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*
Am nächsten Morgen hatte Christopher Schloß Ettingham
verlassen. Alexa wußte nicht, wohin er gefahren war. Niemand
wußte es.
Es war ihr, als senkten sich die Mauern des Schlosses auf sie
herab, um sie zu erdrücken. Sie mußte hinaus ins Freie, über
die Wiesen reiten und den Schatten entfliehen, die sie zu
verfolgen drohten.
Auch Olivia verspürte das Bedürfnis, denn wieder waren ihr
die Weiße Frau und der düstere Fremde im Traum erschienen.
Aber sie war doch realistisch genug, zuvor zu frühstücken.
Rose hatte wieder ihr Bestes getan. Sie erkundigte sich heute
jedoch, ob ihre Kochkünste Olivias Geschmack entsprächen.
»Ganz und gar«, erwiderte Olivia munter. »Ich habe einen
gesegneten Appetit, Rose.«
»Hoffentlich vergeht er Mylady nicht«, murmelte Rose. Dann
jedoch verschwand sie sogleich, und Olivia konnte wieder
einmal darüber nachdenken, was das bedeuten sollte.
Sie ließ sich Zeit mit dem Frühstück, dann fragte sie
Archibald, ob ein gutes Pferd vorhanden sei.
Da müsse sie Benjamin fragen, meinte er. Von Pferden
verstünde er nichts, aber es stünden einige im Stall.
Benjamin war ein junger Bursche mit rostbraunem Haar und
sommersprossigem Gesicht, jedoch so wenig redselig wie alle
anderen.
Als sie sich für den Rappen, der seltsamerweise Robin Hood
genannt wurde, entschied, hob er abwehrend die Hände.
Den könne nur Herzog Christopher reiten, erklärte er.
Ob er zu Greenwood oder Ettingham gehöre, erkundigte sich
Olivia.
»Zu Greenwood«, meinte Benjamin. Herzog John hätte ihn
noch aufgezogen. Jetzt wäre er drei Jahre.
»Dann werde ich ihn reiten«, erklärte Olivia. »Greenwood
gehört mir mit allem toten und lebenden Inventar.«
Robin Hood bäumte sich auf, als sie aufsaß, aber sie hielt die
Zügel fest und zwang ihm ihren Willen auf. Er schnaubte,
parierte dann aber. Benjamin schüttelte den Kopf, als sie
langsam davontrabte.
Archibald kam über den Hof. »Du hättest es nicht zulassen
dürfen, Ben«, sagte er bedrückt.
Benjamin zuckte die Schultern. »Sie ist die Herrin«, sagte er.
»Und wenn er sie abwirft?«
»Lady Christian wird über sie wachen«, erwiderte Benjamin.
Hätte Olivia das hören können, wäre sie wohl nachdenklicher
gestimmt gewesen.
Über Robin Hood hatte sie sich nicht zu beklagen. Er folgte
dem leisesten Schenkeldruck. Sie konnte vor sich hin träumen,
doch plötzlich wurde sie diesen Träumen entrissen, denn sie
vernahm eine erregte Stimme.
Sanft zog sie den Zügel an. Lautlos blieb Robin Hood stehen.
Er wieherte nicht und gab kein Zeichen eines Protests.
»Laß mich los, Francis«, sagte eine weibliche Stimme, die
Olivia als die von Alexa erkannte. »Ich will mit dir nichts zu
tun haben. Wie oft habe ich das gesagt.«
»Willst du eine alte Jungfer werden?« erwiderte eine barsche
Männerstimme. »Hab dich doch nicht so. Du bist doch auch
nicht besser als Cynthia. Aber wenn du meinst, daß
Christopher dich heiraten wird, täuschst du dich.«
Olivia nahm es auf, aber sie konnte darüber nicht
nachdenken. Sie überlegte blitzschnell, ob sie verschwinden
sollte, aber wenn Robin Hood dann wieder wieherte, würde
man sie bemerken.
Sie riß die Zügel an, und erschrocken bäumte der Rappe sich
auf und wieherte hell.
»Sei brav«, sagte sie laut und tätschelte ihm zärtlich den
Hals. Der Rappe stand wieder still.
Das Gebüsch teilte sich. Alexa stand vor ihr. Ihre Augen
waren schreckgeweitet.
»Sie reiten Robin Hood?« stammelte sie atemlos.
»Warum nicht?« fragte Olivia spöttisch. »Ich denke, daß er
jetzt auch mir gehört.«
»Sicher«, erwiderte Alexa tonlos. »Reiten wir zu Ettingham
hinüber, Olivia?«
»Soll ich dem Herzog einen Besuch abstatten?« fragte sie
anzüglich, aber Alexas bittender Blick irritierte sie.
»Möchten Sie Lady Winters nicht guten Tag sagen, Sir
Fleming?« fragte Alexa jetzt über die Schulter hinweg.
Mit seinem charmantesten Lächeln drängte sich Francis
Fleming nun ebenfalls durch das Gebüsch.
»Sehr erfreut, Sie so bald wiederzusehen«, sagte er galant.
»Zwei hübsche junge Damen an einem Morgen sind fast zuviel
für einen einsamen Land-Edelmann. Darf ich sie bald in
Bradford-Castle begrüßen, Mylady? Gestern hatte ich keine
Ahnung, die Tochter einer Bradford vor mir zu haben, sonst
hätte ich Sie mit gebührender Hochachtung begrüßt. Ich fühle
mich sehr wohl in Bradford-Castle, wenn Sie dies Ihrer
verehrten Frau Mutter berichten wollen.«
Wieder sah Olivia einen blonden Jüngling vor sich. Viel hatte
er mit diesem Francis Fleming nicht mehr gemein, dessen
Gesicht die Spuren eines bewegten Lebens aufwies, was ihr
jedoch erst jetzt bewußt wurde.
Aber sie vermeinte seine Stimme zu hören, die da sagte:
»Warum regst du dich auf, liebste Mary? Cynthia hat
keinerlei Skrupel, also brauchst du nachträglich auch keine zu
haben.«
Ihr Gesicht war maskenhaft erstarrt. Fünf Jahre mußte sie
damals gewesen sein, und genau erinnerte sie sich des Tages,
an dem ihre Mutter Francis Fleming Bradford-Castle verkauft
hatte. Es war seltsam, daß Kindheitserinnerungen so haften
bleiben konnten, um eines Tages wieder lebendig zu werden.
Sie maß den Mann mit einem unergründlichen Blick.
»Christopher ist verreist«, tönte Alexas Stimme an ihr Ohr.
»Es würde mich freuen, wenn Sie mich begleiten würden,
Olivia.«
»Mich würde es freuen, wenn Sie Bradford-Castle bald einen
Besuch abstatteten, Lady Olivia«, sagte Francis Fleming.
»Olivia! Welch ein wunderschöner Name. Man fühlt sich in
eine tropische Landschaft voll köstlichen Zaubers versetzt.«
»Warum leben Sie dann in Schottland, wenn Ihnen dies so
gefällt?« fragte Olivia hintergründig. »Good bye, Sir
Fleming.«
»Ich habe Sie vor ihm gewarnt, Olivia«, sagte Alexa leise, als
sie durch den Wald ritten, »aber machen Sie sich ihn nicht zum
Feind.«
»Ich lasse mich nicht einschüchtern«, erwiderte Olivia
gelassen, »nicht von Geistern und auch nicht von einem
Francis Fleming. Haben Sie Angst vor ihm, Alexa?«
»Angst? Ich hasse ihn.«
»Oh«, kam es gedehnt über Olivias Lippen. »Sie werden Ihre
Gründe dafür haben«, fügte sie dann rasch hinzu.
»Die habe ich«, erwiderte Alexa. »Bitte, begleiten Sie mich
nach Ettingham, Olivia.«
Sie hat doch Angst, dachte Olivia und stimmte zu. Vielleicht
konnte sie mehr über Francis Fleming erfahren.
»Es tut mir leid«, sagte Olivia, nachdem er gegangen war. »Ich
wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«
Dann kam sie auf das Gemälde zurück.
»Ich habe heute nacht die Chronik studiert«, erzählte sie
beiläufig. »Darüber bin ich eingeschlafen, aber bevor ich zu
Ihnen kam, las ich noch, daß Lady Alexa nie wieder
aufgetaucht ist und daß ihre Kinder in Südengland erzogen
wurden.«
»Von einer Lady Bradford«, nickte Alexa. »Wie Sie sehen,
gab es auch zwischen unseren Vorfahren schon eine
freundschaftliche Verbindung. Könnten wir Freundinnen sein,
Olivia?«
»Freundinnen sollten offen zueinander sein«, sagte Olivia
gedankenvoll.
»Das möchte ich gern sein, obgleich ich fürchte, daß Sie
manches nicht verstehen könnten.«
»Ich kann es immerhin versuchen«, meinte Olivia sinnend.
»Wollen Sie das Erbe annehmen, Olivia?«
»Ja«, erwiderte sie bestimmt. »Ich war zuerst schwankend,
aber jetzt reizt es mich. Für mich stehen sehr viele Fragen
offen. Vielleicht können Sie mir manche Antwort geben,
Alexa.«
»Wenn es mir möglich ist? Was Christopher anbetrifft, kann
ich nicht viel sagen.«
»Mich würde mehr interessieren, warum meine Mutter
Bradford-Castle an Francis Fleming verkauft hat«, murmelte
Olivia.
Überrascht blickte Alexa sie an. »Das allerdings kann ich
Ihnen auch nicht sagen. Aber könnte Ihre Mutter Ihnen diese
Frage nicht beantworten?«
»Nein, sie weicht aus. Früher habe ich dem keine Bedeutung
beigemessen, da sie immer sagte, daß sie lieber in Frankreich
leben wolle. Ich hatte keine Bindung an Mamas Heimat, und
mein Vater haßte Schottland. Ich denke, daß der Grund Sir
William war.«
Alexa sah zu Boden. »Was wissen Sie, Olivia?« fragte sie
leise.
»Daß meine Mutter Sir William liebte«, erwiderte Olivia.
»Aber er war verheiratet mit einer sehr schönen Frau.«
Alexa legte den Finger auf den Mund. »Christopher könnte
zurückkommen«, flüsterte sie. »Sprechen Sie nicht darüber. Es
ist wohl doch besser, wenn ich Sie in Greenwood-Hall
besuche.«
Ein Frösteln kroch durch Olivias Körper. »Was bedeutet
Ihnen Christopher?« fragte sie leise.
Alexa wandte ihr Gesicht ab. »Sehr viel«, erwiderte sie mit
belegter Stimme. »Wir brauchen uns. Nein, ich kann es Ihnen
nicht erklären. Ich muß erst mit ihm sprechen, Olivia. Dazu
hatte ich heute morgen keine Gelegenheit.«
»Dann werde ich jetzt fahren«, sagte Olivia nachdenklich.
»Vielleicht sehe ich Sie bald in Greenwood-Hall, wenn Sie
nicht Angst haben, das Bildnis der Dame in Weiß zu sehen.«
Alexa ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. »Francis
Fleming wird Ihnen bestimmt bald einen Besuch machen«,
murmelte sie. »Lassen Sie sich nicht durch seinen Charme
täuschen, Olivia. Ich flehe Sie an, ihm nicht zu trauen. Aber
zeigen Sie ihm das Bild.«
Was sollte das nun wieder bedeuten? Olivia dachte darüber
nach, aber ihre Gedanken irrten ab, als sie einen Reiter
bemerkte, der ihr den Weg versperrte. Wieder einmal stand
Christopher vor ihr. Ein spöttisches Lächeln lag über seinem
harten Gesicht.
»Die Plauderei schon beendet?« fragte er anzüglich. »Junge
Damen finden sonst doch eigentlich kein Ende. Ich hörte, daß
Sie Robin Hood geritten haben, Lady Winters. Nehmen Sie
sich in acht, daß er Sie nicht abwirft. Ich würde es
außerordentlich bedauern, wenn Sie Ihr junges Leben
ausgerechnet hier beenden müßten.«
»Sollten Sie sich darüber nicht eher freuen, Sir?« fragte sie
empört. »Dann fällt Greenwood-Hall doch an Sie zurück.«
Er preßte seine Lippen aufeinander. »Ich habe andere Pläne
mit Greenwood-Hall«, stieß er heftig hervor. »Sie werden es
zu gegebener Zeit erfahren, Lady Olivia. Im übrigen möchte
ich mich bedanken, daß Sie Lady Alexas Bild den Platz
zugewiesen haben, der ihm zusteht. Sie haben einen guten
Instinkt.«
Er hob grüßend die Reitgerte und preschte an ihr vorbei.
Olivia blieb noch einige Zeit stehen. Er war also in
Greenwood-Hall gewesen, und Archibald mußte ihm das Bild
gezeigt haben. Seine Bemerkung gab ihr zu denken. Doch nun
kehrten ihre Gedanken zu Alexa zurück.
Sie lebte mit Christopher unter einem Dach. Sie hatte gesagt,
daß sie einander brauchten. Warum heirateten sie nicht?
Dieser Gedanke ließ ihr das Blut in den Adern erstarren.
Ein nie gekanntes Gefühl ergriff von ihr Besitz und lähmte
sie.
Das ist Wahnsinn, dachte sie. Ich kann doch für diesen Mann
nichts empfinden. Es ist nur seine Ähnlichkeit mit Sir William,
die mich für ihn einnimmt, obgleich ich ihn doch hassen
müßte.
Sie war froh, als sie wieder in Greenwood-Hall war. Lange
stand sie vor dem Gemälde der Dame in Weiß.
Dann ging sie in ihr Zimmer und schrieb einen langen Brief
an Robin Hatton, ihren Jugendfreund. Sie brauchte jemanden,
bei dem sie Halt suchen konnte.
Eine Woche hatte Olivia Alexa nicht gesehen und nichts von
ihr gehört. Täglich war sie auf Robin Hood geritten.
An diesem schönen Maiensonntag nun wartete bei ihrer
Rückkehr Francis Fleming auf sie. Er mußte kurz zuvor
angekommen sein, denn er stand noch mit Archibald in der
Halle. Olivia hatte das Gefühl, daß sich zwei Feinde
gegenüberstünden.
»Lady Olivia – wie hübsch, daß Sie kommen«, sagte Francis
Fleming mit seinem charmantesten Lächeln, das für Olivia
unwillkürlich eine Warnung war.
Archibald verschwand, aber Olivia fing noch einen
bedeutsamen Blick von ihm auf, in dem ein Flehen zu lesen
war.
Olivia war es plötzlich, als stünde Alexa neben ihr. Nicht
Alexa Darrien, sondern Alexa Wyatt. Sie sagte gar nicht das,
was sie eigentlich sagen wollte. Sie befand sich nicht mehr in
der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit.
»Bitte, treten Sie doch ein, Sir Fleming«, vernahm sie ihre
eigene Stimme.
Sie öffnete die Tür zum blaugoldenen Salon. Ein Lächeln auf
den Lippen, trat Francis Fleming ein, doch das Lächeln wurde
zu einer Grimasse, und er sah aus, als hätte man ihm einen
Schlag versetzt.
Mit schreckensvoll geweiteten Augen starrte er das Bildnis
der Dame in Weiß an.
»Kennen Sie es nicht?« hörte sich Olivia mit klirrender
Stimme fragen. »Es ist Lady Alexa Wyatt. Die Ähnlichkeit mit
Lady Darrien ist doch verblüffend. Deswegen habe ich es hier
aufhängen lassen.«
Es dauerte Sekunden, bis er sich halbwegs gefangen hatte.
»Sie haben Mut, Lady Olivia«, stieß er hervor.
»Mut?« Sie lachte auf. »Glauben Sie etwa auch an Geister?
Ich finde, daß sie eine bezaubernd schöne Frau war, die man
nicht in einem dunklen Kämmerlein verschließen sollte. Du
lieber Gott, ich möchte nicht wissen, was der Volksmund für
Sagen um sie gewoben hat. Ich bin jedenfalls nicht
abergläubisch.«
»Man darf das Unglück nicht heraufbeschwören«, sagte er
dumpf. »Ich wollte Ihnen auch nur einen Höflichkeitsbesuch
machen und Sie bitten, am nächsten Sonnabend nach
Bradford-Castle zu kommen. Unsere Nachbarn brennen
natürlich darauf, die Tochter von Lady Mary Winters
kennenzulernen.«
Olivia zwang sich zu einem Lächeln. »Ich werde gern
kommen«, erwiderte sie fast gegen ihren Willen. »Wie nett,
daß Sie mir die Einladung selbst überbracht haben. Werden
Herzog Christopher und Lady Archibald auch erscheinen?«
Francis Fleming war noch immer fahl. »Einladen werde ich
sie jedenfalls«, entgegnete er. »Sie sind allerdings nicht sehr
gesellig.«
»Oh, ich liebe Geselligkeit«, lächelte Olivia. »Darf ich
gegebenenfalls noch einen Gast mitbringen? Ich erwarte
Besuch.«
Die Falte in seiner Stirn vertiefte sich. »Männlichen
Besuch?« fragte er impulsiv.
»Lord Hatton«, erwiderte sie gelassen.
»Ihr zukünftiger Mann?« fragte er unbeherrscht.
»Vielleicht«, entgegnete sie mit einem rätselhaften Lächeln.
Warum hatte sie das gesagt?
Dieses Haus – oder war es die Landschaft? – mußte einen
eigentümlichen Zwang auf sie ausüben, der Gedanken
heraufbeschwor, die ihr sonst niemals gekommen wären.
»Robin, oh, Robin, wie freue ich mich«, rief Olivia aus, als
Robin aus seinem Wagen sprang. Freude und Erleichterung
erhellte ihr Gesicht, als sie ihn umarmte. Sie hatten keine
Ahnung, daß sie beobachtet wurden.
Christopher, der sich nach seinem Besuch bei Francis
Fleming entschlossen hatte, Olivia aufzusuchen, seinen Wagen
aber an der Straße hatte stehen lassen, wich in den Schatten der
Bäume zurück. Er sah, wie das junge Paar Arm in Arm das
Haus betrat.
»Ich habe so sehr auf dich gewartet«, sagte Olivia atemlos.
Robin betrachtete sie nachdenklich. »Wenn du dich ängstigst,
warum bleibst du dann hier, Olivia?« fragte er.
»Ich ängstige mich nicht. Ich brauche nur einen Menschen,
mit dem ich einmal vernünftig über alles sprechen kann. Hier
knistert alles nur so von Geheimnissen, die ich ergründen
will.«
»Also ist Olivia mal wieder auf Abenteuersuche«, lächelte er.
»Die brauche ich nicht zu suchen. Ich bin mitten drin«,
entgegnete sie munter.
Sie hatte die Tür zum blaugoldenen Salon geöffnet.
Archibald ließ sich seltsamerweise nicht blicken, aber das
wurde Olivia gar nicht bewußt. Robin war da, und sie war
überglücklich.
Doch jetzt stand Robin da und starrte das Bild der Dame in
Weiß an. Er schien Olivias Anwesenheit vergessen zu haben.
»Der Geist von Ettingham«, murmelte er. »Wie kommt das
Bild hierher?«
»Das erzähle ich dir alles später. Ich wußte nicht, daß du das
Bild kennst.«
Daß es ein lebendiges Ebenbild gab, wollte sie ihm nicht
gleich sagen. Es gab so vieles zu erzählen, was in der
Gegenwart geschah, und er erinnerte sich, daß er sie auf den
Besuch ihrer Mutter vorbereiten mußte.
»Du hast Mama gesprochen?« fragte sie erstaunt. »Wie geht
es ihr?
Ich warte schon lange auf Post von ihr.«
»Sie wird bald selbst hier sein«, erwiderte er. »Sie hat die
Reise in Edinburgh unterbrochen.«
»Um Sir William aufzusuchen?« fragte Olivia gedankenvoll.
Er nickte. »Sie macht sich Sorgen um dich, Olivia, und ich,
offen gestanden, auch.«
»Sorge bereitet mir eigentlich nur Christopher«, bemerkte sie
gedankenvoll. »Er will mich vertreiben.«
»Dann brauchst du mich als Schutz vor ihm?« fragte Robin*
»Ach, so will ich es auch nicht sagen«, meinte sie leichthin.
»Da ist auch noch Francis Fleming, aus dem ich nicht klug
werden kann.«
»Männer über Männer«, scherzte er, um belustigt mit dem
Finger zu drohen.
»Der eine ist mehr als abweisend, der andere ein wenig zu
aufdringlich. Wir sind morgen übrigens zu einer Party bei ihm
eingeladen.«
»Bei Christopher?«
»Nein, bei Fleming.«
»Wieso wir?« fragte er darauf.
»Weil ich hoffte, daß du dann hier sein würdest. Ich habe ihm
gesagt, daß ich einen Bekannten mitbringen würde.«
»Und warum willst du überhaupt hingehen?«
»Weil ich Bradford-Castle wiedersehen will.«
»Ob es deiner Mutter recht sein wird, Olivia?« fragte er
zweifelnd.
Sie runzelte die Stirn. »Ich möchte wissen, warum Mama ihm
Bradford-Castle verkauft hat. Ich möchte alles ergründen,
Robin. Das, was damals vor dreihundert Jahren geschah, und
das, was heute geschieht. Es ist wie ein Zwang. Ich komme
nicht mehr davon los. Ich träume schon davon.«
In diesem Moment nahte schon wieder ein Wagen, und gleich
darauf vernahm Olivia einen Aufschrei. Es war Rose, die Lady
Winters entgegeneilte.
Es war ein zu Herzen gehendes Bild, das Olivia vom Fenster
aus beobachten konnte. Rose war vor ihrer Mutter
niedergekniet und küßte ihr die Hände. Mary zog sie empor
und umarmte sie.
»Meine gute Rose«, sagte sie leise, »wie freue ich mich, dich
gesund wiederzusehen.«
Das konnte Olivia nicht hören, obgleich sie nun auch
hinausgegangen war, um ihre Mutter zu begrüßen. Aber ihr
zuvor kam noch Archibald, und eine ähnliche Begrüßung wie
zuvor mit Rose spielte sich ab.
Sir William, der diese Szenen mit bewegter Miene betrachtet
hatte, kam jetzt auf Olivia zu.
»Hoffentlich ist es auch für dich eine freudige Überraschung,
mein Kind«, sagte er heiser.
Die vertraute Anrede irritierte Olivia augenblicklich.
»Sir William«, stammelte sie, aber er nahm sie in die Arme
und küßte sie auf die Wange. »Es ist, trotz allem, ein
glücklicher Tag für mich, Olivia«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Bitte, betrachte auch du mich als deinen Freund.«
Wirre Gedanken gingen Olivia durch den Sinn. Wieso
kannten Archibald und Rose ihre Mutter? Warum war diese
Wiedersehensfreude so erschütternd? Endlich konnte auch sie
ihre Mutter umarmen.
Mit Tränen in den Augen waren Rose und Archibald ins
Haus zurückgegangen. Mary blickte ihnen ebenfalls mit
feuchten Augen nach.
»Sie waren früher in Bradford-Castle«, sagte sie
gedankenverloren. »Sie kannten mich schon als Kind.«
»Warum hast du es mir nie erzählt, Mama?« fragte Olivia.
»Die Zeit war nicht reif«, erwiderte Mary Winters rätselhaft.
Ich liebe ihn, dachte Olivia. Ich will nicht, daß dies nur ein
kurzer Traum war.
»Olivia, was ist geschehen?« tönte Alexas besorgte Stimme
an ihr Ohr. Eine warme natürliche Stimme und ganz gewiß
nicht die einer geistig Umnachteten. Was hatte sie sich da nur
alles ausgedacht.
Sie schlug die Augen auf und blickte in ein liebevoll
besorgtes Gesicht. Eine kühle Hand streichelte ihre Wange.
»Ich bin vom Pferd gefallen«, murmelte sie.
»Und Christopher hat dich glücklicherweise gefunden«, sagte
Alexa. »Ich darf doch du sagen?«
Sie würde es nicht tun, wüßte sie, wessen ich sie verdächtigt
habe, ging es Olivia durch den Sinn.
Ein glückliches Lächeln legte sich um den schönen Mund der
anderen, als sie du sagte.
»Wir sehr du Alexa Wyatt gleichst«, meinte sie
gedankenverloren. Das Lächeln wich.
»Es ist ein schicksalhaftes Vermächtnis, Olivia. Erinnere
mich bitte nicht daran«, flüsterte Alexa.
»So schicksalhaft, daß du ihre Rolle spielst?« fragte Olivia
rasch.
Alexa wich zurück. »Wie meinst du das?« fragte sie gequält.
»Die Dame in Weiß ist Robin erschienen, aber ich glaube
nicht an einen Geist. Ich glaube, daß du es gewesen bist,
Alexa. Aber warum? Bitte, sag es mir. Ich muß es wissen. Wir
machen uns alle konfus mit diesen Geistergeschichten.«
»Wer ist Robin?« fragte Alexa.
»Mein Freund – fast ein Bruder und an sich ein sehr
realistischer junger Mann. Aber wenn man einen schönen
Geist sieht und dann auch noch einen Fetzen Spitzenstoff
findet, glaubt selbst ein solcher an Gespenster. Bitte, Alexa,
sage es mir. Ich muß es wissen. Ich will dir doch helfen, wenn
dies möglich ist.«
Ein minutenlanges Schweigen war zwischen ihnen. »Du wirst
mich nicht verraten, Olivia?« fragte Alexa dann. »Schwöre es
mir!«
»Ich schwöre es«, erwiderte Olivia feierlich.
»Die Flemings haben nur eine Schwäche«, begann Alexa.
»Abgesehen von Frauen, möchte ich hinzufügen. Sie sind
abergläubisch. Vor lebenden Wesen haben sie keine Angst,
aber vor den Toten, vor denen sie sich fürchten müssen, weil
sie ein schlechtes Gewissen haben. Vielleicht hat Francis
Fleming gar kein Gewissen, aber eines weiß ich ganz sicher,
vor dem Geist Alexa Wyatts hat er Angst. Ich muß diese Rolle
spielen, Olivia. Alexa Darrien kann ihn nicht einschüchtern.
Alexa Wyatt kann es.«
»Redest du dir das nicht nur ein?« fragte Olivia betroffen.
»Ich werde es dir beweisen, wenn du willst.«
»Wann?«
»Heute abend in Bradford-Castle. Du wirst gegen Mitternacht
mit Francis Fleming in der Bibliothek sein. Wie du es
fertigbringst, mußt du dir selbst ausdenken. Vielleicht kannst
du sagen, daß du gern das Bild deiner Mutter sehen möchtest.
Du wirst auch noch ein anderes sehen. Cynthias! Und ihm wird
der Geist von Alexa Wyatt erscheinen.«
»Mir dann doch auch«, sagte Olivia beklommen.
»Oh, du ahnst nicht, wie sehr ich die Stunde herbeigesehnt
habe, daß ihm dieser Geist unter Zeugen erscheinen kann,
Olivia. Glaubst du nun auch, daß ich verrückt bin?«
»Wer glaubt es?« fragte Olivia atemlos.
Alexa sah sie sinnend an. »Zumindest Francis Fleming«,
erwiderte sie. »Aber geheiratet hätte er mich dennoch. Und
dann hätte er mich umgebracht, wie George Fleming Alexa
Wyatt umgebracht hat.«
Olivia hob abwehrend die Hände. »Du darfst es nicht sagen,
Alexa«, stöhnte sie. »Niemand weiß doch, wie sie
umgekommen ist.«
»Ich weiß es«, erwiderte Alexa bestimmt. »Ich werde es dir
einmal erzählen.«
*
Mary war schon wach gewesen, als Olivia weggeritten war.
Wann werden wir wieder ruhig schlafen können, dachte sie,
aber dann wurde ihr bewußt, daß sie sich ungestört mit Alexa
Wyatts Chronik beschäftigen konnte, bis Olivia zurückkam.
In ihrem leichten Hausgewand setzte sie sich an den
Schreibtisch. Es war schwer, diese verblichene Schrift zu
entziffern, so deutlich auch jeder Buchstabe geschrieben war,
als hätte die Schreiberin bei jedem gezögert, ihm einen neuen
hinzuzufügen.
Liebe kannte keine Zeit, damals wie heute und wie es wohl in
aller Zukunft sein würde, auch wenn Mary daran manchmal
gezweifelt hatte.
Alexa Wyatt hatte Herzog Albert geliebt, wie sie selbst
William liebte, und sie hatte ihm alles verziehen, auch daß er
sie der Treulosigkeit beschuldigt hatte.
»Gott möge ihm verzeihen«, schrieb sie, »ich weiß, daß er
nicht glauben kann, daß ein Edelmann solcher Taten fähig sein
kann wie George Fleming. Ich brauche keinen Rächer, ich
werde selbst Rache üben an dem, der mein Glück zerstört hat.
Ich habe die Geheimtür zur Bibliothek gefunden, durch die ich
ungesehen entkommen kann. Möge Gott auch mir verzeihen,
was ich tun will.«
Das waren ihre letzten Worte, und kaum hatte Mary sie
gelesen, klopfte es an ihre Tür, und Archibald meldete den
Besuch des Herzogs von Ettingham.
»Das kann doch nicht möglich sein. Es ist noch nicht einmal
neun Uhr«, flüsterte sie.
»Er möchte Mylady eine dringende Nachricht überbringen«,
sagte Archibald leise.
Olivia! Ihr ist etwas passiert, dachte Mary erregt. Sie sprang
auf. »Ich bin gleich unten«, stieß sie tonlos hervor.
Keinen einzigen Gedanken verschwendete sie daran, was
zwischen ihr und Christopher stehen könnte. In fliegender Hast
kleidete sie sich an und eilte die Treppe hinab.
Sie dachte auch nicht daran, was der Mann bei ihrem Anblick
empfinden könnte.
»Ist Olivia etwas geschehen?« fragte sie mit erstickter
Stimme. »Bitte, so sprechen Sie doch, Christopher.«
Es fiel ihm schwer, ein Wort über die Lippen zu bringen.
Diese Frau hatte er viele Jahre gehaßt, blindlings gehaßt, ohne
sie zu kennen, und nun? Er konnte nicht weiterdenken. Er sah
in diese schreckensvollen Augen und sagte rasch: »Olivia ist
nichts geschehen. Sie stürzte vom Pferd, doch
glücklicherweise war ich in der Nähe.«
Und ich habe sie geküßt, dachte er. Ich konnte nicht anders.
Sie war genauso schön wie ihre Mutter.
So schön wie ihre Mutter! Er sah, wie Mary schwankte, und
stützte sie.
»Bitte, regen Sie sich nicht auf, Mylady«, murmelte er. »Ich
habe Olivia nach Ettingham gebracht und sie Alexas Obhut
überlassen.«
Vater liebt sie noch immer, ging es ihm durch den Sinn. Es
konnte nicht anders sein. Diese Frau konnte man nicht
vergessen.
Mit tränenfeuchten Augen blickte sie zu* ihm auf. »Ich
danke Ihnen, Christopher«, flüsterte sie. »Es wäre schrecklich,
wenn Olivia…« Sie geriet ins Stocken, »wenn das Unglück…
ach, ich bin so verwirrt, verzeihen Sie. Ich liebe mein Kind
sehr. Und ich möchte Ihnen herzlich danken, daß Sie sich
selbst bemüht haben, mir die Nachricht zu bringen.«
Nun streckte sie ihm die Hand entgegen, die er ergriff, um
sich tief darüber zu beugen und sie an seine Lippen zu führen.
Als er sich aufrichtete, war sein Gesicht sehr ernst, aber doch
entspannt.
»Mylady, ich möchte Sie um Verzeihung bitten für eine
ungerechtfertigte Einstellung, die ich heute tief bedaure, für die
Sie mich verachten müßten, und…«
»Bitte, sprechen Sie nicht weiter«, fiel sie ihm ins Wort.
»Wie könnte ich Sie verachten, den Sohn des ritterlichsten
Mannes, der mir je begegnet ist.«
»Der Sohn hat sich dieser Ritterlichkeit nicht würdig
gezeigt«, erklärte er selbstironisch. »Doch wenn diese frühe
Tagesstunde einer solchen Erklärung auch nicht angemessen
ist, möchte ich Sie um die Hand ihrer Tochter bitten.«
Marys Augen weiteten sich staunend. Ungläubig blickte sie
ihn an.
»Ich verstehe nicht«, stammelte sie verwirrt. »Haben Sie
schon mit Olivia gesprochen?«
»Nein – ich werde es auch nicht tun, wenn Sie mir Ihre
Einwilligung verweigern, wofür ich unter den gegebenen
Umständen Verständnis hätte.«
»Sie wollen Olivia heiraten?« fragte sie gedankenverloren.
»Aber Sie kennen sich doch kaum.«
»Wir werden uns kennenlernen, vorausgesetzt, daß Olivia
einwilligt. Ich werde mich sehr bemühen, ihre Sympathie zu
erringen und das gutzumachen, was ich in unbegreiflichem
Starrsinn angerichtet habe.«
Mary dachte an Herzog Johns Brief. Das Glück wird zu den
Ettinghams zurückkehren! Konnte das Wirklichkeit werden?
Christopher und Olivia, diesen beiden jungen Menschen
konnte das Glück beschieden sein, das William und ihr versagt
geblieben war. Sein Sohn und ihre Tochter. Aber würde
Christopher Olivia lieben? Wollte er nicht nur eine Schuld
sühnen?
»Sprechen Sie mit Olivia, Christopher«, sagte sie leise.
»Meiner Zustimmung dürfen Sie sicher sein.«
*
*
»Ist es nicht makaber, Chris, an deinem Verlobungstag zu
Fleming gehen zu wollen?« fragte Alexa ironisch.
»Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, aber Olivia hat mich
eines Besseren belehrt. Es wird dem Abend einige Würze
verleihen. Die Verlobungsfeier holen wir dann im
Familienkreis nach. Was wirst du anziehen?«
Sein unergründlicher Blick beunruhigte sie. »Ich werde
besser daheim bleiben«, erwiderte sie gepreßt.
»Um dem Tratsch neue Nahrung zu geben?«
Sie warf den Kopf in den Nacken. »Was geht es mich an, daß
sie mich für verrückt halten. Ich weiß, daß ich es nicht bin.
Zweifelst du daran?«
»Alexa, ich bitte dich. Du weißt genau, was ich meine. Diese
abergläubischen Leute meinen doch alle, daß Alexa Wyatt
wiederauferstanden ist.«
»Vielleicht ist sie das«, erwiderte sie rätselhaft. »Gut, ich
werde diese lieben Leute davon überzeugen, daß Alexa
Darrien sehr lebendig ist. Es fragt sich nur, ob sie davon
überzeugt werden wollen. Sie fürchten ihre Geister nicht nur,
sie lieben sie auch, und sie werden sie vermissen, wenn sie
eines Tages verschwinden. Ausgenommen Francis Fleming.«
Sie lachte klirrend. »Er wollte mich doch nur heiraten, um sich
von der Vorstellung zu befreien, daß ich Alexa Wyatts Geist
bin.«
»Gehst du nicht etwas zu weit«, stieß Christopher zwischen
den Zähnen hervor. »Er mag genauso ein Schurke sein, wie
jener andere Fleming gewesen war, aber er ist ein Mensch des
zwanzigsten Jahrhunderts.«
»Du täuschst dich, Christopher. Er weiß wie ich, daß sein
Urahne ein Mörder war. Die Flemings glauben seither daran,
daß sie der Fluch der Alexa Wyatts treffen wird. Hast du nie
darüber nachgedacht, wie sie gestorben sind? Nicht einer eines
natürlichen Todes. Sollte das ein Zufall sein?«
»Bitte, Alexa, befreie dich von diesen Gedanken. Laß das
Vergangene ruhen«, sagte er beschwörend. »Du bist jung, das
Leben liegt vor dir, du bist nicht zur Rächerin bestimmt.«
»Es steht geschrieben«, sagte sie dumpf. »Eine Zigeunerin
hat es geweissagt. Es wird der Tag kommen, an dem Alexa
Wyatt reingewaschen wird und ihre Seele Ruhe findet.«
Mit hartem Griff umschloß er ihre Schultern und schüttelte
sie.
»Wach auf«, sagte er eindringlich. »Warum, um Himmels
Willen, habe ich dich nach Ettingham geholt?«
»Weil es so bestimmt ist«, erwiderte sie tonlos.
Ihm wurde es Angst, als er sie so sprechen hörte. Ja, er
konnte es nicht leugnen, auch er fürchtete um ihren Verstand.
Doch als sie zwei Stunden später in einem wundervollen
Kleid aus grünem Samt die Treppe herunterkam, schalt er sich
töricht. So schön hatte er sie noch nie gesehen.
Ihr Gesicht war betörend, und um ihren Mund lag das
rätselhafte Lächeln der Dame in Weiß.
Mary hatte hin und her überlegt, ob sie William anrufen und
ihn von der Neuigkeit unterrichten sollte. Sie hatte Christopher
dann aber doch nicht vorgreifen wollen.
Nun rief er an, und sie konnte es nicht mehr für sich behalten.
»Ist das wahr?« fragte er atemlos.
»Würde ich es sonst sagen?« gab sie zurück. »Olivia ist
glücklich, und ich glaube, Christopher ist es auch, so
unwahrscheinlich es klingen mag.«
Er wollte sogleich kommen, aber dann war er betroffen, als
sie ihm sagte, daß sie alle zu Francis Flemings Party fahren
wollten.
Nein, er konnte es nicht begreifen, daß sie dies an einem
solchen Tag, der ganz neue Aspekte für die Zukunft eröffnete,
tun wollten.
Ist es nicht eine Herausforderung des Schicksals, fragte er
sich, in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch sitzend.
Noch einige Minuten verharrte er, dann läutete er nach dem
Butler.
»Packen Sie mir einen Koffer«, sagte er. »Ich werde einige
Tage verreisen.«
Aalglatt wie immer war Sir Francis Fleming, als er seine Gäste
begrüßte. Niemand erriet, was hinter dieser undurchsichtigen
Maske vor sich ging.
Nur für einen kurzen Augenblick wurde er unsicher, als der
Butler das Eintreffen des Herzogs von Ettingham ankündigte.
Als er dann aber durch die Tür trat, an einer Seite Olivia, an
der anderen Lady Winters, wurde er fahl.
Das Geplauder verstummte. Man hätte eine Stecknadel zu
Boden fallen hören, so still war es plötzlich geworden.
Alexa und Robin Hatton hielten sich im Hintergrund.
Während Francis Fleming noch nach Fassung rang, setzte ein
Gemurmel ein.
»Mary Bradford – Mary Bradford!« Von überall her tönte es,
und sie wurde umringt, bevor Fleming noch ein
Begrüßungswort sagen konnte.
Robin hielt den Atem an, als Alexa einen Schritt näher zu
dem Hausherrn trat. Nun stand sie zwischen ihm und
Christopher.
»Möchtest du Sir Fleming nicht sagen, daß Lady Marys
Besuch nicht die einzige Überraschung für ihn ist, Chris«,
sagte sie ironisch. »Du hast doch nicht die Absicht, aus deiner
Verlobung mit Olivia ein Geheimnis zu machen.«
Das allerdings traf Fleming wie ein Schlag. Seine Lippen
öffneten sich und schlossen sich wieder, ohne daß er ein Wort
hervorbrachte.
»Nun wissen Sie es, Sir Fleming«, sagte Christopher kalt.
»Ich hoffe, es verdirbt Ihnen den Abend nicht.«
Francis Fleming lachte plötzlich schrill auf. Wieder
verstummten alle und blickten ihn befremdet an.
»Wir werden viel Sekt brauchen, Nat«, rief er dem Butler zu.
»Meine Herrschaften, Ladys und Gentlemen – unser Herzog
von Ettingham hat sich mit Lady Olivia Winters verlobt. Wir
wollen das glückliche Paar hochleben lassen.«
Seine Stimme überschlug sich fast. Wahnsinn brannte in
seinen Augen. Durch Marys Körper kroch eisige Kälte, als sie
ihn anblickte, aber Olivia und Christopher lächelten, als
bemerkten sie es nicht. Sie lächelte so, wie man es von einem
glücklichen Paar erwartete.
In dem allgemeinen Trubel zollte man Fleming keine
übermäßige Aufmerksamkeit. Nur Alexa stand an der Säule
gelehnt und ließ ihn nicht aus den Augen, und Robin wiederum
ließ sie nicht aus den Augen.
Ihr Gesicht war starr und kalt wie Marmor. Nur ihre Augen
brannten und in ihnen ein tödlicher Haß, der ihm ein Frösteln
über den Rücken jagte. Doch nicht nur ihm. Francis Fleming
wandte sich um und sah sie an. Nun schien er seine
Beherrschung wiederzugewinnen.
»Das ist wohl eine herbe Enttäuschung für dich, Alexa«,
zischte er. Robin konnte jedes Wort verstehen. In seinem Kopf
überstürzten sich die Gedanken und er wartete voller
Spannung, was Alexa darauf erwidern würde.
»Es ist der Anfang vom Ende«, sagte sie leise und jede Silbe
betonend. »Aber nicht für mich, Sir Fleming.«
Darauf taumelte er davon, als hätte sie ihm einen Schlag
versetzt. Ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Brust, das Robin
veranlaßte, nach ihrem Arm zu greifen.
»Kommen Sie, Alexa«, sagte er leise, »frische Luft wird
Ihnen guttun, Cynthia.«
Er spürte das Beben, das durch ihren Körper ging, als er
seinen Arm beschützend um ihre Schultern legte.
»Warum überlassen Sie den Kampf nicht anderen, Alexa?«
fragte er behutsam.
Sie sah ihn bestürzt an. »Was denken Sie?« fragte sie tonlos.
»Nichts – ich fühle nur, daß Sie sich sehr engagiert haben.
Aber wofür? Das frage ich mich schon seit gestern.«
»Seit gestern?« wiederholte sie tonlos.
Sein Blick wanderte zum Himmel, der sich sternenklar über
ihnen wölbte.
»Als ich nach Greenwood-Hall kam, sah ich das Bildnis einer
wunderschönen Frau«, murmelte er, »und gestern sah ich sie
auf einer Wiese. Ich fragte mich, ob meine Sinne mir einen
Streich spielten. Jetzt weiß ich, daß dies nicht der Fall war. Ich
wußte es schon heute morgen, als wir uns kennenlernten. Sie,
Alexa, sind doch nicht geschaffen, gegen einen so eiskalten
Burschen zu Felde zu ziehen.«
»War er noch eiskalt?« fragte sie geistesabwesend. »Er
fürchtet sich. Und er wird sich noch mehr fürchten. Mischen
Sie sich nicht ein, Lord Hatton. Es ist mein Kampf, und es
wird mein Sieg sein!«
Robin wußte nicht, warum er es tat, aber er riß sie in seine
Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. War es der
Wunsch, sich davon zu überzeugen, daß in ihren Adern
warmes Blut pulsierte, oder war es ein fremder Wille, der ihn
dazu verleitete?
Für Augenblicke hatte er das Gefühl, daß sie sich
schutzsuchend an ihn klammerte, doch dann riß sie sich los
und verschwand in der Dunkelheit.
Er lief ihr nach, er rief ihren Namen, doch er fand sie nicht.
Schwer atmend lehnte er an einem Baum und versuchte seine
Beherrschung wiederzufinden.
Als er viel später den Saal wieder betrat, sah er Alexa
inmitten der Gäste stehend, lächelnd und plaudernd, als wäre
nichts geschehen, und auch Francis Fleming benahm sich so,
wie man es von dem Hausherrn, der illustre Gäste bewirtet,
erwartete.
Olivia kam auf ihn zu. »Wo hast du gesteckt?« fragte sie.
»Du hast mich vermißt?« fragte er gedankenvoll zurück.
»Aber sicher. Du hast Sir Flemings feierlichen Toast
versäumt. Wir haben ihm ganz hübsch eingeheizt.«
»Alexa hast du nicht vermißt?« fragte er gepreßt.
Ihre Augen wanderten zu ihr. »Sie scheint sich gut zu
unterhalten«, stellte sie fest.
»Olivia, wir dürfen sie nicht aus den Augen lassen«, flüsterte
er. »Sie bringt sich in Gefahr – ich fühle es.«
»Sie weiß, was sie tut«, erwiderte Olivia langsam. »Niemand
wird sie daran hindern.«
»Es ist purer Wahnsinn, was hier getrieben wird«, stieß er
hervor.
»Was ist Wahnsinn?« fragte Mary, ihn forschend anblickend.
»Allein schon die Tatsache, die Einladung dieses Mannes
anzunehmen«, ereiferte er sich.
»Die eigentlich doch nur Olivia galt«, erwiderte sie lächelnd.
»Du weißt nicht, welch bedeutungsvoller Tag dies ist, Robin.
Francis Fleming weiß noch nicht, wie bedeutungsvoll er enden
wird. Ich werde mich ihm jetzt widmen.«
Eine halbe Stunde war es noch bis Mitternacht, als Sir William
Fenner Bradford-Castle erreichte. Er ließ seinen Wagen an der
Straße stehen und ging das letzte Stück zu Fuß. Der Wind trug
die Musik durch den Park, das Lachen gutgelaunter Gäste. Die
Stimmung schien auf dem Höhepunkt zu sein.
Sir William bewegten düstere Gedanken. Was nur konnte
Mary bewegt haben, Bradford-Castle zu betreten?
Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Der
Nebel hatte sich wieder auf die Wiesen herabgesenkt, und aus
ihm, nicht weit von ihm entfernt, löste sich eine weiße Gestalt,
die dahinzuschweben schien.
Nun beginne auch ich Gespenster zu sehen, ging es ihm
durch den Sinn, doch wie unter einem hypnotischen Zwang
folgte er dieser Gestalt, die sich dem Haus zu bewegte.
Er beschleunigte seine Schritte, doch sein Fuß verfing sich in
dem dichten Gras, so daß er stürzte. Hart schlug sein Kopf auf
dem Boden auf. Rote Funken tanzten vor seinen Augen und
raubten ihm das Bewußtsein.
Er wußte nicht, wie lange es dauerte, bis er wieder auf den
Füßen stand, und solange er seine Augen auch
umherschweifen ließ, er konnte die Gestalt nicht mehr sehen.
Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Sein Bein schmerzte ihn, als er weiterging. Hirngespinste,
nichts als Hirngespinste, murmelte er vor sich hin. Und dafür
hatte er sich beschmutzte Kleidung und ein verletztes Bein
eingehandelt. So konnte er sich in Bradford-Castle nicht
blicken lassen.
Schon wieder bereit, zu seinem Wagen zurückzugehen,
vernahm er ein gespenstisches Gelächter, das ihm das Blut in
den Adern erstarren ließ.
Indessen hatte Robin mit Alexa auf den Armen Sir Williams
Wagen erreicht. Nur weg von hier, war sein einziger Gedanke.
Doch wohin? Nach Ettingham?
Er entschied sich für Greenwood-Hall und war erleichtert,
daß Sir William den Zündschlüssel hatte stecken lassen.
Er hatte Alexa auf den Rücksitz gebettet. Noch immer hielt
sie eine tiefe Ohnmacht gefangen. Er hoffte, daß sie nicht
erwachen würde, bis sie Greenwood erreicht hatten.
Den Weg fand er rasch. Sie waren ihn erst vorhin gefahren.
Da hatte Alexa an seiner Seite gesessen, während Christopher
mit Mary und Olivia vorausfuhren. Nicht ein einziges Wort
hatte sie mit ihm gewechselt.
Jetzt fragte er sich, woher sie das weiße Kleid hatte und wo
sie ihr kostbares grünes Samtkleid mit diesem tauschte. Auch
andere Fragen bewegten ihn. Ob ihm Alexa einmal darauf
Antwort geben würde?
Kaum hielt er vor Greenwood-Hall, kam Archibald
herausgelaufen. Wie erstarrt stand er, als Robin Alexa aus dem
Wagen hob und ins Haus trug.
»Lady Alexa«, murmelte er entsetzt, und da wurde Robin
sich bewußt, daß er vermeinte, den Geist der Dame in Weiß zu
sehen.
»Alexa Darrien«, betonte er. »Sie ist ohnmächtig, Archibald.
Wo kann ich sie niederlegen?«
Archibald zitterte am ganzen Körper. Seine Miene drückte
Unglauben aus. Er öffnete die Tür zum blaugoldenen Salon,
als wolle er sich überzeugen, ob jenes Mädchen im weißen
Kleid nicht dem Rahmen entstiegen sei.
Aber sie blickte auf sie herab, und Robin, der sich ebenfalls
dabei ertappte, daß er zu ihr emporblickte, schien es, als wäre
ihr Lächeln jetzt noch ausdrucksvoller.
Er bettete Alexa auf das Sofa. »Bringen Sie Wasser und ein
Tuch«, sagte er zu Archibald.
»Es ist das Kleid, das gleiche Kleid«, stammelte Archibald,
bevor er sich anschickte, dem Befehl Folge zu leisten.
Ja, es war das gleiche Kleid, und Robin wußte nun auch,
warum es Alexa angezogen hatte. Aber jetzt dachte er nicht
daran. Er blickte in das Gesicht, das ihn Tag und Nacht
verfolgte und das ihm schöner erschien denn je.
»Alexa«, flüsterte er, während seine Hand behutsam ihr
kaltes Gesicht streichelte.
Für den Bruchteil einer Sekunde schlug sie die Augen auf.
»Ich muß…«, kam es wie ein Hauch über ihre Lippen, und sie
bäumte sich auf.
»Sie müssen gar nichts«, sagte er eindringlich. »Wir sind da.
Sie haben viele Freunde.«
Ein leises Stöhnen kam über ihre zuckenden Lippen, und
Robin beugte sich über sie und küßte sie sanft, aber er wußte
nicht, ob sie es spürte.
*
Das Meer, das am Horizont mit dem Himmel zusammenfloß,
warf währenddessen seine schaumgekrönten Wellen an den
Strand der Riviera, über die nackten Füße von Robin und
Alexa, die in überströmender Lebensfreude der Sonne
entgegenliefen.
Manchmal blieb er stehen und zog sie in seine Arme, um ihr
heißes Gesicht mit noch heißeren Küssen zu bedecken.
»Bald bist du meine Frau«, sagte er zärtlich. »Nur noch ein
paar Tage, dann werden wir in die Welt fliegen, um sie herum
und dort bleiben, wo du es schön findest.«
»Und wir werden nach Ettingham zurückkehren«, sagte sie
gedankenvoll. »Olivia überläßt uns Greenwood, wenn du es
willst, Robin.«
»Willst du es denn?« fragte er.
»Irgendwo müssen unsere Kinder doch ein Zuhause haben«,
flüsterte sie. »Ich habe keine Angst mehr. Es ist vorbei,
Liebster.«
»Unsere Kinder«, raunte er ihr ins Ohr, »hast du es wirklich
gesagt, Alexa?«
»Es werden glückliche Kinder sein, so glücklich wie wir,
Robin. Wir werden ihnen niemals alte Geschichten erzählen,
nicht wahr?«