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Patricia Vandenberg

Der Fluch der


Ahnfrau Alexa

Irrlicht Band 348


Robin hielt plötzlich den Atem an. Eine
weißgekleidete Gestalt löste sich aus den Büschen.
Ihr Gang war schwebend. Sie schien den Boden
nicht zu berühren. Das Gemälde aus dem
blaugoldenen Salon war lebendig geworden.
»Lady Winters ist eingetroffen, Sir«, meldete der Butler.
Sir William Fenner erhob sich aus seinem Lehnsessel und
fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wollte er die Bilder
wegwischen, die ihn eben stark gefangengenommen hatten.
Er zwang ein freundliches Lächeln um seine schmalen
Lippen, das jedoch erstarrte, als die junge Dame eintrat.
Sie war von bezaubernder Schönheit und jugendlicher
Anmut.
Sir Fenners Miene drückte Fassungslosigkeit aus. »Lady
Winters?« fragte er verblüfft.
»Olivia Winters«, erwiderte diese heiter. »Sie haben meine
Mutter erwartet?«
»Allerdings«, erwiderte er steif.
»Mama hat sich auf unseren Landsitz zurückgezogen«,
erklärte sie. »Sie hat auf Onkel Jotins Erbe zu meinen Gunsten
verzichtet. Hier ist die notarielle Beurkundung, Sir Fenner.«
»Bitte, Lady Olivia, nehmen Sie doch Platz«, sagte er, noch
immer verwirrt. »Es wird manches zu besprechen geben.«
Mary will ein Zusammentreffen mit mir vermeiden, ging es
ihm durch den Sinn, während er sein entzückendes Gegenüber
betrachtete. Warum nur? Was habe ich ihr getan?
Olivia schien völlig unbefangen. Lässig schlug sie ihre
schlanken Beine übereinander und betrachtete nun ihrerseits
den grauhaarigen Mann, dessen unregelmäßiges,
scharfgeschnittenes Gesicht eine faszinierende
Anziehungskraft besaß.
Diesen Mann hatte ihre Mutter geliebt. Olivia wußte es, ohne
daß jemals darüber gesprochen worden war. Aber damals, als
sie sich zum erstenmal begegneten, war Sir William Fenner
bereits verheiratet gewesen und Vater eines Sohnes.
Er hat auf Mama gewartet, dachte Olivia weiter. Ob er sie
auch geliebt hat?
Sir William Fenner war der dritte Sohn des Herzogs von
Ettingham, jenes Onkel John, von dem Olivia eben gesprochen
hatte. Ein richtiger Onkel war es nicht gewesen, aber ihr
Taufpate. Uralt war er geworden. Seine beiden ältesten Söhne
waren vor ihm gestorben, und eigentlich müßte Sir Fenner jetzt
der Titelerbe sein. Olivia wunderte sich ein wenig, daß er noch
immer Sir Fenner genannt wurde.
Endlich raffte sich Sir William zu einer Erklärung auf. »Mein
verstorbener Vater bestimmt in seinem Testament, daß Lady
Mary Greenwood-Hall erben solle«, sagte er stockend.
»Dieses Spukschloß in Schottland?« fragte Olivia erstaunt.
»Das ist ja aufregend.«
Sie zeigte keine Trauer, wie es in diesem Fall wohl
angemessen gewesen wäre. Onkel John hatte das nicht gewollt
und nicht erwartet. Er war ein großer Spötter vor dem Herrn
gewesen, dem alle Heuchelei zuwider gewesen war, und er
hatte sein Leben gelebt.
»Greenwood-Hall ist Schloß Ettingham benachbart«, fuhr Sir
William fort. »Sie werden alle Einzelheiten aus dem Testament
entnehmen können. Ich möchte Ihnen noch sagen, daß mein
Sohn Christopher jetzt den Titel trägt.«
Was und wer mochte dies veranlaßt haben? Onkel John
selbst, überlegte sie. Aber er hatte doch ein ganz besonderes
Faible für William gehabt.
Sir William wollte sich dazu anscheinend nicht näher äußern.
»Wie geht es Lady Mary?« fragte er gepreßt. »Ich hoffe, sie
ist wohlauf.«
»Oh, das kann man wohl sagen«, entgegnete Olivia. »Sie
scheint sich nur etwas Ähnliches gedacht zu haben und hat
lieber von vornherein auf das Erbe verzichtet. Mama liebt den
Süden, die Wärme. Schottland jagt ihr ein Frösteln über den
Rücken.«
Oder sie glaubte, daß ich Schloß Ettingham bewohnen werde,
dachte Sir William.
»Ihnen nicht?« fragte er mit leicht ironischem Unterton.
»Im Gegenteil. Es hat einen geheimnisvollen Reiz für mich.
Eigentlich kenne ich meine Heimat ja gar nicht. Nur als Kind
war ich einmal auf Schloß Ettingham. Blickt der grimmige
Herzog Albert noch immer auf den Kamin herab? Und spukt
die Weiße Dame noch herum?«
»Sie haben ein gutes Gedächtnis, Olivia.« Nun lächelte er
flüchtig. »Die Weiße Frau spukt wohl nur noch in den Köpfen
der Landbevölkerung. Sie werden ihr gewiß nicht ängstlichen
Respekt zollen.«
»Weiß man es? Mir ist sie noch nicht begegnet. Wie kam
Onkel John eigentlich auf den Gedanken, Mama Greenwood-
Hall zu hinterlassen?«
»Dazu hat er sich nicht geäußert. Vielleicht hoffte er, daß sie
eines Tages doch in ihre Heimat zurückkehren würde. Aber
daran denkt sie wohl nicht?«
Olivia zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht packt
sie einmal die Sehnsucht! Welche Bedingungen sind eigentlich
an das Erbe geknüpft?«
Sie ist ein cleveres Mädchen, dachte Sir, William. Sie denkt
sachlich und ist wohl schon weit von der Tradition entfernt.
Verwunderlich war es nicht, denn Lady Olivia, deren Vater
Diplomat gewesen war, wurde in modernen Internaten erzogen
und war schon viel in der Welt herumgekommen.
Sie vertrat die moderne Generation, war frei von
Sentimentalitäten und anscheinend nur von dem Reiz des
Abenteuers gefangengenommen.
»Wir werden später alles noch eingehend besprechen«,
erklärte er. »Nach dem Dinner, das Sie doch bitte mit mir
einnehmen werden.«
»Aber gern«, erwiderte sie unbefangen.
Sir Fenners Palais war kostbar ausgestattet und verriet, daß
auch der dritte Sohn des Herzogs von Ettingham keine Not zu
leiden brauchte.
Olivia war sehr verwirrt von dem Blick dieser dunklen, fast
melancholischen Augen, die nicht so ganz in das harte Gesicht
Sir Williams passen wollten.
Nein, einen solchen Mann konnte man nicht vergessen. Sie
begriff ihre Mutter, von deren Liebe sie nichts gewußt hätte,
wäre sie ihr von ihrem Mann nicht einmal in sehr deutlichen
Worten vorgeworfen worden. Und vielleicht wollte Lady Mary
sich jetzt selbst beweisen, daß sie über diese Liebe
hinweggekommen war.
Nach dem Dinner erfuhr sie die Bedingungen, die sich an das
Erbe knüpften. Herzog John hatte veranlaßt, daß Greenwood-
Hall wenigstens drei Monate im Jahr bewohnt wurde.
»Die Dienerschaft ist vollzählig«, erklärte Sir William.
»Bauliche Veränderungen dürfen nicht vorgenommen werden.
Die privaten Räumen können nach eigenem Geschmack
ausgestattet werden, alles andere soll unverändert bleiben.
Damit die Geister ihre Ruhe haben«, fügte er anzüglich hinzu.
»Im übrigen haben Sie ein halbes Jahr Zeit, sich zu
entscheiden, ob Sie das Erbe annehmen wollen.«
»Und wenn ich es nicht annehme?« fragte sie.
Seine Augen verdunkelten sich noch mehr. »Dann wird es in
den Besitz des Herzogs von Ettingham zurückfallen.«
Seine Stimme klang kühl und so, als würde er von einem
Fremden sprechen.
Sie hätte ihn gern nach seinem Sohn Christopher gefragt,
aber sie wagte es nicht, und von sich aus erzählte er nichts über
ihn.
Waren sie verfeindet? Was stand zwischen ihnen? Ob jener
Christopher seinem Vater glich? Alle diese Fragen
beschäftigten Olivia noch lange.
Sie erklärte, daß sie schon am nächsten Morgen nach
Greenwood-Hall zu fahren gedenke. Sir William bat sie, die
Nacht in seinem Haus zu verbringen, was sie dankend annahm.
Vielleicht, so hoffte sie, ergab sich zu abendlicher Stunde
Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch. Sie brannte
darauf, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen.

Man hatte ihr einen wunderschön eingerichteten Raum


zugewiesen. Das war kein Gästezimmer, sondern das sehr
kultivierte Milieu einer anspruchsvollen Frau.
Eine Kammerzofe, schon ergraut und recht verschlossen
wirkend, fragte Olivia nach ihren Wünschen. Sie hatte keine.
»Wird das Zimmer öfter bewohnt?« fragte sie dann aber doch
neugierig, als die Zofe sich entfernen wollte.
Sie erntete einen mißtrauischen Blick. »Es war Lady
Cynthias Schlafgemach«, erwiderte die Zofe zurückhaltend.
»Nebenan ist der Salon. Seit ihrem Tod hat niemand ihre
Räume bewohnt.«
Die Art, wie sie es sagte, drückte ihre Mißbilligung aus.
»Wann starb sie eigentlich?« fragte Olivia.
»Vor zehn Jahren«, erwiderte die Zofe. »Darf ich mich
zurückziehen?«
Olivia hätte gern noch weitere Fragen gestellt, aber sie spürte,
daß es der Zofe unbequem war, diese zu beantworten.
Gedankenvoll ging sie auf dem weichen, wundervollen
Seidenteppich hin und her. Eine neue Frage bewegte sie.
Warum hatte Sir William ihr die Räume seiner verstorbenen
Gattin überlassen? Bestimmt gab es auch Gästezimmer in
diesem Palais.
Zaghaft öffnete sie nach einer Weile die Tür zu dem Salon.
Wie gelähmt blieb sie stehen, denn ihr Blick traf ein Gemälde
an der gegenüberliegenden Wand. Es schien zu leben.
Brennende Augen aus einem madonnenhaft schönen Gesicht
blickten sie an. Der volle Mund lächelte geheimnisvoll. Erst
Minuten später wurde Olivia sich bewußt, daß diese Frau ein
Kind umfangen hielt, einen kleinen Jungen.
Sie schrak zusammen, als eine Stimme leise und tonlos an ihr
Ohr klang.
»Lady Cynthia, meine verstorbene Frau«, sagte Sir William.
»Und mein Sohn«, fügte er noch leiser hinzu. »Der einzige
Mensch, den sie geliebt hat – allerdings…«, er unterbrach sich,
»nun, das wird Sie kaum interessieren, Olivia.«
Es interessierte sie brennend, aber hatte es Sinn, ihm Fragen
zu stellen? Sie wandte sich zu ihm um und blickte ihn voll an.
»Eine wunderschöne Frau«, sagte sie beklommen.
»Man sagte es«, erwiderte er kühl.
Er kann Mama nicht geliebt haben, wenn er mit einer solchen
Frau verheiratet war, ging es Olivia durch den Sinn, denn die
zarte, blonde Anmut ihrer Mutter stand vor ihren Augen.
Wieso aber hing Lady Cynthias Gemälde in ihrem eigenen
Salon, fragte sie sich dann. Er schien ihre Gedanken zu ahnen.
»Cynthia liebte es sehr, sich selbst zu betrachten«, stellte er
sarkastisch fest. »Sie erfreute sich sehr an ihrer äußerlichen
Vollkommenheit.«
Der bittere Unterton irritierte sie. Warum sagte er äußerliche
Vollkommenheit?
Sie erfuhr auch an diesem Abend nichts Neues, nicht über’
sich, auch nicht über Lady Cynthia, und seinen Sohn erwähnte
er mit keinem Wort.
Am Morgen, als er sich von ihr verabschiedete, zeigte er ein
betont heiteres Lächeln.
»Lassen Sie sich nicht von bösen Geistern erschrecken,
Olivia«, scherzte er. »Man kann gut mit ihnen fertig werden,
wenn man sie zurechtweist.«
»Ich werde es mir merken«, gab sie lächelnd zurück, aber
später, als sie unterwegs war, kam es ihr so vor, als hätte in
seinen Worten ein doppelter Sinn gelegen.

Es war ein herrlicher Frühlingstag, in den sie hineinfuhr. Der


Regen früherer Tage hatte alles zum Grünen und Blühen
gebracht, und zartes Grün nahm der Landschaft den
schwermütigen Zauber, den man Schottland nachsagte.
So sehr konnte sie sich doch nicht mehr an ihre Kindheit
erinnern, daß sie den Weg nach Greenwood-Hall gleich
gefunden hätte.
Sie fragte einen Waldarbeiter, der, mit Reisig bepackt, des
Weges kam. Der Name Greenwood-Hall schien zu genügen,
um ihn in die Flucht zu treiben.
Olivia mußte lächeln. Sie wußte, wie abergläubisch die
Einheimischen waren. Ihre Mutter hatte es ihr oft genug
erzählt. Es war ein Land voll von Sagen, Geheimnissen und
Geistern einer abenteuerlichen Vergangenheit.
Olivia ließ sich davon nicht beeindrucken. Na, ich werde es
auch so finden, dachte sie, aber kein Wegweiser war zu sehen,
der ihr die Richtung gezeigt hätte.
Doch nach Schloß Ettingham gab es einen, und sie bog die
schmale Straße ein, die durch den Wald führte.
Sie fuhr ganz langsam, und das war gut so, denn plötzlich
baute sich ein Reiter hoch zu Roß vor ihr auf. Er mußte aus
einem verschwiegenen Seitenpfad gekommen sein.
Olivia trat auf die Bremse. Ihr Herz begann zu schlagen, als
ein zorniger Blick aus nachtdunklen Augen sie traf.
»Das ist eine Privatstraße«, sagte eine eisige Stimme, die
einen beinahe drohenden Klang hatte.
Das schmale Gesicht des Reiters war dunkel, fast verwegen,
und hatte einen unerbittlichen Ausdruck. Unwillkürlich mußte
sie ihn mit Robin Hood vergleichen, aber sie mußte lachen, als
sie gleichzeitig an einen anderen Robin dachte.
»Es scheint Sie nicht zu beeindrucken«, sagte der Fremde
abweisend.
»Verzeihung«, murmelte sie, »ich suche den Weg nach
Greenwood-Hall.«
Sein Gesicht wurde noch düsterer. »Die nächste Straße
rechts«, stieß er hervor, dann galoppierte er davon.
Höflichkeit schien man hier nicht zu kennen. Olivia war nun
doch eingeschüchtert und dachte, daß ihre Mutter gute Gründe
haben mochte, ihre Heimat zu meiden. Nun, sie konnte immer
noch auf Onkel Johns Erbe verzichten. Sie hatte ein halbes
Jahr Frist. Und wenn man sie in Greenwood-Hall mit
ebensolcher Ablehnung empfing, würde sie bestimmt
verzichten. Das stand für sie fest.

»Sie kommt heute schon«, sagte jener Fremde, der Olivia so


erschreckt hatte, zu einer sehr reizvollen jungen Dame. »Du
wirst dich um sie kümmern müssen, Alexa.«
»Wieso ich?« fragte sie spottend. »Wäre das nicht deine
Aufgabe, Christopher?«
»Ich denke nicht daran«, widersprach er heftig. »Es ist ein
ungeheuerlicher Einfall von Großvater gewesen, Mary Winters
Greenwood-Hall zu hinterlassen. Aber wir werden sie schon
vertreiben. Übrigens – das fällt mir eben ein – war sie ja viel
zu jung, um Mary Winters zu sein.«
Lady Alexa Darrien, die Tochter des zweiten Sohnes von
Herzog John und somit Christophers Kusine, lachte hell auf.
»Das fällt dir jetzt erst ein«, bemerkte sie ironisch.
»Vielleicht war es nur eine Touristin.«
»Sie fragte nach Greenwood-Hall«, brummte er. »Wer kennt
es schon?«
»Oh, man muß sich manchmal wundern, wofür die Leute sich
interessieren. Aber wir werden es schon noch erfahren.«
»Du nimmst alles leicht«, erklärte er mürrisch. »Für dich
sollte es auch nicht gleichgültig sein, daß Sir Williams
Geliebte diesen Besitz zugesprochen bekam.«
Alexa fröstelte es, als er dies sagte. »Du sprichst stets so, als
wäre es eine Tatsache«, murmelte sie. Es lähmte sie immer,
wenn Christopher von seinem Vater als »Sir William« sprach.
Der junge Herzog von Ettingham gab selbst ihr Rätsel auf,
obgleich sie die einzige war, die überhaupt einigermaßen mit
ihm zurechtkam.
»Er hat nie geleugnet, daß er Mary Bradford liebte«, stieß sie
hervor. »Er hat es Mutter ins Gesicht gesagt.«
»Hat er es auch dir gesagt?« fragte Alexa ruhig.
»Er hätte sich gehütet. Dafür hätte ich ihn getötet.«
Alexa schüttelte den Kopf. »In welchem Haß hast du dich nur
verfangen, Christopher«, sagte sie beklommen. »Dein Vater ist
ein Edelmann.«
»Hör damit auf. Ich kann es nicht hören. Er hat das Leben
meiner Mutter zerstört.«
Alexa hegte seit einiger Zeit ihre eigenen Gedanken darüber,
aber hätte sie diese geäußert, wäre es auch zwischen ihr und
Christopher zu einem Bruch gekommen, und das wollte sie
nicht. Trotz aller seiner Eigenheiten mochte sie ihn.
»Ich werde nachher mal nach Greenwood-Hall fahren«, sagte
sie.
»Aber behandele sie entsprechend«, knurrte er.
Wohin versteigst du dich, Christopher, dachte sie.

Währenddessen hatte Olivia Winters Greenwood-Hall erreicht,


allerdings nicht ohne eine weitere Hilfe. Wieder war es ein
Reiter gewesen, der ihren Weg kreuzte, aber sie hatte kaum
gewagt, ihn zu fragen. Doch er war so liebenswürdig, wie der
andere unhöflich und barsch gewesen war.
Er war allerdings nicht mehr ganz jung gewesen, aber sehr
charmant, und er hatte sich auch sofort vorgestellt und ihr
bewundernde Blicke gezollt.
Seine Name war Francis Fleming. Einen Titel hatte er nicht
genannt. Jedenfalls war er ein Lichtblick gewesen.
Und nun stand sie vor Greenwood-Hall und war gefangen
von dem romantischen Anblick. Efeuumwucherte Mauern,
blinkende Fenster, alles andere als ein Geisterschloß. Es war ja
auch nur ein Landsitz, und es war unbegreiflich, daß der Name
jemandem Schrecken einjagen konnte wie jenem Waldarbeiter.
Tief atmete Olivia die würzige Luft ein. Ein weißhaariger
Mann trat aus der Tür und machte eine Verbeugung.
»Sir William hat uns informiert, daß Lady Winters eintrifft«,
sagte er höflich. War er auch zurückhaltend, so hatte Olivia
doch nicht das Gefühl, daß sie unerwünscht sei.
Eine rundliche Frau erschien als nächste. »Das ist Rose«,
stellte der Butler vor.
Rose machte einen Knicks und lächelte freundlich. Olivia
betrat die Halle. Sie war düster, aber nicht abschreckend.
Die Butzenscheiben ließen nur nicht genügend Licht durch.
An den Wänden hingen Schwerter und Wappen. Auf Olivia
machte das einen zu kriegerischen Eindruck, aber als
Archibald die schweren, wundervoll geschnitzten Eichentüren
zu dem großen Wohnraum öffnete, verwischte sich dieser.
Ein herrlicher Teppich bedeckte den Boden. Die praktisch
veranlagte Olivia überlegte, wie dieser wohl gereinigt werden
würde. Wie sie später erfahren sollte, verfügte man hier über
alle Errungenschaften moderner Technik und auch über einen
Saugklopfer, der diese Arbeit spielend bewältigte.
Die Möbel im Stil der Renaissance mußten einen nahezu
unschätzbaren Wert darstellen. Die Gobelins an den Wänden
waren Kunstwerke. Seltsamerweise fügten sich die
Polstermöbel, die dem jetzigen Geschmack entsprachen, in
diese kostbare Umgebung ein.
Wie lange sie zu bleiben gedenke, fragte der Butler Archibald
höflich.
Das wüßte sie noch nicht so genau, erwiderte Olivia. Sie war
eingefangen in einen Zauber, der sie in die Zeit ihrer Kindheit
zurückversetzte. In Greenwood-Hall war sie damals nicht
gewesen, aber in einem ähnlichen Haus. Sie wußte nur nicht
mehr, wem es gehört hatte. Diese Erinnerung war
geschwunden, und sie versuchte, sie zu neuem Leben zu
erwecken. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Nur ein junger
Mann, ein Jüngling fast, nahm Gestalt an in diesen suchenden
Gedanken, und ganz plötzlich wußte sie, daß dieser junge
Mann jener Francis Fleming gewesen war, den sie heute
getroffen hatte.
Sinnend stand sie inmitten des Raumes auf dem rotblau
gemusterten Teppich und überlegte, wie alt sie damals
gewesen war.
Archibalds Stimme holte sie in die Gegenwart zurück.
»Wenn Mylady wünschen, könnte serviert werden«, sagte er.
Ihre gesunde Jugend siegte über alle Erinnerungen. Sie
verspürte Appetit und nickte ihm lächelnd zu.
Ein wenig einsam fühlte sie sich an dem Eßtisch, obgleich
der Raum nicht groß war und recht anheimelnd in seinem
ländlichen Stil.
Zinnteller hingen an den Wänden, wunderschöne
Blattpflanzen standen auf einer breiten Fensterbank.
Das Essen war köstlich. Ganz unbeobachtet konnte Olivia es
genießen, denn Archibald hatte sich zurückgezogen, nachdem
er serviert und eine kleine goldene Glocke auf den Tisch
gestellt hatte, mit der sie ihn herbeirufen konnte.
Der Wein ging ihr mehr ins Blut, als sie nach dem ersten
Schluck angenommen hatte. Sie fühlte sich wohlig müde und
zog sich in die oberen Räume zurück, nachdem sie noch einige
Minuten frische Luft geschöpft hatte.
Hier in diesen Zimmern war alles verspielt. Heiteres
Biedermeier ebenso wie viktorianische Gemütlichkeit
herrschten vor.
Sie erinnerte sich, daß Onkel Johns Frau eine Hofdame
Königin Victorias gewesen war. Er hatte sie geliebt und allen
Anfeindungen zum Trotz geheiratet. Sie war die Mutter seiner
drei Söhne gewesen und eine fröhliche Frau, wie Olivias
Mutter zu berichten wußte. Leider war sie lange vor Onkel
John gestorben, und nach ihrem Tod hatte er sich die meiste
Zeit in Greenwood-Hall aufgehalten, nicht auf Schloß
Ettingham.
Das waren die letzten Gedanken, die durch Olivias hübsches
Köpfchen gingen, bevor sie einschlief.
So müde sie sich auch gefühlt hatte, es wurde kein
erquickender, sondern ein von wilden Träumen bewegter
Schlaf.
Ein Reitersmann erschien ihr, und er hatte das düstere
Gesicht jenes Fremden. Drohend sah er sie an, und seine Hand,
in der sich ein Schwert befand, hob sich gegen sie. »Ich werde
euch vernichten«, sagte er, doch als er zum Schlag ausholen
wollte, stellte sich eine weißgekleidete Frau zwischen sie, die
rote Rosen in ihrem Arm hielt.
»Du kannst ihn retten, Olivia«, sagte sie, und da fuhr Olivia
empor, weil seltsame Töne sie aus dem Schlummer rissen.
Es war ein Auto, wie sie verwirrt feststellte. Ein Auto, das
eine Fehlzündung zu haben schien. Es paßte nicht in diese
Träume von einem Ritter mit Schwert und einer in wallende
weiße Gewänder gekleidete Dame.
Herzklopfend lag sie in dem Himmelbett, bis es leise an ihre
Tür klopfte.
»Bitte«^ sagte Olivia atemlos.
Rose erschien. Sie machte wieder einen Knicks. »Lady
Darrien möchte ihre Aufwartung machen«, sagte sie gedämpft.
Lady Darrien! Alexa Darrien. Ihre Mutter hatte von ihr
gesprochen. Sie wäre ein reizendes Kind, hatte sie gesagt.
»Ich komme sofort«, erwiderte Olivia.
Woher wußte Alexa Darrien, daß sie hier war? Olivia hatte
keine Ahnung, daß die junge Lady auf Schloß Ettingham lebte.
Langsam ging sie dann die Treppe hinab. Archibald stand in
der Halle und deutete stumm auf eine Tür, die in einen Raum
führte, den Olivia noch nicht betreten hatte.
Er öffnete die Tür und trat zurück. Ein Salon in Blau und
Gold gehalten, in den das helle Licht des Tages flutete, tat sich
auf, aber Olivia nahm das gar nicht wahr. Sie blickte in zwei
helle graue Augen, in ein klares Gesicht, das nicht eigentlich
schön zu nennen war.
Sie sah, daß die junge Dame, sie mochte einige Jahre älter als
sie selbst sein, einen eleganten Hosenanzug trug.
»Lady Darrien?« fragte Olivia, leicht verwundert, solch
lässige Eleganz hier vorzufinden.
»Alexa«, erwiderte eine warme Altstimme. »Ich nehme an,
Sie sind Lady Winters Tochter.«
»Ganz recht, Olivia«, erwiderte sie zurückhaltend.
»Es freut mich, daß wir uns kennenlernen. Das heißt, ich
sollte es nicht zu laut sagen. Aber das werde ich Ihnen später
erklären. Hatten sie eine gute Reise?«
»Danke. Greenwood-Hall ist nicht ganz leicht zu finden.«
»Das gibt ihm den besonderen Reiz«, erwiderte Alexa
leichthin. »Es war verschwiegen genug, unseren Vorfahren
Stunden heimlichen Glücks zu bescheren.« Das klang ironisch.
Olivia fühlte sich versucht zu lächeln, doch es wollte ihr nicht
gelingen.
»Ein Reitersmann wies mir schließlich den rechten Weg«,
sagte sie gedankenvoll.
»Christopher?« entfuhr es Alexa.
»Christopher?« wiederholte Olivia gedehnt. »Sie meinen Sir
Williams Sohn?«
»Ich meine den Herzog von Ettingham«, erklärte Alexa
gleichmütig.
»Nein, er war es nicht. Ein Francis Fleming, so stellte er sich
vor.«
Eine kleine Falte erschien auf Alexas Stirn.
»Francis? Sie sollten ihn meiden, um die Abgründe zwischen
sich und Christopher nicht noch mehr zu vertiefen.«
»Wieso Abgründe?« fragte Olivia bestürzt.
»Nun, es ist nicht so einfach zu erklären«, stellte Alexa fest.
»Christopher würde mich zum Teufel wünschen, daß ich
überhaupt darüber spreche. Aber ein wenig möchte ich Sie
doch vorbereiten.«
»Worauf?« fragte Olivia.
»Daß der Herzog von Ettingham keine freundschaftlichen
Gefühle für Sie hegt.«
»Das erwarte ich nicht«, erwiderte Olivia ruhig. »Erfüllt es
ihn mit Zorn, daß Onkel John ihm nicht auch Greenwood-Hall
hinterlassen hat?« fügte sie spöttisch hinzu.
»Es hat andere Gründe, über die ich nicht sprechen kann und
will. Christopher wäre mir sehr böse, daß ich überhaupt mit
Ihnen freundschaftlich zu sprechen versuche.«
»Sie brauchen es nicht«, stellte Olivia aggressiv fest. »Ich
habe Sie nicht darum gebeten. Warum sind Sie gekommen,
kaum daß ich hier bin?«
Alexa zeigte sich nicht gekränkt. »Um Sie wenigstens darauf
vorzubereiten, was Sie hier erwartet, wenn Sie zu bleiben
gedenken.«
Was mich erwartet, dachte Olivia. Nun gerade, begehrte ihr
Stolz auf.
»Was erwartet mich denn?« fragte sie sarkastisch.
Alexa betrachtete sie mit einem unergründlichen Blick. »Sie
machen einen unerschrockenen Eindruck, Olivia«, sagte sie.
»Was sollte mich denn erschrecken? Die Geister von
Greenwood-Hall? Ich glaube nicht daran.«
»Eher die Geister von Ettingham«, murmelte Alexa. »Ich
wohne dort.«
»Trotz der Geister?« spottete Olivia.
»Ihnen zum Trotz«, erwiderte Alexa seltsam ernst.
»Das müßten Sie mir schon näher erklären.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte Alexa. »Olivia, ich
beschwöre Sie. Gehen Sie Christopher aus dem Weg.«
Gedankenvoll sah Olivia die andere an. »Ist er so
schrecklich? Er hat doch einen sehr netten Vater.«
Alexa erblaßte. »Wenn Sie Onkel William mögen, möchte
ich Sie doppelt eindringlich bitten, Christopher zu meiden.«
»Ich verstehe das alles zwar nicht, aber ich werde seine
Gesellschaft bestimmt nicht suchen«, erklärte Olivia. »Er
scheint seinen Besitz mit niemandem teilen zu wollen, wie ich
Ihren Worten entnehme.«
»Das ist es nicht. Er will nicht mit Mary Winters teilen«,
stellte Alexa rätselhaft fest.
Olivia maß die andere mit einem langen Blick. »Meine
Mutter ist ihm ein Dorn im Auge? Warum? Sie denkt nicht
daran hierherzukommen. Sie hat zu meinen Gunsten auf das
Erbe verzichtet. Ich allerdings werde nicht verzichten.«
Sie sagte es sehr bestimmt und hatte schon vergessen, daß sie
dazu noch vor wenigen Stunden entschlossen gewesen war.
Alexa sah sie voll an. »Das freut mich«, sagte sie leise.
Nun wußte Olivia gar nicht mehr, was sie denken sollte.
»Sie leben in Schloß Ettingham«, stellte sie
gedankenverloren fest. »Wie ich annehme, wohnt der Herzog
auch dort. Warum warnen Sie mich dann eigentlich vor ihm?
Fürchten Sie ihn?«
»Nein, ich fürchte ihn nicht. Ich mag ihn. Aber das hat nichts
mit Ihnen zu tun.«
»Ich kenne ihn nicht, und wahrscheinlich werde ich ihn nie
mögen«, erklärte Olivia. »Ich denke auch nicht daran, Francis
Fleming zu meiden, wenn sich zufällige Begegnungen
ergeben. Er ist ein Kavalier.«
»O ja«, sagte Alexa, »ein Kavalier ist er«, aber es klang
verächtlich. »Jedenfalls möchte ich Sie bitten, Christopher
nichts von unserer Unterhaltung zu erwähnen, falls Sie mit ihm
zusammentreffen. Darf ich darauf hoffen, Olivia? Und wenn
etwas sein sollte, rufen Sie an und verlangen Sie Jane. Sie ist
meine Vertraute. Vielleicht werden Sie einmal einen
freundschaftlichen Rat brauchen.«
Ich werde auch ohne diesen zurechtkommen, dachte Olivia,
aber dennoch war ihr Alexa nicht unsympathisch, wenngleich
ihre Bemerkungen merkwürdig klangen. Sehr merkwürdig
sogar.
Jedoch war sie nun fest entschlossen, diesen rätselhaften
Andeutungen auf den Grund zu kommen.
»Ich werde bleiben, Archibald«, sagte sie zu dem Butler,
nachdem Alexa gegangen war.
»Ich hoffe sehr, Mylady, daß Sie diesen Entschluß nicht
bereuen werden«, erwiderte Archibald.

»Sie wird bleiben, Christopher«, sagte Alexa zu ihrem Cousin.


»So?« Seine Augenbrauen ruckten empor. »Nun, wir werden
sehen.«
»Sie ist die Tochter von Lady Winters«, fuhr Alexa fort. »Sie
heißt Olivia.«
»Es ist mir bekannt. Sie ist einundzwanzig Jahre und wurde
in der Schweiz erzogen. Es wird ihr hier nicht gefallen. Sie war
Mittelpunkt auf illustren Gesellschaften. Das wird ihr fehlen.«
»Du fällst Urteile, bevor du einen Menschen kennst«, stellte
Alexa mißbilligend fest.
Er kniff die Augen zusammen. »Sie soll eine Schönheit sein,
sagt man ihr nach. Was will sie in Schottland? Hier wird sie
kaum einen Bewerber finden, der ihrem Geschmack
entspricht.«
»Vielleicht hat sie ihr Herz längst vergeben«, meinte Alexa
gelassen. »Manchmal bist du mir unbegreiflich.«
»Wie könnte ich erwarten, daß jemand mich versteht«, stieß
er hervor. »Hat sie dich bereits eingewickelt?«
»Sie hat nicht einmal den Versuch gemacht«, erwiderte Alexa
spöttisch. »Sie ist sehr selbstbewußt. Eine echte Bradford, wie
mir scheint.«
»Dann bin ich sehr gespannt, welche Ehe sie
auseinanderbringen wird.« Er lachte hart.
»Sie ist ihrer Mutter nicht sehr ähnlich, womit ich allerdings
nicht sagen will, daß ich deine Einstellung gegen Lady Winters
teile. Ich kenne sie nicht und werde mir niemals ein Urteil über
einen Menschen erlauben, dem ich noch nie begegnet bin.«
»Wieso willst du dann eigentlich feststellen, daß sie ihrer
Mutter nicht ähnlich ist?« fragte er wachsam.
Alexa war verwirrt. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust. »Ich
habe ein Bild von Lady Mary auf Bradford-Castle gesehen«,
sagte sie.
»Nachdem Fleming es gekauft hat?« fragte er anzüglich.
»Nachdem er es kaufte«, erwiderte sie.
»Er sammelt schöne Frauen und ihre Bilder«, spöttelte
Christopher.
Alexa wußte nicht, was sie bewegte, aber ein fremder Wille
schien sie zu der folgenden Bemerkung zu veranlassen.
»Ein Bild deiner Mutter hängt übrigens auch dort!«
Christopher wurde bleich. Seine Augen glühten wie im
Fieber.
»Du lügst«, schrie er sie an.
»Ich lüge nie«, erwiderte sie.
Mit einem lauten Knall fiel wenig später die Tür ins Schloß.
Alexa zitterte am ganzen Körper. Mein Gott, warum habe ich
es gesagt, dachte sie. Warum habe ich diese haßvolle Glut
noch geschürt?

*
Am nächsten Morgen hatte Christopher Schloß Ettingham
verlassen. Alexa wußte nicht, wohin er gefahren war. Niemand
wußte es.
Es war ihr, als senkten sich die Mauern des Schlosses auf sie
herab, um sie zu erdrücken. Sie mußte hinaus ins Freie, über
die Wiesen reiten und den Schatten entfliehen, die sie zu
verfolgen drohten.
Auch Olivia verspürte das Bedürfnis, denn wieder waren ihr
die Weiße Frau und der düstere Fremde im Traum erschienen.
Aber sie war doch realistisch genug, zuvor zu frühstücken.
Rose hatte wieder ihr Bestes getan. Sie erkundigte sich heute
jedoch, ob ihre Kochkünste Olivias Geschmack entsprächen.
»Ganz und gar«, erwiderte Olivia munter. »Ich habe einen
gesegneten Appetit, Rose.«
»Hoffentlich vergeht er Mylady nicht«, murmelte Rose. Dann
jedoch verschwand sie sogleich, und Olivia konnte wieder
einmal darüber nachdenken, was das bedeuten sollte.
Sie ließ sich Zeit mit dem Frühstück, dann fragte sie
Archibald, ob ein gutes Pferd vorhanden sei.
Da müsse sie Benjamin fragen, meinte er. Von Pferden
verstünde er nichts, aber es stünden einige im Stall.
Benjamin war ein junger Bursche mit rostbraunem Haar und
sommersprossigem Gesicht, jedoch so wenig redselig wie alle
anderen.
Als sie sich für den Rappen, der seltsamerweise Robin Hood
genannt wurde, entschied, hob er abwehrend die Hände.
Den könne nur Herzog Christopher reiten, erklärte er.
Ob er zu Greenwood oder Ettingham gehöre, erkundigte sich
Olivia.
»Zu Greenwood«, meinte Benjamin. Herzog John hätte ihn
noch aufgezogen. Jetzt wäre er drei Jahre.
»Dann werde ich ihn reiten«, erklärte Olivia. »Greenwood
gehört mir mit allem toten und lebenden Inventar.«
Robin Hood bäumte sich auf, als sie aufsaß, aber sie hielt die
Zügel fest und zwang ihm ihren Willen auf. Er schnaubte,
parierte dann aber. Benjamin schüttelte den Kopf, als sie
langsam davontrabte.
Archibald kam über den Hof. »Du hättest es nicht zulassen
dürfen, Ben«, sagte er bedrückt.
Benjamin zuckte die Schultern. »Sie ist die Herrin«, sagte er.
»Und wenn er sie abwirft?«
»Lady Christian wird über sie wachen«, erwiderte Benjamin.
Hätte Olivia das hören können, wäre sie wohl nachdenklicher
gestimmt gewesen.
Über Robin Hood hatte sie sich nicht zu beklagen. Er folgte
dem leisesten Schenkeldruck. Sie konnte vor sich hin träumen,
doch plötzlich wurde sie diesen Träumen entrissen, denn sie
vernahm eine erregte Stimme.
Sanft zog sie den Zügel an. Lautlos blieb Robin Hood stehen.
Er wieherte nicht und gab kein Zeichen eines Protests.
»Laß mich los, Francis«, sagte eine weibliche Stimme, die
Olivia als die von Alexa erkannte. »Ich will mit dir nichts zu
tun haben. Wie oft habe ich das gesagt.«
»Willst du eine alte Jungfer werden?« erwiderte eine barsche
Männerstimme. »Hab dich doch nicht so. Du bist doch auch
nicht besser als Cynthia. Aber wenn du meinst, daß
Christopher dich heiraten wird, täuschst du dich.«
Olivia nahm es auf, aber sie konnte darüber nicht
nachdenken. Sie überlegte blitzschnell, ob sie verschwinden
sollte, aber wenn Robin Hood dann wieder wieherte, würde
man sie bemerken.
Sie riß die Zügel an, und erschrocken bäumte der Rappe sich
auf und wieherte hell.
»Sei brav«, sagte sie laut und tätschelte ihm zärtlich den
Hals. Der Rappe stand wieder still.
Das Gebüsch teilte sich. Alexa stand vor ihr. Ihre Augen
waren schreckgeweitet.
»Sie reiten Robin Hood?« stammelte sie atemlos.
»Warum nicht?« fragte Olivia spöttisch. »Ich denke, daß er
jetzt auch mir gehört.«
»Sicher«, erwiderte Alexa tonlos. »Reiten wir zu Ettingham
hinüber, Olivia?«
»Soll ich dem Herzog einen Besuch abstatten?« fragte sie
anzüglich, aber Alexas bittender Blick irritierte sie.
»Möchten Sie Lady Winters nicht guten Tag sagen, Sir
Fleming?« fragte Alexa jetzt über die Schulter hinweg.
Mit seinem charmantesten Lächeln drängte sich Francis
Fleming nun ebenfalls durch das Gebüsch.
»Sehr erfreut, Sie so bald wiederzusehen«, sagte er galant.
»Zwei hübsche junge Damen an einem Morgen sind fast zuviel
für einen einsamen Land-Edelmann. Darf ich sie bald in
Bradford-Castle begrüßen, Mylady? Gestern hatte ich keine
Ahnung, die Tochter einer Bradford vor mir zu haben, sonst
hätte ich Sie mit gebührender Hochachtung begrüßt. Ich fühle
mich sehr wohl in Bradford-Castle, wenn Sie dies Ihrer
verehrten Frau Mutter berichten wollen.«
Wieder sah Olivia einen blonden Jüngling vor sich. Viel hatte
er mit diesem Francis Fleming nicht mehr gemein, dessen
Gesicht die Spuren eines bewegten Lebens aufwies, was ihr
jedoch erst jetzt bewußt wurde.
Aber sie vermeinte seine Stimme zu hören, die da sagte:
»Warum regst du dich auf, liebste Mary? Cynthia hat
keinerlei Skrupel, also brauchst du nachträglich auch keine zu
haben.«
Ihr Gesicht war maskenhaft erstarrt. Fünf Jahre mußte sie
damals gewesen sein, und genau erinnerte sie sich des Tages,
an dem ihre Mutter Francis Fleming Bradford-Castle verkauft
hatte. Es war seltsam, daß Kindheitserinnerungen so haften
bleiben konnten, um eines Tages wieder lebendig zu werden.
Sie maß den Mann mit einem unergründlichen Blick.
»Christopher ist verreist«, tönte Alexas Stimme an ihr Ohr.
»Es würde mich freuen, wenn Sie mich begleiten würden,
Olivia.«
»Mich würde es freuen, wenn Sie Bradford-Castle bald einen
Besuch abstatteten, Lady Olivia«, sagte Francis Fleming.
»Olivia! Welch ein wunderschöner Name. Man fühlt sich in
eine tropische Landschaft voll köstlichen Zaubers versetzt.«
»Warum leben Sie dann in Schottland, wenn Ihnen dies so
gefällt?« fragte Olivia hintergründig. »Good bye, Sir
Fleming.«
»Ich habe Sie vor ihm gewarnt, Olivia«, sagte Alexa leise, als
sie durch den Wald ritten, »aber machen Sie sich ihn nicht zum
Feind.«
»Ich lasse mich nicht einschüchtern«, erwiderte Olivia
gelassen, »nicht von Geistern und auch nicht von einem
Francis Fleming. Haben Sie Angst vor ihm, Alexa?«
»Angst? Ich hasse ihn.«
»Oh«, kam es gedehnt über Olivias Lippen. »Sie werden Ihre
Gründe dafür haben«, fügte sie dann rasch hinzu.
»Die habe ich«, erwiderte Alexa. »Bitte, begleiten Sie mich
nach Ettingham, Olivia.«
Sie hat doch Angst, dachte Olivia und stimmte zu. Vielleicht
konnte sie mehr über Francis Fleming erfahren.

Der starrte ihnen mit zusammengekniffenen Augen nach. Er


war wütend, daß Olivia dazwischengekommen war. Nun hatte
er Alexa nicht überzeugen können und außerdem auch die
reizende Olivia skeptisch gemacht.
Er ritt auf Umwegen nach Bradford-Castle zurück, wo ihn
eine andere Überraschung erwartete.
Sein Butler, ein Mann mit stechenden Augen und kahlem
Kopf, berichtete ihm, daß der Herzog von Ettingham hier
gewesen sei.
»Christopher?« entfuhr es Francis Fleming.
»Er wartete zehn Minuten, dann fuhr er wieder fort. Ich soll
ausrichten, daß er bei Gelegenheit wiederkommt. Wenn mir
die Bemerkung gestattet ist, er machte einen sehr zornigen
Eindruck.«
»Als er kam oder als er ging?« fragte Fleming. »Wo hat er
gewartet?«
»In der Bibliothek, Sir.«
Ein hinterhältiger Ausdruck machte sein Gesicht noch
abstoßender.
Langsam ging Francis Fleming auf die Bibliothek zu. »Sie
sollten keine so eigenmächtigen Entscheidungen treffen, Nat«,
sagte er, aber dabei lächelte er triumphierend.
In der Bibliothek hingen mehrere Gemälde. Alle stellten sie
schöne Frauen dar in tief dekolletierten Kleidern, bis auf eine,
die in einem hochgeschlossenen grünen Kleid nicht in diese
Galerie zu passen schien. Sie war zart, blond, sehr jung und
anmutig und ihr Gesicht hatte einen verträumten Ausdruck.
»Lady Mary Bradford«, stand auf einem goldenen kleinen
Schild.
Doch gleich daneben hing das Bild von Cynthia Fenner.
Purpurrot war das tiefdekolletierte Kleid, und an ihrem
schlanken Hals lag ein Collier, das ein blutroter Rubin zierte.
»Nun, Cynthia«, sagte Francis Fleming zynisch, »jetzt bin ich
aber sehr gespannt, wie dein Sohn reagiert. Niemand kann mir
einen Vorwurf machen, daß ich ihm dein Bild gezeigt habe.
Wie sollte ich damit rechnen, daß er hierherkommen würde?
Es sollte wohl so sein. Nun werden meine Sorgen bald
behoben sein.« Nach diesem Monolog drückte er auf einen
Knopf. Das Bild schwenkte zurück, und eine Stahltür wurde
sichtbar, die er öffnete. Er entnahm dem Safe ein Bündel
Briefe, die er genußvoll durch seine Hände gleiten ließ.
»Wer wird wohl den höchsten Preis zahlen«, murmelte er vor
sich hin, und ein satanisches Grinsen legte sich um seinen
Mund.

Olivia befand sich wieder auf dem Weg nach Greenwood-Hall,


den sie jetzt schon kannte.
»Ich bin in Sorge um Christopher«, tönte Alexas Stimme in
ihren Ohren. »Er ist so entsetzlich empfindsam.«
Das paßte nicht zu dem Bild, das sie sich von diesem Mann
gemacht hatte. Aber sie gab Alexa schließlich recht. Man
konnte einen Menschen nicht ablehnen, wenn man ihn nicht
kannte.
Das Bild des grimmigen Herzog Albert hatte noch immer in
der Halle gehangen, aber das der Dame in Weiß hatte sie
vermißt. Alexa hatte ihr auf die Frage, warum es sich nicht
mehr dort befände, eine ausweichende Antwort gegeben.
Als sie, in Greenwood-Hall angekommen, ihr Pferd dem
Stallburschen übergeben hatte, sah sie Archibald über den Hof
huschen und hinter einer Tür verschwinden, die sie bisher noch
gar nicht bemerkt hatte.
Gedankenverloren folgte sie ihm dorthin. Niemand war zu
sehen, wie sie mit einem Blick über die Schulter feststellte.
Benjamin versorgte den Rappen.
Sie stand vor dieser von dichtem Efeu versteckten Tür und
drückte zögernd die Klinke nieder.
Sie gab nach und öffnete sich lautlos. Sie mußte gut
geschmiert sein.
Olivia stand in einem dunklen Gang und mußte warten, bis
sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Langsam sich vorwärts tastend, ging sie weiter. Ihre Hand
fand eine weitere Tür und öffnete diese. Nun stand sie in einem
Raum, in den die Mittagssonne fiel. Er mußte also an der
Südseite liegen, aber sie konnte nicht lange überlegen, denn ihr
Blick fiel auf ein Bild, das ihr den Atem stocken ließ. Das
Bildnis der Dame in Weiß!
Aber jetzt war es nicht das Gemälde als solches, das in
Olivias Gedächtnis seit der Kindheit haften geblieben war,
sondern das Gesicht, Alexas Gesicht. Ja, es war so, als wäre sie
es, die da gemalt worden war.
Hatte man es aus Ettingham deswegen entfernt, damit diese
Ähnlichkeit keine befremdlichen Gedanken erwecken könnte?
Archibald stand plötzlich im Raum. Olivia wußte nicht,
woher er gekommen war. Es schien, als sei er aus dem Boden
gewachsen.
Ein keuchender Atemzug verriet ihr seine Gegenwart zuerst.
»Mylady«, stammelte er verstört.
Olivia zwang sich zu einem Lächeln. »Warum wird dieses
wunderschöne Bild versteckt, Archibald?« fragte sie sanft.
Sie sah, daß seine Lippen zitterten und auch seine Hände.
»Dieser Aberglaube, Mylady«, flüsterte er. »Man sagt doch,
daß die Weiße Dame herumspukt.«
»Sie sieht aus wie Lady Darrien«, murmelte Olivia.
Er nickte. »Deswegen sollte das Bild nicht im Schloß bleiben.
Alle Bediensteten kündigten, als Lady Darrien dort einzog.«
»Du liebe Güte, diese Ähnlichkeit wird sich doch erklären
lassen«, stellte Olivia fest. »Weiß man denn nicht, wie diese
Dame hieß?«
»Doch, Mylady. Alexa hieß sie, und nun glauben alle, daß sie
wiederauferstanden ist, um sich zu rächen.«
Olivia hielt den Atem an. »Alexa? Und wie noch?« fragte sie
beklommen.
Archibald senkte den Kopf. »Könnten wir diesen Raum nicht
verlassen, Mylady?« fragte er.
Anscheinend war er nicht frei von Angst vor dem Geist
dieser Alexa, und Olivia verspürte ebenfalls eine
unbegreifliche Beklemmung.
Archibald drückte auf einen Knopf. Die Wandtäfelung glitt
zurück und ließ einen schmalen Spalt frei, durch den sie sich
hindurchzwängen konnten.
Sie standen jetzt in dem blaugoldenen Salon. Olivia atmete
unwillkürlich auf.
»Ich will diese Geschichte wissen, Archibald«, sagte sie
drängend.
»Man soll die Geister ruhen lassen«, murmelte er.
»Lady Alexa Darrien ist kein Geist, sondern eine moderne
junge Dame«, stellte Olivia energisch fest. »Wie hieß diese
Alexa auf dem Bild?«
»Wyatt – Alexa Wyatt«, stotterte er.
»Und welche Bedeutung hat sie für die Ettinghams?«
Archibald bebte am ganzen Körper. »Sie war Herzog Alberts
Frau. Sie war nicht ebenbürtig. Sie lebte hier in Greenwood-
Hall. Bitte, fragen Sie nichts mehr, Mylady. Fragen Sie Lady
Darrien.«
»Ich will es von Ihnen wissen, Archibald«, erklärte Olivia.
»Nehmen Sie Platz und erzählen Sie.«
Olivia wurde in eine Welt versetzt, die fast dreihundert Jahre
zurücklag. So lange, wie Greenwood-Hall stand.
Herzog Albert von Ettingham hatte sich allen Anfeindungen
zum Trotz mit Alexa Wyatt zur Linken trauen lassen. Es war
eine große Liebe, doch die Feinde blieben nicht tatenlos.
Der damalige Lord Fleming – Olivia vernahm jetzt, daß
dieses Geschlecht ebenso alt war wie die Ettinghams, aber
auch, daß Lord George Fleming Herzog Alberts Freund
gewesen war – wollte Alexa Wyatt, der man einmalige
Schönheit nachsagte, für sich gewinnen. Aber Alexa wollte
nichts von ihm wissen, und so schlug seine Liebe in Haß um,
und er setzte alles daran, sich zu rächen.
Ein Netz von Intrigen wurde um Alexa gesponnen, und eines
Tages war Herzog Albert überzeugt, daß seine Frau ihn mit
Lord Fleming betrog.
Sie wehrte sich verzweifelt gegen die Anschuldigungen, doch
niemand schenkte ihr Glauben. Lady Alexa verschwand. Sie
ließ einen Brief zurück, in dem sie Rache schwor gegen
diejenigen, die ihre Liebe zerstört hatten. Und seither geisterte
sie durch die Räume von Ettingham, bis Herzog Albert, dem
Wahnsinn nahe, sich selbst umbrachte.
»Sind das Tatsachen?« fragte Olivia, als Archibald an diesem
Punkt angelangt war.
»Man erzählt es«, erwiderte er beklommen. »Man glaubt hier
überall, daß Lady Alexa erst Ruhe finden wird, wenn sie sich
gerächt hat. Es gibt viele, die daran glauben, daß sie noch
immer lebt. Seit Lady Darrien auf Ettingham lebt, sind sie
sogar überzeugt davon.«
»Sie doch aber nicht?« fragte Olivia.
Er zuckte die Schultern. »Ich weiß manchmal nicht, was ich
denken soll. Sie sieht doch genauso aus. Wer würde es denn
schon mit Herzog Christopher aushalten? Es kann doch nur ein
Geist sein.«
»Archibald«, sagte Olivia mahnend. »Lady Alexa ist ein
Mensch aus Fleisch und Blut. Es gibt viel
Familienähnlichkeiten, die sich erst nach Generationen
wiederholen. Ich zum Beispiel sehe meiner Mutter gar nicht
ähnlich, aber vielleicht wird ihr meine Tochter einmal ähnlich
sehen, sofern ich eine bekomme.«
Archibald sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an.
»Lady Bradford war ein Engel«, sagte er verhalten.
»Sie kannten meine Mutter?« fragte Olivia erstaunt zurück.
»Als sie jung war«, flüsterte Archibald. »Jung und
wunderschön. Alle liebten sie. Es wäre alles gut geworden,
wenn…« Er unterbrach sich, und vergeblich wartete Olivia,
daß er fortfahren würde.
Ein langes Schweigen folgte. »Ich möchte, daß das Bild der
Weißen Dame hier in diesem Salon aufgehängt wird«, sagte
Olivia dann wie unter einem Zwang.
»Hier, in diesem Salon?« wiederholte Archibald tonlos.
»Ja, hier – an dieser Wand soll es hängen, und ich werde es
jeden Tag anschauen. Jeder, der nach Greenwood-Hall kommt,
soll es sehen.«
»Haben Sie keine Angst vor dem Fluch?« fragte er bebend.
»Vor welchem Fluch?« fragte Olivia laut.
»Daß Lady Alexa alle vernichten wird, die sie
herausfordern?«
»Ich fordere sie nicht heraus. Ich glaube, daß sie eine
unglückliche Frau war, die irgendwo elend starb.
Wahrscheinlich wurde sie von ihren Feinden umgebracht. Man
hat sie verleumdet, aber das alles werde ich herausfinden. Sie
soll ihre Ruhe bekommen. Möchten Sie noch etwas sagen,
Archibald?«
»Es heißt auch, daß sie alle schützen wird, die ihr vertrauen
und sie lieben«, flüsterte der Butler.
»Nun, wovor’ sollten wir dann Angst haben?« fragte Olivia.
Am Nachmittag schon hing Lady Alexas Bild in dem blau-
goldenen Salon, und Olivia betrachtete es lange. Es war ihr, als
lächle dieses schöne Antlitz auf sie herab, und sie wünschte,
daß Alexa Darrien eines Tages auch so lächeln würde.
Bis in die Nacht hinein saß sie dann noch in der Bibliothek
und las in der Familienchronik der Ettinghams, doch als sie
endlich den Namen Alexa Wyatt fand, schlief sie, müde, über
diesem dicken vergilbten Band ein.
Archibald fand sie am Morgen so, das glänzende Haar lag
wie ein Schleier über dem Buch und der Platte, und Olivia
schrak zusammen, als er sanft seine Hand auf ihre Schulter
legte.
»Mylady sollten sich zu Bett begeben«, sagte er leise, und ein
weiches Lächeln lag um seinen schmalen Mund.
Taumelnd erhob sich Olivia. »Ich werde baden und dann
nach Ettingham reiten. Bitte, bereiten Sie Lady Alexa vor.«
»Wie Mylady wünschen«, murmelte er.

Als Alexa Darrien am Morgen ihre Gemächer verließ und die


Freitreppe hinunterschritt, trat Herzog Christopher durch die
Tür.
Mit einem erleichterten Ausruf eilte sie ihm entgegen.
»Chris, wo warst du?« fragte sie. »Ich habe mich um dich
gesorgt.«
»Sehe ich so aus, als müßte man sich um mich sorgen?«
fragte er heiser.
Gedankenverloren betrachtete er ihr Gesicht. »Wie sehr du
ihr gleichst«, murmelte er. »Ich weiß nicht, ob es nicht besser
wäre, wenn du nach Edinburgh gehen würdest, Alexa.«
»Wegen dieser dummen Redereien? Ich weiß doch, daß ich
erst seit fünfundzwanzig Jahren lebe und nicht schon
dreihundert«, erklärte sie betont gleichmütig. »Allerdings
stimmt es mich nachdenklich, daß das Schicksal mir ihr
Aussehen geben mußte. Doch ich kann diese Frau nur
bedauern.«
Das Telefon läutete. Immer schrak sie zusammen, wenn sie
diesen Ton vernahm, weil er nicht in dieses alte Schloß paßte,
aber gleichzeitig erinnerte es sie daran, daß sie im zwanzigsten
Jahrhundert lebten und nicht in einer unheilschwangeren
Vergangenheit.
Wenig später erschien der Haushofmeister. Als solcher wurde
Cabot bezeichnet.
»Lady Winters kündigt ihren Besuch an«, meldete er formell.
Christophers Gesicht verdüsterte sich wieder. »Wie das?«
fragte er rauh.
»Ich weiß den Grund nicht«, erwiderte Alexa beklommen.
»Bitte, Christopher, schenk mir einen Augenblick Gehör.«
Er folgte ihr in den Salon. »Ich bin müde«, murmelte er. »Ich
habe seit gestern morgen nicht geschlafen.«
»Du willst ihr nicht begegnen«, stellte Alexa fest.
»Es hat sich seit gestern manches verändert«, sagte er
gepreßt. »Ich bin wirklich müde, Alexa.«
Es hat sich seit gestern manches verändert, hatte er gesagt.
Die Bemerkung gab ihr Rätsel auf.
»Du warst in Edinburgh?« fragte sie.
Er nickte. »Ich habe mit Vater gesprochen«, erwiderte er
tonlos. »Stell bitte keine Fragen!«
»Ich habe gestern Olivia getroffen«, erzählte sie nach einer
kurzen Pause. »Sie rettete mich aus einer fatalen Situation. Ich
traf nämlich Francis Fleming.«
Sein Gesicht verhärtete sich wieder. »Er belästigt dich noch
immer?«
»Er verfolgt ein bestimmtes Ziel, Christopher«, sagte sie
leise. »Ich kann mich dieses Gefühls nicht erwehren. Ich bat
Olivia, mich nach Ettingham zu begleiten. Sie tat es. Ich
möchte es dir sagen, bevor du es von anderen erfährst.«
Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging mit
schweren Schritten hin und her.
»Erzähle weiter«, sagte er.
»Sie war als Kind in Ettingham. Sie konnte sich an das Bild
von Herzog Albert erinnern. Sie vermißte das der Dame in
Weiß. Es ist eigenartig, daß ihre Erinnerung so weit
zurückreicht, findest du nicht?«
»Man wird ihr später manches darüber erzählt haben«,
murmelte er. »Sie wird nichts Geheimnisvolles finden, sollte
sie das Bild einmal sehen. Sie ist modern erzogen und glaubt
solche Ammenmärchen sicher nicht.«
»Sie wird jetzt sicher bald kommen«, murmelte Alexa. »Ihr
Besuch muß einen Grund haben.«
»Du wirst ihn schon erfahren. Entschuldige mich bitte.«
Alexa sah ihn mit einem zaghaften Lächeln an. »Willst du sie
nicht wenigstens begrüßen, Christopher?«
»Wenn ich nicht vorher einschlafe«, entgegnete er
unbestimmt. »Und überlege dir, ob du nicht doch nach
Edinburgh gehen willst, Alexa. Vater würde sich freuen.«
Schon wenig später vernahm sie Motorengeräusch, diesmal
kam Olivia nicht zu Pferde, sondern mit dem Wagen.
Alexa ging ihr entgegen. »Christopher ist zurück«, raunte sie
Olivia nach der Begrüßung zu. Olivia zeigte kein Erschrecken.
»Weiß er, daß ich komme?« fragte sie ruhig.
Alexa nickte. »Er kam erst heute morgen zurück. Er war in
Edinburgh. Er hat seinen Vater aufgesucht.«
»Warum?« fragte Olivia nachdenklich.
»Das weiß ich nicht. Er spricht nicht viel. Er ist sehr
verschlossen in allen Dingen.«
»Ich komme nicht seinetwegen«, erklärte Olivia gelassen.
»Ich möchte mit Ihnen über das Bild der Dame in Weiß
sprechen, Alexa. Es hängt seit gestern im blaugoldenen
Salon.«
Alexa erblaßte. »Wieso das?« fragte sie bebend.
»Ich habe es angeordnet, weil ich es viel zu schön finde, als
daß es in einer unzugänglichen Kammer aufbewahrt wird.«
»Wollen Sie das Unglück herausfordern, Olivia?« fragte
Alexa beklommen.
Olivia umfaßte sie mit einem gedankenvollen Blick.
»Man sagt, daß sie diejenigen beschützt, die ihr vertrauen und
sie lieben«, sagte sie leise. »Zu jenen gehöre ich. Ich habe
keine Angst, obgleich die Ähnlichkeit zwischen ihr und Ihnen
geradezu unheimlich ist.«
»Sie war meine Ahnin«, erwiderte Alexa. »Allerdings wäre
ich froh, wenn die Ähnlichkeit nicht so deutlich wäre.«
»Warum? Sie war eine sehr schöne Frau, und wenn Sie die
Haare offen tragen würden, wären Sie noch um einiges
schöner«, stellte Olivia fest. »Warum leben Sie in Ettingham,
wenn Sie sich fürchten vor dieser Ahnin?«
»Christopher bot es mir an. Ich habe keine Angehörigen
mehr«, erwiderte Alexa leise.
»Sie lieben ihn«, stellte Olivia fest.
»Welch romantische junge Dame«, sagte eine tiefe, ironische
Stimme.
Langsam kam Herzog Christopher die Treppe herab. Er hatte
sich umgekleidet und trug nun einen Reitanzug.
Olivia schrak zusammen, als sie jenen Fremden von neulich
in ihm erkannte.
Jetzt allerdings zeigte sein Gesicht ein liebenswürdiges
Lächeln, und sie bemerkte, wie ähnlich er seinem Vater war.
»Eine romantische, aber auch mutige junge Dame«, fuhr er
fort. »Liebst du mich, Alexa?«
Olivia erzitterte unter seinem Blick, denn er sah nicht Alexa
an, sondern sie.
Alexa preßte ihre Hände aneinander. Kalkweiß war sie und
zu Tode erschrocken, wie es schien.
»Vorzustellen brauche ich euch wohl nicht«, brachte sie
mühsam über die Lippen.
»Es erübrigt sich«, murmelte er. »Ich muß Ihren Mut
bewundern, Lady Olivia. Alexa wird Ihnen doch wohl
ausgerichtet haben, daß ich auf weitere Begegnungen mit
Ihnen gern verzichten würde.«
»Ich dachte nicht, daß ich Sie antreffen würde«, schleuderte
ihm Olivia ins Gesicht. »Vielleicht besuchen Sie mich, Alexa,
damit wir ungestört unser Gespräch fortführen können. Oder
bestimmt Herzog Ettingham, wen Sie besuchen dürfen?«
»Selbstverständlich steht es Alexa frei, Sie jederzeit zu
besuchen«, erwiderte er unerschüttert. »Aber Sie können sich
auch jetzt unterhalten. Ich mache einen Morgenritt.«
Er verbeugte sich und war verschwunden, bevor es die beiden
jungen Damen noch recht begriffen hatten.

»Es tut mir leid«, sagte Olivia, nachdem er gegangen war. »Ich
wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«
Dann kam sie auf das Gemälde zurück.
»Ich habe heute nacht die Chronik studiert«, erzählte sie
beiläufig. »Darüber bin ich eingeschlafen, aber bevor ich zu
Ihnen kam, las ich noch, daß Lady Alexa nie wieder
aufgetaucht ist und daß ihre Kinder in Südengland erzogen
wurden.«
»Von einer Lady Bradford«, nickte Alexa. »Wie Sie sehen,
gab es auch zwischen unseren Vorfahren schon eine
freundschaftliche Verbindung. Könnten wir Freundinnen sein,
Olivia?«
»Freundinnen sollten offen zueinander sein«, sagte Olivia
gedankenvoll.
»Das möchte ich gern sein, obgleich ich fürchte, daß Sie
manches nicht verstehen könnten.«
»Ich kann es immerhin versuchen«, meinte Olivia sinnend.
»Wollen Sie das Erbe annehmen, Olivia?«
»Ja«, erwiderte sie bestimmt. »Ich war zuerst schwankend,
aber jetzt reizt es mich. Für mich stehen sehr viele Fragen
offen. Vielleicht können Sie mir manche Antwort geben,
Alexa.«
»Wenn es mir möglich ist? Was Christopher anbetrifft, kann
ich nicht viel sagen.«
»Mich würde mehr interessieren, warum meine Mutter
Bradford-Castle an Francis Fleming verkauft hat«, murmelte
Olivia.
Überrascht blickte Alexa sie an. »Das allerdings kann ich
Ihnen auch nicht sagen. Aber könnte Ihre Mutter Ihnen diese
Frage nicht beantworten?«
»Nein, sie weicht aus. Früher habe ich dem keine Bedeutung
beigemessen, da sie immer sagte, daß sie lieber in Frankreich
leben wolle. Ich hatte keine Bindung an Mamas Heimat, und
mein Vater haßte Schottland. Ich denke, daß der Grund Sir
William war.«
Alexa sah zu Boden. »Was wissen Sie, Olivia?« fragte sie
leise.
»Daß meine Mutter Sir William liebte«, erwiderte Olivia.
»Aber er war verheiratet mit einer sehr schönen Frau.«
Alexa legte den Finger auf den Mund. »Christopher könnte
zurückkommen«, flüsterte sie. »Sprechen Sie nicht darüber. Es
ist wohl doch besser, wenn ich Sie in Greenwood-Hall
besuche.«
Ein Frösteln kroch durch Olivias Körper. »Was bedeutet
Ihnen Christopher?« fragte sie leise.
Alexa wandte ihr Gesicht ab. »Sehr viel«, erwiderte sie mit
belegter Stimme. »Wir brauchen uns. Nein, ich kann es Ihnen
nicht erklären. Ich muß erst mit ihm sprechen, Olivia. Dazu
hatte ich heute morgen keine Gelegenheit.«
»Dann werde ich jetzt fahren«, sagte Olivia nachdenklich.
»Vielleicht sehe ich Sie bald in Greenwood-Hall, wenn Sie
nicht Angst haben, das Bildnis der Dame in Weiß zu sehen.«
Alexa ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. »Francis
Fleming wird Ihnen bestimmt bald einen Besuch machen«,
murmelte sie. »Lassen Sie sich nicht durch seinen Charme
täuschen, Olivia. Ich flehe Sie an, ihm nicht zu trauen. Aber
zeigen Sie ihm das Bild.«
Was sollte das nun wieder bedeuten? Olivia dachte darüber
nach, aber ihre Gedanken irrten ab, als sie einen Reiter
bemerkte, der ihr den Weg versperrte. Wieder einmal stand
Christopher vor ihr. Ein spöttisches Lächeln lag über seinem
harten Gesicht.
»Die Plauderei schon beendet?« fragte er anzüglich. »Junge
Damen finden sonst doch eigentlich kein Ende. Ich hörte, daß
Sie Robin Hood geritten haben, Lady Winters. Nehmen Sie
sich in acht, daß er Sie nicht abwirft. Ich würde es
außerordentlich bedauern, wenn Sie Ihr junges Leben
ausgerechnet hier beenden müßten.«
»Sollten Sie sich darüber nicht eher freuen, Sir?« fragte sie
empört. »Dann fällt Greenwood-Hall doch an Sie zurück.«
Er preßte seine Lippen aufeinander. »Ich habe andere Pläne
mit Greenwood-Hall«, stieß er heftig hervor. »Sie werden es
zu gegebener Zeit erfahren, Lady Olivia. Im übrigen möchte
ich mich bedanken, daß Sie Lady Alexas Bild den Platz
zugewiesen haben, der ihm zusteht. Sie haben einen guten
Instinkt.«
Er hob grüßend die Reitgerte und preschte an ihr vorbei.
Olivia blieb noch einige Zeit stehen. Er war also in
Greenwood-Hall gewesen, und Archibald mußte ihm das Bild
gezeigt haben. Seine Bemerkung gab ihr zu denken. Doch nun
kehrten ihre Gedanken zu Alexa zurück.
Sie lebte mit Christopher unter einem Dach. Sie hatte gesagt,
daß sie einander brauchten. Warum heirateten sie nicht?
Dieser Gedanke ließ ihr das Blut in den Adern erstarren.
Ein nie gekanntes Gefühl ergriff von ihr Besitz und lähmte
sie.
Das ist Wahnsinn, dachte sie. Ich kann doch für diesen Mann
nichts empfinden. Es ist nur seine Ähnlichkeit mit Sir William,
die mich für ihn einnimmt, obgleich ich ihn doch hassen
müßte.
Sie war froh, als sie wieder in Greenwood-Hall war. Lange
stand sie vor dem Gemälde der Dame in Weiß.
Dann ging sie in ihr Zimmer und schrieb einen langen Brief
an Robin Hatton, ihren Jugendfreund. Sie brauchte jemanden,
bei dem sie Halt suchen konnte.

Eine Woche hatte Olivia Alexa nicht gesehen und nichts von
ihr gehört. Täglich war sie auf Robin Hood geritten.
An diesem schönen Maiensonntag nun wartete bei ihrer
Rückkehr Francis Fleming auf sie. Er mußte kurz zuvor
angekommen sein, denn er stand noch mit Archibald in der
Halle. Olivia hatte das Gefühl, daß sich zwei Feinde
gegenüberstünden.
»Lady Olivia – wie hübsch, daß Sie kommen«, sagte Francis
Fleming mit seinem charmantesten Lächeln, das für Olivia
unwillkürlich eine Warnung war.
Archibald verschwand, aber Olivia fing noch einen
bedeutsamen Blick von ihm auf, in dem ein Flehen zu lesen
war.
Olivia war es plötzlich, als stünde Alexa neben ihr. Nicht
Alexa Darrien, sondern Alexa Wyatt. Sie sagte gar nicht das,
was sie eigentlich sagen wollte. Sie befand sich nicht mehr in
der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit.
»Bitte, treten Sie doch ein, Sir Fleming«, vernahm sie ihre
eigene Stimme.
Sie öffnete die Tür zum blaugoldenen Salon. Ein Lächeln auf
den Lippen, trat Francis Fleming ein, doch das Lächeln wurde
zu einer Grimasse, und er sah aus, als hätte man ihm einen
Schlag versetzt.
Mit schreckensvoll geweiteten Augen starrte er das Bildnis
der Dame in Weiß an.
»Kennen Sie es nicht?« hörte sich Olivia mit klirrender
Stimme fragen. »Es ist Lady Alexa Wyatt. Die Ähnlichkeit mit
Lady Darrien ist doch verblüffend. Deswegen habe ich es hier
aufhängen lassen.«
Es dauerte Sekunden, bis er sich halbwegs gefangen hatte.
»Sie haben Mut, Lady Olivia«, stieß er hervor.
»Mut?« Sie lachte auf. »Glauben Sie etwa auch an Geister?
Ich finde, daß sie eine bezaubernd schöne Frau war, die man
nicht in einem dunklen Kämmerlein verschließen sollte. Du
lieber Gott, ich möchte nicht wissen, was der Volksmund für
Sagen um sie gewoben hat. Ich bin jedenfalls nicht
abergläubisch.«
»Man darf das Unglück nicht heraufbeschwören«, sagte er
dumpf. »Ich wollte Ihnen auch nur einen Höflichkeitsbesuch
machen und Sie bitten, am nächsten Sonnabend nach
Bradford-Castle zu kommen. Unsere Nachbarn brennen
natürlich darauf, die Tochter von Lady Mary Winters
kennenzulernen.«
Olivia zwang sich zu einem Lächeln. »Ich werde gern
kommen«, erwiderte sie fast gegen ihren Willen. »Wie nett,
daß Sie mir die Einladung selbst überbracht haben. Werden
Herzog Christopher und Lady Archibald auch erscheinen?«
Francis Fleming war noch immer fahl. »Einladen werde ich
sie jedenfalls«, entgegnete er. »Sie sind allerdings nicht sehr
gesellig.«
»Oh, ich liebe Geselligkeit«, lächelte Olivia. »Darf ich
gegebenenfalls noch einen Gast mitbringen? Ich erwarte
Besuch.«
Die Falte in seiner Stirn vertiefte sich. »Männlichen
Besuch?« fragte er impulsiv.
»Lord Hatton«, erwiderte sie gelassen.
»Ihr zukünftiger Mann?« fragte er unbeherrscht.
»Vielleicht«, entgegnete sie mit einem rätselhaften Lächeln.
Warum hatte sie das gesagt?
Dieses Haus – oder war es die Landschaft? – mußte einen
eigentümlichen Zwang auf sie ausüben, der Gedanken
heraufbeschwor, die ihr sonst niemals gekommen wären.

Christopher Herzog von Ettingham kniff die Augen


zusammen, als Cabot ihm einen Briefumschlag auf silbernem
Tablett brachte.
»Er lag vor der Tür, Sir«, sagte er mit dumpfer Stimme.
»Danke, Cabot. Streikt etwa die Post wieder einmal?« fragte
Christopher.
»Er hat keine Briefmarke, Sir«, bemerkte Cabot höflich.
»Ich sehe es. Man will sparen«, bemerkte der Herzog
leichthin.
Der Spott verging ihm, als er den Umschlag geöffnet hatte.
Sein Gesicht sah zum Fürchten aus. So stellte man sich wohl
einen Raubritter vor, der sich einen Angriff überlegte.
Der Büttenbogen ohne Signatur enthielt nur zwei Zeilen.
»Falls Sie die Briefe zurückhaben wollen, die Ihre Mutter an
Sir Francis Fleming schrieb, hinterlegen Sie fünfzigtausend
Pfund an einem Ort, der Ihnen noch telefonisch durchgesagt
wird.«
Seine kräftige Hand knüllte den Bogen zusammen, doch
bevor er ihn in den Kamin schleuderte, hielt er inne.
Er läutete. »Meinen Wagen«, sagte er zu Cabot, der eilends
erschien.
In der Halle traf Christopher auf Alexa. Sie wich zurück, als
er blindlings an ihr vorbeistürzte.
»Chris«, rief sie ihm nach, »wohin willst du?«
Er blickte sie an, als sähe er einen Geist. »Laß mich in
Ruhe«, knirschte er.
»Chris«, rief sie ängstlich aus und wich zur Wand zurück.
»Verzeih, Alexa«, murmelte er. »Ich habe es eilig.«
»Wohin willst du?« fragte sie atemlos, da sie fürchtete, daß
Olivia durch irgend etwas seinen Zorn erregt haben könnte.
»Das kann ich dir nicht sagen«, murmelte er
geistesabwesend. Doch dann fügte er etwas hinzu, was sie in
Angst und Schrecken versetzte. »Vielleicht geschieht etwas
Schreckliches – dann bewahre wenigstens du gute Gedanken
an mich und sag Vater, daß er doch der bessere Herzog von
Ettingham gewesen wäre.«
»Bitte, lauf nicht so weg, Chris«, flehte sie. »Laß uns in Ruhe
sprechen. Vielleicht kann ich dir helfen, wenn etwas geschehen
ist.«
»Mir kann niemand helfen«, erwiderte er tonlos, und dann
ließ er sich nicht mehr aufhalten.

Sir William Fenner hatte heute morgen einen ähnlichen Brief


bekommen. Nur hatte ihn die Post gebracht, und von ihm
wurden hunderttausend Pfund für diese Briefe verlangt.
Er geriet nicht in eine so fürchterliche Erregung wie sein
Sohn, denn er wußte längst, daß Cynthia sehr enge
Beziehungen zu Francis Fleming unterhalten hatte, obgleich er
fast zehn Jahre jünger war als sie.
Nicht einmal Christopher zuliebe war er bereit, eine solche
Summe zu zahlen. Er überlegte ganz sachlich und kam
schließlich zu dem Schluß, daß der Erpresser sich
wahrscheinlich auch an Christopher wenden würde. Und wer
dieser Erpresser war, ahnte er ebenfalls.
So weit war er in seinen Überlegungen gekommen, als ihm
Lady Mary Winters gemeldet wurde. Dies brachte ihn weit
mehr aus der Fassung. Ein seltsames Zusammentreffen war
das. Gerade jetzt kam sie, als er so intensiv an die
Vergangenheit erinnert wurde.
Wenige Minuten später standen sie sich gegenüber. Stumm
blickten sie sich an.
Er brauchte lange, bis seine Stimme ihm wieder gehorchte.
»Du hast dich nicht verändert, Mary«, sagte er leise.
Ein wehmütiges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ich bin
dreiundzwanzig Jahre älter geworden, William.«
»Und noch schöner«, murmelte er.
Ihre feinen Hände streckten sich ihm entgegen. Er griff sie
und zog sie an seine Lippen. Es war weit mehr als eine Geste,
und ihr konnte die Erschütterung nicht entgehen, die sich auf
seinen Zügen malte.
»Du kommst zu mir?« flüsterte er.
»Du wärest ja nicht zu mir gekommen«, entgegnete sie.
»Hättest du es gewollt?«
Sie schloß die Augen. »Ich wußte, daß du nicht kommen
würdest«, sagte sie noch einmal mit ernstem Nachdruck.
»Aber du fühltest hoffentlich doch, daß ich dich nie
vergessen habe. Nicht einen Tag, Mary.«
Sie löste sich von ihm und sank in einen Stuhl. Der Boden
hatte unter ihren Füßen zu schwanken begonnen, und der Tag
war ihr gegenwärtig, als sie sich zum erstenmal begegnet
waren. Sir William Fenner, verheiratet mit Cynthia und Vater
eines sechsjährigen Sohnes, und sie, ein blutjunges Mädchen,
Mary Bradford, und doch hatten sie beide gewußt, daß sie sich
von der ersten Sekunde an liebten.
»Mary, meine Liebe«, flüsterte er und sank neben ihr in die
Knie. Ihre Schultern zuckten von unterdrücktem Schluchzen,
und behutsam strich sie mit den Fingern durch sein dichtes
graues Haar.
»Warum konnten wir uns nicht damit abfinden, William?«
fragte sie mit tränenerstickter Stimme.
»Weil wir uns zu sehr liebten und weil ich dich noch genauso
liebe wie damals.«
Und sie? Oh, sie hatte nicht aufgehört, ihn zu lieben. Nur
Olivia hatte ihre Ehe erträglich gemacht, zu der sie von ihren
Eltern gezwungen worden war. Und sie allein wußte, welche
Opfer sie für ihre Liebe zu William gebracht hatte.
»Wirst du nun in Schottland bleiben?« fragte er.
»Ich bin gekommen, weil ich mich um Olivia sorge«,
erwiderte sie leise.
»Aber du bist zuerst zu mir gekommen«, stellte er mit einem
leisen Hoffnungsschimmer in den Augen fest.
Widerstandslos ließ sie sich in seine Arme nehmen, und zum
erstenmal konnten sie sich küssen ohne Angst vor wildem Haß,
der alles vernichten wollte, was nicht eigener Besitz war. Vor
dem Haß Cynthias.
Es dauerte lange, bis sie sich in die Gegenwart zurückfanden,
zu Olivia.
»Olivia will in Greenwood-Hall bleiben«, murmelte Mary.
»Sie will es behalten.«
»Es gehört ihr, da du darauf verzichtet hast«, erwiderte er.
»Dort, so nahe bei Bradford-Castle«, seufzte sie gequält.
»Lebt Cynthia noch immer dort?«
Er nickte. »Warum hast du ihm Bradford-Castle verkauft,
Mary?« fragte er drängend. »Ausgerechnet ihm?«
Wie würde er die Wahrheit aufnehmen? Durfte sie es ihm
sagen, oder sollte sie ewig schweigen?
»Er will mich erpressen«, stieß er zwischen den Zähnen
hervor. »Diesen Brief hier habe ich heute erhalten.«
Sie las ihn, und ihre Augen weiteten sich. »Bist du sicher,
daß er den Brief geschrieben hat?« fragte sie gepreßt.
»Wer anders sollte denn im Besitz dieser Briefe sein? Ich
kenne ihn doch. Er hat sie wohlbewahrt und auf einen
Augenblick gewartet, in dem er zum Schlag ausholen kann. Ich
frage mich nur, warum er bis jetzt gewartet hat.«
Sie war nun schon bereit, ihm auch ihr Geheimnis
anzuvertrauen, aber sie wollte noch etwas anderes wissen.
»Warum hast du auf den Titel verzichtet, William?« fragte
sie.
»Mein Gott, warum schon. Ich habe niemals Wert darauf
gelegt, nicht damit gerechnet, daß meine Brüder vor mir
sterben würden. George kinderlos, Albert als Vater einer
Tochter. Christopher gleicht meinem Vater. Es ist nur…«, er
unterbrach sich, »aber was sollen wir jetzt darüber sprechen.
Ich bin glücklich, dich zu sehen, Mary, noch glücklicher zu
wissen, daß ich dich nicht ganz verloren habe. Was macht da
schon dieser Brief aus?«
»Ich muß dir etwas sagen, William. Ich habe Bradford-Castle
nicht verkauft!«
»Nicht verkauft? Du hast es ihm nur verpachtet?«
»Nein. Auch mich hat er erpreßt. Ich habe ihm Bradford-
Castle überlassen, damit er dich in Ruhe läßt.«
Er starrte sie an. »Das ist Wahnsinn, Mary«, flüsterte er.
»Dieser Besitz…«
»Was bedeutete er mir. Ich wollte dort nicht mehr wohnen.
Meine Eltern hatten mich zu der Ehe mit David gezwungen. Er
haßte Schottland. Fleming kam damals schon zu mir, als meine
Eltern noch lebten. Cynthia hatte ihm die beiden Briefe
gegeben, die ich dir – verzeihe es mir bitte noch nachträglich –
im Überschwang meiner Gefühle geschrieben hatte. Ich hätte
es nicht tun dürfen, William. Du warst verheiratet.«
»Mit wem – und wie«, stöhnte er.
»Liebste Mary, ich weiß nicht, wie sie in den Besitz der
Briefe kam, die doch alles waren, was ich von dir besaß. Du
hättest es mich wissen lassen sollen. Dieser Schuft!«
»Ja, er ist ein Schurke«, murmelte Mary, »aber er ließ dich
wenigstens in Ruhe.«
Es gab noch mehr zu erzählen, aber darüber wollte sie vorerst
lieber schweigen.
»Ich möchte jetzt nach Greenwood-Hall fahren, William.
Robin ist schon vorausgefahren. Erinnerst du dich an den
kleinen Robin Hatton?«
Williams Gesicht überschattete sich. »Wie steht er zu
Olivia?« fragte er hastig.
Sie lächelte. »Sie sind zusammen aufgewachsen, und
vielleicht werden sie einmal ein Paar. Aber Olivia denkt sicher
noch nicht daran. Vielleicht ist heute alles anders, William,
und die jungen Leute kennen die Liebe auf den ersten Blick
gar nicht mehr. Jedenfalls sind sie gute Freunde.«
Er überlegte einige Sekunden. »Ich werde dich nach
Greenwood fahren, Mary«, erklärte er dann. »Damals hast du
alles allein ausgestanden, aber wenn Francis Fleming dir heute
begegnet, werde ich dasein. Er wird mit mir zu rechnen
haben.«
Vielleicht ist es gut, dachte sie. Einmal muß reiner Tisch
gemacht werden. Wenn Fleming diesen Erpresserbrief
geschrieben hatte, sollte er auch mit ihr zu rechnen haben. Sie
dachte an eine Urkunde, die in Greenwood-Hall deponiert war,
wenn – ja, wenn Fleming sie nicht inzwischen auch in ihren
Besitz gebracht hatte. Sie dachte auch an Herzog John, der der
einzige gewesen war, der davon gewußt hatte, und sie dachte
an Christopher, der nicht nur Cynthias, sondern auch Williams
Sohn war und den sie vor all dem Schmutz hatte bewahren
wollen.

Christopher war auf schnellstem Weg nach Bradford-Castle


gefahren. Francis Fleming rieb sich die Hände, als er dessen
Kommen bemerkte. Aber er ließ ihn noch einige Minuten
warten, nachdem der Butler ihn gemeldet hatte.
Mit undurchdringlicher Miene begrüßte er ihn. »Was
verschafft mir die hohe Ehre, Sir?« fragte er zynisch.
»Das wissen Sie, Fleming«, erwiderte Christopher eisig. Er
war jetzt ganz ruhig, denn er wußte, daß er sehr auf der Hut
sein mußte.
Fleming spielte den Ungläubigen. »Was sollte ich wissen?«
»Was bedeutet dieser Brief?« fragte Christopher.
»Darf ich einmal sehen?« Fleming war so selbstsicher, daß
Christopher doch Zweifel kamen. Nachdem er einen Blick auf
den Brief geworden hatte, setzte er eine überraschte Miene auf.
»Wie peinlich«, murmelte er. »Ich denke, wir sollten unsere
Interessen gemeinsam wahren, Christopher.«
»Ich verbitte mir jede Vertraulichkeit«, fuhr dieser ihn an.
»Wir haben keine gemeinsamen Interessen.«
»Nicht?« fragte Fleming hintergründig. »Cynthia verbindet
uns doch, denke ich. Sehen Sie, Christopher, ich leugne nicht,
daß wir uns sehr nahestanden.«
»Das weiß ich seit Sonntag«, stieß Christopher hervor. Das
Wissen hatte seine ganze Welt ins Wanken gebracht, aber
seine Gefühle wollte er nicht verraten.
»Äußern Sie sich zu diesen Briefen«, verlangte er.
Fleming zuckte die Schultern. »Mein Gott, es ist so lange her.
Ich habe an diese Briefe gar nicht mehr gedacht. Sie müssen
mir gestohlen worden sein, als damals bei mir eingebrochen
wurde. Auch das ist schon wieder Jahre her. Wie könnte ich
denn annehmen, daß jetzt noch jemand diese Briefe zu einer
Erpressung benutzen könnte. Cynthia ist doch tot.
Selbstverständlich wäre ich auch daran interessiert, die Briefe
zurückzubekommen, die ich in einer sentimentalen
Anwandlung aufbewahrte. Ihre Mutter hat mir wirklich viel
bedeutet.«
»Ich glaube es Ihnen nicht«, sagte Christopher zornig.
»Es braucht das Andenken, das Sie ihr bewahren, nicht zu
erschüttern«, murmelte Fleming. »Cynthia war damals allein in
ihrem Kummer, sie fühlte sich betrogen von ihrem Mann. Sie
brauchte einen Freund, dem sie sich anvertrauen konnte.
Machen Sie doch nicht ihr und mir einen Vorwurf. Machen Sie
diesen Ihrem Vater und Mary Bradford.«
Christopher richtete sich auf. »Das klingt alles sehr hübsch,
Fleming, aber leider weiß ich seit einer Woche, daß Sie meine
Mutter schon lange vorher kannten, bevor Mary Bradford
meinen Vater kennenlernte.«
»Wir kannten uns doch alle«, sagte Fleming wegwerfend.
»Wir waren Nachbarn. Wollen Sie jetzt etwa den Ruf der Frau
untergraben, die Sie doch so sehr liebten, die Ihre Mutter war
und sich jetzt nicht mehr wehren kann?«
Das falsche Pathos, mit dem diese Worte gesagt wurden,
verursachte Christopher Übelkeit. Er mußte sich mit aller
Gewalt zur Ruhe zwingen.
»Ich will endlich die Wahrheit wissen«, stieß er hervor, »und
ich rate Ihnen, sich sehr zurückzuhalten, sonst…«
»Das rate ich Ihnen auch«, fiel Fleming ihm ins Wort. »Ich
würde mir an Ihrer Stelle alles wohl überlegen. Immerhin
könnte man sich vorstellen, daß jemand diese Briefe
veröffentlichen wird, wenn Sie sie nicht zurückkaufen. Es gibt
Leute, die Sensationen dieser Art sehr schätzen und gern dafür
bezahlen. Was habe ich schon zu verlieren? Daß ich kein
Heiliger war und bin, weiß jeder. Ich habe nicht den Fehler
gemacht zu heiraten, und ich bin kein Herzog von Ettingham.«
Aalglatt war dieser Mann. Sein süffisantes Lächeln trieb
Christopher die Zornesröte in die Stirn.
»Wir werden uns noch sprechen«, stieß er hervor.
»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Fleming gelassen.
Nichts verriet, daß er sich den Verlauf der Unterredung anders
vorgestellt hatte. Erst nachdem Christopher gegangen war, fiel
die glatte Maske, und sein Gesicht verzerrte sich. Wenn
Christophers Gefühle für seine Mutter plötzlich umgeschlagen
waren, mußte er sich noch etwas anderes einfallen lassen, um
sein Ziel zu erreichen, und diesmal mußte er alle
Möglichkeiten einkalkulieren.
Es ärgerte ihn maßlos, daß Alexa sich so widerspenstig zeigte
und daß Olivia Winters ihn sogar provozierte. Aber noch war
nichts verloren. Er begann schon neue Pläne zu schmieden.
*

»Robin, oh, Robin, wie freue ich mich«, rief Olivia aus, als
Robin aus seinem Wagen sprang. Freude und Erleichterung
erhellte ihr Gesicht, als sie ihn umarmte. Sie hatten keine
Ahnung, daß sie beobachtet wurden.
Christopher, der sich nach seinem Besuch bei Francis
Fleming entschlossen hatte, Olivia aufzusuchen, seinen Wagen
aber an der Straße hatte stehen lassen, wich in den Schatten der
Bäume zurück. Er sah, wie das junge Paar Arm in Arm das
Haus betrat.
»Ich habe so sehr auf dich gewartet«, sagte Olivia atemlos.
Robin betrachtete sie nachdenklich. »Wenn du dich ängstigst,
warum bleibst du dann hier, Olivia?« fragte er.
»Ich ängstige mich nicht. Ich brauche nur einen Menschen,
mit dem ich einmal vernünftig über alles sprechen kann. Hier
knistert alles nur so von Geheimnissen, die ich ergründen
will.«
»Also ist Olivia mal wieder auf Abenteuersuche«, lächelte er.
»Die brauche ich nicht zu suchen. Ich bin mitten drin«,
entgegnete sie munter.
Sie hatte die Tür zum blaugoldenen Salon geöffnet.
Archibald ließ sich seltsamerweise nicht blicken, aber das
wurde Olivia gar nicht bewußt. Robin war da, und sie war
überglücklich.
Doch jetzt stand Robin da und starrte das Bild der Dame in
Weiß an. Er schien Olivias Anwesenheit vergessen zu haben.
»Der Geist von Ettingham«, murmelte er. »Wie kommt das
Bild hierher?«
»Das erzähle ich dir alles später. Ich wußte nicht, daß du das
Bild kennst.«
Daß es ein lebendiges Ebenbild gab, wollte sie ihm nicht
gleich sagen. Es gab so vieles zu erzählen, was in der
Gegenwart geschah, und er erinnerte sich, daß er sie auf den
Besuch ihrer Mutter vorbereiten mußte.
»Du hast Mama gesprochen?« fragte sie erstaunt. »Wie geht
es ihr?
Ich warte schon lange auf Post von ihr.«
»Sie wird bald selbst hier sein«, erwiderte er. »Sie hat die
Reise in Edinburgh unterbrochen.«
»Um Sir William aufzusuchen?« fragte Olivia gedankenvoll.
Er nickte. »Sie macht sich Sorgen um dich, Olivia, und ich,
offen gestanden, auch.«
»Sorge bereitet mir eigentlich nur Christopher«, bemerkte sie
gedankenvoll. »Er will mich vertreiben.«
»Dann brauchst du mich als Schutz vor ihm?« fragte Robin*
»Ach, so will ich es auch nicht sagen«, meinte sie leichthin.
»Da ist auch noch Francis Fleming, aus dem ich nicht klug
werden kann.«
»Männer über Männer«, scherzte er, um belustigt mit dem
Finger zu drohen.
»Der eine ist mehr als abweisend, der andere ein wenig zu
aufdringlich. Wir sind morgen übrigens zu einer Party bei ihm
eingeladen.«
»Bei Christopher?«
»Nein, bei Fleming.«
»Wieso wir?« fragte er darauf.
»Weil ich hoffte, daß du dann hier sein würdest. Ich habe ihm
gesagt, daß ich einen Bekannten mitbringen würde.«
»Und warum willst du überhaupt hingehen?«
»Weil ich Bradford-Castle wiedersehen will.«
»Ob es deiner Mutter recht sein wird, Olivia?« fragte er
zweifelnd.
Sie runzelte die Stirn. »Ich möchte wissen, warum Mama ihm
Bradford-Castle verkauft hat. Ich möchte alles ergründen,
Robin. Das, was damals vor dreihundert Jahren geschah, und
das, was heute geschieht. Es ist wie ein Zwang. Ich komme
nicht mehr davon los. Ich träume schon davon.«
In diesem Moment nahte schon wieder ein Wagen, und gleich
darauf vernahm Olivia einen Aufschrei. Es war Rose, die Lady
Winters entgegeneilte.
Es war ein zu Herzen gehendes Bild, das Olivia vom Fenster
aus beobachten konnte. Rose war vor ihrer Mutter
niedergekniet und küßte ihr die Hände. Mary zog sie empor
und umarmte sie.
»Meine gute Rose«, sagte sie leise, »wie freue ich mich, dich
gesund wiederzusehen.«
Das konnte Olivia nicht hören, obgleich sie nun auch
hinausgegangen war, um ihre Mutter zu begrüßen. Aber ihr
zuvor kam noch Archibald, und eine ähnliche Begrüßung wie
zuvor mit Rose spielte sich ab.
Sir William, der diese Szenen mit bewegter Miene betrachtet
hatte, kam jetzt auf Olivia zu.
»Hoffentlich ist es auch für dich eine freudige Überraschung,
mein Kind«, sagte er heiser.
Die vertraute Anrede irritierte Olivia augenblicklich.
»Sir William«, stammelte sie, aber er nahm sie in die Arme
und küßte sie auf die Wange. »Es ist, trotz allem, ein
glücklicher Tag für mich, Olivia«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Bitte, betrachte auch du mich als deinen Freund.«
Wirre Gedanken gingen Olivia durch den Sinn. Wieso
kannten Archibald und Rose ihre Mutter? Warum war diese
Wiedersehensfreude so erschütternd? Endlich konnte auch sie
ihre Mutter umarmen.
Mit Tränen in den Augen waren Rose und Archibald ins
Haus zurückgegangen. Mary blickte ihnen ebenfalls mit
feuchten Augen nach.
»Sie waren früher in Bradford-Castle«, sagte sie
gedankenverloren. »Sie kannten mich schon als Kind.«
»Warum hast du es mir nie erzählt, Mama?« fragte Olivia.
»Die Zeit war nicht reif«, erwiderte Mary Winters rätselhaft.

Nach einem wahrhaft köstlichen Mahl zogen sich Mutter und


Tochter in die oberen Räume zurück. Sir William war nach
Schloß Ettingham gefahren. Robin beschloß, sich in der
Umgebung umzuschauen.
Ja, wildromantisch war es hier, und ein junges Mädchen wie
Olivia mußte zum Träumen angeregt werden. Allerdings war
er nicht ganz damit einverstanden, daß sie so intensiv träumte.
Ihm war die frische, unbeschwerte Olivia lieber.
Robin liebte die Natur und lauschte allen Geräuschen nach.
Dem geheimnisvollen Rauschen der Bäume, dem Plätschern
des Baches und dem Jubilieren der Vögel. Er ließ seinen Blick
über die satte grüne Wiese schweifen und hielt plötzlich den
Atem an. Eine weißgekleidete Gestalt löste sich aus den
Büschen. Ihr Gang war schwebend. Sie schien den Boden nicht
zu berühren. Das Gemälde aus dem blaugoldenen Salon war
lebendig geworden.
Er war wie gelähmt. Mit einer heftigen Bewegung fuhr er
sich über die Augen, aber das Bild blieb.
Und dann kam ein Reiter des Weges, der die Zügel so scharf
anzog, daß sich das Pferd aufbäumte.
»Alexa«, tönte eine schreckensvolle Stimme an Robins Ohr.
»Laß diesen Unsinn!«
Und diese geisterhafte und doch so lebendige Gestalt sprach
ebenfalls.
»Sir Fleming, ich werde mich rächen, so lange es auch
dauern mag«, schallte ihre Stimme hohl zu Robin herüber.
»Sie werden sich noch fürchten, wie ich mich gefürchtet
habe.«
Der Reiter gab dem Pferd die Sporen und galoppierte davon,
als wäre der Teufel hinter ihm her, der Teufel in der Gestalt
eines feengleichen Wesens. Unwillkürlich hatte Robin ihm
nachgeblickt, und als er die weiße Gestalt dann suchte, war sie
verschwunden wie ein Spuk.
Vielleicht war das alles auch nur ein Spuk gewesen, vielleicht
gaukelte ihm seine Phantasie dieses Bild vor.
Er lief zu der Stelle, wo er die weißgekleidete Gestalt
gesehen hatte, lief weiter zum Wald und bahnte sich einen
Weg durch das dichte Gebüsch.
Er sah ein Gebäude, und es bedurfte nur eines kurzen
Überlegens, um in diesem Bradford-Castle zu erkennen. Er
versuchte seiner Verwirrung Herr zu werden, weil er nicht
glauben konnte, daß er so weit gegangen war, aber gleich
darauf vernahm er das leise Summen eines Motors, doch seine
Sinne wurden abgelenkt, als er einen Fetzen weißen Stoffes an
einem dürren Ast bemerkte.
Während sich das Motorengeräusch entfernte, löste er
behutsam diesen Fetzen hauchdünnen Stoffes und betrachtete
ihn verstört. Er hielt ihn an seine Nase. Ein modriger Geruch
entstieg ihm.
Das ist doch alles Irrsinn, dachte er. Olivia hat mich völlig
durcheinandergebracht mit ihren Geheimnissen.
Aber der Reiter war doch kein Hirngespinst gewesen! Er
hatte seine Stimme gehört. »Alexa – laß den Unsinn«, hatte er
gesagt. Hatte er es wirklich gesagt? Und die Frau in Weiß?
Hatte sie tatsächlich gesprochen? Bildete er sich dies alles
nicht nur ein, weil er unentwegt an dieses Gemälde hatte
denken müssen?
Ja, das war die Erklärung. Er sah sie immer vor sich, und
seine Gedanken umwoben sie auf eine rätselhafte Weise. Er
war froh, eine Erklärung gefunden zu haben, und dieses
Stückchen weißen Stoffes hing wahrscheinlich schon viele
Jahre an dem Zweig.
Dennoch legte er das feine Spitzengewebe sorgfältig in seine
Brieftasche. Und auf dem Rückweg gab er sich den Gedanken
hin, daß Olivia hier nicht bleiben durfte. Ihrer blühenden
Phantasie war dieser Aufenthalt bestimmt nicht zuträglich.

»Vater – du?« rief Herzog Christopher aus. Auch er glaubte, an


Halluzinationen zu leiden.
Aber Sir William war sehr lebendig, und seine Miene verriet
Bewegung.
Zögernd reichte Christopher ihm die Hand. Insgeheim atmete
Sir William auf. Er hatte mit einer aggressiveren Haltung
gerechnet.
»Ist Alexa nicht hier?« fragte er mit belegter Stimme.
»Sie wird in ihren Räumen sein«, murmelte Christopher. »Ich
war unterwegs. Du hättest dich anmelden sollen.«
»Ich werde nicht bleiben. Es gibt nur einige Dinge von großer
Wichtigkeit zu erörtern.«
Sein Blick schweifte durch die Halle.
»Das Bild ist nicht mehr da«, stellte er tonlos fest.
»Ich habe es wegbringen lassen«, erklärte Christopher. »Es
ist für Alexa nicht angenehm gewesen, ihr unglückliches
Ebenbild ständig zu sehen.«
»Wohin hast du es bringen lassen?«
»Nach Greenwood.«
»Ich habe es dort nicht gesehen«, murmelte Sir William. Den
blaugoldenen Salon hatte er noch nicht betreten, und so konnte
er nicht wissen, wo es hing.
»Du bist doch nicht gekommen, um mit mir über das Bild zu
sprechen«, lenkte Christopher ab.
»Nein, deswegen nicht«, erwiderte Sir William
geistesabwesend.
»Hast du auch einen Erpresserbrief bekommen?« fragte
Christopher sehr direkt.
»Du also auch«, murmelte sein Vater. »Die Hälfte du, die
Hälfte ich. Oder verlangt er von dir mehr als hunderttausend
Pfund?«
»Fünfzigtausend«, erwiderte Christopher gepreßt.
»Das verstehe wer will, aber vielleicht hat er mir zuerst
geschrieben, und dann ist ihm die Summe doch zu hoch
vorgekommen. Und wahrscheinlich nahm dieser Schurke nicht
an, daß ich mit dir darüber sprechen würde. So bedauerlich es
ist und so schwer es mir auch fällt, Christopher, aber jetzt
müssen wir darüber reden.«
Alexa stand in der Tür. Sie trug Reitkleidung und war auch
so atemlos, als käme sie eben von einem schnellen Ritt zurück.
»Onkel William«, murmelte sie verwirrt.
Impulsiv eilte sie auf ihn zu und umarmte ihn. Christopher
wandte sich ab.
»Ich habe Dringendes mit Vater zu besprechen, Alexa«, sagte
er verhalten. »Würdest du uns bitte allein lassen.«
Alexa sah Sir William flehend an. »Wir sehen uns doch aber
noch?«
Er nickte ihr zu. »Du solltest sie nicht allein ausreiten lassen,
Christopher«, sagte er zu seinem Sohn, als sie wieder allein
waren.
»Ich bin nicht ihr Kindermädchen. Sie hat ihren eigenen
Kopf«, erwiderte der Jüngere gepreßt. »Sie meidet die
Menschen, wenn dir das eine Beruhigung ist.«
»Ich könnte mir vorstellen, daß Fleming ihre Nähe sucht«,
meinte Sir William sinnend. »Wir müssen die Dinge nüchtern
sehen, Christopher. Sein Plan, Alexa zu heiraten, ist
fehlgeschlagen. Ihre Mitgift ist ihm verloren, also versucht er,
auf andere Weise zu Geld zu kommen. Also wieder
Erpressung!«
»Wieder?« fragte Christopher gedehnt. »Hat er dich schon
einmal erpreßt?«
»Mich nicht.«
»Mutter?« fragte Christopher voller Spannung.
Sir William blickte zu Boden. Sein Gesicht war fahl
geworden. »Nein«, flüsterte er.
Christopher ballte seine Hände zu Fäusten. »Sie brauchte er
ja wohl nicht zu erpressen«, sagte er langsam.
»Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt, Vater?«
»Ich hatte kein Recht, das Bild zu zerstören, das du dir von
ihr gemacht hattest, nein, dazu hatte ich kein Recht.
Schließlich bist du auch mein Sohn. Ich hätte es dir gern
erspart, aber ich kann nicht zulassen, daß deine Verachtung
Unschuldige trifft. Ich weiß nicht, wie ich dir alles erklären
soll, ohne dich zu verletzen, Christopher.«
»Womit könntest du mich noch verletzen, Vater. Ich weiß
alles. Archibald hat es mir erzählt.«
»Alles?«
»Alles, nachdem ich ihm gesagt hatte, wieviel ich schon
wußte. Ich war bei Fleming. Das erste Mal vor einigen Tagen.
Ich sah ihr Bild bei ihm, und da wurde mir schon manches
klar. Dann kam der Brief. Ich war heute wieder bei ihm. Man
kann ihn nicht packen. So habe ich mit Archibald gesprochen.
Ich ahnte, daß er mehr weiß als andere. Ich weiß, daß du ein
betrogener Mann warst, als du Mary Bradford,
kennenlerntest.«
Sir William sah seinen Sohn voll an. »Ich war sehr einsam,
Christopher«, sagte er leise. »Mary war für mich ein Wunder –
und das ist sie heute noch. Sie hat Flemings Schweigen mit
Bradford-Castle erkauft und nicht für ihre Sicherheit, sondern
um meinetwillen, auch um deinetwillen. Ich liebe Mary heute
wie damals. Und dir wollte ich sagen, daß sie keinen Haß
verdient, sondern Verehrung. Zwischen uns war nichts als
reine, lautere Liebe, das schwöre ich dir.«
»Warum nur hast du es mir nicht früher gesagt?« fragte
Christopher nach langem Schweigen.
»Hättest du mir geglaubt? Glaubst du mir jetzt? Ich weiß
doch nichts.«
»Aber Großvater wußte alles, und deswegen hat er
Greenwood-Hall Mary Winters hinterlassen. Es muß doch
noch einen Grund geben? Ich grübele und grübele, und immer
wieder enden meine Gedanken dort. Es muß ein Geheimnis
bergen. Er hat Archibald und Rose dorthin geholt, damit sie
dieses Geheimnis beschützen.«
Sir William sah seinen Sohn fragend an. »Suchst du jetzt
nicht nach Geheimnissen, die es gar nicht gibt? Es gibt doch
eine andere Erklärung für dieses Erbe. Er wollte Mary für
Bradford-Castle entschädigen.«
»Meinst du, daß es nur dies ist, Vater? Ich habe das Gefühl,
daß alle Fäden in Greenwood-Hall zusammenlaufen und daß
Alexa Wyatts Geist, seit ihr Bild dort ist, die Lawine ins
Rollen gebracht hat.«
»Du glaubst doch nicht an Geister«, murmelte Sir William.
»Ich glaube an die Gerechtigkeit«, erwiderte Christopher.
»Die Vorsehung läßt sich manchmal Zeit, Vater. Vielleicht hat
sie auch gewartet, daß eine zweite Alexa heranwächst, die der
anderen wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Seltsame
Gedanken kommen einem, wenn man nach Erklärungen
sucht.«
»Meinst du nicht, daß wir die Dinge lieber so sehen sollten,
wie sie sind?« fragte Sir William bestürzt.
»Sie sind so. Wir haben keinen Einfluß mehr darauf. Jetzt
kommt die Zeit, die Stunde der Abrechnung. Ich fühle es.«
Sir William blickte in ein hartes, unerbittliches Gesicht.
Möge uns diese Vorsehung wohlgesinnt sein, dachte er
beklommen.

Olivia hatte allen Grund, Robin immer wieder befremdet


anzusehen. Er schien mit seinen Gedanken weit entfernt zu
sein. Alles mußte sie zweimal oder gar dreimal fragen.
»Träumer«, neckte sie ihn.
Er schrak zusammen. »Glaubst du, daß man so intensiv
träumen kann, daß es einem wirklich erscheint?« fragte er.
»Man kann sich manches einbilden«, stellte sie gleichmütig
fest. »Wovon träumst du denn?«
Verlegen blickte er an ihr vorbei. »Ich meine fast, daß dies
nicht die richtige Umgebung für dich ist«, brummte er. »Du
solltest dir deine Entschlüsse reiflich überlegen, Olivia. Wir
sind in einer anderen Welt aufgewachsen.«
»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich finde es schön hier und
denke gar nicht daran, Greenwood-Hall aufzugeben. Und ich
möchte meinen, Mama macht sich auch mit dem Gedanken
vertraut, wieder hier zu leben.«
Mary Winters dachte allerdings an etwas ganz anderes. Sie
wollte etwas finden.
»Archibald, wo ist eigentlich der Sekretär geblieben, der
früher in der Bibliothek stand?« fragte sie den Butler.
»Er steht bei den anderen Sachen im früheren
Schrankzimmer. Herzog John hatte es so angeordnet«,
bemerkte er.
»Es ist gut, danke.«
»Wünschen Mylady, daß er wieder an seinen alten Platz
gestellt wird?« fragte Archibald.
»Nein, lassen Sie ihn nur dort. Diese alten Erinnerungen
nehmen mich gefangen. Möchten Sie dafür Sorge tragen, daß
ich im Schrankzimmer ungestört bleibe?«
Er nickte stumm. »Lady Olivia kennt es«, erklärte er dumpf.
Mary sah ihn nachdenklich an. »Ist sie öfter dort?«
»Nein, nur einmal fand sie zufällig den Eingang. Ich war
unachtsam. Lady Alexas Bild hing ebenfalls dort. Sie
bestimmte, daß es in den Salon gehängt wurde.«
Eine seltsame Scheu hatte sie bisher davon abgehalten, den
blaugoldenen Salon zu betreten. Das Schrankzimmer war
verlockend für sie. Mit schlafwandlerischer Sicherheit fand sie
nach all den Jahren die Geheimtür. Sie warf Archibald einen
Blick zu.
»Sie ist gut geölt«, stellte sie fest.
»Der Herr hat es so bestimmt«, entgegnete er. »Wünschen
Mylady, daß ich hierbleibe?«
»Nein, Archibald. Ich finde selbst zurück«, lächelte sie. »Und
falls es nicht der Fall sein sollte, wissen Sie, wo ich bin. Sagen
Sie Olivia, ich sei spazierengegangen.«
Die Tür glitt wieder zu. Sie war allein. Dort in der Ecke stand
der Sekretär. Ein Kunstwerk der Holzschnitzerei, das heute
unermeßlichen Wert haben mußte, viel zu schade, um
bewundernden Blicken entzogen zu werden. Aber ihr war klar,
daß Herzog John es diesen Blicken hatte entziehen wollen,
denn nicht alle hätten ihm Bewunderung gezollt.
Türschlösser besaß es nicht. Es schien unzugänglich, aber
Marys Finger glitten leicht und tastend über die geschnitzten
Rosen, und schon tat sich eine Öffnung auf. Ein leiser Ausruf
der Erleichterung kam über ihre Lippen, als sie eine schmale
Holzkassette bemerkte, die in der gleichen Art wie der Sekretär
war. Mit bebenden Händen nahm sie diese aus ihrem Versteck,
doch dabei streifte ihr Handrücken die Seitenwand, und wieder
öffnete sich ein anderer Spalt.
Sie stand starr vor Staunen, denn von diesem zweiten
Geheimfach wußte sie nichts, und auch in diesem lag etwas.
Ein schmales Buch mit vergilbter Pergamenthülle.
Verschnörkelte Buchstaben zierten es.
»Die Chronik der Alexa Wyatt«, las sie. Ihr Herz hämmerte.
Die feuchte Kälte des Raumes ließ sie erschauern, aber es war
auch Erregung, die sich ihrer bemächtigt hatte und sie frösteln
ließ.
Die Dämmerung kroch zu den blinden Scheiben herein. Licht
war nirgends.
Sie überlegte, ob es nicht gewagt sei, diese beiden
Gegenstände mit sich zu nehmen.
Sinnend betrachtete sie das Buch. Es würde Stunden dauern,
bis sie es gelesen hatte, aber sie mußte es lesen. Und sie mußte
nachsehen, ob der Inhalt der Kassette vollständig war.
Konnte sie unbeobachtet in ihre Räume gelangen? Sie
überlegte krampfhaft.
»Ich möchte nur wissen, wo Mama steckt«, vernahm sie
Olivias Stimme. Sie mußte sich draußen in der Nähe des
Fensters befinden.
Ganz schnell tastete Mary nach der kleinen Erhöhung, die die
Geheimtür wieder öffnen würde. Doch sie bewegte sich nicht.
Immer wieder versuchte sie es. Vergeblich!
Archibald weiß ja Bescheid, er wird mich herausholen,
tröstete sie sich. Auf keinen Fall wollte sie sich bemerkbar
machen, denn Olivia sollte keinen Verdacht schöpfen. Sie
wartete und wartete, und die Zeit verstrich. Die verbrauchte
Luft raubte ihr den Atem und lähmte ihr Denken.
»Archibald«, stöhnte sie, und Furcht kroch in ihr empor. Sie
tastete sich an der Wand entlang, stolperte über ein
undefinierbares Etwas und versuchte, Halt zu finden, doch da
tat sich eine Öffnung auf, und sie fand sich an der Stelle der
Bibliothek wieder, wo früher der Sekretär gestanden hatte.
Schritte waren vernehmbar, ihr Name wurde gerufen. Gerade
noch konnte sie die Kassette und das Buch unter ein Polster
schieben, dann tat sich die Tür auf, und Olivia erschien.
»Hier bist du, Mama«, sagte sie atemlos. »Mein Gott, wie
haben wir dich gesucht. Hast du nicht gehört, wie wir dich
riefen?«
»Ich muß wohl eingeschlafen sein«, murmelte Mary.
Kopfschüttelnd betrachtete Olivia ihre Mutter. »Aber ich
habe doch vorhin hier hereingeschaut und dich nicht gesehen«,
meinte sie verwirrt.
»Es ist so düster hier. Ist William schon zurück?« lenkte
Mary ab.
»Er kommt gerade. Ich will Archibald Bescheid sagen, daß
wir dich gefunden haben. Der Arme war ganz aufgeregt.«
Archibald zitterte noch immer, als Mary endlich Gelegenheit
fand, ein paar Worte mit ihm zu wechseln.
»Die Tür ließ sich nicht mehr öffnen«, flüsterte er
beklommen. »Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte,
Mylady. Wie sind Sie nur dort herausgekommen?«
»Durch eine andere Tür«, erwiderte sie. Erstaunt bemerkte
sie, welch maßlose Furcht sein faltiges Gesicht verzerrte. Ein
leises Mißtrauen keimte in ihr, so absurd es ihr auch erschien,
den guten alten Archibald zu verdächtigen, etwas Unrechtes im
Schilde zu führen.
»Aber die Tür war doch verschlossen – ich meine die Tür
vom Hof«, brachte er stockend über die Lippen. »Sie war
bestimmt verschlossen, Mylady. Ich mußte den Schlüssel erst
holen, weil ich ihn gut versteckt hatte, seit Lady Olivia mir
folgte.«
»Ich fand durch Zufall die Tür zur Bibliothek«, sagte sie.
Er starrte sie fassungslos und ungläubig an. »Von dieser
wußte ich bisher nichts«, stotterte er.
»Ich auch nicht, Archibald«, erwiderte sie, »aber wir wissen
ja vieles nicht.«

Sir William fuhr abends wieder nach Edinburgh zurück. Robin


und Olivia machten es sich vor dem Kamin bequem. Die
Abende waren kühl, und beim Kaminfeuer ließ es sich besser
plaudern.
Lady Mary sah die Stunde gekommen, in der sie ihren Fund
in Sicherheit bringen konnte.
Gedankenvoll betrachtete sie die Holztäfelung. Nichts, gar
nichts deutete darauf hin, daß sich dort eine Tür befand. Die
Intarsien fügten sich lückenlos ineinander. Ihre Finger glitten
darüber hin, aber sie spürte nicht den geringsten Widerstand.
Entweder war die Feder so gut verborgen, daß man ihren
Platz genau kennen mußte, um sie zu finden, oder man konnte
diese Tür nur vom Schrankzimmer aus öffnen.
Aber was sollte sie sich jetzt darüber den Kopf zerbrechen,
wichtiger war die Kassette und die Chronik der Alexa Wyatt.
Sie atmete auf, als sie ungesehen ihre Räume erreicht hatte.
Sorgfältig verschloß sie die Tür hinter sich und zündete die
Schreibtischlampe an.
Sinnend betrachtete sie die Kassette. Es war fünfzehn Jahre
her, daß sie sie zuletzt gesehen hatte. Wichtige Papiere hatte
Herzog John darin verschlossen.
»Hier werden sie sicher sein, Mary«, hatte er gesagt. »Du
allein weißt, wo du sie finden wirst, wenn du sie eines Tages
brauchst.«
War der Tag gekommen?
Nur ein flüchtiges Tasten genügte, und schon sprang der
Deckel auf.
Obenauf lag ein Umschlag, den Herzog John nachträglich
hineingelegt haben mußte.
»Für Mary Bradford«, stand darauf. Er hatte auch vor
fünfzehn Jahren nicht wahrhaben wollen, daß sie einen
anderen Namen trug, aber diesen Brief hatte er erst kurz vor
seinem Tode geschrieben, wie sie dann feststellen konnte.
»Little Mary«, so lautete die Überschrift. Heiß stieg es ihr in
die Augen, als sie es las. War sie doch weit über vierzig
gewesen, als er es schrieb.
Aber für ihn war sie wohl immer »little Mary« geblieben.
Sie sah ihn vor sich, diesen starken, auch im Alter
ungebeugten Mann. Sie vermeinte, seine Stimme zu hören, als
sie weiterlas.
»Hätte ich es doch geahnt, daß einmal Dir Williams Liebe
gehören würde, so hätte ich diese unglückselige Ehe
verhindert. Cynthia ist tot, doch ich fürchte, daß ihre böse
Seele so wenig Ruhe findet wie Alexa Wyatts unglückliche.
Ich habe so wenig Hoffnung, daß Du noch einmal dieses Haus
betreten wirst, daß Du von diesen Papieren, die Du mir
anvertraust, Gebrauch machst. Wenn ich Dir Greenwood-Hall
hinterlasse – wirst Du die Mahnung wohl verstehen? Ich habe
mich in mein Schicksal ergeben. Bitten kann ich Dich nicht,
zurückzukehren. Zuviel Schmerz ist dir zugefügt worden.
Wenn Du Deine innere Ruhe gefunden hast, will ich sie nicht
mehr stören. Gottes Wille wird entscheiden, was nun
geschieht. Doch eines ist mir gewiß: Wenn Du kommst, wenn
Du diese Kassette öffnest und meinen Brief liest, wird das
Glück zu den Ettinghams zurückkehren. Es liegt in Deinen
Händen, tapfere Mary, vor der ich mich dankbar verneige.«
Sie bedeckte das Gesicht mit ihren Händen. Zwischen ihren
Fingern perlten die Tränen hindurch und fielen auf das Papier.
»Du sollst nicht umsonst gehofft haben, Onkel John«, sagte
sie leise. »Deine Mahnung wollte ich überhören, aber dein
Wille war wohl stärker als der Tod.«

»Mama hat sich eingeschlossen«, sagte Olivia zu Robin. »Das


hat sie daheim nie getan.«
»Sie ist nicht daheim«, stellte er fest.
»Ob sie sich fürchtet?« überlegte Olivia. »Ihre Stimme klang,
als hätte sie geweint.« Sie machte eine kleine gedankenvolle
Pause. »Ich glaube, das Wiedersehen mit William hat sie sehr
erschüttert«, fuhr sie dann fort.
»Hier ist nicht eure Welt, Olivia«, sagte er eindringlich.
»Doch, Robin«, entgegnete sie. »Ich jedenfalls gehöre
hierher.«
»Ich bitte dich, laß uns von hier fortgehen. Laß uns heiraten,
Olivia. Wir kennen uns doch schon so lange. Wir verstehen
uns.«
»Genügt das?« fragte sie leise.
Sie war erleichtert, als ihre Mutter eintrat und sie darüber
nicht länger sprechen konnten. Mary bemühte sich, eine heitere
Miene zu zeigen. Sie hatte die Tränenspuren getilgt, aber
Olivia sah dennoch, daß sie sich nicht getäuscht hatte.
Ȇbrigens sind wir morgen nach Bradford-Castle eingeladen,
Mama«, bemerke sie im Laufe des Gesprächs beiläufig.
Sie war auf einen heftigen Widerspruch gefaßt, aber dieser
erfolgte nicht. Forschend ruhten die Augen ihrer Mutter auf
ihrem Gesicht.
»Francis Fleming scheint noch immer keine Gelegenheit zu
versäumen, hübsche Mädchen um sich zu versammeln«,
bemerkte Mary leichthin. »Ist sein ominöser Charme noch
immer so wirkungsvoll, daß du dich gleich einladen läßt,
Olivia?«
»Ich bin neugierig, das weißt du doch.«
»Man muß sich vor ihm in acht nehmen«, stellte Mary fest.
»Wenn du so denkst, Mama, warum hast du ihm dann
Bradford-Castle überlassen?« rückte Olivia mit der Frage
heraus, die sie schon so lange bewegte.
Um welchen Preis, dachte Mary beklommen. Ob Olivia das
erfahren sollte?
»Es ist lange her«, erwiderte sie ausweichend.
»Willst du nicht mitkommen?« fragte Olivia.
Mary überlegte. »Vielleicht«, erwiderte sie leise. »Ich werde
es mir überlegen.«
Diese Antwort überraschte Olivia. Sie hatte damit nicht
gerechnet. Aber warum eigentlich? Was ging es sie an, was
Alexa Darrien mit Francis Fleming zu schaffen hatte. Haß
konnte auch aus Enttäuschung geboren werden. Aber eine
innere Stimme sagte ihr, daß es nicht so war.
»Wie lange willst du hierbleiben, Tante Mary?« fragte Robin
unmotiviert.
»Ich weiß es noch nicht«, erwiderte sie gedankenverloren.
»Im Frühling ist es an der Riviera am schönsten«, murmelte
er.
»Du weißt nicht, wie schön ein Frühling in Schottland sein
kann, Robin«, flüsterte sie, »wenn sich der Nebel von den
Wiesen löst, daß man meint, Feen schweben darüber hinweg,
wenn man beim Wandern durch die Wälder Visionen hat.«
»Danke«, fiel er ihr ins Wort, »mir genügt eine.« Mary und
Olivia sahen ihn betroffen an. Er lachte heiser.
»Ich habe mir heute schon eingebildet, die Dame in Weiß zu
sehen«, stieß er hervor. »Und ich habe mir tatsächlich
eingebildet, sie wäre ein lebendiges Wesen.«
»Alexa«, entfuhr es Olivia. Mary preßte die Lippen
aufeinander.
»Alexa Wyatt«, fuhr Robin heiser fort. »Und damit die
Vision perfekt ist, habe ich auch noch einen Fetzen weißen
Spitzenstoffes gefunden. Wollt ihr ihn sehen, damit ihr
begreift, daß selbst ich hier zu spinnen beginne?«
Alexa kann es nicht gewesen sein, dachte Olivia. Sie würde
doch nicht in einem weißen Spitzenhemd herumlaufen.
Robin nahm den morschen kleinen Fetzen aus seiner
Brieftasche. »Hier, meine Damen, das Überbleibsel von einem
Geist«, sagte er rauh.
Mit starren Augen betrachtete Mary das brüchige Gewebe.
»Mein Gott«, flüsterte sie, »kommt mit und betrachtet das
Bild. Genau die gleichen Blüten sind auch auf dem Kleid zu
sehen.«
Es schien gespenstisch, doch sie konnten sich davon
überzeugen. Ganz deutlich und noch plastischer hatte der
Maler dieses Muster festgehalten.
»Es war ihr Brautkleid«, sagte Mary verhalten.
»Dann ist mir doch ein Geist erschienen«, versuchte Robin zu
scherzen.
»Wo hast du diesen Stoff gefunden?« fragte Mary drängend.
»Auf dem Weg nach Bradford-Castle«, erwiderte er
mechanisch. »Ich weiß selbst nicht, wieso ich dorthin gelangte.
Es war alles so seltsam, so unheimlich. Wie sie da auf der
Wiese stand, wie dieser Reiter kam und sie miteinander
sprachen.« Er faßte sich an den Kopf. »Das ist eine verhexte
Gegend. Mich wundert es nicht, daß die Leute abergläubisch
sind.«
»Es gäbe für alles eine Erklärung«, erwiderte Olivia
rätselhaft. »Erzähle das bitte genau, Robin, und so, als wäre es
Wirklichkeit gewesen.«
»Ich beginne ja an meinem Verstand zu zweifeln, wenn es
keine Erklärung dafür gibt«, murmelte er, und dann erzählte er,
was er gesehen zu haben glaubte.

Olivia hatte sich ihre eigenen Gedanken gemacht, aber um


Alexa nicht bloßzustellen, bevor sie Gewißheit hatte, sprach
sie nicht darüber. Sie mußte mit ihr sprechen, noch bevor sie
Bradford-Castle betrat.
Lange lag sie wach und dachte nach. War etwa Alexas Geist
verwirrt? Hatte die Ähnlichkeit mit ihrer unglücklichen Ahnin
zur Folge, daß sie sich in deren Rolle hineinlebte? Geisterte sie
in der Verwirrung ihrer Sinne als Dame in Weiß durch die
Gegend?
Olivia weigerte sich, an Gespenster zu glauben. Es mußte
einfach eine natürliche Erklärung geben.
Wenn es so war, wie sie vermutete, wußte Christopher davon.
Hatte er deshalb Alexa nach Ettingham geholt? Oder liebte er
sie so sehr, daß er ihren Zustand vor der Welt verbergen und
sie schützen wollte?
Mit bleischweren Gliedern erhob sie sich am frühen Morgen.
Es war still im Haus. Ihre Mutter schlief sicher noch, und auch
Robin ließ sich nicht blicken.
Sie kleidete sich an. Ein bleiches, übernächtigtes Gesicht
blickte ihr aus dem Spiegel entgegen. In einer Aufwallung von
Zorn streckte sich Olivia selbst die Zunge heraus, da sie fand,
daß sie selbst wie ein Geist aussah.
Sie ging zum Stall. Benjamin sah sie verblüfft an. »Es ist
noch sehr früh, Mylady«, brummte er.
»Ich weiß, so früh am Morgen ist es am schönsten.«
Sie brauchte frische Luft, einen scharfen Ritt, damit sie ihren
Verstand wieder richtig gebrauchen konnte.
Robin Hood schien ihre Neigung zu teilen. Wie der Wind
flog er dahin.
Wenn sich die Nebel von den Wiesen lösen, hatte ihre Mutter
gesagt, wenn man meint, Feen schweben darüber hinweg, aber
es gab keine Feen, und es gab keine Visionen.
Und der Reiter, der da plötzlich aus dem Wald kam, als
würde er auf Wolken dahinfliegen? Robin Hood bäumte sich
wiehernd auf, und Olivia, deren Gedanken so weit weg waren,
verlor die Herrschaft über ihn. In hohem Bogen flog sie aus
dem Sattel.
Es war Nacht um sie. Sie merkte nicht, daß jemand neben ihr
niederkniete, daß er seine Hand unter ihren Kopf schob und
nach kurzem Zögern seinen Mund auf ihren preßte, ihr seinen
Atem einhauchte.
Für sie waren Ewigkeiten vergangen, bis sie die Augen
aufschlug, die sie aber schnell wieder schloß, als sie
Christophers Gesicht dicht über sich sah.
Nein, das konnte nicht Wirklichkeit sein! Ihr Herz begann
angstvoll zu klopfen. Aber war es nur Angst?
Zwei starke Arme hoben sie empor. Sie weigerte sich, an die
Wirklichkeit zu glauben, denn war es auch nur ein Traum oder
eine Vision oder wie immer man es nennen wollte, sie
wünschte, daß es immer so bleiben möge.
Sein Atem ging schwer, sein Herz pochte wie ein Hammer.
Ob er sie fallen lassen würde, überlegte sie.
Aber er ließ sie nicht fallen. Sie merkte, wie er nach einer
Zeit eine Treppe emporstieg. Noch immer hatte sie die Augen
geschlossen. Eine Tür knarrte in den Angeln.
»Lady Winters hat sich verletzt, Cabot«, hörte sie seine
Stimme sagen, und dann wurde sie auf ein weiches Lager
gebettet.
Da sie seine Hände noch immer unter ihrem Rücken spürte,
wagte sie nicht, die Augen aufzuschlagen.
Was dachte er, was fühlte er? Er mußte etwas fühlen, denn
sie spürte seine Lippen an ihrer Schläfe. Ein glühender Strom
jagte durch ihre Adern, als sich diese Lippen auf ihren Mund
legten, weich und fast andächtig, um sich dann ebenso rasch zu
lösen wie seine Hände.
Schritte entfernten sich. »Sagen Sie bitte Lady Alexa
Bescheid, Cabot«, vernahm sie seine Stimme. »Ich reite nach
Greenwood, um persönlich Bescheid zu sagen.«

Ich liebe ihn, dachte Olivia. Ich will nicht, daß dies nur ein
kurzer Traum war.
»Olivia, was ist geschehen?« tönte Alexas besorgte Stimme
an ihr Ohr. Eine warme natürliche Stimme und ganz gewiß
nicht die einer geistig Umnachteten. Was hatte sie sich da nur
alles ausgedacht.
Sie schlug die Augen auf und blickte in ein liebevoll
besorgtes Gesicht. Eine kühle Hand streichelte ihre Wange.
»Ich bin vom Pferd gefallen«, murmelte sie.
»Und Christopher hat dich glücklicherweise gefunden«, sagte
Alexa. »Ich darf doch du sagen?«
Sie würde es nicht tun, wüßte sie, wessen ich sie verdächtigt
habe, ging es Olivia durch den Sinn.
Ein glückliches Lächeln legte sich um den schönen Mund der
anderen, als sie du sagte.
»Wir sehr du Alexa Wyatt gleichst«, meinte sie
gedankenverloren. Das Lächeln wich.
»Es ist ein schicksalhaftes Vermächtnis, Olivia. Erinnere
mich bitte nicht daran«, flüsterte Alexa.
»So schicksalhaft, daß du ihre Rolle spielst?« fragte Olivia
rasch.
Alexa wich zurück. »Wie meinst du das?« fragte sie gequält.
»Die Dame in Weiß ist Robin erschienen, aber ich glaube
nicht an einen Geist. Ich glaube, daß du es gewesen bist,
Alexa. Aber warum? Bitte, sag es mir. Ich muß es wissen. Wir
machen uns alle konfus mit diesen Geistergeschichten.«
»Wer ist Robin?« fragte Alexa.
»Mein Freund – fast ein Bruder und an sich ein sehr
realistischer junger Mann. Aber wenn man einen schönen
Geist sieht und dann auch noch einen Fetzen Spitzenstoff
findet, glaubt selbst ein solcher an Gespenster. Bitte, Alexa,
sage es mir. Ich muß es wissen. Ich will dir doch helfen, wenn
dies möglich ist.«
Ein minutenlanges Schweigen war zwischen ihnen. »Du wirst
mich nicht verraten, Olivia?« fragte Alexa dann. »Schwöre es
mir!«
»Ich schwöre es«, erwiderte Olivia feierlich.
»Die Flemings haben nur eine Schwäche«, begann Alexa.
»Abgesehen von Frauen, möchte ich hinzufügen. Sie sind
abergläubisch. Vor lebenden Wesen haben sie keine Angst,
aber vor den Toten, vor denen sie sich fürchten müssen, weil
sie ein schlechtes Gewissen haben. Vielleicht hat Francis
Fleming gar kein Gewissen, aber eines weiß ich ganz sicher,
vor dem Geist Alexa Wyatts hat er Angst. Ich muß diese Rolle
spielen, Olivia. Alexa Darrien kann ihn nicht einschüchtern.
Alexa Wyatt kann es.«
»Redest du dir das nicht nur ein?« fragte Olivia betroffen.
»Ich werde es dir beweisen, wenn du willst.«
»Wann?«
»Heute abend in Bradford-Castle. Du wirst gegen Mitternacht
mit Francis Fleming in der Bibliothek sein. Wie du es
fertigbringst, mußt du dir selbst ausdenken. Vielleicht kannst
du sagen, daß du gern das Bild deiner Mutter sehen möchtest.
Du wirst auch noch ein anderes sehen. Cynthias! Und ihm wird
der Geist von Alexa Wyatt erscheinen.«
»Mir dann doch auch«, sagte Olivia beklommen.
»Oh, du ahnst nicht, wie sehr ich die Stunde herbeigesehnt
habe, daß ihm dieser Geist unter Zeugen erscheinen kann,
Olivia. Glaubst du nun auch, daß ich verrückt bin?«
»Wer glaubt es?« fragte Olivia atemlos.
Alexa sah sie sinnend an. »Zumindest Francis Fleming«,
erwiderte sie. »Aber geheiratet hätte er mich dennoch. Und
dann hätte er mich umgebracht, wie George Fleming Alexa
Wyatt umgebracht hat.«
Olivia hob abwehrend die Hände. »Du darfst es nicht sagen,
Alexa«, stöhnte sie. »Niemand weiß doch, wie sie
umgekommen ist.«
»Ich weiß es«, erwiderte Alexa bestimmt. »Ich werde es dir
einmal erzählen.«

*
Mary war schon wach gewesen, als Olivia weggeritten war.
Wann werden wir wieder ruhig schlafen können, dachte sie,
aber dann wurde ihr bewußt, daß sie sich ungestört mit Alexa
Wyatts Chronik beschäftigen konnte, bis Olivia zurückkam.
In ihrem leichten Hausgewand setzte sie sich an den
Schreibtisch. Es war schwer, diese verblichene Schrift zu
entziffern, so deutlich auch jeder Buchstabe geschrieben war,
als hätte die Schreiberin bei jedem gezögert, ihm einen neuen
hinzuzufügen.
Liebe kannte keine Zeit, damals wie heute und wie es wohl in
aller Zukunft sein würde, auch wenn Mary daran manchmal
gezweifelt hatte.
Alexa Wyatt hatte Herzog Albert geliebt, wie sie selbst
William liebte, und sie hatte ihm alles verziehen, auch daß er
sie der Treulosigkeit beschuldigt hatte.
»Gott möge ihm verzeihen«, schrieb sie, »ich weiß, daß er
nicht glauben kann, daß ein Edelmann solcher Taten fähig sein
kann wie George Fleming. Ich brauche keinen Rächer, ich
werde selbst Rache üben an dem, der mein Glück zerstört hat.
Ich habe die Geheimtür zur Bibliothek gefunden, durch die ich
ungesehen entkommen kann. Möge Gott auch mir verzeihen,
was ich tun will.«
Das waren ihre letzten Worte, und kaum hatte Mary sie
gelesen, klopfte es an ihre Tür, und Archibald meldete den
Besuch des Herzogs von Ettingham.
»Das kann doch nicht möglich sein. Es ist noch nicht einmal
neun Uhr«, flüsterte sie.
»Er möchte Mylady eine dringende Nachricht überbringen«,
sagte Archibald leise.
Olivia! Ihr ist etwas passiert, dachte Mary erregt. Sie sprang
auf. »Ich bin gleich unten«, stieß sie tonlos hervor.
Keinen einzigen Gedanken verschwendete sie daran, was
zwischen ihr und Christopher stehen könnte. In fliegender Hast
kleidete sie sich an und eilte die Treppe hinab.
Sie dachte auch nicht daran, was der Mann bei ihrem Anblick
empfinden könnte.
»Ist Olivia etwas geschehen?« fragte sie mit erstickter
Stimme. »Bitte, so sprechen Sie doch, Christopher.«
Es fiel ihm schwer, ein Wort über die Lippen zu bringen.
Diese Frau hatte er viele Jahre gehaßt, blindlings gehaßt, ohne
sie zu kennen, und nun? Er konnte nicht weiterdenken. Er sah
in diese schreckensvollen Augen und sagte rasch: »Olivia ist
nichts geschehen. Sie stürzte vom Pferd, doch
glücklicherweise war ich in der Nähe.«
Und ich habe sie geküßt, dachte er. Ich konnte nicht anders.
Sie war genauso schön wie ihre Mutter.
So schön wie ihre Mutter! Er sah, wie Mary schwankte, und
stützte sie.
»Bitte, regen Sie sich nicht auf, Mylady«, murmelte er. »Ich
habe Olivia nach Ettingham gebracht und sie Alexas Obhut
überlassen.«
Vater liebt sie noch immer, ging es ihm durch den Sinn. Es
konnte nicht anders sein. Diese Frau konnte man nicht
vergessen.
Mit tränenfeuchten Augen blickte sie zu* ihm auf. »Ich
danke Ihnen, Christopher«, flüsterte sie. »Es wäre schrecklich,
wenn Olivia…« Sie geriet ins Stocken, »wenn das Unglück…
ach, ich bin so verwirrt, verzeihen Sie. Ich liebe mein Kind
sehr. Und ich möchte Ihnen herzlich danken, daß Sie sich
selbst bemüht haben, mir die Nachricht zu bringen.«
Nun streckte sie ihm die Hand entgegen, die er ergriff, um
sich tief darüber zu beugen und sie an seine Lippen zu führen.
Als er sich aufrichtete, war sein Gesicht sehr ernst, aber doch
entspannt.
»Mylady, ich möchte Sie um Verzeihung bitten für eine
ungerechtfertigte Einstellung, die ich heute tief bedaure, für die
Sie mich verachten müßten, und…«
»Bitte, sprechen Sie nicht weiter«, fiel sie ihm ins Wort.
»Wie könnte ich Sie verachten, den Sohn des ritterlichsten
Mannes, der mir je begegnet ist.«
»Der Sohn hat sich dieser Ritterlichkeit nicht würdig
gezeigt«, erklärte er selbstironisch. »Doch wenn diese frühe
Tagesstunde einer solchen Erklärung auch nicht angemessen
ist, möchte ich Sie um die Hand ihrer Tochter bitten.«
Marys Augen weiteten sich staunend. Ungläubig blickte sie
ihn an.
»Ich verstehe nicht«, stammelte sie verwirrt. »Haben Sie
schon mit Olivia gesprochen?«
»Nein – ich werde es auch nicht tun, wenn Sie mir Ihre
Einwilligung verweigern, wofür ich unter den gegebenen
Umständen Verständnis hätte.«
»Sie wollen Olivia heiraten?« fragte sie gedankenverloren.
»Aber Sie kennen sich doch kaum.«
»Wir werden uns kennenlernen, vorausgesetzt, daß Olivia
einwilligt. Ich werde mich sehr bemühen, ihre Sympathie zu
erringen und das gutzumachen, was ich in unbegreiflichem
Starrsinn angerichtet habe.«
Mary dachte an Herzog Johns Brief. Das Glück wird zu den
Ettinghams zurückkehren! Konnte das Wirklichkeit werden?
Christopher und Olivia, diesen beiden jungen Menschen
konnte das Glück beschieden sein, das William und ihr versagt
geblieben war. Sein Sohn und ihre Tochter. Aber würde
Christopher Olivia lieben? Wollte er nicht nur eine Schuld
sühnen?
»Sprechen Sie mit Olivia, Christopher«, sagte sie leise.
»Meiner Zustimmung dürfen Sie sicher sein.«
*

Alexa brachte Olivia schon in ihrem Wagen nach Greenwood


zurück. Sie trafen Christopher unterwegs. Er war sichtlich
bestürzt, hatte er doch erwartet, mit Olivia in Ettingham noch
sprechen zu können. In Alexas Gegenwart war ihm das nicht
möglich.
»Geht es schon wieder gut?« fragte er, nachdem er vom Pferd
abgesessen war.
»Ich habe wohl nur einen Schrecken bekommen«, flüsterte
sie. Sie dachte an seinen Kuß, und als ihre Augen sich trafen,
war in ihren ein sehnsüchtiger Schimmer.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Christopher«, sagte sie
verhalten.
Er zog ihre Hand an seine Lippen, was Alexa mit
Verwunderung zur Kenntnis nahm.
»Ich werde mir gestatten, Ihnen gegen Mittag einen Besuch
zu machen, Olivia«, sagte er leise. »Erholen Sie sich von dem
Schrecken.«
Wenn sie nicht einen noch größeren bekommt, sofern Mary
über seinen Antrag sprach.
Vorerst sagte Mary nichts davon. Erleichtert, daß Olivia
wirklich gar nichts passiert war, schloß sie ihre Tochter in die
Arme.
Alexa blieb noch eine Stunde und wollte sich gerade
verabschieden, als Robin kam. Auch er war ausgeritten. Er
hatte noch keine Ahnung, was geschehen war, und einstweilen
war auch nicht der Augenblick, es ihm zu erzählen, denn er
starrte Alexa in fassungslosem Staunen an.
»Lady Alexa Darrien«, stellte Olivia mit leichtem Lächeln
vor. Robin tat ihr in seiner Verwirrung fast leid. Man hätte ihn
wohl doch vorbereiten sollen, überlegte sie, aber wer hätte
denn ahnen können, daß er Alexa schon heute morgen
kennenlernen würde.
Er sah aus, als hätte er sein Gegenüber am liebsten befühlt,
ob sie auch eine Erscheinung sei.
»Wir werden uns sicher noch öfter sehen«, sagte Alexa
freundlich. »Ich denke, daß Olivia jetzt ein wenig der Ruhe
bedarf.«
»Wieso das?« fragte Robin, nun völlig verstört.
»Du wirst es erfahren«, meinte Mary. »Ich begleite Alexa
hinaus.«

Da Robin sich von seiner Verblüffung noch immer nicht


erholen konnte, begriff er nicht so rasch, was eigentlich
geschehen war.
»Wenn ich mir etwas gebrochen hätte, wärest du wohl nicht
so fassungslos wie durch Alexas Erscheinen«, scherzte Olivia.
»Du hättest es mir sagen können«, brummte er, »aber du
ließest mich in dem Glauben, daß ich einen Geist gesehen
hätte.«
»Vielleicht war es ein Geist«, meinte Olivia. »Was hättest du
für eine Erklärung, daß Alexa im weißen Spitzenkleid ihrer
Ahnin über die Wiesen spaziert?«
Sie betrachtete ihn aufmerksam. Seine Stirn legte sich in
Falten.
»Daß sie jemanden erschrecken wollte«, murmelte er.
»Für verrückt würdest du sie aber nicht halten«, meinte
Olivia.
»Keineswegs. Diesen Eindruck machte sie wirklich nicht. Sie
ist bei weitem nicht so ätherisch wie ihre Ahnfrau. Sie ist ein
lebendiger Mensch«, seufzte er staunend.
»Eine Frau«, lächelte Olivia, »und in gewissen Augenblicken
ist sie genauso schön wie das Bild.«
»In gewissen Augenblicken?« wiederholte Robin gedehnt.
»Ehrlich gesagt, finde ich sie viel schöner. Mir sind eben
lebendige Menschen lieber als Geister«, fügte er errötend
hinzu. »Entschuldige, Olivia, aber ich bin ziemlich
durcheinander.«
Robin eilte hinaus. Kurz darauf trat Lady Mary ein. »Alles in
Ordnung. Liebling?« fragte sie verhalten.
»Du siehst es, Mama«, lächelte Olivia.
»Christopher hat um deine Hand angehalten, Olivia.«
Sie wurde blaß und dann glühend rot.
»Er hat um meine Hand angehalten?« fragte sie ungläubig.
»Oh, Mama…« Tränen stürzten aus ihren Augen, so sehr
wurde sie von diesem plötzlichen Glücksgefühl überwältigt.
»Aber er liebt doch Alexa«, flüsterte sie dann bebend.
Mary fühlte sich hilflos. Sollte Christophers Entscheidung
nur eine Art Wiedergutmachung sein? War er dafür bereit, eine
andere Liebe zu opfern?
»Vielleicht glaubst du das nur«, meinte sie gedankenvoll.

Christopher hatte ungeduldig auf Alexas Rückkehr gewartet.


»Du bist lange ausgeblieben«, stellte er fest.
»Soll das ein Vorwurf sein?« fragte sie anzüglich. »Ich
konnte doch Olivia nicht einfach abgeben wie ein Paket. Was
erregt dich so?«
»Was hat Olivia über mich gesagt?« fragte er heiser.
»Nichts.«
»Gar nichts?« Er sah enttäuscht aus.
»Du warst bisher nicht so umwerfend liebenswürdig zu ihr,
daß sie in Begeisterungsstürme ausbrechen müßte«, spottete
sie.
Christopher wandte sich ab. »Ich habe bei Lady Mary um
ihre Hand angehalten«, erklärte er ohne Umschweife.
Alexa erstarrte zur Bildsäule.
»Warum?« fragte sie tonlos.
»Gäbe es dafür nicht eine ganz ein fache Erklärung?«
»Für mich ist Liebe die einzige Voraussetzung für eine Ehe«,
erwiderte sie aggressiv.
»Für mich auch«, erwiderte er ruhig.
Bevor sie sich noch von ihrer Bestürzung erholt hatte, fiel
schon die Tür ins Schloß. Wenig später vernahm Alexa das
Geräusch eines davonfahrenden Wagens.
Still stand sie am Fenster und blickte über die frühlingshafte
Landschaft. Ein unergründlicher Ausdruck war in ihren Augen,
als ihr Blick in Richtung von Bradford-Castle wanderte, dann
wurde es ein triumphierendes Leuchten.
»Die Rache ist mein, spricht der Herr«, murmelte sie vor sich
hin, »aber diesmal, Gott im Himmel, werde ich dein Werkzeug
sein.«
Archibald hatte den jungen Herzog in den blaugoldenen
Salon geführt. Er wunderte sich, daß er schon wieder hier war,
doch der Respekt verbot ihm, diese Verwunderung zu zeigen.
Daß er ausdrücklich Lady Olivia seine Aufwartung zu machen
wünschte, verwirrte Archibald vollends.
Christopher betrachtete das Bild mit weit offenen Augen. Er
war so in dessen Anblick versunken, daß er nicht hörte, wie die
Tür geöffnet wurde.
»Christopher«, sagte eine leise Stimme.
Er wandte sich um. »Verzeihung, Olivia«, sagte er gepreßt.
»Meine Gedanken weilten in der Vergangenheit, obgleich sie
doch in der Zukunft weilen sollten.«
Wird die drückende Last dieser Vergangenheit jemals von
uns genommen werden, dachte Olivia: Wird meine Liebe stark
genug sein, seine zu erringen?
Stumm blickten sie sich an. Ihre Blicke hielten sich fest, und
es war, als würde eine lodernde Flamme sie umhüllen.
Seine Arme umfingen sie. Wortlos preßte er sie an sich und
vergrub seine Lippen in ihrem Haar. Sekundenlang verharrten
sie so, während ihre Herzen ungestüm klopften.
»Du weißt, warum ich hier bin?« fragte er heiser. »Ich
möchte mir deine Antwort holen, Olivia.«
Bedurfte es noch eines Wortes? War nicht diese Bewegung,
mit der sie die Arme um seinen Hals legte, Antwort genug? Ihr
Mund war weich und sehnsüchtig, und hingebungsvoll
erwiderte sie seinen langen Kuß.
Unter dem Bildnis Lady Alexa Wyatts sagte sie dann doch
ihr Ja, das aus übervollem Herzen kam, und zum erstenmal sah
sie ein glückliches Lächeln auf seinem Gesicht.
»Du hast mich verzaubert, Olivia«, flüsterte er, »aber unser
Leben soll ganz lebendige Wirklichkeit sein. Ich liebe dich.
Seit heute morgen weiß ich es.«
Alles verschwamm vor ihren Augen. Gab es so viel Glück?
Ganz schwach wurde es ihr, und er blickte erschrocken auf sie
herab.
»Olivia«, murmelte er bestürzt, »hast du dir doch weh
getan?«
»Nein«, stammelte sie, »ich bin nur glücklich, unendlich
glücklich. Ich dachte doch, du liebst Alexa.«
»Ich liebe sie auch – wie eine Schwester«, murmelte er. »Sie
war der einzige Mensch, der mich nicht gemieden hat. Du
mußt es verstehen. Ich war in einer unheilvollen Verstrickung
gefangen und stieß alle zurück, die sich mir näherten. Alexa
konnte ich nicht zurückstoßen. Ich weiß selbst nicht, wieso sie
es mit mir aushielt. Du hattest doch auch Angst vor mir.«
»Nein«, protestierte Olivia. »Ich hatte keine Angst. Gewiß,
ich war zornig, aber das hat sich sehr schnell gegeben. Und
heute morgen, als du mich geküßt hast – bitte, verzeih mir, daß
ich die Ohnmächtige spielte, aber es war so wundervoll – ich
fürchtete doch so sehr, daß es nur dieses eine Mal sein würde,
nur ein Traum.«
»Vielleicht wird es dir noch lästig, wie oft ich dich küssen
werde«, murmelte er, und wieder lagen seine Lippen auf ihrem
Mund, drängend und ungestüm.

»Was meinst du, Mama, was Francis Fleming wohl sagen


wird, wenn wir uns heute abend als Verlobte präsentieren?«
meinte Olivia heiter.
»Ihr wollt dort erscheinen?« fragte Mary betroffen.
»Es wird uns ein Vergnügen sein«, lächelte Olivia.
»Ist es nicht zu gewagt?«
»Was haben wir zu fürchten?«
Sie fürchtete nichts mehr, seit sie wußte, daß Christophers
Liebe ihr gehörte.
Robin war von dieser Verlobung überrascht worden, aber
schockiert zeigte er sich seltsamerweise nicht.
»Wird Lady Alexa auch dort sein?« fragte er nachdenklich.
Dessen war Olivia nicht mehr ganz sicher. Wenn nun Alexa
Christopher andere als brüderliche Gefühle entgegenbrachte?
»Ich hoffe es«, erwiderte sie sinnend.
Währenddessen erhielt Christopher einen Anruf, der ihn an
den Erpresserbrief erinnern sollte, an den er keinen einzigen
Gedanken mehr verschwendet hatte.
»Ich hoffe, daß Sie das Geld bereithalten«, sagte die offenbar
verstellte, hohl klingende Stimme am anderen Ende der
Leitung. »Sie werden es bis heute abend acht Uhr in der hohlen
Eiche an der Kreuzung nach Greenwood-Hall deponiert haben,
andernfalls werden die Briefe Lady Cynthias veröffentlicht.
Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß dies mein voller Ernst
ist.«
Christopher überlegte blitzschnell. Konnte Fleming der
Erpresser sein? Unmöglich konnte er seiner Party auch nur für
kurze Zeit fernbleiben. Dagegen verschaffte er sich ein
glänzendes Alibi, wenn er einen Handlanger hatte.
»Ich warte auf Ihre Antwort«, sagte die andere Stimme.
»Gut, das Geld gegen die Briefe«, erwiderte Christopher,
»aber bereits gegen sieben Uhr. Acht Uhr beginnt eine Party
bei Sir Mary, zu der ich pünktlich erscheinen will.«
Ein keuchender Atemzug kam durch den Draht. »Ich setze
einen anderen Termin fest«, sagte dann die ferne Stimme kaum
vernehmbar. Die Leitung war tot. Nachdenklich blickte
Christopher den Hörer an.
Es wird ein dramatischer Höhepunkt unserer Verlobung
werden, Olivia, ging es ihm durch den Sinn. Eine Feuerprobe
für uns und vielleicht ein vernichtender Schlag gegen Fleming.
Jetzt war er sicher, daß er der Anrufer gewesen war und auch
der Absender des Briefes.

*
»Ist es nicht makaber, Chris, an deinem Verlobungstag zu
Fleming gehen zu wollen?« fragte Alexa ironisch.
»Ich hatte eigentlich nicht die Absicht, aber Olivia hat mich
eines Besseren belehrt. Es wird dem Abend einige Würze
verleihen. Die Verlobungsfeier holen wir dann im
Familienkreis nach. Was wirst du anziehen?«
Sein unergründlicher Blick beunruhigte sie. »Ich werde
besser daheim bleiben«, erwiderte sie gepreßt.
»Um dem Tratsch neue Nahrung zu geben?«
Sie warf den Kopf in den Nacken. »Was geht es mich an, daß
sie mich für verrückt halten. Ich weiß, daß ich es nicht bin.
Zweifelst du daran?«
»Alexa, ich bitte dich. Du weißt genau, was ich meine. Diese
abergläubischen Leute meinen doch alle, daß Alexa Wyatt
wiederauferstanden ist.«
»Vielleicht ist sie das«, erwiderte sie rätselhaft. »Gut, ich
werde diese lieben Leute davon überzeugen, daß Alexa
Darrien sehr lebendig ist. Es fragt sich nur, ob sie davon
überzeugt werden wollen. Sie fürchten ihre Geister nicht nur,
sie lieben sie auch, und sie werden sie vermissen, wenn sie
eines Tages verschwinden. Ausgenommen Francis Fleming.«
Sie lachte klirrend. »Er wollte mich doch nur heiraten, um sich
von der Vorstellung zu befreien, daß ich Alexa Wyatts Geist
bin.«
»Gehst du nicht etwas zu weit«, stieß Christopher zwischen
den Zähnen hervor. »Er mag genauso ein Schurke sein, wie
jener andere Fleming gewesen war, aber er ist ein Mensch des
zwanzigsten Jahrhunderts.«
»Du täuschst dich, Christopher. Er weiß wie ich, daß sein
Urahne ein Mörder war. Die Flemings glauben seither daran,
daß sie der Fluch der Alexa Wyatts treffen wird. Hast du nie
darüber nachgedacht, wie sie gestorben sind? Nicht einer eines
natürlichen Todes. Sollte das ein Zufall sein?«
»Bitte, Alexa, befreie dich von diesen Gedanken. Laß das
Vergangene ruhen«, sagte er beschwörend. »Du bist jung, das
Leben liegt vor dir, du bist nicht zur Rächerin bestimmt.«
»Es steht geschrieben«, sagte sie dumpf. »Eine Zigeunerin
hat es geweissagt. Es wird der Tag kommen, an dem Alexa
Wyatt reingewaschen wird und ihre Seele Ruhe findet.«
Mit hartem Griff umschloß er ihre Schultern und schüttelte
sie.
»Wach auf«, sagte er eindringlich. »Warum, um Himmels
Willen, habe ich dich nach Ettingham geholt?«
»Weil es so bestimmt ist«, erwiderte sie tonlos.
Ihm wurde es Angst, als er sie so sprechen hörte. Ja, er
konnte es nicht leugnen, auch er fürchtete um ihren Verstand.
Doch als sie zwei Stunden später in einem wundervollen
Kleid aus grünem Samt die Treppe herunterkam, schalt er sich
töricht. So schön hatte er sie noch nie gesehen.
Ihr Gesicht war betörend, und um ihren Mund lag das
rätselhafte Lächeln der Dame in Weiß.

Mary hatte hin und her überlegt, ob sie William anrufen und
ihn von der Neuigkeit unterrichten sollte. Sie hatte Christopher
dann aber doch nicht vorgreifen wollen.
Nun rief er an, und sie konnte es nicht mehr für sich behalten.
»Ist das wahr?« fragte er atemlos.
»Würde ich es sonst sagen?« gab sie zurück. »Olivia ist
glücklich, und ich glaube, Christopher ist es auch, so
unwahrscheinlich es klingen mag.«
Er wollte sogleich kommen, aber dann war er betroffen, als
sie ihm sagte, daß sie alle zu Francis Flemings Party fahren
wollten.
Nein, er konnte es nicht begreifen, daß sie dies an einem
solchen Tag, der ganz neue Aspekte für die Zukunft eröffnete,
tun wollten.
Ist es nicht eine Herausforderung des Schicksals, fragte er
sich, in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch sitzend.
Noch einige Minuten verharrte er, dann läutete er nach dem
Butler.
»Packen Sie mir einen Koffer«, sagte er. »Ich werde einige
Tage verreisen.«

Aalglatt wie immer war Sir Francis Fleming, als er seine Gäste
begrüßte. Niemand erriet, was hinter dieser undurchsichtigen
Maske vor sich ging.
Nur für einen kurzen Augenblick wurde er unsicher, als der
Butler das Eintreffen des Herzogs von Ettingham ankündigte.
Als er dann aber durch die Tür trat, an einer Seite Olivia, an
der anderen Lady Winters, wurde er fahl.
Das Geplauder verstummte. Man hätte eine Stecknadel zu
Boden fallen hören, so still war es plötzlich geworden.
Alexa und Robin Hatton hielten sich im Hintergrund.
Während Francis Fleming noch nach Fassung rang, setzte ein
Gemurmel ein.
»Mary Bradford – Mary Bradford!« Von überall her tönte es,
und sie wurde umringt, bevor Fleming noch ein
Begrüßungswort sagen konnte.
Robin hielt den Atem an, als Alexa einen Schritt näher zu
dem Hausherrn trat. Nun stand sie zwischen ihm und
Christopher.
»Möchtest du Sir Fleming nicht sagen, daß Lady Marys
Besuch nicht die einzige Überraschung für ihn ist, Chris«,
sagte sie ironisch. »Du hast doch nicht die Absicht, aus deiner
Verlobung mit Olivia ein Geheimnis zu machen.«
Das allerdings traf Fleming wie ein Schlag. Seine Lippen
öffneten sich und schlossen sich wieder, ohne daß er ein Wort
hervorbrachte.
»Nun wissen Sie es, Sir Fleming«, sagte Christopher kalt.
»Ich hoffe, es verdirbt Ihnen den Abend nicht.«
Francis Fleming lachte plötzlich schrill auf. Wieder
verstummten alle und blickten ihn befremdet an.
»Wir werden viel Sekt brauchen, Nat«, rief er dem Butler zu.
»Meine Herrschaften, Ladys und Gentlemen – unser Herzog
von Ettingham hat sich mit Lady Olivia Winters verlobt. Wir
wollen das glückliche Paar hochleben lassen.«
Seine Stimme überschlug sich fast. Wahnsinn brannte in
seinen Augen. Durch Marys Körper kroch eisige Kälte, als sie
ihn anblickte, aber Olivia und Christopher lächelten, als
bemerkten sie es nicht. Sie lächelte so, wie man es von einem
glücklichen Paar erwartete.
In dem allgemeinen Trubel zollte man Fleming keine
übermäßige Aufmerksamkeit. Nur Alexa stand an der Säule
gelehnt und ließ ihn nicht aus den Augen, und Robin wiederum
ließ sie nicht aus den Augen.
Ihr Gesicht war starr und kalt wie Marmor. Nur ihre Augen
brannten und in ihnen ein tödlicher Haß, der ihm ein Frösteln
über den Rücken jagte. Doch nicht nur ihm. Francis Fleming
wandte sich um und sah sie an. Nun schien er seine
Beherrschung wiederzugewinnen.
»Das ist wohl eine herbe Enttäuschung für dich, Alexa«,
zischte er. Robin konnte jedes Wort verstehen. In seinem Kopf
überstürzten sich die Gedanken und er wartete voller
Spannung, was Alexa darauf erwidern würde.
»Es ist der Anfang vom Ende«, sagte sie leise und jede Silbe
betonend. »Aber nicht für mich, Sir Fleming.«
Darauf taumelte er davon, als hätte sie ihm einen Schlag
versetzt. Ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Brust, das Robin
veranlaßte, nach ihrem Arm zu greifen.
»Kommen Sie, Alexa«, sagte er leise, »frische Luft wird
Ihnen guttun, Cynthia.«
Er spürte das Beben, das durch ihren Körper ging, als er
seinen Arm beschützend um ihre Schultern legte.
»Warum überlassen Sie den Kampf nicht anderen, Alexa?«
fragte er behutsam.
Sie sah ihn bestürzt an. »Was denken Sie?« fragte sie tonlos.
»Nichts – ich fühle nur, daß Sie sich sehr engagiert haben.
Aber wofür? Das frage ich mich schon seit gestern.«
»Seit gestern?« wiederholte sie tonlos.
Sein Blick wanderte zum Himmel, der sich sternenklar über
ihnen wölbte.
»Als ich nach Greenwood-Hall kam, sah ich das Bildnis einer
wunderschönen Frau«, murmelte er, »und gestern sah ich sie
auf einer Wiese. Ich fragte mich, ob meine Sinne mir einen
Streich spielten. Jetzt weiß ich, daß dies nicht der Fall war. Ich
wußte es schon heute morgen, als wir uns kennenlernten. Sie,
Alexa, sind doch nicht geschaffen, gegen einen so eiskalten
Burschen zu Felde zu ziehen.«
»War er noch eiskalt?« fragte sie geistesabwesend. »Er
fürchtet sich. Und er wird sich noch mehr fürchten. Mischen
Sie sich nicht ein, Lord Hatton. Es ist mein Kampf, und es
wird mein Sieg sein!«
Robin wußte nicht, warum er es tat, aber er riß sie in seine
Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. War es der
Wunsch, sich davon zu überzeugen, daß in ihren Adern
warmes Blut pulsierte, oder war es ein fremder Wille, der ihn
dazu verleitete?
Für Augenblicke hatte er das Gefühl, daß sie sich
schutzsuchend an ihn klammerte, doch dann riß sie sich los
und verschwand in der Dunkelheit.
Er lief ihr nach, er rief ihren Namen, doch er fand sie nicht.
Schwer atmend lehnte er an einem Baum und versuchte seine
Beherrschung wiederzufinden.
Als er viel später den Saal wieder betrat, sah er Alexa
inmitten der Gäste stehend, lächelnd und plaudernd, als wäre
nichts geschehen, und auch Francis Fleming benahm sich so,
wie man es von dem Hausherrn, der illustre Gäste bewirtet,
erwartete.
Olivia kam auf ihn zu. »Wo hast du gesteckt?« fragte sie.
»Du hast mich vermißt?« fragte er gedankenvoll zurück.
»Aber sicher. Du hast Sir Flemings feierlichen Toast
versäumt. Wir haben ihm ganz hübsch eingeheizt.«
»Alexa hast du nicht vermißt?« fragte er gepreßt.
Ihre Augen wanderten zu ihr. »Sie scheint sich gut zu
unterhalten«, stellte sie fest.
»Olivia, wir dürfen sie nicht aus den Augen lassen«, flüsterte
er. »Sie bringt sich in Gefahr – ich fühle es.«
»Sie weiß, was sie tut«, erwiderte Olivia langsam. »Niemand
wird sie daran hindern.«
»Es ist purer Wahnsinn, was hier getrieben wird«, stieß er
hervor.
»Was ist Wahnsinn?« fragte Mary, ihn forschend anblickend.
»Allein schon die Tatsache, die Einladung dieses Mannes
anzunehmen«, ereiferte er sich.
»Die eigentlich doch nur Olivia galt«, erwiderte sie lächelnd.
»Du weißt nicht, welch bedeutungsvoller Tag dies ist, Robin.
Francis Fleming weiß noch nicht, wie bedeutungsvoll er enden
wird. Ich werde mich ihm jetzt widmen.«

Eine halbe Stunde war es noch bis Mitternacht, als Sir William
Fenner Bradford-Castle erreichte. Er ließ seinen Wagen an der
Straße stehen und ging das letzte Stück zu Fuß. Der Wind trug
die Musik durch den Park, das Lachen gutgelaunter Gäste. Die
Stimmung schien auf dem Höhepunkt zu sein.
Sir William bewegten düstere Gedanken. Was nur konnte
Mary bewegt haben, Bradford-Castle zu betreten?
Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Der
Nebel hatte sich wieder auf die Wiesen herabgesenkt, und aus
ihm, nicht weit von ihm entfernt, löste sich eine weiße Gestalt,
die dahinzuschweben schien.
Nun beginne auch ich Gespenster zu sehen, ging es ihm
durch den Sinn, doch wie unter einem hypnotischen Zwang
folgte er dieser Gestalt, die sich dem Haus zu bewegte.
Er beschleunigte seine Schritte, doch sein Fuß verfing sich in
dem dichten Gras, so daß er stürzte. Hart schlug sein Kopf auf
dem Boden auf. Rote Funken tanzten vor seinen Augen und
raubten ihm das Bewußtsein.
Er wußte nicht, wie lange es dauerte, bis er wieder auf den
Füßen stand, und solange er seine Augen auch
umherschweifen ließ, er konnte die Gestalt nicht mehr sehen.
Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Sein Bein schmerzte ihn, als er weiterging. Hirngespinste,
nichts als Hirngespinste, murmelte er vor sich hin. Und dafür
hatte er sich beschmutzte Kleidung und ein verletztes Bein
eingehandelt. So konnte er sich in Bradford-Castle nicht
blicken lassen.
Schon wieder bereit, zu seinem Wagen zurückzugehen,
vernahm er ein gespenstisches Gelächter, das ihm das Blut in
den Adern erstarren ließ.

»Ich glaube, wir sollten uns einige Minuten unterhalten,


Francis«, sagte Mary Winters leichthin. Es hatte ziemlich lange
gedauert, bis sie mit ihm unter vier Augen sprechen konnte.
Aber was waren diese Minuten gegen fünfzehn Jahre?
»Worüber?« fragte er zynisch.
Er hatte mehr getrunken, als gut für ihn war, doch dessen
wurde er sich nicht bewußt. Er fühlte sich augenblicklich
besser, und seine Augen funkelten boshaft.
»Über einen Vertrag, den wir vor fünfzehn Jahren machten«,
erwiderte Mary ruhig.
»Ich habe ihn eingehalten«, stellte er heiser fest.
»Bisher«, betonte sie. »Aber ich werde den Vertrag vor Ihren
Augen zerreißen, wenn Sie mir Cynthias Briefe dafür geben.«
Er warf ihr einen tückischen Blick zu. »Ich habe Cynthias
Briefe nicht mehr«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
»Doch, Sie haben sie«, entgegnete sie kühl. »Gehen wir in
die Bibliothek, oder möchten Sie, daß ich Sie in aller
Öffentlichkeit bloßstelle?«
»Sie machen sich sehr stark, Mary«, bemerkte er anzüglich.
»Ich bin stark.« Sie öffnete ihre schmale Handtasche.
»Sehen Sie hier hinein«, fuhr sie fort. »Sehen Sie den
Vertrag. Was meinen Sie, werden unsere Nachbarn sagen,
wenn ich den Wortlaut vorlese? Ich habe doch nichts zu
verlieren. Bradford-Castle bedeutet mir nichts mehr, nachdem
fünfzehn Jahre ein Fleming hier gewohnt hat.«
»Und Ihr zukünftiger Schwiegersohn? Bedeutet er Ihnen
nichts?« fragte er boshaft.
»Er weiß jetzt, wie seine Mutter wirklich war. Gehen wir
jetzt in die Bibliothek?«
»Wenn Sie sich etwas davon versprechen? Warum sollten wir
nicht alte Erinnerungen austauschen. Vielleicht möchten Sie
auch Ihr Jugendbildnis betrachten? Oder wollen Sie sich noch
einmal überzeugen, wie schön, wie unvergleichlich schön
Cynthia war?«
Er fühlte sich wieder obenauf, als er eine leise Unsicherheit
an ihr bemerkte. Er wußte nicht, daß diese davon herrührte,
daß Mary einen schreckensvollen Blick von Olivia
aufgefangen hatte.
»Wie spät ist es, Christopher?« fragte Olivia, nachdem sie
festgestellt hatte, daß ihre Uhr stehengeblieben war.
»Bald Mitternacht. Wir werden langsam aufbrechen.«
»Noch nicht«, murmelte sie. »Chris, vertraust du mir?«
»Warum fragst du?«
»Mama hat mit Fleming den Saal verlassen. Ich muß ihnen
folgen.«
Er nahm ihre Hand. »Warum, Olivia?«
»Ich kann es dir nicht sagen.«
»Vertraust du mir weniger als ich dir?« fragte er gepreßt.
»Ich habe jemandem ein Versprechen gegeben, noch bevor
ich wußte, was heute alles geschehen würde, Chris. Ich muß
dieses Versprechen halten. Mein Gott – es ist bald Mitternacht.
Laß mich gehen. Ich werde dir später alles erklären.«
»Hast du dieses Versprechen Alexa gegeben?« fragte er
gedankenvoll.
»Ich muß um Mitternacht in der Bibliothek sein«, flüsterte
sie, und da sah sie, wie ihre Mutter und Francis Fleming in der
Bibliothek verschwanden. Aber auch Christopher hatte es
gesehen.
Seine Augenbrauen schoben sich zusammen. »Er jedenfalls
wird um Mitternacht in der Bibliothek sein – und nicht allein«,
murmelte er. »Olivia, du weißt, was Alexa vorhat?
Allmächtiger, ist sie noch zu retten?«
Fest schlossen sich seine Finger um ihre Handgelenke. »Sie
ist in einem Teufelskreis gefangen, Olivia«, stöhnte er.
»Vielleicht sind wir das alle«, murmelte sie.
»Aber diese verfluchte Ähnlichkeit mit Alexa Wyatt führt sie
in die Irre!«
»Nein«, begehrte Olivia auf. »Alexa weiß, was sie tut und
warum sie es tut.«
Und da vernahmen auch sie das gespenstische Lachen.
Vergeblich hatte Robin nach Alexa Ausschau gehalten.
Niemand kümmerte sich um ihn, seit Mary sich von ihm
getrennt hatte. Niemand blickte ihm nach, als er ins Freie ging.
Auch er sah, wie sich die Nebel auf die Wiesen senkten, und
dachte an jenen Augenblick, als die weiße Gestalt sich aus
solchen Nebeln löste.
Auch jetzt sah er sie wieder, aber er glaubte nun nicht mehr
an Visionen. Er sah sie über den Weg huschen zu einem
Fenster, und im Schatten der Hecke lief er geduckt auf sie zu,
getrieben von dem Wunsch, sie festzuhalten, um sich davon zu
überzeugen, daß die Dame in Weiß und Alexa Darrien ein und
dieselbe waren.
Das gespenstische Gelächter ging ihm durch Mark und Bein,
doch im nächsten Augenblick sprang er auf sie zu und hielt sie
fest. Eine Hand preßte sich auf ihren Mund, und so sehr sie
sich auch wehrte, er gab sie doch nicht frei.
»Machen Sie sich nicht unglücklich, Alexa«, sagte er
atemlos. »Überlassen Sie es anderen, Gerechtigkeit zu üben.«
Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich Sir William
neben ihm.
»Robin hat recht, Alexa«, sagte auch er. »Überlaß es
anderen.«
Robin spürte, wie der feingliedrige Körper erschlaffte in
seinen Armen. Er hob sie empor.
»Mein Wagen steht an der Straße«, raunte Sir William ihm
zu, und gerade noch gelang es Robin, mit seiner leichten Last
dem Lichtkreis zu entkommen, der nun aus dem Fenster fiel,
das jemand aufgerissen hatte.
Sir William hatte noch einen Schritt auf dieses Fenster zu
gemacht und blickte nun in Francis Flemings angstverzerrtes
Gesicht.
»William«, rief Mary aus, und da erschienen hinter ihr auch
Christopher und Olivia.
»Vater«, ächzte Christopher.
»Dieses Lachen – haben Sie es gehört?« fragte Francis
Fleming lallend.
Sir William zog sich am Fenster empor. Mit dem verletzten
Bein wurde es ihm schwer, aber Christopher streckte ihm
hilfreich die Hände entgegen.
»Wie siehst du aus, William?« fragte Lady Mary
erschrocken. »Bist du gestürzt?«
»Später, meine Liebe«, murmelte er, denn er sah, daß Francis
Fleming auf die Tür zustürzte. Doch Olivia versperrte ihm den
Weg, und als er sie zur Seite schieben wollte, war Christopher
schon wieder geistesgegenwärtig zur Stelle. Er hielt den
anderen fest, so sehr er sich auch wehrte.
»Ich will wissen, wer da gelacht hat«, schrie Fleming außer
sich.
»Wer mag es wohl gewesen sein?« sagte Olivia tonlos.
»Lady Alexa Wyatt, sie kommt…« Doch sie konnte nicht
weitersprechen. Christopher preßte seine Hand auf ihren
Mund.
»Wir wollen nicht alle Gäste alarmieren«, sagte er ruhig.
»Wir sind unter uns. Lady Wyatt braucht nicht mehr zu
kommen. Die Stunde der Abrechnung ist da. Setzen Sie sich,
Fleming!«
Aus glasigen Augen starrte ihn der andere an. »Warum hat
sie gelacht – warum kommt sie nun doch nicht?« lallte er mit
schwerer Zunge.
»Weil wir hier sind, Fleming«, warf Sir William ein. »Was
vor dreihundert Jahren geschah, tritt hinter dem zurück, was
vor fünfzehn Jahren sich hier in diesem Raum abspielte. Diese
Rechnung werden Sie begleichen.«
»Was soll das bedeuten, Chris?« fragte Olivia bebend.
»Du wirst es hören«, erwiderte er dumpf. »Wer beginnt?«
»Mary«, sagte sein Vater. »Oder soll ich es für dich tun,
meine Liebe?«
»Zuerst wird er uns Cynthias Briefe übergeben«, sagte Mary
leise. »Haben Sie gehört, Sir Francis Fleming? Sie werden mir
jetzt Cynthias Briefe übergeben.«
Aber Francis Fleming war nicht fähig sich zu erheben. »Sie
sind im Safe«, murmelte er, sein Gesicht mit den Händen
bedeckend.

Indessen hatte Robin mit Alexa auf den Armen Sir Williams
Wagen erreicht. Nur weg von hier, war sein einziger Gedanke.
Doch wohin? Nach Ettingham?
Er entschied sich für Greenwood-Hall und war erleichtert,
daß Sir William den Zündschlüssel hatte stecken lassen.
Er hatte Alexa auf den Rücksitz gebettet. Noch immer hielt
sie eine tiefe Ohnmacht gefangen. Er hoffte, daß sie nicht
erwachen würde, bis sie Greenwood erreicht hatten.
Den Weg fand er rasch. Sie waren ihn erst vorhin gefahren.
Da hatte Alexa an seiner Seite gesessen, während Christopher
mit Mary und Olivia vorausfuhren. Nicht ein einziges Wort
hatte sie mit ihm gewechselt.
Jetzt fragte er sich, woher sie das weiße Kleid hatte und wo
sie ihr kostbares grünes Samtkleid mit diesem tauschte. Auch
andere Fragen bewegten ihn. Ob ihm Alexa einmal darauf
Antwort geben würde?
Kaum hielt er vor Greenwood-Hall, kam Archibald
herausgelaufen. Wie erstarrt stand er, als Robin Alexa aus dem
Wagen hob und ins Haus trug.
»Lady Alexa«, murmelte er entsetzt, und da wurde Robin
sich bewußt, daß er vermeinte, den Geist der Dame in Weiß zu
sehen.
»Alexa Darrien«, betonte er. »Sie ist ohnmächtig, Archibald.
Wo kann ich sie niederlegen?«
Archibald zitterte am ganzen Körper. Seine Miene drückte
Unglauben aus. Er öffnete die Tür zum blaugoldenen Salon,
als wolle er sich überzeugen, ob jenes Mädchen im weißen
Kleid nicht dem Rahmen entstiegen sei.
Aber sie blickte auf sie herab, und Robin, der sich ebenfalls
dabei ertappte, daß er zu ihr emporblickte, schien es, als wäre
ihr Lächeln jetzt noch ausdrucksvoller.
Er bettete Alexa auf das Sofa. »Bringen Sie Wasser und ein
Tuch«, sagte er zu Archibald.
»Es ist das Kleid, das gleiche Kleid«, stammelte Archibald,
bevor er sich anschickte, dem Befehl Folge zu leisten.
Ja, es war das gleiche Kleid, und Robin wußte nun auch,
warum es Alexa angezogen hatte. Aber jetzt dachte er nicht
daran. Er blickte in das Gesicht, das ihn Tag und Nacht
verfolgte und das ihm schöner erschien denn je.
»Alexa«, flüsterte er, während seine Hand behutsam ihr
kaltes Gesicht streichelte.
Für den Bruchteil einer Sekunde schlug sie die Augen auf.
»Ich muß…«, kam es wie ein Hauch über ihre Lippen, und sie
bäumte sich auf.
»Sie müssen gar nichts«, sagte er eindringlich. »Wir sind da.
Sie haben viele Freunde.«
Ein leises Stöhnen kam über ihre zuckenden Lippen, und
Robin beugte sich über sie und küßte sie sanft, aber er wußte
nicht, ob sie es spürte.

Lady Mary Winters hielt ein Bündel Briefe in der Hand.


»Damit wollte er euch erpressen«, sagte sie zu Sir William
und Herzog Christopher. »Sie sind ein Schuft, Fleming.« Ihre
Stimme klang schneidend.
Olivia sah ihre Mutter betroffen an. »Ich verstehe nichts
mehr, Mama«, flüsterte sie.
Mary hob den Kopf. »Soll sie alles wissen, Christopher?«
fragte sie nun gedämpft.
»Ja«, erwiderte er fest. »Olivia wird meine Frau. Ich habe
keine Geheimnisse vor ihr.«
Sein Blick wanderte zu dem Bild seiner Mutter. Voller
Bitterkeit bogen sich seine Mundwinkel abwärts. Er hatte sie
angebetet wie eine Göttin und andere ihretwegen verachtet.
Jetzt wußte er, daß sie ein Großteil der Schuld trug, für die nun
Francis Fleming Rechenschaft ablegen sollte.
»Ja, sehen Sie sie nur an«, kreischte er. »Sie hat alles so
gewollt. Sie hat mich in diese Situation gebracht.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Mary ruhig. »In diese Situation
haben Sie sich selbst gebracht. Sie ist tot, und es müßte nicht
mehr darüber gesprochen werden, hätten Sie sich an unseren
Vertrag gehalten.«
Francis Fleming sank wieder in sich zusammen. Furchtsam
blickte er Mary an.
Welch ein Feigling er doch ist, dachte Mary, und Olivia
dachte das gleiche und noch mehr. Alexa hatte ihn
durchschaut. Sie hatte erkannt, wie feige und abergläubisch er
war, und mit diesem Wissen hatte sie ihn zur Strecke bringen
wollen. Aber wo war Alexa jetzt?
»Wo ist Alexa?« fragte sie beklommen in die eintretende
Stille hinein.
»Robin bringt sie in Sicherheit«, warf Sir William ein. »Du
kannst unbesorgt sein, mein Kind.«
»Dann beenden wir zuerst diese Angelegenheit«, sagte
Christopher »Sie haben das Wort, Lady Mary. Von welchem
Vertrag sprachen Sie?«
»Das ist doch alles verjährt«, begehrte Francis Fleming
nochmals auf.
»Davon steht nichts in dieser Urkunde«, sagte Mary
verächtlich. »Und das wissen Sie genau, Fleming. Ich habe
Ihnen Bradford-Castle überlassen, solange Sie Schweigen
bewahren und keinen Ettingham belästigen. Sie haben die
Abmachung gebrochen.«
Sie war sehr blaß geworden, als Olivia einen leisen Schrei
ausstieß, und eine Schwäche machte sich bei ihr bemerkbar.
Christopher ergriff ihren Arm.
»Olivia und Christopher sollten doch lieber gehen«, flüsterte
Mary. »Es geht nur uns an, William.«
»O nein, ich denke, daß es auch uns angeht«, sagte
Christopher heiser. »Olivia wird es eines Tages doch erfahren,
daß meine Mutter Flemings Geliebte war, und ich war lange
genug blind und taub. Was steht in diesem Vertrag? Vater,
möchtest du es Lady Mary nicht abnehmen, uns den Inhalt zu
Gehör zu bringen?«
Sir William nahm die Urkunde aus Marys kraftloser Hand.
Sanft drückte er sie in einen Lehnstuhl.
Es klopfte an der Tür. Christopher öffnete sie und blickte in
Nats furchtverzerrtes Gesicht.
»Die Gäste werden unruhig, Sir«, brachte er mühsam über die
Lippen.
»Sagen Sie, daß Sir Fleming sich nicht wohl fühlt«, erklärte
Christopher sarkastisch, »und wir wünschen nicht gestört zu
werden.«
Er schlug dem verstörten Butler die Tür vor der Nase zu,
bevor Francis Fleming noch etwas sagen konnte.
Man hörte schon die ersten Wagen davonfahren, als Sir
William begann, den Text der Urkunde vorzulesen:
»Ersparen Sie sich die Mühe«, fiel ihm Francis Fleming
sogleich mit einem letzten Rest von Haltung ins Wort. »Ich
kenne den Wortlaut. Was verlangen Sie, Lady Winters?«
»Daß Sie Bradford-Castle noch heute verlassen«, erwiderte
sie, »und daß Sie niemals wieder hierher zurückkehren.«
»Sie haben gewonnen«, murmelte er. »Lassen Sie mir
Cynthias Briefe, dann gehe ich.«
»Nein«, sagte Mary eisig, um dann das Päckchen, das sie
noch immer in der Hand hielt, in das lodernde Kaminfeuer zu
werfen, das sogleich das Papier gierig umzüngelte und
verzehrte.
»Warum haben Sie das getan?« rief Francis Fleming aus.
»Hätten Sie Ihren so moralischen Schwiegersohn doch lesen
lassen, was seine Mutter für glühende Briefe schreiben konnte.
Wäre das nicht auch für Sie eine Rechtfertigung gewesen?
Was waren denn schon die beiden niedlichen Briefchen
dagegen, die Sie Sir William schrieben.«
»Für Sie immerhin Grund genug, eine verehrungswürdige
Frau zu erpressen«, mischte sich Sir William ein. »Nein, Mary,
du hättest es nicht tun sollen. Wir hatten uns nichts
vorzuwerfen. Wir hätten Anzeige gegen ihn erstatten sollen,
damals schon, und ich hätte es getan, wenn ich es gewußt
hätte. Gehen wir jetzt. Fleming wird seine Koffer packen
wollen.«

So schnell verzog sich der Abschied dann doch nicht, aber


Olivia war viel zu verwirrt, um der erregten Debatte, die sich
zwischen Fleming und Christopher noch entspann, folgen zu
können.
Sir William bereitete dem Hin und Her dann mit einem
energischen Machtwort ein Ende. Nur so viel hatte Olivia
begriffen, daß es Fleming nochmals um Geld gegangen war, da
er nach seinen Worten nichts mehr besaß.
Christopher führte sie zu seinem Wagen. Sein Gesicht war so
düster, wie sie es von ihrer ersten Begegnung kannte.
»Du wirst es dir nun wohl doch überlegen, ob du mich
heiraten willst«, murmelte er.
»Warum sollte ich es mir überlegen?« fragte sie leise.
»All der Schmutz, für den deine Mutter bezahlt hat«, sagte er
deprimiert, »und dazu mein unverzeihliches Verhalten ihr und
Vater gegenüber – wie solltest du es verstehen, die du eine so
großartige Mutter hast, Olivia.«
»Wie sehr muß Mama ihn geliebt haben«, flüsterte sie
gedankenverloren, »und wenn man liebt, denkt man nicht an
sich selbst. Ich verstehe das jetzt auch sehr gut, Chris.«
Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schloß die
Augen. »Es war der letzte Akt«, fuhr sie dann fort. »Lady
Alexas Geist wird Ruhe finden, wenn es keinen Fleming mehr
gibt.«
»Noch gibt es ihn«, sagte er dumpf, »und wer garantiert uns,
ob er wirklich geht. Die Flemings haben noch immer Frauen
gefunden, die ihnen weiterhalfen. Und eine davon war meine
Mutter«, stöhnte er auf.
Ob er es jemals verwinden würde? Olivia erbebte bei dem
Gedanken, daß nun Cynthias Geist zwischen ihnen stehen und
ihr keimendes Glück vernichten könnte.

Endlich waren sie zur Ruhe gekommen. Alexa war in einem


Gästezimmer untergebracht worden, Sir William war mit
seinem Sohn nach Ettingham gefahren.
Mary hatte Olivia zärtlich in die Arme genommen. »Schlafen
wir jetzt«, meinte sie beruhigend. »Bei Tageslicht sieht dann
alles schon ganz anders aus.«
Die beiden Männer in Ettingham dachten nicht an Schlaf. Sie
saßen vor dem Kamm, und Christopher erfuhr nun aus dem
Mund seines Vaters, wie der Vertrag lautete, den Mary
Winters und Francis Fleming einst geschlossen hatten. Daß er
Bradford-Castle so lange bewohnen dürfe, wie er die
Ettinghams unbehelligt ließe und keinen Gebrauch von seinem
Wissen mache.
»Mary hat dieses Abkommen mit Wissen deines Großvaters
getroffen, Christopher«, sagte Sir William mit schwerer
Stimme. »Er hat die Urkunde auch für sie verwahrt.«
»Warum ließ er es zu?« fragte Christopher gequält. »Hätte er
ihm nicht Geld geben können, wenn er auf Marys Seite
stand?«
»Das wollte Fleming damals nicht. Er wollte hierbleiben,
sozusagen als Drohung für uns. Außerdem…«, er machte eine
Pause, denn es fiel ihm schwer weiterzusprechen, »lebte
Cynthia damals noch«, fuhr er dann gepreßt fort.
»Warum hast du dich nicht scheiden lassen, wenn die Dinge
so lagen?«
»Hättest du es verstanden?«
Christopher senkte den Blick zu Boden. »Dann hast du alles
meinetwegen ertragen und geduldet?«
»Du warst zu jung, um es begreifen zu können. Für dich war
deine Mutter unantastbar. Sie hatte es doch verstanden, dich
ganz auf ihre Seite zu bringen.«
»Und sie wollte sich nicht von dir trennen, weil sie auf das
Luxusleben nicht verzichten wollte und Fleming es ihr nicht
bieten konnte«, stieß Christopher hervor. »Ich sehe alles klar,
Vater. Wie verblendet war ich doch! Warum hast du keinen
Vorwurf für mich?«
»Wie könnte ich? Ich habe Cynthia geheiratet, und ich war
damals sogar überzeugt, sie zu lieben. Als ich Mary traf, war
das längst vorbei. Ich gestehe es ein, daß ich entschlossen war,
mich scheiden zu lassen, um Mary zu heiraten, aber sie wußte
wohl, daß ich dann auf dich verzichten müßte, und sie war
auch noch so jung.«
»Und so habt ihr beide viele Jahre eures Lebens verschenkt.
Ein hoher Preis für so viel Abscheulichkeit.«
»Vielleicht mußte alles so kommen, damit ihr euch finden
konntet«, murmelte Sir William. »Jetzt wird endlich Ruhe
einkehren.«

Verstört um sich blickend, richtete sich Alexa in ihrem Bett


auf, als die Sonne durch die dichten Vorhänge kroch. Sie
wußte nicht, wo sie sich befand. Die Erinnerung an die
vergangene Nacht war verschwunden, und erst ganz langsam
kehrte sie zurück.
Schaudernd blickte sie auf das weiße Kleid, das über einem
Hocker lag. Nie wieder wollte sie es anziehen. Nein, nie
wieder!
Aber was sollte sie jetzt anziehen? Sie war in Greenwood-
Hall, und sie wußte nun auch, daß Robin sie hierhergebracht
hatte.
Was mochte in Bradford-Castle noch geschehen sein, als er
sie weggetragen hatte? Wieso war Onkel William plötzlich
dagewesen? Die Gedanken reihten sich aneinander, und doch
blieben Fragen offen. Fragen, die sie bewegten und
bedrückten.
Sie erhob sich und ging ins Bad. Dort hing ein blauer
Frotteemantel. Das Nachthemd, das sie trug, mochte wohl
Olivia gehören.
Olivia und Christopher! Schon wanderten ihre Gedanken zu
ihnen. Doch es blieb ihr nicht viel Zeit zum Nachdenken, denn
nun klopfte es leise an ihre Zimmertür.
Olivia schob sich herein. »Du bist schon auf?« fragte sie
überrascht. »Du sollst noch ruhen, Alexa.«
»Wieso, ich bin doch nicht krank«, erwiderte Alexa lächelnd.
»Ich habe fest geschlafen, aber du siehst müde aus.«
»Es war ja auch eine lange Nacht, und ich konnte einfach
nicht schlafen.«
Ihr Blick fiel auf das weiße Kleid. Sorgfältig faltete sie es
zusammen, Alexa dabei nicht aus den Augen lassend.
»Es wird in die Truhe gelegt, und dort bleibt es für alle
Zeiten«, sagte sie energisch. »Du hast dir den Kopf heiß genug
gemacht, Alexa. Es hätte böse ausgehen können.«
»Und wie ist es ausgegangen?«
»Fleming wird Bradford-Castle verlassen.«
Alexas Blick schweifte in die Ferne. »Wenn es gewiß ist. Ich
glaube nicht daran.«
»Sir William wird dafür sorgen, falls ihm die heutige Nacht
nicht genügt hat. Es gibt Dinge, die ihn noch mehr erschrecken
als der Geist der Weißen Dame.«
»Aber sie wird keine Ruhe finden, solange noch ein Fleming
lebt«, murmelte Alexa.
»Löse dich doch von solchen Gedanken«, bat Olivia
eindringlich.
»Du weißt nicht, wie sie gestorben ist«, flüsterte Alexa. »Sie
kann keine Ruhe finden. Ich könnte es auch nicht.«
Olivia betrachtete die andere beklommen. Hätten sich diese
Vorstellungen so sehr in ihrem Gehirn festgesetzt, daß sie nie
mehr davon loskommen würde? ging es ihr durch den Sinn.
Alexa war doch sonst ein ganz normales junge Mädchen. Man
mußte sie von den Gedanken befreien.
»Wie Alexa Wyatt auch immer gestorben sein mag«, begann
sie leise, »es ist dreihundert Jahre her. Und du lebst – wir alle
leben, Alexa.«
»George Fleming hat sie in einen Kerker eingeschlossen und
sie verhungern lassen«, flüsterte Alexa. »Sie mußte langsam
sterben und hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken. Wieviel Haß
mag sich in einem Menschen ansammeln, wenn er unschuldig
so sterben muß, Olivia?«
»Doch nicht so viel, daß er Jahrhunderte überdauert«, meinte
Olivia beschwichtigend. »Aber woher will man wissen, daß sie
so gestorben ist?«
»Sie hat es aufgeschrieben. Ich fand ihr Tagebuch in dem
Verlies in Bradford-Castle.«
»In dem Verlies in Bradford-Castle«, wiederholte Olivia
tonlos. »Wieso Bradford-Castle?«
»Früher gehörte es den Flemings, wußtest du es nicht? Dann,
vor etwa hundert Jahren, fiel es den Bradfords zu, bei denen
die Flemings tief verschuldet waren. Früher hieß es
Blackwood, im Gegensatz zu Greenwood. Und dort hielt
George Fleming Alexa Wyatt gefangen, nachdem sie zu ihm
gegangen war, um Rechenschaft von ihm zu fordern, warum er
ihre Ehe auseinanderbringen wollte. Sie war eine mutige Frau,
sie wollte diese Schuld nicht auf sich sitzenlassen. Sie wollte
nicht, daß ihre Kinder Verfemte würden. Es waren unsere
Ahnen, Olivia, Christophers und auch meine, und mir gab die
Vorsehung das Aussehen Alexa Wyatts, wie es ehemals die
Zigeunerin voraussagte.«
»Was hat sie vorausgesagt und wann?« fragte Olivia atemlos.
»Mir hat sie es vorausgesagt«, erwiderte Alexa, und ihre
Augen glühten. »Ich war noch ein halbes Kind, als ich sie auf
der Wiese traf. Sie sah nach Bradford-Castle hinüber, und dann
sah sie mich an. Du wirst zurückkommen, sagte sie zu mir. In
dir ist ihr. Geist – der Geist der Lady Wyatt. Du wirst ihr
Gesicht haben und ihre Gestalt und wirst ihr Kleid tragen, und
der letzte Fleming wird sterben, elend sterben.«
Olivias Hand fuhr an ihre Kehle, die ihr eng geworden war.
Entsetzt starrte sie Alexa an.
»Und du hast das alles geglaubt und danach gehandelt?«
flüsterte sie angstvoll.
»Ich weiß nicht, ob du es verstehen kannst, Olivia«, sagte
Alexa gedankenvoll. »Wenn ich ihr Bild anblickte und mich
selbst wie in einem Spiegel sah, wenn sie auf mich
herabblickte, so flehend, als würde sie darum bitten, daß ihre
Seele endlich Ruhe finden möge, nein, du kannst es nicht
verstehen. In jeder Generation hat ein Fleming die Frau eines
Ettingham besessen – es muß ein Ende sein. Sie müssen hier
verschwinden.« Sie schrie es fast. »Du weißt ja nicht alles,
Olivia«, fuhr sie dann tonlos fort. »Meine Mutter verließ
meinen Vater um einen Fleming, Cynthia betrog ihren Mann
mit einem Fleming. Wie soll man das nur alles ertragen? Und
als du dann kamst, als ich bemerkte, wie er dich ansah, und als
Christopher mir dann sagte, daß er dich heiraten wolle…«, sie
schlug ihre Hände vor das Gesicht und schluchzte auf.
Olivia nahm sie in die Arme. »Um mich brauchst du keine
Angst zu haben, Alexa«, flüsterte sie, »ich liebe Christopher
und werde nie einen anderen Mann lieben.«
»Du liebst Christopher?« fragte Alexa verwundert, »du liebst
ihn wirklich?«
»Ja, ich liebe ihn und werde ihn nie verlassen. Du brauchst
dich nicht zu sorgen.«
»Und so hatte die Zigeunerin doch recht«, flüsterte Alexa.
»Es wird eine Frau kommen, deren Liebe stärker ist als Haß
und Mißgunst. Sie wird die Ettinghams erlösen, und fortan
wird das Glück bei ihnen bleiben.«
»Ob damit nicht Mama gemeint ist?« meinte Olivia sinnend.
»Sie hat mehr getan, als ich jemals tun könnte.«
Ein langes Schweigen war zwischen ihnen. Dann fragte
Alexa: »Würdest du mir bitte ein Kleid leihen, Olivia?«
»Aber gern. Komm, such dir eines aus. Schau, wie die Sonne
scheint. Wir werden einen Spaziergang machen. Chris wird
bald hier sein. Wir setzen einen Schlußpunkt unter die
Vergangenheit. Heute feiern wir unsere Verlobung.«
*

Robin schaute ungläubig, als Alexa die Treppe herunterkam.


Anmutig sah sie aus in dem hübschen Kleid, und ein warmes
Leuchten war in ihren Augen, als sie ihm ihre Hand
entgegenstreckte.
»Sie haben viel für mich getan, Robin«, sagte sie mit
schwingender Stimme. »Ich danke Ihnen.«
»Ich möchte noch viel mehr tun, damit sie lachen und
glücklich sind«, erwiderte er. »Es ist ein verlockender Tag.
Wollen wir nicht ein Stück gehen?«
»Nimm meinen Mantel, Alexa«, rief Olivia ihr zu. »Der
Wind ist noch kühl.«
Robin legte ihr den Mantel um die Schultern. Tief holten sie
Atem, als sie draußen standen. Dann blickten sie sich an und
lächelten befreit. Sie faßten sich wie Kinder bei den Händen
und liefen über den Rasen, und Mary, die am Fenster stand,
blickte ihnen nach. Ein zärtliches Lächeln lag über ihrem
schönen, sanften Gesicht. Sie gab sich Zukunftsträumen hin,
aus denen sie durch Olivias freudigen Ausruf geschreckt
wurde.
»Chris kommt«, tönte es hell durch das Haus, und wie ein
Wirbelwind war sie gleich draußen. Sie fiel ihm in die Arme,
kaum daß er ausgestiegen war, und sie bemerkte gar nicht, daß
er nicht allein gekommen war.
Sir William lächelte nachsichtig und voll väterlicher Güte,
um dann Mary entgegenzugehen, die in der Tür auf ihn
wartete.
Christopher und Olivia hielten sich innig umschlungen.
»Willst du mich denn immer noch haben?« fragte er mit
dunkler, sehnsüchtiger Stimme.
Seine Lippen preßten sich an ihre Stirn. »Du hast mich ganz
und für immer, Olivia«, sagte er weich. »Fortan wird es nur
noch Glück geben in Ettingham, das schwöre ich dir.«
Olivia dachte an Alexas Worte, die die Weissagung der
Zigeunerin wiederholt hatten. »Es wird eine Frau kommen,
deren Liebe stärker ist als Haß und Mißgunst. Sie wird die
Ettinghams erlösen, und fortan wird das Glück bei ihnen
bleiben.«
Sie sah über Christophers Schulter hinweg zu ihrer Mutter,
die an Sir Williams Arm ins Haus ging. Ihre Augen glänzten
feucht. Mochten diese Worte auch ihr gegolten haben, für sie
hatten sie ebenfalls Gültigkeit, denn sie wußte, daß ihre Liebe
stark war, stark genug, um alle Schatten zu bannen.
Ganz bewußt schlug Robin den Weg zu jener Wiese ein, wo
er Alexa zum erstenmal gesehen hatte. Hier, an diesem Platz,
wollte er ihr sagen, was ihn bewegte.
Er spürte, wie ihre Hand, die er fest umschlossen hielt, bebte,
wie ihr Körper ihm Widerstand entgegensetzte, als er sie an
sich zog.
»Warum wollen Sie dorthin, Robin?« fragte sie zitternd.
»Um Ihnen deutlich zu machen, daß die Wirklichkeit stärker
ist als die Vergangenheit und die Liebe stärker als Haß,
Alexa«, erwiderte er leise.
»Ja, Olivia liebt Christopher«, murmelte sie. »Ich kann es
noch nicht glauben.«
»Und ich liebe dich«, sagte er zärtlich, »ich kann es auch
noch nicht glauben. Ich möchte, daß du ganz lebendig bist,
Alexa, daß du meine Küsse spürst und sie erwiderst. Ich habe
dich schon ein paarmal geküßt, weißt du es?«
Sie schüttelte leicht den Kopf. Dunkle Glut stieg in ihre
blassen Wangen.
»Warum?« fragte sie.
»Ich habe es dir doch schon gesagt. Ich liebe dich«,
wiederholte er eindringlich. Und dann küßte er sie und spürte,
daß sie seine Küsse nun erwiderte.
»Wir werden von hier weggehen«, raunte er ihr ins Ohr. »Wir
werden eine weite Reise machen. Ich werde dir die Welt
zeigen, und du wirst gar keine Zeit mehr haben, an die
Vergangenheit zu denken, denn die Zukunft gehört uns. Ich
werde dich auf Händen tragen, Alexa. Willst du meine Frau
werden?«
Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht gewußt, daß es
einen Mann gab, für den ihr Herz schlagen würde. Nun wußte
sie es ganz plötzlich. Wie ein Sturmwind kam die Liebe auch
zu ihr und nahm sie gefangen. Sie fühlte sich geborgen in
seinen Armen, sie war befreit von einem quälenden Druck. Es
gab keine Nebel, aus der Geister emporstiegen, keine Schatten,
die sich erdrückend auf sie herabsenkten und ihr folgten auf
Schritt und Tritt.
Sie spürte keine Angst, als er sie dann nach Bradford-Castle
führte. Still und verlassen lag es da, nur die Krähen kreischten,
und es klang wie ein Totengesang.
Eine alte Frau kam aus dem Wirtschaftsgebäude. »Lady
Alexa«, flüsterte sie und bekreuzigte sich.
»Lady Alexa Darrien«, sagte Robin betont.
»Sie sind fort, sie sind alle fort«, flüsterte die alte Frau
verstört. »Heute nacht sind sie schon fort. Er kommt nicht
mehr zurück, und nun sollen auch die Geister gebannt sein.«
Sie sah Alexa an, als erwarte sie, daß sie sich jeden
Augenblick in Nichts auflösen würde.
»Die Geister sind gebannt«, wiederholte Alexa. »Willst du
sehen, Robin, wo Alexa Wyatt starb?«
»Muß es sein?« fragte er mit belegter Stimme.
Alexa beugte sich herab und brach ein paar Anemonen, die
auf der Wiese blühten.
»Du brauchst nicht mitzukommen. Ich möchte ihr diese
Blumen bringen«, murmelte sie.
Er legte seinen Arm um sie. »Nicht einen Augenblick werde
ich dich allein lassen«, sagte er.
Sie gingen durch das stille Haus, stiegen eine steile Treppe
hinab und dann eine zweite. Modrige, feuchte Luft schlug
ihnen entgegen, und ihre Schritt halten auf dem Steinboden,
der kalt und glitschig war. Wie eine Traumwandlerin fand
Alexa die Tür, bevor Robin noch ein Streichholz anzünden
konnte.
Durch ein kleines Loch in der Mauer fielen die Strahlen der
Sonne auf einen halbverfallenen Schemel, ein morsches Bett,
das aus dürftigen, wurmzernagten Brettern bestand. Auf dieses
legte Alexa die Blumen, dann kniete sie nieder und faltete die
Hände.
Sanft hob Robin sie empor und drückte sie an sich. »Möge
ihre Seele nun Ruhe finden«, sagte er leise.
»Unsere jungen Leute bleiben lange aus, Mary«, sagte
William mit einem flüchtigen Lächeln.
»Sie werden sich viel zu sagen haben, die einen wie die
anderen«, erwiderte sie. »Langweilst du dich mit mir?« fügte
sie dann scherzhaft hinzu.
»Ganz im Gegenteil. Ich möchte die Uhren anhalten,
zurückdrehen kann ich sie ja leider nicht.«
»Wir wollen versuchen, das Beste aus der Zeit zu machen,
die uns bleibt, William«, sagte sie leise.
»Wir?« fragte er. »Willst du es, nach allem, was geschehen
ist und ich es nicht verhindert habe? Hast du dir nicht manches
Mal gesagt, daß ich es hätte verhindern müssen, Mary?«
Sie schüttelte den Kopf. »Alles im Leben ist uns
vorbestimmt, Lieber«, sagte sie sanft. »Wie wir es tragen und
bewältigen, das allein liegt in unseren Händen. Und so war es
uns auch vorbestimmt, daß wir uns wiedersehen.«
Er nahm ihre Hände und legte seine Lippen hinein. »Ich
danke dem Schicksal voller Demut, daß ich dich so sprechen
hören darf, liebste Mary. Ich war so hart geworden in all den
Jahren und nun…« Er verstummte und preßte seinen Mund in
ihr Haar, das so fein und seidig war wie damals.
Doch als er auch ihren Mund küssen wollte, wurden draußen
erregte Stimme laut.
»Der Teufel hat ihn geholt«, rief die sonst so stille Rose
hysterisch aus.
Mary erblaßte und löste sich aus Williams Arm. Und da
klopfte es schon an die Tür. Archibald erschien mit bleichem,
schreckensstarrem Gesicht.
»Sir Fleming«, keuchte er, »er ist mit seinem Wagen in die
Schlucht gestürzt.«
»Er ist tot – er ist tot«, rief draußen Rose immer wieder, als
könne sie es noch nicht glauben.
»Er ist tot«, wiederholte Mary mechanisch. »Er war der letzte
Fleming.«
Wie unter einem hypnotischen Zwang ging sie dann auf den
blaugoldenen Salon zu. Sir William folgte ihr, und auch
Archibald und Rose kamen in gemessenem Abstand.
Die Sonne schien auf Alexa Wyatts schönes Gesicht, und es
war, als würde es von einem überirdischen Lächeln verklärt.
»Friede sei mit ihr«, murmelte Rose schluchzend.
»Und in uns«, fügte Mary leise hinzu. Sie konnte es nicht
verhindern, daß Tränen über ihre Wangen rannen, und
während Rose und Archibald sich auf Zehenspitzen
davonschlichen, nahm Sir William sie in die Arme und küßte
sie.
*

Der letzte Fleming war tot, und unter der schlichten


Landbevölkerung raunte man sich zu, daß die Dame in Weiß
nun nicht mehr durch den Wald und über die Felder geistern
würde.
Alexa Darrien zeigte sich nicht in der Öffentlichkeit, um dem
alten Aberglauben nicht neue Nahrung zu geben. Sie fuhr mit
Lady Mary, Sir William, Robin und Olivia in den Süden, wo
sie die Wochen bis zu Olivias Hochzeit verbringen wollten,
während Christopher Schloß Ettingham für seine junge Frau
renovieren lassen wollte.
Nicht nur das Bild von Lady Alexa Wyatt, sondern auch das
des Herzogs Albert war nun in Greenwood-Hall. Dort, wo sie
einst glücklich gewesen waren, wurden sie nun wieder vereint,
die durch Neid und Zwietracht getrennt worden waren. Wie
groß ihre Liebe gewesen war, hatte Alexa Wyatt in ihrem
Tagebuch verewigt, das mit den Worten schloß: Und nun
werde ich nach Blackwood gehen.
Sie war nicht zurückgekommen, und Herzog Albert war
verzweifelt an seinem Mißtrauen, an sich selbst und seiner
verlorenen Liebe.
Nie wieder würde sich eine solche Tragödie zutragen, nie
wieder würde eine Herzogin von Ettingham einem Fleming
begegnen.

*
Das Meer, das am Horizont mit dem Himmel zusammenfloß,
warf währenddessen seine schaumgekrönten Wellen an den
Strand der Riviera, über die nackten Füße von Robin und
Alexa, die in überströmender Lebensfreude der Sonne
entgegenliefen.
Manchmal blieb er stehen und zog sie in seine Arme, um ihr
heißes Gesicht mit noch heißeren Küssen zu bedecken.
»Bald bist du meine Frau«, sagte er zärtlich. »Nur noch ein
paar Tage, dann werden wir in die Welt fliegen, um sie herum
und dort bleiben, wo du es schön findest.«
»Und wir werden nach Ettingham zurückkehren«, sagte sie
gedankenvoll. »Olivia überläßt uns Greenwood, wenn du es
willst, Robin.«
»Willst du es denn?« fragte er.
»Irgendwo müssen unsere Kinder doch ein Zuhause haben«,
flüsterte sie. »Ich habe keine Angst mehr. Es ist vorbei,
Liebster.«
»Unsere Kinder«, raunte er ihr ins Ohr, »hast du es wirklich
gesagt, Alexa?«
»Es werden glückliche Kinder sein, so glücklich wie wir,
Robin. Wir werden ihnen niemals alte Geschichten erzählen,
nicht wahr?«

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