganzen Tag einen
Geschmack von salzigem Kalk im Mund.
Den Mundspray hatte ich nie wieder benutzt, schleppte ihn aber aus
unerfindlichem Grunde in meiner Handtasche herum. Jetzt konnte er von
Nutzen sein.
Ich drückte Angelina die Kinnlade herunter, steckte ihr den Spray
zwischen die Lippen und drückte ein paarmal auf den Knopf. Die ganze
Küche roch nach Minze. Das Mädchen regte sich und setzte sich auf.
Vielleicht hatte sie gehofft, der ungebetene Gast sei verschwunden und das
Ganze nur ein schlechter Traum. Aber ich war immer noch da. Saß neben
ihr auf dem Küchenboden und spürte durch die Hose die Wärme, die von
den Fliesen ausging. Dieses Weib hatte sogar Fußbodenheizung!
»Anton ist also tot«, flüsterte Angelina.
»Man hat ihn ermordet«, erklärte ich.
»Wie ist das passiert?«
»Sie haben ihn mit dem Auto überfahren.«
Angelina brach in Tränen aus. Unter Schluchzen preßte sie einzelne Worte
hervor, die allmählich ein Bild ergaben.
Sie arbeitete bei der Zeitung »Welt der Literatur«, rezensierte
Neuerscheinungen und interviewte Autoren.
In Rasumows Haus ging sie ein und aus und hatte ihn schon mehrfach
interviewt. Lena kannte sie flüchtig. Sie wußte nur, daß sie Kondrats Frau
war. Wenn sie sich irgendwo begegneten, grüßten sie sich freundlich. Nur
einmal, im Dezember, hatten sie miteinander telefoniert. Rasumow gab im
Haus der Schriftsteller einen rauschenden Empfang zu seinem 50.
Geburtstag, und Madame lud die Gäste ein. Offenbar hatte Lena alle
Journalisten angerufen, die sie kannte, denn um die riesigen Tische, die sich
unter Fisch, Fleisch und Kaviar bogen, drängten sich die Reporter, und der
Jubilar strahlte im Blitzlichtgewitter. Kondrat hatte begriffen, daß man die
schreibende Zunft ordentlich bewirten mußte.
Vor einigen Tagen hatte Angelina einen Anruf erhalten. Eine Stimme, die
einem Mann oder einer Frau gehören konnte, fragte sie: »Willst du dir 5000
Dollar verdienen?«
»Natürlich«, erwiderte sie verblüfft. »Was muß ich dafür tun?«
Sie gehörte nicht zu den Stars unter den Journalisten und brauchte ständig
Geld.
»Du hast doch einen Computer mit Internetanschluß«, stellte der Anrufer
mehr fest, als er fragte. »Schreib dir die Website auf und klicke sie sofort
an. In einer halben Stunde melde ich mich wieder.«
Angelina legte auf und schaute auf das Display ihres Telefons. Dort war
nur eine 8 zu sehen, was bedeutete, daß der Anruf aus einer Telefonzelle
gekommen war.
Ohne zu begreifen, was vorging, suchte sie die Website auf und las, was
dort stand.
Die Aufforderung zum Lügen erschreckte sie zunächst. Anton kannte sie
gut.
»Woher?« erkundigte ich mich.
Sie seufzte auf.
»Wir haben an der Journalistikfakultät zusammen studiert.«
»Hat er als Korrespondent gearbeitet?«
Angelina meinte: »Na ja, als freier Reporter auf Honorarbasis.«
»Wo?«
»Hier und da, hat er gesagt. Aber das war gelogen.«
»Wieso?«
»Anton war ein hübscher Kerl.« Angelina wurde nun etwas deutlicher.
»So ein niedlicher, süßer Lockenkopf – das reine Schokoladenbonbon. Er
wurde von seinen reichen Geliebten ausgehalten. Eine hat ihm die
Wohnung gekauft, eine andere das Auto, eine dritte ein paar
Möbelstücke … Vor allem bei älteren Damen war er nicht zu schlagen. Er
ging von Hand zu Hand – wie ein Wanderpokal.«
»Tatsächlich?« Ich heuchelte Interesse.
»Na klar«, kicherte Angelina. »Wenn ich sie alle aufzähle, werden wir
heute nicht mehr fertig – Soja Raschidowa, Swetlana Bulgakowa … Lena
Rasumowa paßt da überhaupt nicht ins Bild. Ich bezweifle stark, daß sie je
was mit Anton hatte.«
»Meinen Sie?«
»Anton hat sich nur an Opfer über vierzig rangemacht«, berichtete
Angelina. »Er hat gemeint, sie sind dankbarer als junge. Viele denken, es ist
ihr letztes Liebesabenteuer, und sind daher ungemein großzügig. Aber
Lena …«
»Was ist mir ihr?« drängte ich.
»Es heißt, sie hätte was mit Juri Gryslow. Man sieht sie in der Tat
ziemlich oft Arm in Arm …«
Ich zuckte die Schultern. Das mußte noch gar nichts bedeuten. Unter
Künstlern und Schriftstellern wurde doch ständig umarmt und geküßt.
Kaum hatte Angelina unter der angegebenen Internetadresse gelesen, was
man von ihr wollte, da klingelte schon wieder das Telefon.
»Ich möchte das nicht …«, stammelte sie.
Aber die undefinierbare Stimme ließ sie nicht ausreden und herrschte sie
an: »Geh runter und schau in den Briefkasten!«
Sie tat, wie ihr geheißen. In ihrem Briefkasten lag ein ganz gewöhnliches
weißes Kuvert ohne Anschrift. Sie ging wieder hinauf, schloß die Tür hinter
sich und öffnete den Umschlag. Darin lagen fünfzig druckfrische
Hundertdollarscheine. Sie raschelten angenehm zwischen den Fingern.
Schon wieder schrillte das Telefon.
»Treib dich jetzt nicht draußen herum, sondern bleib, wo du bist«, ordnete
der »Auftraggeber« an.
»In den nächsten Tagen erfährst du, was zu tun ist.«
»Ich will nicht«, antwortete sie.
»Dann leg das Geld zurück«, kam es aus dem Hörer.
»Und wenn nicht?« Angelina kicherte töricht.
»Du stehst gerade am Tisch«, kam es monoton vom anderen Ende, »in
Jeans und rosa T-Shirt. Jetzt hast du dich hingesetzt und stocherst im Ohr.«
»Sie können mich sehen?« entfuhr es Angelina.
»Wie auf dem Präsentierteller«, erklärte der Unbekannte. »Versuch also
nicht erst, die Kohle verschwinden zu lassen. Überleg’s dir. Ich rufe in einer
Stunde wieder an.«
Der »Auftraggeber« kannte Angelina offenbar gut. Eine Stunde lang
wußte sie nicht, was sie tun sollte. Immer wieder blätterte sie die Scheine
durch. Die Fenster hatte sie jetzt allerdings zugezogen. Sie war von dem
Bündel Banknoten geradezu hypnotisiert. Vor kurzem hatte sie sich einen
Nutriamantel gekauft und steckte nun tief in Schulden. Da sie häufig mit
prominenten Autoren und ihren aufgedonnerten Frauen zu tun hatte, konnte
sie nicht ständig in ihrem abgeschabten Schafpelz erscheinen. Im Frühjahr
und im Herbst tat es auch eine schwarze Wolljacke. Zum Glück liefen alle
gerade wie Teenager herum. Aber wenn sie im Winter damit aufkreuzte,
war sie nicht modisch, sondern einfach ärmlich gekleidet. Eine Dame hatte
im Dezember im Pelz zu erscheinen, möglichst Nerz oder Chinchilla.
Nutria war das mindeste.
Sie hatte sich einen ganzen Tausender borgen müssen. Das bedrückte sie
schwer. Zwar drängte sie ihre Freundin nicht mit der Rückzahlung, aber sie
fühlte sich sehr unwohl dabei. Als sie den Mantel kaufte, hatte sie beinahe
schon einen Auftrag des französischen Journals »Femme« in der Tasche
gehabt, die in Moskau auf Russisch herauskommen sollte. Der
Chefredakteur wollte eine Serie von zehn Interviews mit den Frauen
berühmter Schriftsteller haben. Für jedes sollte es 150 Dollar geben. Daher
hatte Angelina leichten Herzens nach dem Pelz gegriffen. Dann aber platzte
die Sache im letzten Moment, und sie stand mit leeren Händen da.
Da kam dieses Angebot wie ein Geschenk des Himmels. Nachdem
Angelina eine Stunde lang mit ihrem Gewissen gerungen hatte, war sie zu
allem bereit. Dieses Angebot konnte sie nicht ausschlagen! So schnell
würde man Lena nicht anklagen. Immerhin lief ja die Ermittlung. Sie
konnte ihre Schulden zurückzahlen und wollte dann für einen Monat nach
Dubai verschwinden, um sich von dem Streß zu erholen. Sie war bereit, zu
sagen, was man von ihr verlangte. Daß auch Anton verhört werden könnte,
kam ihr nicht in den Sinn. Und Lena Rasumowa konnte sie auf den Tod
nicht leiden. Die war immer nur im Glanz ihrer Brillanten und in einer
Wolke französischen Parfüms an ihr vorbeigeschwebt, hatte ihr höchstens
von oben herab zugenickt …
Ich warf Angelina einen mitleidigen Blick zu.
»Du steckst ziemlich tief in der Tinte.«
»Was soll ich denn jetzt machen?« fragte Angelina und schluchzte auf.
Ich dachte nach. Erst jetzt fiel mir ein, daß auch Anton sicher Geld von
diesem Unbekannten erhalten hatte. Leider konnte er mir das jetzt nicht
mehr bestätigen. Plötzlich brach mir kalter Schweiß aus. Herr im Himmel,
vielleicht hatten sie ihn umgebracht, damit er nichts ausplauderte?
7. Kapitel
Am Montag Punkt neun stand ich vor Angelinas Tür. Zuerst begriff ich
nicht, was für ein Papier daran klebte. Dann schaute ich genauer hin und
erschrak. Die Wohnung der geldgierigen Dame war versiegelt!
Eine ungeheuerliche Ahnung stieg in mir auf. Ich klingelte bei den
Nachbarn. Ein junges Mädchen mit einem winzigen Säugling auf dem Arm,
der wie eine Puppe wirkte, schaute heraus.
»Sind Sie von der Poliklinik? Das ging aber schnell.«
»Nein. Sagen Sie bitte, wissen Sie nicht, wo Angelina hingegangen ist?«
Das Mädchen wollte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und
hätte beinahe ihr Baby fallen lassen.
»Wie? Das wissen Sie noch nicht?«
»Was ist denn passiert?«
»Sie ist ermordet worden, schon am Sonnabend! So ein Unglück! Ich
habe sie übrigens gefunden«, kam es von der Nachbarin wie aus der Pistole
geschossen. »Unglaublich, so etwas.«
»Wie, ermordet?« fragte ich kaum hörbar und suchte Halt am Türrahmen.
»Wer hat das getan? Sie wollte doch niemandem aufmachen!«
»Wer sind Sie denn überhaupt?« fragte das Mädchen vorsichtig.
»Ihre Cousine«, log ich mechanisch.
»So ein Unglück!« erregte sich die junge Mutter aufs neue. »Und Sie
wissen von nichts!«
»Wir wollten heute zusammen einkaufen gehen«, erklärte ich, von der
Nachricht ganz erschlagen. »Deswegen bin ich hier.«
»Kommen Sie rein, ich erzähle Ihnen alles der Reihe nach«, sagte die
Nachbarin mitleidig.
Ihre Wohnung war wie die Angelinas, aber sie starrte vor Schmutz. Dort
blitzte die Küche und war mit allerlei Nippes geschmückt. Hier dagegen
schmutzige Lappen, leere Konservendosen, ungewaschene Töpfe und ein
speckiger Kühlschrank. Die junge Frau setzte ihren Kleinen in ein
Kinderstühlchen, griff nach einer Tasse mit der Aufschrift »Marina« und
fragte: »Trinken Sie einen Kaffee mit?«
Am liebsten hätte ich geantwortet: Nein, sonst hole ich mir noch eine
Gelbsucht, Darmbakterien oder andere Mikroben, die sich in diesem Dreck
wohl fühlen. Aber tatsächlich hörte ich mich sagen: »Mit Vergnügen,
Marina.«
»Woher kennen Sie denn meinen Namen?« fragte die junge Frau
verwundert.
Da fiel ihr Blick auf die Tasse, und sie mußte lachen.
»Die hat mir mein Mann zum Neujahr geschenkt. Er hat nie Geld, und für
mehr als diesen chinesischen Billigkram hat es nie gereicht.«
Mit nicht gerade frisch gewaschenen Händen öffnete sie eine Dose
Nescafé und schüttete Pulver in die Tassen. Ich atmete tief durch, denn ich
glaubte nicht, daß ich dieses Zeug anrühren konnte. Und eigentlich war
einer Cousine, die gerade vom Tod ihrer Verwandten erfahren hatte, nicht
übelzunehmen, wenn es ihr den Appetit verschlug.
»Was ist denn nun passiert?«
Marina rührte mit einem Löffel in ihrer Tasse und legte los. Es war zu
verstehen, daß dieser Vorfall sie aus der Bahn geworfen hatte. Saß sie doch
tagaus, tagein mit ihrem Kleinen in der Wohnung und starb bald vor
Langerweile. Und dann plötzlich so etwas!
Sie und Angelina waren gute Nachbarinnen gewesen. Eine borgte bei der
anderen Zigaretten, Brot oder Zucker, wenn sie keine Lust zum Einkaufen
hatte. War Angelina zu Hause, paßte sie auch mal auf den kleinen Petja auf,
damit die junge Mutter ihre Angelegenheiten regeln konnte. Sie stellte nur
eine Bedingung: Der Junge mußte schlafen. Da sie selbst keine Kinder
hatte, befürchtete sie, mit dem aufgeweckten Bürschchen nicht fertig zu
werden.
Es war am Sonnabendmittag. Marina hatte ihren Sohn gefüttert, in den
Kinderwagen gelegt und klingelte nun bei Angelina. Drinnen regte sich
nichts. Nachdem sie mehrmals geklingelt und geklopft hatte, war sie sicher,
die Nachbarin sei ausgegangen. Notgedrungen wollte sie mit dem
Kinderwagen wieder in ihre Wohnung zurück, denn mit dem Ausgehen
wurde es nun nichts. Bei diesem Manöver auf dem engen Treppenabsatz
stieß sie mit dem Kinderwagen gegen die Tür der Nachbarin. Die gab nach.
Erstaunt steckte Marina den Kopf durch die Tür und fragte: »Lina, bist du
da?«
Es kam keine Antwort. Aber die Tür öffnete sich nicht weiter, als ob sie
auf ein Hindernis gestoßen sei. Als Marina den Kopf senkte, fiel ihr Blick
auf ein paar nackte Füße. Sie schrie erschrocken auf, schob den
Kinderwagen rasch in die eigene Wohnung zurück und rief den Notarzt an.
Der verständigte die Miliz. Die brachte die Leiche fort und stellte Marina
viele Fragen. Aber aus der schockierten Nachbarin war keine vernünftige
Antwort herauszubringen.
»Die haben mir vielleicht zugesetzt!« empörte sie sich noch zwei Tage
später. »›Was haben Sie gesehen? Wen haben Sie gesehen?‹ Wie hätte ich
denn etwas sehen können? Ich habe Wäsche gewaschen, Essen gekocht,
den Kleinen trockengelegt – ich hatte zu tun! Außerdem hat meine Tür
nicht einmal einen Spion!«
»Wie ist sie denn zu Tode gekommen?«
Marina zuckte die Schultern.
»Sie sollen ihr mit einem schweren Gegenstand den Kopf eingeschlagen
haben. Wie furchtbar! Vielleicht war es ein Raubüberfall?«
Ich kippte den widerwärtigen Kaffee, der nach Spülmittel schmeckte, mit
einem Schluck hinunter und verabschiedete mich. Zum Schein stieg ich ein
paar Stufen hinab, wartete etwas ab und schlich dann zu Angelinas
Wohnung zurück. Marinas Tür hatte in der Tat keinen Spion und auch die
anderen beiden nicht. Ich löste das Papier des Siegels vorsichtig mit einer
Nagelfeile und öffnete dann die Wohnung mit Angelinas Schlüssel.
Hinter der Tür stand ein widerlich süßer Geruch, der von einer
eingetrockneten rotbraunen Blutlache kam. Bemüht, nicht hineinzutreten,
ging ich weiter und schaute mich aufmerksam um. War Angelina wirklich
so töricht gewesen, jemanden in die Wohnung zu lassen? Vielleicht einen
Liebhaber? Aber ihr Schlafzimmer sagte mir, daß sie ihre letzte Nacht wohl
nur mit einer Schachtel Pralinen und dem Fernseher verbracht hatte. Auf
dem breiten Bett lagen einsam ein zerwühltes Kissen und eine Decke.
Endgültig überzeugt war ich, als ich ihr über den Sessel geworfenes, nicht
ganz sauberes Nachthemd mit zerschlissenem Kragen erblickte. In so einem
Stück würde keine Frau einen Liebhaber empfangen. Wenn sie aber einmal
richtig ausschlafen wollte, war es genau das richtige.
In der Küche keine Spur von schmutzigem Geschirr, nur ein Teelöffel mit
Spuren von etwas Rotem, wahrscheinlich Erdbeerkonfitüre. Auch im
Kühlschrank nichts Besonderes – ein paar Eier, hundert Gramm nicht sehr
frischer Wurst, ein halbes Stück Butter und mehrere Becher Joghurt von
Danone. Der typische Vorrat einer Single-Frau ohne Familienanhang. In
dem winzigen Bad eine Tube Gel, Shampoo und ein paar Cremedosen. Im
Garderobenschrank im Flur hing einsam und allein ein schwarzer Nutria-
Mantel – der ganze Stolz der Besitzerin.
Bevor ich ging, nahm ich den Telefonhörer ab und drückte die
Wahlwiederholung. Ich habe auch so einen »Samsung«, der die letzten fünf
Nummern speichert. Nachdem ich sie notiert hatte, warf ich vorsichtig
einen Blick ins Treppenhaus. Es war leer. Ich schlüpfte aus der Wohnung,
spuckte auf das Siegelpapier und klebte es wider fest. Diese Milizionäre
waren wirklich naiv, wenn sie glaubten, durch so einen Papierstreifen, wenn
auch mit Stempel, sei eine Tür gesichert.
Als ich bei Lisas Schule ankam, um sie abzuholen, war ich reichlich
erschöpft. Für ihr fröhliches Geplapper hatte ich kaum ein Ohr. In meinem
Kopf schwirrten die Gedanken wild durcheinander.
Ich hatte Angelina genügend Angst eingejagt, daß sie wohl kaum einem
Unbekannten geöffnet hätte. Das hieß, es mußte jemand aufgetaucht sein,
den sie gut kannte und daher ohne weiteres in die Wohnung ließ. Wer
konnte das gewesen sein? Mein wichtigster Anhaltspunkt waren jetzt die
Telefonnummern. Vielleicht hatte Angelina in ihrer Not jemanden zu sich
gerufen, mit dem sie reden wollte … Und der oder die …
»Tanja!« Lisa zupfte mich am Ärmel.
Krampfhaft versuchte ich das Bild eines Gangsters mit furchterregender
Visage zu verscheuchen, der die unglückselige Angelina mit einem Stück
Wasserrohr auf den Kopf schlug. Ich zuckte zusammen und fragte: »Was ist
denn?«
»Nichts weiter«, kam es von Lisa. »Wir stehen nur jetzt schon fünf
Minuten vor der Tür, du rollst mit den Augen und murmelst etwas vor dich
hin.«
8. Kapitel
Ich kaufte mir an der nächsten Metrostation einen heißen Kringel und stieg
in den Fußgängertunnel hinunter. Hier war es etwas wärmer. Kauend
betrachtete ich die erleuchteten Schaufenster.
Nein, etwas an meinen Überlegungen stimmte nicht. Woher wußte
Angelina eigentlich, was Anton ausgesagt hatte? In der Presse hatte davon
nichts gestanden. Sie war tatsächlich zu Tode erschrocken, als sie von mir
erfuhr, daß man den jungen Mann überfahren hatte. Vielleicht war sie aber
auch nur eine gute Schauspielerin, und ich hatte ihr das Entsetzen geglaubt?
Die Reaktion des Körpers kann man allerdings nicht imitieren. Ich erinnerte
mich genau, wie sie erbleichte, wie ihre Haut geradezu bläulich schimmerte
und auf ihrer Oberlippe Schweißtröpfchen hervortraten … Nein, das konnte
sie nicht gespielt haben. Sie fühlte sich wirklich in die Enge getrieben, und
zwar so sehr, daß sie bereit war, ihre Falschaussage offiziell zuzugeben.
Sogar ihren Schlüssel hatte sie mir ausgehändigt! Am Ende hatte sie den
Mann gekannt, der hinter all dem steckte?
Bei dem Gedanken wurde mir so heiß, daß ich die Mütze abnehmen
mußte. Natürlich! Die liebe Angelina hatte von Anfang an gelogen. Den
geheimnisvollen Anruf und die Website im Internet hatte es nie gegeben.
Angelina hing von Anfang an in der Sache drin! Sie hatte Lena mit voller
Absicht verleumdet und wußte vielleicht auch, wer hinter dem Mord an
Kondrat steckte. Deshalb hatte sie sich so erschrokken, als sie von Antons
Schicksal erfuhr. Sie glaubte, daß sie jetzt an der Reihe sei. Ihre Angst war
derart groß, daß sie wegen falscher Zeugenaussage glatt ins Gefängnis
gegangen wäre, um sich so dem Zugriff des Mörders zu entziehen!
Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ruhig, Tanja, dachte ich bei mir.
Kauf dir noch einen Kringel, setz dich in der Metro auf eine Bank und
denke nach. Was hättest du in ihrer Lage getan? Ich hätte mich abgesetzt.
Aber ohne Geld?
Ein Zug nach dem anderen raste mit ohrenbetäubendem Rattern an mir
vorbei. Ich aber hörte und sah nichts. Wenn ich also kein Geld hätte, von
Freunden und Bekannten verlassen wäre, was hätte ich gemacht? Sehr
einfach. Ich hätte den angerufen, der den ganzen Plan ausgeheckt hatte, und
gefordert: Geld her, oder ich gehe zur Miliz. Übrigens, es hat keinen
Zweck, MICH umzubringen. Ich habe alles haarklein aufgeschrieben, und
wenn mir was passiert, geht das sofort zum zuständigen Kommissar. Also,
raus mit den grünen Scheinen, und nicht zu knapp! Außerdem verlange ich
eine Sicherheitsgarantie!
So ähnlich hätte ich gesprochen. Wahrscheinlich hatte Angelina genau das
getan. Nur, der Mörder hatte die Drohung mit dem Geständnis nicht
geschluckt und das aufmüpfige Weib kurzerhand ins Jenseits befördert. Was
folgte daraus? Daraus folgte, daß ich meinen Mann an einem der Telefone
finden mußte, die geschwiegen hatten, als ich gestern anrufen wollte. Also
nichts wie nach Hause.
Als ich die Tür öffnete, schnürte mir Pingu entgegen.
»Gleich bekommst du was. Und wo ist Ramik?«
Der Hund reagierte nicht auf meinen Ruf. Nachdem ich durch alle
Zimmer gelaufen war, fand ich ihn schließlich in der Küche unter dem
Tisch liegend. Lisa saß neben ihm.
»Sieh doch nur«, schniefte sie geräuschvoll durch die Nase, »ihm ist
schlecht.«
Der Ärmste sah wirklich nicht gut aus. Das Schnäuzchen war trocken und
heiß, er hechelte krampfhaft durchs offene Maul.
»Ramik«, lockte ich. »Möchtest du ein Würstchen?«
Aber auch als ich ihm das rosige, duftende Etwas direkt vor die Nase
hielt, zeigte er keinerlei Reaktion.
»Als ich gekommen bin«, schluchzte Lisa, »lagen in der Küche
Hühnerknochen herum. Vielleicht hat er sie aus dem Mülleimer geholt. Der
Deckel stand offen.«
Hühnerknochen sind schlecht für Hunde. Die scharfen Kanten können
ihren Darm verletzen.
»Wir müssen rasch zu einem Tierarzt!« rief ich. »Zieh dich an.«
Da klingelte das Telefon.
»Frau Tanja«, erklang der Baß unseres Nachbarn. »Ich möchte …«
»Entschuldige«, unterbrach ich ihn. »Wir müssen so rasch wie möglich in
die Klinik! Sind schon zum Taxi unterwegs!«
»Wer ist denn krank?«
»Ramik.«
»Einen Moment!« kam es von ihm. »Ich fahr Sie hin, zieh mir nur schnell
eine andere Hose an!«
Ein Gefühl der Dankbarkeit überflutete mich. Ich hüllte den Hund in ein
Badetuch und scheuchte Pingu in den Korridor hinaus.
»Lisa, schließ alle Türen zu!«
»Da muß der arme Pingu ja in der Diele bleiben!«
»Das ist besser für ihn. Er frißt nichts Unrechtes und steckt seinen Kopf in
keine Ritze.«
Wieder schrillte das Telefon. Ich glaubte, es sei Andrej, nahm den Hörer
ab und rief: »Wir sind schon fertig! Wir kommen sofort!«
Aber ein unbekannter, klangvoller Bariton erklärte: »Hallo, hier ist Juri
Gryslow.«
»Was wünschen Sie?«
»Sie haben mich gestern angerufen …«
»Ich?«
»Ja, Sie.«
»Das war sicher ein Irrtum.«
Die Tür ging auf, und Andrej erschien.
»Los, worauf warten wir?«
»Sie haben gestern meine Nummer gewählt«, beharrte der Mann am
Telefon. »Ich bin Juri Gryslow.«
»Frau Tanja«, rief Andrej, nun ernsthaft besorgt, »machen Sie doch, dem
Mastino ist ganz schlecht!«
»Entschuldigung, falsch verbunden!« rief ich in den Hörer und legte auf.
Direkt vor dem Hauseingang stand ein riesiger dunkelgrüner Lincoln-
Navigator.
»Einsteigen!« kommandierte Andrej. Schon waren wir auf der Chaussee
und rasten durch die Pfützen, daß es nur so spritzte.
Im Auto roch es stark nach Kokos. Der unglückselige Ramik regte sich
kaum. Er nieste nur mehrmals.
»Was hat er denn?« fragte der Fahrer ängstlich. »Der wird uns doch nicht
hops gehen?«
»Wahrscheinlich mag er Ihren Luftverbesserer nicht«, vermutete ich.
»Mit einer kurzen Bewegung riß Andrej das grüne Plastik-Tännchen mit
der Aufschrift »Cocos« ab, das vor seinem Spiegel baumelte, und warf es
zum Fenster hinaus. Von hinten erklang sofort ein wütender Hupton.
»Du kannst mich mal …«, reagierte unser Nachbar wütend. Und zu
Ramik gewandt: »Halt durch, wir sind gleich da!«
Und schon riß er das Steuer herum, so daß ich für einen Moment glaubte,
er werde gleich abheben.
»Ruhig, Ramik, ruhig«, murmelte Andrej, als er in den großen Hof der
Klinik raste und der Jeep mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam.
Hinter uns schoß ein Ford der Miliz mit Blaulicht und heulender Sirene
auf den Hof.
»Lisa«, befahl Andrej, »schnapp dir den Hund und sieh, daß du
weiterkommst, ehe die Bullen uns haben! Aber such dir einen ordentlichen
Professor aus, nicht so einen Pfuscher!«
Das Mädchen sprang flink aus dem Wagen, das Bündel fest an sich
gepreßt. Andrej und ich zogen die Köpfe ein.
»He!« hämmerte ein Sergeant mit drohender Miene ans Fenster. »Die
Fleppen, aber ein bißchen plötzlich!«
»Kein Problem«, antwortete mein Nachbar und reichte das Gewünschte
heraus.
Der Milizionär studierte die Papiere aufmerksam. Dann befahl er mit
finsterer Miene: »Aussteigen!«
Mit derselben Gründlichkeit schaute er sich nun das Auto von innen und
außen, von vorn und hinten an. Dann fragte er streng: »Warum seid ihr
abgehauen?«
»Ich hab gar nicht gemerkt, wie schnell ich gefahren bin. Unseren Hund
hat es erwischt. Ich hatte Angst, daß er krepiert.«
Der Sergeant wandte sich enttäuscht ab und ging zu seinem Ford zurück.
»Reingefallen«, wieherte Andrej fröhlich. »Dachte, es gibt Knete, aber
nichts war’s! Meine Papiere sind rein wie eine Jungfrau …«
Als wir jedoch ins Haus traten, war sein Lächeln wie weggeblasen.
Lisa saß vor einer Tür und streichelte Ramik mitleidig den Kopf.
»Na, was spricht der Professor?« fragte Andrej.
»Wir sollen warten«, seufzte das Mädchen.
»Das gibt’s doch nicht!« stieß Andrej böse hervor. »Wo sind denn die
Weißkittel hier?«
»Dort.« Lisa wies auf das Ende des Korridors.
Wir liefen den peinlich sauberen, nach Infektionsmittel riechenden Gang
entlang. Andrej riß eine Tür auf. Ein älterer Mann raunzte grob: »Machen
Sie sofort die Tür von außen zu! Ich bin beschäftigt!«
Dabei sahen wir alle drei, daß er in Ruhe Tee trank und dazu Torte aß.
»Hör mal, Onkel«, sagte Andrej leise, »meinem Hund, einem Mastino,
geht es schlecht. Hab Angst, daß er draufgeht. Schau ihn dir doch mal an.«
»Warten Sie draußen«, gab der Tierarzt ungerührt zurück. »Wenn ich
fertig bin, komme ich.«
Da wurden Andrejs Augen zu schmalen Schlitzen, seine Hand fuhr zur
Innentasche des Jacketts und er zischte: »Laß das Kauen und beweg deinen
Arsch, sonst …«
»Ich komm ja schon«, stammelte der Medikus und starrte Andrej
fassungslos an, der langsam seine Hand aus dem Jackett nahm. Auch ich
stand vor Schreck ganz starr. Aber zum Vorschein kam keine Waffe,
sondern eine dicke Brieftasche.
Der unfreundliche Tierarzt erwies sich als guter Fachmann. Nach einigen
unangenehmen Hantierungen belebte sich Ramik sichtlich und wedelte
schon wieder mit dem Schwänzchen.
»Seien Sie vorsichtig mit Hühnerknochen«, befahl der Äskulap streng und
wusch sich die Hände. »Eine Woche strenge Diät. Dann können Sie nach
und nach wieder normal füttern. Es hat nicht viel gefehlt, und der Hund
wäre Ihnen draufgegangen.«
Als wir wieder zu Hause waren und ich mich ein wenig beruhigt hatte,
nahm ich mir erneut das Telefon. Bei zwei Nummern blieb alles stumm.
Beim dritten Versuch knackte es jedoch, und ein angenehmer Bariton sagte:
»Hallo.«
»Entschuldigung, kannten Sie Angelina Brit?«
»Mit wem habe ich die Ehre?«
»Wissen Sie«, spulte ich meine Version ab, »Angelina ist meine Nichte.
Sie ist vor einigen Tagen verstorben. Jetzt rufe ich ihre Bekannten an, damit
sie es erfahren.«
»Sehr traurig«, sagte die Stimme gedehnt. »Ja, ich kannte Angelina Brit.
Sie hat mehrere Interviews mit mir gemacht. Wie ist Ihr Name?«
»Tatjana Romanowa. Und mit wem spreche ich?«
»Meine Liebe«, lachte der Mann, »wir kennen uns. Ich bin ein großer
Verehrer Ihrer mit Kohl gefüllten Pasteten. Nicht mal meine Mutter hat die
so gut gemacht.«
Nun mußte auch ich lachen.
»Ich fühle mich geehrt. Doch wer sind Sie denn nun?«
»Juri Gryslow, ein Freund von Kondrat. Ich verstehe aber nicht ganz, wie
aus Rasumows Haushälterin Angelinas Tante geworden ist.«
Erschrocken hielt ich inne, denn mir war klar, daß ich eine große
Dummheit begangen hatte.
»Außerdem«, meinte Juri ganz beiläufig, »haben Sie mich schon einmal
angerufen. Mein Monitor hat mir das angezeigt. Als ich aber vorhin
zurückrufen wollte, haben Sie mich ganz schön abblitzen lassen.«
»Entschuldigen Sie«, suchte ich mich zu rechtfertigen. »Ich war ganz
durcheinander, unser Hund ist krank, und ich mußte dringend mit ihm zum
Arzt.«
»Das verstehe ich«, lenkte Gryslow freundlich ein. »Wenn es um den
besten Freund des Menschern geht … Aber was wollen Sie denn nun von
mir?«
»Kannten Sie Angelina gut?«
»Nicht besonders.«
»Warum hat sie Sie am Freitag oder Sonnabend angerufen?«
Gryslow verstummte eine Weile, und meinte dann: »Tatjana, müssen Sie
heute nicht noch zu Abend essen?«
»Wann?«
»Sagen wir, in einer Stunde? Im Haus der Schriftsteller ißt man
ausgezeichnet. Kommen Sie, dort reden wir.«
Ich warf den Hörer auf die Gabel, rief Lisa zu, ich werde gegen elf wieder
zu Hause sein, und stürzte zur Tür.
Ich hätte fliegen mögen, so sehr drängte es mich, den Mann in
Augenschein zu nehmen. Jetzt wußte ich wieder, wo ich seinen Namen, der
im Russischen an ein Nagetier erinnert, schon einmal gehört hatte. Als
Angelina sich so ungnädig über Lena Rasumowa äußerte, hatte sie nebenbei
fallenlassen: »Sie hat eine Affäre mit Juri Gryslow.«
Ich bin in der Tat der Meinung, daß Pünktlichkeit eine Tugend der Könige
ist. Daher versuche ich niemals zu spät zu kommen. Exakt fünfzig Minuten
nach unserem Telefongespräch stand ich vor dem Haus mit den großen
hellen Klinkern. Aber an der Tür erblickte ich bereits einen Mann um die
Vierzig, der für dieses Wetter sehr leicht gekleidet war und ungeduldig von
einem Bein aufs andere trat. Als ich näher kam, erkannte ich ihn. Während
der einen Woche, die ich im Hause Rasumow gearbeitet hatte, war er
dreimal zu Gast gewesen. Er hatte in der Tat meine Pasteten gelobt und sich
sogar einige einpacken lassen. Vorgestellt hatte er sich mir jedoch nicht.
Jetzt drückte ich eine kräftige, trockene Hand und hörte, wie er sagte:
»Gera.«
Als wir uns gesetzt, die Vorzüge von Kiewer Kotelett, Zander »Orly« und
Hühnchen auf georgische Art ausführlich erörtert, Suppe und Nachtisch
bestellt hatten, hielt es mich nicht länger, und ich fragte: »Ist Gera etwa die
Verkleinerungsform von Juri?«
Gryslow mußte lachen. Mit seinem einfachen, offenen Gesicht wirkte er
irgendwie treuherzig, und die große Nase flößte Vertrauen ein. Die runden
graublauen Augen lächelten mit, umrahmt von feinen Fältchen.
Wahrscheinlich schaute er öfter freundlich als böse drein.
»Natürlich nicht. Mein Vater wollte mich unbedingt nach meinem
Großvater Juri nennen. Meine Mutter aber war dagegen und bestand auf
Igor. Sie stritten sogar darüber, aber mein Vater setzte sich durch.
Allerdings nannte mich Mama trotzdem nur Gera. Und da mein Vater als
Brückenbauer ständig von einem Ort des endlosen Sowjetlandes zum
anderen unterwegs und daher selten zu Hause war, hieß ich bei allen nur
Gera. Aber meine Eltern leben beide schon lange nicht mehr …«
Dann aßen wir, und es wurde still. Juri hatte recht gehabt. Die Küche im
Haus der Schriftsteller war ausgezeichnet. Auch vom Interieur war ich
beeindruckt – die Wände holzgetäfelt und in der Ecke ein Kamin,
wahrscheinlich sogar echt.
»Warum haben Sie sich als Angelinas Tante ausgegeben, Tatjana?« fragte
Gryslow schließlich.
Ich kicherte albern. Zu dem hervorragenden Rumpsteak mit Pilzen hatte
man uns in einer hohen, schmalen Karaffe wunderbaren Rotwein serviert.
Ich trinke kaum Alkohol. Nur ab und zu gestatte ich mir einen Löffel
Kognak in den Kaffee. Der Wein war mir sofort zu Kopf gestiegen, und
meine Gedanken verwirrten sich bereits ein wenig.
»Nennen Sie mich einfach Tanja.«
Wieder mußte Juri lachen.
»Das tue ich doch gern.«
Ich kicherte erneut und fühlte mich rundum wohl. Der Abend entwickelte
sich erstaunlich gut: Ein höflicher Kavalier, ein gutes Essen und ein
hervorragender Wein. Obwohl ich mich bei Getränken nicht gut auskenne.
Am liebsten hätte ich jeden umarmt. Und mit einem törichten Lächeln
antwortete ich ihm: »Ich bin eine ziemlich ungewöhnliche Dame!«
»Einverstanden«, nickte Juri. »Sie sind hübsch, klug und sehr charmant.
Worüber wollen wir nun reden?«
Das war eine gute Frage.
»Wie wird eine Frau von Ihrem Aussehen und Ihrer Intelligenz
Hausangestellte bei Kondrat Rasumow?« fragte Juri und stieß mit mir an.
»Das dürfen Sie nicht so ernst nehmen«, lächelte ich ihm zu. »Aber Sie
haben recht. Eigentlich bin ich Harfenistin …«
»Oho«, kam es von meinem Gegenüber erstaunt. »Tatsächlich, Ihre feinen
Hände sind mir schon aufgefallen. Darauf müssen wir trinken …«
Wieder leerten wir unsere Gläser. An den Rest des Abends kann ich mich
nur verschwommen erinnern. Ich erzählte Gryslow von mir, und dann allen
möglichen Unsinn über Kondrat, Lena und Angelina … Ich weiß noch, daß
wir zusammen aus dem Haus traten, aber danach klafft eine große Lücke.
Dunkel schwebt mir Lisas erschrecktes Gesicht und Andrejs grinsende
Visage vor Augen, der mich aus einem unerfindlichen Grunde über dem
Toilettenbecken festhielt.
Als ich am Morgen erwachte, wollte ich mich wie immer aufsetzen, aber
es ging nicht. Mein Kopf schmerzte heftig, und mir war immer noch
schwindlig. Ich hatte das Gefühl, mein Magen sitze gleich hinter der Kehle,
daher der widerwärtige Geschmack im Mund.
Ich wagte es nicht, die Augenlider zu heben, denn das Licht blendete auch
so schon genug. Ich hatte schrecklichen Durst.
»Frau Tanja«, rief jemand fröhlich.
Ich zuckte vor Schmerz zusammen. Die Stimme drang mir ins Hirn wie
ein Messer in ein Stück Butter.
»Frau Tanja«, kam es zum zweiten Mal. Der Stimme nach konnte das nur
unser krimineller Nachbar sein.
Es kostete mich unsägliche Kraft, die Lippen zu bewegen, aber ich
murmelte: »Wasser.«
Etwas Kaltes näherte sich meinen Lippen. Eine starke Hand hob meinen
Oberkörper ein wenig an, und eine Flüssigkeit drang mir in den Mund. Ich
wollte protestieren.
»Das ist doch kein Wasser!«
»Stimmt.« Andrej lachte. »Das ist Bier! ›Baltika‹, Helles, Nr. 3, die reine
Medizin.«
»Wogegen?« zischte ich und bekam endlich die Augen auf.
»Gegen den Katzenjammer«, erklärte der selbsternannte Doktor. »Trinken
Sie nur, das hilft!«
Ich nahm noch ein paar Schluck und spürte, wie mein Magen langsam an
seinen eigentlichen Platz hinabsank.
»Wogegen soll das helfen?«
»Gegen den Kater! Sie hatten gestern abend ganz schön getankt. Wie ein
Kosmonaut.«
»Kosmonauten trinken nicht!«
»Aber die trainieren in der Zentrifuge auch den Trick mit dem Klo,
wenn’s ihnen hochkommt …«
»Willst du damit sagen, daß ich …«
»Genau!« Andrej prustete. »Sie waren besoffen wie der Pope zu Ostern!
Die ganze Diele haben Sie vollgemacht. Lisa hat sich furchtbar
erschrocken. Sie dachte, Sie geben gleich den Löffel ab. Aber ich habe sie
beruhigt. ›Heul nicht‹, habe ich gesagt, ›wisch dir die Nase, deine Tante ist
bloß blau.‹ Da war sie beruhigt. Wir haben Sie ins Bett gepackt, und sie hat
alles aufgewischt.«
»Das ist ja furchtbar«, stammelte ich.
»Das passiert doch jedem mal.«
»Aber ich habe noch nie …«
»Wenn Sie mal sterben, haben Sie wenigstens was, woran Sie sich
erinnern können«, bemerkte Andrej philosophisch.
Da klingelte das Telefon.
»Wie geht es Ihnen?« fragte Gryslow freundlich.
»Hervorragend«, antwortete ich und hatte Mühe, mich auf den Beinen zu
halten. »Könnte gar nicht besser sein.«
»Dann komme ich jetzt zu dir.«
»Wozu?«
Juri lachte laut los.
»Du bist wirklich unbezahlbar! Wart’s ab.«
Ich registrierte, daß wir inzwischen per du waren. Nun war es aber Zeit
für das Bad. Dort stellte ich fest, daß die Konsole unter dem Spiegel
zerbrochen war.
»Ich wollte Ihnen das Gesicht abwaschen«, klärte mich Andrej mit
hämischem Grinsen auf, »aber Sie haben mit den Armen herumgefuchtelt.«
Ich starrte in den Spiegel. Eine Visage wie ein Suppenteller, statt der
Augen enge Schlitze, aufgedunsene Wangen, die die Nase unnatürlich nach
oben schoben.
»Und den Handtuchhalter haben Sie auch abgerissen«, fuhr unser Nachbar
mit schadenfroher Miene fort.
Ich hatte keine Lust, ihm weiter zuzuhören. Ich mußte dringend in
Ordnung bringen, was von meinem Gesicht noch geblieben war.
Offenbar waren meine Restaurationsbemühungen nicht sehr erfolgreich,
denn als Juri in der Tür stand und den ersten Blick auf mich warf, entfuhr
ihm ein Pfiff.
»Was gibt’s denn da zu glotzen?« stieß ich barsch hervor. »Der Wein, den
Sie bestellt haben, muß schlecht gewesen sein! Und was wollen Sie
überhaupt?«
»Kommen Sie, meine Liebe, wir gehen in die Küche und trinken einen
Kaffee«, sagte der Prosaiker friedlich. »Sie haben gestern erzählt, daß Sie
Lena Rasumowa helfen wollen. Mehr noch, Sie glauben, ich sei Angelinas
Liebhaber, daher bin ich gekommen …«
Wir gingen schweigend über den Korridor. Was hatte ich wohl gestern
noch geplappert, bevor mich das Bewußtsein verließ?
Andrej, der in der Küche am Tisch saß, stand auf und sagte: »Frau
Tanja …« In diesem Augenblick erblickte er Juri und verhaspelte sich. »Sie
haben Besuch, da geh ich lieber. Wenn was ist, rufen Sie …«
»Wer war das?«
»Unser Nachbar.«
»Der Nachbar?« fragte Juri verwundert. »Nebenan hat doch eine alte
Schauspielerin gewohnt …«
Ich zuckte die Schultern.
»Entschuldigen Sie, davon weiß ich nichts.«
»Lassen Sie sich nicht mit dem ein«, kam es von meinem Gast unerwartet
scharf. »Die Visage gefällt mir überhaupt nicht. Der reine Bandit.«
Ich sagte nichts. Was bedeuteten schon Gesichter? Meines sah im Moment
viel schlimmer aus.
»Also: Mit Angelina habe ich nicht ein einziges Mal geschlafen. Ich habe
ihr lediglich Interviews gegeben«, wechselte Gryslow das Thema. »Aber
ich mag Lena Rasumowa sehr und hatte sogar ein Verhältnis mit ihr,
allerdings vor ihrer Heirat mit Kondrat. Ich habe die beiden sogar
zusammengebracht, mit Absicht.«
»Mit welcher Absicht?«
»Wissen Sie« – Juri lächelte –, »es gibt zwei Arten von Männern –
diejenigen, die heiraten, und den Rest. Ich gehöre zur zweiten Gruppe,
Kondrat zur ersten. Lena wollte unbedingt einen Ehemann. Rasumow war
frisch geschieden, so habe ich eben zwei Herzen zusammengeführt. Unserer
Freundschaft hat das keinen Abbruch getan. Ich war oft bei ihnen zu Gast.
Und ich muß sagen, aus Lena ist eine ausgezeichnete Ehefrau geworden.
Sie behielt stets die Ruhe und machte keine Szenen. Schade, daß es so
enden mußte.«
»Sie glauben, daß Lena ihren Mann ermordet hat?«
Juri zückte eine Schachtel »Davidoff«, roch an einer Zigarette, schob sie
zurück, und sein Lächeln war wie weggewischt.
»Ich weiß es. Zwei Wochen vor dem schrecklichen Zwischenfall kam
Lena zu mir. Sie war in Tränen aufgelöst. Kondrat hatte wieder einmal ein
Verhältnis angefangen, diesmal mit einer Verkäuferin aus dem
Gemüsegeschäft ›Lorelei‹. Kennen Sie den Laden?«
Ich nickte.
»Dort hat seine Julia gearbeitet. Unser Romeo hat bei ihr manchmal eine
Mango oder Weintrauben gekauft und ihr dabei zugelächelt, verstehen
Sie?«
»Durchaus.«
»Lena ist eine sehr zurückhaltende Frau«, fuhr Juri fort. »Ehrlich gesagt,
denke ich, sie hat Kondrat nie geliebt. Sie hat ihn wegen seines Geldes und
seiner Stellung geheiratet. Allerdings war es ein ehrliches Tauschgeschäft:
Sie hat ihre Arbeit aufgegeben und ihm ein Kind geboren.«
Ich hörte Juri aufmerksam zu. Offenbar wollte er mir sagen, Lena sei der
Status sehr wichtig gewesen, weshalb sie die Eskapaden ihres Mannes
geflissentlich übersah. Das hatte sie doch eigentlich richtig gemacht. Wenn
ein Mann zum Seitensprung entschlossen ist, dann wird er das selbst bei
Lebensgefahr tun. Verbotene Früchte schmecken besonders süß, und eine
Hürde ist da, um genommen zu werden. Nur törichte Frauen versuchen ihre
Männer mit Tränen, Szenen und zerschlagenem Porzellan zu halten. Sie
brauchen sich nicht zu wundern, wenn die sie trotzdem sitzenlassen. Eine
kluge Gattin steckt das Hemd, an dessen Kragen sie Lippenstift entdeckt
hat, in die Waschmaschine und redet mit ihm über das letzte Fußballspiel.
Auf längere Sicht ist sie immer die Gewinnerin. Lena konnte ihren
windigen Schriftsteller nur auf diese Weise halten. Und nach jedem
Abenteuer kam er mit einem fürstlichen Geschenk zu seiner Frau zurück,
weil ihn das Gewissen ein wenig plagte. So weit, so gut. Aber dann tauchte
die bildschöne Verkäuferin auf. Sie hieß natürlich nicht Julia, sondern Sina
Iwanowa. Lena glaubte anfangs, daß die Sache ausgehen werde wie immer
– ein kleiner Flirt, der ihr später einen neuen Pelzmantel oder einen
weiteren Ring am Finger einbrachte. Aber diesmal irrte sie sich.
Sina war durchtriebener, als erwartet. Sie mimte die Unschuld vom
Lande, ging nicht mit Kondrat ins Bett und nahm keine Geschenke von ihm
an. Ja, sie stieg nicht einmal in seinen protzigen Jeep. Kondrat verlor
regelrecht den Kopf und bot ihr an …, sie zu heiraten. Da willigte Sina ein.
Es fehlte nur eine Kleinigkeit: Er mußte Lena loswerden. Rasumow tat, was
er immer getan hatte: Er bot seiner Frau eine Wohnung, ein Auto, eine
Abfindung und fürstlichen Unterhalt. Aber Lena lehnte das Angebot
kategorisch ab.
»Sie kam zu mir, in Tränen aufgelöst«, erklärte Juri, warf sich auf die
Couch, heulte zwei Stunden lang und erklärte dann wild entschlossen:
›Wenn ich ihn nicht behalten kann, dann kriegt ihn auch keine andere!‹«
Gryslow hatte sie trösten wollen, aber Lena war wie von Sinnen. Sie
schüttelte heftig den Kopf und erklärte immer wieder: »Ich bring ihn um!
Ich bring ihn um!«
Juri fuhr sie schließlich nach Hause. Lena beruhigte sich ein wenig, und er
glaubte, sie habe sich unter Kontrolle. Daß sie ihn umbringen wollte, nahm
er nicht ernst. Wer hat nicht schon im Zorn einmal damit gedroht, einem
anderen den Kopf abreißen zu wollen. Die Realität sieht meist anders aus.
Daher fühlte er sich bei der Nachricht von Kondrats Tod wie von einem
Axthieb getroffen. Mehr noch: Er kam sich schuldig vor.
»Aber warum hätte sie ihren Mann ins Jenseits befördern sollen?« fragte
ich verwundert.
Seelenruhig antwortete darauf Gryslow: »Kondrat wollte weg von ihr. Sie
aber entschied: Lieber Witwe als verlassene Ehefrau. Das ist günstiger für
sie.«
»Wieso?«
»Wegen des Geldes. An die Witwe laufen die Tantiemen für seine Bücher
weiter! Wissen Sie, wieviel meine bekommen würde? Davon könnte sie in
Saus und Braus leben!«
»Ich habe noch nie ein Buch mit Ihrem Namen gesehen«, warf ich ein.
»Ich schreibe unter dem Pseudonym Malkow«, erklärte er.
Aber eine Leseratte wie mich führt man nicht so leicht hinters Licht.
»Na, wissen Sie, Andrej Malkow ist vergangenes Jahr gestorben und von
einer riesigen Fangemeinde beweint worden.«
»Stimmt, aber seine Bücher erscheinen weiter!«
»Er kann ja einige fertige Manuskripte hinterlassen haben.«
Juri lächelte nachsichtig.
»Vom Verlagsgeschäft haben Sie wirklich keine Ahnung, meine Teure.
Andrej Malkow war ein lieber und sehr talentierter Kerl. Doch er hat
langsam geschrieben – höchstens zwei Bücher im Jahr. So einer verkauft
sich schlecht. Der Leser giert ständig nach Neuem. Wenn ich eine gute
Story habe, kann ich in einem Monat einen Roman in den Computer
hämmern. Da hat man mir angeboten, ebenfalls unter seinem Namen zu
publizieren.«
»Warum denn das?!«
»Heilige Einfalt! Er hatte schon einen Namen, der auf dem Markt
eingeführt war. Nach seinem Tode gehört das Pseudonym allein mir. Der
Leser giert nach Büchern von Malkow – und bekommt sie. So läuft es in
der Marktwirtschaft. Wenn ich heute einen Roman unter dem Namen
Gryslow herausbringe, weiß keiner, ob er ein kommerzieller Erfolg wird.
Aber lassen wir doch die Pseudonyme! Die Sache ist ganz einfach. Eine
Witwe, die fertige Manuskripte im Safe hat, ist etwas anderes als eine
verlassene Gattin, das können Sie mir glauben!«
»Und warum haben Sie dann der Miliz nichts von diesem Gespräch
gesagt?«
»Ich stürze doch keine Frau ins Unglück! Selbst wenn sie sich schuldig
gemacht hat«, erhielt ich zur Antwort.
12. Kapitel
Am nächsten Tag trieb ich mich vor dem Eingang des Gemüsegeschäfts
»Lorelei« herum. Sollte ich mit Sina Iwanowa reden oder nicht? Lena saß
mächtig in der Tinte. Zum Glück war Gryslow offenbar ein anständiger
Mensch und hatte der armen Frau nicht den entscheidenden Stoß versetzt.
Und doch: Obwohl alles, was er sagte, logisch klang, hatte er mich nicht
gänzlich überzeugt. Deshalb wollte ich mit dem Mädchen reden. Wenn sie
mir bestätigte, daß Kondrat ihr tatsächlich die Ehe versprochen hatte,
dann … Dann wußte auch ich nicht mehr weiter!
Das Geschäft war leer. Hinter dem Ladentisch langweilte sich eine Frau
um die Fünfzig.
»Ein Kilo Bananen«, verlangte ich.
»Möglichst reif?« fragte die Verkäuferin.
»Ich nehme die hier.« Mit dem Finger wies ich auf eine pralle Staude.
Die Verkäuferin legte die Früchte auf die Waage und griff nach dem
Taschenrechner.
»Wo ist denn Sina?« fragte ich.
»Hat gekündigt«, antwortete die Frau. »Ich bekomme 25,40.«
Ich suchte in meiner Geldbörse nach Kleingeld und meinte nebenbei:
»Das ist aber schade.«
»Warum?«
»Sie hat mich gefragt, ob ich ein Zimmer für sie weiß, möglichst nicht
teuer. Ich habe etwas Tolles für sie gefunden.«
»Wirklich?« fragte die Verkäuferin verwundert. »Wo denn?«
»Bei meinen Nachbarn. Die haben eine Zweizimmerwohnung. Sie gehen
für zwei Jahre weg und suchen ein ordentliches Mädchen, damit die
Wohnung nicht leer steht. Es würde auch gar nichts kosten.«
»Das klingt aber merkwürdig«, sagte die Frau ungläubig.
»Wieso?« Ich zuckte die Schultern. »Da ist noch die Katze, die sie
allerdings füttern müßte.«
»Kommen Sie mal mit«, bat die Frau und klappte den Ladentisch hoch.
Einen Augenblick später saßen wir in einem winzigen fensterlosen Raum,
in dem mir nur ein Telefon auffiel.
»Sina!« brüllte das Weib in den Hörer, »wegen dem Zimmer …!«
Ich riß ihr den Hörer aus der Hand.
»Hallo, Sina, ich muß dringend mit Ihnen reden.«
»Ich verstehe überhaupt nichts«, ließ sich ein leises Stimmchen
vernehmen. »Was für ein Zimmer?«
»Das sage ich Ihnen, wenn wir uns sehen«, beruhigte ich sie.
»Kommen Sie zu mir«, meinte sie.
»Wo ist das?«
»Chonskaja uliza 16, Metrostation Wychino.«
Du liebe Güte, das war am anderen Ende der Stadt. Eineinhalb Stunden
ließ ich mich von der Metro durchrütteln, mußte sogar umsteigen und wäre
in der schwülen Luft beinahe eingeschlafen. Damit das nicht passierte,
kaufte ich mir an einem Kiosk das neueste Werk von Malkow und begann
zu lesen. Bei Seite 20 wurde mir übel. Ich weiß natürlich, daß ein Autor, der
in der ersten Person schreibt, nicht von sich selber erzählt. Schließlich hat
auch die nette Großmutter Agatha Christie Romane verfaßt, in denen sich
Menschen mit den unglaublichsten Mitteln vom Leben zum Tode bringen.
Aber dieses Zeug sollte Juri Gryslow geschrieben haben? Auf den ersten
zehn Seiten wurde eine Leiche in ihre Einzelteile zerlegt – mit allen
widerwärtigen Einzelheiten. Dann folgte eine ebenso ausführliche
Schilderung der nachfolgenden Autopsie dessen, was von ihr noch übrig
war. Als ich weiterblätterte, stieß ich auf eine Liebesszene, die fast schon
Pornographie war.
Ich stellte mir Juris nettes, einnehmendes Gesicht mit dem sanften
Lächeln und dem freundlichen Blick vor. Was für Dämonen in der Tiefe
einer Männerseele lauern! Da las ich doch lieber Autorinnen! So weit
gingen die in der Regel nicht. Aber Malkow verkaufte sich offenbar gut.
Allein auf der Hinfahrt sah ich drei Fahrgäste, die ein Buch von ihm
verschlangen, und auf der Rückfahrt noch einmal vier.
An der Metrostation Wychino geriet ich auf einen großen Markt. Ich
fragte nach der angegebenen Straße. Aber alle – ob Händler oder
Einheimische – zuckten die Schultern. Von einer Chonskaja uliza hatte noch
keiner gehört.
»Ich denke, dort drüben hinter dem Schuhgeschäft nach rechts«,
vermutete eine Frau, die Backwaren feilbot.
»Vor dem Bäcker nach links«, hieß es am Zeitungsstand.
»Immer geradeaus«, erklärte eine alte Frau mit einem Beutel leerer
Flaschen kategorisch.
Nun völlig durcheinander, ging ich einfach die Hauptstraße entlang, bis
ich auf einen enormen grauen Betonklotz stieß, der die ganze Gegend
beherrschte. Um nichts in der Welt hätte ich in einem solchen Gebäude
wohnen mögen. Es sah aus wie ein gigantischer aufgestellter Bleistift. Die
Wohnung in der Spitze konnte ich mir nicht sehr gemütlich vorstellen. Ich
hätte immer Angst, daß er umfällt. Über dem Eingang erblickte ich
tatsächlich das Schild »Chonskaja 16«. Muß ich noch erwähnen, daß Sina
tatsächlich unter dem Dach wohnte?
Aber das Wesen , das auf mein Klingeln öffnete, hatte offenbar keine
Höhenangst. Es war in dem glücklichen Alter, da der Mensch vor nichts
Angst hat und schon gar nicht an den Tod denkt. Ich hätte dem Mädchen
höchstens sechzehn gegeben.
»Kommen Sie von der Maklerfirma?« fragte sie höflich.
Ich nickte wortlos und trat in die ziemlich geräumige Diele, auf deren
Fußboden der Lack glänzte.
»Das ist ja merkwürdig«, plapperte Sina los. »Wahrscheinlich hat man
mich nicht aus dem Computer genommen. Was soll ich denn mit einem
Zimmer, schließlich habe ich eine Wohnung gekauft …«
Ich erklärte ohne Umschweife: »Mit der Maklerfirma habe ich nichts zu
tun.«
»Ach so?« Sina wunderte sich. »Was wollen Sie dann?«
»In welchem Verhältnis standen Sie zu Kondrat Rasumow?«
Ich hatte gehofft, das junge Ding mit dieser Frage
durcheinanderzubringen, aber Sina erwiderte mit fester Stimme: »Wie
komme ich dazu, mit Ihnen meine persönlichen Angelegenheiten zu
erörtern?«
»Also: Haben Sie ihn gekannt, oder nicht?«
»Nehmen wir mal an.«
»Und Lena Rasumowa?«
»Habe von ihr gehört.«
»Wissen Sie, daß man sie eingesperrt hat?«
»Wen? Kondrats Frau?«
»Genau die.«
»Weshalb denn?« fragte Sina verwundert. »So eine vornehme Dame hat
es doch nicht nötig zu klauen.«
»Der Ermittler meint, sie hätte ihren Mann umgebracht.«
»Sie? Kondrat? So ein Unsinn«, erklärte Sina bestimmt. »Aber wer sind
Sie überhaupt?«
»Lenas Schwester. Die Miliz hat einen anonymen Brief erhalten, in dem
es heißt, meine Schwester hätte ihren Mann deswegen erschossen, weil er
sich von ihr scheiden lassen und Sie heiraten wollte.«
»So ein Quatsch!« stieß Sina wütend hervor. »Dann hätte sie doch erst
mal mich umgebracht!«
Alle Achtung, Logik hatte das Mädchen.
»Dann ist das also nicht wahr?« fragte ich erfreut. »Alles nur
Verleumdung?«
»Kommen Sie rein«, sagte Sina kategorisch und schob mich in eine
geräumige Küche, wo es nach neuen Möbeln roch.
Sie setzte sich an den Tisch, stützte den Kopf in die Hand und fragte nun
sehr ernst: »Wozu wollen Sie wissen, was zwischen mir und Kondrat
gewesen ist?«
Ich schaute mir Kondrats »Eroberung« genauer an. Heller Sonnenschein
fiel in die Küche. Jetzt zeigte sich, daß Sina keine sechzehn mehr war, aber
sicher auch kaum zwanzig. Von umwerfender Schönheit konnte allerdings
keine Rede sein. Im Gegenteil, Kondrats letzte Geliebte wirkte gegen die
Gattin des Schriftstellers recht simpel. Blaßblondes, nicht gerade gut
geschnittenes Haar, wasserblaue Augen, bleiche Wangen und Lippen. Auch
die Figur war nicht besonders – eine flache Brust, etwas füllige Hüften und
kurze Beine. Sie sah aus wie eine, die nicht gerade mit dem silbernen Löffel
im Mund geboren war. Der eleganten Lena mit ihrer Traumfigur konnte
Sina nicht das Wasser reichen. Eigentlich wunderte mich, daß ein
Salonlöwe wie Kondrat sie überhaupt bemerkt haben sollte. Aber die Liebe
geht manchmal seltsame Wege.
»Also, warum?« beharrte Sina.
»Ich will herausbekommen, ob meine Schwester sich schuldig gemacht
hat oder nicht.«
Das Mädchen zog die blassen Brauen hoch.
»Fragen Sie sie doch selber.«
»Das habe ich schon …«
»Und was sagt sie?«
»Sie sagt, sie hätte nicht im Traum daran gedacht, ihren Mann
umzubringen, und schon gar nicht auf so schreckliche Weise.«
»Auf welche Weise denn?« fragte Sina atemlos.
»Die Miliz ist überzeugt, Lena hätte ihrem vierjährigen Sohn Wanja eine
geladene Pistole in die Hand gedrückt. Er hat mit seinem Vater Krieg
gespielt und abgedrückt. Und er hat seinen Vater getroffen – mitten in die
Stirn. Ich kann nur hoffen, daß Kondrat sofort tot war, ohne zu begreifen,
was da geschah.«
»Das ist ja ein Alptraum«, flüsterte Sina und wurde leichenblaß. »Ein
richtiger Alptraum! Der arme Kondrat! Und dieses Kind! Damit zu leben,
daß es seinen Vater umgebracht hat!«
»Man hat den Jungen sofort ins Ausland gebracht, damit die Miliz ihn
nicht verhört. Aber jetzt wird Lena vorgeworfen, sie hätte einen Mord
inszeniert … Angeblich, weil ihr Mann sich von ihr scheiden lassen
wollte …«
»Das stimmt doch vorn und hinten nicht!« rief Sina. »Ich sage Ihnen, wie
es wirklich war.«
Sina hatte die Zwanzig noch nicht erreicht. Der Herr hatte sie mit einem
flinken Verstand und Fleiß gesegnet, nur bei der Figur hatte er etwas
gespart. Wenn man es aber recht bedenkt, ist Verstand besser als Schönheit,
die mit den Jahren vergeht. In der Schule gehörte Sina stets zu den Besten,
ging mit einem Zeugnis ohne Dreien ab und hätte durchaus die Chance
gehabt zu studieren. Das aber kam für sie nicht in Frage. Heutzutage
braucht eine Studentin Papa und Mama im Rücken, die ihr Kind bis zum
Diplom finanzieren können. Sinas Mutter aber war schwerbeschädigt und
erhielt eine Rente von 400 Rubel. Die reichte nicht einmal fürs Essen und
die notwendigsten Medikamente. Ihren Vater kannte sie nicht.
So blieb Sina nichts übrig, als Gemüse und Bananen zu verkaufen.
Anfangs glaubte sie, sie könnte sich etwas Geld zusammensparen und doch
noch ein Studium aufnehmen. Bald aber wurde ihr klar, daß schwere Kisten
und ewig unzufriedene Kunden wohl ihr Schicksal waren. Zu Hause sah es
nicht besser aus. Wenn sie nach einem schweren Zwölfstundentag mit
krummem Rücken die Gemeinschaftswohnung betrat, war auch schon eine
keifende Nachbarin zur Stelle. Sinas Mutter konnte schlecht zufassen und
verschüttete dauernd etwas – Suppe in der Küche oder Wasser im Bad …
Sina griff ergeben nach Eimer und Schrubber und säuberte die
gemeinschaftlich genutzten Räume. Von einer eigenen kleinen Wohnung
wagte sie unter ihren Umständen nicht einmal zu träumen.
So ging es ihr, als Kondrat in der »Lorelei« auftauchte. Daß er Geld wie
Heu hatte, konnte ein Blinder sehen. Er gab zuweilen ihren ganzen
Monatslohn auf einmal für exotische Früchte aus, die wegen der
wahnsinnigen Preise sonst kaum jemand kaufte.
Der Literat wurde bald auf sie aufmerksam und begann ihr den Hof zu
machen. Er schenkte ihr ein Buch aus eigener Feder mit freundlicher
Widmung. Zwar machte sich Sina nichts aus Kriminalromanen und zog
Liebesgeschichten vor, aber die freundliche Gabe nahm sie an. Schließlich
bekommt man nicht alle Tage ein Buch mit persönlicher Widmung des
Verfassers geschenkt. Dann spulte Kondrat sein ganzes Programm ab –
Blumen, Pralinen, Parfüm … Als nächstes folgte eine Einladung zu einem
gemeinsamen Wochenende auf seiner Datsche in Kropotow. Sina war nicht
auf den Kopf gefallen und wußte sofort, was er wollte. Sie hatte es sogar
erwartet und sich vorgenommen, ihn nicht zu enttäuschen. Sie war nicht
gerade in Kondrat verliebt, aber von ihren bisherigen Verehrern unterschied
er sich beträchtlich: Er trank nicht, fluchte nicht, griff ihr nicht unter den
Rock und pumpte sie nicht um Geld an. Wenn schon die Unschuld
verlieren, so überlegte sie, dann mit so einem Mann in angenehmer
Atmosphäre und nicht mit einem halb betrunkenen Studenten in einer
Garage. Es lief dann so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Kondrat war nett,
kaufte ihr einen Pelzmantel, gab ihr Geld und reiste sogar für eine Woche
mit ihr nach Ägypten.
Sina schwebte auf Wolke Nummer sieben – so herrlich und in Freuden
hatte sie noch nie gelebt. Aber das Glück nahm ein jähes Ende, als Lena in
ihrem Laden erschien. Die Verkäuferin war ordentlich erschrocken, denn sie
fürchtete, die legitime Gattin könnte handgreiflich werden …
Aber Lena war nett und freundlich zu ihr. Sie lud sie ins nächste Café ein
und erklärte: »Kindchen, mein Mann ist ein unverbesserlicher
Schürzenjäger. Du tust mir leid, denn deine Zeit geht zu Ende … Ich biete
dir ein Geschäft an.«
»Was für ein Geschäft?« fragte Sina verblüfft.
»Du wohnst doch zusammen mit deiner Mutter in einer
Gemeinschaftswohnung?«
Die Verkäuferin nickte.
»Ich tausche für euch eine eigene Wohnung ein und verschaffe dir eine
ordentliche Arbeit, damit du ein Abendstudium aufnehmen kannst.
Einverstanden?«
»Und was habe ich dafür zu tun?« erkundigte sich Sina vorsichtig, denn
sie hatte inzwischen gelernt, daß kostenloser Käse nur in einer Mausefalle
zu finden ist.
»Die Finger von Kondrat lassen«, erwiderte Lena scharf.
Sina war einverstanden. Dann geschah Wunder auf Wunder. Zwei
Wochen später war sie Besitzerin der Wohnung, in der sie nun saßen. Lena
brachte die Gemüseverkäuferin als Kurier bei der Zeitschrift »Sternbild«
unter. Zwar verdiente sie auch dort nicht viel mehr, aber nun konnte sie
ohne Probleme ein Abendstudium an der Fakultät für Journalistik beginnen,
weil sie einschlägig beschäftigt war. Studium, Diplom und später
Korrespondentin – das war wie ein Traum.
»Moment, Moment«, unterbrach ich die Schwärmerin. »Die Universität
nimmt nur im Sommer neue Studenten auf, aber jetzt haben wir März!«
»Na und?« Jetzt war es an Sina, sich zu wundern. »Ich studiere doch
schon sieben Monate!«
»Wann hat sich denn das Ganze abgespielt?«
»Voriges Jahr im April«, antwortete Sina. »Im Juni sind wir nach Ägypten
geflogen, und im Juli tauchte Lena auf. Seitdem habe ich Kondrat nicht
wiedergesehen. Er kam zwar noch einige Male in den Laden, aber ich hatte
schon gekündigt, denn ich wollte Wort halten. Lena hat mir sehr geholfen,
und ich werde ihr ewig dankbar sein. Von einer Heirat mit Kondrat war
keine Rede. Ich bin sicher, daran hat er nie gedacht.«
Um mich etwas abzulenken, schlenderte ich nach diesem Gespräch über
den Markt und verweilte lange zwischen Ständen für Gemüse, Schinken
und Fisch. Vielleicht hatte Juri etwas durcheinandergebracht und Lena eine
ganz andere Sina gemeint? Mit einem Jahr Verspätung kommt kaum
jemand so in Rage, daß er zu einem Mord imstande wäre. Außerdem hatte
Lena ihren Mann offenbar nicht das erste Mal von einer Geliebten
freigekauft, ohne auch nur daran zu denken, ihn umzubringen. Bestimmt
irrte sich Gryslow – Kondrat mußte zwei Flammen namens Sina gehabt
haben. Aber beide Gemüseverkäuferinnen? Das war nun doch ein bißchen
viel!
Wieder zu Hause, griff ich als erstes zum Telefon. Diesem Gryslow wollte
ich meine Meinung sagen. Doch der Apparat läutete bereits.
»Frau Tanja«, kam es heiser aus dem Hörer.
»Andrej! Was ist mir dir?«
»Können Sie mal zu mir rüberkommen?«
Leicht beunruhigt stieß ich die Tür zur Nachbarwohnung auf und seufzte
schwer. So stellte sich die moderne Jugend eine schöne Wohnung vor. Den
kleinen Vorraum zierte ein himmelblauer Teppich, eine Wand wurde ganz
von einem großen verspiegelten Schrank eingenommen und gegenüber
hingen Ölbilder – gleich vier auf einmal. Ich erkannte sie sofort: Ein
schmieriger Kerl um die Vierzig bot sie vor dem Supermarkt feil. Sie waren
bunt und häßlich wie kitschige Glückwunschkarten. Die Landschaften
konnte man noch ertragen, aber die Genrebilder drehten einem den Magen
um. Bei ihrem Anblick war ich schon öfter kopfschüttelnd stehengeblieben,
weil mir der Kerl leid tat. Wer kaufte wohl solche Machwerke, zum
Beispiel ein Mädchen mit Puppengesicht, das in einer bonbonfarbenen
Schüssel einen Hund mit viel zu großem Kopf badete. Jetzt wußte ich die
Antwort auf diese Frage. Die füllige Schöne mit ihrem Köter nahm in der
Sammlung unseres Nachbars den Ehrenplatz ein.
»Andrej, wo bist du?« rief ich.
»Hier«, kam es kläglich aus einem der Zimmer.
Als ich in sein geräumiges Schlafgemach trat, bekam ich einen Schreck.
Auf dem riesigen Bett mit eingebautem Radiorecorder lag schwach und
hilflos unser Bandit. Selbst seine Bettwäsche war furchtbar – über und über
mit bunten Rennautos bedruckt. Aber das interessierte jetzt nicht.
»Was ist mit dir?« fragte ich besorgt.
»Mir ist schlecht«, murmelte Andrej und wandte sich nach mir um.
Er sah zum Erbarmen aus. Sein Gesicht war aufgedunsen, gleichsam nach
allen vier Seiten auseinandergeflossen.
»Um Gottes willen! Wo tut’s denn weh?«
»Hinter den Ohren«, murmelte er, »außerdem der Kopf und der Hals. Hab
gestern Cola mit Eis getrunken, vielleicht zu viel. Holen Sie mir Aspirin aus
der Apotheke?«
Ich legte ihm die Hand auf die Stirn und lief erst einmal nach dem
Fieberthermometer. In Sekundenschnelle zeigte die Quecksilbersäule 40
Grad. Da ich seinen Zustand für zu ernst hielt, um ihn mit Aspirin zu
behandeln, rief ich den Notarzt an. Der kam überraschend schnell und
erwies sich als nette Dame von etwa dreißig Jahren. Die Diagnose war bald
gestellt.
»Ziegenpeter.«
»Was?« rief ich verwundert. »Kriegt man den denn noch in seinem
Alter?«
»Den kann man sich in jedem Alter holen«, beschied uns die Ärztin
freundlich.
In den nächsten beiden Tagen lösten Lisa und ich uns an Andrejs
Krankenbett ab. Ihm ging es wirklich nicht gut. Das Fieber wollte nicht
weichen, und unser Patient verweilte zumeist in einer Art Dämmerzustand.
Erst am Donnerstagabend murmelte er matt: »Ich hab Hunger.«
Hocherfreut, daß es ihm wieder etwas besser ging, brachte ich ihm auf der
Stelle einen Teller Hühnersuppe mit Möhrenscheibchen, Nudelsternchen
und Zwiebeln, von der er mir vorgeschwärmt hatte.
»Ah, das tut gut!« murmelte unser Bandit, als er den ersten Löffel
geschluckt hatte.
Ich hätte vor Rührung am liebsten losgeheult. Abgemagert von der
Krankheit, ohne Goldkettchen und Lederjacke, die Haare zerzaust und mit
dem Teller in der Hand, wirkte Andrej wie ein ganz normaler Junge. Den
Eindruck verstärkte noch sein Pyjama, auf dem Bildchen aus Disney-
Filmen prangten. Wie sollte man aber auch darauf kommen, daß unser
Bandit mit Goofy und Mickymaus ins Bett ging.
»Iß, mein Junge«, sagte ich mitfühlend und strich ihm über das struppige
Haar. »Iß, dann bist du bald wieder gesund.«
»Danke, Frau Tanja …«
Diese Anrede regte mich schon lange auf. Wie alle sollte er mich einfach
nur Tanja nennen. Etwas verwundert willigte er ein.
Lisa blieb an seinem Bett sitzen, und ich ging in unsere Wohnung zurück.
Ich wollte nun endlich Gryslow anrufen, aber er nahm nicht ab.
Da kam Lisa herein.
»Tanja, haben wir irgendwo ein Stück Pappe?«
»Sicher. Wozu brauchst du sie?«
»Ich will nicht sinnlos bei Andrej herumsitzen. Er ist eingeschlafen, und
ich möchte aus diesem Garn eine Bommel machen.« Sie zeigte mir ein
Knäuel knallroter Wolle.
Ich ging in die Abstellkammer, wo ich leere Spielzeugkartons gesehen
hatte. Beim Anblick der Sachen überfiel mich die Erinnerung. All die
schönen Dinge hatte man Wanja geschenkt. Den Lastwagen, die Kanone,
die Plastiksoldaten, das Gewehr und … die Pistole. Schade, daß die bunte
Verpackung nicht sagen konnte, wer sie zuletzt in der Hand gehabt hatte …
In diese Schachtel hatte jemand statt des Spielzeugs eine echte Sauer
gelegt … Als ich sie öffnete, fiel mir ein Kassenbon entgegen. Oben stand
»Geschenke zum Fest« und unten »Danke für Ihren Einkauf«. Dazwischen
die Summe: 2325 Rubel und 7 Kopeken. Die Kopeken waren besonders
rührend. Welch ein Preis für ein Spielzeug! Viel mehr konnte eine echte
Sauer auch nicht kosten.
13. Kapitel
Als ich mich am nächsten Morgen davon überzeugt hatte, daß Andrej
schon wieder frohgemut vor dem Fernseher saß, machte ich mich auf, um
das Geschäft »Geschenke zum Fest« zu suchen. Dem Telefonbuch nach
gab es eins mit diesem Namen am Solowjowski Wall.
»Wir haben alles für Sie«, verkündete ein riesiges Spruchband über dem
Eingang. Da hatten sie wohl recht. In endlosen Regalen häufte sich eine
Unmenge verschiedenster Spielsachen – Autos, Puppen,
Modelleisenbahnen, Pistolen, Denkspiele, Stickrahmen … Nur Kunden
waren kaum zu sehen. Ein Blick auf die Preisschilder genügte, um zu
wissen, warum normale Menschen dieses Geschäft mieden.
»Warum kostet diese Barbie 4000 Rubel?« fragte ich eine Verkäuferin.
»Im Laden gegenüber habe ich die gleiche für 200 gesehen.«
»Das hier ist echte Markenware«, erklärte mir die Verkäuferin freundlich.
»Keine Raubkopien aus China oder der Türkei.«
»Was ist der Unterschied?« fragte ich hartnäckig weiter. »Die gleichen
sich doch wie ein Ei dem anderen.«
»Wer an die Gesundheit seines Kindes denkt«, erläuterte sie ebenso
unnachgiebig, »kommt zu uns. Weltbekannte Produzenten, die auf den Ruf
ihrer Marke achten, verwenden gesundes Material und gesunde Farben. Die
Türken dagegen nehmen Farbe, die Kadmium enthält, und das ist
krebserregend!«
Als mein Blick über all die schönen Sachen schweifte, mußte ich seufzen.
Wenn das mit dem Kadmium stimmte, dann konnte das Kind eines
Durchschnitts-Moskauers nur mit einer Puppe spielen, die die eigene
Mutter aus Lumpen gefertigt hatte. Denn die ökologische reine Barbie der
Markenfirma würde die Familie auf Jahre hinaus in den finanziellen Ruin
stürzen.
»Für welches Alter suchen Sie denn etwas?« Die Verkäuferin ging zum
Angriff über.
Ich zückte meinen Kassenbon.
»Mir ist klar, daß ich Ihnen eine törichte Frage stelle, aber vielleicht …
Vor kurzem hat mein Sohn eine Pistole geschenkt bekommen, die bei Ihnen
gekauft wurde. Leider hat sein Freund sie kaputtgemacht, und jetzt ist bei
uns die Hölle los.«
»Das kann ich mir vorstellen«, meinte die Verkäuferin mitfühlend.
»Kann man an dem Kassenbon vielleicht erkennen, welche Verkäuferin
bedient hat? Möglicherweise erinnert sie sich an den Pistolentyp. Hier steht
zwar der Preis, aber dafür haben Sie sechs verschiedene Modelle zur
Auswahl. Mein Junge will unbedingt die gleiche wiederhaben!«
Als die Tirade heraus war, tat es mir schon leid. Natürlich würde die
Verkäuferin jetzt zu Recht fragen: Warum haben Sie das entzweigegangene
Stück nicht einfach mitgebracht? Aber die warf nur einen Blick auf den
Bon und antwortete sehr zuvorkommend: »Das ist ganz einfach. Der
Einkauf wurde in Abteilung vier getätigt.«
»Was bedeutet das?«
»In unserem Geschäft gibt es einen Kundendienst«, erklärte sie. »Dort
kann man nach Katalog bestellen. Das ist zwar etwas teurer, aber Sie
können aus dem kompletten Angebot wählen. Hier haben wir nur die
Modelle, die besonders gefragt sind. Ich muß Sie bitten, in den ersten Stock
hinaufzugehen.«
Erfreut eilte ich zum angegebenen Ort und erzählte einer anderen jungen
Dame dieselbe Geschichte.
»Eine Sekunde«, sagte sie. Sie nahm den Bon, blätterte in einem riesigen
Bestellbuch und verkündete freudig: »Hier, Pistole Sauer, Warennummer
728a. Schauen Sie im Katalog nach.«
Ich betrachtete gehorsam die bunten Bilder und geriet in Verzückung.
»Das ist ja toll, welche Ordnung Sie hier haben! Sicher können Sie auch
den Namen des Käufers feststellen.«
»Natürlich«, lächelte die Angestellte. »Sogar mit Telefonnummer, denn
wir müssen ihn ja benachrichtigen, daß die Bestellung eingegangen ist.
Diese Pistole für Ihren Sohn hat Lena Rasumowa bestellt. Kennen Sie die?«
Beinahe wäre mir der dicke Katalog aus der Hand gefallen.
»Und Sie irren sich nicht?«
»Auf keinen Fall«, kam die Antwort. »Die Dame ist Stammkundin bei
uns. Ihr Sohn ist ein großer Waffennarr, daher bestellt sie stets die neuesten
Typen bei uns. Eine Sauer wollte sie schon lange haben. Sie sagte, ihr Sohn
hätte bei jemandem eine richtige gesehen und gebe seitdem keine Ruhe.«
Als ich nach Hause zurückkam, war meine Stimmung auf dem Nullpunkt.
Lena höchstpersönlich hatte die Pistole bestellt. Also hatte sie den Mord
geplant. Warum aber lag die Verpackung immer noch in der Wohnung
herum? Immerhin war sie ein wichtiges Indiz. Wahrscheinlich hatte sie
gemeint, sie hätte sie längst in den Müll geworfen, wohin auch die schönste
Verpackung eines Tages wandert. So mußte es gewesen sein. Ich erinnere
mich noch, wie die Kinderfrau Anna einen ganzen Packen leerer Kartons in
die Küche gebracht hatte. Ich selber war es gewesen, die sie nach alter
Gewohnheit aufgehoben hatte … Je mehr ich über die Sache nachdachte,
desto klarer zeichnete sich ab, daß es nur Lena gewesen sein konnte. Aber
wo hatte sie die echte Sauer hergenommen? Und mußte ich der Miliz
mitteilen, was ich herausgefunden hatte?
Die alte Standuhr tickte dumpf, als zähle sie die unwiederbringlich
verflossenen Minuten. Eigentlich mußte ich den Ermittler einweihen. Aber
nicht den widerwärtigen Mitrofanow, der mich gewaltsam vor die Tür
gesetzt hatte. Diesem Subjekt wollte ich um nichts in der Welt helfen. Und
Slawa Samonenko war immer noch im Krankenhaus. Inzwischen lag er
wieder in einem normalen Zimmer, aber jetzt hatte er sich eine Infektion
eingefangen, die gerade in der Klinik umging, und war unter Quarantäne
gestellt. Noch immer durfte ihn niemand besuchen. So konnte ich nur ein
Brathähnchen und ein paar Genesungswünsche für ihn abgeben.
In schwere Gedanken versunken, ging ich in die Küche, wo ich mich bei
einer Tasse Tee etwas sammeln wollte. Dort aber stieß ich auf eine ganze
Kinderschar. Ein zierliches Mädchen mit schwarzem Haar stellte sich
höflich vor: »Ich bin Mascha Gawrjuschina.«
»Ich heiße auch Mascha«, sagte eine kräftige Blondine.
»Und ich ebenfalls«, kam es von der dritten.
»Kommt ihr nicht durcheinander?« fragte ich lachend. Auf dem Tisch
erblickte ich eine Tüte Mehl, ein Stück Butter und einen schmutzigen Topf.
»Was treibt ihr da?«
»Wir backen Brötchen«, verkündete Lisa stolz. »Wir haben nach dem
Rezept den Teig zusammengerührt, geknetet und in die Röhre geschoben.
Jetzt warten wir, daß die Brötchen fertig werden.«
»Sehr gut«, erklärte ich zustimmend. »Laßt mich dann mal kosten.«
Schon wieder klingelte das Telefon.
»Lena? Grüß dich, meine Liebe. Galin hier.«
»Entschuldigung, hier ist nicht Lena.«
»Ach, Lisa, du bist’s«, sprudelte der unbekannte Galin weiter, »wie
geht’s?«
»Sie wollen Lisa sprechen?« fragte ich.
»Eigentlich wollte ich Lena«, sagte die Männerstimme etwas verwirrt.
Ich wollte den Mann, der offenbar nicht wußte, was geschehen war, nicht
erschrecken. Deshalb antwortete ich vorsichtig: »Lena ist weggefahren.«
»Das ist aber dumm«, meinte Galin verstimmt. »Weit weg?«
»Ja.«
»Für lange?«
»Bestimmt für einige Monate.«
»Das gibt’s doch nicht!« stieß der Teilnehmer hervor. »Das ist ja
furchtbar! Was soll ich denn jetzt machen?«
»Worum geht es denn?« fragte ich neugierig.
»Entschuldigung«, kam es von dem Anrufer. »Wer sind Sie überhaupt?«
Ich hatte mich inzwischen so daran gewöhnt, für Lenas Verwandte zu
gelten, daß ich ohne Zögern behauptete: »Ihre Cousine. Sie hat mich
hergeholt, damit ich mich um Lisa kümmere.«
»Na, wunderbar!« rief er erfreut aus. »Genau Sie brauchen wir. Kommen
Sie her, ich schicke Ihnen einen Wagen.«
»Wozu?«
»Verzeihen Sie nochmals«, sagte der Mann rasch. »Ich habe mich gar
nicht vorgestellt. Michail Galin, Chef des Verlages Fila-Press.«
»Angenehm, ich bin Tatjana. Und warum soll ich nun in den Verlag
kommen?«
»Das kann ich Ihnen am Telefon schlecht sagen«, behauptete er. »In einer
Stunde ist unser Fahrer bei Ihnen, einverstanden?«
»Kennen Sie die Adresse?«
Galin mußte lachen.
»Die kann ich im Schlaf hersagen. Wir haben die Exklusivrechte von
Kondrats Romanen. Kommen Sie nun?«
»Na schön«, willigte ich ein.
Meine Garderobe ist nicht gerade üppig. Für diese Gelegenheit blieben
eigentlich nur eine schwarze Hose und ein grauer Pulli. Darüber wollte ich
einen Blazer in Pfeffer und Salz tragen. Lisa hatte so einen.
»Lisa!« rief ich in die Küche. »Kann ich mir für eine Stunde deine Jacke
ausborgen? Die mit den Lederflecken an den Ellenbogen!«
Da keine Antwort kam, ging ich in die Küche.
Die vier Mädchen saßen mit ratlosen Gesichtern da.
»Ich verstehe überhaupt nichts«, seufzte Lisa.
»Was ist denn passiert?«
»Wir haben doch alles genau nach Rezept gemacht: das Mehl mit Butter,
Zucker, Milch und Hefe verrührt, dann den Schalter auf Elf gestellt. Hier in
der Anleitung steht’s: ›Elf – Milchbrötchen‹.«
»Milchbrötchen!« wiederholten alle drei Maschas im Chor.
»Dann haben wir gewartet, bis der Durchlauf beendet ist, den Deckel
aufgemacht, und …«
»Und was?«
»Na, nichts!« riefen alle Kinder auf einmal und wiesen mir das
vernickelte Innenleben vor. »Alles leer.«
»Na so was«, sagte ich gedehnt und konnte mir kaum das Lachen
verkneifen. »Völlig leer?«
»Ja!«
»Und ihr habt alles hineingegeben – Mehl, Zucker …«
»Ja!!«
»Und auch die Eier nicht vergessen?«
»Nein!«
»Und die Hefe?«
»Nein!!!«
»Wunderbar. Und auch Milch habt ihr hineingegossen?«
»Ja!«
»Und dann auf Elf gestellt?«
»Ja!!!«
»Ihr seid mir ja richtige Schlauberger.« Ich kicherte. »Das wären
hervorragende, lockere Milchbrötchen geworden, wenn ihr nicht einen
kleinen, aber entscheidenden Fehler gemacht hättet.«
»Wieso?« riefen die Mädchen wie mit einer Stimme und sprangen
ungeduldig auf. »Was für einen Fehler?«
»Kaum von Bedeutung. Ihr habt Eure Zutaten nicht in den Backofen,
sondern in die Waschmaschine gegeben. Der Backofen ist unten im Herd,
rechts wird gewaschen.«
»Seht ihr!« schrie Mascha Gawrjuschina. »Ich hab euch Tussis doch
gleich gesagt, daß hier was nicht stimmt! Wozu braucht man beim
Brötchenbacken so viel Wasser? Aber ihr: ›Halt die Klappe, der Teig wird
gemischt!‹«
»Das macht doch nichts«, sagte ich tröstend. »Fangt noch einmal von
vorne an, aber bringt nicht wieder etwas durcheinander. Der Kasten dort mit
den Knöpfen ist der Fernseher. Wenn ihr euch Eier braten wollt, dann nicht
auf dieser Platte, das ist das Bügeleisen.«
»Nun ist’s aber gut«, fauchte Lisa böse. »Ganz so blöd sind wir auch
nicht.«
Bei diesen Worten griff sie wieder nach der Mehltüte. Ich suchte rasch das
Weite. Wenn nicht noch einmal etwas passierte, konnte ich mich zum
Abendbrot auf frische Brötchen freuen.
Der Verlag schickte mir einen chromblitzenden ausländischen
Luxuswagen mit einem äußerst zuvorkommenden, beinahe etwas
aufdringlichen Chauffeur. In fünf Minuten hatte er mich gefragt, ob es mir
zu kalt oder zu warm sei, ob ich Musik haben möchte, welche Art ich
bevorzugte, ob er zu schnell oder zu langsam fahre … Mit seiner
Fürsorglichkeit machte er mich ganz nervös. Um seine Fragewut etwas
einzudämmen, drehte ich den Spieß um.
»Ist es schwer, so einen Wagen zu fahren?«
»Diesen hier überhaupt nicht«, antwortete der junge Mann bereitwillig.
»Ist ein Automatik, hat nur zwei Pedale. Anlassen, lenken und bremsen –
das ist alles.«
»Bremsen Sie mal!«
»Bitteschön«, lachte der Fahrer und trat mit seinem blank geputzten
Schuh aufs Pedal.
»Toll!« rief ich begeistert aus. »Und die Lenkung?«
»Geht mit dem kleinen Finger.«
Bei dieser Unterhaltung waren wir bald vor einer kleinen Villa im
Zentrum angelangt. Ich wurde in ein luxuriöses Arbeitszimmer mit teuren
Möbeln geführt und mit größter Aufmerksamkeit behandelt.
»Ich bin erfreut, geradezu glücklich, Sie kennenzulernen«, flötete Michail
Galin, ein großer kräftiger Mann mit einem Bierbauch, zur Begrüßung.
Sein Ritual unterbrach ein schlankes Mädchen, das mit stolzer Miene ein
Tablett mit winzigen Täßchen hereintrug.
»Bitteschön«, strahlte Michail, »nehmen Sie einen Schluck Kaffee mit
mir.«
Als das getan war, verkündete er: »Liebe Tatjana, unser Verlag ist in einer
schrecklichen Lage, und Sie sind die einzige, die uns helfen kann!«
»Nanu?« sagte ich verwundert. »Sie erwarten doch nicht etwa einen
Roman von mir? Ehrlich gesagt, kann ich keine zwei zusammenhängenden
Sätze aufschreiben. Selbst ein Brief wird mir zur Qual.«
Michail mußte lachen.
»Das meinen Sie doch nicht ernst. Wollen Sie es nicht mal probieren?
Vielleicht entdecken wir ein neues Talent!«
»Um nichts in der Welt! Was wollen Sie denn nun von mir?«
Jetzt wurde seine Miene ernst.
»Ich muß Ihnen sagen, wir haben Kondrat Rasumow für das Publikum
entdeckt. Von Anfang an sind sämtliche seiner Werke bei uns erschienen. Er
war ein äußerst fleißiger Mann und kam alle zwei Monate mit einem neuen
Manuskript. Auch als er schon bekannt und sehr populär war, ist er kein
bißchen überheblich geworden. Nicht so wie manche, die ein einziges
Bändchen herausbringen und sich sofort für ein Genie halten, um die
Rechte streiten, sagenhafte Honorare fordern, kein Komma verändern
wollen, weil das ihre Dichterpersönlichkeit beeinträchtigen könnte. Kondrat
war aufgeschlossen für jede Bemerkung, stritt nicht mit uns über die
Aufmachung, veränderte auch den Titel, wenn wir es wollten. Er war bei
allen beliebt. Schon, weil er ständig Geschenke anschleppte. Blumen und
Konfekt für die Sekretärinnen, ja selbst eine Torte für die Korrektoren, an
die gewöhnlich niemand denkt. Seine zehn Autorenexemplare hat er immer
sofort signiert und im Verlag verteilt. Ein sehr intelligenter, angenehmer
Mann. Wir waren alle tieftraurig, als wir hörten, wie er enden mußte.«
Ich wartete schweigend ab, daß der gewiefte Verlagsleiter endlich zur
Sache kam.
»Bei uns ist es üblich«, erklärte er nun in vertraulichem Ton, »daß
prominente Autoren einen Vorschuß für noch nicht fertige Werke erhalten,
verstehen Sie?«
Was gab es da nicht zu verstehen? Sie hatten einfach Angst, daß ein
erfolgreicher Autor von einem anderen Verlag abgeworben werden könnte.
Daher suchten sie ihn mit allen Mitteln an sich zu binden.
»Kondrat hat immer an mehreren Sachen gleichzeitig geschrieben«, ließ
Michail wie nebenbei fallen. »Oft an drei oder vier Kriminalromanen.«
»Wie soll das gehen?« rief ich erstaunt aus. »Ist er da nicht
durcheinandergekommen?«
Galin schüttelte den Kopf.
»Offenbar nicht. So hatte er die besten Einfälle. Als er starb, hatte er für
fünf neue Manuskripte Vorschuß erhalten. Sehen Sie, hier.«
Er reichte mir ein Papier herüber. Ich überflog es rasch: »Der Verlag Fila-
Press – nachfolgend ›Verlag‹ genannt – vertreten durch Verlagsleiter
Michail Galin, und Konstantin Fjodorowitsch Rasumow (Pseudonym
Kondrat Rasumow) – nachfolgend ›Autor‹ genannt – haben auf der
Grundlage einer Verabredung vom 5. 1. 2000 folgenden Vertrag
geschlossen …«
»Ich wußte gar nicht, daß er mit Vornamen Konstantin hieß«, warf ich
nachdenklich ein.
»Ja, in den letzten Jahren hat er sich nur noch Kondrat genannt«, meinte
Galin obenhin. »Haben Sie gelesen?«
»Und jetzt verlangen Sie von Lena den Vorschuß zurück.«
»Wo denken Sie hin?« wehrte Michail ab. »Wir brauchen das Manuskript
des Romans ›Der Hyänenkäfig‹! Und natürlich auch die anderen … Helfen
Sie uns! Es soll Ihr Schaden nicht sein.«
»Ich verstehe kein Wort«, bekannte ich aufrichtig. »Wo soll ich die
Bücher denn hernehmen?«
»Aus Kondrats Computer«, erklärte mir der Verlagsleiter geduldig. »Sie
sind garantiert dort. Wenn Sie sie gefunden haben, drucken Sie sie aus, und
wir holen sie ab. Dafür bekommen Sie eine Provision wie ein
Literaturagent. Einverstanden?«
»Wieviel?« fragte ich der Form halber nach.
»10 000 Rubel«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
Mir schwindelte der Kopf: So eine riesige Summe für ein bißchen Suchen
im Computer?
Aber Michail glaubte, ich sei mit dem Angebot nicht zufrieden, und fügte
rasch hinzu: »Also gut, 15 000.«
Ich überlegte, was ich tun sollte.
»Na, meinetwegen«, seufzte mein Gegenüber, »20 000, aber das ist mein
letztes Wort.«
Als ich die Sprache wiedergefunden hatte, murmelte ich leise: »Und wenn
das Manuskript nicht vollendet ist …«
»Kein Problem«, erklärte Galin lebhaft, »das machen wir schon, Sie
müssen es nur finden.«
»Warum wollen Sie nicht warten, bis Lena zurückkommt?« fragte ich.
Mit dieser Frage hatte Michail nicht gerechnet. Er druckste ein bißchen
herum und erläuterte dann: »Der ›Hyänenkäfig‹ ist schon angekündigt. In
Zeitungen, Zeitschriften und im Fernsehen haben wir großen Wirbel
gemacht. Der Markt giert nach dem Buch. Wenn wir es nicht bald
herausbringen, war alles umsonst. Hören Sie, Sie bekommen auf der Stelle
10 000 und den Rest am Montag, wenn Sie mir das Werk aushändigen. Das
Wochenende reicht Ihnen doch?«
Bei diesen Worten zog er eine Schublade seines Schreibtischs auf und
holte ein Bündel rosafarbener Einhundertrubelscheine hervor, das von
einem grünen Gummi zusammengehalten wurde.
Ich bin nicht gerade geldgierig, aber gegen einen guten Verdienst habe ich
nichts einzuwenden. Außerdem sieht es auf meinem Konto im Augenblick
ziemlich trübe aus. Natürlich kann ich über die Summe verfügen, die im
Safe liegt. Aber das ist fremdes Geld, das ich nicht wie mein eigenes
verwenden kann. Jede Ausgabe wird bis zur letzten Kopeke registriert. Da
bin ich pingelig wie ein Buchhalter. Bleibt Lena hinter Gittern und muß
eine gewiß nicht kurze Strafe absitzen, gehört das Geld hinter dem Bild
Lisa. Wahrscheinlich wird das dann alles sein, was sie hat. Bisher haben wir
das Geheimfach nicht geöffnet und leben von den 300 Dollar, die Lena mir
vor ihrer Verhaftung gegeben hat.
Ich nahm das Bündel und steckte es in die Handtasche. Galin atmete
erleichtert auf.
»Am Montagmorgen erwarte ich Ihren Anruf.«
»Gut«, antwortete ich und erhob mich. »Ich hoffe, Lena verzeiht mir den
›Einbruch‹ in Kondrats Computer. Ehrlich gesagt, durfte ich mich seinem
Schreibtisch bisher nicht einmal nähern.«
»Lena ist nicht da«, beruhigte mich Michail. »Und wenn ich richtig
verstanden habe, wird sie lange, lange nicht zurückkommen …«
Ich schaute in seine aufrichtigen, so harmlos blickenden blauen Augen,
und mir wurde klar, daß ich gerade eine Hauptrolle in einem sorgfältig
inszenierten Stück übernommen hatte. Michail wußte natürlich, wo Lena
war. Er wußte sicher auch, daß ich nur als Haushälterin bei ihr arbeitete.
Aber offenbar mußte er das Manuskript unbedingt haben.
14. Kapitel
An den Computer kam ich erst spätabends. Zuvor hatte ich einen kleinen
Streit mit Andrej. Unser Bandit, dem es wieder etwas besser ging, wollte
unbedingt zu seiner Arbeit zurück.
»Geschäft ist Geschäft, Tanja«, erklärte er mir von oben herab. »Kaum
biste weg, bescheißen dich die Kumpels von vorn und hinten.«
Ich schreckte den »Geschäftsmann« erfolgreich mit gefährlichen
Komplikationen, gab ihm und Lisa zu essen, probierte selbst von den frisch
gebackenen Brötchen, scheuchte Pingu vom Marmeladenglas weg, nahm
Ramik ein paar Strumpfhosen fort, wischte mehrere Pfützchen vom
Fußboden auf, wusch Lisa den Kopf, unterschrieb ihr Hausaufgabenheft,
hörte mir die letzten Neuigkeiten aus der Schule an, nähte einen Knopf an
ihrer Schaffelljacke wieder fest … Als ich endlich am Schreibtisch saß,
schmerzte mir der Rücken, als hätte ich den ganzen Tag Steine geklopft.
Ehrlich gesagt, kenne ich mich mit dem Computer nicht gut aus und
fürchte ihn sogar ein wenig. Ich denke, ein Apparat kann nicht klüger sein
als ein Mensch, zumindest sollte er es nicht sein. Der in meiner alten
Familie schien genau zu spüren, wenn eine unerfahrene Hand die Maus
führte. Er spielte dann sofort verrückt, öffnete wie wild ein Fenster nach
dem anderen, so daß ich regelmäßig Serjosha, Julia oder Kira zu Hilfe rufen
mußte.
Doch meine Brigade der »Schnellen Computerhilfe« spazierte jetzt sicher
gerade durch Miami, und ich mußte selber zurechtkommen.
Kondrat hat ein todschickes Arbeitszimmer. Der riesige Schreibtisch ist
mit grünem Leder beschlagen, darauf ein gewaltiger Flachbildschirm von
Sony, ein Drucker, ein Xeroxgerät und noch einiges andere, womit ich
überhaupt nichts anfangen kann.
Daß der Einschaltknopf immer der größte ist, wußte ich. Also drückte ich
auf das runde blaue Ding am Rechner. Zeilen liefen wie wild über den
Bildschirm, dann öffnete sich das Fenster von »Windows«. Hoffentlich
hatte das Ding kein Paßwort! Und schon forderte es den Namen des
Nutzers. Ohne lange nachzudenken, tippte ich »Kondrat« hinein. Der
Monitor wurde plötzlich ganz schwarz, dann aber tauchten viele bunte
Bildchen vor einem beige-braunen Hintergrund auf. Na also. Rasumow war
offenbar kein ängstlicher Mensch gewesen und hatte seine Werke nicht
abgesichert. Aber wo sollte ich sie finden? Wahrscheinlich unter »Ordner
des Autors«. Mit einem Doppelklick der Maus war ich drin. Eine endlos
lange Liste lief über den Bildschirm. Vor Freude wäre ich beinahe von dem
riesigen Drehstuhl gefallen. So einfach war das. Kondrat hatte einen sehr
gutmütigen Computer.
Außerdem herrschte darin eine ideale Ordnung. Langsam wanderte mein
Blick über die Zeilen. Also: »Aussichtslose Affäre« – Hardcover erschienen
im Juni 1998, Taschenbuch im Dezember 1998, April 1999 und
Nachauflage im Juli 1999; »Fremde Tränen«, »Suche nach der Leiche«,
»Geheime Affären« … Dann kamen »Jagd am Abgrund«, »Hand am Puls«
und »Sprung von Deck«. Hinter diesen Titeln in Klammern: Noch nicht
erschienen. Ich öffnete jede einzelne Datei und stellte fest, daß alle drei
Romane fertig waren. Man hätte sie sofort drucken können. Aber von einem
»Hyänenkäfig« keine Spur. Eine ganze Stunde lang suchte ich alle
Verzeichnisse durch, aber vergeblich. Dann stieß ich in der untersten
Schublade des Schreibtischs auf einen Stapel Disketten. Das mußten
Kondrats Sicherheitskopien sein. Aber auch hier von Hyänen keine Spur.
Völlig deprimiert ging ich in die Küche.
»Brauchst du den Computer noch?« fragte Lisa.
»Nein.«
»Dann gehe ich jetzt ran, ich muß ein Referat in Biologie schreiben«,
erklärte Lisa mit einem schweren Seufzer.
»Es ist schon fast elf. Morgen ist keine Schule, da hast du Zeit …«
»Dreißig Seiten!« jammerte Lisa. »Die schaffe ich nie an einem Tag. Ich
muß am Freitag, Sonnabend und Sonntag je zehn Seiten tippen. Weißt du,
wie schwer das ist – mit einem Finger?«
»Warum hast du es nicht richtig gelernt?«
»Das brauchte ich doch nicht«, meinte sie. »Das hat immer jemand für
mich gemacht, aber jetzt, wo Papa nicht mehr da ist …«
»Dein Vater hat dir geholfen?«
Lisa mußte lachen.
»Tanja, das ist ein schreckliches Geheimnis, aber dir kann ich es ja sagen.
Papa hat vor der Presse immer so getan, als wäre die Technik ein Klacks für
ihn. Das gehörte zu seinem Image. Schließlich hat er Romane über einen
tollen Detektiv geschrieben. Deswegen mußte er auch so toll sein – Autos
mit einer Hand steuern, den Computer mit links beherrschen … In
Wirklichkeit war alles ganz anders. Mit dem Jeep kam er schlecht zurecht,
er konnte nicht mal rückwärts einparken. Den Computer haßte er, nannte
ihn eine dämliche Rechenmaschine und hatte bestimmt sogar Angst vor
ihm. Seine Manuskripte hat Leokadia getippt, unsere alte Sekretärin.«
Bei diesen Worten hatte ich einen genialen Einfall.
»Weißt du ihren Familiennamen?«
Lisa kicherte.
»Der ist lustig: Rjumotschkina – Schnapsgläschen.«
Wie der Blitz war ich im Arbeitszimmer und blätterte im Telefonbuch. Da
war sie schon – mit Adresse und Telefonnummer. Es gehörte sich bestimmt
nicht, um diese Zeit noch bei ihr anzurufen. Immerhin sollte es eine alte
Dame sein. Sicher träumte sie schon süß … Aber mein Finger tanzte wie
von selbst über die Knöpfe. Ich konnte einfach nicht bis zum Morgen
warten.
Sie nahm sofort ab.
»Hallo«, ertönte eine matte Stimme von undefinierbarem Geschlecht.
»Kann ich bitte Leokadia Rjumotschkina sprechen?«
»Wer ist da?« kam es vom anderen Ende der Leitung.
»Ich rufe im Auftrag von Lena Rasumowa an.«
Es knackte im Hörer, als habe man ihn abgelegt. Dann nur noch Stille und
ferne, unverständliche Geräusche. Minuten gingen dahin. Lebten die dort in
einem Fürstenpalast aus Zimmerfluchten und Ballsälen?
»Hallo«. Die matte Stimme war wieder da. »Hören Sie?«
»Ja, ja«, antwortete ich ungeduldig.
»Leokadia … meint …«, mümmelte die unsichtbare Person am anderen
Ende mit schier endlosen Pausen.
»Was? Was meint sie?« fragte ich aufgeregt.
Das war einfach zum Haare raufen.
»Sie meint … Sie sollen … morgen … um acht Uhr früh … bei ihr sein.«
»Aber …«, wollte ich erwidern.
Doch da tönte schon ein widerwärtiges Besetztzeichen aus dem Hörer.
Diese Person! Braucht eine halbe Stunde für einen Satz, aber kaum eine
Sekunde fürs Auflegen.
Nennen Sie mir einen Menschen, der am Samstag um sieben mit
fröhlichem Lächeln aus den Federn kommt. Dem müßte man noch zu
Lebzeiten ein Denkmal setzen. Als ich um diese Stunde das Bett verlassen
mußte, hätte ich die ganze Welt verfluchen können. Pingu und Ramik, die
in einem Sessel schliefen, hoben nur kurz die Köpfchen und schauten mich
an, als wollten sie sagen: Bist du aus dem Bett gefallen? Wohin willst du
mitten in der Nacht?
Leokadias Adresse, die Gasse Podleontewski pereulok, mußte ich in
Samoskworetschje suchen. Das ist das Moskau des 19. Jahrhunderts mit
seinen typischen ein- und zweistöckigen Häusern, wo einst wohlhabende
Kaufleute ihr Domizil gehabt hatten. In den zwanziger Jahren hatte man sie
sämtlich zu Gemeinschaftswohnungen umfunktioniert. Nr. 10 war keine
Ausnahme. Eine geschwungene Treppe mit schmiedeeisernem Geländer
brachte mich zur Wohnung Nr. 11. An der schweren abgeschabten
Eichentür zwei Knöpfe. Ich klingelte bei Rjumotschkina und mußte lange
warten. Dann rumorte es hinter der Tür, sie ging auf, und vor mir stand ein
Männlein wie ein Steinpilz – klein, rund und weiß – in Filzstiefeln,
gefütterter Weste und einem blauen Wollpullover darunter.
»Ich möchte zu Leokadia Rjumotschkina.«
»Weiß ich«, bellte der »Steinpilz« kurz und kommandierte: »Über den
Gang in Richtung Küche, marsch!«
Ich mußte lächeln und ging in die Richtung, von wo es nach Kohlsuppe
und Kochwäsche roch. Vor der letzten Tür machten wir Halt.
»Eintreten!« kam es von dem Alten.
Ich öffnete vorsichtig die Tür und trat in ein großes Zimmer, dessen hohe
Decke kaum zu erkennen war.
»Lena!« rief eine gepflegte, würdige alte Dame erfreut. Sie saß an einem
Schreibtisch, auf dem stolz ein Computer thronte. »Komm näher, meine
Liebe. Wie geht es Wanja? Und ist Kondrat gesund?«
Ich blieb verlegen an der Tür stehen. Offenbar hatte die nette Dame von
den jüngsten Vorgängen in der Familie Rasumow noch nichts gehört.
Inzwischen hatte sie ihre Brille auf der Nase und rief enttäuscht: »Sie sind
ja gar nicht Lena!«
»Nein, ich bin ihre Cousine.«
»Oh«, sagte sie erfreut, »bringen Sie mir Arbeit?«
»Nicht ganz«, antwortete ich vorsichtig. »Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie
Kondrats Roman ›Hyänenkäfig‹ in den Computer eingegeben haben.«
Die Sekretärin maß mich mit einem stolzen Blick. Sie trug altehrwürdige
Ohrgehänge von seltener Schönheit. Ein rosafarbener Stein in einer
goldenen Fassung, wie ich sie noch nie gesehen hatte.
»Meine Liebe«, erklärte sie von oben herab, »ich tippe nicht nur
Konstantins Werke – Sie wissen doch, daß er eigentlich Konstantin heißt?«
Ich nickte.
»Ich halte nämlich nichts von Pseudonymen, aber was soll’s?« plapperte
sie weiter. »Ich habe ihn für die Literatur entdeckt! Hat er Ihnen das nicht
erzählt? Nein? Ach, setzen Sie sich doch.«
Ihre Augen nahmen jetzt einen verdächtigen Glanz an. Was bleibt
Menschen ihres Alters auch? Die Erinnerung und der Drang nach
Anerkennung. Wenn die Alten kein schlechtes Beispiel mehr geben können,
fangen sie an, gute Ratschläge zu erteilen, meinte einst der geniale Franzose
La Rochefoucoult. Da ich sie aber für mich gewinnen wollte, klatschte ich
in die Hände und rief erstaunt aus: »Tatsächlich? Sie haben Kondrat
entdeckt?«
Erfreut, endlich wieder einmal eine Zuhörerin gefunden zu haben, legte
Leokadia ihre sicher schon tausendmal gespielte Platte auf.
Vor zwanzig Jahren hatte in dieser großen Wohnung Warwara Rasumowa
mit ihrem Sohn gelebt. Sie arbeitete als Kartenkontrolleurin in einem Kino,
er war Lehrer für russische Sprache und Literatur in einer Schule.
»Die Arbeit war für ihn eine Qual«, berichtete Leokadia mit
schmerzverzerrtem Gesicht. »Wenn er von der Schule kam, schaute er oft
bei mir herein und beklagte sich: ›Ach, Tante Leokadia, diese kleinen
Idioten, ich könnte sie umbringen!‹«
Sie selbst war damals Sekretärin beim Chefredakteur der Zeitung »Das
Kampfbanner«. Sie gab ihm den Rat: »Du bist doch ein begabter Junge,
Konstantin, kannst mit der Sprache umgehen. Versuch mal, ein Artikelchen
über die Miliz zu schreiben. Ich überrede meinen Chef, daß er ihn bringt. Es
ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Am Ende wird aus dir ein
Korrespondent, und du kannst die Schule sausenlassen.«
Konstantin fand Gefallen an der Idee und machte sich sofort ans Werk.
Nur wurde es kein Artikel, sondern eine Erzählung über einen
Ortspolizisten, der sich in eine Gesetzesbrecherin verliebt.
Leokadia tippte das Manuskript und sorgte dafür, daß es auf den Tisch des
Chefs kam und nicht im Sekretariat hängenblieb. Der las die Erzählung mit
Wohlgefallen, wollte aber einiges geändert haben: Die Liebe des Polizisten
sollte Konstantin streichen, dafür aber den Alltag der Polizei in kräftigeren
Farben schildern. Das war 1980, als die Männer in den blauen Uniformen
noch in Ansehen standen.
Konstantin wollte sich weigern, aber da kam wieder Tante Leokadia zu
Hilfe.
»Blas dich nicht auf, mein Junge«, riet sie. »Mach, was man dir sagt, auch
wenn es dir nicht gefällt. Bist du erst berühmt, kannst du deinen Kopf
durchsetzen. Jetzt aber halt den Mund und laß dich bei den Redakteurinnen
nicht ohne Pralinen sehen.«
Konstantin hörte auf ihren Rat. Zwar änderte er nur zähneknirschend
etwas, aber das mußte ja niemand hören. Im November las er stolz in einer
frisch gedruckten Nummer des »Kampfbanners«: K. Rasumow »Die Spur
des Windes«, Fortsetzung folgt …
Sein Erstlingswerk gefiel. Das nächste Manuskript nahm bereits die
Zeitschrift »Der Grenzsoldat«, danach kam die »Sowjetische Miliz«.
Konstantin wurde bekannter, aber den Ratschlag von Tante Leokadia hatte
er tief verinnerlicht. Niemals ließ er sich auf Streit mit Redakteuren ein,
änderte bereitwillig und hatte stets Blumen oder Konfekt bei sich, wenn er
den Damen in einer Redaktion seine Aufwartung machte.
1985 gründeten drei erfinderische junge Leute den privaten Verlag Fila-
Press. Der Zufall wollte es, daß einer der Väter dieses Unternehmens der
Sohn des Chefredakteurs des »Kampfbanners« war. Wieder griff Leokadia
ein, und Rasumow durfte seinen ersten Romanversuch beim Verlag
einreichen. Der saß damals in drei kleinen Zimmerchen, wo niemand von
ihm Notiz nahm, aber Kondrat war schon ein wenig bekannt. Daher ist
offen, wem Tante Leokadia mehr half …
Rasumows Debütroman, den Fila-Press herausbrachte, war im Nu
vergriffen. Nun gab man ihm ein Pseudonym. Aus Konstantin wurde
Kondrat. Er hatte es geschafft.
Das war alles lange her. Kondrat wurde beliebt, berühmt und
wohlhabend … Seine Mutter starb, er kaufte sich eine eigene Wohnung,
heiratete, ließ sich scheiden, heiratete wieder … Aber an eines hielt er sich
streng: Seine Manuskripte durfte nur Tante Leokadia tippen. Obwohl sie
nicht mehr die Jüngste war, kaufte er ihr den neuesten Computer und wehrte
sich standhaft, wenn seine Verlagspartner drängten: »Die Alte kann doch
kaum noch die Finger bewegen. Wir schicken dir drei junge Girls, daß dir
die Luft wegbleibt!«
Aber Kondrat lachte nur.
»Tante Leokadia ist mein Talisman, mein guter Geist. Meine Sachen
schreibt nur sie!«
Die Sekretärin hatte geendet und warf mir einen stolzen, erwartungsvollen
Blick zu.
»Sie allein schreiben also seine Romane in den Computer«, fragte ich
nach.
»Nicht nur das, ich gebe Kondrat oft Hinweise, und er hört auf mich«,
antwortete Leokadia. »Und ich bekomme immer ein Exemplar mit
persönlicher Widmung. Also, jetzt her damit!«
»Womit?«
»Na, Sie bringen doch sicher neue Arbeit von Konstantin?«
»Entschuldigung, ich möchte Sie zunächst fragen, ob Sie den
›Hyänenkäfig‹ noch in Ihrem Computer haben.«
»Natürlich habe ich«, antwortete sie ungerührt. »Außerdem auf Diskette.
Wie es sich gehört. Wir hatten schon öfter solche Fälle. Hat er das
Manuskript etwa wieder in den Papierkorb …?«
»Genau das«, entgegnete ich lachend.
»Ach, Konstantin, Konstantin …« Auf Leokadias Gesicht erschien ein
kleines Lächeln. »Er kann immer noch nicht richtig mit dem Computer
umgehen. Ich alte Frau habe es gelernt, aber er hat ewig Angst davor …
Machen Sie doch mal bitte die Schublade dort auf …«
Ich zog gehorsam an dem fein gedrechselten Griff, und zum Vorschein
kam eine Schachtel mit verschiedenfarbigen Disketten.
»Geben Sie her, Kleine, ich kopiere sie Ihnen sofort. Welche Variante?«
»Gibt es denn mehrere davon?«
»Ja, manche Romane hat er in zwei Fassungen geschrieben.«
»Dann hätte ich gern beide.«
»Natürlich, meine Liebe. Grüßen Sie mir Konstantin, Lena, Lisa und
Wanja. Die könnten sich auch mal wieder bei mir sehen lassen …«
Erleichtert steckte ich die Diskette in meine Tasche. Ich brachte es nicht
übers Herz, der netten Leokadia zu sagen, daß Kondrat nicht mehr unter
den Lebenden weilte. Sollte das Lena machen, wenn ich sie wieder frei
bekommen hatte.
Ohne auf den Schneematsch zu achten, der nach allen Seiten spritzte, lief
ich, wie von Hunden gehetzt, zur Metrostation zurück. Meine Handtasche
hielt ich fest an die Brust gepreßt. Ob Lena je wieder frei kam? Eher nicht,
wenn es mir nicht gelang, den wahren Mörder zu finden. Ich wußte nicht,
warum, aber allen Indizien zum Trotz und gegen jede Logik glaubte ich
weiterhin, daß Lena unschuldig sei. Bislang wußte ich nicht einmal, wem
Kondrats Tod eigentlich nützte. Seinen abgelegten Ehefrauen? Nein, die
bekamen von ihm regelmäßig hohe Unterhaltszahlungen. Den Leuten von
Fila-Press? Auch nicht, denn sie verloren mit ihm einen Erfolgsautoren, der
ihnen hohe Gewinne einfuhr. Wem also dann?
Zu Hause schob ich die Disketten nacheinander in den Computer. Als auf
dem Monitor der Titel »Hyänenkäfig« auftauchte, war ich fast zu Tränen
gerührt. Jetzt blieb nur noch, zu entscheiden, welche Version der Verlag
bekommen sollte. Die eine umfaßte 242 Seiten, die andere 312.
Die Sache machte mich neugierig. Da Kondrat nicht damit rechnen
konnte, daß beide Versionen erschienen, mußte eine der Entwurf sein.
Bisher waren mir nur gedruckte Bücher unter die Augen gekommen, und
ich wollte schrecklich gerne wissen, wie es in der »Küche« eines
Schriftstellers zuging.
Nach kurzem Zögern druckte ich beide Versionen aus, holte mir eine
Schachtel Pralinen und zog mich ins Bett zurück, um mir einen schönen
Abend zu machen.
Ich las beide Versionen gleichzeitig. Zuerst schaute ich in die längere und
verglich dann mit der kürzeren. Bis Seite 40 konnte ich nichts von Interesse
entdecken. Aber dann taucht eine der Hauptpersonen des Romans, eine
wahnsinnig eifersüchtige Dame, im Büro der Geliebten ihres Mannes, einer
gewissen Alina Mrit, auf. Sie setzt sie mit einem Spray außer Gefecht und
kippt über der bewußtlosen Rivalin alles aus, was ihr in die Hände fällt –
Tinte, Leim und Tusche; schließlich schneidet sie mit einer Schere deren
Strickjacke in Streifen und reißt ihr die Absätze von den Stöckelschuhen.
Mir blieb der Mund offenstehen. Genau diese Szene hatte mir die
Redakteurin Olga Kondratjewa in der »Welt der Literatur« berichtet! Und
sie war niemand anderem passiert als Angelina Brit! Hier hieß die
Unglückliche Alina Mrit – die Parallele war nicht zu übersehen. Wer noch
nie mit Schriftstellern zu tun hatte, könnte denken: Eine toll erfundene
Szene. Wer sie kennt, kann nur müde lächeln. Kondrat verwertete eben
alles. Aber wer hatte ihm wohl von diesem Auftritt seiner Frau erzählt? Die
geschädigte Angelina? Olga Kondratjewa? Oder vielleicht sogar Lena
selbst? Jetzt war mir auch klar, weshalb die erste Version des Romans mit
dem Satz eingeleitet wurde: »Die Namen der handelnden Personen sind frei
erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen und Umständen sind reiner
Zufall.« Schöner Zufall, dachte ich bei mir. Meine Spannung stieg gewaltig.
In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Das Buch war glänzend geschrieben,
»prall«, wie die Kritiker sagen. Voller Leben zogen die Gestalten am
geistigen Auge des Lesers vorbei, und erst die Auflösung! Bis zur letzten
Seite tappte ich völlig im dunkeln, wer der Mörder sein könnte. Als ich
dann die Seite mit dem Wort »Ende« umgeblättert hatte, verharrte ich noch
lange ohne jede Bewegung, nur mein Kopf nickte versunken wie bei einem
chinesischen Götzen.
Kondrat hatte seinen eigenen Tod mit Genuß und in allen Einzelheiten
beschrieben. Ungefähr auf Seite 100 wird der Held des »Hyänenkäfigs«, ein
lieber, leicht apathischer Professor, von seinem fünfjährigen Enkel
ermordet. Irgendwer, der wußte, daß sich die beiden jeden Abend auf den
Fluren der riesigen Wohnung mit Begeisterung dem Kriegsspiel hingaben,
hatte dem Jungen eine geladene Pistole in die Hand gedrückt. Die sich
überstürzenden Ereignisse liefen letzten Endes auf die Hauptfrage hinaus:
Wer war der Mörder? Am Ende stellte sich heraus, daß die vierte Ehefrau
des Wissenschaftlers, die seine Enkelin hätte sein können, das Verbrechen
kalt geplant und ausgeführt hatte. Sie hatte den Alten nie geliebt und nur
geheiratet, um ihre materielle Lage zu verbessern. Als der Professor, der
ungeachtet seiner Jahre immer noch ein großer Frauenheld war, eine Affäre
mit seiner Aspirantin anfing, kam seine Frau auf diese wahnsinnige Idee.
15. Kapitel
Noch etwas benommen, nahm ich mir eine Zigarette und sog den scharfen
Rauch tief ein. Das war ja ein Ding! Sollte Lena, die den Krimi zweifellos
gelesen hatte, wirklich auf diesen heimtückischen Plan verfallen sein? Ihn
zuerst durchgezogen und dann das Manuskript im Computer gelöscht
haben? Daß die alte Leokadia für alle Fälle noch eine Version in ihrem
Rechner aufbewahrte, hatte sie wohl nicht bedacht … Ob wohl alle
handelnden Personen in der Realität vorkamen? Wahrscheinlich. Auf jeden
Fall war der Teenager Lisas genaues Ebenbild … Ich blätterte das
Manuskript durch. Wer wohl die Vorlage für den miesesten Typen, den
Liebhaber der jungen Ehefrau, abgegeben hatte? Im Buch hieß er Stepan
Rasin und erinnerte in der Tat an einen Ganoven – ein habgieriger,
schrecklich unangenehmer Typ mit krimineller Vergangenheit …
Plötzlich ging mir ein Licht auf. Mein Gott, so war das also! Irgendwer
hatte erfahren, daß Kondrat ihn zum Helden seines nächsten Krimis
gemacht und in voller Schönheit beschrieben hatte. Zwar begriff ich nicht,
wo das Problem lag, aber in der Welt der Literatur konnte man natürlich
zwei und zwei zusammenzählen, und es hätte einen echten Skandal
gegeben. Das heißt, der oder die geheimnisvolle Unbekannte hatte den
Autor umgebracht, um das zu verhindern, sich dann des Manuskripts
bemächtigt und den Verdacht auf Lena gelenkt!
Ich dachte so angestrengt nach, daß mir der Schweiß auf die Stirn trat. Als
erstes mußte ich nun eine Liste aller handelnden Personen aufstellen. Ich
zählte insgesamt achtzehn. Eine viel zu große Gruppe. Ich strich zwölf
Randfiguren, die nur wenige Male auftauchten. Es blieben sechs
Haupthelden. Nach einigem Nachdenken hatte ich den Kreis auf drei
reduziert – die Frau des Professors, seine minderjährige Tochter aus erster
Ehe und seine alte Mutter kamen gewiß nicht als Mörderinnen in Betracht.
Blieben der genannte Stepan Rasin, Ninel Molotoboizewa und Wladimir
Koschelkow. Wie schade, daß ich nicht mit Lena sprechen konnte. Sie hätte
mich sofort aufklären können, wer gemeint war. Aber in der Welt der
Bücher hatte ich keine Bekannten … Obwohl … Vielleicht konnte ja Juri
Gryslow weiterhelfen! Ich hielt es kaum aus, bis es zehn Uhr morgens war.
Dann wählte ich seine Nummer und hörte seine angenehme Stimme:
»Hallo.«
»Juri, hier ist Tanja, ich muß dringend …«
Aber die Stimme im Hörer redete einfach weiter: »Hallo, legen Sie nicht
auf, das ist nur der Anrufbeantworter. Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht.
Ich rufe sobald wie möglich zurück.«
Ich knallte den völlig unschuldigen Hörer mit voller Wucht auf die Gabel
und hätte vor Wut am liebsten losgeheult. Wohin konnte Juri nur
verschwunden sein? Da gab es viele Möglichkeiten. Schließlich war
Sonnabend … Vielleicht arbeitete er auch nur und nahm einfach nicht ab.
Wenn Kondrat einmal an seinem Schreibtisch saß, durfte man ihn auch
nicht mit Banalitäten stören.
In tiefes Nachdenken versunken, ging ich in die Küche. Dort saß Ramik
auf dem Tisch und schleckte hingebungsvoll Apfelsinenkonfitüre.
»Fort mit dir, du Nichtsnutz!« schrie ich ihn an und griff nach der
Zeitung.
Irgendwo hatte ich gelesen, daß man Haustiere mit einer
zusammengelegten Zeitung züchtigen sollte. Das tue ihnen nicht weh, sei
aber sehr demütigend.
Ramik, der inzwischen prächtig gewachsen war, sprang auf das Linoleum
hinab und wollte das Weite suchen. Aber da hatte er sich verrechnet. Mit
der Zeitung fuchtelnd, jagte ich ihn durch den Korridor. Schon wollte er
sich unter einem kleinen Serviertisch auf dicken gußeisernen Beinchen
verkriechen. Das aber gelang ihm nicht. Er hatte vergessen, daß er
inzwischen wesentlich an Umfang zugelegt hatte. Was früher ein gutes
Versteck gewesen war, wurde nun zur Falle. Kopf und Schultern steckten
fest, und sein kräftiges Hinterteil konnte er nicht nachziehen. Er zitterte vor
Angst am ganzen Körper.
»Das geschieht dir recht, du abscheulicher Vielfraß!« sagte ich schon
wesentlich friedlicher.
Ramik muckste sich nicht, aber mein Ton verriet ihm, daß das Schlimmste
überstanden war. Das Zittern hörte auf. Ich warf die Zeitung auf das
Tischchen. Es war die »Welt der Literatur«. Mehrere Sekunden lang starrte
ich gedankenlos auf das Blatt. Dann hatte ich eine Idee: Dort arbeitete doch
Olga Kondratjewa! Die konnte ich fragen!
Ich wählte ihre Nummer und hörte zu, wie es klingelte. Lange wunderte
ich mich, daß niemand antwortete, bis ich begriff, daß sie sonnabends sicher
nicht in ihrem Büro saß. Ich wollte schon auflegen, da sagte doch noch
jemand: »Hallo.«
»Ist dort die ›Welt der Literatur‹?«
»Ja.«
»Ich möchte Olga Kondratjewa sprechen.«
»Heute ist kein Arbeitstag«, antwortete eine Männerstimme. Da war wohl
nichts zu machen.
»Und wer sind Sie?« fragte ich etwas unverschämt.
»Ich bin von der Sicherheitsfirma ›Panther‹«, kam es höflich vom anderen
Ende. »Ich passe auf, daß hier nichts passiert.«
»Seien Sie so nett und geben Sie mir die private Telefonnummer von Olga
Kondratjewa.«
»Ich weiß nicht, wo ich die finden soll. Und ich dürfte sie auch nicht
herausgeben.« Eigentlich konnte es nicht sein, daß ein Wachmann kein
Telefonverzeichnis der Mitarbeiter hatte. Wenn etwas passierte, mußte er sie
doch benachrichtigen. Es kam nur darauf an, dem Jungen ein wenig um den
Bart zu gehen.
»Sehen Sie, mein Freund«, flötete ich, so süß ich konnte, »ich bin in eine
sehr dumme Lage geraten. Ich schreibe Kriminalromane und habe Olga
gestern in der Redaktion aufgesucht, um mit ihr zu sprechen.«
»Wie ist Ihr Name?« fragte der Junge neugierig.
»Marinina«, platzte ich heraus, ohne lange nachzudenken.
»Oh, das ist mir aber eine Ehre, mit einer solchen Berühmtheit zu
sprechen«, sagte der Wachmann ehrerbietig. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ach wissen Sie, zerstreut wie ich bin, habe ich gestern ein
Schminktäschchen mitgenommen. Gerade eben habe ich gemerkt, daß es
nicht mir gehört. Wahrscheinlich ist es das von Olga. Das Problem ist, ich
habe darin nicht nur Lippenstift und Puder, sondern auch eine beträchtliche
Geldsumme gefunden. Zu dumm, sicher ist sie jetzt schon ganz verzweifelt,
weil sie nicht weiß, wo das Täschchen geblieben ist. Ich muß sie unbedingt
anrufen und beruhigen.«
»Für Sie, Frau Marinina, tue ich doch alles«, versicherte der Junge
diensteifrig. »Hoffentlich finde ich die Nummer.«
Man hörte, wie er ein Büchlein durchblätterte. Es war doch gut, eine
berühmte Schriftstellerin zu sein. Schließlich bot er mir sogar zwei
Telefonnummern an.
»Herzlichen Dank, mein Lieber«, zwitscherte ich.
»Woran schreiben Sie gerade?« fragte der Wachmann gespannt. »Ich habe
alle Ihre Bücher gelesen.«
»Ich sitze wieder an einer neuen Sache. Mein Computer steht nie still.«
»Wie wird das Buch denn heißen?«
»›Die blutigen Zähne des Vampirs‹«, teilte ich ihm bereitwillig mit und
legte auf.
Nun also zu Olga. Aber bevor ich die nächste Nummer wählen konnte,
schrie jemand im Nebenzimmer auf.
»Lisa, was ist denn passiert?«
»Dieser Pingu!« rief das Mädchen. »Schau dir das an!«
Ich lief in ihr Zimmer. Der Kater hatte mit seinen Krallen ein Sofakissen
zerfetzt, so daß die Schaumstoffstückchen wie Schneeflocken durchs
Zimmer schwebten.
»Ich wollte ihn greifen, da hat er das gemacht!« erklärte Lisa klagend und
hielt mir ihre zerkratzten Hände hin.
Er war wirklich ein Schlingel. Erst gestern war er mir aus dem Hinterhalt
auf die nackten Füße gesprungen und hatte mich so in die Zehen gezwackt,
daß sie bluteten.
»Pingu, hör auf!« rief Lisa wütend und schlug mit ihrer Pyjamahose nach
ihm.
Aber der Kater krallte sich auch daran fest.
»Vielleicht hat er die Tollwut?« meinte Lisa erschreckt.
Als ob er sie verstanden hätte, schlich Pingu in die Küche, wo er ganz
unschuldig aus seinem Napf zu schlecken begann.
»Das glaube ich nicht«, murmelte ich, »aber er zeigt ganz schön
Charakter. Wir sollten ihn untersuchen lassen.«
Eine halbe Stunde verging über der Suche nach der Visitenkarte des
Tierarztes, der Ramik behandelt hatte. Schließlich fand ich sie im
Brotkasten.
»Einen Moment«, brummte eine unfreundliche Männerstimme.
Dann war ein Klirren zu hören. Wahrscheinlich trank er wieder Tee wie
bei unserem letzten Besuch. Nur hatte ich jetzt nicht den eindrucksvollen
Andrej dabei, der ihm Beine machen konnte. Erst nach fünf Minuten war er
wieder da.
»Ich höre.«
Bei all seiner Unhöflichkeit mußte der Mann ein guter Arzt sein, denn
unserem Freßsack Ramik hatte er sofort geholfen.
Als ich mein Problem mit aller Leidenschaft vortragen wollte, fiel mir der
Arzt ins Wort: »Die Tollwut können Sie vergessen. Wie alt ist der Kater?«
»Noch kein Jahr. Vielleicht fünf Monate. Wir haben ihn auf dem Markt
gekauft.«
»Geben Sie ihm ›Contrasex‹, zwei Tabletten täglich. Wir haben März, und
seine Hormone spielen verrückt. Ein Glück, daß er bisher in der Wohnung
noch nicht sein Revier markiert hat, das stinkt mörderisch.«
»Ist es denn gut, wenn er ständig Medikamente nehmen muß?«
»Sonst bleibt Ihnen nur, sich mit seinen Kapriolen abzufinden. Aber er
wird bald nachts schreien und versuchen, aus dem Fenster zu springen.«
»Was kann man da tun? Gibt es denn nur die Chemie?«
»Sie können ihn kastrieren lassen. Ein leichter Eingriff unter Vollnarkose
– absolute Routine. Wenn er wieder aufwacht, ist er lammfromm. Nur
fressen wird er wesentlich mehr.«
Um keine Zeit zu verlieren, ließ ich mir schon für den nächsten Tag einen
Termin geben. Dann wählte ich Olga Kondratjewas Nummer. Obwohl es
bereits gegen elf Uhr vormittags war, mußte sie noch im Bett liegen. Erst
nach dem zehnten Klingeln hörte ich eine verschlafene Stimme: »Was ist
denn los?«
»Olga, hier ist Tanja, die Verwandte von …«
»Ich weiß«, kam es vom anderen Ende gedehnt. »Hören Sie auf, sich als
Lenas Cousine auszugeben …«
Ich hatte ganz vergessen, daß mich Olga bei Angelinas Begräbnis bereits
»entlarvt« hatte.
»Olga, ich muß dringend mit Ihnen sprechen.«
»Jetzt gleich?«
»Wenn das geht?«
»Dann müssen Sie zu mir kommen, denn in den nächsten zwei Tagen bin
ich nicht in der Lage, auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen.«
»Lisa«, rief ich. »Ich muß schnell mal weg. Gib Pingu Fleisch zu fressen,
sonst spielt er noch völlig verrückt!«
»Wird gemacht!« kam es von Lisa zurück. »Ich erwarte Besuch, hast du
was dagegen?«
»Wer ist es denn?« fragte ich und versuchte verzweifelt, meine Stiefel zu
schließen, denn der Reißverschluß klemmte.
»Mascha Gawrjuschina«, antwortete Lisa. »Wir wollen einen Kuchen
backen!«
»Prima, laßt mir etwas zum Kosten übrig«, rief ich ihr zu und stürzte aus
der Tür.
Olga Kondratjewa ließ sich am Wochenende offenbar gerne gehen. Sie
war nicht geschminkt, nicht gekämmt und lief in einem bequemen
gesteppten Morgenrock herum.
»Das ist für Sie«, murmelte ich und reichte ihr eine Schachtel mit
Törtchen. »Ich hoffe, ich habe Ihren Geschmack getroffen …«
»Wunderbar«, sagte sie strahlend. »Schade, daß ich eigentlich drei Kilo
zuviel habe.«
»Sie können sich doch hinter einem Besenstiel umziehen«, gab ich
lachend zurück.
Olga errötete leicht.
»Das scheint nur so. Die Waage zeigt 57 Kilo, und das ist für mich
zuviel.«
»Ich kenne eine ausgezeichnete Diät aus Frankreich«, teilte ich ihr mit.
So schwatzten wir munter miteinander, was man für eine gute Figur tun
konnte, und taten uns an den mitgebrachten Süßigkeiten gütlich. Schließlich
glaubte ich sie genügend in Stimmung gebracht zu haben, um meine Fragen
zu stellen.
»Olga, kennen Sie die Bücher von Kondrat Rasumow?«
»Natürlich«, antwortete die Journalistin verwundert. »Dafür werde ich
schließlich bezahlt!«
»Krimis lesen ist Arbeit?« fragte ich erstaunt zurück.
»Manchmal sogar ziemlich schwere«, meinte Olga seufzend. »Ich bin für
die Rubrik ›Neuerscheinungen‹ zuständig, habe also den Lesern neue
Bücher vorzustellen. Manchmal muß ich Dinge lesen, von denen mir übel
wird. Sie glauben gar nicht, was heutzutage alles bei uns erscheint!
Kondrats Arbeiten waren immer sehr professionell gemacht, aber aus mir
wird wohl nie ein Krimifan werden.«
Die Arme konnte einem leid tun. Was sie wohl vor dem Einschlafen las?
»Sagen Sie, haben Sie nicht schon manchmal in seinen Büchern Personen
aus Ihrem Bekanntenkreis erkannt?«
Olga kicherte.
»Natürlich, jede Menge! Wenn er sich über Bekannte besonders
ausgelassen hat, dann sicherte er sich immer mit der Vorbemerkung ab,
Namen und Handlung seien frei erfunden. Als 1997 sein Roman
›Brennendes Eis‹ herauskam, hat es einen regelrechten Skandal gegeben!«
»Worum ging es da?«
»Der Roman dreht sich um die Familie von Akademiemitglied Iwan
Sarin. Das ist mir vielleicht eine Sippe! Seine Frau Marianne, seine Tochter
Anja und sein Sohn Dima – nichts als Mörder, Zuhälter und
Prostituierte …«
»Na und?«
»Es kam, wie es kommen mußte«, berichtete Olga fröhlich. »In Moskau
lebt ein Akademiemitglied namens Iwan Parin. Seine Frau heißt Marina,
seine Tochter Anna und sein Sohn Wadim. Merken Sie was?«
»Das ist nicht schwer.«
»Dieser Parin tauchte fuchsteufelswild bei unserem Chefredakteur auf und
verlangte, daß die ›Welt der Literatur‹ eine Gegendarstellung bringt. Wir
sollten schreiben, Sarin sei nicht Parin.«
»Und? Haben Sie es gemacht?«
»Natürlich nicht.«
»Warum nicht?«
»Erstens hatte der Verfasser in dem Buch erklärt, daß alles frei erfunden
sei. Zweitens mußten wir dem Akademiemitglied klar machen, daß ein
solches Dementi auch die letzten Zweifel der Leser beseitigen würde.«
»Und was ist mit Parin jetzt?«
»Er ist inzwischen verstorben. Seine Frau hat einen Ausländer geheiratet
und ist mit ihren Kindern aus Rußland verschwunden.«
»Olga, wenn Sie Namen wie Ninel Molotoboizewa, Wladimir
Koschelkow und Stepan Rasin lesen, wer fällt Ihnen da ein?«
»Die sind mir aber noch in keinem Buch untergekommen«, meinte Olga
zweifelnd und schob nachdenklich eine Marzipankartoffel in den Mund.
»Und wenn es solche Figuren gäbe, wer könnte dahinterstecken?«
»Das ist gar nicht so einfach. Obwohl – Ninel Molotoboizewa
(Hammerschläger) könnte Nina Kusnezowa (Schmied) sein.«
»Und wer ist das?«
»Sie arbeitet im Schriftstellerverband, ist dort für Sozialhilfe und andere
Finanzdinge zuständig. Eigentlich ist sie Buchhalterin, aber sie stellt sich
gern als Mitglied des Schriftstellerverbandes vor. Alle lachen nur darüber.
Was steht denn in dem Roman über sie?«
Ich kramte in meinem Gedächtnis.
»Daß sie mehrmals verheiratet war und jeden ihrer Männer ausgenommen
hat wie eine Weihnachtsgans. Wohnung, Datsche und Sparbücher – alles hat
sie sich unter den Nagel gerissen. Das war’s schon, aber sehr eindrucksvoll
beschrieben!«
»Das ist sie!« rief Olga und lachte laut auf. »Wissen Sie, was ihr letztes
Ding war? Zum Totlachen! Sie war damals mit Sergej Wolgin von der
Redaktion der ›Perwaja gaseta‹ verheiratet. Auch diese Ehe ging natürlich
in die Brüche. Sergej hatte vor der Zeit mit Nina eine prima Bude mit drei
Zimmern am Leningrader Prospekt. Nina zog bei ihm ein und meldete sich
auch offiziell dort an. Natürlich hat sie selber eine Unterkunft in Moskau,
sogar mehrere. In ihrer Zweizimmerwohnung hatte sie ihre vierzehnjährige
Tochter angemeldet und in dem Vierzimmerappartement ihre Mutter. So
war Nina selbst quasi obdachlos. Wäre der Mann etwas aufgeweckter
gewesen, hätte er Lunte riechen und sich erkundigen müssen, warum eine
Frau, deren Verwandte auf so vielen Quadratmetern sitzen, ausgerechnet bei
ihm einzieht. Aber darauf kam Wolgin nicht. Nach der Scheidung war dann
alles zu spät. Wie es aussieht, hatte sie ihren Coup von langer Hand
vorbereitet. Schon ein Jahr vor der Trennung überredete Nina Sergej, seine
Wohnung zu tauschen. Vom Leningrader zogen sie auf den Kutusow-
Prospekt. Eigentlich kaum ein Unterschied, aber bei der Scheidung stellte
sich dann heraus, daß die neue Bleibe jetzt plötzlich beiden zu gleichen
Teilen gehörte. Es kümmerte niemanden mehr, daß sie sie für Sergejs
Eigentumswohnung eingetauscht hatten.
Wolgin war stinksauer und lehnte alle Varianten ab, die ihm die
habgierige Nina anbot. Ein halbes Jahr hielt er sich, dann aber fiel er um,
weil seine Verflossene ihn mit einem wahren Leckerbissen zu ködern
verstand. Sie bot ihm eine hervorragende Zweizimmerwohnung in einem
Neubau an – Terentjewskaja uliza Nr. 4 –, nur zwei Minuten von der
nächsten Metrostation entfernt. Die Zimmer 18 und 20 Quadratmeter groß,
Diele, Küche und Korridor, Fußböden und sanitäre Anlagen in Bestzustand.
Der verblüffte Wolgin unterschrieb sofort. Er dachte auch nicht darüber
nach, wie es Nina gelungen sein mochte, die eine nicht allzu große
Wohnung am Kutusow-Prospekt gegen zwei einzutauschen, denn sie selbst
hatte sich auch noch eine Dreizimmerwohnung besorgt, die fast so groß war
wie das ursprüngliche Tauschobjekt.
Daß seine Ex-Gattin vor Liebenswürdigkeit fast zerfloß, machte den guten
Sergej ebenfalls nicht mißtrauisch. Sie nahm ihm alle Behördengänge ab,
ließ sich seinen Paß geben und sorgte dafür, daß alle bürokratischen
Prozeduren erledigt wurden. Wie groß aber war sein Erstaunen, als er seine
neue Wohnung beziehen wollte.
Dort trat ihm eine unbekannte Frau entgegen, die verblüfft erklärte:
»Meine Wohnung tauschen? Nie im Leben!«
»Aber wieso nicht?« fragte Sergej entgeistert. »Hier ist mein Paß und die
neue Anmeldung: Terentjewskaja uliza Nr. 4.«
»Na, dann fahren Sie doch hin!« gab die Frau spitz zurück. »Was wollen
Sie bei uns?«
»Aber …«
»Hier ist die Leonowskaja Nr. 9«, erklärte ihm die Hausfrau. »Haben Sie
das Schild nicht gesehen?«
»Das habe ich schon«, empörte sich Sergej, »als ich die Wohnung
besichtigt habe.«
»Sie wollen unsere Wohnung besichtigt haben?« fragte die Frau
ungläubig. Dann meinte sie gutmütig: »Kommen Sie, wir schauen uns das
gemeinsam an!«
Als sie zusammen vor die Haustür traten, fiel Sergej der Unterkiefer
herunter. Auf dem Schild neben dem Eingang stand tatsächlich
»Leonowskaja Nr. 9«.
»Das kann nicht sein!« murmelte er. »Ich bin sicher, vor zwei Tagen stand
hier ›Terentjewskaja Nr. 4‹.«
Die Besitzerin der Wohnung zuckte mit den Schultern und entfernte sich.
Wolgin blieb nichts weiter übrig, als zur Terentjewskaja uliza zu fahren. Zu
seinem Entsetzen mußte er feststellen, daß sie im Vorort Kurakin, fast am
Ende der Welt lag. Nr. 4 erwies sich als ein elendes zweistöckiges Gemäuer
ohne Fahrstuhl, Müllschlucker und fließend warmes Wasser. Nina hatte bei
der Besichtigung einfach die Schilder ausgetauscht und so ihren
gutgläubigen Ex-Gatten übers Ohr gehauen. Daß er anschließend auch vor
Gericht verlor, kann kaum noch verwundern.
»Tolle Geschichte, was?« meinte Olga.
»Der reine Wahnsinn«, antwortete ich seufzend. Daß ich sie bereits in
allen Einzelheiten aus dem »Hyänenkäfig« kannte, sagte ich ihr nicht.
»Und wer könnten nun Wladimir Koschelkow und Stepan Rasin sein?«
»Keine Ahnung«, meinte Olga. »Müssen Sie das wirklich wissen?«
»Ja, unbedingt«, bekräftigte ich.
»Dann kann Ihnen nur Eleonore weiterhelfen. Die weiß alles!«
»Wer ist denn das?«
»Oh, sie ist eine geradezu historische Persönlichkeit«, erklärte Olga
verschmitzt. »Die Witwe des Schriftstellers Kisseljow, eine echte Dame der
Gesellschaft, aber eine schreckliche Klatschbase.«
»Und wo finde ich sie?«
Olga schaute auf die Uhr.
»Halb zwei, da hat sie vielleicht schon gefrühstückt. Warten Sie einen
Moment.«
Olga wählte eine Nummer und schnurrte in den Hörer: »Nora? Guten
Morgen, hier ist Olga von der ›Welt der Literatur‹. Was macht die
Gesundheit? Wie geht es unserer Sofja?«
Es folgte eine lange Konversation zu verschiedenen Themen. Etwa eine
halbe Stunde lang flötete Olga wie eine Nachtigall, bevor sie auf mein
Problem kam.
»Ob Sie mir wohl helfen können, Nora? Ich habe eine junge Bekannte,
etwa in Ihrem Alter, die der Mann verlassen hat und die nun arbeiten muß.
Ich habe sie aus Mitleid in unserer Redaktion untergebracht. Aber sie ist
sehr schüchtern und kennt sich in unserer Welt der Literatur überhaupt nicht
aus. Jemand müßte sie ein wenig einführen, und wer könnte das besser als
Sie? Ihr Name ist Tatjana. Kann ich sie Ihnen vorbeischicken?«
Als sie aufgelegt hatte, sagte sie aufgeräumt: »Notieren Sie Noras
Adresse. Sie erwartet Sie. Denken Sie daran, wenn Sie mit ihr reden, immer
mal einzustreuen: ›Nora, Sie sind ja noch nicht einmal vierzig!‹ Oder Sie
sagen: ›Ach, was sind junge Frauen wie Sie doch zu beneiden!‹ Oder auch:
›Kindchen, ruf doch mal deine Mutter.‹«
Jetzt mußte ich lachen.
»Na, das letzte ist wohl doch etwas dick aufgetragen!«
»Überhaupt nicht.« Olga lachte. »Genau richtig! Wer gut schmert, der gut
fährt.«
»Nora ist ein wandelndes Tageblatt«, fuhr Olga fort. »Wenn Sie ihr
gefallen, dann ist sie nicht zu bremsen. Und am ehesten kann man bei ihr
landen, wenn man ihrer Schönheit schmeichelt. Hüten Sie sich aber vor
Bemerkungen wie: ›Also, meine Liebe, für Ihr Alter sehen Sie ganz
hervorragend aus, mehr als vierzig würde ich Ihnen nicht geben.‹ Denken
Sie daran: Nora ist seit ewigen Zeiten fünfunddreißig. Wie alt sie wirklich
ist, weiß niemand. Ihr Mann, ein begnadeter Dichter, ist vor zehn Jahren
gestorben. Um 1980 hat er den genialen Satz geprägt: ›Nora, meine Liebe,
hör endlich auf, zur Miliz zu laufen und deinen Paß zu tauschen, sonst
fallen dein Geburtsdatum und dein Parteieintritt bald auf einen Tag!‹ Das
war nicht weit von der Wahrheit entfernt. Es kostete Eleonora nicht viel, ihr
Geburtsdatum immer wieder ändern zu lassen. Für ihre erlesenen
Geschenke – Whisky, amerikanische Zigaretten und Importkaffee – erfüllte
ihr der Chef der Paßabteilung jeden Wunsch. Die Kommunisten dagegen
hüteten die Parteidokumente mit Argusaugen und änderten darin keine
einzige Ziffer. Deshalb ist Nora auch als eine der ersten aus der KPdSU
ausgetreten.«
»Danke, Olga, Sie haben mir sehr geholfen«, sagte ich und hatte wieder
mit meinen Stiefeln zu kämpfen.
»Ich tue das nicht für Sie, sondern für Lena«, antwortete Olga. »Offenbar
sind Sie ernsthaft bemüht, Kondrats Mörder zu finden. Und Lena hat bei
mir noch etwas gut.«
»Was denn?« fragte ich verwundert.
»Ich bin als Praktikantin zur ›Welt der Literatur‹ gekommen«, erzählte
Olga, »mit einer Probezeit. Als die vorüber war, erklärte mir der
Chefredakteur: ›Wenn du Kondrat Rasumow dazu überredest, einen seiner
Romane bei uns als Fortsetzung zu drucken, dann kriegst du die Stelle,
wenn nicht, müssen wir uns leider in aller Freundschaft trennen.‹ Können
Sie sich das vorstellen?«
Kondrat dachte natürlich nicht daran, auf ein solches Geschäft
einzugehen. Aber Olga rief ihn in ihrer Verzweiflung immer wieder an, weil
sie hoffte, er werde sich doch noch erweichen lassen. Schließlich nahm sie
allen Mut zusammen und klopfte an die Tür des Schriftstellers. Dabei stieß
sie auf Lena. In ihrer Not brach sie in Tränen aus und erzählte ihr die ganze
Geschichte.
»Fahr nach Hause und beruhige dich erst mal«, sagte diese mitfühlend.
Olga tat, wie ihr geheißen. Am nächsten Morgen erschien Kondrat
persönlich in der Redaktion, schob Olga eine dünne Mappe hin und
brummte: »Nimm das, in Gottes Namen, du Heulsuse! Bedanke dich bei
meiner Frau. Ich kann Fortsetzungsromane nicht ausstehen.«
»Dafür habe ich ihr noch nie richtig danken können«, schloß Olga ihren
Bericht.
Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.
16. Kapitel
Die Tür zu der Luxuswohnung sprang auf, und ich plapperte, ohne
nachzudenken: »Guten Tag. Ich bin Korrespondentin der ›Welt der
Literatur‹ und möchte gern Ihre Mutter sprechen.«
Die schon etwas vertrocknete, etwa sechzigjährige Brünette kicherte
geziert.
»Wenn Sie zu Nora wollen – das bin ich.«
»Das kann nicht sein! Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung«,
stammelte ich. »Ich dachte, Frau Kisseljowa sei um die Vierzig, aber Ihnen
gibt man doch keine zwanzig!«
»Aber meine Teure«, säuselte die Witwe, »hier ist es etwas schummrig.
Kommen Sie ins Wohnzimmer, dann werden Sie mir glauben.«
Ich wurde in einen geräumigen Salon geführt, der mit alten Möbeln
vollgestopft war. Überall Schränke und Kommoden aller Größen mit
Nippes und Spitzendeckchen. Dazu Kristall in Mengen, riesige Spiegel in
zentnerschweren vergoldeten Rahmen an den Wänden. Alles frisch poliert
und ohne ein einziges Stäubchen. Ein Hauch von französischem Parfüm
hing in der Luft.
Die Dame des Hauses ließ mich auf einem mit blauer Seide bezogenen
Sofa Platz nehmen und setzte sich selbst in einen riesigen Sessel in Positur.
»Worum geht’s? Was wünschen Sie von mir?«
Ich mußte zugeben, daß Nora für ihre sechzig Jahre wirklich sehr gut
aussah. Ihr Haar war nach der letzten Mode geschnitten und kastanienbraun
gefärbt, die Gesichtshaut noch sehr glatt, wenn man die Krähenfüße in den
Augenwinkeln übersah, die Lippen voll und dunkelrot geschminkt. Nur die
Augen verrieten ihr Alter. Dieses jugendliche, frische Blitzen ist nicht für
Geld zu haben und von keinem Schönheitschirurgen zu bekommen. Wie oft
mochte sie wohl schon unter dem Messer gewesen sein? Mindestens
dreimal. Sie hatte eindeutig das ganze Gesicht liften, Augenlider und
Tränensäcke korrigieren und die Lippen aufspritzen lassen. Auch ihre Brust
hatte man offenbar angehoben, denn ihr Pulli wölbte sich jugendlich. Auf
die restliche Figur hatte sie ganz gewiß selbst geachtet. Wer Schokoladeneis
am Abend und den wunderbaren russischen Torten nicht widerstehen
konnte, dem half auch kein Fettabsaugen. Noras Gesamterscheinung war
tadellos. An den schlanken Beinen, die sie unter einem sehr kurzen Rock
bereitwillig herzeigte, keine Spur von Krampfadern. Auch daran hatte sie
ganz gewiß gearbeitet. Die Taille schlank, die Hüften schmal, die Arme
lang und dünn … Nur war das alles nicht die zierliche Gestalt einer
Achtzehnjährigen, sondern die einer vertrockneten älteren Dame.
»Also, meine Liebe«, erklärte Nora mit einem süßen Lächeln, »jetzt
müssen Sie doch sehen, daß ich schon fünfunddreißig bin!«
»Einfach nicht zu glauben!« rief ich pathetisch und mußte ihrem
strahlenden Blick ausweichen, um mich nicht zu verraten. »Sie sind niemals
fünfunddreißig! Wie machen Sie das bloß? Ich bin nur drei Jahre älter und
fühle mich im Vergleich zu Ihnen wie meine eigene Großmutter!«
»Das ist kein großes Geheimnis«, antwortete Nora stolz und kokett, wobei
sie sich in einem der zahlreichen Spiegel betrachtete. »Ich habe eine
einfache Regel – niemals schlecht von anderen denken, die Menschen
lieben und Freunden im Unglück helfen …«
Und sich einmal im Jahr unter’s Messer legen, dachte ich bei mir.
Aber Nora war rundum zufrieden mit dem Eindruck, den sie auf mich
gemacht hatte, und ahnte nichts von meinen bösen Gedanken.
»Also, meine Teure, heraus mit der Sprache! Wenn ich Ihnen irgendwie
helfen kann …«
Ich spulte eine Geschichte ab, die ich mir unterwegs ausgedacht hatte. Ich
war Praktikantin bei der »Welt der Literatur« und hatte zu beweisen, daß
ich mich nicht nur in der Flut der Neuerscheinungen, sondern auch mit den
Persönlichkeiten der Schriftsteller auskannte. Mein Chefredakteur hatte ein
neues Manuskript von Kondrat Rasumow auf dem Tisch. Meine Redaktion
verlange nun von mir, daß ich die wahre Identität der Hauptpersonen
herausbekomme. Da sei zum Beispiel eine Ninel Molotoboizewa …«
»Nina Kusnezowa!« rief Nora fröhlich. »Eine Schlampe, wie es kaum
eine zweite gibt! Arbeitet im Schriftstellerverband. Dort ist heutzutage
vielleicht was los! Früher waren alle Meister des Wortes Mitglied in einer
einzigen Organisation, dem Schriftstellerverband der UdSSR. Jetzt gibt es
einen ganzen Haufen solcher Vereine, ich glaube, sieben oder acht. Mehr
Verbände als Schriftsteller! Da kenne sich einer aus! Nina ist noch aus dem
alten Apparat. Wenn man früher in die Moskauer Filiale kam, dann saßen
da lauter Frauen um die Dreißig herum. Was machten die wohl dort bei dem
miserablen Gehalt? Ganz einfach. Jede wollte sich einen Schriftsteller
angeln. Die waren zu allem bereit! Gleich dort, am Arbeitsplatz … Und
manche hat es sogar geschafft. Ein bekannter Dichter hat so sein ganzes
Leben mit einer Serviererin aus dem Zentralen Haus der Schriftsteller
verbringen müssen … Mehrere haben sich einen eingefangen, aber Nina
mußte sich ein anderes Jagdrevier suchen. Keiner wollte sie haben.«
»Warum?«
»Ein schlechter Ruf verbreitet sich wie ein Lauffeuer, meine Teure«, sagte
Nora rachsüchtig. »Wissen Sie denn nicht, was die mit den Männern alles
angestellt hat?«
Nun mußte ich mir die ganze Geschichte mit dem Wohnungstausch noch
einmal anhören.
»Und wer könnte Wladimir Koschelkow sein?« warf ich schnell ein, als
Nora einmal tief Luft holte.
»Koschelkow, Koschelkow«, murmelte die Dame und rückte ihre Frisur
zurecht. »Koschelkow! Natürlich, Wladlen Koschel! Auch so ein Kerl ohne
Sitte und Moral.«
»Was Sie nicht sagen!« Ich tat, als sei ich völlig platt.
»Hören Sie«, rief Nora erregt aus. »Das muß ich Ihnen erzählen!«
Er galt unter den Schriftstellern als Schnorrer. Tagelang drückte er sich im
Foyer des Zentralen Hauses der Schriftsteller herum und wartete auf
Bekannte, die sich zu Tisch begeben wollten. Hatte er den Richtigen
erwischt, dann eilte er mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
»Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen, mein Lieber …«
Dann nahm er, ohne zu zögern, mit am Tisch Platz und meinte: »Wie
schön, daß wir wieder einmal in Ruhe miteinander plaudern können …«
Er wußte natürlich genau, bei wem er sich das erlauben konnte. In der
Regel waren es Männer, die mit einer frischen Eroberung auftauchten. Wer
wollte schon in den Augen seiner Dame als Geizkragen dastehen! Wenn er
im Restaurant keinen passenden Kandidaten fand, schaute er in der
Cafeteria nach. Für Essen und Zigaretten gab er keine Kopeke aus. Ab und
zu mußte er auf der Toilette eine Ohrfeige von einem besonders wütenden
Opfer einstekken, aber das machte ihm nichts aus.
Der Gerechtigkeit halber muß man sagen, daß er auf solche Tricks nur
verfiel, wenn er in Wartestellung war. Denn in der Regel ließ er sich von
Frauen aushalten. Seine Geliebten suchte er sich außerhalb der Welt der
Literatur. Meist waren es Offizierstöchter oder andere gut gestellte Damen
um die Vierzig. Ihnen schwärmte er ohne alle Hemmungen von seinem
genialen Poem »Die Hände der Geliebten« vor. Es lag natürlich nur an
bösen Intriganten, daß seine unvergänglichen Verse nicht gedruckt wurden.
Anfangs glaubten ihm die meisten, kauften ihm Anzüge und Hemden,
luden ihn auf ihre luxuriösen Landhäuser ein, die sie von ihren
Generalsvätern geerbt hatten. Wenn das erste Feuer erkaltet war, warfen sie
ihn aber in der Regel wieder hinaus.
1988 heiratete Koschel dann Sweta Rogatschowa. Es machte ihm nichts
aus, daß seine Braut fünfzehn Jahre älter war. Das »junge« Paar lebte fünf
Jahre zusammen, bis Swetas Tochter Anjuta aus Paris auftauchte. Trotz
ihrer jungen Jahre war sie bereits Witwe, und was für eine! Ihr verstorbener
Gatte, Monsieur Dupont, galt als einer der reichsten Männer Frankreichs.
Aber der Krebs macht vor niemandem Halt, und so fiel Anjuta als
Alleinerbin ein riesiges Vermögen zu.
Wladlen war sofort im Bilde und schoß sich auf das neue Ziel ein. Da er
in Liebesdingen ein erfahrener Schütze war, fiel die Festung bald. Sweta
erlitt beinahe einen Herzinfarkt, als sie von seinem Treiben erfuhr, und
öffnete der Tochter die Augen. Aber die wollte nichts hören. Es gab einen
heftigen Streit zwischen Muter und Tochter. Wladlen ließ sich sofort
scheiden, heiratete die junge Witwe und entschwebte mit ihr an die Seine,
wo er seitdem in Saus und Braus lebt. Er läßt seine Gedichte auf eigene
Kosten drukken, gibt Duponts Vermögen aus und fühlt sich wie Gott in
Frankreich. Die frühere Frau hat er längst aus seinem Leben gestrichen.
Anjuta hat alle Beziehungen zu ihrer Mutter eingestellt. Sweta sei im
vergangenen Jahr in tiefer Armut an gebrochenem Herzen gestorben,
berichtete Nora.
»Wie finden Sie die Geschichte?« fragte sie.
»Meine Güte«, seufzte ich.
Auch diese Story war mir nicht ganz neu. Kondrat hatte sie im
»Hyänenkäfig« ebenfalls umfassend ausgeschlachtet. Dort ermordet
Wladimir Koschelkow allerdings Serge Dupont, um sich anschließend mit
dessen Witwe zu vergnügen. Aber ein wenig Phantasie muß man einem
Schriftsteller schon zugestehen.
»Und Stepan Rasin?«
Nora verstummte. Nach einigen Minuten fragte sie: »Sind Sie sicher, daß
es für diese Figur ein reales Vorbild gibt?«
»Bestimmt. Rasumow hat in seinen Büchern fast immer lebende Personen
verwandt …«
»Na, vielleicht nicht immer«, meinte Nora stirnrunzelnd. »Im
wesentlichen schon. Aber das machen die meisten so. Kein Bekannter ist
vor ihnen sicher … Kondrat hat es allerdings in seinen letzten Büchern
etwas wild getrieben. Die Geschichte mit Parin kennen Sie?«
Ich nickte.
»Wissen Sie, was das Gemeinste daran war?«
»Nein.«
»Kondrat hat nur einige ohnehin bekannte Dinge aus Parins Leben
verwandt: daß er ein Mädchen geheiratet hat, die seine Enkelin hätte sein
können, daß er ein toller Schürzenjäger war, daß seine Aspirantinnen durch
sein Bett mußten, wenn sie den Doktortitel bekommen wollten … Alles
andere ist erstunken und erlogen.
Aber schon Goebbels soll gesagt haben: ›Je größer eine Lüge ist, desto
eher wird sie geglaubt.‹ Rasumow stellte Parins Familie als eine
Ansammlung wahrer Monster dar. Die Tochter bringt ihr neugeborenes
Kind um, die Frau überblickt die Schar ihrer Geliebten nicht mehr und
vergiftet schließlich einen wie eine Kakerlake, das Familienoberhaupt selbst
tötet im Bett aus Versehen eine Anwärterin auf den Doktortitel aus der
Provinz …
Die Leser nahmen das alles für bare Münze. Einige Leute, die Parin gut
kannten, guckten ihn schief an. Der eine oder andere wollte nichts mehr mit
ihm zu tun haben. Es war wie in dem alten Witz: Entweder die Brieftasche
wurde ihm gestohlen oder er hat eine Brieftasche gestohlen, aber irgendwas
ist faul an der Geschichte.
Und wissen Sie überhaupt, warum Kondrat sich ausgerechnet Parin
ausgesucht hat?« fragte Nora und hielt die Luft an.
»Keine Ahnung.«
»Rasumow wollte korrespondierendes Mitglied der Akademie werden.
Sein Ehrgeiz ist mit ihm durchgegangen. In Ausnahmefällen werden dort
auch Künstler aufgenommen, die sich um die Wissenschaft verdient
gemacht haben. Seinen Antrag hat Parin beerdigt. Und da hat sich unser
Killer eben gerächt.«
»Wer?« fragte ich verständnislos.
Nora schaute in den Spiegel, strich sich über die linke Braue und erklärte
mir freundlich: »Parin war in seinem Zorn kaum zu bremsen. Er klapperte
alle Redaktionen ab und forderte Gegendarstellungen. Die meisten winkten
ab und erklärten ihm, damit werde alles nur noch schlimmer. Wer bis jetzt
noch nicht begriffen habe, daß mit dem Hauptheld Parin gemeint sei, werde
es dann endgültig wissen.
Aber am Ende erreichte Parin bei einem Boulevardblatt, was er wollte. Es
brachte einen Artikel unter dem Titel ›Ein Literat als Killer‹. Es passierte
genau das, was man Parin vorausgesagt hatte. Wer den Skandalroman noch
nicht gelesen hatte, wollte ihn nun unbedingt haben. Der Verlag mußte die
Auflage verdoppeln, und Kondrat war der lachende Dritte!«
»Und zu Stepan Rasin fällt Ihnen wirklich niemand ein?«
Nora schüttelte den Kopf.
»Ich werde weiter darüber nachdenken. Koschel und Kusnezowa waren
sofort klar, aber Rasin? … Der sagt mir wirklich nichts.«
Wieder zu Hause angekommen, versuchte ich erneut, Juri Gryslow
anzurufen. Aber ich erreichte nur den Anrufbeantworter, der sich wegen
Überfüllung des Speichers weigerte, meine Nachricht anzunehmen.
Am Sonntagmorgen fragte ich unseren Nachbarn: »Andrej, können Sie
uns zum Tierarzt fahren?«
»Hat sich der Mastino wieder überfressen?« fragte der Bandit
erschrocken.
»Nein. Wir wollen Pingu kastrieren lassen.«
»Weshalb denn das?« fragte Andrej mit bebender Stimme. »Wozu den
Kater so quälen?«
Fünfzehn Minuten lang mußte ich ihm erklären, weshalb die Operation
notwendig sei. Schließlich verfrachtete er uns murrend in seinen Jeep.
»Dann nehmen wir aber auch den Mastino mit«, erklärte Andrej
kategorisch. »Der Doktor soll ihn sich anschauen, vielleicht braucht er
Vitamine.«
Ich schielte voller Zweifel auf Ramik. Der war auch ohne Vitamine
aufgegangen wie ein Hefekloß. Aber Andrej setzte sich durch. Im
Wartezimmer angekommen, kroch Ramik sofort ängstlich unter einen Stuhl.
Der Doktor nahm uns Pingu ab und verschwand. Wir saßen
mucksmäuschenstill auf den Plastikstühlen und warteten ängstlich, was da
kommen mochte. Nach einer endlos langen Zeit erschien der Arzt wieder
mit dem Kater auf dem Arm. Der lag völlig regungslos und starrte die Welt
mit weit geöffneten glasigen Augen an.
Er ist tot, schoß es mir durch den Kopf. Sein kleines Herz hat die
Operation nicht ausgehalten. Warum habe ich mich nur darauf eingelassen?
Bloß weil er ein bißchen gekratzt hat!
Den anderen ging es offenbar ähnlich, denn Lisa zog sofort die Nase
hoch, und Andrej ließ hören: »Scheiße, Pingu hat den Löffel abgegeben.«
»Woran ist er denn gestorben?« fragte ich leise.
»Reden Sie keinen Unsinn!« gab der Doktor empört zurück. »Was wollen
Sie denn, er ist quicklebendig!«
»Aber«, murmelte Lisa verwirrt, »er zuckt ja nicht mal mit dem Schwanz
und schaut so komisch …«
»Das ist die Narkose«, erklärte der Arzt. »Katzen haben dabei die Augen
offen.«
»Und die Operation ist schon vorüber?« fragte ich erfreut. »Das ist ja
schnell gegangen!«
»Dieses Geschöpf kann ich nicht kastrieren«, erklärte der Arzt in aller
Ruhe. »Es geht nicht.«
»Nun hör aber auf, Alter«, platzte Andrej wütend heraus. »Was soll die
Schacherei? Willste noch mehr? Meinetwegen! Wieviel?«
Und er zückte mit großer Geste seine pralle Brieftasche.
»Quatsch!« gab der Tierarzt ruhig zurück. »Das ist eine Katze!«
»Eine Katze?« Lisa fiel aus allen Wolken. »Wieso …?«
»Das is ’n Ding!« Andrej brüllte vor Lachen. »Erst war ’s ’n Pinguin, jetzt
is es ’ne Pinguinin!«
»Aber wir haben doch einen Kater gekauft!« beharrte ich.
»Na und?« meinte der Arzt und griente. »Das passiert immer mal. Warum
haben Sie nicht nachgeschaut?«
»Woher soll ich wissen, wie sich Kater und Katze unterscheiden«, platzte
Lisa dazwischen.
Der Doktor zog die Brauen hoch und blickte in meine Richtung.
»Na du wieder!« Andrej lachte noch lauter. »Untern Schwanz mußte
gucken!«
Ich suchte das peinliche Thema zu wechseln und fragte daher den Doktor:
»Braucht unser Ramik vielleicht Vitamine?«
»Genau«, mischte sich unser Nahbar ein. »Für den Mastino kauf ich alles,
was er braucht!«
»Sie meinen, das ist ein Mastino neapolitano?« fragte der Arzt.
»Wir denken, ja«, antwortete ich vorsichtig.
»Da muß ich Sie enttäuschen«, erklärte der Äskulap seufzend. »Ich denke,
das ist ein Mischling, aber ein sehr interessanter. Schauen Sie sich die
Pfoten an.«
»Ordentliche Dinger«, bestätigte Andrej.
»Und erst die Schnauze! Ein breiter Rücken, und die Ohren sind wichtig.
Ich denke, er ist eine Kreuzung zwischen Rottweiler und Fila brasileiro,
einer sehr seltenen Rasse.«
»Was soll denn das nun wieder sein?« fragte unser Bandit verdattert.
»An der Apotheke hängt ein großes Plakat mit Hunderassen. Dort finden
Sie ihn.«
Wir taten, wie uns geheißen. Als wir das richtige Bild gefunden hatten,
lief es mir kalt den Rücken herunter. Daß Rottweiler große, gefährliche
Hunde waren, wußte ich bereits. Daher konnte mich das Foto nicht
erschüttern. Unangenehm berührt war ich nur davon, daß so ein Untier 90
Kilogramm schwer werden konnte. Aber erst der Fila brasileiro! Mein
Schreck war kaum zu beschreiben. Vielleicht schwamm ja im Loch Ness
ein solches Vieh herum, das irgendwo entsprungen war. Und auch der Satz
neben dem Foto klang sehr ermutigend. Da stand: Der größte Hund der
Welt.
»Meine Fresse!« rief der Bandit und pfiff bewundernd. »In der Butyrka
hatten sie nur Rottweiler als Wachhunde, die reinsten Ungeheuer!«
»Die Aufseher oder die Hunde?«
»Die einen und die anderen.«
»Hast du dort gesessen?«
»Nein, haben mir Kumpels erzählt.«
Wir nahmen unseren Ramik, der von seinem Stammbaum nichts ahnte,
und fuhren nach Hause.
17. Kapitel
Wieder dort angekommen, wählte ich erneut Gryslows Nummer. Aber der
höfliche Anrufbeantworter gab stets die gleiche Auskunft. Der Mann
mußte für das ganze Wochenende verreist sein. Vielleicht hatte er eine
Datsche. Allerdings zog einen das Wetter nicht gerade an den Busen der
Natur – dunkelgraue Wolken hingen über der Stadt und spuckten schwere,
nasse Schneeflocken aus. Lisa wollte nichts Richtiges essen, nahm sich ein
Stück Pizza und zog sich mit einem Comic in ihr Zimmer zurück. Ich
machte kein Problem daraus und folgte ihrem Beispiel. Wie immer am
Sonntag, war das Fernsehprogramm stinklangweilig. Ich nahm mir noch
einmal den »Hyänenkäfig« vor und blätterte darin.
Die Erleuchtung kam mir, als ich auf folgende Passage stieß: »Familie
Rasin lebte in einer Gemeinschaftswohnung in der Vierten Eldorado-Gasse
Nr. 18. Das war früher das Wohnheim einer nahegelegenen
Maschinenfabrik gewesen. Später hatte man in dem heruntergekommenen,
schmutzigen Gemäuer Gemeinschaftswohnungen eingerichtet. Der Vater,
Nikolai Rasin, hatte als Schlosser im Straßenbahndepot gearbeitet, bevor er
sich dem Suff ergab. Warwara, die Mutter, hatte in der Werksverwaltung die
Fußböden gewischt. Stepan war ihr fünftes Kind, ungewollt und ungeliebt.«
Wenn ich mich richtig erinnerte, bedeutete Eldorado – das Paradies. Und
wenn das Buch eine chiffrierte Nachricht enthielt? Ich lief in Kondrats
Arbeitszimmer, wo ich auf einem Regal den Stadtplan von Moskau gesehen
hatte. Fünfzehn Minuten lang suchte ich im Straßenverzeichnis herum, aber
von einem Paradies keine Spur. Ich fand eine Gasse des Unglücks und eine
Passage der Trauer. Fast am Ende des Alphabets beim harten russischen
»E« wie Eldorado angekommen, machte ich einen Freudensprung. In
Moskau gab es tatsächlich eine Gasse dieses Namens, und zwar nur eine
vierte. Wo die ersten drei hingekommen waren, wußte Gott allein. Sie liegt
zwischen der Planetnaja und der Krasnoarmejskaja uliza. Sofort war ich
hellwach. Hatte Kondrat etwa eine echte Adresse angegeben? Vielleicht
wohnten in Nr. 18 noch Leute, die mir sagen konnten, wer das Vorbild für
Stepan Rasin gewesen war.
Voller Elan warf ich mich in meine Sachen, wobei ich die schwache
Stimme der Vernunft grob zum Schweigen brachte, die da flüsterte: Unsinn,
das ist der reine Zufall. Kondrat hat sich das alles nur ausgedacht.
In der Metro verkroch ich mich auf einen Eckplatz. In dem Manuskript
war Stepan Rasin ein fieser Schurke, der ideale Kandidat für einen Mord.
Der Weg zum Paradies war lang. Kein Gedanke, von der Metrostation
Dynamo zu Fuß dorthin zu gelangen. Ich wartete zwanzig Minuten auf den
Bus, um mich dann eine Ewigkeit in diesem Blechkasten durchrütteln zu
lassen. Wenn der sonntags schon so voll war, dann hatte man wochentags
wohl kaum eine Chance, überhaupt hineinzukommen.
Die Gasse, die mit Fünfgeschossern aus rotem Backstein bebaut war,
wirkte wie tiefste Provinz. Hätte man mir ein Foto gezeigt, dann hätte ich
auf Tambow oder ein ähnliches Nest getippt. Kaum vorstellbar, daß es
mitten in der Hauptstadt noch so stille Winkel gab. Die Häuser waren in U-
Form angeordnet, die Haustüren gingen auf den Hof. Im Sommer mußte es
hier paradiesisch sein. Aber jetzt lag auf all den gemütlichen Holzbänken
dicker Schnee. Weder schwatzende Rentner noch Mütter mit Kinderwagen
waren zu sehen. Vor dem schlechten Wetter hatten sich alle in ihre Winkel
verkrochen.
Ich trat in einen Aufgang und stieg eine breite Treppe hinauf. Die meisten
Türen waren mit Eisen beschlagen, und wie Eingänge in
Gemeinschaftswohnungen sahen sie nicht aus. Auch die Frau, die auf mein
Klingeln öffnete, wirkte nicht gerade armselig – eine üppige Blondine in
einem feschen Jogginganzug.
»Zu wem möchten Sie?« fragte sie lächelnd.
»Entschuldigen Sie, gibt es hier im Haus eine Familie Rasin?« fragte ich
und erwartete im stillen die Antwort, ich hätte mich geirrt. Daher fügte ich
rasch hinzu: »Oder Kasin, vielleicht habe ich mich geirrt …«
Aber die Frau lächelte und antwortete, als sei gar nichts dabei: »Eine
Familie Rasin hat hier gewohnt, aber das ist lange her.«
Mir blieb vor Überraschung der Mund offenstehen.
»Kannten Sie sie gut?«
Die Blondine mußte lachen.
»Ziemlich gut. Wir haben in einer Wohnung zusammengewohnt.«
»Und wo sind sie jetzt?«
»Wozu wollen Sie das wissen?«
Ich entgegnete, was mir gerade in den Sinn kam: »Ich bin mit ihnen
verwandt. Ich lebe in Wladiwostok und bin nach Moskau gekommen, um
meine Dissertation zu schreiben. Ich wollte mal sehen, wie es ihnen geht,
habe aber nur diese Adresse gefunden.«
»Kommen Sie rein«, sagte die Blondine einladend.
Sie führte mich in eine luxuriöse Küche, wo sie in einem Büchlein
blätterte.
»Irgendwo hatte ich ihre Telefonnummer. Tante Warwara hat sie mir
gegeben.«
»Und warum sind sie ausgezogen?« fragte ich, um das Gespräch am
Laufen zu halten.
»Als Nikolai gestorben ist, hat er Warwara fast mittellos zurückgelassen.
Meinem Mann ging es geschäftlich gerade sehr gut, so haben wir ihr die
zwei Zimmer abgekauft. Nein, die Telefonnummer habe ich nicht, aber hier
ist eine Adresse. Wolynskaja uliza Nr. 17.«
»Wo ist denn das?«
»Nicht allzu weit von hier«, erklärte die ehemalige Nachbarin. »Fahren
Sie zur Metro zurück, steigen dort in den anderen Bus um und fahren bis
zur Haltestelle Zweite Chutorskaja uliza. Dort müssen Sie noch einmal
fragen.«
»Sie hatten doch Kinder, ich glaube, es waren fünf …«
Die Dame runzelte die Brauen.
»Mehr habe ich Ihnen dazu nicht zu sagen.«
»An Stepan können Sie sich nicht erinnern?«
Die Freundlichkeit der Blondine war plötzlich wie weggeblasen. Sie lief
rot an und blaffte: »Lassen Sie mich in Ruhe! Sie haben doch die Adresse!
Zum Schwatzen habe ich keine Zeit! Ich muß zur Arbeit.«
»Heute ist doch Sonntag.«
Das brachte sie völlig in Rage.
»Entweder Sie verschwinden jetzt, oder ich rufe die Miliz. Wo gibt’s denn
so was! Ich brauche meine Ruhe!«
Merkwürdig, dachte ich bei mir, einmal will sie zur Arbeit, dann wieder
sich ausruhen … Und warum ist sie so wütend geworden, als ich Stepan
erwähnt habe? Wenn sie so auf diesen Namen abfährt, muß es ihn
zumindest geben.
Diesmal kam ewig kein Bus, und so stapfte ich mutig mit meinen
Stiefelchen zu Fuß durch den Schneematsch zurück zur Metrostation
Dynamo. Dort stieg ich in einen Bus, der sich ohne Ende durch Straßen und
Gassen schlängelte, die alle gleich aussahen. Nein, wenn man in Moskau
weit entfernt von der nächsten Metrostation wohnte, dann brauchte man ein
Auto, sonst ging der größte Teil des Tages für die Wege drauf.
Die Wolynskaja uliza, eine lange, gerade Straßenzeile, lief auf das
Geschäft »Goldener Kringel« zu. Nummer 17 war das letzte Haus. Ein
zehngeschossiger Wohnturm mit unzähligen Balkons. An der Haustür
waren Glasscheiben zerbrochen, die Briefkästen sahen schmierig aus, im
Hausflur lagen Zigarettenkippen und Zeitungsfetzen herum.
»In welcher Etage finde ich Wohnung 72?« fragte ich ein paar
Jugendliche, die im Treppenhaus rauchten.
»Fahren Sie bis zur siebenten«, antwortete mir ein dreizehnjähriges
Mädchen in voller Kriegsbemalung in ausgesprochen höflichem Ton. »Dort
wohnt unser Freund Slawa.«
Hinter der Tür der Wohnung Nr. 72 wurde heftig gestritten.
»Verdammt noch mal!« kreischte eine hohe Frauenstimme, »schon wieder
willst du draußen rumstreunen! Und die Hausaufgaben? Da hab ich mir ja
ein Genie herangezüchtet!«
Offenbar hatte Freund Slawa Probleme. Ich hob die Hand und wollte
gerade klingeln, als die Tür aufsprang und ein langer Kerl mit der Visage
eines minderjährigen Taschendiebes mir entgegenstürzte. Hinter ihm her
eine Frau von etwa 45 Jahren mit einem Lappen in der Hand. Als sie meiner
ansichtig wurde, stoppte sie und fragte ziemlich unwirsch: »Was wollen
Sie?«
Der Junge war inzwischen schon beim Fahrstuhl angekommen,
hineingesprungen und von der Bildfläche verschwunden.
»Regen Sie sich nicht auf«, sagte ich lächelnd, um sie zu beruhigen. »Der
rennt nicht weit weg. Unten warten seine Kumpels.«
»Das ist es ja gerade«, meinte die Frau resigniert. »Entschuldigen Sie, daß
ich Sie fast umgerannt habe. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.
Allein mit zwei solchen Geistern – ich schaffe es einfach nicht. Zu wem
möchten Sie?«
»Am 26. März sind Präsidentenwahlen«, teilte ich in offiziellem Ton mit.
»Wir überprüfen die Wählerlisten. Werden Sie zur Wahl gehen?«
»Kommen Sie schon rein«, sagte die Frau ergeben.
Ein Blick auf die Einrichtung genügte, um zu wissen, daß hier arme Leute
lebten, wahrscheinlich sogar bettelarme. In dem Zimmerchen, das offenbar
als Wohnraum diente, wacklige Möbel aus den sechziger Jahren. In der
Ecke ein Schwarz-Weiß-Fernseher, der mindestens zwanzig Jahre alt war.
An den Fenstern vergilbte billige Gardinen, wie man sie heute noch in
manchen alten Büros findet. Auf dem Fußboden hellbraunes Linoleum,
dazu ein verschlissenes Sofa, zwei wacklige Sessel und ein großer Tisch mit
Wachstuchdecke, deren Muster kaum noch zu erkennen war. Die Tapeten
waren an einigen Stellen abgefallen, aber wieder sorgfältig nachgeklebt.
Die Hausfrau war offenbar fast völlig mittellos. Aber es war sauber,
nirgends ein Stäubchen zu sehen, und auf dem Fensterbrett standen üppig
blühende Geranien.
»Wer ist in dieser Wohnung gemeldet?« fragte ich und zog einen
Notizblock heraus, den ich gerade an der Metrostation gekauft hatte.
»Lydia Rasina und Wjatscheslaw Rasin«, antwortete die Frau.
»Und Ihr zweiter Sohn?«
»Das ist so eine Sache, ich weiß gar nicht, wie …«, druckste Lydia.
»Sprechen Sie frei heraus, ich bin einiges gewöhnt«, sagte ich
aufmunternd.
»Shenja, mein Ältester, sitzt«, erklärte Frau Rasina. »Mit ein paar
Kumpanen hat er ein Auto geklaut. Die anderen haben ihre Eltern
losgekauft, aber ich habe kein Geld. So hat er die volle Strafe abgekriegt –
vier Jahre. Ich dachte, endlich bekomme ich Hilfe, er geht arbeiten und
verdient etwas. Nun habe ich auch noch einen Knastologen am Hals. Allein
für die Päckchen, die ich ihm schicke, gehen im Monat 300 Rubel drauf!
Ich sollte mich nicht um ihn kümmern, denn er hat mich auch nicht gefragt,
als er sein Ding gedreht hat. Aber das kann ich nicht. Und jetzt noch der
Ärger mit Slawa. Ständig halte ich ihm vor, was aus seinem Bruder
geworden ist. Aber denkste! Das liegt bei den Rasins im Blut. Eine
verdorbene Bande. In was für eine Familie bin ich da bloß hineingeraten!
Ich hätte es eher merken und weglaufen müssen!«
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu Warwara Rasina?« erkundigte ich
mich.
»Das ist meine Schwiegermutter«, erklärte Lydia. »In einer schwachen
Stunde bin ich auf ihren Ältesten, Wolodja, hereingefallen, ich dumme
Trine.«
»Kann ich sie sprechen?«
»Die ist doch schon lange tot!«
»Und Nikolai?«
»Reden Sie nicht von dem! Hat sich nur rumgetrieben und gesoffen, für
Warwara die reine Freude!«
»Die reine Freude?« fragte ich verwundert.
»Wenn er blau war, hat er um sich geschlagen, und das Messer saß ihm
auch ziemlich locker! Furchtbar! Ich hab mich dann immer verkrochen, und
das meiste hat Warwara abgekriegt.«
»Warum hat sie sich nicht von ihm scheiden lassen?« fragte ich töricht.
»Und die Kinder? Sie hatte vier, die brauchten einen Ernährer.«
Da konnte ich nur tief aufseufzen. Besser keinen Vater als so einen, dachte
ich bei mir.
»Die Rasins hatten doch einen Sohn Stepan. Was ist aus dem geworden?«
Lydia zuckte die Schultern.
»Ja, den gab es, aber er hat nicht zu Hause gewohnt.«
»Wo dann?«
»Er soll bei einer Tante gelebt haben. Wohl eine reiche Frau ohne eigene
Kinder. Stepan war bei den Rasins der Jüngste. Erst kam Wolodja, dann
Sascha, dann Rita, dann Galja und schließlich Stepan.«
»Und Ihr Mann weiß nicht, wo man Stepan finden kann?«
Auf Lydias Gesicht erschien ein trauriges Lächeln.
»Mein Mann ist bei einer Schlägerei ums Leben gekommen. Das ist jetzt
sechs Jahre her.«
»Entschuldigung.«
»Macht nichts. Ich bin froh, daß ich ihn los bin. Das habe ich denen bei
Gericht auch gesagt: ›Man sollte Sascha nicht so hart bestrafen, er hat eine
gute Tat vollbracht und mich von einer Last befreit.‹«
»Das heißt …«
»Ja, sein Bruder hat ihn umgebracht«, erklärte mir Lydia ohne jede
sichtbare Erregung. »Sie waren beide besoffen.«
»Weshalb?«
»Ich sage doch, sie waren besoffen. Sie gerieten in Streit, wer die nächste
Flasche bezahlt. Es ist zufällig passiert, keiner wollte es!«
»Das heißt, mit Sascha kann man auch nicht reden«, sagte ich versonnen
und seufzte deprimiert. »Wie kann ich Stepan finden?«
»Mit Sascha können Sie tatsächlich nicht reden«, bestätigte Lydia. »Er
lebt auch nicht mehr. Ist im Lager krepiert. Nur die Mädchen sind noch da –
Galja und Rita. Vielleicht wissen die ja was über ihre Tante und den
Bruder.«
»Und wo finde ich sie?«
Lydia dachte nach.
»Man müßte im alten Telefonbuch von Warwara nachsehen …«
Sie drehte sich nach einem uralten Garderobenschrank um, öffnete die
quietschende Tür und fragte erst jetzt: »Wozu müssen Sie das alles
wissen?«
»Unsere Wählerlisten sind nicht mehr aktuell«, erklärte ich. »Die Leute
ziehen um und melden sich nicht ab. Können Sie sich vorstellen, was das
für ein gefundenes Fressen für Wahlfälscher ist? Deshalb muß ich
herumlaufen und die toten Seelen ermitteln. Habe mir schon die Absätze
schief getreten!«
»Das ganze Land ist ein einziger Sauhaufen«, bemerkte Lydia
philosophisch und blätterte bereits in einem alten Notizbuch mit dem
bekannten Denkmal »Arbeiter und Kolchosbäuerin« auf dem Einband, aus
dem die Seiten bereits herausfielen. »Kein Wunder …«
Eine Weile war es still, dann sagte sie matt: »Hier haben wir es. Rita
wohnt Leningrader Prospekt Nr. 64. Von Galja habe ich keine Adresse. Sie
hatte zuletzt auch kaum noch Kontakt zu ihrer Mutter. Warwara hat mal
gesagt, sie hätte sich einen General geangelt und wollte deshalb mit ihrer
Familie nichts mehr zu tun haben. Aber ob das stimmt, weiß ich nicht.«
Als ich vor dem Fahrstuhl stand, schaute ich noch einmal auf meinen
Zettel. Ich war rechtschaffen müde. Nach Hause fahren, ein Bad nehmen
und dann mit einer Tafel Schokolade und einem neuen Krimi ins Bett
kriechen, das wäre schön … Aber ich mußte noch zu Rita Rasina fahren.
Der Leningrader Prospekt war ganz in der Nähe, und der Sonntagabend die
ideale Zeit, die Leute zu Hause anzutreffen.
Wieder mußte ich zur Metrostation Dynamo zurück und mich von dort
mit einem anderen Bus bis zum Prospekt durchrütteln lassen. Plötzlich
spürte ich, daß ich schrecklichen Hunger hatte und außerdem zur Toilette
mußte.
Das Haus Nr. 64 erinnerte an einen riesigen Dampfer – es war grau,
monumental und erdrückend. Im Inneren der gleiche Eindruck – eine
riesige Treppe, hohe Türen, die Zimmer bestimmt vier Meter hoch, wenn
nicht noch mehr. Die Tür zu Ritas Wohnung stand offen. Etwas erstaunt trat
ich ein und rief: »Ist hier jemand zu Hause?«
Keine Antwort. Die Diele sah furchtbar schmuddelig aus. Auf dem
Fußboden die Reste eines ehemals braunen Läufers, die Tapeten hingen in
Fetzen von den Wänden, Jacken und Mäntel waren an Nägeln aufgehängt,
die man in die Wand geschlagen hatte, darunter lagen wild durcheinander
mehrere Paar Schuhe …
»Hallo!« rief ich noch einmal und wagte mich in den kurzen Korridor.
Der führte zu einem Zimmer, das sehr geräumig, aber fast leer war. In einer
Ecke eine halb zusammengebrochene Liege. Die fehlenden Beine hatte man
durch Bücherstapel ersetzt. Ein Kissen und eine Steppdecke ohne Bezug
waren heruntergerutscht. In der Mitte des Raumes ein großer, völlig kahler
Eßtisch – auf dem das reine Stilleben zu sehen war: eine geöffnete
Fischkonservendose, mehrere leere Wodkaflaschen, ein Kamm mit
Büscheln von langem schwarzen Haar, ein verschrumpeltes Etwas, das sich
beim näheren Hinsehen als Kartoffel entpuppte, und ein Haufen trockene
Brotrinden. Weiter war in dem Zimmer absolut nichts. Die Fenster kahl,
und von der Decke hing eine nackte Glühlampe.
In der Küche sah es nicht besser aus. Ein völlig versotteter Gasofen, den
man wahrscheinlich seit seiner Anschaffung nie gesäubert hatte. Große
fettige Flecken am Kühlschrank, der Fußbodenbelag wirkte wie nasser
Asphalt. All das schien die Hausfrau nicht zu stören. Sie saß auf einer
Polsterbank, über die etwas geworfen war, das ich nicht als Wischlappen
verwendet hätte.
»Willst du zu mir?« fragte die Frau leicht verwundert und ließ einen
lauten Rülpser hören. Offenbar war das Rita.
Über der ganzen Küche lag schwerer Alkoholdunst.
»Ja, ich möchte zu Ihnen.«
»Und was willst du?« fragte sie gutmütig. »Brauchste Salz? Keins da.
Auch kein Zucker, entschuldige schon. Einer Nachbarin helfe ich immer
gern, aber woher soll ich kranke Frau das Geld nehmen …«
Ganz unerwartet fing sie laut an zu weinen.
Ich war etwas verwirrt. Mit Trinkern hatte ich mein Lebtag nichts zu tun
gehabt. Mein Vater trank höchstens an hohen Festtagen ein, zwei Gläschen
Kognak. Mama hatte manchmal ein, zwei Teelöffel von dem Kräuterlikör
»Rigaer Balsam« in den Tee getan. Betrunken hatte ich meine Eltern nie
erlebt. Nein, einmal doch.
Das Bild stand mir sofort vor Augen. Die Wohnungstür geht auf, und
mein Vater läßt sich schwer auf den Stuhl am Eingang sinken.
»Papa ist da!« rufe ich laut, falle ihm um den Hals und spüre sofort, daß
ihm etwas passiert sein muß.
Sein Mantel ist schmutzig, der Hut sitzt ihm schief auf dem Ohr, sein
Blick irrt umher und findet keinen Halt, und auf der Schwelle steht mit
betretenem Gesicht sein Chauffeur Josef.
»Dein Vater ist krank«, erklärt er mir. »Ruf die Mama.«
Aber die ist schon herbeigeeilt. Ich werde sofort ins Kinderzimmer
geschickt und soll mich nicht mehr blicken lassen. Ich bin eine gehorsame
Tochter und sitze hinter der verschlossenen Tür. Dabei spitze ich die Ohren,
um mitzubekommen, was draußen vorgeht. Es muß etwas Schreckliches
sein. Wasser läuft in die Wanne, unheimliche Laute dringen an mein Ohr
und dann taucht mit Tatü-Tata sogar der Notarzt auf.
Gegen elf Uhr abends muß ich meiner Mutter wieder eingefallen sein,
denn sie kommt zu mir ins Kinderzimmer. Sie hat verweinte Augen, und
ihre sonst so sorgfältige Frisur ist völlig durcheinander.
»Der Arzt hat Papa ins Krankenhaus mitgenommen, er hatte einen
Herzinfarkt«, erklärt sie mir und fügt hinzu: »Leg dich schlafen, mein Kind.
Morgen gehen wir ihn besuchen.«
Aber am nächsten Tag taucht mein Papa mit einem verlegenen Lächeln
wieder auf. Meine Muter ist erleichtert, kocht und bäckt, als wäre ein
Feiertag. Abends erhalten wir Geschenke. Auf meinem Bett liegt plötzlich
ein riesiger rosafarbener Plüschhase, und Mama bekommt einen goldenen
Ring. Erst viele Jahre später, als Papa schon lange tot war, hat sie mir
erzählt, was an jenem Tag wirklich passiert ist. Mein Vater hatte am
Begräbnis eines seiner Kollegen und guten Freundes teilgenommen, wie er
Wissenschaftler, der für die Rüstungsindustrie arbeitete. Nach der
Trauerfeier war er durchgefroren, erschöpft und hungrig. Beim
Leichenschmaus stand direkt vor ihm eine Schüssel mit einem unbekannten
Salat: ein weißes Gemüse, fein gerieben, war mit Sonnenblumenöl
angerichtet. Papa probierte und war begeistert – leicht scharf und mit einem
ungewöhnlichen Aroma.
»Was ist das?« fragte er die Hausfrau.
»Schwarzer Rettich«, antwortete die und fragte erstaunt zurück: »Macht
Ihre Frau so etwas nicht? Zum Wodka einfach ideal.«
Bei Mama hatte es so etwas nie gegeben. Der Vater aß vor Begeisterung
die ganze Schüssel leer. In einem hatte die Hausfrau recht – der Wodka, den
er trank, zeigte keinerlei Wirkung. Mutig kippte er Gläschen auf Gläschen,
weil er endlich warm werden wollte.
Auf der Rückfahrt im Auto wurde ihm schlecht. Alles drehte sich, ihm
wurde speiübel, und sein Herz schlug so stark, daß er glaubte, es werde ihm
aus der Brust springen … Die eilig herbeigerufene Notärztin vermutete
einen Infarkt. Aber im Krankenhaus ließ ein erfahrener Kardiologe ihm
zunächst den Magen auspumpen, betrachtete den Inhalt mit finsterer Miene
und fragte meinen Vater dann: »Wieviel von dem Rettich haben Sie denn in
sich hineingestopft? Ein Kilogramm? Oder gar zwei? Machen Sie das nie
wieder. Dieses Gemüse beeinflußt die Herztätigkeit. In großen Mengen ist
es sehr gefährlich.«
Am nächsten Morgen schickte man meinen Vater nach Hause. Ihm war
die ganze Sache furchtbar peinlich. Das blieb das einzige Mal, daß ich ihn
im betrunkenen Zustand sah.
Mein Ex-Mann hielt vom Alkohol auch nicht viel. Ihm hatten es eher die
Frauen angetan. Und Katjas ältester Sohn Serjosha zieht ein gutes Eis
jedem Schnaps vor. Daher war ich jetzt hilflos. Mit einer betrunkenen Frau
wußte ich einfach nichts anzufangen.
»O je, o je«, jammerte Rita, preßte ihre Hände an die Schläfen und
schwankte auf ihrem Sitz hin und her. »Diese Schmerzen, diese
Schmerzen!«
»Sie sind Rita?« versuchte ich sie anzusprechen.
»Ich weiß nicht …«, murmelte sie kaum verständlich.
»Nanu? Sie wissen nicht, wie Sie heißen?«
»Ich weiß überhaupt nichts mehr«, stöhnte die Frau und hielt sich weiter
die Schläfen.
Ehrlich gesagt, sie tat mir leid. Ich selbst war nur ein einziges Mal im
Leben betrunken gewesen. Ich weiß noch genau, wie schlecht mir war, bis
mir der besorgte Andrej ein Bier brachte. Das war die Idee! Bier mußte
eigentlich helfen. Ich lief auf die Straße hinaus und erstand am nächsten
Kiosk zwei Flaschen. Und wirklich war es für Rita offenbar das reinste
Lebenselixier. Sie hörte auf zu stöhnen, öffnete mit geübter Hand eine
Flasche und kippte sie sofort in sich hinein. Mit aufgerissenen Augen starrte
ich sie an und wartete darauf, daß meine »Medizin« wirke. Nach fünf
Minuten ließ Rita einen schweren Rülpser hören und erklärte: »Das war
gut, gib mir auch die zweite!«
»Nicht so schnell! Erst sagst du mir: Bist du Margarita?«
»Nicht Margarita, Margot«, sagte sie stolz.
Wie die Königin Margot sah sie nicht gerade aus. Aber wenn sie meinte –
mir war schon alles gleich.
»Weißt du, wo ich Stepan finde?«
»Wer soll denn das sein?« fragte sie verwundert.
»Stepan Rasin, dein Bruder.«
»Ach, Stjopka«, machte sie gedehnt. »Weiß der Teufel!«
»Denk doch mal nach!«
Rita wollte aufstehen, aber die Beine versagten ihr den Dienst. Sie war so
berauscht, daß sie keinen Meter gehen konnte.
»Dort!« Sie wies mit einer heftigen Kopfbewegung in den Korridor. »Dort
ist das Telefon.«
Ich verließ die Küche, nahm das Telefon vom Regal und brachte es ihr.
»Nicht das, hick!« lallte sie. »Auf der Tapete stehen Telefonnummern,
vielleicht ist seine dabei.«
Ich knipste das Licht im Korridor an und begann die Tapetenreste um das
Regal herum zu untersuchen. Auf einigen waren tatsächlich Zahlen zu
sehen. Shenja, Aljoscha, Galja und aus unerfindlichem Grund ein
Friseursalon. Ich wäre nie darauf gekommen, daß dieses Geschöpf jemals
einen Friseur gesehen hatte. Als ich in die Küche zurückkam, hatte Margot
die zweite Flasche schon geleert und war eingeschlafen. Ihr Kopf mit dem
fettigen Haar lag zwischen einem Lappen und einer Zeitung, auf der sich
die Reste von einem Räucherfisch türmten. Ich notierte mir für alle Fälle
die Telefonnummern und macht mich dann, von den Erlebnissen des Tages
völlig zermürbt, wieder auf den Heimweg.
18. Kapitel
Am Montag Punkt zehn Uhr morgens rief ich im Verlag an und teilte
Michail mit, die Diskette mit dem Manuskript liege bereit.
»Ich könnte Sie küssen!« rief der Verlagsleiter aus. »Ich schicke Ihnen
sofort einen Wagen.«
Kaum hatte ich mich etwas zurechtgemacht, da klingelte es schon.
»Meine Teuerste«, flötete Galin, so süß er konnte, als ich mit stolz
erhobenem Kopf in sein Büro trat. »Sie haben eine Heldentat vollbracht!
Geben Sie her.«
»Erst das Geld!«
Der Verlagsleiter mußte lachen und warf ein Bündel Hundertrubelscheine
auf den Tisch. Ich wollte sie gerade in meine Handtasche stecken, da ging
die Tür auf, und mit einem freundlichen Lächeln trat Juri Gryslow ein.
»Michail …«, sagte er und hielt verblüfft inne.
Seine Augen huschten über den Schreibtisch. Galin schob mit schnellem
Griff eine Zeitung über die Geldscheine, aber Juri hatte sie bereits gesehen
und grinste. Dann schaute er mich an und sagte erstaunt: »Tanja?«
»Juri«, rief ich erfreut. »Ich telefoniere mir die Finger wund, und du bist
nicht da.«
»Ich war in Petersburg«, erklärte der Schriftsteller.
»Sie kennen sich?« fragte Galin erstaunt.
»Was ist daran ungewöhnlich?« parierte Juri und ließ sich in einen Sessel
fallen.
Ihm war klar, daß er bei einer geschäftlichen Unterredung störte, aber er
dachte gar nicht daran zu gehen. Galin wußte, was zu tun war. Er drückte
einen Knopf an seiner Telefonanlage und rief: »Ljussja, kommen Sie bitte!«
Sofort flatterte die hübsche Sekretärin im blauen Hosenanzug herein.
»Herr Gryslow«, zwitscherte sie, »folgen Sie mir, ich habe Ihre
Autorenexemplare.«
Der Aufforderung mußte Juri wohl oder übel Folge leisten. Auf der
Schwelle wandte er sich um und sagte: »Tanja, warte auf mich.«
Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen, sagte Galin streng:
»Also los, her damit!«
Ich gab ihm die Disketten.
»Er hat zwei Versionen geschrieben. Ich weiß nicht, welche die bessere
ist, deshalb habe ich für alle Fälle beide mitgebracht.«
»Das haben Sie richtig gemacht«, lobte Galin und fragte: »Finden Sie
auch die anderen?«
Ich mußte an den Ordner »Kondrat« denken, der mit fertigen
Manuskripten vollgestopft war. Aber ich entgegnete spitz:
»Wenn Lena zurück ist, können Sie mit ihr darüber verhandeln.«
Galin grinste und warf mir einen verschwörerischen Blick zu.
»Meine liebe Tatjana, wir wissen doch beide ganz genau, wie weit weg
Lena ist. Vielleicht kommt sie in sieben oder acht Jahren zurück,
vielleicht … Heute ist alles möglich. Lisa wird Geld brauchen. Also
überlegen Sie, was Sie tun. Ich will Sie nicht drängen, aber bedenken
Sie …«
»Was?«
»Unser Verlag überlebt auch ohne Kondrat Rasumows Bücher. Aber seine
Familie könnte viel Geld verlieren. Im Moment gieren alle nach seinen
Romanen …«
Er verstummte und trommelte mit den Fingern nervös auf die
Schreibtischplatte. Um mein Gesicht zu wahren, erklärte ich: »Ich werde
über Ihren Vorschlag nachdenken.«
»Gut so«, meinte er seufzend. »Tun Sie das …«
Als ich aus seiner Tür trat, stieß ich auf Juri.
»Was hast du mit diesem Halsabschneider zu schaffen?« fragte er scharf.
»Nichts Besonderes …«
»Also?«
»Nun …«
»Lüg mich nicht an!« zischte er. »Komm mit in die Cafeteria!«
Wir nahmen an einem Plastiktischchen Platz. Ich nippte an einer
lauwarmen Flüssigkeit, die hier als Kaffee verkauft wurde, und runzelte die
Brauen. Das Zeug war kaum genießbar.
»Also, was wollte Galin?« beharrte Gryslow.
Ich begriff nicht, warum er sich so aufregte, und bekannte seufzend: »Er
hat Kondrats Manuskript ›Hyänenkäfig‹ gesucht. Er meint, sie hätten dafür
schon eine große Werbekampagne in Presse und Fernsehen gestartet …«
»Na und?« fragte Juri.
»Ich habe es ihm halt gebracht.«
»Waaas?« rief mein Gegenüber. »Wo hast du es denn her?«
»Aus dem Computer!«
»Tanja«, herrschte mich Juri finster an. »Belüg mich nicht! Vor ihrer
Verhaftung hat Lena mich angerufen und mir erzählt, daß Galin das
Manuskript von ihr verlangt. Sie hat in allen Ordnern nachgesehen und
konnte es nicht finden. Wo hast du es her?«
»Wirklich aus dem Computer, nur nicht aus dem von Kondrat.«
»Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!« meinte Juri.
»Alle Werke Kondrats hat seine alte Sekretärin Leokadia in den Computer
eingegeben«, erklärte ich. »Sie hat für alle Fälle immer eine Kopie
aufbewahrt. Kondrat konnte nicht gut mit dem Computer umgehen und hat
manchmal aus Versehen ein ganzes Manuskript gelöscht. Deswegen hat sie
stets eine Reservekopie angefertigt.«
»Du bist ja eine ganz Schlaue«, sagte Juri gedehnt. »Der reine
Privatdetektiv.«
Ich mußte lachen.
»Für das richtige Geld wird jeder ein Sherlock Holmes.«
»Eine dumme Gans bist du!« brüllte mich Gryslow wütend an. »Und
Galin, der Lumpenhund hat dich um den Finger gewickelt! Wieviel hat er
dir denn gegeben?«
Ich schaute ihn erschrocken an, dann murmelte ich: »20 000.«
»Das heißt, ganze 700 Dollar!« Im Kopfrechnen war er offenbar gut.
»Nein, du bist keine dumme Gans.«
Vor Stolz wurde ich gleich ein paar Zentimeter größer.
»Du bist eine solche Idiotin, wie ich noch nie eine gesehen habe!« stellte
er sachlich fest.
»Warum?«
»Darum!« blaffte der Schriftsteller. Dann blickte er plötzlich wieder
freundlicher und meinte: »Du hättest mindestens das Dreifache aus ihm
herausholen können. Sei so nett, und überlasse diesem Verlag nie wieder
etwas, ohne mich vorher zu fragen, verstanden?«
Ich nickte. Wir tranken den abscheulichen Kaffee aus, aßen die Eclairs,
die nach Watte schmeckten, und schritten zum Ausgang. Draußen wühlte
Juri in seinen Taschen und rief dann erschrocken: »Meine Schlüssel,
verdammt noch mal!«
»Verloren?«
»Vielleicht habe ich sie bei der Ziege auf dem Tisch liegen lassen, als ich
meine Belegexemplare geholt habe! Wart einen Augenblick!«
Er wandte sich um und lief ins Haus zurück. Beiläufig fiel mein Blick auf
seinen Wagen – einen dunkelroten »Volvo«.
Was Juri wohl verdiente? So ein Wägelchen war teuer. Äußerlich gefiel es
mir nicht sehr, das Design wirkte auf mich irgendwie aggressiv … Zwar
schien die Sonne, aber es zog fürchterlich, und ich war schon ganz
durchgefroren, als Juri endlich auftauchte. Er fuhr mich nach Hause.
»Hast du etwas dagegen, daß ich uns einen Kaffee mache?« fragte
Gryslow, als wir in Rasumows Wohnung waren.
»Nein. Schlechter als der, den wir eben im Verlag getrunken haben, kann
er auch nicht sein.«
Plötzlich ließ sich Juri auf einen Stuhl fallen.
»Was ist mit dir?«
»Das Herz«, murmelte er. »Ich habe Angina pectoris. In meiner Jacke
steckt Nitroglyzerin, holst du es mir bitte?«
Ich stürzte in die Diele und wühlte seine Taschen durch, aber von dem
Medikament keine Spur.
»Dann habe ich es verloren«, flüsterte Juri. »Mir ist schlecht.«
»Ich rufe den Notarzt!«
»Ach, diese Kurpfuscher, von denen halte ich nichts. Tanja, sei so nett und
hol mir neues aus der Apotheke.«
»Wird gemacht«, rief ich und war schon draußen.
Die nächste Apotheke lag neben der Metrostation, aber dort hatten sie
kein Nitroglyzerin. Ich mußte auf den Prospekt hinauslaufen.
Als ich wieder zurück war, fand ich Juri in unveränderter Haltung auf dem
Stuhl in der Küche. Er schob sich rasch eine Tablette unter die Zunge und
murmelte matt: »Heute hat’s mich aber erwischt.«
»Hast du das schon lange?«
»Ungefähr fünf Jahre«, kam es von Gryslow.
»Und was sagt der Arzt?«
»Wenn ich nicht sterbe, kann ich damit lange leben«, entgegnete er
grinsend.
»Und bist du in Behandlung?«
»Also, jetzt hören wir auf, von Krankheiten zu reden.« Juri winkte ab und
machte nun doch noch Kaffee.
Wir unterhielten uns lange über dies und das. Erst als mein Gast im
Fahrstuhl verschwunden war, fiel mir ein, daß ich ihn nicht nach Stepan
Rasin gefragt hatte.
Gegen sieben klingelte das Telefon.
»Galin hier, meine Liebe.«
»Was gibt’s?«
»Es ist etwas passiert. Die Disketten sind leer.«
»Das kann nicht sein«, gab ich verwundert zurück. »Ich habe sie
kontrolliert, bevor ich zu Ihnen gefahren bin.«
»Ich weiß auch nicht«, meinte Michail. »Manchmal passiert so was. Sie
müssen noch einmal kommen. Ich schicke Ihnen den Wagen.«
Seufzend ging ich in Kondrats Arbeitszimmer, schaltete den Computer
ein, fand die Datei »Hyänenkäfig« und klickte zweimal mit der Maus. Der
Bildschirm war leer. Verdutzt starrte ich darauf. Der Roman war
verschwunden.
Als ich das Manuskript von Leokadias Diskette auf die Festplatte
überspielt und danach wieder auf Disketten kopiert hatte, mußte ich etwas
falsch gemacht haben. Solche Streiche hatte mir der Computer in Katjas
Familie öfter gespielt. Aber ich war auch nicht von gestern. Ich hatte mir
eine Reservedatei auf eine weitere Diskette geladen. Die steckte ich jetzt in
den Schlitz. Aber auch sie war völlig leer. Vielleicht hatte ich sie aus
Versehen neu formatiert?
Was sollte ich jetzt anfangen? Ich griff nach dem Telefon.
»Ja?« meldete sich Galin.
»Michail, ist der Wagen schon losgefahren?«
»Nein, er will gerade starten.«
»Hat das nicht Zeit bis morgen?«
»Weshalb?«
»Unser Hund ist krank geworden«, suchte ich mich herauszureden. »Ich
muß dringend mit ihm zum Tierarzt.«
»Tatsächlich?« fragte er mißtrauisch zurück. »Na gut, wenn es so ist, dann
meinetwegen morgen. Ich schicke Ihnen den Wagen gegen Mittag.«
»Das brauchen Sie nicht, ich komme selber zu Ihnen.«
»Auch gut«, brummte Michail. »Ich erwarte Sie.«
Ich suchte hektisch nach dem Telefonbuch. Aber es war wie vom
Erdboden verschluckt. Als ich das ganze Arbeitszimmer durchgewühlt
hatte, ließ ich mich verwirrt auf der Couch nieder. Was war nur passiert?
Also – mit dem Computer hatte ich immer ein wenig auf Kriegsfuß
gestanden und schon so manchen Unsinn produziert. Aber der Roman? Wo
konnte der nur abgeblieben sein? Zumindest die Sache mit dem
Telefonbuch klärte sich, als ich mich gegen 22.00 Uhr nach dem
gemeinsamen Abendbrot mit Lisa erschöpft in mein Zimmer zurückzog.
Zwischen Schrank und Sessel fand ich ein Häufchen zerschlissenes Papier.
Als ich genauer hinsah, durchfuhr es mich kalt.
»Ramik, warst du das?«
»Hat er wieder eine Pfütze gemacht?« fragte Lisa aufgeregt.
»Schlimmer, er hat das Telefonbüchlein zerfetzt! Daß er sich nicht
schämt!«
Aber der kleine Kerl, der wieder gewachsen war, wedelte fröhlich mit
dem Schwanz und zeigte keinerlei Schuldgefühle.
»Heute gibt es nichts mehr zu fressen!« herrschte ich ihn böse an. »Nichts
ist vor dir sicher!«
»Gestern hat er meinen Lippenstift verschluckt«, beklagte sich Lisa.
Außerdem hatte er sich noch an meinen Strumpfhosen zu schaffen
gemacht und vom Tisch die Hälfte des Kuchens stibitzt. Als ich nach Hause
kam, war auch die Schale mit Konfitüre leer gewesen …
»Lisa, hast du heute morgen die Orangenkonfitüre gegessen?«
»Ich habe mir einen Löffel für den Tee genommen.«
»Nicht noch ein bißchen mehr?«
»Was denkst du denn von mir!« empörte sich Lisa. »Ich will doch nicht
aufgehen wie ein Hefekloß! In der Schale war mindestens noch ein halbes
Pfund!«
Das hieß, auch meine Lieblingskonfitüre war in Ramiks unersättlichem
Bauch verschwunden.
»Geh mir aus den Augen!« fauchte ich ihn an und wühlte in den Resten
des Büchleins.
Kein Reißwolf hätte bessere Arbeit leisten können. Leokadias
Telefonnummer würde ich hier nicht finden. Nur gut, daß ich mir den Weg
gemerkt hatte. Nun mußte ich die freundliche Sekretärin aufsuchen, ohne
sie vorher anzurufen.
Das tat ich am nächsten Morgen, nachdem ich Lisa zur Schule gebracht
hatte. Wieder dauerte es lange, bis auf das Klingelzeichen jemand die
Wohnungstür öffnete. Und erneut war es der Alte, der an einen Steinpilz
erinnerte.
»Zu wem möchtest du, mein Junge?« erkundigte er sich freundlich und
schaute mich von oben bis unten unverwandt an.
»Ich bin ein Mädchen und möchte zu Frau Leokadia.«
»Sie ist nicht zu Hause«, erklärte der alte Mann und kniff die Augen
zusammen. »Sie ist weggefahren.«
»Wohin?«
»Zum Arzt.«
»So ein Pech«, sagte ich traurig. »Kann ich auf sie warten? Vielleicht
kommt sie bald zurück?«
»Leokadia ist gestern schon weggefahren«, erklärte mir der Großvater.
»Wieso gestern? Hat man sie ins Krankenhaus gebracht?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete er. »Nach dem Abendbrot hat sie bei mir
angeklopft und gerufen: ›Hör mal, mein Lieber, ich fahre Kondrat
besuchen. Er will mich einem Professor vorstellen.‹ Sie hat in der letzten
Zeit über ihre Augen geklagt. Sie konnte nicht mehr gut sehen. Kondrat ist
ein bekannter Schriftsteller mit viel Geld. Er hat ihr wohl einen guten
Spezialisten besorgt. Ich habe sie auch noch beneidet. Ich sehe nämlich
ebenfalls schlecht, aber so reiche Freunde habe ich nicht. Sie hat mich
gebeten, ihren Papagei zu füttern.«
»Und hat Kondrat selber sie abgeholt?« fragte ich erschrocken.
Der Mann zuckte die Schultern und meinte: »Ich sehe ja so schlecht, aber
ich denke, er ist es selbst gewesen. Ich habe eine Männerstimme im
Korridor gehört, und Leokadia hat ihn beim Vornamen genannt.«
»Was hat sie denn genau gesagt?«
»Na, sie hat gesagt: ›Bist du es, mein Lieber? Wie ich mich freue! So
lange haben wir uns nicht gesehen!‹«
Er verstummte.
»Und dann?« drang ich in ihn. »Was war dann?«
»Nichts weiter«, antwortete der Steinpilz achselzuckend. »Sie sind
gegangen, das war’s.«
»Sie sind gegangen? Sind sie nicht im Auto weggefahren? Vielleicht
haben Sie aus dem Fenster geschaut und sich die Nummer gemerkt?«
Der Alte seufzte hilflos auf.
»Ach, meine Liebe, warum soll ich denn aus dem Fenster schauen? Ich
kann doch nicht weiter sehen als bis zu meiner eigenen Nasenspitze. Selbst
die Zeitung muß ich mit der Lupe lesen. Das wäre ja toll, wenn ich noch ein
Auto im Hof erkennen könnte! Machen Sie sich keine Sorgen. Leokadia ist
in zwei, drei Tagen bestimmt wieder da.«
»Wissen Sie nicht, für wen sie noch geschrieben hat?«
Der Alte lebte sichtlich auf.
»Sie arbeitet immer. Leokadia ist eine richtige Arbeitsbiene. Alle
möglichen Leute bringen ihre Papiere zu ihr. Ich frage sie natürlich nicht
nach ihren Namen. Obwohl ich allen die Tür aufmache. Gott hat mir gute
Beine gegeben, aber schlechte Augen. Bei Leokadia ist es eher umgekehrt.
Da haben wir uns eben zusammengetan. Ich bewege meine Beine für sie,
und sie liest mir dafür so manches Interessante vor. Wir sind nur noch zu
zweit hier.«
»Und wo sind die anderen Nachbarn?«
»Alle auseinandergelaufen«, teilte er bereitwillig mit. »Unser Haus wird
leergezogen, bald sind wohl auch wir an der Reihe.«
»Darf ich in Leokadias Zimmer gehen?«
»Bitteschön«, antwortete der Alte. »Aber weshalb?«
»Sie hat für mich eine sehr dringende Arbeit geschrieben. Ich will sie auf
eine Diskette herunterladen.«
»Können Sie denn mit dem Computer umgehen?«
»Doch, doch.«
»Dann will ich Sie nicht daran hindern.«
In Leokadias Zimmer herrschte mustergültige Ordnung. Auf diesen
Ausgang hatte sie sich offenbar gründlich und in aller Ruhe vorbereitet. Ich
schaltete den Computer ein, aber der Monitor blieb dunkel. Nachdem ich
den Knopf mehrmals erfolglos gedrückt hatte, beugte ich mich nieder und
sah, daß der Stecker aus der Dose gezogen war. Wer das wohl getan hatte?
Als ich mich genauer umsah, fiel mir auf, daß auch die Stecker von
Fernseher und Stehlampe herausgezogen waren. Wahrscheinlich fürchtete
Leokadia wie alle älteren Leute nichts mehr als einen Brand und war
deshalb auf Nummer sichergegangen. Wie konnte ich nur so dumm sein!
Mit einem Seufzer zog ich die oberste Schublade ihres Schreibtisches auf.
Sie war leer. Die zweite und dritte enthielten alles mögliche – Rechnungen,
alte Quittungen, Stifte und Büroklammern … Ich aber sah genau vor mir,
wie sie die Disketten aus einer roten Schachtel in der obersten Schublade
herausgenommen hatte. Die Schachtel war noch da, aber auch sie war
gähnend leer. Die Disketten mit Kondrats Romanen waren verschwunden.
Sie hatten sich einfach aufgelöst wie ein Stückchen Zucker im Tee.
Zornig und ratlos fuhr ich nach Hause zurück. Was sollte ich denn jetzt
machen? Ich rief im Verlag an.
Galin war sofort am Apparat.
»Tatjana, wo bleiben Sie denn? Ich warte schon seit heute morgen auf
Ihren Anruf!«
»Hier läuft etwas sehr Merkwürdiges, Michail«, stöhnte ich. »Sind Sie
ganz sicher, daß auf Ihren Disketten nichts drauf ist?«
»Wofür halten Sie mich?« Galin explodierte förmlich.
»Entschuldigen Sie schon. Ich begreife gar nichts mehr. Das Manuskript
ist einfach aus dem Computer verschwunden!«
Am anderen Ende wurde es ganz still. Es knackte und rauschte nur ein
wenig im Hörer. Endlich hatte Galin die Sprache wiedergefunden.
»Mein Engel, wenn die Leute von ›Sigma‹ Ihnen eine riesige Summe für
den Roman angeboten haben, dann können Sie davon ausgehen, daß die Sie
übers Ohr hauen wollen. Sind Sie jetzt zu Hause?«
»Ja.«
»Ich komme«, sagte Galin kurz und legte auf.
In der Küche stieß ich auf Pingu, die gerade an einem Stück
Hühnerfleisch schlang, das ich in meiner Verwirrung im Spülbecken hatte
liegenlassen. Ich verscheuchte sie mit dem Küchenhandtuch und wollte
dann etwas aufräumen. Aber diese undankbare Beschäftigung ließ ich bald
wieder sein. Schließlich hatte ich Galin nicht zu Gast gebeten.
Den interessierte der Zustand unserer Wohnung überhaupt nicht. Er schoß
herein wie ein Tornado und knallte schon in der Diele ein weiteres Bündel
Geldscheine auf den Schuhschrank.
»Hier sind noch mal 10 000. Jetzt her mit dem Manuskript!«
»Es ist wirklich weg.«
»Das glaube ich nicht!« erwiderte Galin scharf.
»Großes Ehrenwort.«
Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, nahm sich eine Zigarette und
erkundigte sich: »Wo soll es denn hingekommen sein?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich habe ich es aus Versehen in den
Papierkorb befördert!«
»Das gibt’s doch gar nicht«, stieß der Verlagsleiter hervor.
»Aber auf den Disketten, die ich Ihnen gegeben habe, war der volle Text
drauf.«
»Hier haben Sie sie!« stieß er böse hervor und knallte zwei dieser kleinen
schwarzen Quadrate auf den Tisch. »Prüfen Sie nach! Die sind absolut
leer!«
»Möchten Sie einen Kaffee?« Immerhin war er mein Gast.
»Lieber einen Becher Zyankali«, gab Galin deprimiert zurück.
Wir gingen in die Küche. Pingu saß schon wieder in der Spüle. Mit vor
Genuß geschlossenen Augen kaute sie weiter an der Hühnerkeule.
»Jetzt reicht’s aber!« schrie ich, ehrlich aufgebracht. »Das sollst du mir
büßen!«
Ich griff mir einige Blatt Papier, die auf dem Kühlschrank lagen. Bei dem
Geräusch war Pingu augenblicklich unter dem Tisch verschwunden. Ich mit
meinen Bogen, die ich zu einem Stöckchen zusammengerollt hatte,
hinterher. Aber sie war schneller als ich und saß eine Sekunde später auf der
Hutablage der Garderobe im Korridor.
»Na warte!« drohte ich. »Wenn du Hunger hast, wirst du schon wieder
runterkommen.«
Ich ging in die Küche zurück, warf die Blätter auf den Tisch und klagte:
»Eine richtige Plage, nichts darf man liegenlassen, sofort wird es
angefressen!«
»Was ist das?« fragte Galin leise und wies auf die Blätter.
»Was meinen Sie?«
»Na, das hier.«
»Das ist der ›Hyänenkäfig‹. Ich habe ihn ausgedruckt, um ihn zu lesen,
und dann in der Küche liegenlassen. Lisa kann das Gas nicht richtig
anzünden. Da nimmt sie sich immer so ein Blatt, knüllt es zusammen
und …«
»Das gibt’s doch nicht«, stöhnte Galin auf. »Ich glaube, jetzt werde ich
verrückt! Du hast doch gesagt, das Manuskript wäre weg!«
»Na ja, im Computer ist es nicht mehr.«
»Aber hier liegt’s doch, auf dem Kühlschrank!«
»Ja, ja, aber wie krieg ich das auf eine Diskette?«
Galin setzte die Kaffeetasse ab und murmelte ergeben: »Gib den
Ausdruck her.«
»Können Sie haben. Ich weiß nur nicht, ob er noch vollständig ist. Lisa
hat gestern Kuchen gebacken.«
Mit zitternden Händen blätterte Galin die Seiten durch.
»Es fehlen sechs«, teilte er erschüttert mit.
»Hab ich doch gesagt, Lisa hat gestern Kuchen gebacken!«
Er hieb mit der Faust so auf den Tisch, daß die Tassen laut klirrten.
»Jetzt ist aber Schluß mit dem Theater! Gib endlich zu, daß du noch mehr
Geld willst!«
»Das ist kein Theater. Ich denke, Sie brauchen eine Diskette!«
»Das Manuskript brauche ich!« heulte Galin auf. »Das Manuskript, egal
wie, meinetwegen in Stein gehauen!!!«
»Schrei mich nicht an!« gab ich zurück, denn langsam wurde auch ich
wütend.
»Und du spiel hier nicht die Doofe!«
»Selber doof«, schoß ich zurück.
Eine Weile sagten wir gar nichts. Dann kratzte er sich am Hinterkopf.
»Es scheint, Tatjana, unser Verhältnis ist jetzt in ein neues Stadium
eingetreten. Wir sind per du.«
Ich nickte und sagte: Ȇbrigens habe ich noch ein Exemplar von dem
Ding, ich hatte zwei ausgedruckt.«
Galin traten die Augen aus den Höhlen. Dann fing er hysterisch an zu
lachen. Ich schaute ihn verständnislos an. Aber er beruhigte sich bald
wieder und sagte nur noch: »Du bringst einen um. So was wie du ist mir
noch nicht begegnet!«
»Nimm jetzt das blöde Manuskript und geh.«
Galin hörte auf zu lachen, schob die Seiten zusammen und trat in die
Diele. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um und schnarrte im
Befehlston: »Ein für allemal: Mir ist völlig schnurz, in welcher Form ich
ein Manuskript kriege!«
Als ich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, hob ich die Disketten auf,
die er mir hingeworfen hatte. Ich ging ins Arbeitszimmer und öffnete eine
nach der anderen. Tatsächlich nichts drauf! Ich nahm sie wieder heraus und
drehte sie in den Händen. Plötzlich kam mir ein seltsamer Gedanke.
Disketten gleichen einander wie ein Ei dem anderen, nur manchmal haben
sie verschiedene Farben. Kondrat benutzte dunkelbraune von der Firma
Sony. Er hatte nur solche. Wahrscheinlich vertraute er dieser Marke. Ich
nahm zwei frische aus einer beinahe vollen Packung heraus. Aber auf
denen, die Galin mir gebracht hatte, stand IDK. Ich schaute sie mir genauer
an. Nein, das waren nicht die, die ich Galin im Verlag gelassen hatte. Wo
waren die Sony-Disketten mit dem »Hyänenkäfig« geblieben? Vielleicht
hatte Galin die Disketten verwechselt? Einen zerstreuten Eindruck machte
er eigentlich nicht. Sein Schreibtisch sah allerdings schlimm aus. Dort lag
alles mögliche wild durcheinander – Manuskriptseiten, Bücher und
Druckfahnen. Auch mehrere Disketten hatte ich gesehen … Aber er hatte
sie doch sicher alle kontrolliert. Wo waren wohl die von Sony abgeblieben?
19. Kapitel
Gegen elf Uhr abends ließ ich mich endlich auf mein Bett fallen und
schaltete den Fernseher ein. Nach dem Programm sollte es einen Agatha-
Christie-Film mit meinem Lieblingsdetektiv Hercule Poirot geben. Als das
Bild erschien, heulte eine Sirene auf. Der Moskauer Polizeibericht. Ich
griff nach der Fernbedienung. Ich liebe Krimis, aber nur erfundene. Der
Anblick echter Leichen ist nicht sehr erfreulich. Und schon gar nicht mag
ich mir verstümmelte Unfallopfer anschauen. Jetzt nahm gerade ein
blutüberströmtes Gesicht den ganzen Bildschirm ein.
»Auf dem Moskauer Außenring wurde bei Kilometer 27 die Leiche einer
Frau aufgefunden«, teilte eine völlig emotionslose Stimme mit.
Ich wollte schon weiterzappen, da fiel mein Blick auf einen Ohrring, den
die Unglückliche trug – ein rosafarbener Stein in einer merkwürdigen
altmodischen Fassung. Mir krampfte sich der Magen zusammen. Die
Kamera zeigte mir mit ihrem kalten Auge, was von Leokadia
übriggeblieben war. Der Reporter berichtete: »Um fünf Uhr morgens
entdeckte ein LKW-Fahrer, der Apfelsinen nach Moskau brachte, am
Straßenrand einen merkwürdigen Gegenstand, der wie ein
heruntergefallener Sack aussah. Er hielt an und besah sich die Sache
genauer. Es war eine ältere Frau, die offenbar ein Auto überfahren hatte.
Die Ermittler waren rasch zur Stelle. Das Opfer ist etwa siebzig Jahre alt,
normale Figur, graues Haar, blaue Augen. Sie trug ein blaues Kostüm, eine
rosa Bluse, einen schwarzen Mantel und braune Stiefel. Sie hatte keinerlei
Dokumente bei sich. Wer zweckdienliche Angaben zur Person machen
kann, möge sich bei der Miliz melden.« Eine Telefonnummer wurde
eingeblendet …
Ich griff nach einem Stift. Was war geschehen? Wie kam Leokadia auf
den Moskauer Außenring? Noch dazu in tiefer Nacht, wahrscheinlich gegen
Morgen? Wer war der Mann, der sie abgeholt hatte?
»Diensthabender Hauptmann Rosow«, ertönte im Hörer eine heisere
Baßstimme.
»Eben wurde im Fernsehen die Leiche einer älteren Frau gezeigt«, legte
ich los. »Sie haben um Hinweise zur Person gebeten … Also – die Frau
heißt Leokadia Rjumotschkina … Hören Sie mich?«
»Ich höre«, antwortete der Diensthabende sachlich. »Ich notiere …
Leokadia Rjumotschkina. Wissen Sie auch ihre Adresse?«
»Nein, ich würde mich aber zu ihrem Haus finden. Geben Sie das bitte
weiter.«
»Das werde ich tun«, versicherte der Hauptmann. »Und nun bitte Ihre
Personalien.«
»Können Sie mir sagen, wie sie auf den Außenring gekommen ist?« fragte
ich zurück.
Jetzt wurde der Diensthabende amtlich.
»Die Ermittlungen leitet Leutnant Anochin. Rufen Sie bitte morgen früh
gegen neun an.«
Ich legte auf und versank ins Grübeln. Die arme Frau! Sie tat mir
unendlich leid. Aber ich durfte Lena nicht vergessen. Ich mußte diesen
Stepan Rasin finden und klären, welche Rolle er bei Kondrats Ermordung
gespielt hatte. Vielleicht war das auch eine völlig sinnlose Spur? Wenn
Lena nun doch ihren Mann selbst umgebracht hatte? Immerhin hatte sie die
Spielzeugpistole gekauft und Wanja geschenkt … Nachdem ich alles lange
abgewogen hatte, war ich mir sicher: Lena war nicht schuld! Irgendwer
wollte die Sache mit großer Raffinesse auf sie abzuwälzen … Und solange
ich nicht wußte, wer es war, mußte ich Stepan Rasin suchen.
Bei Juri Gryslow stieß ich wieder einmal nur auf den Anrufbeantworter.
Ich mag die Dinger überhaupt nicht, aber noch dümmer finde ich es, wenn
ein Anrufer nach dem Piepton einfach auflegt. Daher wartete ich ab und
sagte dann überdeutlich: »Juri, ruf mich bitte an, wenn du nach Hause
kommst. Es ist dringend. Tanja.«
Die Uhr zeigte halb zwölf Uhr nachts, eine äußerst ungelegene Zeit,
fremde Leute anzurufen. Auch gute Bekannte sollte man nach elf nicht
mehr stören. Andererseits sind zu dieser späten Stunde die meisten zu
Hause. Ich holte mir den Zettel mit den Telefonnummern, die ich von der
Tapete der Säuferin Rita abgeschrieben hatte, und ging ans Werk.
»Hallo«, hörte ich nach dem ersten Wählen eine hohe, etwas launische
Stimme.
»Ist Galja zu sprechen?«
»Mama, für dich«, erklang es aus dem Hörer.
Danach in einer frappierend ähnlichen Tonlage: »Hallo.«
»Galja?«
»Ja?«
»Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht die Telefonnummer von
Stepan?«
»Von wem?« kam es verwundert zurück.
»Von Herrn Rasin, Ihrem Bruder.«
»Ich habe keinen Bruder«, sagte die Dame spitz. »Wer sind Sie, und
woher haben Sie meine Telefonnummer?«
»Rita hat sie mir gegeben, Ihre Schwester.«
»Ich habe auch keine Schwester«, blaffte die Frau und legte auf.
Wütend wählte ich dieselbe Nummer noch einmal.
»Hallo«, sagte Galja.
»Hören Sie mal, so geht das nicht. Ich will doch nur die Telefonnummer
von Stepan.«
»Lassen Sie mich in Ruhe!« rief die Frau am anderen Ende zornig. »Ich
habe überhaupt keine Verwandten. Und wenn Sie mich weiter mit Ihren
Anrufen belästigen, zeige ich Sie als Telefonrowdy an!«
»Dann fällt die Wohnung eben an den Staat.« Ich ließ einen gespielten
Seufzer hören.
»Was für eine Wohnung?« fragte Galja mißtrauisch zurück. »Drücken Sie
sich klarer aus.«
»Wozu?« heuchelte ich weiter. »Wenn Rita und Stepan Rasin nicht mit
Ihnen verwandt sind, dann geht auch die Wohnung Sie nichts an.«
»Wer sind Sie?« fragte Galja.
»Ihre Verwandte mütterlicherseits, Tatjana ist mein Name …«
»Und wem gehört die Wohnung?«
»Einem Mann, der sie Warwaras Kindern vermacht hat. Da aber Wladimir
und Alexander schon verstorben sind, bleiben noch drei – Rita, Stepan und
Sie. Sie drei müssen sich in das Erbe teilen.«
»Rita darf kein Geld in die Hand bekommen«, flüsterte Galja jetzt. »Sonst
säuft sie sich noch tot. Ich kann hier nicht offen reden. Kommen Sie bitte
morgen mittag in die wissenschaftliche Bibliothek an der Warlamowskaja
uliza und fragen Sie nach Galina Mamonowa.
Ich legte auf und mußte laut lachen. Habgier ist immer noch ein
Grundinstinkt des Menschen. 99 Prozent der Leute laufen los, daß sie die
Schuhe verlieren, wenn man mit den so angenehm knisternden Scheinchen
wedelt! Die einfallsreichen Phönizier, die das Geld einst erfanden, konnten
nicht ahnen, daß auch an der Schwelle zum dritten Jahrtausend immer noch
gilt: Geld regiert die Welt.
Galja Mamonowa machte überhaupt nicht den Eindruck einer armen
Seele, die nicht wußte, wie sie ihre vor Hunger greinenden Kinder ernähren
sollte. Auch sie selbst nährte sich offenbar gut. Zumindest machte die Dame
keinen ausgezehrten Eindruck. Sie hatte etwa Kleidergröße 54. Die
dunklen, wahrscheinlich gefärbten Haare hatte sie zu einem riesigen Dutt
aufgetürmt. Nicht gerade eine moderne Frisur, aber Galja stand sie. Es war
aber auch das einzige, was an ihr anziehend wirkte. Alles andere war eher
abstoßend – kleine Augen mit starkem Lidstrich, schmale, viel zu rot
geschminkte Lippen, eine spitze Nase wie bei einer Ratte und dann wieder
ein unerwartet schweres Kinn. In einer teuren, aber geschmacklosen, mit
Flitterkram besetzten Strickjacke thronte sie hinter einem Schreibtisch. Am
meisten sprang der Schmuck ins Auge. Galja glitzerte wie eine
Neujahrstanne. An den Ohren schwere goldene Gehänge, um den Hals
gleich drei Ketten verschiedener Stärke. An der dünnsten schaukelte ein
Medaillon, so groß wie der Deckel einer Konservendose. An den kurzen
Wurstfingern glitzerten große Klunker, und an beiden Handgelenken trug
sie mehrere Armbänder. Die Sachen sahen aus, als seien sie auf einem
arabischen Basar gekauft.
»Wollen Sie zu mir?« fragte Galja, ohne eine Miene zu verziehen.
»Ja. Ich habe gestern abend angerufen …«
»Setzen!« sagte sie scharf, klopfte mit ihrem Kugelschreiber auf den
Tisch und fragte: »Also, was ist das für eine Wohnung?«
»Wissen Sie, wo Stepan steckt?«
»Was hat der damit zu tun?«
»Die Wohnung wurde an Sie alle drei vererbt. Rita habe ich bereits
gefunden.«
Galja fauchte: »Rita! Die zählt doch gar nicht!«
»Wieso nicht? Als Staatsbürgerin Rußlands hat sie ein Recht auf ihr
Erbe.«
»Sie ist eine Säuferin, die ich aus Mitleid durchfüttere. Wenn ich ihr kein
Geld mehr gebe, dann krepiert sie vor Hunger. Die darf nicht mehr als 100
Rubel auf einmal in die Finger bekommen! Übrigens hat sie eine sehr gute
Wohnung …«
»Woher soll sie die denn haben?«
»Sie hat seinerzeit eine gute Partie gemacht, sich den Sohn wohlhabender
Eltern geangelt. Kaum zu glauben, aber in jungen Jahren war Rita ein
hübsches Frauenzimmer, wie gemalt. Da hat sich Leonid in sie verliebt. Das
Trinken hat übrigens er ihr beigebracht. Er hat bald den Löffel abgegeben,
und Rita …«
Plötzlich schaute sie mich scharf an und fragte: »Wer sind Sie überhaupt?
Von welcher Wohnung reden Sie? Wo? Wie groß? In welchem Zustand?«
Ich glaubte, nun sei es genug mit der Flunkerei. Deshalb sagte ich
geradezu: »Es gibt gar keine Wohnung. Ich brauche nur die Adresse von
Stepan …«
Die Dame lief so dunkel an, daß sie an eine rote Rübe erinnerte, die man
mit Gold behängt hatte.
»Was erlauben Sie sich? Verschwinden Sie hier, sonst rufe ich die Wache.
Sie haben ja nicht alle Tassen im Schrank!«
Das konnte ich mir nicht gefallen lassen. Mit einem Griff holte ich aus
meiner Handtasche einen Ausweis mit den goldenen Initialen des
Geheimdienstes FSB darauf und hielt ihn der Person direkt vor das bemalte
Gesicht.
»Agentin Romanowa.«
Galja klappte mit den Augen und wurde blaß.
»Na, so was! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Was soll die
Geschichte mit der Wohnung …«
»Ich wollte Sie nicht beunruhigen. Leider löst unsere Behörde bei
manchen nicht gerade Begeisterungsstürme aus.«
»Sie kommen wegen der Datsche?« murmelte die Frau. »Meine Papiere
sind alle in Ordnung …«
»Nein, nein«, sagte ich beruhigend. »Ich suche wirklich Stepan Rasin.«
»Warum?« fragte Galja leise zurück. »Was wollen Sie von ihm?«
»In diesem Stadium der Ermittlungen kann ich Ihnen das leider nicht
sagen.«
»Ermittlungen«, sagte die Dame gedehnt. »Das heißt, er ist in etwas
verwickelt …«
»Genau«, bestätigte ich. »Es geht um Mord!«
Sie stand auf und trat zum Fenster. Sie trug keinen Rock, sondern schmale
schwarze Hosen, die ihre breiten Hüften wesentlich schlanker erscheinen
ließen. Sie nahm sich einen Aschenbecher und seufzte tief auf.
»Ob Sie es glauben oder nicht, mein ganzes Leben versuche ich diese
Sippe loszuwerden. Sie kennen sie ja – alles Trinker, Kriminelle,
Asoziale …«
Sie verstummte und drückte die Zigarette in dem Aschenbecher aus. Der
glitt ihr plötzlich aus der Hand und fiel samt Inhalt zu Boden. Völlig
abwesend starrte Galja auf die verstreuten Kippen und brach in Tränen aus.
Ich war ratlos.
»Beruhigen Sie sich, ich hebe das auf.«
Sie schüttelte heftig mit dem Kopf. »Lassen Sie es liegen. Ich rufe die
Putzfrau. Meine Güte, wie ich sie satt habe …«
»Die Zigaretten?«
»Nein, meine Verwandten. Schon mit achtzehn habe ich geheiratet, nur
um von ihnen wegzukommen. Und ich kann mit niemandem darüber reden,
weder mit meinem Mann noch mit meiner Tochter. Ich schäme mich so.
Wie ein Stein liegt das auf meiner Seele …«
»Lassen Sie es raus«, bot ich ihr an. »Von mir erfährt niemand etwas, und
Ihnen wird leichter.«
Galja steckte sich eine neue Zigarette an und murmelte: »Wenn schon,
dann ganz von vorn.«
Galja war das vierte Kind der Rasins. Sie hatte eine traurige Kindheit. Der
Vater ewig betrunken, später die beiden Brüder ebenso. Eine Schwester, die
nie vor ein Uhr nachts mit fröhlich blitzenden Augen nach Hause kam, und
die Mutter, die sich mühte, die Familie zusammenzuhalten. Die Kinder
waren in großen Abständen geboren. Zwischen Wolodja und Galja lagen
zehn Jahre. Ein Verhältnis zueinander entwickelten sie daher kaum.
Manchmal beginnen solche großen Brüder ihre kleinen Schwestern zu
verwöhnen, aber das war von Wolodja Rasin nicht zu erwarten. Galja
konnte sich nur an Kopfnüsse und Ohrfeigen erinnern. Als sie ganz klein
war, nahm er ihr jedes Bonbon weg und machte ihr Spielzeug kaputt. Und
als die achtjährige Galja sich ein Sparschwein zulegte, hatte er auch das
bald zerschlagen. An diesen Bruder hatte sie wahrlich keine guten
Erinnerungen. Dann brachte er eine junge Frau ins Haus. Auch zwischen
ihnen gab es ewig Streit, flogen Geschirr und wilde Flüche hin und her. Ein
Jahr später kam ein ständig schreiendes Baby hinzu. Der zweite Bruder
Sascha war für Galja ebenfalls kein Grund zur Freude. Er nahm ihr nichts
weg, nannte sie aber nur Vielfraß und Dickwanst. Damit verletzte er Galja
sehr, die in der Tat furchtbar gerne aß. Dick wurde sie davon, daß es im
Hause nur Makkaroni, Brot und Kartoffeln gab. Für Obst, Fleisch und Fisch
hatte Warwara einfach kein Geld. Obwohl sie sich als Putzfrau in der Fabrik
Tag und Nacht abmühte, hatte sie immer nur Kopeken in der Tasche.
Stepan kam zehn Jahre nach Galja zur Welt. Von Anfang an empfand sie
nur Haß für ihn. Als Baby brüllte er Tag und Nacht, und es fiel Galja zu, ihn
zu beruhigen. Das arme Mädchen konnte nachts nicht durchschlafen, weil
der Kleine keine Ruhe gab. Dann starb der Vater. Er hatte mit Kumpanen
reinen Sprit getrunken und sich damit vergiftet. Warwara bekreuzigte sich
und atmete erleichtert auf. Zwei Wochen nach der Beerdigung tauchte Tante
Raissa, die Frau von Vaters Bruder Viktor, bei ihnen auf.
Im Unterschied zu seinem Bruder hatte Viktor keinen Hang zur Flasche.
Er war Fernfahrer und rollte mit seinem Lastzug durch alle Regionen des
unermeßlichen Sowjetlandes – ins Baltikum, nach Moldawien oder
Usbekistan … Andere Fernfahrer ließen es sich am Ziel bei Bier und
Schnaps wohl sein. Viktor dagegen lief durch die Geschäfte und besorgte,
was im Hause gebraucht wurde – in Mittelasien Reis, Trockenfrüchte und
Baumwollkernöl, im Baltikum hübsches Geschirr und Elektrogeräte,
Wäsche in Belorußland … Damals fehlte es im Land an allem – von
Lebensmitteln bis zu Unterhosen. Viktor und Raissa Rasin dagegen ging es
gut. In seiner Firma fiel der diensteifrige und dem Alkohol so abgeneigte
Kraftfahrer auf. Bald fuhr Viktor mit seinem Lastzug in die Länder des
Sozialismus – nach Ungarn, Bulgarien oder in die DDR. Der Wohlstand der
Familie erreichte für damalige Zeiten ungeahnte Höhen. Viktor und Raissa
hatten alles, was sie sich wünschen konnten – eine schöne Wohnung,
vollgestopft mit tschechischem Kristall und deutschen Teppichen, eine
Datsche auf dem Land und einen neuen Moskwitsch. Nur ein Kind wollte
sich nicht einstellen. Als sie jünger war, hatte Raissa zahllose Ärzte
aufgesucht, um herauszubekommen, warum sie nicht schwanger wurde.
Aber vergeblich. Auch die besten wußten keinen Rat. Sie galt als gesund.
Warwara, die ein Kind nach dem anderen bekam, beneidete ihre
Schwägerin heiß. Manchmal meinte sie zu ihr: »Du kannst Glück haben.
Kriegst alles, was du willst, und hast keine Sorgen. So müßte man leben!«
Wenn Galja sie so reden hörte, kamen ihr immer gleich die Tränen. Dafür
setzte es von der Mutter regelmäßig eine Ohrfeige. Deshalb konnte Galja
Tante Raissa auch nicht leiden. Die tauchte selten bei ihnen auf, aber wenn
sie kam, dann in aufreizend teuren Kleidern. Die große Schachtel Konfekt
und ein hübsches Spielzeug, das sie immer mitbrachte, konnten den Haß
des Mädchens nicht lindern. Eines Tages schlossen sich Mutter und Raissa
in der Küche ein. Als die Tante damals fortging, nahm sie Stepan mit.
»Gott hat ihr keine eigenen geschenkt«, erklärte die Mutter kurz. »Sie
wollte sich ein Kind aus dem Heim holen. Aber dort hängt man ihr
vielleicht noch ein krankes an. Deshalb hat sie mich gebeten, ihr Stepan zu
geben, damit er bei ihnen aufwächst. Immerhin ist er ihr Neffe.«
»Der hat’s gut«, sagte Rita damals. »Erbt mal alles, was die haben. Und
ein Mädchen wollten sie nicht? Ich wäre sofort mitgegangen …«
Die Mutter donnerte stumm den Teekessel auf den Herd und ging hinaus.
»Ein Mädchen«, wieherte der betrunkene Sascha los. »Du haust ja Dinger
raus! Du willst noch ein Mädchen sein?«
»Scheißkerl!« schrie ihn Rita an.
Sascha sprang auf, und das übliche Gerangel begann. Stepan war schon
vergessen, als hätte es das Baby nie gegeben. Nur Galja, die seit einem
halben Jahr zum ersten Mal durchschlafen konnte, war froh und leistete der
ungeliebten Tante Raissa heimlich Abbitte.
Die Jahre vergingen. In Galjas Familie wurde weiter getrunken, gestritten,
geprügelt und sogar gemordet. Auch Warwara und Rita hingen inzwischen
an der Flasche. Die arme Galja hatte einen Traum: Während sie in der
Schule war, sollte auf das Haus, wo ihre Familie lebte, ein Flugzeug
stürzen. Sicher hätte sie ein wenig geweint und getrauert. Aber dann hätte
sie als glückliche Waise weiterleben können, ohne sich vor dem Zank und
Streit der ewig betrunkenen Anverwandten fürchten zu müssen. Aber die
Zeit verging, und der Traum erfüllte sich nicht. Die Rettung kam von
anderer Seite. Ganz am Ende der Schulzeit brachte Shenja Kotow aus der
Nachbarklasse einen Freund, den zweiundzwanzigjährigen Kostja
Mamonow, zum Abschlußabend mit. Die hübsche, füllige Galja gefiel
Kostja über die Maßen. Und auch das Mädchen war von dem jungen
Leutnant hingerissen, der gerade die Offiziersschule absolviert hatte. Die
ganze Nacht nach dem Ball spazierten sie allein durch die Straßen. Am
Morgen war klar, daß sie heiraten wollten. Kostja hatte keine Familie, und
Galja, die seit dem 1. Juni achtzehn war, antwortete auf alle Fragen ihres
künftigen Mannes nach der Verwandtschaft: »Meine ganze Familie ist bei
einem Autounfall ums Leben gekommen – Vater, Mutter, Brüder und
Schwestern. Ich lebe bei fremden Leuten. Die mußt du nicht kennenlernen.«
Kostja erschrak und drang nicht weiter in sie. Er wollte sie vor
schmerzlichen Erinnerungen bewahren. Am 10. Juni erhielt Mamonow
seinen Einsatzbefehl. Er wurde nicht irgendwohin kommandiert, sondern in
die schreckliche Stadt Kuschka, damals der südlichste Punkt der UdSSR.
Am 15. Juni bestieg Galja nur mit einer Reisetasche den Zug. Am nächsten
Morgen heiratete sie Kostja in aller Stille, ohne ein rauschendes
Hochzeitsfest. Kostjas Vorgesetzter rief im Standesamt an und bat um eine
Ausnahme für einen guten Fachmann, der bereit war, dem Vaterland zu
dienen. Sie legten nur ihre Papiere vor und wurden sofort getraut.
So begann Galjas Familienleben. Die Ehe, so Hals über Kopf geschlossen,
erwies sich als Erfolg. Kostja war ein erstaunlicher Ehemann – umsichtig,
zärtlich und sparsam. Das Wichtigste aber: Er rührte keinen Tropfen
Alkohol an. Anfangs trank er ab und zu ein Bier, aber bei Galja löste schon
der Anblick einer Flasche krampfhaftes Schluchzen aus. Und der junge
Mann, der seine Frau heiß liebte, stellte sich auf Limonade um. Bevor er in
noch jungen Jahren als erfolgreicher General nach Moskau kommandiert
wurde, zog Mamonow durch zahlreiche Garnisonen. Galja folgte ihm
überallhin – zunächst allein, später mit Tochter und Sohn.
Der tüchtige Fachmann, der nicht trank, war immer gern gesehen. Er
machte rasch Karriere und landete schließlich mit seiner ganzen Familie in
Moskau. Das war 1984, als sich große Veränderungen ankündigten. Aber
das Militär war noch hoch angesehen, und so erhielt General Konstantin
Mamonow ohne Mühe eine der beliebten geräumigen
Vierzimmerwohnungen in einem Hochhaus aus der Stalinzeit.
Doch das Schicksal treibt zuweilen seine Spiele mit uns. Galja wollte
gerade auspacken, da klingelte es an der Wohnungstür. Vor ihr stand ein
mageres, abgerissenes Frauenzimmer mit versoffenem Gesicht.
»He, Nachbarin«, legte sie mit heiserem Baß los, »Glückwunsch zum
Einzug. Sei nett und leih mir 20 Rubel. Bin zur Zeit etwas klamm.«
Galja, die Alkoholiker nicht ertragen konnte, wollte schon eine scharfe
Antwort geben, aber etwas im Gesicht der Frau kam ihr merkwürdig
bekannt vor. Auch die Trinkerin starrte die Generalsfrau mit großen Augen
an, klatschte schließlich in die Hände und rief völlig entgeistert aus: »Herr
im Himmel, wo kommst du denn her! Erkennst du mich nicht? Ich bin
Rita.«
Der Zufall hatte es gewollt, daß der General auf dieselbe Etage gezogen
war, wo Rita noch hauste, nachdem sie ihren Mann begraben hatte. Galja
erschrak bis in die Tiefe ihrer Seele und war froh, daß Mann und Kinder
nicht zu Hause waren. Sie zerrte ihre wiedergefundene Schwester herein
und schloß die Tür. Rita ließ ihren Blick über die funkelnagelneue
Einrichtung schweifen. Dann begann sie tränenreich über ihre Krankheiten
zu klagen, die sie am Arbeiten hinderten, weshalb sie keine Kopeke in der
Tasche habe. Aber das Leben einer Offiziersfrau ist auch kein
Zuckerlecken, und Galja war hart geworden.
»Hör auf zu heulen«, sagte sie scharf. »Greif nicht so viel zur Flasche. Ich
trinke nicht und bin gesund. Zu mir brauchst du nicht zu kommen, ich gebe
dir kein Geld. Und über unsere Verwandtschaft halt den Mund. Mein Mann
ist ein hohes Tier. Wenn du anfängst, seinen Namen in den Schmutz zu
zerren, dann bist du ganz schnell hinter Gittern.«
»Hab schon verstanden.« Rita nickte. »Ich schweige wie das Grab.«
Dann bat sie kläglich: »Gib mir doch wenigstens einen Zehner. Sonst
bringt’s mich um.«
Galja gab ihr den Schein. Die Schwester steckte ihn ein und verschwand.
Sie hielt Wort. Über die Verwandtschaft ließ sie nichts verlauten und
klopfte nur bei den Mamonows an, wenn sie wußte, daß Mann und Kinder
außer Haus waren. 1998 zwang Galja ihre Schwester, ihr Testament zu
schreiben. Die Wohnung sollte nach ihrem Tode Galjas Tochter zufallen.
Für das Papier zahlte sie Rita eine monatliche Rente. Vielleicht aus
Dankbarkeit, vielleicht aber auch, weil sie dachte, Rita würde sich so
schneller zu Tode trinken.
»Aber was ist aus Stepan geworden?« fragte ich und unterbrach damit
ihren Redeschwall. Denn über Rita wußte ich Bescheid.
Galja zuckte die Schultern.
»Ich habe ihn nicht wiedergesehen. Rita hat mir erzählt, daß Tante Raissa
ihn tatsächlich großgezogen hat. Jetzt soll er angeblich sitzen, aber
vielleicht stimmt das ja auch nicht.«
»Und die Telefonnummer Ihrer Tante?«
»Wo denken Sie hin! Wir hatten keinerlei Kontakt miteinander.«
Galja hob die Hände. »Rita müssen Sie fragen, die weiß sie bestimmt.«
Mir schwand der Mut.
»Sie ist in einem solchen Zustand …«
»Also gut«, meinte Galja schließlich. »Rufen Sie mich morgen an. Ich hol
das aus ihr heraus.«
20. Kapitel
Auf unserem Hof tuckerte der riesige grüne Jeep fröhlich vor sich hin.
»He, Tanja!« rief mir Lisa aus dem Autofenster zu. »Kommst du nicht
mit?«
»Wohin soll’s denn gehen?« fragte ich streng.
»Zur Dog Show!«
»Wohin?« gab ich verwundert zurück.
»Steigen Sie ein, Tanja«, bat Andrej. »Ich erkläre es Ihnen unterwegs.«
Auf dem Rücksitz saß, zufrieden und total aufgeregt, schon Mascha
Gawrjuschina. Die Mädchen fielen einander ständig ins Wort, um mir zu
sagen, was es mit der ganzen Sache auf sich habe.
Vor drei Tagen hatten sie eine Nummer gewählt, die im Fernsehen stets
nach ihrer Lieblingssendung Dog Show eingeblendet wird.
»Eigentlich hat sich das Andrej ausgedacht«, zwitscherte Lisa.
»Nee, Girls«, widersprach unser Bandit, »die Idee hattet ihr. Ich hab nur
ins Telefon gesabbelt. Bei euren Kinderstimmchen hätten sie sich ja
verarscht gefühlt …«
»Unsere Stimmen sind ganz normal«, widersprach Lisa. »Halt’s Maul und
quatsch uns nicht dauernd rein.«
»Genau«, piepste Mascha, »halt die Klappe, Kumpel!«
Ich dachte, mich tritt ein Pferd. Das kam vom Umgang mit dem netten
Andrej.
»Stop, meine Damen, jetzt wird hier wieder normales Russisch
gesprochen!«
»Na, haben die vielleicht Amerikanisch gequasselt?« fragte Andrej laut
lachend zurück und nahm dabei die Kurve so scharf, daß ich auf die
kichernde Mascha fiel.
»Na, Russisch war das nicht.«
»Was denn?«
»Idiotisch! Und du, Andrej, könntest dich auch normal ausdrücken.«
»Und wie soll das gehen?«
»Zum Beispiel so: Die Idee hatten die Mädchen. Ich habe nur angerufen.
Wenn die beim Fernsehen die Kinderstimmen gehört hätten, konnten sie
glauben, daß man sich mit ihnen einen Scherz erlaubt.«
Andrej war so verblüfft, daß er mir gehorsam nachsprach.
»Na bitte, geht doch«, sagte ich zufrieden. »Klingt gleich viel besser. Und
jetzt mußt du, Lisa, Andrej antworten, wie es sich gehört.«
»Niemand hätte gedacht, daß wir uns einen Spaß erlauben. Du bist im
Unrecht.«
»Hervorragend. Und jetzt Mascha!«
»Also gut«, willigte die Gawrjuschina ein. »Red keinen Unsinn und sei
bitte nett.«
Ich war begeistert. »So werden wir jetzt immer sprechen – in unserer
großen und schönen Muttersprache Russisch.«
Ich seufzte tief auf. Sicher war es schwer, unserem Banditen den Slang
abzugewöhnen, aber ich wollte einfach nicht mehr zulassen, daß Andrej in
dieser abscheulichen Ganovensprache mit den Mädchen verkehrte. Und das
hatte sich am Nachmittag abgespielt: Auf Bitte der Mädchen hatte Andrej
bei der Dog Show angerufen und um Plätze im Publikum gebeten. Eine sehr
nette, höfliche Frauenstimme lud sie ein, bei der Aufzeichnung als
Zuschauer dabei zu sein. Bedingung war, daß sie Ramik mitbrachten.
Andrej war hell begeistert, und jetzt wollten sie zur Artistenschule, wo die
Aufzeichnung um 18.00 Uhr beginnen sollte.
»Aber es ist doch erst vier!« stellte ich verwundert fest.
»Wir müssen noch etwas erledigen«, erklärte der Bandit und hielt mit
quietschenden Bremsen vor einer Tierhandlung.
»Wozu?«
»Bei dieser Sendung«, erklärte mir Lisa atemlos, während sie aus dem
Jeep sprang, »sind alle Hunde angezogen und geschmückt. Der arme Ramik
hat gar nichts – keine Bommel und kein Schleifchen.«
»Wir müssen ihm Klamotten kaufen«, erklärte Andrej und ließ die
Zentralverriegelung schnappen.
Der Jeep heulte kurz auf, blinkte mit den Scheinwerfern und verstummte
dann.
Ich besah mir unseren gedrungenen Ramik und dachte bei mir: Für so
einen haben sie bestimmt nichts.
Aber da war ich im Irrtum. Das Lädchen hatte eine Riesenauswahl an
allem möglichen Krimskrams. Mit roten Wangen wühlten Lisa und Mascha
in Anzügen, Mützchen und Schuhchen … Als ich feststellte, daß schon eine
Mütze von der Größe einer Untertasse über 300 Rubel kostete, versuchte
ich sie zu bremsen.
»Ramik sieht doch auch so hübsch aus. Hier ist alles furchtbar teuer.«
»Eigentlich hast du recht«, fiel Lisa ein, »es ist wirklich nicht billig.«
»Die Schuhchen hier sind niedlich, aber die kosten so viel wie meine. Und
erst das Shampoo! Schaut mal, 400 Rubel. Selbst mein Panthene gibt’s
schon für 70!«
»Das hilft ja auch nicht gegen Flöhe«, erklärte ich.
»Menschen haben keine Flöhe«, behauptete Lisa.
»Denkste«, meinte Andrej lachend. »Die können alles haben – Läuse,
Nissen, Flöhe …«
Unser Nachbar sprach eine junge, hübsche Verkäuferin an: »He,
Schnecke, rück mal ne Büx für den Spund hier raus, dazu Latschen und
Klimperzeug …«
Das Mädchen schaute ihn unverwandt an und blieb bewegungslos stehen.
Ich konnte meine Schadenfreude kaum verbergen. Gleich würde sie
sagen: »Ich verstehe kein Wort, reden Sie doch bitte normal mit mir.«
Vielleicht half das ja mehr als alle meine Ermahnungen.
Aber als die Verkäuferin sah, daß dies die komplette Bestellung war, legte
sie mit raschem Griff zwei Paar Schuhchen mit Klettverschlüssen, einen
Anzug aus rotem Stoff, eine Kette und zwei Armbänder für Hundepfoten
auf den Ladentisch. Sie lächelte freundlich und erkundigte sich: »Wünschen
Sie vielleicht auch Perlmuttpuder?«
»Was soll ich denn mit dem Blödsinn?« meinte Andrej abfällig und zückte
sein Portemonnaie. »Oh, das sieht sehr hübsch aus«, beharrte die
Verkäuferin, »schauen Sie mal.«
Gekonnt öffnete sie die Schachtel und schüttelte sie ein wenig über
Ramiks Kopf. Auf seiner Stirn erschienen tausend flimmernde Pünktchen.
Unser Hund glitzerte plötzlich wie Schnee in der Mittagssonne.
»Toll!« jubelte Mascha.
»Super!« fiel Lisa ein.
«Also, dann noch das Glitzermehl«, willigte Andrej ein. »Und um den
Hals braucht er auch was.«
Im Nu hatte Ramik ein Halsband, das im Dunkeln leuchtete, eine Leine
aus Krokodilleder und mehrere quietschende Spielsachen. Das einzige, was
sie nicht kauften, war ein prächtiger Maulkorb, der vor Metallspießen und
Nieten nur so starrte. Ramiks Schnauze war dafür noch zu klein. Meine
schwachen Einwände, nicht so viel Geld zum Fenster hinauszuwerfen,
wurden vom Tisch gewischt.
»Für den Mastino ist mir nichts zu schade«, erklärte Andrej kategorisch
und fügte hinzu: »Das ist eigentlich unfair! Was ist mit Pingu? Sind sie nun
Geschwister oder nicht? Der Kater muß auch was kriegen.«
»Pingu ist eine Katze«, erinnerte ich ihn.
»Verdammt, ich kann mich nicht daran gewöhnen.« Andrej lachte und ließ
sich ein kleines Halsband mit glitzernden Steinchen, einen Korb mit
Matratze und ein Dutzend künstliche Mäuse geben.
»Riechen die auch wie echte?« fragte Lisa und schnupperte an einem der
weißen Knäuel. »Ich spüre nichts.«
»Du bist ja auch keine Katze«, erklärte Mascha wissend.
Als wir gerade gehen wollten, sprang die Tür auf, und ein Bursche wie ein
Kleiderschrank in schwarzer Lederjacke wälzte sich herein. Hinter ihm her
klapperte eine hübsche Blondine im Nerz auf mindestens fünfzehn
Zentimeter hohen Absätzen.
»He, du«, rief er der Verkäuferin zu, »hierher!«
Die wandte sich um.
»Katja, raus damit«, befahl er seiner Begleiterin.
Die Blondine holte ein runzliges, absolut nacktes Katzenjunges aus ihrem
Mantel.
»Hier«, erklärte ihr Mann, »den haben wir gestern gekauft, ein Gamak,
die teuerste Rasse. Zeig mal her, was man dem unterlegt und so weiter …«
Die Verkäuferin holte kleine Matratzen, Katzenkörbe und Decken herbei.
»So ’n Krempel!« erklärte der Kunde. »Haste nichts Besseres?«
»Ein Katzenhaus wäre noch da«, erklärte die Verkäuferin und wies auf ein
sehr ausgefallenes Gebilde.
Es wirkte wie mehrere Kisten, die übereinandergestapelt und mit
Kunstpelz ausgelegt waren. Dazwischen ein Liegeplatz und ein Kratzbaum.
An dem »Schloß« baumelte ein Preisschild mit der Zahl 4200.
»Das ist alles?« fragte der Bursche.
»Es ist das Teuerste, was wir haben«, versicherte ihm die Verkäuferin.
»Nehmen wir«, sagte er und wandte sich seiner Frau zu.
»Unser Kater soll das Beste haben und nicht irgendwelchen Mist. Klar?«
Die Blondine nickte und fragte ihrerseits: »Sind die Preise in Dollar oder
in Euro?«
»In Rubel«, antwortete die Verkäuferin.
»Kein Problem«, lachte der Mann und griff in seine Lederjacke.
Andrej knallte seinen Katzenkorb wieder auf den Ladentisch.
»Ich will auch so ein Haus!«
»Warum?« fragte ich verblüfft.
»Pingu soll auch nur das Beste haben!«
Das sagte er so entschieden, daß ich nicht zu widersprechen wagte. Die
Verkäuferin entfernte sich nach hinten. Die beiden Burschen in den
Lederjacken, die wie ein Ei dem anderen glichen, standen am Ladentisch,
auf den sie gleich dicke Bündel Geldscheine geworfen hatten. Die
Atmosphäre war explosiv. Es fehlte nur ein Funke. Ich dachte schon, sie
würden die Angelegenheit sogleich mit der Waffe klären, und wollte die
Mädchen in Sicherheit bringen, als die Blondine mit dem Finger auf Ramik
zeigte und freundlich fragte: »Was glitzert denn da so auf seinem Kopf? Ist
er krank?«
»Nein«, entgegnete Lisa stolz. »Es ist ein Puder, schauen Sie!«
Sie öffnete die Schachtel und bestreute Ramik damit großzügig von Kopf
bis Schwanz.
»Das ist ja toll!« quietschte die Blondine. »Das will ich auch. Shenja, das
mußt du kaufen.«
»Kein Problem«, beruhigte sie ihr Mann, »das kriegst du.«
Fünf Minuten später hatten wir den Katzenpalast im Kofferraum des
riesigen Jeeps untergebracht. Nebenan machte sich der Kleiderschrank an
seinem Jeep zu schaffen. Die Blondine betrachtete begeistert ihren Kater,
der in allen Farben des Regenbogens glitzerte. Das Pärchen war schneller
fertig als wir. Sie sprangen in den Wagen, der an einen Reisebus erinnerte,
und schossen mit quietschenden Reifen davon. Dabei bekam Andrejs Jeans
ein paar Spritzer ab. Er lief dunkelrot an und zischte: »Den hol ich mir, reiß
ihm die Pfoten raus und steck sie da rein, wo die Beine wachsen!«
»Und was ist mit der Dog Show?« riefen Lisa und Mascha wie aus einem
Munde.
Andrej spuckte wütend aus und trat gegen einen Reifen.
»Also gut, hat er noch einmal Glück gehabt!«
Natürlich machte der mit Kettchen behängte, glitzernde und funkelnde
Ramik auf die Veranstalter des Hundeprogramms einen unvergeßlichen
Eindruck. Wir wurden in die erste Reihe komplimentiert. Die Mädchen und
Andrej waren hellauf begeistert.
Auf der Rückfahrt gegen elf Uhr nachts waren alle zufrieden. Zuerst
brachten wir Mascha nach Hause. In unserer Wohnung angekommen, gab
es lange Debatten, wo Pingus Palazzo aufgestellt werden sollte. Schließlich
landete das Wunderding in Lisas Zimmer. Dann ließen wir die beiden
Bewohner herein. Zu unserer Freude machte es sich Pingu im neuen
Halsband sofort auf der oberen Etage bequem, während Ramik sich
zufrieden im Parterre ausstreckte.
»Das fetzt!« rief Andrej. »Wie die das hingekriegt haben!«
»Super!« fiel Lisa ein.
Ich seufzte nur leise. Für heute wollte ich die Sprecherziehung sein lassen.
Am nächsten Morgen, als Lisa schon zur Schule gegangen war, zog ich
träge mit dem Staubsauger durch die Zimmer und überlegte dabei, wie ich
weiter vorgehen wollte. Da klingelte das Telefon. Juri Gryslow fragte
aufgeräumt: »Na, was treibst du gerade?«
»Ich putze die Wohnung.«
»Das ist ja furchtbar!« Der Schriftsteller heuchelte Mitleid. »Laß das doch
sein!«
»Das kann ich nicht. Überall liegt fingerdick der Staub.«
»Weißt du, was ich in einer solchen Lage mache? Ich ziehe die Vorhänge
zu! Im Dunkeln ist der Dreck nicht zu sehen!«
»Vielleicht das nächste Mal«, antwortete ich vage. »Schade, daß du nicht
eher angerufen hast. Ich bin fast fertig.«
»Kondrat hat eine riesige Wohnung«, redete Juri weiter. »Du hast wohl
schon um sechs angefangen?«
»Wir haben die meisten Zimmer verschlossen und benutzen jetzt nur noch
drei«, erklärte ich.
»Du wirst die Wohnung wohl verkaufen müssen«, meinte Gryslow
seufzend.
»Ich? Eine fremde Wohnung?« fragte ich verwundert. »Weshalb? Und wie
stellst du dir das vor?«
»Lena kriegt glatt zehn Jahre, wenn sie Glück hat«, meinte Juri. »Du wirst
dir doch nicht ein fremdes Kind an den Hals hängen! Lisa kommt ins
Internat, und was aus Lenas Palast wird, kann dir doch egal sein!«
»Lisa kommt in kein Heim!« gab ich wütend zurück. »Irgendwie schaffe
ich das schon. Und wenn meine Familie aus Amerika zurück ist, nehme ich
sie dorthin mit.«
»Tatsächlich?« brummte Juri. »Ich kann mir richtig vorstellen, wie die
sich freuen werden.«
»Genau. Katja wollte immer eine Tochter«, erwiderte ich und ging zum
Angriff über: »Wie kommst du überhaupt darauf, daß Lena sitzen muß? Sie
wird bald frei sein, denn sie ist unschuldig.«
»Also, das Thema lassen wir jetzt!« stieß er hervor. »Eine Mörderin
gehört ins Zuchthaus!«
»Sie ist keine Mörderin! Irgendwer hat sie reingelegt!«
»Ach du lieber Gott!« rief Gryslow. »Du weißt doch genausogut wie ich,
was passiert ist.«
»Du begreifst überhaupt nichts!« gab ich böse zurück. »Wenn du meine
Meinung wissen willst – Stepan Rasin, der Fiesling, hat Kondrat ermordet!«
Juri lachte laut auf. »Warum nicht gleich Jemeljan Pugatschow? Der war
in der russischen Geschichte mindestens genauso ein brutaler Typ!«
»Du kennst Stepan Rasin?«
»Natürlich«, antwortete der Mann am anderen Ende der Leitung fröhlich.
»Zur Sowjetzeit nannte man den Kerl, wenn ich nicht irre, den Anführer
eines Bauernaufstandes und Kämpfer für ein besseres Leben des
unterdrückten Volkes. Jetzt heißt es, er sei ein Bandit gewesen, der sich mit
den Behörden des Zaren angelegt hat. Für mich ist Stepan Rasin ein
widerlicher Typ, der eine persische Fürstin ertränkt hat, um vor seinen
Kumpanen zu protzen. Eine abscheuliche Tat, und kein bißchen intelligent!
Wenn sie ihn wenigstens betrogen hätte, aber eine hilflose Dame einfach so
in den Fluß zu stürzen!«
»Du hast mich falsch verstanden«, unterbrach ich seine Schmährede,
»Stepan Rasin war ein Bekannter von Kondrat.«
»Wirklich?« meinte Juri erstaunt. »Und wie kommst du darauf, daß der an
dem Mord schuld sein soll?«
Ziemlich unsortiert und mit vielen Wiederholungen erzählte ich Gryslow
alles, was ich wußte: Vom »Hyänenkäfig«, von der netten Familie Rasin
und vieles andere. Er hörte mir schweigend zu und unterbrach mich kein
einziges Mal. Ganz außer Atem fragte ich schließlich: »Warum sagst du
nichts?«
Er gluckste merkwürdig.
»Was ist mit dir?« fragte ich erschrocken.
»Mir kommen die Tränen!« schluchzte der Prosaiker.
»Habe ich dir weh getan?«
Juri stöhnte: »Mir kommen die Tränen vor Lachen. Du glaubst also
wirklich, Kondrat hätte in dem Roman die reine Wahrheit geschrieben?«
»Na klar!«
»Ach, Tanja!« stöhnte Gryslow. »Du bist ja noch einfältiger, als ich
dachte! Hast du mal was von mir gelesen?«
»Einiges«, antwortete ich vorsichtig.
»Dann müßtest du ja glatt denken, ich sei ein Lustmolch und widerlicher
Killer, der jeden zweiten Tag über ein paar Leichen stolpert, mit
Mafiabossen befreundet ist und Heroinkapseln schluckt, um sie ins Ausland
zu schmuggeln.«
»Natürlich nicht! Aber es klingt total überzeugend.«
»Meine Liebe, das habe ich mir alles ausgedacht! Vom ersten bis zum
letzten Wort! Ich habe nie einen echten Mörder zu Gesicht bekommen. Und
bei Kondrat war das genauso.«
»Aber«, suchte ich mich zu verteidigen, »die Geschichte mit Angelina hat
er exakt beschrieben, und auch was da über diese Kusnezowa steht …«
»Natürlich«, räumte Juri ein, »verwerten manche Schreiber Geschichten,
die ihren Bekannten passiert sind. Aber Rasin ist eine erdachte Figur.«
»Und wenn er nun in der Vierten Eldoradogasse gewohnt hat?« Ich
knallte meinen letzten Trumpf auf den Tisch.
Wieder mußte Juri lachen. »Ja, Tanja, Schriftsteller sind gemein!
Vielleicht hatte er ja wirklich einen Bekannten mit diesem berühmten
Namen, der ihn mal geärgert hat. Und Kondrat hat sich revanchiert.«
»Ich verstehe nicht …«
»Da gibt es nichts zu verstehen. Ich hatte auch mal so einen Fall. Ich war
hinter einer Dame her. Drei Monate habe ich mich mächtig ins Zeug gelegt,
sie mit Geschenken überhäuft. Ich hatte sie schon fast, da taucht Wladimir
Tjaschlow auf und erzählt ihr, ich sei ein schlimmer Casanova. Sie ist mit
ihm ins Bett gegangen. Ich war natürlich sauer und …«
»Und?«
»In meinem nächsten Roman habe ich dem Mörder seinen Namen
gegeben und ihn in allen Einzelheiten beschrieben. Sogar seine richtige
Telefonnummer habe ich verwendet, allerdings für den Kommissar Popow,
einen großen Kämpfer für die Gerechtigkeit. Unsere Leser sind einfach
gestrickt und glauben noch an das gedruckte Wort. Wladimirs Telefon stand
nicht mehr still. Die Leute klagten ihm ihr Leid und wollten Hilfe von ihm.
Er mußte sich eine andere Nummer geben lassen.«
»Ich treffe mich jedenfalls heute abend mit seiner Schwester Galja«,
erklärte ich stolz.
»Mußt du weit fahren?« fragte Gryslow.
»Nur auf die Achutinskaja uliza. Wir haben uns bei Limonaden-Joe
verabredet.«
»Warum nicht bei ihr zu Hause?«
»Aus keinem besonderen Grund.«
»Soll ich dich begleiten?«
»Das wäre schön!« rief ich freudig aus. »Du mußt dich aber an einen
Nebentisch setzen. Sonst wird sie vielleicht nichts erzählen. Du hörst
einfach nur zu.«
»Nichts, was ich lieber täte.« Juri mußte lachen.
Viertel acht fuhren wir bei »Limonaden-Joe« vor. Das Lokal wollte ein
Saloon aus dem Wilden Westen sein. Ich ließ meinen Blick über die Tische
schweifen und stellte fest, daß Galja nicht da war. In einer Ecke schlürfte
eine unbekannte Brünette ihren Kaffee.
»Wir sind zu spät!« stellte ich bekümmert fest. »Bestimmt ist sie schon
weg.«
Juri schaute auf die Uhr. »Unsinn, die war bestimmt noch gar nicht da.«
Wir setzten uns einzeln an zwei benachbarte Tische und bestellten Kaffee
mit etwas Gebäck.
Nach einer halben Stunde sagte ich resigniert: »Ich denke, es hat keinen
Zweck. Vielleicht hat sie es sich anders überlegt.«
Gryslow stand auf und fragte den Barkeeper: »War vor kurzem eine Frau
ohne Begleitung hier?«
»Solche drücken sich hier ständig rum«, antwortete der, womit er wohl
recht hatte.
»Ziemlich füllig, stark geschminkt und behängt …«, fügte ich hinzu.
»Mit einem großen Dutt?« fragte der Knabe zurück und hörte sogar auf,
seine Gläser zu putzen.
Ich bejahte.
»Das ist ja ’n Ding!« kam es prompt von dem Barmann. »So was habe ich
lange nicht erlebt!«
»Was denn?« fragte Juri leise.
»Ungefähr vor einer halben Stunde wurde hier an der Ecke eine Frau
überfahren«, berichtete der Junge erregt. »Ich habe gerade vor der Tür
gefegt. Bei uns ist es sonst ganz ruhig, kaum Autos. Wie ich so fege, sehe
ich mit halbem Auge, daß eine Dame direkt auf mich zusteuert. Ich denke,
eine Kundin, und grinse sie an wie ein Idiot. Plötzlich hält von irgendwoher
so ein Schlitten direkt auf sie zu, schleudert sie zur Seite, sie schlägt mit
dem Kopf gegen die Wand, und das war’s! Wie im Film! Überall Blut! Ich,
rein, die Bullen angerufen und den Notarzt … Aber da war nichts mehr zu
machen! Die Frau da drüben hat es auch gesehen. War auf der anderen
Straßenseite. Ihr ist schlecht geworden, da hab ich ihr einen Kaffee
spendiert.«
Die Brünette nickte krampfhaft und flüsterte: »Einfach schrecklich! Wie
der die erwischt hat! Sie ist richtig durch die Luft geflogen und gegen die
Wand geknallt. Ich habe immer noch weiche Knie!«
»Was für ein Wagen war das?« fragte Juri.
»So wie ein Jeep, dunkelblau«, meinte der Barkeeper.
»Nein, der war schwarz«, widersprach die Dame.
»Jeeps gibt’s verschiedene«, erklärte Gryslow sachlich. »Haben Sie sich
wenigstens die Nummer gemerkt?«
»Ach wo, das ging viel zu schnell, Sekundensache.«
»Er war riesig, mit viel Chrom«, mischte sich die Brünette ein, »vier
Räder …«
Eine sehr gute Beschreibung, besonders die vier Räder. Das gibt’s selten –
ein Auto mit vier Rädern zugleich.
»Und wann ist es passiert?«
»Als Sie kamen, war die Miliz gerade weg«, erklärte der Barmann und
begann wieder seine Gläser zu polieren.
»Meine Güte«, murmelte Juri. »Die arme Frau!«
21. Kapitel
Gryslow brachte mich nach Hause, wollte aber nicht mit heraufkommen.
»Mir brummt der Kopf«, erklärte er. »Verschieben wir’s auf morgen.
Nimm was zur Beruhigung und denk nicht mehr an die Sache. Schade um
die Frau, aber sie ist selber schuld.«
Ich nickte ergeben und wartete, bis er vom Hof gerollt war. Dann ging ich
zu unserer Haustür. Davor stand Andrejs Lincoln-Navigator. Unser Nachbar
war also zu Hause. Ich sollte ihn auf ein Glas Tee herüberbitten. Wenn er
und Lisa mit Ramik spielten, kam ich vielleicht auf andere Gedanken. Was
für ein schreckliches Ding konnte so ein Auto sein! Eigentlich erdacht, den
Menschen zu dienen, wurde es in ungeübten Händen glatt zur Mordwaffe.
Aber wenn nun der Fahrer Galja gar nicht umbringen wollte? Konnte es
nicht auch ein Unfall gewesen sein?
In Gedanken versunken, starrte ich auf den Lincoln. Er wirkte irgendwie
verändert. Ich schaute genauer hin. Ein Scheinwerfer fehlte, der eine
Kotflügel hatte Kratzer und die mächtige Stoßstange war etwas verbogen.
Mich beschlich ein ungutes Gefühl. Ich hockte mich nieder und schaute mir
die Sache genauer an. An dem glänzenden Metall entdeckte ich winzige
dunkelbraune Tröpfchen. Als ich eines mit dem Finger berührte, durchfuhr
es mich kalt. Das war Blut, und es war ziemlich frisch! Da klappte unsere
Haustür, und Andrej blickte mich finster an. In der Hand trug er einen
Eimer Wasser.
»Tach, Tanja«, brummte er, »was gucken Sie denn so?«
»Dein Scheinwerfer ist kaputt.«
»Hm«, ließ Andrej nur hören und fuhr mit dem Lappen über die
Stoßstange.
Als ich sah, daß sich das Wasser in seinem Eimer hellrot färbte, konnte
ich nicht an mich halten.
»Was ist passiert?« entfuhr es mir.
»Dumm gelaufen! Ich fahr so vor mich hin, alles okay. Vor mir auf dem
Gehweg ’ne flotte Biene, ungefähr wie Lisa. Sie hatte ’n Hund dabei, so
’nen großen, zotteligen. Plötzlich ’ne Katze! Der Hund zerrt wie verrückt!
Sie kann ihn nicht halten, und das Riesenvieh läuft mir genau vor ’n Bug.
Nix zu machen. Mir ist immer noch kotzübel!«
Ich sah seinen geschickten Bewegungen zu und sagte halblaut, als rede
ich mit mir selbst: »Bei deiner Vergangenheit müßtest du doch an Blut
gewöhnt sein.«
»Mit so was hatte ich nichts zu tun«, reagierte Andrej. »Richtige Kerls,
die ins Feuer geschickt werden, leben nicht lange. Was glauben Sie denn,
warum die so aufn Putz hauen – immerzu Weiber, Schnaps und Geld? Weil
sie genau wissen, daß es bald aus ist! Entweder legen die anderen dich um
oder die eigenen Leute tun es.«
»Weshalb denn die eigenen Leute?«
»Damit du dich im Suff nicht verquatschst! Wissen Sie, wer von denen
am längsten lebt?«
»Na, sag schon!«
»Ein richtiger Idiot, der nichts mitkriegt und vor dem keiner Angst hat.
Oder ein ganz Schlauer, der sich als Doofkopp verstellt. Wissen Sie, was
man machen muß, damit’s vielleicht klappt?«
»Nein.«
»Keinem was glauben, vor keinem Angst haben, keinen um was bitten
und keinem was schulden! Jeder gibt mal ’n Löffel ab, aber vielleicht
klappt’s, wenn man Schwein hat«, erläuterte Andrej sehr erfahren und
kippte den Inhalt seines Eimers über den nächsten Schneehaufen.
»Und du hast Schwein gehabt?«
»Klar, jetzt hab ich ’n legales Geschäft.«
»Und keine Kontakte mehr?«
Das war wohl doch zu viel. Unvermittelt brüllte unser Bandit mich an:
»Also, Tanja, Sie sind ja schlimmer als der Staatsanwalt! Jedem anderen
hätt ich für so was eine gewischt! Ich sag nur eins: Wenn ein Kumpel
kommt und sagt, ich soll ihm helfen, was dann?«
»Nun …«
»Genau …«, knurrte der Riesenkerl und klatschte den Lappen in den
Eimer. »Ich brauch jetzt ’nen Tee, damit ich wieder zu mir komm.«
»Dachte gar nicht, daß du so ein Weichei bist«, neckte ich ihn. »Bei dem
bißchen Blut gleich schlappmachen … Hast du immer so viel Mitleid mit
den Menschen?«
»Auf die Menschen is geschissen«, erklärte mir Andrej, schon in der Tür.
»Aber ’nen Hund überfahren, nee …!«
22. Kapitel
Mir war die Lust auf Tee vergangen. Ich schützte Kopfschmerzen vor, zog
mich in mein Zimmer zurück und ließ mich auf das Bett fallen. Aus der
Küche kamen Stimmen. Wahrscheinlich machte Lisa Tee für den
Nachbarn. Sie zog im Grunde den Nutzen aus all dem Schlimmen, das
über ihre Familie hereingebrochen war. Das Mädchen hatte sich sehr
verändert. Aus einem verzogenen, infantilen Ding war ein netter,
aufgeweckter, fröhlicher Teenager geworden. Die Schule erledigte sie
völlig selbständig. Die meiste Zeit hatte sie Freundinnen um sich. Mascha
Gawrjuschina wohnte schon fast bei uns. Ihre berühmten Launen hatten
sich in Luft aufgelöst. Lisa stampfte vor keinem Schaufenster mehr mit
dem Fuß auf. Gestern hatte sie auf einen Lippenstift von »Bourgeois«
gestarrt und geseufzt: »Die Farbe ›Goldener Sand‹ würde mir stehen!« Als
ihr Blick aber auf das Preisschild fiel, rief sie schockiert aus: »300 Rubel!
Die müssen doch verrückt sein! Hier der aus Riga für 25 ist doch
genausogut, stimmt’s, Tanja?«
Ich nickte und war innerlich froh. Als ich ihr die Wahrheit über unsere
finanzielle Lage sagte, stellte sie sich sofort auf den Boden der Tatsachen.
Wir kauften den Lippenstift aus Riga, und er hielt, was er versprach: Gute
Qualität und ein vernünftiger Preis. Mir gefällt auch, daß Lisa sich nicht
mehr am Tisch niederläßt und wartet, bis man ihr etwas vorsetzt. Jetzt
überrascht sie mich mit Kuchen und anderen guten Sachen, die sie
zusammen mit Mascha voller Hingabe bäckt. Natürlich produziert sie nicht
nur Meisterwerke. Neulich hat sie einen tollen Nachtisch nach einem
Rezept zaubern wollen, das sie in der Zeitschrift »Smak« gefunden hat.
Heraus kam kalter Grießbrei mit ein bißchen Erdbeerkompott obendrauf. Es
schmeckte furchtbar, aber ich zeigte mich entzückt. Dafür gelang ihr der
Quarkkuchen mit Aprikosen ausgezeichnet. Ich hatte die Hälfte
weggespachtelt, bevor ich mich bremsen konnte. Sie heult nicht mehr
nachts in die Kissen und macht ihr Bett selbst. Nur schade, daß sie erst so
Schlimmes erleben mußte. Ich glaube, die Psychologen haben nicht recht.
Vor kurzem habe ich ein Buch gelesen, wo einer steif und fest behauptet,
die Persönlichkeit eines Menschen verändere sich im Verlaufe des Lebens
im Grunde genommen nicht. Wenn also einer als Kind seinem Freund zehn
Kopeken wegstibitzt hat, dann klaut er als Jugendlicher ein Auto und wird
als Erwachsener zum Berufsverbrecher. Irgend etwas stimmt da nicht. Ich
brauchte mir nur Lisa oder Andrej anzusehen. Er war früher kriminell, aber
jetzt geht er einer ehrlichen Arbeit nach.
Bei dem Gedanken an unseren Nachbarn fuhr ich hoch. Andrej! Die
Geschichte mit dem Hund war garantiert gelogen. Wahrscheinlich hatte er
einen Fußgänger umgefahren … Mir lief es kalt den Rücken herunter. Und
wenn er es war, der Galja …? Ein Jeep sollte es gewesen sein. Zwar hatten
die Zeugen sich die Nummer nicht gemerkt und sich auch über die Farbe
nicht einigen können. Aber um 19.00 Uhr war es in der engen Straße schon
ziemlich dämmrig gewesen. Ein dunkelgrüner Lincoln konnte durchaus
dunkelblau oder schwarz erscheinen. Und was wußte ich eigentlich von
Andrej? Ich war wütend auf mich selbst. Da saß er nun ständig bei uns
herum, und ich hatte ihn noch nie richtig ausgehorcht. Ein netter Kerl,
mochte Hunde. Aber einen Menschen konnte er wie eine Fliege erschlagen.
Eher hätte er vielleicht die Fliege verschont. Morgen wollte ich ihn mir
greifen und ordentlich ausfragen. Schade, daß mein Freund Slawa
Samonenko immer noch im Krankenhaus lag. Ich erkundigte mich jeden
Tag nach ihm, weil ich hoffte, er käme bald in ein normales Zimmer, wo er
Besuch empfangen durfte. Aber seine Nähte hatten zu eitern begonnen, und
jetzt lag er in der Abteilung für Infektionskrankheiten. Da kam keiner
hinein. Und Wolodja Kostin briet irgendwo faul in der Sonne. Ich mußte
also weiter allein ermitteln. Vielleicht war sowieso alles umsonst. Lena
konnte durchaus die Mörderin sein …
Aber irgend etwas hielt mich davon ab, diesen Schluß zu ziehen. Ich hatte
nach wie vor den Eindruck, daß sie nichts mit der Sache zu tun hatte. Dabei
gab es keinerlei Beweise für ihre Unschuld. Im Gegenteil, immer mehr
Indizien sprachen gegen sie. Und doch wuchs in mir die Überzeugung, daß
Lena unschuldig war.
Ich stand auf, ging zum Fenster und rauchte an der offenen
Lüftungsklappe. Wie kalt der März in diesem Jahr noch war. Der Winter
wollte einfach nicht aus der Stadt weichen. Schon wieder fielen dicke weiße
Flocken. Leider verwandelten sie sich sofort in häßlichen Matsch. Vielleicht
konnte Lena auch nicht schlafen und schaute ins Schneetreiben hinaus …
Ich warf die Zigarette aus dem Fenster. Nein, sie sah weder Schnee, noch
Autos oder Passanten. Die Fenster im Gefängnis waren so, daß man nicht
hinausschauen konnte. Wenn ich nicht bald etwas herausbekam, konnte sie
noch lange in der Zelle schmoren. Zehn Jahre würden sie ihr bestimmt
geben! Und ich wußte nicht, wie es weitergehen sollte. Am Ende hatte Juri
recht, und Stepan Rasin war wirklich nur eine erdachte Figur? Aber eine
andere Spur hatte ich nicht. Wo sollte ich jetzt suchen? Ich nahm mir vor,
am nächsten Tag noch einmal zur Alkoholikerin Rita zu fahren. Vielleicht
hatte ich Glück und traf sie einmal nüchtern an …
Aber als der Morgen kam, war wieder alles anders. Unser lustiger Ramik
fühlte sich offenbar nicht wohl. Er kroch unter den Tisch und ließ sich nicht
einmal mit einem Wurstzipfel hervorlocken. So mußte ich ihn mit Gewalt
aus seinem Versteck holen. Der Hund war krank. Seine Schnauze fühlte
sich heiß und trocken an, kein Appetit und der ganze Bauch voller
merkwürdiger Pusteln. Es sah aus wie Windpocken, aber die bekamen
Hunde wohl nicht.
Ich wickelte Ramik in ein Badetuch und fuhr zum Tierarzt. Lisa war in
der Schule und Andrej offenbar außer Haus, denn sein prächtiges Gefährt
war nirgendwo zu sehen.
Diesmal wurde ich nicht von dem mürrischen Veterinär, sondern von einer
Frau in hellblauem Kittel empfangen, die nach ihrem Namensschild Dr.
Swetlana Rasina hieß. Etwas an ihr kam mir bekannt vor. Mit geschickten,
sicheren Griffen tastete sie den bedrückt dasitzenden Ramik ab und stellte
fest: »Er hat eine Allergie.«
»Wogegen denn?« fragte ich verwundert. »Kriegen Hunde so was
überhaupt?«
»Warum nicht?« kam es von der Ärztin. »Das kommt gar nicht so selten
vor. Die Leute stopfen in ihre Tiere hinein, was ihnen gerade einfällt. Und
dann wundern sie sich.«
»Ramik bekommt nur gutes Futter!«
»Sie haben ihn mit diesem dummen Glitzerzeug besprüht!« widersprach
die Ärztin ärgerlich. »Er hat es abgeleckt, und das haben Sie nun davon!«
»Wie kann das sein?« fragte ich empört zurück. »Den Puder haben wir in
einem Fachgeschäft gekauft!«
»Sie müssen schon die Gebrauchsanweisung genau lesen. Dort steht, daß
dieser Puder nur für kurze Zeit, zum Beispiel für eine Ausstellung,
aufgetragen werden darf. Danach muß der Hund sofort gebadet werden. Vor
allem müssen Sie darauf achten, daß er es nicht ableckt.«
Ich bekam Gewissensbisse. Wir hatten den glitzernden Ramik in diesem
Zustand eine Nacht schlafen lassen, und nun mußte er wegen unserer
Sorglosigkeit leiden.
»Sie sollten aber auch nicht jeden Unsinn kaufen«, warf mir Dr. Rasina
zu. Sie ging zum Schrank, um ein Medikament herauszunehmen. Als sie
sich wieder zu mir umdrehte, fiel mir ein, wo ich sie gesehen hatte.
»Wohnen Sie in der Vierten Eldoradogasse?« entfuhr es mir.
»Ja«, bestätigte sie und fragte ihrerseits: »Mir ist, als hätte ich Sie schon
mal gesehen. Wohnen Sie auch dort?«
»Nein«, antwortete ich schnell. »Sagen Sie mir nur eins: Wissen Sie, wo
Stepan ist?«
Swetlana Rasina zuckte kurz zusammen, erklärte dann aber sehr
beherrscht: »Stepan? Kenne ich nicht!«
»Aber Sie heißen doch Rasina«, beharrte ich.
»Na und?« entgegnete sie. »Rasins gibt’s wie Sand am Meer und Stepans
sicher auch jede Menge!«
»Woher wußten Sie, daß Stepan mit Familiennamen Rasin heißt?« fragte
ich leise.
Die Ärztin biß sich auf die Lippen und wechselte das Thema. »Geben Sie
Ihrem Hund zweimal täglich fünf von diesen Tropfen. Baden Sie ihn, dann
wird es ihm bald wieder besser gehen. Und jetzt entschuldigen Sie mich, es
warten noch viele Patienten draußen.«
»Im Wartezimmer sitzt niemand«, beruhigte ich sie.
Swetlana wurde rot.
»Ich kenne Stepan nicht. Rasin war mein Vater, daher der Name.«
Ich ging zur Tür. Dann drehte ich mich noch einmal um.
»Eine junge Frau, die ein vierjähriges Kind hat, sitzt jetzt wegen
Mordverdacht im Gefängnis. Mir scheint, Stepan könnte Licht in die Sache
bringen. Deshalb suche ich ihn, bisher leider ohne Erfolg. Wenn Sie
vielleicht einmal Mitleid mit dieser Unschuldigen beschleicht und Ihnen
einfällt, wo Stepan sich aufhält, dann rufen Sie mich bitte an. Hier ist meine
Telefonnummer …«
»Warten Sie«, kam es leise von der Ärztin. »Was hat die Frau zu
erwarten?«
Ich zuckte die Schultern.
»Mindestens zehn Jahre.«
»Und was wirft man ihr vor?«
»Sie soll ihren Mann umgebracht haben.«
»Kommen Sie«, murmelte die Ärztin.
Wir traten in den Korridor hinaus. Sie hängte ein Schild an ihre Tür, auf
dem stand: »Pause. Diensthabender Arzt: Zimmer Nr. 12.«
In einem winzigen Kämmerchen, in das kaum ein Tisch und vier Stühle
paßten, setzte sie Wasser auf, stellte Kaffee, zwei Tassen und eine Schachtel
Gebäck auf den Tisch. Ich wartete geduldig. Als die Ärztin schließlich die
Tassen gefüllt hatte, sagte sie mit einem tiefen Seufzer: »Weiber sind
dumm. Solange es solche Schafsnasen wie mich und Ihre Freundin gibt,
werden Männer wie Stepan immer leichtes Spiel haben. Sie lassen andere
die Kastanien aus dem Feuer holen! Wegen ihm habe ich drei Jahre
gesessen, und er …«
Sie winkte ab.
»Wie sind Sie denn da hineingeraten?« fragte ich ganz entgeistert. »Was
haben Sie getan?«
»Das ist es ja gerade: Nichts!« rief die Ärztin aus. »Stepan hat mich
reingelegt wie die letzte dumme Trine.«
»Waren Sie mit ihm verheiratet?«
»Nein!« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Wir tragen zufällig den gleichen
Familiennamen. Aber eine Zeitlang habe ich mich schon für seine Frau
gehalten.«
»Wo haben Sie sich kennengelernt?«
»Zu Hause. Meine Mutter war die Nachbarin von Tante Warwara. Zwei
Rasins in einer Gemeinschaftswohnung. Wir wurden ständig verwechselt.
Wenn die ihre Miete nicht zahlten, bekam meine Mutter den Ärger.«
»Aber Stepan hat doch gar nicht bei seinen Eltern gewohnt.«
»Das stimmt«, bestätigte Swetlana. »Raissa, die Frau des Bruders seines
verstorbenen Vaters, hat ihn aufgezogen. Aber er hat seine Mutter natürlich
besucht. Einmal im Jahr, nicht öfter. Eine sehr ordentliche, gepflegte
Erscheinung. Sogar nach Kölnischwasser roch er. Wissen Sie, daß in der
Familie alle an der Flasche hingen?«
Ich nickte.
»Stepan war völlig anders, als wenn er gar nicht dazugehörte. Hatte sehr
gute Leistungen in der Schule und studierte dann sogar.«
»An welchem Institut?«
»Für Stahl und Legierungen. Er war sehr gut in Mathematik. Er hat
Sketche geschrieben und ist im Kabarett aufgetreten. Ich bin manchmal
hingegangen und habe mich köstlich amüsiert.«
Stepan entdeckte ganz plötzlich sein Interesse für Swetlana. Als er seine
Eltern wieder einmal besuchen wollte, waren die zur Großmutter aufs Dorf
gefahren. Stepan klingelte bei den Nachbarn. Als Swetlana ihm öffnete, lud
er sie völlig unerwartet ins Kino ein.
Swetlana wunderte sich, ging aber mit. Als Kavalier war Stepan wirklich
eindrucksvoll: hochgewachsen, gut gekleidet und offenbar nicht gerade
arm. Auf jeden Fall kaufte er Karten, bewirtete sie mit Limonade und
Kuchen und brachte sie im Taxi nach Hause. Swetlana verliebte sich in ihn.
Sie besuchte Stepan in Raissas Haus. Die sagte immer wieder, genauso eine
Freundin hätte sie sich für ihren Jungen vorgestellt. Alles rollte auf eine
Heirat zu, obwohl sie nie wirklich darüber gesprochen hatten. Im Sommer
fuhren sie zusammen in den Urlaub nach Sotschi. Der Wirtin des
Privatzimmers, wo sie unterkamen, erzählten sie, sie seien verheiratet. Die
sah den Familiennamen in den Pässen und war überzeugt.
Am 18. November – diesen Tag sollte Swetlana nie vergessen – kam
Stepan zu ihrer Arbeitsstelle.
Das Mädchen war Kassiererin in einem großen Kaufhaus.
»Hör mal, Swetlana«, bat er. »Ich bin an einer lohnenden Sache dran, gib
mir bitte etwas Geld.«
Swetlana fragte nichtsahnend: »Wieviel soll ich dir denn geben?«
»So viel du kannst«, kam die Antwort.
»Nimm, was in der Kasse ist«, entgegnete Swetlana lachend. »Sei um
sieben aber wieder hier, da muß ich abrechnen.«
»Da kannst du ganz beruhigt sein«, versicherte ihr Stepan, raffte die
Scheine zusammen und verschwand.
Swetlana arbeitete in aller Ruhe weiter. Erst gegen halb acht wurde sie
nervös. Schließlich blieb ihr nichts übrig, als ihrer Vorgesetzten alles zu
gestehen. Es gab schrecklichen Aufruhr. Die Direktorin, eine
Fünfundsechzigjährige mit vielen hohen Auszeichnungen, außerdem
Parteimitglied, rief sofort die Miliz. Da half nichts, daß Swetlana sie
schluchzend um Aufschub bat und versprach: »Morgen ist alles bis auf die
letzte Kopeke wieder da.«
»Wo willst du denn eine solche Summe hernehmen?« ereiferte sich die
Direktorin, die schon wegen ihres Alters diese jungen, hübschen Dinger
nicht leiden konnte. »Woanders klauen?«
»Ich habe Freunde, die mir helfen werden«, erklärte Swetlana.
Aber ihre Vorgesetzte ließ sich nicht erweichen. Die Miliz nahm Swetlana
mit. Zwei Tage hüllte die sich in Schweigen und beantwortete keine einzige
Frage. Im stillen hoffte sie, Stepan werde das Geld zurückbringen. Aber der
Bursche war wie vom Erdboden verschluckt. Als Swetlana klar wurde, daß
sie vergeblich hoffte, gab sie alles zu. Nun folgte eine Gegenüberstellung
mit dem Mann, den sie beinahe geheiratet hätte.
Niemals im Leben hatte man sie so gedemütigt. Völlig zerzaust und in
zerknittertem Kleid wurde sie auf einen Stuhl gesetzt. Dann trat Stepan ein
– wie immer korrekt gekleidet, sorgfältig rasiert und nach seinem Eau de
Cologne »Konsul« duftend.
Er hörte sich an, was der Ermittler zu sagen hatte, und zuckte dann die
Schultern.
»Ich begreife nicht, was sich Swetlana da in den Kopf gesetzt hat. An dem
Tag war ich in Leningrad. Hier habe ich noch die Fahrkarte. Ich habe
Freunde besucht. Sie können meine Mutter fragen. Von dem Geld weiß ich
nichts.«
Dem armen Mädchen verschlug es vor Schreck die Sprache. Als sie
wieder Worte fand, schrie sie auf: »Stepan! Hast du es denn vergessen? Du
hast alles mitgenommen, was in der Kasse war!«
»Also, weißt du, Swetlana«, sagte der ganz ruhig. »Wenn du eine
Dummheit gemacht hast, dann mußt du auch dafür geradestehen. Was habe
ich damit zu tun? Ich kann schon verstehen, du hast gehofft, wegen unseres
Verhältnisses könnte ich die Schuld auf mich nehmen. Aber ich bin ein
ehrlicher Mensch und kann doch niemanden anlügen.«
Swetlana erinnerte sich nur schlecht, was dann passierte. Die Worte des
Ermittlers drangen kaum noch in ihr Bewußtsein. Schließlich ließ man den
»ehrlichen Menschen« gehen, und sie mußte in die Zelle zurück.
Eine Woche später folgte das nächste Verhör. Als Swetlana erneut
versicherte, sie hätte keine Kopeke genommen, seufzte der Ermittler tief
auf.
»Mädchen, ich könnte dein Vater, ja sogar dein Großvater sein. Weißt du,
wie viele von deiner Sorte hier schon gesessen haben? Und nie war eine
schuld. Ich rate dir, spiel nicht länger die Unschuldige. Das mögen die
Richter gar nicht. Wenn du mit einem blauen Auge davonkommen willst,
hör auf mich.«
»Gut«, stammelte Swetlana.
»Das klingt doch schon besser«, fuhr der Ermittler erfreut fort. »Du legst
ein freiwilliges Geständnis ab.«
»Aber wenn ich doch nichts gestohlen habe …«
»Hör auf mich!« herrschte der Ermittler sie an. »Sonst kriegst du ganze
zehn!«
»Zehn Jahre?« rief Swetlana entsetzt.
»Ich will dir doch nur helfen«, stöhnte der Gesetzeshüter. »Zum Beispiel
so: Das Geld habe ich genommen, um … Hast du nicht eine kranke
Mutter?«
»Sie hat Krebs«, sagte Swetlana kaum hörbar.
»Das paßt, also schreib: Ich habe das Geld genommen, weil ich damit eine
Operation, Medikamente und besseres Essen für meine Mutter bezahlen
wollte. Als ich mit der Straßenbahn nach Hause gefahren bin, hat man mich
bestohlen. So etwas mache ich nie wieder, das schwöre ich. Ich habe nur
solche Angst um meine Mutter gehabt.«
»Aber Operationen sind bei uns doch kostenlos«, beharrte die
unglückliche Swetlana.
»Wo lebst du denn?« knurrte der Offizier. »Offiziell ja, aber ein
Briefumschlag schadet in so einem Falle nie. Das weiß doch jeder. Die
Richter werden Mitleid mit dir haben.«
So kam es dann auch. Das freiwillige Geständnis, Swetlanas Jugend und
ihre bisherige Unbescholtenheit zeigten Wirkung. Sie bekam nur drei Jahre.
Die mußte sie bis zum letzten Tag absitzen. Päckchen schickte ihr keiner.
Ihre Mutter verstarb noch während der Voruntersuchung. Nun hatte sie
keinen Menschen mehr auf der Welt. Stepan verschwand aus ihrem Leben.
Ihre Mitgefangenen im Lager, denen Swetlana die Geschichte erzählte,
machten sich lustig über sie. »Was bist du nur für ein Dummchen«, erklärte
Katja Rogowa, die schon zum drittenmal einsaß, kopfschüttelnd. »Zuerst
läßt du dich von deinem Liebhaber reinlegen und dann auch noch von dem
Bullen!«
»Der hat mich gerettet«, widersprach Swetlana. »Ich hab doch nicht viel
gekriegt und komm bald wieder raus. Sonst hätten es glatt zehn Jahre sein
können!«
»Eine dumme Gans bist du, sag ich«, gab Katja wütend zurück. »Weißt
du, warum er dich zu dem Geständnis bequatscht hat?«
»Damit ich weniger kriege!«
»Ach, bist du blöd!« Katja war nun völlig außer sich. »Der hat genau
gewußt, daß du nichts damit zu tun hast. Man sieht dir einfach an, daß du
doof bist. Ohne dein Geständnis hätte er sich vielleicht ’ne Platte machen
müssen. Er hätte deinen Stepan überprüfen müssen, ob der wirklich in
Leningrad war oder die Fahrkarte nur jemandem auf dem Bahnhof
abgeschwatzt hat. Und für jede Sache gibt’s einen Termin.«
»Was für einen Termin?« fragte Swetlana verständnislos.
»Du hast aber auch gar keine Ahnung«, sagte Katja seufzend. »Er hat für
jeden Fall nur eine bestimmte Zeit. Wenn er nach einem Monat nicht zu
Potte kommt, dann kriegt er Ärger. Er hat einen Plan, wie andere auch. Ein
schwerer Fall – da kann er sich etwas mehr Zeit lassen. Aber du warst doch
bloß ’ne Lappalie für ihn. Und ausgerechnet du gibst nichts zu und raubst
ihm die Zeit. Weißte, was ihm passiert, wenn er einen Fall nicht löst?«
»Was denn?«
»Alles mögliche! Keine Prämie, kein dreizehntes Monatsgehalt, aus der
Warteschlange für eine Wohnung kann er rausfliegen. Glaub mir, der hat
dich übers Ohr gehauen wie die letzte Dorftrine!«
Swetlana schwieg bedrückt. Was die erfahrene Katja da sagte, klang
glaubhaft. Nachts in ihrem dunkelblau gestrichenen Eisenbett vergoß sie
heimliche Tränen.
Das Schlimmste war, daß sie nach ihrer Freilassung in die alte Wohnung
zurück mußte. Swetlana haßte Stepans Verwandte so sehr, daß ihr übel
wurde, wenn sie in einem der gemeinschaftlich genutzten Räume auf sie
stieß. Das war aber nicht das einzige Problem. Da Swetlanas Mutter
verstorben war, nahm man ihr eines der beiden Zimmer weg. Dort wurde
ein schweigsamer Mann eingewiesen, ein Tischler. Swetlana arbeitete jetzt
in einer Fabrik. Im Straflager hatte sie auf der Maschine nähen gelernt.
Dann zeigte das Schicksal plötzlich Erbarmen mit ihr, als sie es am
wenigsten erwartete. Der Tischler erwies sich als wunderbarer Mensch, der
wenig sprach, nicht weil er so mürrisch, sondern weil er schüchtern war. Er
begann Swetlana den Hof zu machen. Sie ging darauf ein, und bald
heirateten sie. Sie behielt aber ihren Mädchennamen. Das alte Zimmer ihrer
Mutter war jetzt ihr Schlafzimmer. Kurze Zeit darauf gründete ihr Mann
zusammen mit einem Freund eine Genossenschaft zur Herstellung von
Küchenmöbeln. Das erwies sich als eine glänzende Idee. Die Firma wurde
mit Aufträgen überhäuft, und bald war der Tischler Besitzer dreier
Möbelgeschäfte und Arbeitgeber für 150 Menschen. Swetlana und er boten
den Nachbarn eine eigene Wohnung an, wenn die ihnen ihre Zimmer
überließen. Zu ihrer Freude stimmten die Rasins sofort zu. Wahrscheinlich
hatten sie den Überschuß bereits in Flaschen umgerechnet. Swetlana und ihr
Mann renovierten die ganze Wohnung gründlich und taten alles, um
Warwara und ihre Sippe möglichst bald zu vergessen. Das gelang ihnen
auch. Die Nachbarn ließen sich nicht mehr sehen. Sie waren endgültig
Vergangenheit. Auf Anraten ihres Mannes studierte Swetlana
Veterinärmedizin. Sie war immer in Tiere vernarrt gewesen, und es bereitete
ihr großes Vergnügen, ihren vierbeinigen Patienten helfen zu können. Die
Geschichte von der törichten Kassiererin, die sich von ihrem Liebhaber
hatte einwickeln lassen, verschwand im Nebel der Zeit. Manchmal schien
es Swetlana, das alles sei gar nicht ihr selber passiert, sondern sie habe es in
einem schlechten Buch gelesen. Und nun erschien plötzlich ich und wühlte
alles wieder auf.
»Wissen Sie, wo Stepan jetzt wohnt?« Ich mußte das einfach fragen.
»Das letzte Mal habe ich ihn bei der Gegenüberstellung gesehen«,
antwortete sie niedergeschlagen. »Sie werden verstehen, daß ich danach
keine Lust hatte, dem Schuft je wieder zu begegnen. Ich habe immer Angst
gehabt, daß er seine Mutter besuchen kommt. Dann hätte ich wohl für
nichts garantieren können. Sicher hätte ich ihm in seine miese Visage
geschlagen. Aber Stepan blieb verschwunden, und ich machte drei Kreuze.«
»Das ist schade«, sagte ich gedehnt, »ich hatte so gehofft, daß Sie mir
weiterhelfen können.«
»Fragen Sie seine Tante Raissa«, riet Swetlana. »Die weiß vielleicht, was
mit ihm ist.«
»Haben Sie ihre Telefonnummer?«
Swetlana schüttelte den Kopf.
»Als ich aus der Haft entlassen wurde, konnte ich lange keine Ruhe
finden. Ehrlich gesagt, wollte ich zu Raissa gehen und ihr so richtig die
Meinung sagen. Zehn Briefe habe ich ihr aus dem Straflager geschrieben,
gebeten und gefleht: Stepan hat mich reingelegt. Jetzt sitze ich hier, von
allen verlassen. Meine Mutter ist gestorben. Schick mir wenigstens etwas
Tee und Gebäck. Raissa ging es sehr gut. Ab und zu ein Päckchen zu
schicken hätte ihr nichts ausgemacht. Aber sie hat nicht einmal geantwortet.
Vor Wut habe ich mein Telefonbuch zerrissen, um mich selber daran zu
hindern, ihre Nummer zu wählen. Die Adresse weiß ich nicht mehr. Aber
wie man dorthin kommt, habe ich nicht vergessen.«
»Können Sie mir den Weg beschreiben?«
»Sie müssen bis zur Metrostation Kiewskaja fahren. Nehmen Sie den
Ausgang in Richtung Uferstraße. Direkt neben der Brücke steht ein riesiges
Haus aus hellem Backstein. Den Aufgang weiß ich nicht mehr genau – es
ist entweder der zweite oder der dritte. Die Wohnung ging auf die Moskwa
hinaus …«
Das war nicht sehr exakt.
»Sprechen Sie mit Rita«, riet sie mir. »Von den Rasins ist nur sie
übriggeblieben. Die älteren Brüder sind tot, Galja ist von der Bildfläche
verschwunden, aber Rita wohnt noch in Moskau am Leningrader Prospekt.
Ihre Adresse und Telefonnummer kann ich Ihnen geben.«
»Sagten Sie nicht, Sie hätten zu Familie Rasin keinerlei Verbindung
mehr?« Die Bemerkung konnte ich mir nicht verkneifen.
»Im Prinzip stimmt das schon«, bekannte Swetlana seufzend. »Rita ist
schwer alkoholkrank und braucht immer Geld für eine Flasche. Eines Tages
klingelte es an meiner Tür. Als ich öffnete, stand Rita vor mir. Aus alter
Bekanntschaft wollte sie mich anpumpen. Ich bin eine schwache Seele und
habe ihr zehn Rubel gegeben. Sie nahm das Geld und ging. Später kam sie
immer wieder und bettelte mich ständig an. Sie wollte uns sogar ihre
Wohnung verkaufen. Meine beiden Kinder werden langsam groß, und Olga
wird sicher irgendwann heiraten. Also bin ich hingefahren, um mir die
Sache anzuschauen. Eine sehr schöne Wohnung, nur sehr
heruntergekommen. Rita verlangte nicht viel. Es wäre ein gutes Geschäft
gewesen.«
»Und warum haben Sie sie nicht gekauft?«
»Mein Mann hat mir abgeraten. Er meinte, mit einer Säuferin sollte man
sich besser nicht einlassen. Wahrscheinlich hat er recht. Gehen Sie zu Rita.«
Und sie diktierte mir die Adresse, die ich bereits hatte.
»Bei der war ich schon«, bekannte ich. »Sie ist ständig blau und bekommt
keinen vernünftigen Satz zusammen.«
»Sie müssen morgens um acht zu ihr gehen«, erklärte mir Swetlana.
»Gegen halb acht steht sie auf. Um acht beginnt sie dann zu überlegen, wo
sie das Geld für eine Flasche auftreiben kann. Bei mir kreuzte sie immer um
halb neun auf. Da ist sie noch einigermaßen nüchtern. Um elf ist meist alles
zu spät.«
23. Kapitel
Raissa sprach ganz offen mit mir. Sicher spielte dabei eine Rolle, daß ich
für sie eine völlig Unbekannte war. Bei Freunden und Bekannten möchte
man stets einen guten Eindruck machen und hält sich mit der Wahrheit
daher oft zurück. Ganz anders, wenn man zum Beispiel in der Eisenbahn
eine Zufallsbekanntschaft macht. Einem Unbekannten schüttet man sein
Herz aus, weil man ihn nie wiedersehen wird.
Raissa hatte großes Glück mit ihrem Mann. Dabei schwankte sie
zunächst, ob sie Viktor überhaupt heiraten sollte. Immerhin war sie
Studentin eines pädagogischen Institutes, noch dazu an der Elitefakultät für
Fremdsprachen. Der Bewerber dagegen war nur Kraftfahrer und hatte nicht
einmal die Mittelschule beendet. Im Institut konnte sich die fröhliche Raissa
vor Verehrern kaum retten. Schließlich gab sie Goscha Serow den Vorzug.
Sie begannen ein Verhältnis, und Raissa wurde schwanger. Als Goscha das
erfuhr, ließ er sie augenblicklich fallen, weil er die Verantwortung fürchtete.
Ohne lange zu überlegen, ließ Raissa das Kind abtreiben, heulte sich ein
paar Wochen die Augen rot und heiratete dann, um dem gut aussehenden,
aber so treulosen Serow eins auszuwischen, Viktor Rasin, der schon lange
in sie verliebt war. Sie tat das Hals über Kopf, ohne etwas für ihn zu
empfinden. Aber damit zog sie einen Hauptgewinn.
Viktor offenbarte erstaunliche Eigenschaften – er war geduldig, zärtlich,
aufmerksam und seiner – wie alle Lehrerinnen – dominanten Frau total
ergeben. Als Fernfahrer kam er in alle Winkel des endlosen Sowjetlandes,
trank und rauchte nicht, sondern brachte von seinen Fahrten stets etwas für
sie mit. Bald lagen seine Ziele in den Ländern des Sozialismus, und Raissa
kleidete sich wie eine Botschaftersfrau. Es lief bestens zwischen ihnen, nur
ein Kind wollte und wollte sich nicht einstellen. Die Gynäkologen, bei
denen Raissa Rat suchte, hoben die Hände. Die Folgen der ersten
Abtreibung, eine Eileiterverklebung … Was sie nicht alles feststellten! Sie
war lange in Behandlung, scheute auch Homöopathen und weise Frauen
nicht, aber alles umsonst.
Ihr Mann tröstete sie, so gut er konnte.
»Wozu brauchen wir ein Kind?« pflegte er zu sagen. »Zu zweit sind wir
frei wie die Vögel am Himmel.«
Viktor kaufte ihr eine teure Perserkatze. Raissa liebte sie abgöttisch, doch
ein Kind konnte sie nicht ersetzen.
Viktor hatte einen Bruder Nikolai. Wenn sie seine Familie besuchten,
konnte sich Raissa nicht genug wundern. Kaum vierzehn Monate trennten
die beiden, aber verschiedener konnten sie nicht sein. Nikolai trank, war ein
schrecklicher Weiberheld, ging mit den Fäusten auf seine Frau Warwara los,
wenn er betrunken war, und machte ihr vier Kinder. Dann gebar Warwara
noch ein fünftes – den Sohn Stepan. Beinahe hätte Nikolai sie auch dafür
noch geprügelt. Er brüllte sie an: »Wozu brauchen wir so viele Fresser, du
dumme Trine? Andere lassen sie sich beizeiten wegmachen, aber du? Merk
dir, noch ein Maul stopfe ich nicht! Du hast’s gekriegt, also kümmere
dich!«
Raissa und Viktor, die diese Szene mit ansehen mußten, wechselten
mitleidige Blicke. Dann sagte Viktor: »Nun halt mal die Luft an, Nikolai.
Von wem hat sie denn das Kind?«
»Das Weib muß die Folgen bedenken«, blaffte Nikolai.
Raissa biß sich auf die Zunge, aber Nikolai war nicht zu bremsen.
»Nehmt ihn mit, wenn ihr wollt, dann sind wir ihn los!«
»Reg dich nicht auf, Nikolai«, murmelte Warwara. »Ich hab’s doch
versucht. Hab heiße Bäder genommen, Pillen geschluckt und bin vom Tisch
gesprungen – es hat alles nichts genützt.«
Warwara brach in Tränen aus. Tief betroffen kam Raissa nach Hause
zurück. Als sie nachts neben dem friedlich schnarchenden Viktor lag,
vergoß sie bittere Tränen. Warum war die Welt nur so ungerecht? Warwara
wollte das Kind nicht haben, und Raissa hätte alles dafür gegeben.
Dann soff Nikolai Methylalkohol, was er nicht überlebte. Einige Tage
später suchte Raissa die Witwe auf und nahm Stepan mit. Warwara war
froh, das Baby loszuwerden. Offiziell wurde jedoch keine Adoption
vorgenommen. Raissa wollte dem Jungen die Wahrheit nicht vorenthalten.
Er sollte später selbst entscheiden, zu wem er Mama sagte. Den Namen gab
ihm Viktor. Raissa wollte ihn Filip nennen.
»Unsinn«, erklärte der sonst so schüchterne Mann. »Dann rufen sie ihn
später Filka! Aber Stepan Rasin wie der Volksheld, das ist doch was.«
Raissa hielt den Ataman Stepan Rasin zwar für einen Banditen,
widersprach ihrem Mann jedoch nicht. Sie war klug genug, um ihn von
Anfang an am Schicksal des Jungen teilhaben zu lassen. Nur so konnte aus
ihm ein guter Vater werden.
Stepan wurde nach allen Regeln der Kunst erzogen. Eltern, die ihr Kind
mit größerer Liebe und größerem Verständnis umsorgten, kann man sich
kaum vorstellen. Kleine Verbote verband Raissa stets geschickt mit
beträchtlichen Freiräumen. Nie stritt sie mit dem Jungen darüber, wann er
zu Bett gehen oder was er anziehen sollte. Er durfte sich Freunde einladen
und sie nach allen Regeln der Kunst bewirten. Schnaps und Zigaretten
wurden bei ihnen nicht verschlossen. Sie waren immer offen und
zugänglich, weshalb Stepan sich solchen Dingen gegenüber völlig
gleichgültig zeigte.
Er bekam von allem nur das Beste – ein Fahrrad, schicke Sachen, einen
Kassettenrecorder … Von seinen Auslandsfahrten brachte Viktor ihm
Kaugummi, Chips und andere wundersame Dinge mit, die es damals in
Moskau nicht gab. Stepan hatte immer etwas für seine Freunde übrig, denn
Papa sorgte ja für Nachschub.
Der Junge machte den Eltern viel Freude. Er war ordentlich, hörte aufs
Wort und hatte hervorragende Zensuren. Selbst die Flegeljahre brachte er
ohne große Kapriolen hinter sich. Zudem war er hübsch und gut gewachsen,
so daß die Mädchen bei ihm Schlange standen, sogar die aus höheren
Klassen.
Als Stepan acht Jahre alt war, sagte ihm Raissa, daß Warwara seine
leibliche Mutter sei, und suchte sie mit ihm auf. Dieser Abend war für den
Jungen eine Tortur. Als sie wieder zu Hause waren, umarmte er Raissa vor
dem Schlafengehen und sagte: »Du bist meine allereinzigste Mama. Zu der
anderen gehe ich nicht mehr, dort gefällt es mir nicht.«
Raissas Herz krampfte sich vor Glück zusammen. Mit einer solchen
Reaktion hatte sie gerechnet, aber, ganz Pädagogin, antwortete sie ruhig:
»Nein, mein Junge, so geht das nicht. Diese Frau hat dir das Leben
geschenkt. Wenn schon nicht Liebe, so verdient sie wenigstens Respekt von
dir.«
Stepan zog eine Grimasse, willigte aber ein, Warwara mehrere Male im
Jahr zu besuchen. Das tat er nicht, weil er es wollte, sondern weil man es
ihm befahl. Er brachte stets eine Torte mit und verschwand nach einer
Anstandsstunde wieder.
Stepan war von den Mädchen umschwärmt. Raissa erwies sich auch hier
auf der Höhe der Zeit. Am Freitagabend fuhren sie und ihr Mann auf die
Datsche. Wenn sie am späten Sonntagabend zurückkamen, hielten sie an der
Stadtgrenze stets bei einer Telefonzelle, von wo Raissa Stepan anrief.
»Ungefähr in einer Stunde sind wir da«, teilte sie ihm mit, »wir kaufen nur
noch ein paar Sachen ein.«
Viktor stimmte seiner Frau vollen Herzens zu.
»Das machst du richtig. Er geht sowieso mit einem Mädchen ins Bett.
Dann lieber zu Hause, wo es sauber ist, und nicht sonstwo.«
Der vorgewarnte Casanova hatte immer Zeit, die Dame seines Herzens zu
entlassen, bevor die Eltern eintrafen. Probleme gab es nie. Nur einmal fand
Viktor auf der Waschmaschine die Verpackung von einem Kondom. Die
zeigte er seiner Frau und sagte lachend: »Gut, der Junge, denkt an alles!«
Von seiner nächsten Fahrt nach Deutschland brachte er Stepan eine große,
bunt bedruckte Packung dieser Dinger mit.
»Hier, nimm, aber verpfeif mich nicht bei Mama. So was kann man
immer gebrauchen. Schützt vor Ansteckung und unerwünschten Folgen.
Wir hätten natürlich gerne Enkel, aber dafür bist du noch zu jung. Alles zu
seiner Zeit.«
Für die Breshnew-Ära, da Eltern in der Regel nicht einmal vor der Heirat
mit ihren Kindern über solche Dinge sprachen, konnte dieses Verhalten
schon als sehr ungewöhnlich gelten. Stepan indessen war es gewohnt, daß
seine Eltern ihn verstanden und unterstützten, weshalb er Viktors Geschenk
als selbstverständlich nahm.
Nicht eines der Mädchen, mit denen er sich einließ, weckte in ihm tiefere
Gefühle. Er wechselte sie wie die Hemden. Die Verschmähten heulten,
liefen ihm nach und belagerten sogar die elterliche Wohnung. Raissa holte
dann wohl eine Verflossene in ihre Küche, setzte ihr Tee vor und gab kluge
Ratschläge: »Hab doch ein bißchen Stolz! Wenn dich dein Kavalier
fallenläßt, dann tu so, als würde es dir nichts ausmachen! Lache, sei
fröhlich und such dir einen anderen. Wenn er sieht, wie gut es dir geht, wird
er sich schwarzärgern!«
Die meisten Mädchen ließen sich überzeugen, zogen die Nase hoch und
murmelten traurig: »Stepan ist eben ein richtiger Don Juan.«
»Männer sind nicht treu«, pflegte Raissa darauf zu erklären. »So ist es nun
mal, sie können auch nichts dafür.«
Wenn sie Stepans abgelegte Liebhaberinnen wieder aufmunterte, war
Raissa insgeheim stolz auf ihren Sohn. Kein Wunder – schön, klug und
begehrt, wie er war.
Stepan schloß die Schule ohne Mühe ab und nahm sofort ein Studium am
Institut für Stahl und Legierungen auf. Seine Eltern sahen ihn schon als
Wissenschaftler.
Dann passierte die unangenehme Sache mit Swetlana Rasina. Stepan
wurde zur Miliz bestellt. Als er zurückkam, war er außer sich vor Wut.
»Was die sich ausgedacht hat!« berichtete er Raissa in anklagendem Ton.
»Ich hätte Geld von ihr genommen und nicht zurückgegeben. Weshalb hätte
ich das tun sollen?«
Raissa glaubte ihrem Sohn aufs Wort. Stepan hatte sie noch nie belogen
und bisher alle seine Streiche – ob nun eine eingeschlagene Fensterscheibe
oder eine zerrissene Hose –ehrlich zugegeben. Das Geld lag bei ihnen in
einer Schachtel im Wäscheschrank. Es war immer welches da. Ohne zu
fragen, konnte Stepan nehmen, was er brauchte.
Außerdem konnte sich Raissa absolut nicht vorstellen, wozu ihr Sohn eine
solche Summe gebraucht hätte. Bekam er doch alles von ihnen – Kleidung,
Schuhe, Taschengeld …
Swetlana hatte wirklich etwas Abscheuliches getan. Zwar gefiel Raissa
das Mädchen, aber das war noch lange kein Grund, ihren Sohn in so eine
zweifelhafte Geschichte hineinzuziehen.
Voller berechtigter Empörung machte sich Raissa zu dem
Ermittlungsführer auf, der sie sofort beruhigte. Ihren Sohn treffe keine
Schuld. Swetlana habe die Tat gestanden und werde ihre gerechte Strafe
erhalten.
Dann kamen die Briefe aus dem Arbeitslager. Raissa zerriß sie, ohne sie
zu lesen.
Die nächste Aufregung folgte, als Stepan das dritte Semester begann. In
der Nachbarwohnung lebte damals die hübsche Ljuda, Tochter für die
damalige Zeit sehr wohlhabender Eltern. Der Vater leitete ein großes
Lebensmittelgeschäft, die Mutter die Schuhabteilung des Moskauer
Kaufhauses ZUM. Der freundliche Stepan mit dem guten Benehmen gefiel
den Nachbarn über die Maßen. Sie taten alles, um ihn mit ihrer Tochter in
Kontakt zu bringen. Man schenkte den beiden Theater- oder Kinokarten.
Wenn sie Hand in Hand zur Metrostation gingen, sahen ihnen Ljudas Eltern
von ihrem Balkon gerührt nach. Stepan in weißem Hemd und Hose mit
exakter Bügelfalte, Ljuda im neuen Kleid. Ein schönes Paar.
Eines Tages kam Iwan Petrowitsch, der Nachbar, zu Viktor, rieb sich die
Hände und sagte: »Jetzt müssen wir wohl die Hochzeit vorbereiten. Ljuda
ist morgens übel.«
Aber Stepan lehnte jede Verantwortung für die Vaterschaft rundweg ab.
»Ich habe damit nichts zu tun«, erklärte er und schüttelte energisch den
Kopf. »Du weißt doch, Papa, wie vorsichtig ich bin. Ljuda will wohl einen
Fehltritt verschleiern. Sie ist ein nettes Mädchen, das bestreite ich nicht,
aber wir sind nur zusammen ins Theater gegangen. Ich werde doch kein
Kind aufziehen, das nicht von mir ist. Außerdem finde ich es widerwärtig,
daß sie es mir anhängen will.«
Viktor dachte an die bunten Schachteln und glaubte seinem Sohn, was er
sagte. Als das Kind geboren war, ähnelte es in der Tat weder Ljuda noch
Stepan. Die Nachbarn wollten schon einen genetischen Test fordern, um
den Rabenvater in die Enge zu treiben, aber da gab es einen Skandal.
Ljudas Vater, der das Lebensmittelgeschäft leitete, kam wegen
Unterschlagung hinter Gitter. Das fuhr Ljudas Mutter derart in die Glieder,
daß sie die Wohnung tauschte, so schnell sie konnte. Zusammen mit
Tochter und Enkel verschwand sie in unbekannter Richtung.
Nebenan zog nun ein sehr ungleiches Paar ein – ein etwa sechzigjähriger
Mann und ein junges Mädchen, das kaum fünfundzwanzig sein konnte.
Raissa glaubte anfangs gar, es handele sich um Vater und Tochter, aber sie
waren verheiratet – Miron und Aljona Kriwolapow. Die neue Nachbarin
wollte nur beim Vornamen genannt werden, war allerdings bereits
zweiunddreißig Jahre alt.
Bald entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den beiden Paaren.
Miron war ein hohes Tier im Ministerium für Schwerindustrie und wurde
jeden Morgen von einem Chauffeur im schwarzen Wolga zum Dienst
abgeholt. Aljona war zwar offiziell in einem Büro angestellt, Raissa sah sie
jedoch nie zur Arbeit gehen. Tagsüber war sie intensiv mit sich selbst
beschäftigt – trieb Gymnastik, ließ sich massieren, nahm duftende Bäder,
ging zum Friseur und in den Schönheitssalon. Das war das Geheimnis ihres
jugendlichen Aussehens.
Ein ganzes Jahr lang pflegten beide Seiten diese Freundschaft, besuchten
einander sogar schon im Morgenrock. Dann passierte etwas Schreckliches.
Es war am 9. Mai, dem Tag des Sieges, einem Sonntag. Raissa klopfte bei
Aljona, weil ihr für den angesetzten Hefeteig Salz fehlte. Lange öffnete
niemand. Raissa fragte sich verwundert, wo die Nachbarn wohl sein
könnten. Dann flog die Tür plötzlich auf. Auf der Schwelle stand Aljona
mit irrem Blick in den weit aufgerissenen Augen. Sie war aschfahl, die
Lippen zitterten, und sie trug keinerlei Make-up.
»Was ist passiert?« fragte Raissa.
Aljona ließ sich in der Diele auf einen Stuhl fallen und sagte leise: »Ruf
die Miliz. Ich habe Miron erschlagen.«
Raissa erstarrte zur Salzsäule. »Wie hast du das getan?«
»Mit der Bratpfanne«, kam die Antwort. »Er ist dort, in der Küche.«
Raissa stürzte in die angegebene Richtung. Sie fand Kriwolapow
ausgestreckt auf dem glänzenden Linoleum liegen. Durch sein graues Haar
schimmerte getrocknetes Blut. Ein Rinnsal war ihm ins Gesicht gelaufen.
»Wir müssen einen Arzt rufen, vielleicht lebt er noch!«
Sie rannte zum Telefon, aber Aljona murmelte ohne jede Hoffnung: »Laß
das sein, er ist schon kalt.«
»Was sagst du da?« gab Raissa zurück. »Wann ist es denn passiert?«
»Um Mitternacht«, antwortete Aljona.
Raissa fiel fast in Ohnmacht. »Und du hast die ganze Nacht bei ihm
gesessen?«
Aljona nickte nur.
»Warum hast du nicht den Notarzt gerufen?«
Keine Antwort.
Mit zitternden Fingern wählte Raissa den medizinischen Notruf. Der Arzt
ließ sofort die Miliz kommen. Die nahm die Leiche und Aljona gleich mit.
Die Wohnung wurde versiegelt. Drei Tage später erhielt Raissa eine
Vorladung.
Die Ermittlerin, eine Dame um die Vierzig, fragte, was sie über das
Ehepaar Kriwolapow sagen könne.
Raissa antwortete auf Ehre und Gewissen. Besondere Liebe habe es
zwischen den beiden nicht gegeben, aber sie hätten gut zusammengelebt –
eher wie nahe Verwandte. Miron sei ein aufmerksamer Ehemann, Aljona
eine gute Hausfrau gewesen.
Die Ermittlerin steckte sich eine Zigarette an und fragte weiter: »Waren
bei ihr Liebhaber im Spiel?«
Raissa wurde verlegen.
»Das weiß ich nicht. So eng waren wir nicht befreundet. Aber daß Aljona
öfter Besuch gehabt hätte, kann ich nicht sagen …«
Die Ermittlerin drückte die halb gerauchte Zigarette wieder aus und
erklärte: »Ich habe eine unangenehme Nachricht für Sie.«
Raissa spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. Sie stammelte: »Was hat
diese Sache mit mir zu tun?«
»Mit Ihnen nicht, aber mit Stepan …«
»Mit Stepan?«
»Lesen Sie«, sagte die Beamtin und schob Raissa einige eng beschriebene
Seiten hin.
Als Raissa die getippten Zeilen überflog, fürchtete sie, gleich das
Bewußtsein zu verlieren. Es war das Protokoll vom Verhör Aljona
Kriwolapowas.
Die Nachbarin hatte ausgesagt, daß sie bereits wenige Tage nach ihrem
Einzug ein Verhältnis mit Stepan angefangen habe. Aus gelegentlichen
Besuchen sei bald eine große Leidenschaft geworden. Bei jeder Gelegenheit
sei das Paar im Bett gelandet. Das habe sich in Kriwolapows Wohnung
abgespielt, da der Ehemann stets lange im Büro saß. Nach einigen Monaten
hatte sich Aljona so verliebt, daß sie die Scheidung verlangte. Aber Miron
wollte davon nichts hören.
»Das ist doch alles Unsinn«, gab er scharf zurück. »Du, mein Kind, bist
einen bestimmten Lebensstil gewöhnt, den nur ich dir bieten kann. Wer ist
denn dein Auserwählter, wenn’s kein Geheimnis ist?«
Aljona sagte es ihm nicht, und er weigerte sich kategorisch, die Scheidung
einzureichen.
»Da hast du dir ja was ausgedacht«, erklärte er seiner treulosen Gattin. »In
der Laubhütte ist es nur in den ersten zwei Wochen schön, dann sehnst du
dich nach heißem Wasser und dem übrigen Komfort.«
»Wir haben doch eine schöne Wohnung«, erwiderte Aljona naiv, «die
können wir tauschen.«
»Wo denkst du hin, meine Liebe!« rief Miron erregt, »ich hab dich nackt
und bloß genommen! So kannst du zu deinem Romeo gehen, wenn du
unbedingt willst. Überleg vorher aber lieber, was für dich besser ist. Glaub
nicht, daß ich eifersüchtig bin. Meinetwegen kannst du dich weiter mit dem
Nachbarn treffen. Ich weiß sowieso seit langem Bescheid. Aber ohne
Aufsehen, wenn ich bitten darf. Ich kann keinen Skandal gebrauchen.«
Damit begann eine schlimme Zeit, in der sie sich nur noch gelegentlich
treffen und ihrer Liebe zwischen Tür und Angel frönen konnten. Da
verfielen sie auf die Idee, den verhaßten Ehemann aus dem Wege zu
räumen. Mit erschreckender Offenheit berichtete Aljona, wie sie
gemeinsam verschiedene Möglichkeiten erwogen hatten, ihren Mann
umzubringen. Sollten sie ihn vergiften? Das war gefährlich, denn bei der
Autopsie konnten Spuren des Gifts gefunden werden. Ihn erschießen? Wo
eine Waffe hernehmen? Ihn erdrosseln? Auch da hätte es Spuren gegeben.
Die Lage spitzte sich zu, als Aljona klar wurde, daß sie schwanger war. Nun
drängte die Zeit. Sie wollte noch einmal mit ihrem Mann reden. Insgeheim
hoffte sie, die Nachricht könnte ihn so empören, daß er in die Scheidung
einwilligte.
Aber Miron zuckte nur die Schultern.
»Laß es dir wegmachen! Wo ist das Problem? Hier hast du Geld und ab in
die Klinik!«
Sie sah eine kleine Chance.
»Niemals werde ich mein Kind töten!«
»Du bringst die Sache ins Lot!« erklärte ihr Gatte streng. »Ich laß mir
kein Kuckucksei unterschieben. Wenn du ein Kind willst – dann von
deinem Ehemann.«
»Du bist doch impotent!« gab sie zornig zurück.
Miron war nicht zu erschüttern. »Na und? Das Problem kann die Medizin
lösen. Treib erst den Bankert ab, dann versuchen wir es.«
Blinde Wut stieg in Aljona auf. Der verhaßte Miron aber sah nicht, wie
sich ihre Miene veränderte, und tönte ungerührt weiter: »Liebe! Daß ich
nicht lache! Du bist zweiunddreißig! Große Gefühle! Überleg doch selber:
In fünf Jahren ist es vorbei, und er nimmt sich eine andere. Sei nicht blöd,
laß uns …«
Den letzten Satz konnte er nicht mehr vollenden. Aljona, dem Wahnsinn
nahe, hatte sich eine schwere gußeiserne Pfanne gegriffen, in der sie Plinsen
buk, weit ausgeholt und dem vor ihr sitzenden Männlein auf die Glatze
gedonnert.
Er fiel zu Boden. Das Ganze hatte nur Sekunden gedauert. Aljona blieb
neben dem Toten sitzen, unfähig, einen Gedanken zu fassen.
»Das ist gelogen!« erklärte Raissa kategorisch. Dabei fiel ihr Blick auf
das letzte Blatt mit der handschriftlichen Zeile: Gelesen und bestätigt. A.
Kriwolapowa. »Es kann nicht sein, daß sich Stepan mit einer so viel älteren
Frau eingelassen hat und gar einen Mord geplant haben soll! Sie lügt! Ich
kenne meinen Sohn. So etwas tut er nicht.«
Die Ermittlerin hörte schweigend zu.
»Ja, Aljona war häufig bei uns, aber sie ist immer zu mir gekommen!
Stepan hat oft gar nicht aus seinem Zimmer herausgeschaut!«
»Sie ist tatsächlich schwanger«, teilte die Ermittlerin mit.
»Was beweist das schon?« rief Raissa empört. »Ist mein Sohn der einzige
Mann in der Hauptstadt? Wer weiß, wo sie das Kind aufgelesen hat! Sie hat
ihren Mann ermordet … Vielleicht behauptet sie, Stepan sei das auch noch
gewesen!«
»Nein«, stellte die Beamtin in sachlichem Ton fest, »das hat die Bürgerin
Kriwolapowa nicht behauptet.«
»Na, wenigstens das«, fuhr Raissa höhnisch fort. »Also, Genossin
Untersuchungsführerin, mein Junge hat damit nichts zu tun.«
»Sie können gehen«, antwortete die und zeichnete Raissas Passierschein
ab.
Zu Hause angekommen, konnte sich die sonst so beherrschte Lehrerin vor
Zorn kaum fassen.
»Das muß man sich mal vorstellen!« rief sie dem völlig verdatterten
Viktor zu, der in der Küche saß. »So ein Dreckstück!«
Ihr Mann blickte sie verständnislos an. Stepan wirkte völlig überrascht.
»Ich?« fragte er verwundert. »Ich soll Aljonas Liebhaber sein? Was ist
denn das für ein Blödsinn? Wozu brauch ich so ’ne Alte? Die ist doch
bestimmt schon fünfunddreißig!«
»Zweiunddreißig«, murmelte Raissa.
»Das reicht auch!« rief Stepan. »Und außerdem, weißt du doch, Mama,
daß ich mit Lena Wladimirowa zusammen bin!«
Die hübsche Studentin schaute in der Tat öfter bei Familie Rasin vorbei.
»So ein Miststück!« erklärte Viktor. »Eine Mörderin!«
Dann mußte Stepan vor Gericht erscheinen. Selbstverständlich begleiteten
ihn Mutter und Vater auf seinem schweren Gang. Die Szene wirkte auf
Raissa wie aus einer anderen Welt. Blaß und mit tiefen Augenringen stand
Aljona zwischen zwei Wachmännern. Sie wiederholte, was sie bereits in der
Voruntersuchung ausgesagt hatte. Dann wurde Stepan aufgerufen.
»Kein Wort ist davon wahr!« Empört bestritt der Junge alles. »Fragen Sie
meine Eltern. Mein Vater ist Schichtarbeiter, und auch meine Mutter ist oft
ganze Tage zu Hause.«
»Was bist du doch für ein mieses Schwein!« schrie Aljona. »Wer hat mir
geraten, Miron umzubringen? Wer hat zu mir gesagt: ›Er ist doch schon alt
und hat sein Leben gelebt, aber wir haben alles noch vor uns‹?« Stepan
blickte die Richterin entgeistert an. Dann fragte er: »Hat man sie schon
einem Psychiater vorgestellt? Vielleicht stimmt mit ihr etwas nicht?«
»Sie, Bürger Rasin, bestreiten also, mit der Bürgerin Kriwolapowa in
einem intimen Verhältnis gestanden zu haben?« fragte die Richterin.
»Was?« kam es verständnislos von Stepan.
»Hör mal, Bursche«, warf einer der Schöffen, ein einfacher Mann mit
schweren Arbeiterhänden, ein, »sag uns jetzt klipp und klar: Hast du mit der
Frau … äh, der Angeklagten, geschlafen, oder nicht?«
»Natürlich nicht!« gab Stepan zurück. »Was hätte ich denn mit der Alten
anfangen sollen? Ich kann Junge haben, soviel ich will!«
»Ich beweise es dir!« schrie Aljona wieder und umkrampfte das Geländer,
das die Anklagebank umgab, daß das Blut aus ihren Händen wich. »Er soll
seine Hose runterlassen. Auf dem Bauch über dem Nabel hat er einen
großen Leberfleck. Woher sollte ich von dem wissen?«
»Haben Sie dort einen Leberfleck?« fragte die Richterin.
Raissa erstarrte. Stepan hatte auf dem Bauch in der Tat ein auffälliges
Mal, groß wie eine Kirsche.
Stepan zog in aller Ruhe das Hemd aus der Hose und öffnete den
Hosenbund. Raissa wurde leicht schwindlig. Von einem Leberfleck war
nichts zu sehen.
»Ziehen Sie sich sofort wieder an!« befahl die Richterin streng.
»Er hat ihn wegmachen lassen!« kreischte Aljona. »Auf seinem
Geschlechtsteil sind auch lauter kleine Fleckchen wie Sommersprossen!«
»Was denn noch?« brüllte jetzt auch Stepan und wollte die Hose
herunterlassen. »Sollen es doch alle sehen, damit du endlich von mir
abläßt!«
»Jetzt ist aber Schluß!« rief die Richterin dazwischen. »Der Bauch
genügt. Und Sie, Kriwolapowa, hätten vorher nachdenken sollen. Die
Verhandlung ist unterbrochen.«
26. Kapitel
Als ich nach Hause kam, fühlte ich mich wie ein Kamel, das den ganzen
Tag schwere Zementsäcke geschleppt hat. Lisa war nicht da. Auf dem
Tisch lag ein Zettel: Bin mit Ramik im Park spazieren. Ich schaute zum
Fenster hinaus. Das Schneetreiben nahm langsam Sturmstärke an. Bei
diesem Wetter jagte man eigentlich keinen Hund vor die Tür! Und Ramik
war davon bestimmt nicht begeistert. Der verkroch sich am liebsten auf der
Couch unter einer Wolldecke und schlief. Ich konnte mir vorstellen, wie er
sich fühlte.
Seufzend setzte ich den Teekessel auf. Da entdeckte ich neben dem
Toaster drei Schlüssel mit einem Totenkopf als Anhänger. Die hatte wohl
Andrej vergessen. Ich starrte sie eine Minute lang an, dann nahm ich sie
entschlossen und trat vor die Tür.
Unser netter Nachbar gefiel mir von Tag zu Tag weniger. Dabei wußte ich
nichts über ihn. Meinen Fragen – wer seine Eltern sind, wo er früher
gewohnt hat, ob es Verwandte gibt – war er bisher stets geschickt
ausgewichen. Eigentlich gehört es sich nicht, in Abwesenheit des Besitzers
in eine Wohnung einzudringen. Die Strafgesetze aller Länder der Welt
haben dafür nur ein Wort: Einbruch. Aber ich wollte ja keine Tür
aufbrechen. Ich würde sie nur mit einem liegengebliebenen Schlüssel
öffnen und in Andrejs Paß nachschauen, wo er früher gewohnt hat. Alles
andere ging dann wie von selbst. Eine Schachtel Konfekt oder eine Flasche
und der dortige Hausverwalter würde mir genau berichten, was es mit ihm
auf sich hat.
Die Tür ließ sich geräuschlos öffnen. Drinnen roch es nach Zigaretten und
teurem Kognak. Als unser Nachbar Ziegenpeter hatte, waren Lisa und ich
dauernd bei ihm gewesen, hatten ihm Suppe, Tee und Saft gebracht. Einige
Male besuchte ihn die Ärztin aus der Poliklinik. Als sie zum ersten Mal
kam, wollte sie seine Versicherungskarte sehen. Andrej zeigte mit dem
Finger auf seinen Schreibschrank.
»Nehmen Sie sie bitte heraus, Tanja, dort, in der blauen Schachtel.«
Seinen Paß bewahrte er bestimmt an derselben Stelle auf. Andrej ist ein
ordentlicher Junge, da gibt es nichts zu deuteln. Kennen Sie vielleicht junge
Männer, die allein leben und trotzdem jeden Tag ihr Bett machen? Auch
schmutziges Geschirr ist bei ihm nicht zu sehen. Selbst die Aschenbecher
sind stets geleert. Oder hat er eine Putzfrau?
Ich irrte mich nicht. Der Paß lag in einer Schachtel, die einmal mit
dänischen Plätzchen gefüllt gewesen war. Als ich das Dokument aufschlug,
mußte ich die Luft anhalten. Kasin, Andrej Konstantinowitsch. Auf der
folgenden Seite Geburtstag und Geburtsort: 29. September 1976, Moskau.
Ratlos drehte ich das Büchlein zwischen den Fingern. Sein Vatersname war
Konstantinowitsch! Warum war mir das bisher noch nicht aufgefallen?
Ich blätterte weiter und fand einen alten Meldestempel:
Nowochersonskaja uliza 19, Wohnung 7.
Ich nahm mir nicht die Zeit, lange über seinen Vatersnamen
nachzugrübeln. Kaum war ich wieder in unserer Wohnung, da tauchten
auch schon Andrej und Lisa auf. Sie wirkten ausgelassen, nur Ramik trabte
träge herein, ließ sich aber gehorsam im Bad Bauch und Pfoten waschen.
Laut lachend und einander ständig ins Wort fallend, berichteten mir beide,
wie unser Hund sich mit einer streunenden Katze angelegt hatte.
»Zum Schreien!« schnatterte Lisa. »Sie wurde fuchsteufelswild, ihr Fell
sträubte sich über den ganzen Rücken, sie riß das Maul auf und fluchte auf
Katzenart.«
»Und dann«, fuhr Andrej fort, »hat sie ausgeholt und Ramik eins
zwischen die Glotzen gegeben – volle Pulle!«
»Der, nichts wie weg!« warf Lisa ein. »Das Katzenvieh sprang ihm nach
und immer drauf auf seinen Arsch – batz, batz!«
Ich ignorierte ihre feurige Ausdrucksweise und ließ ganz nebenbei fallen:
»Andrej, wie ist eigentlich dein Vatersname?«
»Was soll denn das jetzt?« fragte der Bursche verwundert.
»Eben war ein Kurier da«, antwortete ich, was mir gerade einfiel. »Er hat
nach einem Andrej Konstantinowitsch Kasin gefragt. Wahrscheinlich hat er
sich in der Adresse geirrt.«
»Das bin ich«, erklärte unser rechtstreuer Geschäftsmann lachend.
»Vielleicht wollte er mir eine Rechnung bringen. Und nun war er umsonst
hier, der Arme …«
»Kasin, Masin, Pasin …« Lisa mußte lachen. »Du hast ja einen lustigen
Namen.«
»Oh!« entfuhr es mir.
»Was ist?« fragten Andrej und Lisa gleichzeitig.
»Mein Zahn tut weh.« Eine andere Ausrede fiel mir nicht ein, und ich
spürte, wie eine unsichtbare Hand mir die Kehle zudrückte.
»Dann müssen Sie zum Zahnarzt«, riet unser Nachbar.
Ich nickte nur, denn ich konnte kein Wort herausbringen. Lisa hatte recht,
ein merkwürdiger Name. Auf Kasin reimte sich – RASIN!! Er also war der
Mann, der das Vorbild für den Stepan in Kondrats Buch abgegeben hatte!
Jetzt wurde mir Andrej geradezu unheimlich.
Am nächsten Morgen wollte ich mich gerade zur Nowochersonskaja uliza
auf den Weg machen, als es draußen klingelte. Vor der Tür stand mit
breitem Lächeln Juri Gryslow.
»Ich war gerade in der Nähe. Da wollte ich mal vorbeischauen. Na, wie
kommt Miss Marple voran? Hat sie Jemeljan Pugatschow schon
gefunden?«
»Stepan Rasin«, gab ich ärgerlich zurück. »Ich bin kurz davor. Lena wird
bald wieder draußen sein.«
Juri lachte. »Daß du dich nur nicht übernimmst!«
Wir setzten uns in die Küche und tranken Kaffee. Juri klagte, sein neues
Buch verkaufe sich schlecht.
»Für meinen Geschmack ist zuviel Blut und Sex drin«, wandte ich
schüchtern ein. »Ich verstehe nicht viel von Literatur, aber als geübte
Krimileserin habe ich ziemlich schnell gewußt, wer der Mörder ist.«
»Tatsächlich?« murmelte er unzufrieden. »Ich glaube, mir fällt nichts
mehr ein.«
»Schreibst du schon lange Krimis?«
Gryslow verdrehte die Augen. »Ich bin 1960 geboren. Meine erste
Erzählung habe ich bereits in der Schule verfaßt. Es ist wie ein Rausch.
Meine Hände wandern wie von allein zum Computer.«
»Hast du Literatur studiert?«
»Nein, Pädagogik, am Krupskaja-Institut.«
»Wie bist du denn da hingekommen?« fragte ich verwundert.
Juri winkte ab. »Frag lieber nicht. Ich bin kein Moskauer. Nach der
Armee wollte ich die Hauptstadt erobern. An der Philosophischen Fakultät
der Moskauer Universität haben sie mich nicht genommen. Bei den
Journalisten habe ich es gar nicht erst versucht. Hätte sowieso keine Chance
gehabt. Dort kommt man nur mit Beziehungen rein. Dann habe ich mir das
Institut für Internationale Beziehungen MGIMO in den Kopf gesetzt.
Korrespondent in Paris oder London wäre doch nicht schlecht gewesen. Das
war erst eine Schnapsidee. Für meinen Aufsatz in der Aufnahmeprüfung
habe ich die vorletzte Note bekommen. Einer hatte Mitleid mit mir und riet
mir, es bei den Pädagogen zu probieren. Ein Mann und sogar gedient – das
paßte genau. Aber dann haben sie mich Vorschulerziehung studieren lassen.
Ich allein unter vierzehn Mädchen. Tolle Zeit. Kavaliere gab es wenig, und
so war ich der Hahn im Korbe. Im Wohnheim habe ich nie Not gelitten.
Jede wollte für mich kochen. Später habe ich dann bei einer kleinen Zeitung
gearbeitet. Und irgendwann fing ich an, Bücher zu schreiben …«
»Du hast doch zusammen mit Andrej Malkow geschrieben?«
»Ja.«
»Ist das nicht schwer, so im Doppelpack?«
»I wo!« Er lächelte. »Ich habe zu Hause gesessen und geschrieben, und
Malkow hat unsere Sachen bei den Verlagen untergebracht.«
Ich riß erstaunt die Augen auf.
»Tatsächlich?«
Juri blickte mich nachsichtig an.
»Tanja, du bist so naiv, daß man dich gar nicht anlügen möchte.«
Ich schaute in sein markantes, rassiges Gesicht. Er war sicher ein guter
Liebhaber. Wahrscheinlich hatte er an jedem Finger zehn. Warum war
Gryslow wohl nicht verheiratet? Bestimmt nicht, weil es ihm an
Gelegenheit mangelte.
»Hör mal, Eva«, sagte er unerwartet.
»Wie nennst du mich?«
»Eva. Entschuldige bitte, Tanja gefällt mir überhaupt nicht.« Ich schüttelte
den Kopf.
»Wieso ausgerechnet Eva?« fragte ich.
»Gefällt er dir?« fragte Juri leise und nahm meine Hand.
Seine Hände waren groß, warm und sehr angenehm. Solche Hände hatte
mein Vater. Ich wurde plötzlich ganz ruhig und fühlte mich in Sicherheit.
Alles würde gut werden.
»Was du für schöne Hände hast«, fuhr Gryslow im Flüsterton fort.
»Lange, aristokratische Nägel wie Mandeln. Ich kann Damen nicht leiden,
die kurze, abgebrochene Nägel haben. Deine sind beinahe ideal, auch ohne
Maniküre.«
»Ja«, antwortete ich und spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß. »Mit
meinen Händen bin ich zufrieden. Nur bei den Füßen hat die Natur etwas
übertrieben. Schuhgröße 39, und bei Winterstiefeln sogar 40!«
Juri lachte laut auf. Ich zog meine Hand zurück. So war es bei mir immer.
Wenn ich verlegen bin, rede ich einen Unsinn zusammen, daß es einfach
eine Schande ist. Eine Dame meines Alters sollte ein Kompliment
hoheitsvoll entgegennehmen können. Aber ich werde sofort rot und kichere
wie ein Schulmädchen, einfach abscheulich. Und nun amüsierte sich Juri
über mich. Dabei gefiel ich ihm offenbar, und auch er war mir nicht
unangenehm.
»Ich muß etwas mit dir besprechen«, sagte er dann plötzlich wieder ganz
ernst.
»Was denn? Wenn ich mit dir zusammen einen Roman schreiben soll,
dann vergiß es. Ich habe überhaupt keine Phantasie.«
»Du hast es erraten«, gab er ruhig zurück und nahm sich eine Zigarette.
»Einen Roman. Wir beide zusammen.«
»Was für ein Unsinn!«
»Das ist kein Unsinn. Hör mir erst mal zu. Malkows letzte Sachen haben
sich, ehrlich gesagt, schlecht verkauft. Jetzt ist Andrej tot. Der Verlag war
der Meinung, die Leser halten sich an bekannte Namen, und hat noch zwei
weitere Bücher unter dem alten Pseudonym herausgebracht. Damit ist er
völlig eingebrochen. Und nun bin ich entschlossen, Andrej Malkow ein für
allemal zu begraben. Er ist tot, und damit gut. Ich werde jetzt unter einem
anderen Pseudonym andere Sachen schreiben. Weniger Blut, weniger
Porno, dafür mehr Spannung. Alle zehn Seiten muß was passieren.«
»Wie bei Kondrat Rasumow«, warf ich ein.
Juri blickte mich an. »Kondrat konnte schreiben. Weißt du übrigens, ob
man nach seinem Tod noch etwas Fertiges gefunden hat?«
»Lena hat von zwölf Romanen gesprochen, aber im Computer fanden sich
in dem Ordner ›Neu‹ nur acht.«
»Kann ich die mal sehen?«
»Wozu?«
»Das erkläre ich dir später.«
»Na gut.«
Wir gingen in Kondrats Arbeitszimmer. Juri machte sich mit leisem
Pfeifen daran, die einzelnen Ordner zu öffnen. Schließlich schaltete er den
Rechner ab und verkündete mit einem Blick auf den dunklen Monitor:
»Lena hat nicht gelogen. Es sind zwölf Manuskripte. Aber vier hat er nicht
mehr vollenden können. Macht nichts. Das erledigen wir.«
»Wie das?«
Juri klopfte mit der Hand auf den Computer. »Hier liegt unser beider
Vermögen, Evchen.«
»Ich verstehe nicht …«
»Weiß jemand von diesen Dingen?«
»Wahrscheinlich nur Lena.«
»Hör doch auf mit Lena!« rief Juri gereizt. »Das ist gelaufen. Sie hat ihren
Mann umgebracht und wird dafür zehn, vielleicht auch fünfzehn Jahre
bekommen, wenn sie an einen strengen Richter gerät. Hier aber liegt ein
Schatz!«
»Ich weiß trotzdem nicht recht, was du tun willst!«
»Meine liebe Eva«, flötete Gryslow, »ich stehe bei den Verlegern in
bestem Ruf. Wenn ich ihnen einen neuen Roman offeriere, der anders
geschrieben ist als bisher, dann nehmen die ihn sofort.«
»Dann bring ihnen einen! Aber was haben diese Manuskripte damit zu
tun?«
Er seufzte tief auf. »Eva, meine Liebe, wenn Lena, die legitime Erbin der
unveröffentlichten Romane von Rasumow, wieder frei ist, wird sich kein
Mensch mehr an Kondrat erinnern können. Und kein Verleger wird ihr
etwas abnehmen.«
»Wieso?«
»Das wäre völlig sinnlos. Wenn ein Schriftsteller tot ist, begraben ihn
seine Leser, und über ihn wächst Gras. Sie wird keinen Rubel mehr damit
verdienen. Wenn wir die Sachen aber jetzt herausbringen, erhält sie
natürlich ihren Anteil. Dann steht sie später nicht mit leeren Händen da.
Wenn sie überhaupt wieder herauskommt.«
»Willst du damit sagen …«
»Endlich hast du es begriffen. Wir geben die Bücher unter meinem neuen
Pseudonym heraus, zum Beispiel Grigori Jurow. Klingt doch gut, was?
Acht fertige Romane, und vier, die ich zu Ende schreiben kann. Eine tolle
Idee!«
Ich schwieg bedrückt. Gryslow nahm das für Zustimmung und fuhr rasch
fort: »Wir teilen durch drei – du, ich und Lena. Für uns etwas mehr, für sie
etwas weniger.«
»Und was ist mit Lisa und Wanja?« fragte ich leise. »Die Kinder sind
auch Kondrats Erben.«
»Dann geht Lenas Anteil eben durch drei.« Er kam sich sehr großzügig
vor.
Das verschlug mir die Sprache.
»Eva, mein Herz«, flüsterte Juri, »so etwas sagt man eigentlich nicht so,
aber seit wir uns zum ersten Mal sahen, war ich sicher, daß ich in dir eine
sehr kluge, intelligente, schöne Frau gefunden habe …«
»Aber …«, wollte ich einwenden.
»Du bist die Frau meiner Träume!« redete er unbeirrt weiter.
Ich schwieg betreten.
»Eva, glaube nur nicht, daß ich dir ein unmoralisches Angebot mache!
Gott behüte! Zu oft habe ich mich schon in Frauen geirrt. Ich möchte dich
nicht verlieren. Soll ich noch einmal ganz von vorn beginnen und dir nach
allen Regeln der Kunst den Hof machen? Pralinen, Blumen, Theaterkarten?
Wie fändest du es, wenn wir uns heute abend um 18.00 Uhr am Eingang des
Bolschoi-Theaters verabreden? Oder lieber am Konzertsaal bei der
Metrostation Majakowskaja?«
Er lächelte. Ich seufzte auf und wandte mich ab. Juri hatte recht. Meine
Mitstudentinnen im Konservatorium hatten ihre Rendezvous vorzugsweise
an diesen beiden Orten gehabt. An der Majakowskaja war man abends
immer herausgeputzten jungen Männern mit Blumen in den Händen
begegnet. Rosen oder Orchideen waren in der sozialistischen Zeit kaum zu
bekommen gewesen. Sie gelangten gar nicht erst in die Blumengeschäfte.
Aber weiße oder rote Nelken konnte man schon erstehen. Viele
Moskauerinnen, die in den fünfziger Jahren geboren wurden, verbinden das
Bolschoi und die Majakowskaja mit der ersten Liebe. Ich nicht. Ich habe
nie ein Rendezvous gehabt. Nach dem Unterricht ging es immer sofort nach
Hause. Die Säulen des Bolschoi-Theaters und die Metrostation
Majakowskaja weckten also keine sehnsüchtigen Erinnerungen in mir,
höchstens ein wenig Trauer darüber, daß die Jugend längst vorüber war.
Juri konnte davon nichts wissen, weshalb er unvermittelt sagte: »Ich hoffe
aufrichtig, daß wir sehr gute Freunde werden, denn wir werden jetzt in der
Literatur Hand in Hand einen gemeinsamen Weg gehen.«
Meine Erinnerungen hielten mich noch gefangen, daher fragte ich
verständnislos: »Was meinst du?«
»Welches Pseudonym gefällt dir?« reagierte Gryslow mit einer
Gegenfrage.
»Grigori Jurow ist nicht schlecht …«
»Nein, ich meine für dich!«
»Für mich?!«
»Klar, wir sind doch zwei. Honorar und Ruhm werden geteilt.«
Ich schaute ihn einen Moment verwirrt an und sagte dann: »Das ist nicht
in Ordnung. Wir eignen uns fremde Arbeit an. Wenn Lena
herauskommt …«
Er knallte seine Tasse auf den Tisch, daß der Kaffee auf die Tischdecke
schwappte.
»Lena kommt nie wieder raus! Wir müssen jetzt an die Kinder denken.
Wo ist überhaupt Wanja?«
»Auf Zypern, bei einer Freundin von Lena, die dort mit einem reichen
Geschäftsmann verheiratet ist.«
»Wie lange wird die sich wohl noch mit einem fremden Kind abgeben?«
Ich schwieg ratlos.
»Da hast du’s«, stellte Juri sachlich fest. »Irgendwann schickt sie den
Jungen zurück, und was dann?«
In der Tat – was dann?
»Und was machst du mit Lisa?« Gryslow bohrte weiter.
»Sie wird mein Mündel.«
»Das wird man dir nicht genehmigen. Erstens bist du nicht mit ihr
verwandt, und zweitens … Wo arbeitest du überhaupt?«
»Ich bin Lenas Haushälterin.«
Er lachte. »Ordentlich angestellt?«
»Nein.«
»Also, meine Teure, für die Behörden bist du eine unbeschäftigte Dame
ohne Einkommen, die von wer weiß was lebt. Solchen vertraut man kein
Kind an.«
»Aber …«
»Wenn du jedoch ein Buch vorweisen kannst, auf dessen Titelblatt dein
Name steht, dann ist das etwas anderes. Hut ab, vor Ihnen steht eine
bekannte Schriftstellerin, eine sehr seltene Sorte Mensch. Und wenn du mit
dem Krimi unter dem Arm im Bildungsministerium oder an einer anderen
zuständigen Stelle aufkreuzt, um das Kind zu adoptieren, und sagst, du
willst dich um die Tochter deiner besten Freundin kümmern, die wegen
Mordes einsitzt, dann wird man für die Schriftstellerin vielleicht eine
Ausnahme machen. Und Lisa bleibt endgültig bei dir.«
Ich schwieg, denn das mußte ich erst einmal verdauen.
»Außerdem hast du Geld«, lockte Gryslow. »Lena bekommt ihren Teil.«
»Aber es sind nur zwölf Romane. Irgendwann gehen die zu Ende! Weißt
du, wie das bei Kondrat gelaufen ist? Von ihm kam jeden Monat ein Buch
heraus. Was wir haben, reicht also kaum für ein Jahr! Außerdem hat jeder
Autor seinen eigenen Stil. Meinst du nicht, daß man das merkt?«
Juri lächelte. »Hast du schon mal was von Mironow gehört?«
»Na klar kenne ich den! Der war bereits zur Sowjetzeit sehr erfolgreich.
Ist nur leider vor einem Jahr gestorben.«
»Aber seine Bücher erscheinen immer noch …«
»Wahrscheinlich wie bei Kondrat, aus dem Nachlaß …«
»Denkst du«, bemerkte Juri mit einem Kopfschütteln. »Nein, jetzt schreibt
ein anderer für ihn, und keiner merkt etwas. Der Markt ist leicht zu
betrügen.«
»Und wenn Lena nun doch herauskommt? Kannst du dir vorstellen, was
das für einen Skandal gibt?«
»Du meine Güte!« fauchte er und wurde immer ärgerlicher, »sie kommt
nicht raus! Sie hat ihren Mann umgebracht, sie ganz allein! Ein anderer
kann es nicht gewesen sein! Oder meinst du immer noch, es war der
rätselhafte Jemeljan Pugatschow? Und was die Zahl der Manuskripte
betrifft, da mach dir keine Sorgen. Das Wichtigste ist ein guter Start. In
zwölf Monaten schreibe ich fünf kleine Romane, und dann geht die Sache
weiter.«
»Wozu brauchst du Kondrats Bücher überhaupt, wenn du selber schreibst?
Außerdem bringen sie auch Geld, wenn sie unter seinem Namen
erscheinen. Galin macht einen Freudensprung, wenn er von den
Manuskripten erfährt.«
»Galin ist ein Schweinehund, und in seinem Verlag sitzen lauter Raffkes,
die nicht begreifen, daß man einen Autor ordentlich bezahlen muß, damit er
in Ruhe schaffen kann. Ein Zugpferd muß gutes Futter bekommen«,
erklärte Juri ernst. »Wenn du Galin etwas von den Manuskripten sagst, reißt
er sie dir sofort aus der Hand und wirft sie auf den Markt. Nur, Lisa wird
davon nichts haben!«
»Wie das?«
»Sie ist noch nicht volljährig. Galin zahlt der Witwe höchstens ein Fünftel
dessen, was Kondrat gekriegt hätte, und überweist es auf ein Konto. Du
kannst dir doch hoffentlich vorstellen, wieviel die Rubelchen in zehn,
fünfzehn Jahren noch wert sein werden, wenn Lena wieder herauskommt.
Wir beide aber bekämen jetzt eine runde Summe, du könntest Lisas
Ausbildung bezahlen und Lenas Anteil in Dollar anlegen. Die aber bleiben,
wie sie sind, ob in Rußland oder Afrika, ob in der Perestroika oder in der
gelenkten Demokratie. Verstanden?«
»Wieso bist du so sicher, daß Lena verurteilt wird? Und Stepan Rasin ist
kein Mythos. Ich habe seine Mutter gefunden, genauer gesagt, die Frau, die
ihn aufgezogen hat …«
Ich wollte noch hinzufügen, daß Stepan inzwischen verstorben sei und
mir neuerdings Andrej verdächtig vorkomme, da hieb Juri wieder mit seiner
Tasse auf den Tisch. Aber diesmal so heftig, daß sie in Stücke ging.
»Schlag dir endlich diesen Unsinn aus dem Kopf!« brüllte Gryslow. In
dem Moment klingelte es an der Wohnungstür.
Es war Lisa, die aus der Schule kam. Geräuschvoll flatterten sie und
Mascha Gawrjuschina herein, holten sich Pingu und Ramik zum Spielen
und plapperten nebenbei darüber, was es in der Schule Neues gegeben hatte.
Juri blieb noch eine halbe Stunde sitzen und trank weiter Kaffee. Als
Mascha erfuhr, wen sie da vor sich hatte, rannte sie mit einem
Freudenschrei zur Metrostation und kam wenige Minuten später
siegessicher mit zwei Romanen von Andrej Malkow zurück. Gryslow
schrieb ihr bereitwillig Widmungen hinein und verabschiedete sich dann. In
der Diele küßte er mir die Hand und flüsterte: »Hab keine Angst, Eva, junge
Kapitäne, stark und kühn, steuern Schiffe stolz dahin!«
Die Tür fiel ins Schloß. Ich stand da, wie vom Donner gerührt. Juris
letzter Satz hatte mich ins Herz getroffen. Ein Bild aus fernen Tagen stieg
vor mir auf.
Es ist früh am Morgen. Ich will zur Schule gehen. Ich streife das
dunkelbraune Schulkleid über, dazu die frisch gebügelte weiße Schürze.
Mama kocht in der Küche Haferflocken. Man riecht es im ganzen Korridor.
Im Bad ist Papa beim Rasieren. Ich schaue zu, wie die Klinge Massen
weißen Schaums zusammenschiebt. Papa geht das leicht von der Hand. Er
singt dabei:
»Winde, Stürme und Orkan,
wir fürchten nicht den Ozean!
Junge Kapitäne, stark und kühn,
steuern Schiffe stolz dahin.«
Als er mich da stehen sieht, dreht er mich um und fragt: »Warum schaust
du so traurig, mein Rotköpfchen, tut dir wieder der Hals weh?«
»Wir schreiben heute eine Rechenarbeit«, murmele ich und drücke mein
Gesicht an seinen warmen Bauch. Er riecht nach Kölnisch Wasser, Seife
und etwas sehr Angenehmem, eben wie ein richtiger Papa.
»Hab keine Angst, Rotköpfchen«, sagt er aufmunternd und bespritzt mich
mit seinem stark duftenden Rasierwasser. »Junge Kapitäne, stark und kühn,
steuern Schiffe stolz dahin.«
Er hatte diesen Satz oft gebraucht, wenn er sein geliebtes Töchterchen
aufmuntern oder zum Lachen bringen wollte. Und nun hatte ihn
ausgerechnet Juri Gryslow wiederholt. Merkwürdig, ich war sicher, daß
dieses Lied aus dem Film »Die sieben Tapferen«, der in meiner Kindheit so
beliebt war, niemand mehr kannte. Vielleicht hatte Juri ja auch einen Vater,
der beim Rasieren sang.
»Tanja«, rief Lisa, »komm schnell, Ramik kann Pfötchen geben!«
Ich reagierte ohne jeden Elan. Nein, ich wollte mich nicht betrügen. In
meinem Herzen regte sich nichts für Gryslow. Ich würde wohl kaum seine
Frau oder Geliebte werden. Aber es war gut, einen wirklichen Freund zu
haben, der einen umsorgte. Wenn er mir auch ein nicht ganz sauberes
Geschäft vorschlug. Eigentlich wollte er doch nur mir und Lisa helfen …
»Tanja, komm schnell, sonst vergißt er es gleich wieder!«
»Ihr seid mir die richtigen Hundelehrer«, sagte ich lachend, als ich ins
Kinderzimmer kam. »Ihr müßt es ihm so beibringen, daß er es immer
kann.«
»Ramik, gib Pfötchen«, sagte Lisa und hielt dem Hund ihre Hand hin.
Der wedelte nur mit dem Schwanz.
»Gib Pfötchen!«
Ramik winselte fröhlich und wedelte noch stärker mit dem Schwanz.
»Los jetzt!« Lisa wurde langsam böse.
Ramik rückte näher an das Tellerchen heran, auf dem kleine Käsewürfel
appetitlich dufteten.
»Nichts da«, sagte Mascha Gawrjuschina und schob die Belohnung ein
Stück fort. »Zuerst zeigst du, was du gelernt hast. Gib schon Pfötchen!«
Wieder nichts.
»Er hat’s vergessen!« rief Lisa enttäuscht aus. »Dieser dumme Hund! Ein
Kilo Edamer hat er verputzt und nichts gelernt!«
»Weißt du«, meinte da Mascha, »wir haben das doch vorhin anders
gesagt.«
»Wie denn?« fragte ich interessiert.
Mascha ging direkt vor Ramiks Schnäuzchen in die Hocke, hielt ihm ihre
Hand hin und bat, so zärtlich sie nur konnte: »Ramik, her mit der Flosse!«
Sofort gab der Hund Pfötchen und schaute seine »Lehrerinnen« strahlend
an.
»So haben wir es gesagt«, erklärte Mascha unschuldig. »Aber Lisa weiß,
daß Sie das nicht mögen, und hat es deshalb verändert.«
»Na wunderbar«, lobte ich die »Dompteusen«. »Nun müßt ihr ihm nur
noch eine dicke goldene Kette um den Hals hängen und ihm das Rauchen
beibringen. Andrej wird begeistert sein.«
28. Kapitel
Mein Nervenkostüm ist offenbar nicht gerade das beste. Kaum regt mich
etwas auf, flieht mich der Schlaf. Da hilft weder ein Beruhigungsmittel
noch Zeitung lesen. Nur warme Milch habe ich noch nicht probiert, weil
ich sie nicht besonders mag. Wahrscheinlich habe ich als Kind zuviel
davon trinken müssen.
Heute habe ich erst um drei Uhr nachts das Licht ausgemacht, und sofort
gingen mir schwere Gedanken durch den Kopf. Die arme Lena! Alle haben
sich förmlich gegen sie verschworen. Zuerst Anton Semjonow, dann
Angelina Brit. Beide sind nun tot. Danach machte ich die unglückselige
Leokadia ausfindig, von der keiner weiß, wie sie auf den Moskauer
Außenring geriet … Dazu die Pistole, die Lena für Wanja kaufte! Ich hoffe,
daß der Ermittler davon nie etwas erfährt. Die Schachtel habe ich in kleine
Stücken zerrissen und mitten im Zentrum von Moskau, weit weg von
unserem Haus, in einen Papierkorb geworfen. Aber Juri irrt sich. Schade,
daß er mich nicht bis zu Ende angehört hat. Andrej ist der Missetäter. Ich
muß nur noch herausfinden, warum er das getan hat. Gleich morgen früh
fahre ich auf die Nowochersonskaja uliza und erkundige mich nach ihm.
Aber nicht jeder Entschluß ist leicht auszuführen. In dem bewußten Haus
wohnte eine beleibte Dame um die Vierzig. Von Andrej oder seiner Familie
wußte sie rein gar nichts.
»Die Wohnung habe ich über eine Agentur gekauft«, plapperte sie und
verbreitete dabei intensiven Knoblauchgeruch. »Die früheren Besitzer
kenne ich nicht. Ich habe nur einmal einen Mann gesehen, als wir den
Vertrag unterschrieben haben. Den Rest hat der Makler erledigt.«
Ich ging in den Hof und setzte mich auf eine Bank. Das Wetter war schön,
eine blasse Sonne kitzelte mein Gesicht, und es roch endlich nach Frühling.
Es wurde auch Zeit, denn wir hatten schon fast April. Die sehnsüchtig
erwartete Wärme lockte die jungen Mütter mit ihren Kinderwagen ins Freie.
Immer wieder mußten sie ihre Kleinen aus den Pfützen holen, in denen sie
begeistert herumstapften. Ich wollte noch eine Zigarette rauchen und mich
dann auf den Heimweg machen. In diesem Moment kam ein winziges
Hündchen, offenbar ein Zwergschnauzer, zu mir gelaufen, legte seine
Pfötchen direkt auf meine sauberen Jeans und winselte freundlich.
»Pfui, Snappy, pfui!« rief sein Frauchen. Und zu mir: »Keine Angst, er
beißt nicht!«
Ich mußte ein Lächeln unterdrücken. Wer sollte schon vor diesem
Geschöpf Angst haben, das kleiner war als ein Teekännchen! Was
Hundebesitzer sich so einbildeten!
»Er beißt nicht«, wiederholte die Frau. »Er will nur eine Zigarette haben,
entschuldigen Sie schon.«
»Der Hund raucht?« fragte ich verblüfft.
»Natürlich nicht, er frißt sie aber gern.«
»Eine merkwürdige Angewohnheit.«
»Sie sagen es«, meinte sie seufzend. »Uns gegenüber auf dem
Treppenabsatz wohnte früher eine Familie Kasin. Ihr Sohn Andrej, so ein
Taugenichts, nahm Zigaretten, tauchte sie in Schokolade und gab sie
Snappy. Und jetzt bettelt der kleine Kerl jeden danach an!«
Vor Überraschung hätte ich selber beinahe meine Zigarette verschluckt.
Einmal mußte der Mensch auch Glück haben!
»Kannten Sie die Kasins gut?«
»Wir waren Nachbarn«, antwortete die Frau.
»Und an Andrej können Sie sich erinnern?«
»Und ob! Ein Rowdy, der nur Unsinn im Kopf hatte. Mein Sohn hat unter
ihm regelrecht gelitten. Wir haben uns beim Direktor beschwert und
verlangt, daß er in eine andere Klasse versetzt wird. Wollte selber nichts
lernen und störte ständig die anderen. Aber daraus wurde nichts. Gott sei
Dank hat er nach der achten Klasse eine Lehre angefangen – so was wie
Kraftfahrer oder Autoschlosser. Aber wenn Sie mich fragen, ist das eine
Lüge, die seine Mutter Ljuda verbreitet hat. Er ist ein Verbrecher geworden,
wie er im Buche steht.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Nachts kam er manchmal mit einem dicken Jeep hier vorgefahren und
brachte seiner Mutter volle Tüten mit Sachen aus dem Supermarkt.«
»Na und?«
»Hören Sie mal, das war 1991! Wissen Sie nicht mehr, was für
Wahnsinnspreise die damals dort hatten? Solche Sachen waren für einen
normalen Sterblichen unerschwinglich. Die konnte sich nur ein Bandit
leisten.«
»Lebt seine Mutter noch?«
»Ljuda? Die hat sich totgesoffen. Was wollen Sie denn von der? Und wer
sind Sie überhaupt?«
Es war zum Verzweifeln. Da rannte ich nun in dieser Stadt hin und her,
um Lena zu helfen, und ständig stieß ich auf Tote. Es war einfach zum
Haareraufen. Wahrscheinlich, weil ich so wütend war, holte ich aus meiner
Handtasche den hübschen dunkelroten Ausweis mit den goldenen
Buchstaben FSB hervor, den ich mir einmal für 50 Rubel im
Fußgängertunnel zwischen den Metrostationen Twerskaja und
Tschechowskaja gekauft hatte, und bellte, so scharf ich konnte: »Agentin
Romanowa.«
»Oh«, piepste die Frau und ließ ihren Hund fallen.
Snappy sprang mich an und hatte mir im Handumdrehen die Zigarette aus
den Fingern gerissen, die ich mir gerade hatte anzünden wollen.
»Ihren Namen und Vornamen«, kommandierte ich.
»Limonowa, Alla«, murmelte die Klatschbase.
»Gehen wir!«
»Wohin?«
»Zu Ihnen nach Hause. Ich habe mit Ihnen zu reden!«
Ich weiß nicht, was für eine Frau und Mutter Alla Limonowa ist, aber ihr
Kaffee schmeckte ausgezeichnet. Zum ersten Mal setzte man mir nicht das
lösliche Zeug aus einer Blechdose vor, sondern aromatischen Kaffee aus
echten Bohnen. Dazu hatte Alla noch eine Eigenschaft, die für mich von
größtem Wert war: Eine schwatzhaftere Person habe ich selten erlebt. Ich
brauchte nur still zu sitzen und den Schwall von Informationen zu filtern,
der auf mich niederging.
Mutter und Tochter Kasin waren 1976 in dieses Haus gezogen. Sie hatten
ihre Wohnung mit einem Ehepaar getauscht. Alla meinte, die Frauen hätten
schon bessere Zeiten gesehen. Auf jeden Fall waren die drei kleinen
Zimmer mit seltenen Möbeln vollgestopft, mit Teppichen ausgelegt und mit
tschechischen Kronleuchtern geschmückt. Dann bekam die alleinstehende
Ljuda ein Kind. Die Nachbarinnen tratschten ein wenig, beruhigten sich
aber bald wieder. Schließlich lebte man nicht mehr im 18. Jahrhundert, und
in diesem Hof gab es genug alleinerziehende Mütter. Andrej war gerade in
den Kindergarten gekommen, da starb seine Großmutter, Ljudas Mutter,
und die junge Frau blieb mit dem Kleinen allein.
»Ich weiß gar nicht«, plapperte Alla Limonowa weiter und schob eine
Packung köstlicher »Vogelmilch« näher an mich heran, »wie alt Ljuda
damals war. Sie behauptete immer, sie sei schon zwanzig, aber mehr als
achtzehn habe ich ihr nicht gegeben. Sie kann nicht älter als fünfzehn
gewesen sein, als sie schwanger wurde. Was sollte so eine mit einem
Kind?«
Eine gute Frage. Ljuda sehnte sich nach Unterhaltung, wollte in die
Diskothek oder ins Kino gehen. Solange ihre Mutter lebte, konnte sie das
alles tun, aber nach deren Tod wurde es schwierig. Sie gab Andrej in eine
Wochenkrippe und begann selbst in einem Gemüsegeschäft als Verkäuferin
zu arbeiten. Zu damaliger Zeit eine Hundearbeit. Den ganzen Tag hatte sie
sich mit faulen Kartoffeln, welkem Kohl, wütenden Kunden und langen
Warteschlangen abzuplagen. Keine Handschuhe schonten damals Ljudas
weiche Händchen, die bereits nach drei Monaten zu rot geschwollenen
Klauen wurden. Dann mußte sie mitten im Winter bei strengem Frost auf
der Straße verkaufen. Die Käufer sahen zu, daß sie wieder in ihre warmen
Wohnungen kamen, aber die arme Ljuda trat in riesigen Filzstiefeln und
einem schmutzigen grauen Soldatenpelz von einem Bein aufs andere. Nach
der schweren Schicht kam sie in eine leere Wohnung, wo niemand mit
einem warmen Essen auf sie wartete. Besonders schlimm war es freitags,
wenn sie Andrej abholen mußte. Der immer zu Streichen aufgelegte Kleine
gönnte ihr keine Minute Ruhe und tobte mit viel Geschrei durch die enge
Wohnung. Am Sonnabend- und Sonntagmorgen, wenn Ljuda einmal
ausschlafen wollte, war er schon in aller Frühe auf den Beinen und erhob
großes Geheul, wenn der gewohnte Grießbrei nicht pünktlich auf dem Tisch
stand. Freude hatte sie an diesem Kind nicht viel, nur Sorgen. Ständig
brauchte er neue Hosen und Schuhe. Wie alle Krippenkinder war Andrej oft
krank. Wenn nicht Angina, dann hatte er Mittelohrentzündung, Windpocken
oder Keuchhusten. Als Ljudas Mutter ein Jahr tot war, fing das Mädchen
vor Kummer an zu trinken. Die entsprechenden Männer kamen hinzu, und
sie konnte schon mal vergessen, Andrej am Wochenende abzuholen.
Betrunkene, Prügeleien, Flüche und häufig die Miliz im Haus – das war
Andrejs Kindheit.
Kein Wunder, daß er selbst bald zum Rowdy wurde, dem die Zunge und
die Fäuste locker saßen. Geraucht hat er wohl schon in der ersten Klasse.
Um die Flasche machte er allerdings immer einen Bogen. Als er älter war
und die Schule geschmissen hatte, versuchte er sogar, seine Mutter zu
beeinflussen, nahm ihr den Schnaps weg und verjagte ihre Saufbrüder. Er
warf sie einfach die Treppe hinunter. Einer brach sich dabei das Bein …
Allmählich wurden die Gelage weniger.
»Wer hätte sich vorstellen können«, tratschte Alla weiter, »daß dieser
Bandit sich so um seine Mutter kümmert? Hatte er doch mit ihr nicht viel
Gutes erlebt – nur Flüche und Prügel. Aber jetzt? Was hat er nicht alles
getan, um Ljuda von der Flasche wegzubringen! Zur Entziehungskur hat er
sie geschickt, zu Privatärzten hat er sie geschleppt, in andere Städte ist er
mit ihr gefahren …
Aber es half alles nichts. Ljuda hielt ein, zwei Monate durch, dann ging es
wieder los. Geld gab Andrej seiner Mutter nicht, aber die nahm die
Lebensmittel aus dem Kühlschrank, die er ihr gebracht hatte, und verkaufte
sie vor der Metrostation, um an die ersehnte Flasche zu kommen. Zwei
Jahre vor ihrem Tod heuerte er eine Betreuerin an, die auf seine Mutter
aufpassen sollte. Aber Ljuda schaffte es, selbst der Krankenschwester zu
entwischen und sich am nächsten Kiosk einen anzutrinken. Am Ende
genügte ein großer Wodka, und sie war sternhagelblau. Eines schönen
Tages kam sie nicht nach Hause zurück. Drei Tage lang suchte Andrej seine
Mutter in allen Hauseingängen und Kellern. Gemeinsam mit seinen
Kumpels, alles Muskelprotze in Lederjacken wie er, klapperte er alle Plätze
ab, wo sich die Obdachlosen trafen. Schließlich fand er Ljuda auf dem
Dachboden eines leerstehenden Kindergartens. Sie lag tot zwischen alten
Kartons, neben sich ein paar vertrocknete Scheiben billiger Wurst.
Nach der Obduktion erfuhr Andrej, daß sie keines gewaltsamen Todes
gestorben war. Sie hatte sich zu Tode getrunken.«
Andrej verschwand in unbekannter Richtung. Andere Leute zogen in die
Wohnung ein.
»Er hat sie samt Möbeln, Fernseher und Kühlschrank verkauft«, teilte
Alla seufzend mit. »Dabei hatte er sie erst ein Jahr zuvor für seine Muter
renovieren lassen, neue Küchenmöbel gekauft und an nichts gespart … Das
hat er alles zurückgelassen! Ein sehr unvernünftiger junger Mann, aber
wahrscheinlich schwimmt er im Geld!«
Alla hatte sich in Hitze geredet. Wahrscheinlich hatte es Andrej mit seiner
Mutter so schwer gehabt, daß er sie so schnell wie möglich vergessen und
sein Leben noch einmal ganz von vorn anfangen wollte.
»Über seinen Vater wissen Sie nichts?«
Alla schüttelte den Kopf.
»Er ist ein paarmal hier aufgetaucht, aber seinen Namen kenne ich nicht.
Ljudas Mutter hat sich einmal verplappert. Er muß früher ihr Nachbar
gewesen sein, aber als das Mädel schwanger wurde, hat er sie einfach
fallenlassen …«
Mir hämmerte das Blut in den Schläfen. Herr im Himmel, das konnte
doch nicht sein! Raissa hatte mir erzählt, daß Stepan seinerzeit ein
Verhältnis mit ihrer Nachbarstochter hatte. Hieß die nicht Ljuda? Als ihr
Vater ihn aufforderte, das Verhältnis zu legalisieren, hatte sich Stepan
geweigert und behauptet, Ljudas Kind sei nicht von ihm. Dann war der
Vater wegen einer Unterschlagung ins Gefängnis gekommen, und die
Mutter hatte die Wohnung getauscht. Sie hatten wirklich bessere Zeiten
gesehen, das hatte Alla richtig beobachtet …
»Die neue Küche hat er dagelassen und sogar den Teppich«, ereiferte sich
Alla weiter.
»Haben Sie vielleicht ein Foto von Ljuda?« erkundigte ich mich.
»Wie kommen Sie denn darauf?« fragte Alla verwundert. »Meinen Sie,
ich hab mich mit dieser Schnapsdrossel fotografieren lassen?«
»Schade …«
»Moment, Moment!«
Sie ging aus dem Zimmer und kam wenige Minuten später mit einem
großen Fotoalbum zurück.
»Das sind die Schulfotos meines Jungen. Schauen Sie, hier haben wir die
erste Klasse. Zur Erinnerung haben wir uns alle fotografiert – Kinder und
Eltern. Ljuda hat damals noch nicht gesoffen und sah einigermaßen
vernünftig aus. Das sind Serjosha und ich.«
Ihr Finger mit abgebrochenem Nagel tippte auf eine gut aussehende
Dame, die einen schmalen Jungen an der Hand hielt.
»Und hier sind Ljuda und Andrej.«
Ein dürres Kerlchen mit großen Ohren, das mit unserem großen,
muskulösen Nachbarn keinerlei Ähnlichkeit hatte, stand neben einer
rundlichen Frau, die schüchtern, ja sogar ein wenig unterwürfig
dreinschaute. Ljuda wirkte wie eine Puppe mit Ringellöckchen, schwarz
umrandeten Augen und einem Herzmündchen. Wahrscheinlich war jener
September sehr warm, denn sie trug einen Trägerrock und eine dicke
Perlenkette, wahrscheinlich aus Plastik.
Es war sicher kein Problem, herauszufinden, ob das die bewußte Ljuda
war. Wenn sie wirklich ein Kind von Stepan hatte, wurde die Sache wieder
interessant. Und so konnte sich alles abgespielt haben:
Andrej erfährt, daß Kondrat einen Roman über seinen toten Vater schreibt.
Das regt ihn furchtbar auf, und er … ermordet den Schriftsteller. Diese
Theorie hinkte auf beiden Beinen, zudem war sie bucklig und blind, ein
Krüppel, keine Theorie. Aber ich mußte die Wahrheit über Andrej
herausbekommen. Immerhin ging er bei uns ein und aus, Lisa war viel mit
ihm zusammen …
»Darf ich dieses Foto ein paar Tage behalten?« fragte ich.
Alla preßte die Lippen zusammen. »Ganz kurz …, meinetwegen. Ich habe
nur dieses eine. Sie müssen es mir ganz bestimmt zurückgeben.«
»In wenigen Stunden haben Sie es wieder.«
»Na, gut.« Alla nahm das Foto aus dem Album, schlug es sorgfältig in
Zeitungspapier ein und reichte es mir. Damit war ich auch schon zur Tür
hinaus und unterwegs zur Metrostation Kiewskaja.
Aber Raissas Tür war verschlossen. Darüber ein schmaler Papierstreifen
mit Polizeisiegel. Mir fiel die Kinnlade herunter. Was war nun hier wieder
passiert?
Ehe ich einen Entschluß fassen konnte, ging die Tür der Nachbarwohnung
auf und eine etwas zerzauste Person im fleckigen Morgenmantel schaute
heraus.
»Sie wollen zu Raissa?«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Ich will sie um Englischstunden für meine Tochter bitten.«
Die Person musterte mich von oben bis unten und blaffte dann: »Da
werden Sie sich wohl eine andere suchen müssen!«
»Warum?«
»Raissa ist tot.«
»Wie das?« Ich wich zum Fenster zurück. »Wir haben doch erst vor
einigen Tagen miteinander gesprochen!«
»Gestern nacht ist sie gestorben«, teilte die Nachbarin bedeutungsvoll mit
und trat ganz auf den Treppenabsatz heraus.
Aus der offenen Wohnungstür roch es nach Wäsche und Möbelpolitur.
»Und woher wissen Sie, daß es in der Nacht passiert ist?« erkundigte ich
mich und drehte das nun völlig nutzlos gewordene Foto in den Händen.
»Raissa war herzkrank«, erklärte mir die Frau. »Ich schlafe Wand an
Wand mit ihr, unsere Betten stehen quasi nebeneinander. Da haben wir
vereinbart, wenn ihr schlecht wird, klopft sie gegen die Wand, und ich sehe
nach ihr. Für den Zweck habe ich sogar einen Schlüssel zu ihrer Wohnung.
Sie hatte furchtbare Angst, sie könnte einmal sterben, und niemand würde
es bemerken.«
Letzte Nacht hatte sie ein schwaches Klopfen gehört und war sofort zu
Raissa gelaufen. Die lag im Bett und sah zum Erbarmen aus.
Wahrscheinlich war ihr schon am Abend schlecht geworden, denn das Bett
war nicht aufgedeckt. Die Lehrerin hatte sich, wie sie war, darauf fallen
lassen, lag in Kleid und Hausschuhen da.
»Raissa!« rief die Nachbarin und stürzte zu ihr. »Was ist passiert? Wo tut
es dir weh?«
Aber Raissa reagierte nicht und lag völlig apathisch da. Sie starrte aus
halb geöffneten Lidern vor sich hin, und aus ihrem Mund drang ein
Stöhnen.
Die zu Tode erschrockene Nachbarin rief sofort den Notarzt an, aber der
kam und kam nicht. Raissa wurde unruhig und wollte offenbar etwas sagen.
Schließlich fiel der Nachbarin ein, ihr ein Blatt Papier zu geben. Mit
übermenschlicher Anstrengung und ihrer linken Hand krakelte Raissa
einige unverständliche Buchstaben hin. Ghos … stand da. Sie brachte das
Wort, seltsamerweise ein englisches, nicht zu Ende, da kam der Notarzt.
Aber er konnte nichts mehr für sie tun. Die Agonie hatte schon eingesetzt.
Der Arzt meinte, Raissa sei einem schweren Schlaganfall erlegen.
»Und nichts weiter?« fragte ich vorsichtig nach.
Die Nachbarin zuckte die Schultern. »Nichts. So ein Schlaganfall muß ja
etwas Schreckliches sein. Raissa wirkte gestern noch ganz gesund, hat den
ganzen Tag gearbeitet. Von vier Uhr nachmittags bis zum späten Abend ist
die Schlange ihrer Schüler nicht abgerissen – Erwachsene und Kinder. Sie
hat sehr gut verdient. Der letzte kam gegen elf Uhr abends angerannt. Er
wollte wie Sie eine Unterrichtsstunde mit ihr vereinbaren.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich hab es gehört. Ihre Klingel ist so laut, ich höre sie immer. Ich habe
durch den Spion geschaut. Da stand ein Mann in Hut und Mantel. Raissa
hat die Tür aufgemacht und ihn hereingelassen. Als er dann nach einer
Stunde wieder gegangen ist, hat er gesagt: ›Auf Wiedersehen, bis Montag
dann.‹«
»Und sie?«
»Sie hat irgendwas gemurmelt.«
Ich seufzte tief auf und machte mich auf den Rückweg. Es war, als ob ein
Fluch über allen Menschen lag, die ich dringend brauchte. Ein Schlaganfall!
Wie furchtbar! Raissa hatte noch Glück gehabt. Wer hätte sich wohl um sie
gekümmert, wenn sie ihn überlebt hätte und zum Pflegefall geworden wäre?
So ohne einen einzigen Verwandten? Wie es in russischen Pflegeheimen
aussah, wußte ich aus der Presse.
Völlig niedergeschlagen, fuhr ich zur Nowochersonskaja und gab Alla
Limonowa das Foto zurück. Die freute sich, daß sie es wieder hatte. Aber
eines wollte sie noch wissen: »Warum haben Sie sich eigentlich nach
Andrejs Vater erkundigt?«
»Wir brauchen ihn dringend.«
»Als Sie weg waren, habe ich in anderen Alben geblättert. Und da ist es
mir wieder eingefallen!«
»Was?«
»Schauen Sie, hier!« Sie drückte mir ein anderes Schwarz-Weiß-Foto in
die Hand. »Das war 1977. Der 22. April, steht hinten drauf.«
»Und was ist damit?« fragte ich rasch, denn neue Hoffnung keimte in mir
auf.
»Das war unser kommunistischer Subbotnik, der freiwillige
Arbeitseinsatz«, plapperte Alla weiter. Das Bild schien angenehme
Erinnerungen in ihr zu wecken. »Wir haben alle gemeinsam unseren Hof
aufgeräumt, und Mitrochin aus Wohnung Nr. 17 hat geknipst. Ein
begeisterter Amateurfotograf, die Bilder hat er später verteilt.«
Ich wartete geduldig ab, daß die Plaudertasche auf den Punkt kam.
»Hier ist Ljuda, mit dem Kinderwagen. Da sitzt Andrej drin, aber er ist
kaum zu sehen. Ljuda ist die mit dem Spaten. Daneben mit dem Besen –
das bin ich. Und sehen Sie die zwei Männer da?«
Ich nickte.
»Links, das ist mein Mann, und neben ihm – das ist Andrejs Vater. Er war
gerade wieder einmal vorbeigekommen, und da haben wir ihn gleich
angestellt. Ein junger Kerl, aber an seinen Namen kann ich mich nicht
erinnern. Es war kein besonderer …«
»Konstantin«, entfuhr es mir, als ich das Bild näher in Augenschein nahm.
»Stimmt!« rief Alla aus und plapperte weiter: »Wir haben Sträucher
gesetzt, den Spielplatz aufgeräumt und …«
Ich hörte nicht mehr, was sie redete, denn ich war wie vor den Kopf
geschlagen. Dafür gab es auch allen Grund! Auf dem wunderbar erhaltenen
Foto lächelte mir ein krausköpfiger und offenbar rundherum glücklicher …
Kondrat Rasumow entgegen.
29. Kapitel
Ein Irrtum war ausgeschlossen. Die Jahre hatten das Gesicht des
Schriftstellers kaum verändert. Er hatte etwas zugenommen, und die
Haartolle war nicht mehr ganz so üppig. Aber der Mann auf dem Bild war
eindeutig Kondrat, da gab es keinerlei Zweifel.
Von all den unerwarteten Wendungen dieses Tages fühlte ich mich müde
und zerschlagen. Mit schweren Schritten schleppte ich mich zum nächsten
Café und ließ mich auf einen Stuhl fallen. Eine Kellnerin, deren
regelmäßige Kaubewegungen mich irritierten, fragte gleichmütig: »Was
wollen Sie?«
»Einen Kaffee«, murmelte ich und versuchte mich ein wenig zu
konzentrieren, »und ein Stück Kuchen, ohne Sahne.«
Die Kellnerin schob ihren Kaugummi in die andere Backe, bewegte sich
träge zum Tresen und kam nach einer längeren Weile mit einem winzigen
Täßchen und einem Teller zurück, auf dem etwas wie ein unansehnlicher
Fladen lag.
»100 Rubel«, brummte sie, nachdem sie das Gewünschte geräuschvoll auf
dem Tisch abgesetzt hatte.
Hätte ich normal denken können, wäre ich wohl ausgeflippt. Das Täßchen
Pulverkaffee, das eher für einen Kanarienvogel bestimmt schien, sollte so
viel kosten wie eine ganze Dose! Und erst das Gebäck! Es wirkte wie
ausgesägt. Aber ich hatte keine Kraft, Widerstand zu leisten, und wollte nur
noch in Ruhe gelassen werden.
Diese Wendung hatte ich nicht erwartet! Andrej war also Kondrats Sohn!
Im Handumdrehen erschien eine neue Version in meinem Kopf. Sie fügte
sich wie von selbst logisch ineinander.
Also: Andrejs Mutter hatte ein Kind von Konstantin, wie der Schriftsteller
in Wirklichkeit hieß.
Kondrat Rasumow war ein Pseudonym. Das wußte ich bereits. Es hätte
mir einfallen müssen, als ich den Paß unseres Banditen in der Hand hielt.
Kondrat war einige Male bei seiner ehemaligen Geliebten aufgetaucht und
hatte ihr sicher auch Geld für den Jungen gegeben. Allerdings war er
damals noch ein ziemlich armer Schlucker. Der erfolgreiche
Kriminalschriftsteller, der viel Geld verdiente, lag noch weit vor ihm. 1977
war er nur ein Lehrer für russische Sprache und Literatur mit einem
schäbigen Gehalt.
Andrej hatte eine schwere Kindheit – die ewig betrunkene Mutter und
keinerlei Verwandte, die sich um ihn hätten kümmern können, weder
Großmütter, noch Tanten … Vielleicht hatte Ljuda ihrem Sohn gesagt, wer
sein Vater war. Aber Kondrat muß ihn nicht anerkannt haben, denn Andrejs
Familienname war Kasin. Der Vatersname stimmte – Konstantinowitsch.
Dann ging es mit Kondrat steil bergauf. Die Zeitungen schrieben über ihn,
er gab Fernsehinterviews. Man kann sich vorstellen, was dem Jungen durch
den Kopf ging. Als Erwachsener plant er einen Anschlag. Er kauft eine
Wohnung, wird mit dem Vater bekannt, freundet sich beinahe mit ihm an
und drückt schließlich Wanja die Pistole in die Hand. Alles sehr logisch.
Natürlich kennt er die törichten Spiele, die Kondrat und Wanja miteinander
treiben. Dabei machen sie solchen Lärm, daß sich die Nachbarn von unten
beschweren, weil ihre Kronleuchter hin und her schaukeln. Kondrat
besänftigt sie regelmäßig mit einem neuen Kriminalroman. Aber warum
wollte Andrej seinen Vater umbringen? Klar, er wollte sich für seine
schlimme Kindheit an ihm rächen. Und erdachte dafür einen
heimtückischen Plan. Dabei macht er einen so biederen, fast primitiven
Eindruck!
Was heißt das aber? Lisa ist Andrejs leibliche Schwester!
Um Gottes willen, vielleicht will er auch noch Lisa umbringen! Und ich
lasse das Mädchen mit ihm allein! Da übertreibe ich wohl doch etwas.
Warum sollte Andrej seine Schwester töten? Wegen des Erbes! Kondrat hat
Manuskripte hinterlassen, die weiter erscheinen. Das ist gutes Geld für die
Nachkommen … Aber er ist offiziell doch gar nicht als Kondrats Sohn
anerkannt.
»Noch einen Kaffee?« fragte die Kellnerin.
Ich stand auf und schob polternd den Stuhl zurück. Das reichte mir hier.
Nachdenken konnte ich auch auf dem Nachhauseweg.
Aber bis sich alle Teilchen des Puzzles zusammenfügten, mußte ich
einmal den ganzen Ring der Moskauer Metro herumfahren. Ein paar
Penner, die sich in meinem Wagen wärmten, musterten mich immer
eindringlicher. Am Ende hatte ich meine Strategie fertig.
Am nächsten Morgen wollte ich sofort Slawa Samonenko im
Krankenhaus anrufen und herausbekommen, wann man ihn endlich
besuchen durfte. Den Mörder hatte ich jetzt, aber nach wie vor keinerlei
Beweise. Alles nur Vermutungen und Hypothesen. Das ergab noch keinen
Fall! Ich mußte also irgendeinen materiellen Beleg finden, der bewies, daß
Andrej den Mord an Kondrat kaltblütig geplant hatte. Das schwierigste war,
mir nichts anmerken zu lassen und so zu tun, als sei nichts geschehen.
Freundlich mit Andrej Kaffee zu trinken und weiter an seiner schrecklichen
Ausdrucksweise herumzunörgeln … Lisa aber durfte ich um keinen Preis
mehr mit ihm allein lassen.
Zu Hause werkelten wieder Mascha und Lisa in der Küche herum. Auf
dem Tisch duftete ein merkwürdig aussehender Kuchen, der sich schief auf
eine Seite neigte.
»Schauen Sie«, erklärte Mascha voller Stolz und schwang gerade ein
riesiges Messer, »wir haben einen Festtagskuchen gebacken!«
»Und was für einen Festtag feiert ihr?« erkundigte ich mich und probierte
vorsichtig ein Stückchen.
Mein armer Magen! Gerade erst hatte er den schrecklichen Fladen
verdauen müssen. Aber die so merkwürdig duftende Schöpfung der
Mädchen schmeckte unerwartet gut.
»Also, Tanja, weißt du!« erklärte Lisa beleidigt, »der größte Feiertag, den
es gibt! Wir haben Ferien!«
»O je!« Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Das habe ich
doch glatt vergessen!«
»Nicht so schlimm«, sagte Mascha besänftigend. »Letzten Winter hat
mein Papa mein Zeugnis unterschrieben und dabei gesagt: ›Wie doch die
Zeit vergeht, meine Kleine, jetzt bist du schon in der fünften Klasse.‹«
Lisa lachte laut auf. »Und was hat er gesagt, als du ihn darauf
hingewiesen hast, daß du schon in der achten bist?«
Mascha seufzte. »Ich hab gar nichts gesagt. Soll er das doch denken. Er ist
alt, da kann man schon mal was vergessen.«
»Wie alt ist denn dein Papa?«
»Fünfunddreißig«, antwortete Mascha in aller Ruhe und stopfte sich
Kuchen in den Mund.
»Also dann«, forderte ich, »her mit euren Zeugnissen!« Lisa knallte ihres
sofort auf den Tisch. In allen Fächern Einsen, die das Auge erfreuten. Bei
Mascha sah es etwas anders aus. In Mathematik, Russisch und Geographie
eine Drei. Überhaupt hatte sie fast nur befriedigende Leistungen, bis auf das
Singen, da prangte eine dicke Eins.
»Mascha«, sagte ich streng, »vergeht dir bei diesen Zensuren nicht die
Lust am Singen? Nutz die Ferien, um etwas besser zu werden. Back nicht
so viel Kuchen und übe lieber Russisch. Und du, Lisa, solltest dich was
schämen. Deine beste Freundin läßt du auf lauter Dreien sitzen. Zu unserer
Zeit wurde da eine Patenschaft organisiert!«
»Russisch und Mathe interessieren mich nicht«, erklärte Mascha trotzig.
»Nach der neunten Klasse gehe ich sowieso von der Schule ab!«
»Wo willst du denn hin?«
»Zur Artistenschule«, gab Mascha entschlossen zurück und goß sich Tee
ein. »Probieren Sie von unserem Kuchen, Tante Tanja!«
»Wer wird dich denn dort nehmen? Man muß Talent haben und außerdem
gut im Sport sein.«
»Na los, Mascha, zeig ihr, was du kannst!« bat Lisa.
Unwillig setzte Mascha ihre Tasse ab und murmelte: »Der schöne
Kuchen.«
»Du kannst doch hinterher weiteressen«, versprach Lisa.
»Na gut«, willigte Mascha ein. Sie schlüpfte aus ihren Jeans und stand
plötzlich nur in einer löchrigen Strumpfhose da.
»Los, Mascha!« kommandierte Lisa.
Mascha grätschte die Beine und beugte sich langsam nach vorn. Ich
wollte meinen Augen nicht trauen. Mit ausgestreckten Händen beugte sich
Mascha tiefer und tiefer bis sie mit dem Kopf den Fußboden berührte. Dann
steckte sie ihn zwischen ihren Füßen durch und lächelte mich an. Mit den
Händen auf dem Fußboden verbog sie sich derart, daß mir ganz übel wurde.
»Hör sofort auf!« rief ich erschrocken. »Du wirst dir noch das Rückgrat
brechen!« Aber Mascha richtete sich auf und zeigte die gleiche Übung
lächelnd nach rückwärts.
»Mit vollem Magen ist das schwer«, erklärte sie, als sie wieder gerade vor
mir stand. »Ich kann noch jede Menge andere Sachen. Ich hab schon eine
ganze Kautschuknummer drauf.«
»Wer hat dir denn das beigebracht?«
»Ihre gesamte Familie tritt doch im Zirkus auf«, teilte mir Lisa stolz mit,
»Großvater, Großmutter, Mama und Papa. Sonntags darf Mascha manchmal
auch mitmachen. Verstehst du jetzt, daß sie die Schule satt hat?«
Ich nickte verständnisvoll. Als ich noch Harfenistin war, hatte ich bei
meinen Auftritten hinter den Kulissen oft Ballettänzer und Zirkusartisten
erlebt. Sie vollbrachten zwar erstaunliche Leistungen auf ihrem Gebiet,
waren aber ansonsten meist sehr ungebildet. Einmal war ich dabei, als eine
Akrobatengruppe ihren Auftritt vorbereitete. Sie trugen Sprungbretter,
Wippen und Perches hinter die Bühne, riesige Stangen, die sie sich auf die
Stirn oder die Schulter stellen. In dem Programm wirkten viele Kinder mit,
die alle auf der Wippe schaukeln wollten. Schließlich klebte einer der
Artisten einen Zettel an das Gerät, auf dem stand: »Wippe nicht berüren.«
Ich grinste und meinte zu ihm: »Was soll das? Korrigier das mal!«
»Ist was nicht richtig?« wunderte sich der Artist.
»Berühren wird mit h geschrieben. Was hattest du denn in der Schule im
Diktat? Eine Fünf minus?«
Der Bursche verbesserte das Schild, wie ihm geheißen, und gab zurück:
»Wenn du mit deiner Harfe von elf Uhr morgens bis elf Uhr abends in der
Manege herumhüpfen und pro Jahr in zwanzig Städten auftreten müßtest,
dann möchte ich mal sehen, wie du schreibst …«
»Was brauche ich Physik oder Chemie?« meinte Mascha. »Ich arbeite im
Zirkus mit meinen Leuten als Familiennummer. Lisa kann auch
mitmachen!«
»Bloß nicht!« wehrte ich ab. »Lisa ist schon zu alt, um ihren Körper zu
solchen Leistungen zu bringen. Das muß man von klein auf üben.«
»Sie kriegt eine Dressurnummer«, antwortete Mascha in vollem Ernst,
»mit Hunden oder Affen. Zuerst wird sie Käfige ausmisten und die Tiere
füttern. Jeder hat mal so angefangen. Wir wollen es in den Ferien mit ihr
versuchen.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«
»Liebe Tanja«, flehte mich Lisa an, »Maschas Großmutter ist schon
ziemlich alt, aber sie arbeitet immer noch mit Hunden. Sie meint, ich
könnte das packen, wenn sie es mir beibringt.«
»Wie kommt sie denn darauf?«
»Weil es Lisa gefällt, wie es hinter den Kulissen riecht«, erklärte mir
Mascha. »Manche Leute kommen und rümpfen die Nase. ›Bei euch stinkt’s
nach Schweiß, Pferden und Sägespänen!‹ behaupten sie. ›Wie haltet ihr das
nur aus?‹ Aber Lisa hat sofort gesagt: ›Wonach riecht das hier? Ich weiß
nicht, wie, aber es riecht gut. Wahrscheinlich nach Zirkus.‹
Meine Oma sagt, solchen Leuten ist es vom Schicksal vorbestimmt, in der
Arena zu arbeiten. Tante Tanja, wenigstens in den Ferien …«
»Du warst also schon dort?«
Lisa nickte.
»Nur einmal ganz kurz. Aber es hat mir sehr gefallen. Andrej auch.«
»Ihr habt Andrej mitgenommen?«
»Ja, er mag doch Hunde so gern, und Tiere überhaupt.«
Ich schwieg verwirrt und wußte nicht mehr, was ich sagen sollte. Lisa und
Mascha schauten mich flehend an.
»Also gut, meinetwegen.«
»Hurra!« schrien die Mädchen. »Toll, Spitze!«
»Aber unter drei Voraussetzungen …«
Den Mädchen sank der Mut.
»Was denn für Voraussetzungen?«
»Nur in den Ferien, nur bis acht Uhr abends und nur ohne Andrej.«
»Warum ohne Andrej?« fragte Lisa verwundert. »Er kann uns abends
nach Hause fahren, das ist viel besser, als die Metro nehmen.«
»Macht Andrej nicht zu eurem Chauffeur«, sagte ich. »Er hat eine Arbeit,
ein Geschäft. Er hat seine Werkstatt und seine Tankstelle. Ihr solltet ihn
nicht so ausnutzen.«
»Meinetwegen«, willigte Lisa ein. »Mit der Metro geht’s auch.«
Da klingelte es, und wie gerufen stand Andrej vor der Tür. Ich lächelte, so
gut ich konnte, und goß ihm Tee ein. Da ich nun wußte, wer sein Vater war,
sah ich plötzlich immer mehr Ähnlichkeiten zwischen ihm und Lisa. Wieso
war mir das nicht früher aufgefallen! Die Haarfarbe, die Augen, die Form
der Nase und der Brauen … Und dieser leicht verwunderte Blick – sie
glichen sich wie ein Ei dem anderen.
»Tanja«, druckste Andrej, »ist Ihnen nicht gut?«
»Mir fehlt nichts«, antwortete ich verwundert. »Sehe ich so schlecht aus?«
»Nein, Sie machen nur so ein merkwürdiges Gesicht«, murmelte der
Bandit. »Als ob Sie Zahnschmerzen hätten!«
»Und die Zähne bleckst du wie eine Hyäne«, kicherte Lisa. »Was ist denn
mit dir los?«
Die sollten mich in Ruhe lassen! Ich gab mir einfach Mühe, nett und
freundlich zu sein, deshalb grinste ich von einem Ohr zum anderen.
Alle machten sich nun über den Kuchen her. Ich wartete geduldig, bis das
ein Ende hatte. Aber die drei zeigten keine Eile. Erst aßen sie alles auf,
dann fütterten sie Ramik mit den Krumen, schließlich fingen sie an, in der
großen Pfanne Popkorn zu machen …
Da schaute Mascha auf die Uhr und erschrak. »Ich muß nach Hause.«
Andrej griff nach seiner Jacke.
»Wo willst du denn hin?« fragte Lisa. »Bleib doch noch ein bißchen!«
»Ich muß doch die da nach Hause fahren«, meinte er. »Draußen ist es
schon dunkel.«
»Das mußt du nicht«, wehrte sich Mascha. »Ich will deine Freundlichkeit
nicht ausnutzen.«
»Also, Gawrjuschina!« erklärte der Bursche und warf sich in die Brust.
»Und wenn irgend so ein Fiesling dich an der nächsten Ecke umlegt und
was mit dir macht, dann krieg ich kein Auge mehr zu, weil ich zu faul war,
dich heimzukutschieren. Also los jetzt, ich laß doch kein Girl alleine in der
Nacht rumstolpern. Nicht mal ein ausgewachsenes Weib würde ich allein
gehen lassen. Ich hab schließlich ein Gewissen.«
Ja, ja, dachte ich bei mir, als ich sah, wie er nach Maschas schwerer
Schultasche griff. Wer dich wohl zu so einem Gentleman erzogen hat? Und
wie paßt das mit der netten Eigenschaft zusammen, Leute umzubringen?
Kaum war die Tür hinter den beiden ins Schloß gefallen, nahm ich mir
Lisa vor.
»Du bist sicher müde. Soll ich dir das Bett machen?«
»Das mach ich doch selber«, antwortete Lisa verwundert. »Meinst du, ich
bin krank?«
Im Kinderzimmer räumte sie zwei Dutzend Plüschtiere von ihrem Bett
und schüttelte dann die Steppdecke auf.
»Merkwürdig«, sagte ich gedehnt und arbeitete mich vorsichtig an das
Thema des Gesprächs heran. »Merkwürdig, daß du und Andrej euch früher
nicht gekannt habt …«
»Er kam manchmal zu Papa«, erklärte Lisa ungerührt und holte sich ihren
Schlafanzug aus dem Schrank. »Papa hat ihm Widmungen in seine Bücher
geschrieben und ihn im Scherz seinen Berater genannt.«
»Weshalb?«
»Na, er ist doch ein Bandit«, erklärte mir Lisa gähnend. »Er weiß, wie es
bei denen zugeht, das konnte Papa für seine Arbeit gut gebrauchen. Nur
Lena konnte ihn nicht leiden. Sie hat sich darüber sogar einmal mit Papa
gestritten. Der hat behauptet, Andrej wäre ein armer Junge, bei dem einiges
schiefgelaufen sei. Aber er hätte das Gangsterleben aufgegeben und sei jetzt
Geschäftsmann. Selbst in der Duma säßen Leute mit krimineller
Vergangenheit, und niemand störte das. Lena ist böse geworden und hat
geschrien, daß Andrej trotzdem ein Ganove ist und uns eines Tages noch
alle umbringen wird.«
Offenbar war meine Arbeitgeberin gar nicht so weit entfernt von der
Wahrheit, ging es mir durch den Kopf.
»Papa hat damals zurückgebrüllt«, fuhr Lisa fort. »›Hör auf, Lena, du
redest ein Zeug zusammen, das ist ja nicht mit anzuhören! Wer bezahlt, der
bestellt auch die Musik! Andrej kann weiter zu mir kommen!‹
Lena ist immer giftiger geworden und hat verlangt: ›Du mußt dich
entscheiden, entweder er oder ich!‹
›An deiner Stelle‹, hat Papa ganz leise geantwortet, ›würde ich nicht
solche Bedingungen stellen. Mir hat noch kein Weib vorgeschrieben, mit
wem ich mich treffen darf. Ist das klar?‹
Dann haben sie sich wieder vertragen. Andrej ist immer noch ab und an
zu uns gekommen. Er gefällt mir«, gab Lisa offen zu. »Er ist cool. Zwar ein
bißchen alt, schon vierundzwanzig, aber ich habe mir überlegt: Wenn er mir
den Hof macht, was ist daran schlecht? Vielleicht verliebe ich mich in ihn?«
Das hätte mir gerade noch gefehlt!
»Schlag dir den Unsinn aus dem Kopf!« sagte ich streng. »Für so was hast
du noch viel Zeit!«
»Da hast du wohl recht«, seufzte Lisa und streckte sich wohlig auf ihrem
Bett aus. »Ach, ist das schön! Und morgen keine Schule …«
Ich klopfte ihr die Decke fest und fragte: »Wer hat vor Andrej neben euch
gewohnt?«
»Eine alte Frau«, antwortete Lisa, »eine ganz stille. Argentina
Dewotschka«, murmelte Lisa schon halb im Schlaf.
»Und was ist aus ihr geworden?«
»Ich weiß nicht. Sie ist umgezogen. Ich glaube, sie hat Papa ihre neue
Telefonnummer gegeben.«
»Ist das schon lange her?«
Lisa drehte mir den Rücken zu und flüsterte: »Vielleicht ein Jahr, ich weiß
nicht genau, was soll’s … Tanja, mach das Licht aus, ich bin schon weg …«
Ich schaltete die Deckenlampe aus, setzte mich noch einmal auf die
Bettkante, strich ihr sanft übers Haar und begann leise ein Wiegenlied zu
singen.
»Tanja«, flüsterte Lisa, »ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, mein Engel. Schlaf jetzt.«
Kurz darauf erklang leises Schnaufen. Ich blieb noch ein Weilchen sitzen.
Die Nacht war ruhig und friedlich, Lisa atmete tief, ich hörte Pingu
schnurren und Ramik im Schlaf schmatzen. In der Küche tropfte der
Wasserhahn, und irgendwo tickte ein Wecker. Von der Straße war kein Ton
mehr zu hören, Moskau schien endlich einzuschlafen. Alles Lebende war
zur Ruhe gegangen, nur ich saß hier im Dunkeln und grübelte darüber nach,
wie es nun weitergehen sollte.
30. Kapitel
Lisa kroch am nächsten Tag erst gegen Mittag aus dem Bett. Ihr mußte
vom Schlafen schon der Kopf brummen. Sie machte sich zu Mascha auf
den Weg. Andrej war zeitig weggefahren. Ich hatte mir gerade am
Küchenfenster eine Zigarette gegönnt und gesehen, wie er gegen neun Uhr
mit merkwürdig verkniffenem Gesicht in sein neues Auto gestiegen war.
Seinen Jeep hatte ich gemocht, aber auch das war ein feines Wägelchen:
groß und geräumig, mit silberner Metallic-Lackierung. Hinter der
Heckscheibe baumelte eine große orangefarbene Hand mit gespreizten
Fingern. Andrej schlug die Tür zu und preschte vom Hof.
Die Telefonnummer der früheren Nachbarin mit dem merkwürdigen
Familiennamen Dewotschka, was soviel wie Mädchen bedeutet, fand sich
tatsächlich in Kondrats Telefonbuch. Ich zögerte einen Moment, bevor ich
wählte.
»Hallo«, erklang am anderen Ende ein tiefer Baß.
»Ich möchte Argentina Dewotschka sprechen.«
»Am Apparat.«
»Ich bin eine Verwandte von Kondrat Rasumow. Können Sie sich an ihn
erinnern?«
»Natürlich, der Schriftsteller, mein früherer Nachbar«, antwortete die
Dame. »Ist was passiert?«
Gott sei Dank, sie war offenbar noch völlig klar im Kopf. Das ist bei alten
Damen nicht selbstverständlich.
Von meinem Erfolg beschwingt, log ich fröhlich weiter: »Bei Ihrer alten
Adresse ist ein Päckchen abgegeben worden.«
»Nanu? Von wem denn?«
»Das verstehe ich auch nicht ganz, irgendein Gewinn …«
»Ein Gewinn«, murmelte Argentina unsicher. Dann mußte sie lachen.
»Wahrscheinlich ist das für meinen Enkel. Er löst Kreuzworträtsel in der
›Megapolis‹ und schickt sie immer unter meinem Namen ein. Er meint, ein
Kind würde keinen Preis bekommen. Der wird sich freuen. Wo finde ich
Sie?«
»Wohnen Sie weit weg?« fragte ich.
»Festivalnaja uliza, das ist in der Nähe der Metro Flußhafen.«
»Das paßt gut«, gab ich erfreut zurück. »Ich muß sowieso in diese
Richtung, eine Freundin besuchen. Dann bringe ich es Ihnen vorbei. Sind
Sie gegen drei Uhr nachmittags zu Hause?«
Argentina versicherte mir, sie sitze den ganzen Tag vor dem Fernseher,
und diktierte mir ihre Adresse zum Mitschreiben. Ich pfiff fröhlich das
Motiv des Toreros aus der unsterblichen »Carmen« vor mich hin und warf
mich in meine Sachen. Aber kaum hatte ich den Pullover übergestreift, als
es an der Tür klingelte. Draußen stand Juri Gryslow mit einem riesigen
Strauß Rosen.
Er überreichte mir die üppige Gabe mit einer Verbeugung. Erst als ich sie
in der Hand hielt, merkte ich, daß es Kunstblumen waren.
»Die sind doch herrlich, nicht?« meinte Juri lächelnd und trat in die Diele.
»Von echten nicht zu unterscheiden. Sogar noch besser. Sie welken nie.«
Ich steckte mechanisch die Nase in den Strauß und war verwundert. »Die
duften sogar!«
»Sie werden mit einem Aroma besprüht«, erklärte mir Gryslow. »Sind
doch toll, nicht?«
»Prachtvoll«, erwiderte ich heuchlerisch, »herrliche Blumen, ein Traum!«
»Das freut mich. Ich wollte dich etwas aufmuntern!«
Ich stellte den Besen schweigend in eine Vase. Nein, Männer sind
wirklich merkwürdige Wesen. Die Blumen waren furchtbar, gerade weil sie
echten so ähnelten. Ich mag absolut keine Kopien, weder falsches
französisches Parfüm, noch Nerz, der in Wirklichkeit ein Kaninchen ist,
oder Pullover aus synthetischer Wolle … Lieber gar nichts kaufen als
solchen Ersatz. Der kann allerdings manchmal teuer sein. Juri hatte
bestimmt eine Menge Geld ausgegeben. Kann man sich an Blumen freuen,
die ewig halten? Und gibt es auf der Welt ewige Liebe?
»Nun«, fragte Gryslow aufgeräumt, »welchen Roman nehmen wir uns als
ersten vor?«
Meine Stimmung schlug plötzlich um. Falsche Blumen für eine falsche
Schriftstellerin. Nein, an dieser Farce mochte ich mich nicht beteiligen.
Aber Juri war nicht zu bremsen.
»Ich habe schon im Verlag Bescheid gesagt! Die sind hell begeistert. An
die Arbeit! Los, schalt den Computer ein! Wollen mal sehen, was unser
Kondrat da noch alles versteckt hat.«
Dabei schob er mich leicht vor sich her. Damit weckte er mich aus meiner
Erstarrung. Ich sagte in entschiedenem Ton: »Entschuldige schon, aber das
ist unmöglich. Die Romane, die Kondrat zurückgelassen hat, sind Lenas
Eigentum. Sie muß entscheiden, was damit geschieht. Vielleicht will sie sie
unter ihrem Namen veröffentlichen. Das ist ihr Recht. Ich werde mich an
diesem Diebstahl nicht beteiligen. Und dir rate ich das auch nicht!«
Gryslow wich meinem Blick aus und fragte nur leise: »Ist das dein letztes
Wort?«
»Und kein Einspruch möglich!« antwortete ich. »Du kannst aber beruhigt
sein, ich erzähle niemandem, was du mit den Büchern vorhattest.«
Plötzlich brach Juri in lautes Lachen aus. »Tanja, du bist mir eine, so
gefällst du mir gleich noch mal so gut!«
»Was meinst du damit?« fragte ich verwundert.
Der Autor nahm mich zärtlich bei den Schultern.
»Ich habe mit Frauen einfach kein Glück, es ist zum Heulen! Sie sind
verlogen, hysterisch oder habgierig! Keine einzige vernünftige darunter!«
»Was soll das jetzt?«
»Ganz einfach: Als ich dir zum ersten Mal begegnet bin, war ich wie im
Rausch. So etwas Positives wie dich konnte es gar nicht geben! Ich hab
dich ein wenig prüfen wollen!«
»Prüfen?!«
Juri breitete die Arme aus.
»Entschuldige schon, das war blöd von mir. Aber jede andere von meinen
Weibern hätte Hurra geschrien, wenn ich ihr angeboten hätte,
Schriftstellerin zu werden und an Geld zu kommen, ohne einen Finger zu
rühren! Du aber hast das einfach abgeschmettert!«
Er hatte mich prüfen wollen! Er hatte meine Ehrlichkeit auf die Probe
stellen wollen?! Mir blieb vor Staunen der Mund offenstehen. Was sollte
ich jetzt tun? Ihm sein Blumenbündel an den Kopf werfen? Ihn aus der
Wohnung jagen?
Wahrscheinlich war das alles sehr gut auf meinem Gesicht zu lesen, denn
Juri streckte abwehrend seine Hände vor, machte ein ängstliches Gesicht
und winselte mit dünner Stimme: »O je, o je! Mein liebes Tanjalein, nicht
ins Gesicht, lieber einen Nierenhaken! Ich weiß selber, wie blöd ich mich
benommen habe!«
Und er begann theatralisch zu zittern. Ich mußte lachen. Er war wohl
einfach ein großes Kind. Ein Genie kann in mancher Hinsicht sehr
zurückgeblieben sein, sagen die Leute. Mein Vater hatte einen guten
Freund, der einer der größten Mathematiker unserer Zeit gewesen sein
soll … Was meinen Sie, womit sich dieses Akademiemitglied in seinen
wenigen freien Stunden beschäftigte? Er ließ Zinnsoldaten gegeneinander
antreten und spielte mit ihnen Krieg.
»Was soll ich tun, damit du mir verzeihst?« jammerte Gryslow. »Befiehl
es mir!«
Ich runzelte die Brauen.
»Zwanzig Stück Obsttorte aus der französischen Konditorei auf der
Twerskaja! Aber mit Sahne, wenn ich bitten darf! Dann kann ich vielleicht
wieder gnädig in deine Richtung schauen.«
»Bin in einer halben Stunde wieder da!« rief Juri und wandte sich zur Tür.
»Nein.« Ich versuchte seine Begeisterung zu dämpfen. »Erst heute abend
gegen sechs habe ich Zeit. Ich muß noch etwas erledigen.«
»Wo?«
»Auf der Festivalnaja uliza.«
»Was willst du dort?«
Irgendwie ging mir seine Neugier gegen den Strich. Daher antwortete ich:
»Unwichtig.«
»Ich fahr dich hin.«
»Das bringt nichts. Um diese Zeit stehen wir nur im Stau. Mit der Metro
bin ich in einer halben Stunde dort.«
Als ich Juri endlich los war, zog ich mich rasch an und eilte zu Argentina
Dewotschka. Unterwegs kaufte ich an einem Kiosk das Buch
»Kreuzworträtsel für das Superhirn«. Dann lief ich noch in ein Postamt und
bat die Frau am Schalter: »Packen Sie mir das doch bitte als Päckchen ein.
Aber ich nehme es selbst wieder mit.«
»Was soll das?« fragte die Frau mißtrauisch.
»Mein Sohn löst die Kreuzworträtsel in allen Zeitungen und schickt sie
ein. Er möchte unbedingt einmal gewinnen. Es klappt aber nicht, und er ist
todtraurig. Ich möchte ihm eine Freude machen …«
»Na geben Sie schon her!« Sie wurde etwas freundlicher. »Diese
Preisausschreiben sind doch alle der reine Betrug. Mein Enkel hat auch so
einen Tick. Dem werde ich mal so ein Päckchen schicken. Das haben Sie
sich wirklich gut ausgedacht.«
Ich steckte das von Stempeln übersäte Päckchen in die Tasche und fuhr
sofort auf die Festivalnaja uliza.
Die Dame mit dem merkwürdigen Namen Argentina Dewotschka war nett
und sehr liebenswürdig. Immer wieder dankte sie mir für den Gefallen, den
ich ihr getan hatte, brühte Tee und trug Torte auf. Wir unterhielten uns
glänzend über dieses und jenes. Erst kamen Kinder und Enkel an die Reihe,
dann die Krankheiten, schließlich die Preise und die bevorstehenden
Präsidentschaftswahlen … Als ich glaubte, der passende Moment sei
gekommen, sagte ich: »Haben Sie aber eine schöne Wohnung, so bequem
und wie geleckt.«
»Ja«, stimmte die alte Dame mir zu, »mir gefällt es hier auch.«
»Vor zwanzig Jahren war es hier sicher noch wie auf dem Lande.«
»Das weiß ich nicht. Ich bin erst vor kurzem hierher gezogen.«
»Ach richtig.« Ich tat so, als erinnerte ich mich jetzt erst. »Sie waren ja
Kondrat Rasumows Nachbarin. Wahrscheinlich hat er Ihre Räume
dazugekauft, denn sein riesiges Appartement sieht aus, als sei es aus zwei
Wohnungen gemacht.«
»Nein«, widersprach sie lächelnd, »er hat die Ossipows hinausgedrängt.
Die hatten eine Dreizimmerwohnung. Mit mir dagegen war die Sache sehr
merkwürdig!«
»Wieso?«
Eines Tages tauchte bei Argentina unaufgefordert ein junger Mann von
ganz bestimmtem Äußeren auf. Sie erschrak zunächst, denn sie glaubte, sie
hätte einen echten Banditen vor sich. Aber der Junge benahm sich sehr
ordentlich. Er zog in der Diele die Schuhe aus, stellte sich als Andrej vor
und erklärte den Grund seines Besuchs. Er sei ein Fan von Kondrat
Rasumow und wolle furchtbar gern in der Nähe seines Idols wohnen. Da er
genug Geld hatte, schlug er Argentina einen für sie günstigen
Wohnungstausch vor. Für ein beeindruckendes Aufgeld bot er ihr seine
eigene derzeitige Bleibe an. Dort war gerade erst renoviert worden, Küche
und Bad waren saniert. Er wollte ihr sogar seine Möbel überlassen.
Aber Argentina lehnte es rundweg ab, auf die Nowochersonskaja uliza zu
ziehen. Die kam ihr vor wie das Ende der Welt.
»Um keinen Preis!« antwortete sie Andrej.
Der verlor nicht die Ruhe und fragte: »Wohin würden Sie zu diesen
Bedingungen denn ziehen wollen?«
Sie kam ins Grübeln. Ihre Tochter und ihr Enkel wohnten auf der
Festivalnaja uliza. Zu ihnen mit der Metro hinund herzufahren fiel ihr von
Tag zu Tag schwerer.
Andrej war sofort einverstanden und ging mit Eifer ans Werk. Er fand
eine passende Wohnung im Haus der Tochter und ließ sie mit allen
Schikanen sanieren.
»Er hat mich durch die Geschäfte geschleppt«, berichtete Argentina
begeistert, »und mich gefragt, welche Tapeten und welches Linoleum ich
haben will. Er hat Verbundfenster einsetzen lassen und sogar das Parkett
ausgetauscht. Dann hat er noch für eine Unsumme eine neue
Kücheneinrichtung gekauft. Offenbar sollte ich es mir auf keinen Fall
anders überlegen. Worauf solche Fans nicht alles kommen! Und was sie für
ihre Launen für Unsummen ausgeben!« Von der Abstandszahlung, die zu
der exquisiten Wohnung hinzukam, kaufte die alte Dame auf ihren Namen
einen neuen Lada, womit sie für ihren armen Schwiegersohn zur besten
Schwiegermutter der Welt wurde. Der träumte längst von einem eigenen
Auto, hatte es sich aber bisher nicht leisten können. Damit waren alle
glücklich und zufrieden …
Ich blieb noch ein Viertelstündchen bei der alten Dame sitzen und ging
dann langsam zur Metrostation zurück. So war das also! Andrej hatte den
Mord von langer Hand geplant und dafür keine Mittel gescheut. Das war
doch immerhin schon ein Indiz. Der Ermittler konnte ihn nun im Verhör
fragen: Weshalb waren Sie, Bürger Kasin, so erpicht darauf, mit der
Bürgerin Dewotschka die Wohnung zu tauschen?
Zumindest hatte ich jetzt eine Spur, die ich weiterverfolgen konnte. Sicher
würde ich bald auf neue Indizien stoßen.
Ganz erfüllt von solchen Rachegedanken, verließ ich die Metro und lief
nach Hause, so schnell ich konnte. Ich nahm mir nicht einmal Zeit, den
Pfützen auszuweichen. Endlich war das Eis gebrochen. Hoffentlich konnte
ich Slawa Samonenko bald besuchen. Der war nicht dumm und nahm
meine Verdachtsmomente bestimmt ernst …
Plötzlich heulte hinter mir etwas laut auf. Ich fuhr herum und erstarrte.
Ein langer silbergrauer Wagen raste wie eine Rakete geradewegs auf mich
zu.
Das ist das Ende, konnte ich nur noch denken. Völlig kopflos stürzte ich
nach vorn, und ohne richtig zu begreifen, was ich tat, fiel ich halb durch
eine Tür, die in einen Friseursalon führte. Der Wagen schoß mit heulendem
Motor auf den Bürgersteig - genau an die Stelle, wo ich soeben noch
gestanden hatte. Die getönten Scheiben ließen nicht erkennen, wer darin
saß. Eine Sekunde später war der ausländische Schlitten verschwunden.
»Ist der verrückt geworden?!« kreischten die Friseurinnen auf und ließen
vor Schreck ihre Föne und Kämme fallen. »Erschießen sollte man so
einen!«
»Besaufen sich, und dann ans Steuer!« rief die Putzfrau und kam zur Tür
gerannt. »Setzen Sie sich doch, Sie sind ja weiß wie die Wand!«
Ich ließ mich mechanisch auf einen Stuhl nieder, den mir jemand
hinschob. Meine Knie zitterten, kalter Schweiß lief mir den Rücken
herunter, und alles drehte sich vor meinen Augen. Ich konnte keinen klaren
Gedanken fassen.
»Haben Sie sich die Nummer gemerkt?« fragte mich eine Kosmetikerin.
Ich schüttelte den Kopf. Natürlich nicht, ich wäre ja vor Schreck beinahe
in Ohnmacht gefallen. Die Farbe schon, silbergrau, wie Mondlicht.
»Auch ich habe die Nummer nicht gesehen«, meinte eine Kosmetikerin
seufzend, die sich neben mir niedergelassen hatte. »Nur so eine schaukelnde
Hand. Aber die haben jetzt alle, das wird der Miliz nicht viel helfen.«
»Eine Hand?« fragte ich noch wie betäubt. Jetzt verlor ich wohl endgültig
das Bewußtsein. »Was für eine Hand?«
»Na so eine orangefarbene aus Plastik, die mit einem Saugnapf an die
Scheibe geklebt wird.«
Ich hockte stumm auf meinem Stuhl und schnappte nach Luft. Die
Kosmetikerin sah mich prüfend an, dann raffte sie ihre Instrumente
zusammen und sagte: »Also, meine Damen, ich fahre die Frau jetzt nach
Hause. Heute kommen sowieso keine Kunden mehr.«
»Das machst du richtig, Nina«, stimmten ihr die Kolleginnen zu. »Sonst
rutscht sie uns noch zusammen.«
Ich wurde in einen weißen Niwa gesetzt und vor meine Haustür gefahren.
Aber erst als ich aus dem Fahrstuhl stieg und die Nummer 42 an der
Wohnungstür schmerzliche Gefühle in mir weckte, wurde mir klar, daß ich
der hilfsbereiten Nina in meiner Verwirrung nicht Kondrat Rasumows
Adresse angegeben hatte, sondern die meiner alten Familie, die jetzt in
Miami weilte.
Wie ein Häufchen Unglück ließ ich mich auf die Stufen sinken und heulte
laut los. Warum, warum war jetzt niemand da? Was hatten meine Lieben in
Miami zu suchen? Ließen mich hier ganz allein zurück in diesem Alptraum.
Was sollte ich denn jetzt machen? Der widerliche Major Mitrofanow, der
mich hatte hinauswerfen lassen, wollte ganz gewiß nichts mehr von mir
hören. Für ihn war von Anfang an klar, daß Lena ihren Mann umgebracht
hatte. Slawa lag im Krankenhaus, und Wolodja Kostin sonnte sich immer
noch in Dubai. Was mußten wir ihm auch diese Reise in die Emirate
schenken! Wie sollte es jetzt weitergehen? Zu Lisa zurück konnte ich nicht,
denn dort schwebte ich ständig in Lebensgefahr. Der nette Andrej, der die
Tiere so liebte, der sich rührend um seine trinkende Mutter gekümmert
hatte, der Kondrat verehrte und sich um Lisa sorgte, hatte mich gerade
überfahren wollen wie einen Straßenköter. Nein, einem Köter hätte er
gewiß nichts getan!
Voller Verzweiflung ließ ich mich gegen die Tür der Nachbarwohnung
von Major Kostin fallen und heulte noch einmal richtig auf. Da rief drinnen
jemand aufgebracht: »Wer macht denn da solchen Lärm?«
Die Tür öffnete sich, und auf der Schwelle stand Wolodja Kostin - fast bis
zur Unkenntlichkeit schwarzgebrannt, in weißen Shorts und hellblauem T-
Shirt.
»Tanja!« rief er. »Was machst denn du hier?«
»Ach, Wolodja, du bist zurück!« Meine Tränen strömten nur noch mehr.
»Beruhige dich doch, komm erst mal rein«, sagte Wolodja und zog mich
in die Wohnung. »Ich bin heute morgen um sieben gelandet. Was ist
passiert? Erzähl …«
Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen, der in der Diele stand, und wimmerte
wie ein Hundejunges.
»Also, nun heraus mit der Sprache!« sagte Wolodja im Befehlston. »Ist
jemand gestorben?«
»Gerade eben wollte mich einer umbringen, mit dem Auto«, stammelte
ich.
»Soso.« Wolodjas Miene verfinsterte sich. »Jetzt mal der Reihe nach. In
was für eine Geschichte bist du da wieder hineingeraten?«
Gegen sieben Uhr abends kehrte ich, mit genauen Instruktionen versehen,
in Kondrat Rasumows Wohnung zurück.
»Tanja!« rief Lisa. »Hier sitzt Gryslow und wartet auf dich! Er sagt, ihr
hättet euch verabredet. Er wollte sich schon Sorgen machen. Mascha und
ich sind gerade dabei, ihn zu beruhigen.«
Als ich in die Küche kam, sah ich auf dem Tisch eine Schachtel Pralinen
und eine Torte, die offenbar die Mädchen schon wieder gebacken hatten.
Ich fragte Juri: »Und wo sind die französischen Fruchttörtchen mit Sahne?«
Juri wollte etwas erwidern, aber da jauchzte Mascha Gawrjuschina auf:
»He, Tante Tanja, Sie haben sich die Haare abschneiden lassen, sieht toll
aus!«
»Du bist mir vielleicht eine«, sagte Juri ärgerlich, »ich warte und warte,
und du treibst dich beim Friseur herum!«
»Das war reiner Zufall«, fügte ich wie nebenbei hinzu. »Das kommt von
einem Auto, das mich überfahren wollte.«
»Überfahren?« schrien Lisa und Mascha wie aus einem Munde.
»Das will ich jetzt ganz genau wissen«, forderte Juri.
Gegen elf Uhr hatten sich dann alle etwas beruhigt. Gryslow nahm mir
mein Ehrenwort ab, daß ich am nächsten Tag das Haus nicht verlassen
werde. Dann fuhr er Mascha Gawrjuschina nach Hause.
Gegen zwölf Uhr nachts schlichen Major Kostin, der Ermittler
Mitrofanow und ein weiterer unbekannter Mann auf Zehenspitzen in unsere
Wohnung. Während Wolodja und Mitrofanow Lisa alles erklärten, legte
mich der Unbekannte im Korridor auf den Fußboden und hantierte lange
damit herum, wie meine Arme und Beine zu liegen hatten. Er klebte mir
eine »Wunde« auf die Schläfe, holte einen Beutel mit etwas Rotem hervor
und begoß damit reichlich meinen Kopf, meine Schultern und den
Fußboden. Es roch wie echtes Blut, und mich schüttelte es unwillkürlich.
»Lieg still«, befahl der Mann, »laß den Mund halboffen stehen und klappe
nicht mit den Augenlidern. Das Licht im Korridor mache ich aus, damit es
schön schummrig ist. Vor allem darfst du nicht niesen. Denke daran: Du bist
jetzt eine Leiche.«
Von Lisa kam ein unterdrückter Schreckensschrei: »Das ist ja
unheimlich!«
»Los, Hund und Katze ab ins Wohnzimmer«, befahl Wolodja. »Weißt du,
was du zu tun hast? Wirst du uns die Sache auch nicht verderben?«
»Bin ich vielleicht ein Säugling, der noch in die Windeln scheißt?« gab
Lisa empört zurück. »Ich mach das Ding, da kannst du sicher sein!«
»Stark«, ließ Kostin hören. »Na dann, leg los.«
»A-a-a …!« Heulend wie eine Alarmsirene stürzte Lisa auf den
Treppenabsatz hinaus. »Hiiilfe, Hilfeee!«
Türen klappten, fremde Stimmen ertönten auf der Treppe, jemand rief
laut, und dann kreischte eine Frau auf. Lisa brüllte wie angestochen: »Sie
haben sie umgebracht! Erschossen! Sie ist tot …!«
»Bitte, gehen Sie auseinander«, sagte Kostin streng, »geben Sie den Tatort
frei! Senja, befrage die Zeugen, einen nach dem anderen. Für das Mädchen
einen Krankenwagen!«
»A-a-a«, heulte Lisa weiter. »Ich will nicht fort, ihr verdammten Bullen,
ihr ungewaschenen Hunde, ich will gemeinsam mit Tanja sterben! O-o-o,
was soll denn jetzt aus mir werden! Jetzt habe ich keinen mehr auf der
gaaanzen Welt!!!«
Für meinen Geschmack überzog sie gewaltig, aber aus der Menge der
erschreckten Nachbarn ertönten mitleidige Seufzer. Jemand schluchzte
sogar. Hund und Katze, die natürlich auch auftauchten, trugen das Ihre zu
dem Durcheinander bei. Als man sie endlich im Wohnzimmer einschloß,
knurrten und kratzten sie zunächst nur an der Tür, aber bald heulten und
miauten sie, was ihre Lungen hergaben. Es war ein schrecklicher Lärm.
Mein rechtes Augenlid begann zu jucken, und ich befürchtete ernsthaft, daß
ich bald niesen mußte. Wie hätten unsere Nachbarn wohl darauf reagiert?
Vielleicht wären einige vor Schreck in Ohnmacht gefallen.
Endlich wurde unsere Wohnungstür mit einem Quietschen geschlossen.
»Tanja, du kannst dich aufsetzen«, sagte Wolodja.
Ich tat, wie mir geheißen, und mußte mehrmals herzhaft niesen. Außer
Kostin und Mitrofanow waren da jetzt noch zwei kräftige Burschen in
blauen Arbeitsanzügen.
»Los, Tanja!« befahl Kostin. »Rein mit dir!«
»Wohin?«
»Na, in den Sack«, teilte mir einer der Burschen freundlich mit und
breitete einen riesigen schwarzen Plastiksack vor mir aus.
»Wozu?«
»Wie sollen wir dich denn sonst von hier fortschaffen?« warf Mitrofanow
ungeduldig ein.
»Eine Leiche muß verpackt werden«, ließ sich der zweite Bursche hören.
»Kriechen Sie schon rein, wir bringen Sie heil und ganz hinaus. Nur bis
zum Leichenwagen müssen Sie aushalten, wenn Sie erst mal drin sind,
können Sie sofort raus aus dem Sack.«
Ich verfluchte den Tag, da ich mich als Kondrats Haushälterin hatte
anwerben lassen, kroch in das Innere des Sacks, der unerträglich nach
irgendeiner Chemikalie roch, und ließ mich auf die Trage legen. Dann
bugsierten mich starke Arme die Treppe hinunter und in den Wagen. Dieser
schoß nach wenigen Sekunden los, ohne auf Schlaglöcher und Bodenwellen
zu achten. Natürlich dachte niemand daran, mir aus dem verdammten Sack
zu helfen. Ich brach mir alle Fingernägel ab, als ich versuchte, den
Reißverschluß von innen zu öffnen. Außerdem war die Trage eisenhart, und
ich erhielt bei jeder Bodenwelle einen Schlag in Rücken und Hintern.
Endlich gab der Reißverschluß nach. Ich setzte mich auf und erschauerte
vor Kälte. Wenigstens eine Jacke hätten sie mir überziehen können, die
Idioten! Sie glaubten wohl wirklich, daß sie eine Leiche transportierten! So
wie ich war, in meinem dünnen Pulli, hatten sie mich in den Sack gesteckt!
Außerdem quälte mich wahnsinniger Durst. Je weiter das Auto fuhr, desto
mehr verdrängte dieser alle anderen Gefühle. Meine Zunge war wie Blei,
und die Kehle fühlte sich an wie eine entzündete Wunde.
Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit erschien, hielt der Wagen. Ich
öffnete die hintere Tür und sah, daß wir vor Katjas und Wolodjas Haus
angekommen waren. Am Eingang stand ein fliegender Händler mit
Getränken in bunten Flaschen und Dosen. Erleichtert suchte ich in meinen
Hosentaschen, fand einen Zehnrubelschein, kletterte aus dem Wagen und
bat den Verkäufer: »Eine kleine Flasche ›Heilige Quelle‹ mit Sprudel bitte.«
»Um Gottes willen!« rief der junge Verkäufer erschrokken und reichte mir
rasch die Flasche. »Haben Sie denn keine Schmerzen?«
»Nein«, antwortete ich befremdet. »Warum sollte ich Schmerzen haben,
und wo?«
»Na, mit dem Loch im Kopf!« murmelte der Junge und wurde
leichenblaß. »Es blutet ja noch! Sie müssen sofort zum Arzt und dann zur
Miliz! Das ist ja furchtbar!«
Ich ärgerte mich schrecklich über mich selbst. Wie konnte ich vergessen,
daß ich noch als Leiche hergerichtet war. Ich mußte den erschreckten
Verkäufer beruhigen.
»Das ist nichts, nur ein Spaß.« Ich lächelte.
Er flüsterte: »Wo kommen Sie denn in diesem Aufzug her?«
»Alles in Ordnung«, sagte ich immer noch lächelnd. »Keine Angst, nur
aus dieser sympathischen Fuhre.«
»Aus dem Leichenwagen?« fragte der Junge ungläubig.
»Na klar.«
Er verdrehte die Augen und fiel um wie ein gefällter Baum. War der aber
auch empfindlich! Ich bin zum Beispiel wegen einer Wette schon mit zehn
Jahren nachts allein über den Friedhof gegangen. Und der hier fiel gleich in
Ohnmacht wie eine hysterische Jungfrau.
»Tanja«, zischte Wolodja, »was tust du hier?«
»Ich hab mir ein Wasser gekauft, weil ich schrecklichen Durst hatte. Der
Verkäufer ist gleich in Ohnmacht gefallen!«
»Du bist mir aber auch eine«, zischte Kostin, warf mir mit schneller
Bewegung meine Jacke über die Schultern und zog die Kapuze fast bis auf
die Nase herunter. »Mach, daß du reinkommst, und ihr, Jungs, bringt mir
den Verkäufer wieder auf die Beine!«
»Nee«, meinte der Fahrer. »Das ist nicht unser Bier, wir haben nur mit
Leichen zu tun.«
»Laßt ihn wenigstens mal Salmiak schnuppern!«
»So was haben wir nicht!«
»Warum nicht?« fragte der Major aufbrausend.
»Wozu braucht eine Leiche Salmiak?« widersprach sein Kollege zu
Recht.
»Geh schon hinauf«, befahl Mitrofanow. »Ich mach das hier.«
Für die nächsten drei Tage verordnete mir Kostin Hausarrest in seiner
Wohnung. Mir war streng verboten, ans Telefon zu gehen, fernzusehen oder
auch nur das Radio einzuschalten. Kein fremder Laut sollte aus Wolodjas
Räumen dringen, solange er auf Arbeit war. Die Vorhänge vor den Fenstern
zog er nicht nur zu, bevor er wegging, sondern steckte sie auch noch mit
Nadeln fest. Mir erschien das alles lächerlich, aber er ließ sich nicht
erweichen.
»Was willst du denn noch?« fragte er gereizt. »Hast einen Stapel Krimis,
eine Schachtel Pralinen und Kuchen, 45 Rubel das Stück! Mach dich lang
und ruh dich aus.«
Französische Törtchen! Die fehlten mir jetzt gerade noch! Ich schlenderte
ziellos durch die Wohnung. Dann wollte ich Lisa anrufen, konnte aber den
Telefonhörer nicht finden. Wahrscheinlich hatte ihn der umsichtige Major
vorsichtshalber mitgenommen.
Am 28. März brachte Wolodja Lisa zu mir. Das Mädchen fiel mir unter
Tränen um den Hals. Dann sprudelte sie die letzten Neuigkeiten hervor.
Ramik und Pingu waren gesund und zu Streichen aufgelegt, wie immer. Die
arme Mascha Gawrjuschina, der man auf keinen Fall die Wahrheit sagen
durfte, schluchzte von früh bis abends und überlegte schon, welchen
Kuchen sie für mein Trauermahl backen wollte. Die überraschendste
Nachricht aber kam von Andrej. Er war völlig am Boden zerstört bei Lisa
aufgetaucht und hatte ihr mit stockender Stimme erklärt, da sie jetzt keine
Verwandten mehr habe, werde er sich um sie kümmern, denn er sei ihr
Halbbruder.
»Ist das wahr?« fragte Lisa ängstlich.
Ich nickte schweigend.
»Das ist ja ’ne Wucht!« schrie sie erfreut auf. »Wahnsinn! Stell dir vor,
Tanja, ich hätte mich beinahe in ihn verliebt! So ein Bruder, das ist Klasse!
Wenn wir auch verschiedene Mütter haben, der Vater ist wichtiger! Mascha
fällt um und steht nicht wieder auf, wenn sie das erfährt!«
Am 31. März tauchte mittags plötzlich Wolodja auf und sagte: »Es ist
geschafft! Der Vogel sitzt im Käfig. Los, mach dich fertig! Du hast nicht
vergessen, was du zu tun hast?«
Ich nickte. Das wäre ja noch schöner! All die Tage, die ich mit quälendem
Nichtstun verbringen mußte, hatte ich meine Rolle wieder und wieder
geübt. Ich konnte nur hoffen, daß ich sie gut spielen würde.
Wir fuhren zu Wolodjas Dienststelle. Man brachte mich in einen
Nebenraum. Die Minuten schlichen dahin. Endlich klingelte es. Bevor ich
zur Tür ging, warf ich noch einen Blick in meinen Taschenspiegel. Ich sah
wirklich hervorragend aus. Die Wunde saß wieder auf meiner Schläfe, über
Stirn, Wange und Hals liefen Blutspuren. Sie hatten mich noch einmal
hervorragend als Leiche zurechtgemacht. Mein Gesicht bläulich blaß,
schwarze Flecken um die Augen, die Nase spitz und die Lippen blutleer.
Das Haar zerzaust, steckte ich in einem schrecklich schmutzigen Pulli, der
von dem getrockneten Blut ganz steif geworden war. Dazu eine
zerknautschte Hose. Eine echte auferstandene Leiche, die ich jetzt zu
spielen hatte.
Wieder klingelte es. Ich nahm das Tablett vom Tisch, auf dem die
Törtchen aus der französischen Konditorei standen – kleine Körbchen aus
Teig mit frischen Früchten und Schlagsahne –, öffnete ganz vorsichtig die
Tür und schlich wie ein Schatten ins Nachbarzimmer. In seinem Büro am
Schreibtisch saß ruhig und friedlich Wolodja. Er kritzelte mit einem
Kugelschreiber etwas auf Papier. Ein Mann, der offenbar nicht mit meinem
Eintreten rechnete, wandte mir den Rücken zu.
»So was Dummes«, murmelte Wolodja und bat: »Seien Sie so gut, geben
Sie mir doch bitte einen anderen Kuli von dem Tisch dort. Dieser hier
schreibt nicht mehr.«
Der Mann drehte sich um. Es war Juri Gryslow. Als er mich erblickte,
wurde er bleich. Ich hielt das Tablett mit den Törtchen vor mich hin und
heulte leise auf: »Sag, Juri, wolltest du mir am Tag meines Todes keine
Törtchen kaufen? War dir das Geld zu schade? Dachtest du, Andrej
überfährt Tanja sowieso, da braucht sie keine Törtchen mehr?«
»Was, wie?« murmelte Juri und fiel fast in Ohnmacht. »Wer ist das???«
»Wo?« fragte Wolodja mit ruhiger Stimme und blickte nicht einmal von
seinen Papieren auf.
»Na da, da!« Gryslow wies mit dem Finger zur Tür.
»Wo?« fragte der Major noch einmal, schaute in meine Richtung und
antwortete gleichmütig: »An der Tür? Da ist niemand.«
»Wieso, niemand?« Juri stockte. »Sie steht doch dort …«
»Beruhigen Sie sich«, sagte Wolodja seufzend und goß ihm ein Glas
Wasser ein. »Trinken Sie einen Schluck. Hier sind nur wir beide.«
»Nimm ein Törtchen, Juri«, heulte ich wieder leise auf und tat einen
winzigen Schritt in seine Richtung. »Ich hab sie nur für dich geholt, sie sind
ganz frisch, genieße sie …«
»Rühr mich nicht an«, murmelte Gryslow und fuchtelte in meine
Richtung mit den Armen. »Komm mir nicht zu nahe …«
Sein Gesicht war hochrot angelaufen. Wolodja fragte besorgt: »Ist Ihnen
nicht gut?«
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Mitrofanow trat ein. »Ich …
ich … ich«, stotterte Juri.
»Was ist mit ihm?« fragte Mitrofanow verdutzt.
»Ich weiß auch nicht.« Wolodja zuckte die Schultern. »Er sagt, da steht
wer an der Tür …«
»Wo?« fragte der Neuankömmling verwundert. »Hier? Hier bin nur ich.«
»Nimm eins, Juri«, heulte ich wieder und rückte immer näher an ihn
heran. »Nimm, es ist süß …, iß es, damit meine Seele Ruhe findet.«
»Weg mit dir, Tanja!« stammelte Juri vor sich hin.
»Tanja?« fragte Wolodja stirnrunzelnd. »Sie meinen, da auf der Schwelle
steht Tatjana Romanowa? Die ist doch tot, ermordet. Und ich weiß auch,
wer den Killer angeheuert hat. Sie, Herr Gryslow.«
»Ja, ja!« Juri nickte heftig mit dem Kopf.
»Warum, warum?« fragte ich seufzend. »Warum hast du das getan, Juri?
Iß ein Törtchen, schlag mir das nicht ab!«
»Und Kondrat Rasumow geht auch auf Ihr Konto?!« Aus Mitrofanows
Mund klang das eher wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage.
»Ja, ja, ja, ja!« brüllte Juri jetzt, denn er hatte alle Beherrschung verloren.
Ich trat ganz dicht an ihn heran, hielt ihm das Tablett unter die Nase und
zischte: »Das ißt du jetzt!« Er krächzte merkwürdig auf, ich packte ihn an
der Schulter und drückte sie fest: »Jetzt wird ein Törtchen gegessen!«
»Sie lebt!« schrie Juri auf und fiel vom Stuhl.
»Also weißt du, Tanja!« griff Wolodja böse ein. »Das war nicht
ausgemacht, ihn an der Schulter zu packen! Gleich gibt auch er noch den
Löffel ab!«
»Das wäre für ihn wohl das beste!« entgegnete ich ungerührt.
31. Kapitel
Fünf Tage nach meinem genialen Auftritt als Gespenst saßen Andrej,
Wolodja, Lisa und ich in der riesigen Küche von Kondrats Wohnung.
»Tolle Sache.« Der Major und setzte den großen Schwenker ab.
»Ziemlich teuer der Kognak, was?«
»Kann ich mir leisten«, brummte Andrej unwillig und bat:
»Schwesterlein, schneid uns eine Zitrone auf.«
Lisa stürzte zum Kühlschrank.
»Warum essen Sie denn keine Törtchen?« fuhr unser Nachbar fort. »Essen
Sie, Tanja, die mögen Sie doch, sind aus der französischen Konditorei.«
Ich zuckte zusammen, denn ich sah deutlich vor mir, wie Gryslow auf den
Boden niedersackte und die Fruchttörtchen über den Fußboden kullerten.
»Danach steht ihr jetzt bestimmt nicht der Sinn«, meinte Wolodja.
»Ich habe immer noch nicht begriffen«, sagte Lisa leise, »warum Onkel
Juri das getan hat.«
»Weil er ein Schwein ist«, konstatierte Andrej, »eine Ratte!«
»Ich schlage vor, du fragst Tanja«, empfahl Wolodja, »sie hat die Sache
am besten durchschaut.«
Ich starrte schweigend in meine Tasse. Das war gemein. Er wußte genau,
daß ich überhaupt nichts begriffen hatte. Jetzt nahm er mich auch noch
hoch.
»Erzählen Sie doch, Onkel Wolodja«, bat Lisa.
»Also gut.« Zu meiner Überraschung ließ sich der Major überreden. »Du,
mein Kind, mußt nun wirklich die Wahrheit wissen. Aber ich muß sehr weit
ausholen. Die Geschichte beginnt im Jahre 1975.«
Alle starrten ihn mit offenem Mund an.
»Also«, begann Kostin seinen Bericht, »in einem Haus in Moskau leben
mehrere Familien auf einer Etage friedlich miteinander. Eine
Gemeinschaftswohnung gibt es da, in der jede Menge Leute wohnen,
darunter Konstantin Rasumow, ein Lehrer für russische Sprache und
Literatur in einer ganz gewöhnlichen Schule, mit seiner Familie.
Daneben eine sehr schöne Vierzimmerwohnung. Dort lebt Ljuda Kasina
mit Mama und Papa, letzterer Direktor einer Goldschmiedefabrik. Die
hübsche sechzehnjährige Ljuda gefällt Kondrat über die Maßen. Er mag
überhaupt wesentlich jüngere Mädchen. Daß Ljuda noch nicht volljährig ist,
stört ihn nicht. Sie entflammen in heftiger Liebe zueinander, was dazu führt,
daß sie schwanger wird. Das Schicksal will es so, daß ihr Papa, der
Juwelier, ausgerechnet in dieser Zeit eine strafrechtliche Ermittlung am
Halse hat. Kondrats Mutter fordert kategorisch, er möge alle Beziehungen
zur Tochter eines ›Diebes sozialistischen Eigentums‹ sofort einstellen.
Kondrat ist ein gehorsamer Sohn.
Ljudas Mutter tauscht rasch die Wohnung, um dem Klatsch und Tratsch
zu entgehen. Sie läßt nicht zu, daß Ljuda das Kind abtreibt. Sie bekommt
einen hübschen, gesunden Jungen, den sie Andrej nennt.
›Sei nicht traurig, Tochter‹, tröstet sie die junge Mutter. ›Wir ziehen ihn
gemeinsam groß.‹
Der Junge erhält den Familiennamen Kasin.
Andrej hat keine glückliche Kindheit. Seine Mutter trinkt bis zur
Bewußtlosigkeit. Außer Ohrfeigen und Kopfnüssen hat er nicht viel von ihr.
Kondrat versucht mehrfach, mit Ljuda in Kontakt zu kommen. Seine Mutter
ist inzwischen verstorben, und ihn plagt das Gewissen. Er bietet Ljuda
sogar an, sie zu heiraten, aber sie lehnt ab. Ein Leben in Haus und Küche ist
nichts für sie.
›Du kannst dich doch kaum selber ernähren, Lehrer‹, faucht sie ihn an.
›Ich komm schon irgendwie durch, laß uns endlich in Ruhe.‹
Kondrat probiert es noch ein paarmal. Bald aber sieht er, daß das Geld,
das er Ljuda für Andrej gibt, nur durch ihre Kehle rinnt. Deshalb zahlt er
nicht mehr für den Jungen. Mit einem Wort, der leibliche Vater
verschwindet aus Andrejs Leben. Lange weiß der Junge überhaupt nicht,
wer sein Vater ist.
In der achten Klasse wird er aus der Schule geworfen und beginnt eine
Lehre als Autoschlosser. Das war 1990, als es im Lande an allem mangelte
– von Medikamenten bis zum Toilettenpapier. Um nicht zu verhungern,
fängt er in einer Werkstatt zu arbeiten an. Gott hat ihm goldene Hände
gegeben, und sein Arbeitgeber erkennt bald, welchen Diamanten er in ihm
hat. Andrej bringt jedes, auch das älteste und klapprigste Auto wieder zum
Laufen. Er spürt jeden Fehler auf, was ihm bei seinen Kumpels den
Spitznamen Röntgen einträgt.
Im Februar 1990 fährt ein ausländischer Luxusschlitten bei der Werkstatt
vor. Neben dem Fahrer thront der Besitzer, ein bulliger Typ mit polierter
Glatze.
›Schaut mal nach‹, befiehlt er den Arbeitern, ›da klopft was.‹
Die suchen erst eine Weile ratlos herum und rufen dann Andrej. Der hat
den Fehler in Sekundenschnelle gefunden und beseitigt. Der Glatzkopf
grinst und meint zum Meister: ›Der Junge hat’s euch Alten aber gezeigt,
was?‹
›Er ist ein Naturtalent‹, antwortet der, ›wie er das macht, weiß ich auch
nicht.‹
Der Glatzkopf winkt Andrej zu sich.
›Na, was zahlt dir der Geizkragen hier?‹
›30 Dollar‹, antwortet der Bursche.
›Am Tag?‹
›Im Monat.‹
Der Mann will sich totlachen. Er hat den Mund voller Goldzähne.
›Wenn du gleich mitkommst, kannst du hundert Grüne am Tag haben.‹
Andrej wischt sich die Hände mit einem Lappen ab und schwingt sich auf
den Rücksitz. So kommt er zu Globus, mit bürgerlichem Namen Valeri
Dwornin, einem großen Boß in der Verbrecherwelt.
Andrej erweckt in Globus Vatergefühle. Vielleicht war er von seiner
Begabung begeistert, denn er machte ihn auf der Stelle zu seinem
persönlichen Chauffeur und Mechaniker. Vielleicht erinnerte er ihn auch
nur an seine eigene armselige Kindheit im Krieg. Wie es einem Jungen
ohne Vater bei einer trinkenden Mutter ergeht, weiß Globus genau. Er ist
überhaupt ein merkwürdiger Typ in diesem Milieu. Er kann kein Blut
sehen, vermeidet Schießereien, läßt sich von Weibertränen erweichen, raubt
ausschließlich Banken oder ausländische Firmen aus. Und das nicht durch
Überfälle, sondern mit Hilfe gefälschter Papiere. Andrej schont er und zieht
ihn in seine Geschichten nicht hinein. 1993 wechselt Globus nach und nach
in die legale Wirtschaft, eröffnet eine Handelsfirma und sucht sich Partner,
die ebenfalls keine Lust haben, irgendwann eine Kugel in den Kopf zu
bekommen. So wird Andrej 1994 Chef einer prosperierenden Tankstelle mit
angeschlossener Autowerkstatt. Globus hat alles korrekt eingefädelt, so daß
nicht einmal die Steuerfahndung etwas an ihm auszusetzen hat.
1998 stirbt Globus einen bürgerlichen Tod. Ein Herzanfall ereilt ihn in
seinem Bett. Andrej ist inzwischen erwachsen – zweiundzwanzig Jahre alt.
Sein Leben ändert sich auch nach dem Tode seines Gönners nicht. Das
Geschäft blüht – neben der Tankstelle besitzt er jetzt mehrere Werkstätten
und einen Autosalon.
Im Milieu gilt er immer noch als Globus’ Junge. Ein paarmal versucht
man sich mit ihm anzulegen, aber er kann die Dinge stets friedlich regeln.
Außerdem zahlt er seinen »Beschützern«, was die von ihm verlangen. Nach
und nach ändern sich die Zeiten und mit ihnen auch die Verbrecherwelt. Sie
verschmilzt mehr und mehr mit dem jungen russischen Kapital.
1998 sind Andrejs sämtliche materiellen Probleme gelöst. Er hat so viel
Geld, daß er es kaum ausgeben kann. Aber auch damit gelingt es ihm nicht,
seine Mutter von der Trunksucht zu erlösen.
Was tut Andrej nicht alles, um sie aus diesem Sumpf zu holen! Als alle
Mittel der Schulmedizin nichts helfen, schleppt er sie zu Homöopathen,
Wunderheilern und Handauflegerinnen. Auch das bringt nichts. Manchmal
lebt sie Monate nach einer Entziehungskur nur von Zigaretten, findet aber
immer wieder den Weg zur Flasche zurück. In lichten Momenten sagt sie zu
ihrem Sohn: ›Laß mich in Ruhe, Andrej. Das ist mein Schicksaal – im
Wodka zu ersaufen.‹
›Blödsinn!‹ ruft der Sohn wütend. ›Ich trinke doch auch nicht!‹
›Du kommst nach deinem Vater. Er ist jetzt ein großer Mann‹, bemerkt
Ljuda geheimnisvoll. ›Wie sollte ich wissen, daß er das schafft?‹
›Wer ist mein Vater?‹ fragt Andrej.
›Ein Schriftsteller, Kondrat Rasumow, schreibt Krimis. Du hast dauernd
welche in der Hand!‹
Andrej ist wie vor den Kopf geschlagen.
›Du schwindelst doch!‹
›Bei Gott, das ist die Wahrheit!‹ Ljuda bekreuzigt sich. ›Ich habe Briefe
von ihm. Sieh, hier. Geh hin und mach dich mit ihm bekannt!‹
In jener Nacht wälzt sich Andrej auf seinem seidenen Bettlaken hin und
her und kann keinen Schlaf finden. Er kennt seine Mutter nur betrunken und
hat daher geglaubt, sie wüßte gar nicht, welcher Mann ihr das Kind
gemacht hat. Und nun so etwas. Davon konnte man glatt den Verstand
verlieren.
Einerseits will er seinen Vater furchtbar gern kennenlernen, andererseits
fürchtet er, der werde ihn gar nicht über seine Schwelle lassen. Er geht zu
einer Lesung von Kondrat Rasumow am Arbat. Er holt sich sogar ein
Autogramm von ihm, wagt aber nicht, ihn anzusprechen.
Kondrats Romane liebt er über alles und kauft ausnahmslos jeden.
Dann stirbt Ljuda, und Andrej hat die Idee, sich in der Nachbarwohnung
seines Vaters niederzulassen. Das ist nicht schwer. Die alte Dame, die dort
wohnt, hat er bald überredet. Dann nimmt er vorsichtig zu Kondrat Kontakt
auf – in aller Zurückhaltung, wie ein richtiger Nachbar.
Rasumow gefällt der Bursche, er unterhält sich gern mit ihm. Mehrmals
ist Andrej drauf und dran, seinem Vater alles zu gestehen, ihm Ljudas Foto
und seine Briefe zu zeigen. Aber ihn hält die Angst zurück, Kondrat könnte
böse werden und die mit so viel Mühe aufgebaute Nähe wäre dahin.
Dann wird Kondrat ermordet. Andrej meint, er müsse sich jetzt mit seiner
Halbschwester anfreunden. Er will sich schon selber als Gast einladen, da
passiert das Unglück mit Pingu, und er kann ihr endlich einen Gefallen
tun.«
»Andrej!« fragte ich streng. »Jetzt aber raus mit der Sprache, wieso war
die Stoßstange deines Lincoln voller Blut?«
»Ich habe einen Hund überfahren!«
»Stimmt das?«
»Ja«, mischte sich Wolodja ein. »So war es. Am nächsten Tag ist er noch
einmal hingefahren und hat die Besitzerin ausfindig gemacht. Es war ein
kleines Mädchen. Er hat ihr einen neuen Hund gekauft.«
»Und warum hast du den Jeep dann weggegeben?«
»Ich habe Hunde so gern«, bekannte unser Nachbar schüchtern. »Ich bin
einfach verrückt auf sie. Ich konnte die Kiste nicht mehr fahren. Mir wurde
schlecht, wenn ich mich ans Steuer setzte!«
»Lüg nicht!« unterbrach ich ihn scharf. »Der Wagen wurde in einer
Garage nicht weit von unserem Haus auseinandergenommen.«
»Woher wissen Sie das?« fragte er niedergeschmettert.
»Das tut nichts zur Sache.«
»Der Lincoln war geklaut«, druckste Andrej. »Alte Kumpels aus
Petersburg hatten ihn für irgendeinen Knacker besorgt. Dem gefiel die
Farbe nicht, und er hat ihn nicht genommen. So haben die ihn mir für einen
lächerlichen Preis angeboten. Da habe ich zugegriffen. Als dann die Sache
mit dem Hund passiert ist, habe ich die Karre den Jungs wieder in die
Garage gebracht, wo sie sie so rasch wie möglich auseinandergenommen
haben. Zu verkaufen war sie eh nicht mehr.«
»Und warum hast du mir dann erzählt, du hättest den Wagen verkauft?«
»Na, Tanja«, jammerte Andrej, »Sie sind so streng, daß ich mir kaum den
Mund aufzumachen traue! Dauernd verbessern und belehren Sie mich!
Hätte ich Ihnen sagen sollen, daß der Lincoln geklaut ist? Was hätten Sie
dann wohl getan? Aber der Volvo ist ehrlich gekauft, in einem Autosalon,
das schwöre ich.«
»Und warum hast du den ›Lincoln‹ nicht in deiner eigenen Werkstatt
auseinandernehmen lassen?«
»Die Garage gehört doch auch mir«, erklärte Andrej. »Dort dürfen meine
Jungs üben und auch mal was kaputtmachen.«
Alle schwiegen betreten.
»Noch eine kleine Frage.«
»Was für eine?« erkundigte er sich vorsichtig.
»Woher wußtest du, daß Wanja auf Kondrat geschossen hat?«
»Lisa hat’s mir erzählt.«
Ich fuhr hoch wie von der Tarantel gestochen.
»Lisa? Wir waren doch zu absolutem Schweigen verpflichtet!«
»Meinem Bruder kann ich alles sagen«, warf das Mädchen hin.
»Als du dich verquatscht hast, wußtest du doch noch gar nicht, daß er dein
Bruder ist!«
»Laß gut sein«, brummte Wolodja. »Die Pädagogik kommt später. Andrej
ist jetzt sauber!«
Ȇberhaupt nicht! Er hat mich umzubringen versucht! Warum hat er das
gemacht? Der Hund hat ihm leid getan, aber Tanja wollte er auf die Hörner
nehmen!«
»Was ist denn das für ein Scheiß!« brüllte unser Nachbar mich an. »Onkel
Wolodja, klären Sie sie auf!«
Ich freute mich innerlich. Jetzt würde der Major ihm zeigen, was für ein
Onkel er war! Aber der erklärte in aller Ruhe: »Juri Gryslow wollte von
Andrej, daß der dich umbringt. Andrej hat genau das Richtige gemacht. Er
hat so getan, als stimme er zu, aber auf der Stelle Mitrofanow eingeweiht.
So beschlossen sie, um Gryslow nicht zu irritieren, den Anschlag
vorzutäuschen. Andrej ist ein hervorragender Autofahrer, einfach ein As am
Steuer. Dir ist ja nichts passiert, aber es sah alles ganz echt aus.«
»Na, ihr seid mir vielleicht welche!« schrie ich, außer mir vor Zorn. »Ich
hätte tot sein können, wäre da nicht der Friseursalon gewesen!«
»Ich bin an Ihnen vorbeigeschossen«, sagte Andrej in aller Ruhe. »Um
Haaresbreite, aber vorbei!«
»Und warum hat Mitrofanow, der Tunichtgut, mir nichts von alledem
gesagt?«
»Er wollte Gryslow in Sicherheit wiegen. Der war inzwischen zu seinem
Hauptverdächtigen avanciert, es fehlten nur noch wenige Einzelheiten.«
»Warum habt ihr euch dann überhaupt auf den Anschlag eingelassen?«
brüllte ich und fuchtelte wütend mit den Armen in der Luft herum. »Seid
ihr denn alle verrückt geworden?«
»Durchaus nicht«, widersprach Wolodja. »Andrej sagte Gryslow, du seiest
ihm durch einen Zufall entkommen, und er werde es noch einmal
versuchen.«
»Weshalb?!«
»Damit Gryslow nicht einen anderen anheuert, der dich ganz bestimmt ins
Jenseits befördert hätte!« Der Major verlor allmählich die Geduld. »Denk
doch auch mal darüber nach, wie der Bürger Kasin zu dir stehen muß, wenn
er bei seiner Biographie aus eigenem Antrieb zur Miliz gegangen ist!«
»Na, na!« warf Andrej stirnrunzelnd ein, »ich wäre nie zu den Bullen
gerannt, aber dann ging es nicht mehr anders. Die Frage stand doch so:
Entweder ich Gryslow oder er Sie, Tanja. Und mit Mord habe ich noch nie
was zu tun gehabt, das können Sie mir glauben. Deswegen bin ich zu den
Bullen gelaufen. Mitrofanow hat sofort begriffen, was los war. Da
beschimpfen Sie den Falschen!«
Ich stürzte ein riesiges Glas Wasser mit einem Schluck hinunter.
»Aber eins verstehe ich immer noch nicht. Warum wollte Juri
ausgerechnet mich umbringen?«
Wolodja seufzte tief auf. »Das ist eine andere Geschichte.«
»Bitte«, flehten Lisa und ich im Chor, »wir müssen es wissen.«
»Also gut«, sagte der Major.
32. Kapitel