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Dinge zum Sprechen bringen

Praktische Theologie im
Wissenschaftsdiskurs
Practical Theology in the
Discourse of the Humanities

Herausgegeben von
Christian Bauer, Amy Daughton,
Maureen Junker-Kenny, Thomas Klie,
Martina Kumlehn und Ralph Kunz

Band 30
Dinge zum
Sprechen bringen

Performanz der Materialität

Festschrift für Thomas Klie

Herausgegeben von
Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag
ISBN 978-3-11-074432-3
e-ISBN (PDF) 978-3-11-076285-3
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-076289-1
ISSN 1865-1658

Library of Congress Control Number: 2022933741

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über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston


Druck und Bindung: CPI book GmbH, Leck

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Thomas Klie gewidmet –
dem performanzstarken Grenzgänger
zwischen Zeichen- und Dingwelten
und Liebhaber riskanter Gedankenspiele
Inhalt

Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag


Einleitung
Dinge zum Sprechen bringen 1

Andreas Kubik
Sorgfalt
Annäherungen an eine religionsaffine Haltung zu den Dingen 9

Klaus Hock
Der Kosmos aus dem Tintenfass 25

Eckart Reinmuth
Becher, Kreuz und Brot
Notizen zur ‚Performanz der Dinge‘ im 1. Korintherbrief 47

Silke Leonhard
Klarer die Glocken (nie) klingen
Zur Performanz und Resonanz von Glockenklang aus
religionspädagogischer Perspektive 63

Ralph Kunz
Streitsache Salböl
Plädoyer für ein Sakrament der Berührung 77

Paula Stähler
Lebendiges Licht
Von Kerzen in Kirchen, daheim und im virtuellen Raum 107

Michael Meyer-Blanck
Mehr als Holz und Stein
Die Kanzel als locus principalis evangelischer Liturgie und
evangelischen Kirchenbaus 121

Jan Hermelink
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation
Ein Versuch zur Materialität der kirchlichen Leitungspraxis 135
VIII Inhalt

Jakob Kühn
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der Dinge
Die Kasualrede und ihre Bezüge zu den Dingen 151

Kristian Fechtner
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern
Erkundungen zur Gegenständlichkeit der Zeit 165

Ulrike Wagner-Rau
Ein Abdruck im Sitzkissen
Die Materialisierung von Absenz und ihre Bedeutung im
Trauerprozess 179

Antje Mickan
Stein und Raum
Ein funerales Kommunikations- und Erinnerungsmedium im
Gebrauch 193

Thorsten Benkel
Stille Klänge 213

Bernhard Dressler
Ein Paar Bergschuhe
Verstreute Gedanken zum Bergsteigen und zur Religion 229

Petra Schulz
Schieferdachplatten
Annäherung an ein imaginäres Museum 239

Matthias Marks
Dinge, die unter die Haut gehen
Über die Performanz von Tattoos und ihre Bedeutung aus
religionspsychologischer Sicht 255

Martina Kumlehn
Unter und an Masken lernen
Impulse religiöser Identitätsbildung im performativen Spannungsfeld
von Zeigen und Verbergen 275
Inhalt IX

Marcell Saß
Digitale Dinge?
Eine praktisch-theologische Spurensuche 293

Thomas Schlag
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 303

Frank Albrecht Uhlhorn


Das (fiktive) Kamel im Konstruktivismus
Anmerkungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis 327

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 339


Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag
Einleitung
Dinge zum Sprechen bringen

Zeichen – Spiel – Performanz – Inszenierung – Materialität: Diese Begriffe stehen


maßgeblich für die anregende Rezeption kulturwissenschaftlicher Theorieper-
spektiven in der Praktischen Theologie, die jeweils eigene komplexe Diskurse im
Fach generiert haben, um die Reflexion verschiedener Handlungsfelder erkennt-
nisleitend anzuregen und zu orientieren. Thomas Klie hat diese Entwicklung des
Faches in den letzten Jahrzehnten durch sein eigenes Werk wesentlich mit be-
fördert und in dem angedeuteten Spannungsfeld von Semiotik, Spiel- und
Theatertheorie markante eigene praktisch-theologische Akzente gesetzt. Die
vorliegende Festschrift anlässlich seiner Emeritierung würdigt diese Grundan-
liegen seines praktisch-theologischen Wirkens, bündelt sie und zeichnet sie in
den aktuellen intra- und interdisziplinären Wissenschaftsdiskurs der materiellen
Kultur ein, den Thomas Klie am Ende seiner aktiven Laufbahn besonders im
Kontext der Bestattungs- und Erinnerungskultur in den Blick genommen hat. Der
Weg von den Zeichen zu den Dingen sei anhand seines Œuvres kurz und selektiv
skizziert.
Von Anfang an bis heute leitet und begleitet Thomas Klie die Überzeugung,
dass sich christliche Kommunikationszusammenhänge stets als Zeichenprozesse
vollziehen. Mit der semiotischen und spieltheoretischen Rekonstruktion der
Pastoraltheologie „Zeichen und Spiel“¹ schloss er 2003 an die Theoriekonzepte
der ästhetischen Wende in der Praktischen Theologie an. Von dort aus hat er die
Leitideen semiotischer Kultur- und Kommunikationstheorie nicht mehr aufgege-
ben, sondern vielmehr die Reflexion der Codierungen durch die der Aufführungs-
und Inszenierungspraktiken erweitert. Dazu zählt die Fokussierung der Perfor-
manz als weitere zentrale Kategorie, die über den Darstellungsaspekt Semiotik
und Spiel zu verbinden und weiterzuführen vermag. Folgt man diesbezüglich der
Spur der unterschiedlichen Turns, die sich dem cultural turn zurechnen lassen,
signalisiert der performative turn auf jeden Fall in besonderer Weise einen Para-
digmenwechsel oder vorsichtiger formuliert: Eine Perspektivenerweiterung, die
der Praktischen Theologie neue Reflexionsmöglichkeiten eröffnet hat. Religion

 Thomas Klie, Zeichen und Spiel: Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pasto-
raltheologie (Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 2003).

https://doi.org/10.1515/9783110762853-001
2 Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag

wird als „Schauplatz“² wahrgenommen und auf den Bühnen von Bildung und
Liturgie in ihren Inszenierungs- und Darstellungsmodi verfolgt. Zusammen mit
anderen hat Thomas Klie in diesem Sinne die Entwicklung einer performativ
ausgerichteten Religionspädagogik im kritischen Diskurs vorangetrieben, die die
Zeichenprozesse bzw. die besonderen Modi religiöser Kommunikationsformen in
ihrem aktiven Gebrauch fokussiert und das Verhältnis von Inhalt und Form, von
Gehalt und Gestalt stets mit reflektiert. Religion soll in ihren lebensweltlichen
Praxisdimensionen gezeigt und dargestellt werden, um sie wahrnehmungsori-
entiert und differenziert reflexiv ins Gespräch bringen zu können.³
Als zweites signifikantes Feld performanzorientierter praktischer Theologie
hat Thomas Klie gemeinsam mit Kristian Fechtner „riskante Liturgien“⁴ in den
Blick genommen, die im Schnittfeld von verschiedenen Akteuren und Institutio-
nen bei außergewöhnlichen Ereignissen öffentliche Kontingenzbewältigungsakte
wagen. Gerade die Liturgie erscheint dabei als der Spielraum für religiöse Zeichen,
Gesten, Sprache, Musik und Dinge, die die Kommunikation des Evangeliums
gestalten und zur Aufführung bringen. Dass sich im rituellen Zusammenspiel der
Zeichensprachen eine natürliche Nähe zum Theater ergibt, ist in der Liturgie-
wissenschaft nicht per se etwas Neues. Innovativ ist jedoch die über diesen Begriff
der Performanz forcierte Durchlässigkeit der Disziplinen für einander und der
dadurch geschärfte Blick in der Analyse dessen, was in der öffentlichen Darstel-
lung von Religion der Fall ist.
Riskante Liturgien werden in der Regel bei außergewöhnlichen Trauerfällen
oder Katastrophen von nationalem Ausmaß eingefordert. Von daher ist es nicht
verwunderlich, dass der Forschungsschwerpunkt von Thomas Klie auf der Be-
stattungskultur lag, die er gegenwartskulturell durchbuchstabiert und in den
verschiedensten Deutungshorizonten entfaltet hat.⁵ Artefakte spielen in der Be-

 Thomas Klie und Silke Leonhard (Hg.), Schauplatz Religion: Grundzüge einer performativen
Religionspädagogik (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2003).
 Vgl. z. B. Thomas Klie und Silke Leonhard (Hg.), Performative Religionsdidaktik: Religionsäs-
thetik – Lernorte – Unterrichtspraxis (Stuttgart: Kohlhammer, 2008); Bernhard Dressler und
Thomas Klie, „Strittige Performanz: Zur Diskussion um den performativen Religionsunterricht“,
Pastoral-Theologie 96 (6) (2007); Bärbel Husmann und Thoms Klie, Gestalteter Glaube: Liturgi-
sches Lernen in Schule und Gemeinde (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2005); Bernhard
Dressler, Thomas Klie und Martina Kumlehn, Unterrichtsdramaturgien: Fallstudien zur Performanz
religiöser Bildung (Stuttgart: Kohlhammer, 2012).
 Kristian Fechtner und Thomas Klie (Hg.), Riskante Liturgien: Gottesdienste in der gesellschaft-
lichen Öffentlichkeit (Stuttgart: Kohlhammer, 2011).
 Thomas Klie (Hg.), Performanzen des Todes: Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrneh-
mung (Stuttgart: Kohlhammer, 2008); Thomas Klie, Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas
Schlag (Hg.), Praktische Theologie der Bestattung (Berlin/München/Boston: de Gruyter, 2015),
Einleitung 3

stattungs- und Erinnerungskultur eine zentrale Rolle.Von ihnen führt der Weg zur
Beschäftigung mit der materiellen Kultur, die bei Thomas Klie den bisherigen
Schlusspunkt seines theoretischen Interesses und als Anregung zum Weiterden-
ken den Ausgangspunkt dieser Festschrift darstellt.
Der material turn meint die Zuwendung zu den Dingen, zum Stoff oder dem
Material. Nachdem er im englischen Sprachraum schon länger diskutiert wird,⁶
findet er in den letzten Jahren auch im deutschen Sprachraum vermehrt Auf-
merksamkeit der Forschenden.⁷ Dabei hat die praktisch-theologische Beschäfti-
gung mit Materialität jedoch keine lange Geschichte.⁸ Es gehört gleichsam zur
Natur der Sache, dass sich bei Dingen denkbar viele Verzweigungen und Ver-
bindungen in den Diskurslandschaften finden lassen. Der Religionsfokus lässt
gewisse Fragen zurücktreten, aber generiert neue. Wie bekommen Dinge eine
religiöse Funktion? Wie verlieren Dinge ihre religiöse Dignität? Torsten Cress
spricht davon, dass Dinge Reliquien (Sakralisierung) oder Museumsstücke (Säku-
larisierung) werden können.⁹ Eine Zusammenfassung zur Themenstellung im
Schnittfeld von materieller Kulturforschung und Praktischer Theologie bietet
Sonja Beckmayer. Sie nennt als besonderes Potenzial für die Praktische Theolo-

Thomas Klie und Ilona Nord (Hg.), Tod und Trauer im Netz: Mediale Kommunikation in der Be-
stattungskultur (Stuttgart: Kohlhammer, 2016); Thomas Klie und Sieglinde Sparre (Hg.), Erinne-
rungslandschaften: Friedhöfe als kulturelles Gedächtnis (Stuttgart: Kohlhammer, 2017); Thomas
Klie und Jakob Kühn (Hg.), Bestattung als Dienstleistung: Ökonomie des Abschieds (Stuttgart:
Kohlhammer, 2019).
 David Morgan, Religion and Material Culture: The Matter of Belief (London: Taylor & Francis
Ltd., 2009); Dick Houtman und Birgit Meyer (Hg.), Things: Religion and the Question of Materiality
(New York: Fordham University Press, 2012).
 Karl-Heinz Kohl, Die Macht der Dinge: Geschichte und Theorie sakraler Objekte (München: C.H.
Beck, 2003); Gisela Ecker, Claudia Breger und Susanne Scholz (Hg.), Dinge: Medien der Aneignung,
Grenzen der Verfügung (Königstein im Taunus: Ulrike Helmer Verlag, 2002); Günter Figal, Er-
scheinungsdinge: Ästhetik als Phänomenologie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2010); Hans Peter Hahn,
Materielle Kultur: Eine Einführung (Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 2007); Karl Braun, Claus-Marco
Dieterich und Angela Treiber, Materialisierung von Kultur (Würzburg: Königshausen & Neumann,
2015); Herbert Kalthoff, Materialität: Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften
(Paderborn: Brill/Fink, 2016); Hans-Peter Hahn, Dinge als Herausforderung: Kontexte, Umgangs-
weisen und Umwertungen von Objekten (Bielefeld: transcript Verlag, 2018).
 Eine der ersten praktisch-theologischen Arbeiten, die den material turn in den Kulturwissen-
schaften wahrgenommen hat: Inken Mädler, Transfigurationen: Materielle Kultur in praktisch-
theologischer Perspektive (Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 2006).
 Thorsten Cress, „Religiöse Dinge“, in Handbuch materielle Kultur: Bedeutungen, Konzepte,
Disziplinen, hg.v. Stefania Samida, Manfred Eggert und Hans Peter Hahn (Stuttgart: J.B. Metzler,
2014), 241– 244.
4 Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag

gie, dass dem Fachdenken neue Impulse gegeben werden, indem empirische
Zugänge inhaltlich und methodisch erweitert werden.¹⁰
Dabei ist die Grundlage des Materiellen selbst zu problematisieren. Denn nicht
alles, was der Fall ist, ist „Ding“, wenn auch alles zum Gegenstand erklärt werden
kann. Und nicht alles, was stofflich greifbar ist, ist „Zeug“, wiewohl auch bloßes
„Zeug“ bedeutsam werden kann. Religiöse Praxis hat mit alldem zu tun, auch mit
der Frage, wie Dinge sich in Symbole verwandeln. Denn Dinge, die religiöse Ver-
wendung finden, werden nicht nur gebraucht, sondern auch emotional besetzt und
gegebenenfalls genossen. Im kürzlich erschienenen und von Ursula Roth und Anne
Gilly herausgegebenen Band „Die religiöse Positionierung der Dinge“, in dem auch
der Überblick von Sonja Beckmayer zu finden ist, wird diese Verwendung als Po-
sitionierung spezifiziert.¹¹ Der material turn wird einerseits in den spatial turn hin-
eingeschoben und andererseits rückt mit dem Hinweis auf die Bewegung und
Stellung der Dinge und das Bewegt- und Hingestelltwerden durch die Dinge im
Raum auch der performative turn wieder in das Blickfeld. Was ursprünglich in der
Phänomenologie diskutiert, in der Theaterwissenschaft aufgegriffen und in Ritu-
altheorien übernommen wurde, kann ebenso mit resonanztheoretischen Überle-
gungen verknüpft, exegetisch validiert oder sakramentstheologisch verifiziert
werden, um die Positionierung der Dinge näher zu erfassen: das Stück Brot auf dem
Altar, den Weihnachtsschmuck im Kirchenraum, die Tücher auf dem Kopf, die
Engel im Rucksack oder die Kreuze am Straßenrand.
Wer sich mit vermeintlich einfachen Dingen beschäftigt, sieht sich mit dem
Paradox und der Crux phänomenologischer Ansätze konfrontiert. Die Beschrei-
bung des Einfachen und Alltäglichen bringt einen großen Theorieaufwand mit
sich. Ding, Sache, Zeug und Artefakt sind nicht dasselbe. Begriffsklärungen sind
hilfreich. Hans Peter Hahn – er nimmt an dieser Stelle Bezug auf Heidegger –
bringt das Paradox treffend auf den Punkt: „Ihre spezifische Bedeutung erhalten
die geringen Dinge, gerade weil es unmöglich ist, ihnen eine stabile Position in
der gesellschaftlichen oder kulturellen Ordnung zu geben. Es sind beiläufige
Dinge, die in vielen Situationen ohne eine explizite Rollenzuweisung auskom-
men, entweder, weil ihr Nutzen selbstverständlich erscheint, oder aber, weil ihnen
kein spezifischer Wert zuzukommen scheint.“¹²

 Sonja Beckmayer, „Materielle Kulturforschung und Praktische Theologie“, in Die religiöse


Positionierung der Dinge: Zur Materialität und Performativität religiöser Praxis, hg.v. Ursula Roth
und Anne Gilly (Stuttgart: Kohlhammer, 2021), 37– 46, 45 f.
 U. Roth und A. Gilly (Hg.), Die religiöse Positionierung der Dinge.
 Hans Peter Hahn, „Materialität zwischen Alltag und Religion: Lebensweltliche Verwandlun-
gen der geringen Dinge“, in Die religiöse Positionierung der Dinge, hg.v. U. Roth und A. Gilly,
13 – 26, 24.
Einleitung 5

Der material turn übt darüber hinaus ein Nachdenken, das mit der Semiotik,
von Peirce her gesprochen, auf den Widerstand der Erstheit stößt. Was kommu-
nizieren Textilien in der Liturgie?¹³ Welche Bedeutung hat die Verwandlung der
Asche eines kremierten Angehörigen in einen Diamanten?¹⁴ Wie lassen sie sich
dem Spiel als einem regelgeleiteten Handeln auf Zeit zuordnen? Die Funktion der
Dinge in der religiösen Kommunikation ist freilich nicht darauf beschränkt, nur
als Gegenstände für Handlungen zu fungieren. Die Dinge selbst „spielen“ eine
Rolle. Artefakte werden in Szene gesetzt und bestimmten Rauminszenierungen
und Atmosphären zugeordnet. Sie sind Teil liturgischer, homiletischer, seelsor-
gerlicher und bildender Prozesse und Dramaturgien. Dinge stehen für etwas,
werden zum Sprechen gebracht und initiieren Deutungsprozesse. Zur Erstheit der
Zeichen kommen nach Peirce Zweitheit und Drittheit, die die Zeichen in komplexe
unabgeschlossene Semiosen und Interpretantenbildungen einbinden. Dinge
werden in symbolische Kommunikation integriert. So führt die Performanz der
Dinge über den liturgischen Kontext hinaus auch in weitere Räume religionskul-
tureller Kommunikation und Hermeneutik hinein. Was sich heute in heterogenen
symbolischen Ordnungen tut, ist in seinen hybriden Ausformungen hoch inter-
essant, anregend, wenn auch schwierig zu erfassen.¹⁵ Woran erkennt man eine
religiöse Zeichenverwendung? Auf welche Regeln konzentriert sich das Spiel der
Zeichen und welchen Mustern folgen die Zeichen des Spiels in hybriden Religi-
onskulturen?¹⁶
Die Spur der Dinge verspricht denen, die hybride Zeichenprozesse erforschen,
auf etwas Handfestes und Widerständiges zu stoßen. Stoffliches ist härter als das
fluide Ritual und verlässlicher als das flüchtige Wort. Es ist sicher kein Zufall, dass
Dinge in der Erinnerungskultur der Kasualien eine wichtige Rolle spielen.¹⁷ Sie
haben eine Oberfläche, sind sichtbar und greifbar. Und wenn sich dem Subjekt in
der Pluralisierung religiösen Zeichengebrauchs eine ganze Reihe von neuen
Deutungsspielen eröffnet, findet es hier in der Spiegelung der Oberflächen einen
Halt. Der material turn befördert so auch die komplexen Zusammenhänge erin-

 Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.), FeinStoff: Anmutungen und Logiken religiöser Textilien
(Stuttgart: Kohlhammer, 2021).
 Thorsten Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler, Der Glanz des Lebens: Aschediamant und
Erinnerungskörper (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2019).
 Antje Mickan, Thomas Klie und Peter A. Berger (Hg.), Räume zwischen Kunst und Religion:
Sprechende Formen und religionshybride Praxis (Bielefeld: transcript, 2019).
 Peter A. Berger, Klaus Hock und Thomas Klie (Hg.), Religionshybride: Religion in posttradi-
tionalen Gesellschaften (Wiesbaden: Springer VS, 2013).
 Kristian Fechtner und Thomas Klie (Hg.), Erinnerungskasualien/im Auftrag der Liturgischen
Konferenz (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2019).
6 Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag

nerungskultureller Reflexion. Dass diese Sondierungsprozesse dabei riskant


bleiben, hängt mit der Prozesshaftigkeit ihrer wechselseitigen Erschließungsdy-
namiken selbst und deren immer wieder neu zu sondierender Gegenwartsrele-
vanz und -resonanz zusammen. Dies gilt eben nicht nur für liturgische Zusam-
menhänge, sondern auch für die anderen kirchlichen Handlungsfelder und deren
praktisch-theologische Reflexion.
Vor dem Hintergrund dieser komplexen Beschreibungs- und Deutungsauf-
gaben haben wir Weggefährtinnen und -gefährten von Thomas Klie darum ge-
beten, selbst „ein Ding“ ihrer disziplinären Wahl zum Sprechen zu bringen und so
im Sinn und Modus eines eigenen möglicherweise riskanten und performativen
akademischen Gedankenwegs etwas zu wagen.
Aus den je individuellen Präferenzen und vielleicht auch Lieblingsdingen ist
ein buntes und vielfältiges Bild unterschiedlicher Materialien und Materialitäten
entstanden, das dennoch einen verbindenden religionshermeneutischen Ge-
samthorizont erkennbar werden lässt. Insofern kommen in der Gesamtschau
dieser höchst unterschiedlich gelagerten Dinge und deren Erschließung Vielfalt
und Gemeinsamkeiten miteinander verwoben vor Augen und ins produktive Spiel
untereinander.
Im Sinn dieser Erkundungsgänge und Erschließungen in der Vielfalt unter-
schiedlicher Perspektiven nähert sich Andreas Kubik aus religionshermeneuti-
scher Sicht der Sorgfalt als religionsaffiner Haltung zu den Dingen und Klaus Hock
widmet sich aus religionswissenschaftlicher Sicht dem Kosmos Tintenfass als
mehrfach konnotiertem Ganzem.
Von neutestamentlicher Seite her geht Eckart Reinmuth sozusagen in die
Gegenstände hinein und führt in Orientierung am 1. Korintherbrief seine Über-
legungen zu Becher, Kreuz und Brot aus.
Im Anschluss daran werden „klassische“ Dinge, die jeweils auf einem
Handlungsfeld kirchlicher Religionspraxis von maßgeblicher Bedeutung sind,
sowohl praktisch-theologisch disziplinär als auch im Rekurs auf weiterreichende
Verstehenshorizonte beleuchtet. Dies betrifft Silke Leonhards Überlegungen zur
Performanz und Resonanz von Glocken und Glockenklang, Ralph Kunz’ liturgie-
und ritualtheoretisches Plädoyer für das Salböl als Sakrament der Berührung,
Beleuchtung der Kerzen in kirchlichen und anderen Verwendungszusammen-
hängen durch Paula Stähler, die homiletische Annäherung Michael Meyer-Blancks
an die Kanzel als locus principalis evangelischer Liturgie und evangelischen
Kirchenbaus, Jan Hermelinks Blick auf die Materialität kirchlicher Leitungspraxis
anhand des Losungsbüchleins, die Reflexion der Kasualrede mit Bezug auf die
Dinge durch Jakob Kühn sowie Kristian Fechtners pastoral- und kasualtheoretisch
relevante Erkundungen zu den Taschen-, Wand- und Adventskalendern.
Einleitung 7

Angesichts der umfassenden Arbeiten Thomas Klies zu den Funeralia


schließen sich hieran praktisch-theologische Reflexionen zum Umgang mit den
„letzten“ Dingen an. Ulrike Wagner-Rau bearbeitet am Eindruck des Abdrucks im
Sitzkissen die Frage nach der Materialität von Absenz und die damit verbundene
Bedeutung im Trauerprozess und Antje Mickan widmet sich in raumtheoretischer
Hinsicht dem Stein in unterschiedlicher Dinggestalt als funeralem Kommunika-
tions- und Erinnerungsmedium. Wiederum als Brückenschlag anzusehen ist
Thorsten Benkels soziologische Abhandlung zum Dirigierstab als Ausdruck stiller
Klänge, was zugleich den wiederum funeraltheoretischen Rekurs auf den ge-
pressten Diamanten am Ende überraschend einschließen kann.
Schließlich erfolgen in einer letzten Feldbegehung religionshermeneutische
Erkundungen von alltagskulturellen Gegenständen gegenwärtiger Lebenswelt
und Kultur. Bernhard Dressler schreitet anhand eines Paares von Bergschuhen in
Gedanken das Verhältnis von Bergsteigen und Religion ab, Petra Schulz nähert
sich kunstvoll dem imaginären Medium der Schieferdachplatten an, bei Matthias
Marks gehen die religionspsychologischen Überlegungen zu den Tattoos wort-
wörtlich unter die Haut, während Martina Kumlehn in religionspädagogischer
Perspektive reflektiert, was es heißt, unter und an Masken zu lernen.
Wie nah und eng die digitalen Welten und Materialien bei diesen alltags-
kulturellen Dingen liegen, zeigen Marcell Saß in einer thematischen praktisch-
theologischen Spurensuche und Thomas Schlag anhand des Ober- und Unter-
flächendings Smartphone. Eine in sich offene Schlussbetrachtung zum Verhältnis
von Theorie und Praxis legt Frank Uhlhorn vor. Mit seinen konstruktivistischen
Betrachtungen zum berühmten Kamel, das in die Differenz zwischen Selbst- und
Fremdreferenz galoppiert, lässt sich – auch im Sinne Thomas Klies – trefflich
spielen.

Wir danken den Autorinnen und Autoren dieser Festschrift herzlich dafür, dass sie
sich vor dem Hintergrund des Œuvres von Thomas Klie auf dieses Wagnis ein-
gelassen haben. Auf die Folgewirkungen fachlicher Anknüpfungen an die reich-
haltigen Anregungen des von ihm materialisierten Deutungshorizontes sowie auf
die weitere, dadurch hoffentlich vielfältig inspirierte Arbeit an den Begriffen und
Dingen sind wir gespannt.

Wir danken außerdem dem Verlag de Gruyter, dass diese Festschrift in der von
Thomas Klie wesentlich mit verantworteten Reihe PThW erscheinen kann, ins-
besondere Frau Katrin Mittmann für die – wie immer – sehr freundliche und
entgegenkommende Betreuung des Bandes sowie Frau Sophie Marquardt aus
Rostock für die umsichtige und sehr sorgfältige Erstellung des Manuskriptes.
Andreas Kubik
Sorgfalt
Annäherungen an eine religionsaffine Haltung zu den Dingen

Es gab Zeiten, in denen sich der Protestantismus dezidiert als „Religion der In-
nerlichkeit“ verstand.¹ Demgegenüber könnte man Thomas Klie, wenn der Begriff
nicht anders und zumeist pejorativ belegt wäre, durchaus als einen Theologen der
Äußerlichkeit bezeichnen, hat er sich doch wie kaum ein zweiter in der
deutschsprachigen evangelischen Theologie um die Beachtung der Außenseite
der Religion verdient gemacht.² Damit war er einmal mehr seiner Zeit voraus.
Inzwischen ist der material turn auch für den Bereich der Religion ausgerufen.³ Ob
es zwar nötig ist, jedes Mal, wenn sich ein vernachlässigtes Thema zurückmeldet,
gleich einen turn auszurufen, kann sicherlich bezweifelt werden. Ebenfalls würde
sich der Protestantismus wohl keinen Gefallen tun, wollte er die Valenzen der
Innerlichkeit in den Abfalleimer theologischer Irrtümer entsorgen. Eine gewisse
Materialitätsvergessenheit aber mag man ihm gleichwohl attestieren. Beides zu-
sammen spricht vielleicht dafür, Phänomene gleichsam im Zwischenraum zwi-
schen Innerlichkeit und Äußerlichkeit bzw. die Schwelle zwischen beiden ver-
stärkt in den Blick zu nehmen.
Dazu eine persönliche Beobachtung. Im erweiterten Familienkreis kam ich
häufiger mit Menschen in Kontakt, die hingebungsvoll das Grab Nahestehender
pflegen. Zur Grabpflege habe ich persönlich – siehe „Religion der Innerlichkeit“ –
kein Verhältnis. In den vergangenen Jahren bin ich aber sehr oft quasi als ‚teil-
nehmender Beobachter‘ dabei gewesen. Für die Art, wie jene Personen jeweils die
Tätigkeit ausüben, drängte sich mir der Terminus „Sorgfalt“ gleichsam von selbst
auf. Ich kann aus eigener Anschauung berichten, dass die immense Sorgfalt,
welche der Grabpflege gewidmet wird, keineswegs mit klassischen Vollzügen

 Wer den Ausdruck zuerst geprägt hat, weiß ich nicht. Er findet sich zum Beispiel bei Heinrich
Weinel zur Charakterisierung des Paulus. Eine Internet-Suche nach diesem Begriff ergibt indes
pluralisierende Ergebnisse: So können auf der Welt nicht nur der moderne Protestantismus,
sondern auch die katholische Kirche, die Schia oder der Buddhismus als „Religion der Inner-
lichkeit“ bezeichnet werden.
 Zuletzt im Hinblick auf religiöse Kleidung, vgl. Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.), FeinStoff:
Anmutungen und Logiken religiöser Textilien (Stuttgart: Kohlhammer, 2021).
 Vgl. z. B. Peter Bräunlein, „Thinking Religion Through Things: Reflections on the Material Turn
in the Scientific Study of Religion/s“, Method and Theory in the Study of Religion 28 (2016): 365 –
399; Uta Karstein und Thomas Schmidt-Lux (Hg.), Architekturen und Artefakte: Zur Materialität des
Religiösen (Wiesbaden: Springer VS, 2017), 3 – 22.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-002
10 Andreas Kubik

religiöser Innerlichkeit einhergehen muss. Während ich, zumindest anfänglich,


immer noch geneigt war, eine Weile still am frisch gesäuberten Grabstein zu
stehen und über die Vergänglichkeit nachzusinnen, waren die Grabpflegenden
(deren Blutsverwandte doch dort im Grab liegen) längst dabei, sich über den
anstehenden Friseurtermin zu verständigen oder das Abendessen zu planen.
Könnte es also sein, dass die Religiosität sich hier nicht in begleitenden Be-
wusstseinsakten der Andacht – oder anderen Akten der Innerlichkeit – zeigt,
sondern in der Sorgfalt der Grabpflege selbst? Und wie wäre dies näher zu fassen?
Bei der näheren Recherche zeigt sich schnell, dass es zum Phänomen der
Sorgfalt – zumal in religionsbezogener Hinsicht – eigentlich keine theologische,
philosophische oder kulturwissenschaftliche Literatur gibt. Infolgedessen kön-
nen die folgenden Ausführungen nicht mehr als erste Annäherungen an die
Thematik sein. Sie zielen vor allem darauf ab, die verstreuten wenigen Krumen
zum Thema zu versammeln und in einem ersten Anlauf etwas zu ordnen und zu
systematisieren. Es kommen dabei sprachgeschichtliche, bibelkundliche, juristi-
sche und lebensweisheitliche Annäherungen zur Sprache, die schließlich mit dem
Begriff der „Religionsaffinität“ explizit an die theologische Sphäre anschlussfähig
gemacht werden sollen.

1 Die Entdeckung: eine Seitenbemerkung von


Novalis
Die Idee, die „Sorgfalt“ im Umfeld der Religion zu nennen und zu verorten,
stammt meines Wissens von dem romantischen Philosophen und Dichter Novalis.
In seiner berühmt-berüchtigten Rede „Die Christenheit oder Europa“ setzt der
Protestant Novalis bekanntlich mit einem Lobpreis auf ein romantisiertes Mit-
telalter ein. Dessen rhetorische Funktion besteht darin, dem Protestantismus,
sofern er sich als lebendige Religionskultur selbst säkularisiert und den „Sinn des
Unsichtbaren“⁴ verkümmern lässt, mit dem abgeschnittenen Anderen seiner
selbst zu konfrontieren, um damit seine spirituelle Renaissance einzuläuten oder
gar einem transkonfessionellen Zukunftschristentum den Weg zu bereiten.⁵ Hören
wir ein paar Takte Original-Sound:

 Novalis, „Die Christenheit oder Europa“, in Schriften: Die Werke Friedrich von Hardenbergs,
Bd. 3 Das philosophische Werk, hg.v. Richard Samuel (Stuttgart: Kohlhammer, 21968), 509.
 Zur Auslegung der Europa-Rede vgl. Andreas Kubik, „Restauration oder Liberalisierung?
Christentumstheoretische Aspekte in Novalis‘ ‚Die Christenheit oder Europa‘“, in Constructions of
German Romanticism, hg.v. Matthias Pirholt (Uppsala: Univ., 2011), 45 – 77; Miriam Rose, „Mit der
Sorgfalt 11

Mit welcher Heiterkeit verließ man die schönen Versammlungen in den geheimnißvollen
Kirchen, die mit ermunternden Bildern geschmückt, mit süßen Düften erfüllt, und von
heiliger erhebender Musik belebt waren. In ihnen wurden die geweihten Reste ehemaliger
gottesfürchtiger Menschen dankbar, in köstlichen Behältnissen aufbewahrt. – Und an ihnen
offenbahrte sich die göttliche Güte und Allmacht, die mächtige Wohlthätigkeit dieser
glücklichen Frommen, durch herrliche Wunder und Zeichen. […] Man sammelte mit inniger
Sorgfalt überall was diesen geliebten Seelen angehört hatte, und jeder pries sich glücklich
der eine so tröstliche Reliquie erhalten oder nur berühren konnte. Hin und wieder schien
sich die himmlische Gnade vorzüglich auf ein seltsames Bild, oder einen Grabhügel nie-
dergelassen zu haben. – Dorthin strömten aus allen Gegenden Menschen mit schönen Gaben
und brachten himmlische Gegengeschenke: Frieden der Seele und Gesundheit des Leibes,
zurück.⁶ (Hvg. A.K.)

Dabei war Novalis, der intensive Mittelalter-Studien betrieben hatte, durchaus


bewusst, dass seine Schilderung so gut wie nichts mit dem realen damaligen
Papsttum zu tun hatte. Mit größtem Bedacht sorgt er gerade deswegen dafür, dass
vor allem die Dinge, die einen vermeintlich aufgeklärten Protestantismus zum
Entsetzen treiben – wie der Reliquienkult⁷ –, hier vorzüglich zur Sprache kom-
men. In Novalis’ Behandlung des Stoffs gehen Schleiermachersche Religions-
theorie ebenso ein wie Novalis’ eigenes romantisches Poetisierungsprogramm,
das in der ästhetischen Verfremdung des vermeintlich Bekannten besteht, wel-
ches eben dadurch auf einer tieferen Ebene nur umso vertrauter erscheint.⁸ Diese
tiefere Ebene besteht hier darin, bestimmte Einstellungen oder Haltungen als
religiös oder zumindest als die Religion begleitend wiederzuerkennen: so etwa
die Heiterkeit, die Dankbarkeit, und eben auch die Sorgfalt, die hier in echter
Romantisierung als „innige“ Sorgfalt firmiert. Der religiöse Akt besteht hier in
einer Gemengelage, in die erstens die spezifische Dignität der Gegenstände,
zweitens der Akt des Sammelns⁹ und drittens die Haltung der Sorgfalt eingehen.
Auf letztere sei im Folgenden das Augenmerk gelegt, da sie diejenige Größe ist, die
sich in dieser Reihung wohl am wenigsten von selbst versteht.

Reformation war’s um das Christentum getan: Novalis’ Utopie der christlichen Religion“, in Luther
denken: Die Reformation im Werk Jenaer Gelehrter, hg.v. Christopher Spehr (Leipzig: Evangelische
Verlagsanstalt, 2019), 133 – 154.
 Novalis, Christenheit, a.a.O., 507 f.
 Als einer der wenigen hat Thomas Klie den Begriff der „Reliquie“ auch für den Protestantismus
reklamiert; vgl. Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.), Die Dinge, die bleiben: Reliquien im interdis-
ziplinären Diskurs (Bielefeld: Transcript, 2020).
 Vgl. zur Poetisierung Andreas Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis: Eine ideengeschichtliche
Studie in ästhetischer und theologischer Absicht (Tübingen: Mohr Siebeck, 2006), 262– 267.
 Speziell zum Aspekt des „Sammelns“ vgl. Inken Mädler, Transfigurationen: Materielle Kultur in
praktisch-theologischer Perspektive (Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus, 2006), 235 – 257.
12 Andreas Kubik

2 Annäherungen

2.1 Sprachgeschichtlich-germanistische Annäherung

Diejenige Wissenschaft, welche sich am ausführlichsten mit dem Terminus be-


fasst, ist wohl die Sprachgeschichte. Die Verschiebungen in den Bedeutungsge-
halten eines Worts machen Konnotationen explizit, die in der alltäglichen
Sprachverwendung eher latent bleiben. In unserem Fall geht es bei den folgenden
Ausführungen nicht nur darum, Wortbedeutungen einzusammeln, sondern auch
darum, einer möglichen Hinneigung des mit dem Wort „Sorgfalt“ gemeinten
Sachverhalts zur Religion auf die Spur zu kommen. Als Quelle dienen uns dabei
vor allem das Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm, daneben auch das
etwas ältere von Johann Christoph Adelung.¹⁰ Dieser beginnt mit folgender
Worterläuterung: „Die Sorgfalt, plur. car.¹¹ die ernstliche Richtung des Gemüthes
auf einen Gegenstand und dessen sämmtliche einzelne Theile, die ernstliche
Richtung des Gemüthes auf die mit uns verbundenen Dinge und auf unser ge-
höriges Verhalten gegen dieselben, und in engerer Bedeutung, die Fertigkeit
dieses Betragens, die Sorgfältigkeit.“¹²
Um 1800 war bereits eine Doppelperspektive etabliert, welche sich – wie wir
sehen werden – in vielen Erörterungskontexten durchhält. „Sorgfalt“ kann einmal
einen inneren Zustand, eine Gemütsrichtung bezeichnen, und zum anderen wird
das Wort für ein spezifisches „Verhalten“ und eine „Fertigkeit“ gebraucht, und
zwar näher hin „auf die mit uns verbundenen Dinge“. Das erste Element verdankt
sich möglicherweise der Herkunft des Wortes, in der der Aspekt der Sorge klar
dominiert. Das Adjektiv scheint älter zu sein als das Substantiv und sich dann
zunächst als „Sorgfältigkeit“ substantiviert zu haben, bis es sich dann zur
„Sorgfalt“ verkürzt und dabei nach und nach seine Bedeutung wandelt.Von Haus
aus ist „sorgfältig sein“ ungefähr synonym zu „sich Sorgen machen“, „Sorgen
haben“. So konnte Martin Luther z. B. die berühmte Ermahnung in Phil 4,6 „Sorget
nicht!“ auch als „Seyt nicht sorgfeltig“¹³ übersetzen. Dieser Aspekt des sorgen-
vollen Gemüts tritt im Verlauf der Sprachentwicklung zurück, und an seine Stelle

 Ich folge hierbei in beiden Fällen der digitalisierten Fassung auf https://woerterbuchnetz.de,
Lesedatum: 30.12. 2021; vom Grimmschen Wörterbuch Bd. 16, 1791– 1799; vom Adelungschen
Bd. 4, 151– 153.
 Diese Abkürzung bedeutet wohl: „pluralis caret“ = der Plural fehlt; einen Plural gibt es nicht.
 Adelung, a.a.O.
 Zit. nach Grimm, a.a.O.
Sorgfalt 13

tritt die personale Eigenschaft „genauigkeit im besorgen, handeln [sic!]“.¹⁴ Der


ursprüngliche Grundton der Sorge bleibt insofern erhalten, als zum einen der
Gegenstand der Sorgfalt kaum anders denn als ‚der Sorge wert‘ verstanden wer-
den kann (es wäre nicht ungrammatisch zu sagen, jemand würde mit Sorgfalt
seine Kleidungsflusen sortieren, aber es würde wohl als unsinnig empfunden
werden),¹⁵ und zum zweiten der Aspekt der ‚Gemütsrichtung‘ auch weiterhin eine
Rolle spielt oder zumindest spielen kann: Wie in der ‚Sorge‘ kann auch in der
‚Sorgfalt‘ das Gemüt ganz in Beschlag genommen werden. Der Objektbezug der
„Dinge“ muss dabei nicht auf materielle Gegenstände im engeren Sinne be-
schränkt sein: Man kann auch abstraktere Dinge wie Unterrichtsvorbereitungen
mit Sorgfalt erledigen.
Ein Aspekt der Adelungschen Bestimmung blieb bislang noch unerwähnt,
nämlich dass sich die Sorgfalt auf einen Gegenstand „und dessen sämmtliche
einzelne Theile“ bezieht. Sofern sich eine Handlung oder ein Verhalten in mehrere
Einzelschritte zerlegen lässt, teilt sich die Sorgfalt mit jedem dieser einzelnen
Schritte mit. Die Sorgfalt im Großen zeigt sich gerade an der nötigen Sorgfalt, die
auch bei den kleinen, für sich vielleicht unbedeutend erscheinenden Schritten
geübt wird. Sprachgeschichtlich scheint dieser Aspekt in der sehr seltenen Suf-
fixbildung auf „-falt“ enthalten zu sein.¹⁶ Wer sorgfältig ist, ist „bis ins einzelne
achtsam besorgt“.¹⁷

2.2 Biblische Annäherung

Es war Schleiermachers bahnbrechende Entdeckung, dass wir das, was wir „Re-
ligion“ im Allgemeinen zu nennen pflegen, stets nur an einzelnen, konkreten
Religionen ablesen können. Die Bibel wird im Folgenden als Grundtext der
christlichen Religion in Anspruch genommen. Die dabei erzielten Ergebnisse sind
freilich so gemeint, dass sie über den Bereich des Christentums hinausragen
mögen, aber es soll dennoch der Entdeckungszusammenhang nicht unterschla-
gen sein.

 Grimm, a.a.O. Die Brüder Grimm bevorzugten durchgehende Kleinschreibung.


 Eine andere Frage ist, ob auch eindeutig als negativ bewertete Dinge Gegenstände der Sorgfalt
sein können. Eine Internet-Suche gibt etwa für „sorgfältig geplanter Mord“ oder „sorgfältig ge-
planter Diebstahl“ erstaunlich wenige Treffer aus. Im Lichte der hiesigen Überlegungen spricht
auch alles dafür, diese Wortfügungen als schlechten Ausdruck zu werten und die Sorgfalt für
positiv zu wertende Dinge zu reservieren.
 Adelung, a.a.O.
 Grimm, a.a.O.
14 Andreas Kubik

Wir konzentrieren uns hier auf diejenigen Bibelstellen, an denen Wörter


vorkommen, welche in der heutigen Ausgabe der Lutherbibel mit „Sorgfalt“ oder
„sorgfältig“ übersetzt werden. Von dort aus wenden wir uns den originalsprach-
lichen Kontexten zu, um von dort aus ggf. weitere Bedeutungsnuancen festzu-
stellen. Hierbei ist allerdings sogleich festzuhalten, dass – entsprechend der im
vorigen Punkt angesprochenen Bedeutungsverschiebung – bei Luther selbst in
der ersten gesamten Bibelausgabe von 1534 der Terminus „sorgfeltig“ wenn ich
recht sehe, nur einmal, nämlich in Röm 12,8, vorkommt, und zwar als Überset-
zung von εν σπουδή (en spoudē):¹⁸ „Regiert jmand / so sey er sorgfeltig“,¹⁹ wofür
die Lexikologie heute eher die Bedeutung „eifrig“, „fleißig“, „emsig“ vorschlägt.
Σπουδή (spoudē) kann auch „Hast“, „Eile“ und „Geschwindigkeit“ bedeuten, was
als Konnotation hier mit eingehen mag. „Eilfertig“ wäre von daher vielleicht auch
eine denkbare Bedeutungsumschreibung (Luther 2017 übersetzt „mit Eifer“). Alle
anderen Stellen, auf die gleich näher einzugehen ist, übersetzt Luther stets „mit
vleis“ (so auch dort, wo das Adjektiv σπουδαῖος [spoudaios] steht, vgl. z. B. 2. Kor
8,17. 22).²⁰
Hingegen zielen die anderen Begriffe eher auf Verlangsamung. In der Eröff-
nung des Lukas-Evangeliums berichtet der Verfasser, er wolle dem Empfänger
ἀκριβῶς (akribōs; Adv.) alles aufschreiben, was es über Jesus zu berichten gibt.
Das Wortfeld der Akribie findet sich auch sonst im Neuen Testament: Paulus
studierte das väterliche Gesetz mit viel ἀκρῑβεια (akribeia) (Apg 22,3), die frühen
Christinnen und Christen mögen ἀκριβῶς (akribōs) darauf achten, dass sie als
Weise wandeln (vgl. Eph 5,15). Es ist eine spezifische Genauigkeit und Gewis-
senhaftigkeit, vielleicht sogar eine gewisse Strenge (vgl. Apg 26,5) von der hier die
Rede ist, und die sich insbesondere dem Umgang mit den göttlichen Dingen
mitteilt. Aus diesem Wortfeld stammen etwa 15 Belege im NT.
Seltener findet sich ein anderes Wort: Im Gleichnis Jesu fegt die Witwe, die ein
Geldstück verloren hat, ihr Haus und sucht ἐπιμελῶς (epimelōs; Adv.) nach ihm.
Das entsprechende Substantiv der ἐπιμέλεια (epimeleia) wird in der neutesta-
mentlichen Lexikologie mit „Fürsorge“ und „Pflege“ umschrieben, derer Paulus
sich auf seiner letzten Reise erfreuen darf (vgl. Apg 27,3). Es ist ein genaues Sich-
Kümmern ausgedrückt, eine gewisse Beharrlichkeit, welche ihr Ziel pfleglich
verfolgt.

 Die griechischen Wortbedeutungen werden hier wiedergegeben nach Walter Bauer, Grie-
chisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Li-
teratur, hg.v. Barbara Aland und Kurt Aland (Berlin/New York: de Gruyter, 61988).
 Zitiert nach Martin Luther, Biblia, das ist, die gantze Heilige Schrifft Deudsch, hg.v. Stephan
Füssel (Köln: Taschen, 2002) [Original: Wittenberg: 1634].
 Nach den Gebrüdern Grimm ist es so „bei Luther fehlerhaft geschrieben“ (a.a.O.)
Sorgfalt 15

Die zuletzt genannten Lexeme haben jeweils auch alttestamentliche Vorbilder


oder Parallelen. In Sir 16,25²¹ will der Lehrer seinen Schüler εν ἀκρῑβεια (en
akribeia) in der Weisheit unterrichten. Die ἐπιμέλεια (epimeleia) – dort allerdings
eher als vergebliche Liebesmüh – findet sich in Sap 13,13; das zugehörige Adverb
in der LXX-Variante von Esr 6,8: Hier geht es um das akkurate Auszahlen des
verdienten Lohns, den sich die Fürsorge für den Bau des Tempels erwirbt. Das
zugehörige aramäische Adverb ‫‘( אספרנא‬asepharna) wird im Englischen auch mit
„exactly, eagerly“²² wiedergegeben: mit dem Wunsch, es gut und der Bedeutung
des Gegenstandes angemessen zu machen. Dasselbe Adverb wird in LXX auch
noch mit einem anderen griechischen Wort übersetzt, nämlich mit ἑτοίμως (he-
toimōs; vgl. Esr 7,17): Auch hier geht es um Akkuratesse in Geldangelegenheiten,
nämlich beim Einkauf der Opfertiere für den Altar des Tempels. Dieses Adverb
kommt wiederum im paulinischen Schrifttum einige Male vor und scheint dort
eher auf den Aspekt einer besonderen Bereitschaft abzuzielen (vgl. 2Kor 12,14;
1Petr 4,5; daneben noch eine Reihe von unspezifischeren Belegen als Adjektiv):
Die wichtige Aufgabe trifft auf die geeignete bereitwillige Person.
Versucht man eine kleine Zusammenschau, so ist mit der „Sorgfalt“ in der
biblischen Literatur am ehesten die Qualität eines Handelns bezeichnet, das sich
durch eine besondere Genauigkeit und Gründlichkeit auszeichnet und mit einer
gewissen inneren Bereitschaft sowie einem spezifischen Antrieb ausgeübt wird.
Dabei ist davon auszugehen, dass das, was bei dem Tun herauskommt, positive
Auswirkungen hat und für die oder den Einzelnen sowie für die ganze Gemein-
schaft erfreuliche Folgen zeitigen wird. Die spezifisch religiösen Konnotationen
im Wortfeld der „Sorgfalt“ mögen hier einerseits der Art der Literatur geschuldet
sein; andererseits ist es auch nicht belanglos, dass gerade sie als die angemessene
Haltung beschrieben wird, mit den heiligen Angelegenheiten umzugehen.

2.3 Juristische Annäherung

Die einzige Wissenschaft, die – so viel ich sehe – sich außer der Sprachgeschichte
eingehender mit dem Begriff der „Sorgfalt“ befasst hat, ist die Jurisprudenz. Das
Recht kennt das Gebot der „Sorgfaltspflicht“ (im Englischen due diligence) und
bearbeitet die Aufgabe, diese sachbezogen und umfassend auszulegen.²³ Sieht

 Die Verse sind nur im griechischen Sirachbuch überliefert; nach anderer Zählung Vers 23.
 Ludwig Köhler und Walter Baumgartner (Hg.), Lexicon in veteris testamenti libros (Leiden:
Brill, 1958), 1052.
 Auch der Wikipedia-Artikel „Sorgfalt“ ist derzeit nahezu vollständig an der juristischen
Problematik orientiert (online abrufbar unter de.wikipedia.org, Lesedatum:13.12. 2021).
16 Andreas Kubik

man näher hin, so stellt man allerdings fest, dass es in der Regel um eine Erör-
terung der konkreten Sorgfaltspflichten des jeweiligen Rechtsgebietes geht und
eher selten um die Frage, was „Sorgfalt“ an sich selbst zu bedeuten hat. Gleich-
wohl gibt es Ausnahmen.
Juristischer Erörterungskontext ist dabei die Frage nach Fahrlässigkeit, so-
wohl in zivilrechtlicher als auch in strafrechtlicher Hinsicht. Als Grundtext kommt
der § 276 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches in Betracht: „Fahrlässig handelt,
wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt“, wobei „Verkehr“ hier
zunächst den wirtschaftlichen Verkehr meint, sich von dort aus aber auch auf alle
möglichen Arten von rechtlich relevanten Konstellationen übertragen lässt: So ist
es in zahlreichen Berufen schließlich auch juristisch von Belang, ob die Tätigkeit
mit der „erforderlichen Sorgfalt“ durchgeführt wird, ob es sich dabei nun um eine
Herzoperation, den Einbau einer Duschwanne oder die wissenschaftliche Zitation
von Fachliteratur handelt. Bereits dem römischen Recht war diese Dimension
unter dem Stichwort der diligentia bekannt.
Weithin hat sich in der Literatur eine Unterscheidung von „innerer“ und
„äußerer“ Sorgfalt etabliert, welche dem Umstand entspricht, dass eigentlich alle
menschlichen Handlungen hinsichtlich des äußerlich Wahrnehmbaren und
hinsichtlich der zugrundeliegenden psychischen Disposition interpretierbar sind.
Ich folge hier der einschlägigen Untersuchung von Eva-Maria Fabarius:²⁴

Ein menschliches Verhalten, das in der dinglichen Welt beobachtet werden kann, wird als
sachgemäß, als kunstgerecht bewertet – jemand handelt äußerlich sorgfältig. Diese Hand-
lung beruht auf einem geistigen Vorgang – auf Aufmerksamkeit, auf der ‚inneren‘ Sorgfalt.
Verkürzt gesagt wird also unter äußerer Sorgfalt der physische Vorgang eines (juristisch
bewerteten) Verhaltens verstanden, unter innerer Sorgfalt dessen psychische Seite. (2)

Dieser Doppelung entsprechen auch – wie oben gesehen – Tendenzen „im all-
gemeinen Sprachgebrauch“ (3). Doch bereits in dieser Hinsicht sind „die Grenzen
oft unklar“ (4), und es lässt sich vermuten, dass die Unterscheidung nur zwei
Abstraktionshinsichten eines eigentlich untrennbaren Gesamtzusammenhangs
bereitstellt. Die Fragen, welche sich anschließen, bestehen demnach darin, ob
diese Unterscheidung im juristischen Sinne – also für die „Sorgfalt“ als Rechts-
begriff – überhaupt durchführbar ist und wenn ja, ob sie praktisch sinnvoll ist. In
diesem Zusammenhang erörtert Fabarius drei Positionen. Die erste hält die
Trennung für grundsätzlich möglich und operationalisierbar, weil sich Fälle

 Ich folge im Weiteren den Ausführungen von Maria-Elisabeth Fabarius, Innere und äußere
Sorgfalt (Köln: Heymann, 1991). Zitate im Haupttext in diesem Abschnitt stammen aus diesem
Werk.
Sorgfalt 17

denken ließen, in denen lediglich die innere Sorgfalt verletzt sei und gleichwohl
ein „nur äußerlich sachgerechtes Verhalten“ (70) zustande komme. Die zweite
Position hält die Unterscheidung ebenfalls für durchführbar, schränkt sie aber auf
bestimmte Gebiete – speziell den „Bereich des Deliktrechts“ (73), bei dem es vor
allem um Haftungsfragen geht – ein: Man könne zwischen der äußeren Dimen-
sion einer Handlung, wie sie im Idealfall perfekt ausgeführt wird, und der inneren
Dimension, die sich nach dem subjektiven Wissen und Erkenntnisstand richtet,
unterscheiden. Bei letzterem komme es dann darauf an, inwieweit man gehalten
ist, sich selbst die ggf. verbesserte „Erkenntnismöglichkeit [zu] verschaffen“ (74).²⁵
Die dritte Position hält die Unterscheidung insgesamt für undurchführbar, da
„beide Elemente [nicht] unabhängig voneinander Funktionen übernehmen
könnten.“ (74) Es lasse sich nämlich kein Fall der Fahrlässigkeit denken, bei dem
man lediglich ‚innerlich‘ unsorgfältig gewesen sei: Etwa eine Unaufmerksamkeit
komme erst dann in Betracht, wenn damit zugleich eine „Verletzung der äußeren
Sorgfalt“ (75) einhergehe. Fabarius schließt in modifizierter Form an die dritte
Position an. Sie argumentiert, dass die Unterscheidung zwar „in logisch unan-
greifbarer Weise […] außer Zweifel“ (141) steht. Doch leugnet sie die juristische
Praktikabilität der Unterscheidung. Bei näherem Hinsehen sind nach ihrer Ana-
lyse die beiden Elemente „nur scheinbar verschieden, tatsächlich aber identisch.“
(142) Der Schein entsteht dadurch, dass zwar die Maßstäbe, an denen mögliche
Sorgfaltsverletzungen gemessen werden, unterschiedlicher Natur sind und da-
durch scheinbar die Unterscheidung von äußerer und innerer Sorgfalt nahe legen.
Es ist aber jedes Mal ein und dieselbe Sorgfalt, deren Einhaltung in Frage steht.
Dementsprechend etabliert die oben genannte Grundnorm des BGB „die Vor-
stellung eines einheitlichen […] Sorgfaltsbegriffs.“ (141). Dessen theoretische
Differenzierbarkeit in äußere und innere Sorgfalt sollte nicht verschleiern, dass
sie immer noch „gleichsam die verschiedenen Seiten der einheitlichen Medaille
‚Sorgfalt‘ dar[stellen].“ (144).
Wir können von der juristischen Sachdiskussion hier natürlich absehen.
Entscheidend ist für unseren Zusammenhang der Umstand, dass sich so etwas
wie ein innerer Zustand nur dann als „Sorgfalt“ ansprechen lässt, wenn er sich in
einem äußeren Verhalten oder Handeln verkörpert. Umgekehrt sorgt ein regel-
mäßiges, sorgfältiges Verhalten vermutlich auch für einen entsprechenden men-
talen Zustand, der gerade nicht als Begleitzustand aufgefasst werden darf, son-
dern als mentale Dimension der Sorgfalt selbst. Von außen häufig als übertrieben

 Als Beispiel: Ein Automechaniker kann hiernach höchst genau und nach bester Kenntnis
handeln, aber weil er mit der neuesten Elektronik nicht vollkommen vertraut ist, dennoch Fehler
bei der Reparatur machen.
18 Andreas Kubik

erscheinende Prozeduren – die Laborantin prüft jeden Morgen, ob die Proben


unversehrt sind, obwohl es noch nie ein Problem mit ihnen gab; der Sicher-
heitsdienst kontrolliert jeden Tag den Ausweis von Mitarbeiter X, obwohl er allen
Wachleuten persönlich gut bekannt ist – erweisen sich unter diesem Gesichts-
punkt als wichtige Routinisierungen, auf die eben gerade im Falle einer mögli-
chen Ablenkung auch zurückgegriffen werden kann: Die tausendmal geübten
Handgriffe kann auch die Mitarbeiterin des Atomkraftwerks durchführen, die
wegen Sorgen um ihre Tochter heute etwas abgelenkt ist, und gerade die Routine
der sorgfältig vorgenommenen Handgriffe führt dazu, sich auch wieder in einen
entsprechenden Geisteszustand zu versetzen. Theoretisch fassbar wird dieser
Zusammenhang wohl über den Begriff des Körper- oder Leibgedächtnisses,²⁶ der
sich sowohl auf die korporalen bzw. neuronalen Korrelate von personaler Erin-
nerung als auch auf die erinnerungsspeichernde Leistung von (v. a. wiederholten)
Körpererfahrungen beziehen lässt.

2.4 Lebensweisheitliche Annäherung

Bei der Annäherung an dieses Thema sollte auch ein kultureller Bereich ins Auge
gefasst werden, der in der Wissenschaft zwar häufig keine große Rolle spielt, aber
in der Praxis vieler Menschen dafür umso mehr: die Lebensweisheit, die von
weltanschaulichen Anbietern unterschiedlichster Richtungen dargelegt wird.²⁷
Während sich gegenwärtig die lebenspraktische und spirituelle Beratungsli-
teratur vor allem im Begriff der „Achtsamkeit“ zu verstehen scheint, kann – wenn
auch eher am Rande – zugleich auch auf den Begriff der „Sorgfalt“ zurückge-
griffen werden. In eher lose verknüpften Einzelmeditationen lotet etwa der ehe-
malige Betriebswirt und spätere freie Autor Hugh-Friedrich Lorenz die weisheit-
lichen Valenzen des Begriffs der Sorgfalt aus,²⁸ wobei er sich in seiner „Gedanken-

 Vgl. einleitend Claudia Öhlschläger, „Körper“, in Gedächtnis und Erinnerung: Ein interdiszi-
plinäres Handbuch, hg.v. Christian Gudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer (Stuttgart/
Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2010), 241– 245. In den größeren anthropologischen Zusammenhang
werden diese Überlegungen nunmehr eingestellt von Gregor Etzelmüller, Gottes verkörpertes
Ebenbild: Eine theologische Anthropologie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2021).
 Für ein gelungenes crossover aus der theologischen Wissenschaft in diesen Bereich vgl. Peter
Bubmann und Bernhard Sill, Christliche Lebenskunst (Regensburg: Pustet, 2008).
 Vgl. Hugh-Friedrich Lorenz, Sorgfältig leben, sorgfältig lieben! Die Botschaft der Möwe Jona-
than in 21 ausgewählten Stichworten: Für ein neues Denken, Fühlen und Handeln im Wasser-
mannzeitalter (Eisenach: Edition Jonathan, 32016). Zitate im Folgenden aus diesem Buch. – Der
Begriff des „Wassermannzeitalters“ verweist auf einen Unterbereich der Esoterik, das so genannte
Sorgfalt 19

Sammlung“ (8) auf die unterschiedlichsten religiösen und spirituellen Traditio-


nen beruft: Neben der Anthroposophie, Verweisen auf Buddha und die Yogi-
Strömungen sowie auf den Islam finden sich auch einige Bibelzitate und ein di-
rektes Aufrufen von Jesus (vgl. 59). In diesem Bereich wird die viel berufene und
vielfach auch überschätzte patchwork-Religiosität tatsächlich wieder einmal
Realität.²⁹
Interessant ist zum einen die semantische Nachbarschaft, in die der Begriff
gerückt wird. Neben der auch hier unvermeidlichen, aber nur kurz aufgerufenen
„Achtsamkeit“ (11) wird ebenso eine Haltung eines zugewandten „Interesse[s]“
(59) und einer „Zärtlichkeit“ (65) im Umgang mit Menschen und Dingen an-
empfohlen. Ein sorgfältiger Umgang findet in Bewusstheit statt und nicht
„[h]astig, nebenbei“ (53). Selbstverständlich darf auch der Hinweis auf die Be-
deutung der „Stille“ (19) nicht fehlen, die interessanter Weise von dem legitimen
und ebenso sorgfältig zu kuratierenden Bedürfnis nach Rausch und Ekstase in der
Waage gehalten wird (vgl. 22– 24).³⁰ Zum anderen findet sich bei Lorenz eine
originelle Zusammenstellung an möglichen Objekten der Sorgfalt. Sorgfalt ist eine
Haltung, die sich auf der einen Seite bei großen Themen wie dem „Umgang mit
dem Planeten“ oder der „Liebe“ (8) anbietet. Sie kann aber auf der anderen Seite
auch in der unmittelbaren Umgebung ihre segensreiche Wirkung entfalten, wie
etwa beim Aufbau einer lehrreichen eigenen „Bibliothek“ (16), der Gestaltung des
eigenen Wohnraums und der Auswahl der „Möbel“ (44)³¹ und schließlich sogar
bei der Körperpflege (vgl. 48).³² Zum dritten wird der Begriff der Sorgfalt auch auf
den zwischenmenschlichen Bereich angewandt. So empfiehlt der Weise „Sorgfalt
in der Kommunikation“ (11), welche die Haltung ist, die „[e]urer und eurem
Nächsten Gerechtigkeit widerfahren“ (11) lässt. Wer „mit Sorgfalt“ (30) spricht,
erweitert damit auf geradezu „magische“ (30) Weise den Kommunikationsraum
zwischen Menschen bis dahin, dass diese Haltung an sich selbst entdeckt, dass
sie auf universelle „Versöhnung“ (38) zielt – mit sich selbst und mit anderen.
Lorenz kann diese Überlegungen geradezu in eine Art Doppelgebot der Sorgfalt
bündeln: „Sorgfalt im Umgang […] mit der Schöpfung, mit uns selbst und mit und

New Age, vgl. dazu Christoph Bochinger, „New Age“ und moderne Religion: Religionswissen-
schaftliche Analysen (Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verl.-Haus, 21996).
 Die einzige weltanschauliche Richtung, von der Lorenz sich ausdrücklich abgrenzt, ist Sci-
entology (vgl. 63).
 Neben bewusstseinserweiternden Substanzen und der Erotik wird auch die „Gospelmusik“
(23) als eine Form der Induktion berauschender Erlebnisse aufgezählt.
 Angeleitet von der Philosophie des „Feng-Shui“ (44).
 Die Meditation zur Körperpflege wird eingeleitet mit einem versteckten Zitat aus 1Kor 6,19:
„Klingt es zu pathetisch, wenn eine alte Weisheit sagt, unser Leib sei ein ‚Tempel‘?“ (47)
20 Andreas Kubik

in unseren sozialen Beziehungsnetzen erscheint so als das erste, Sorgfalt im


Umgang mit der überwältigenden und frei verfügbaren Energieform ‚Liebe‘ als das
zweite Gebot der Stunde.“ (8)
Man mag diese Sammlung als Zusammenstellung von Allerweltsweisheiten
abtun.³³ Auch kann mit Recht gefragt werden, ob die „Sorgfalt“ tatsächlich als
universales Prinzip einer Lebensweisheit taugt. Indes scheinen mir hier einige
Valenzen des Begriffs „Sorgfalt“ bedacht zu sein, die in dieser Weise zuvor noch
nicht zur Sprache kamen. Zum einen scheint mir zutreffend beobachtet zu sein,
dass ein sorgfältiger Umgang mit den Dingen immer auch eine charakteristische
Weise des Umgangs mit sich selbst impliziert; er enthält, wenn man so will, eine
Sorge um sich. Und zum zweiten zeigt sich, dass der Begriff eine mindestens
metaphorische Übertragbarkeit in den Bereich hat, den man traditionell ‚religiös‘
zu nennen pflegt. Die religiösen Anklänge sind von Lorenz jedenfalls deutlich
genug selbst markiert, ohne die Sorgfalt exklusiv für eine bestimmte Religion oder
überhaupt für Religion zu reklamieren. Wir können damit dazu übergehen zu
versuchen, das ganze Phänomen religionstheoretisch näher zu fassen und greifen
dazu auf den Begriff der „Religionsaffinität“ zurück.

3 Die Kategorie der „Religionsaffinität“


In den letzten 10 bis 15 Jahren hat der zuvor in der Fachliteratur nur sporadisch
verwendete Begriff der „Religionsaffinität“ einige Furore gemacht. Die bisher
elaborierteste Darlegung zum Thema verdanken wir dem Marburger Theologen
Claus Dieter-Osthövener.³⁴ Nach ihm ist zur Charakterisierung der modernen
Geisteslage die Dichotomie von Religion/Nicht-Religion (oder gläubig/nicht
gläubig) zu schlicht, um sich einen Vers auf das Verhältnis moderner Menschen
zur Religion machen zu können. Osthövener diagnostiziert vielmehr eine seit
geraumer Zeit auftretende „Faszination auf der Grenze“ (359), eine Art von In-
teresse an der Religion, das sich bewusst auf dieser Grenze hält,

 Nach meiner Erfahrung finden Jesus und das Christentum in esoterischen Kreisen vielfach
großen Respekt, was man umgekehrt nicht immer behaupten kann – angesichts der Tatsache,
dass auch viele Kirchenmitglieder auf esoterische Praktiken zurückgreifen vielleicht eine über-
denkenswerte Haltung.
 Vgl. Claus-Dieter Osthövener, „Religionsaffinität: Erkundungen im Grenzbereich von Theo-
logie und Kulturwissenschaften“, ZThK 112 (2015): 358 – 377. Seitenzahlen in diesem Abschnitt aus
diesem Aufsatz.
Sorgfalt 21

insofern es sich in einem […] noch klärungsbedürftigen Sinne außerhalb der Sphäre des
Religiösen weiß und das auch keineswegs als Beeinträchtigung oder Nachteil empfindet. Es
ist hier nicht um das gewiss auch vorhandene Leiden an spiritueller Unerfülltheit zu tun […].
Auf der Grenze […] bewegen sich die hier interessierenden Personen vielmehr recht virtuos
und auf fruchtbare Weise. (359)

Die Religionsaffinität ist gleichsam ein Drittes, welches gegenüber Religion wie
gegenüber Nicht-Religion eigenständig bleibt, aber beides zugleich voraussetzt:
Religionslosigkeit muss als Möglichkeit existieren; sie wird sich aber genauso
wenig zu eigen gemacht wie eine eindeutige Verortung in einer bestimmten Re-
ligion, wiewohl die Affinität zugleich nicht ohne „Kontakt mit den explizit reli-
giösen Traditionen“ (367) sein kann. Insofern kann sie füglich als ein „Changieren
zwischen den Sphären“ (358) bezeichnet werden.
Wenn eine theologische Betrachtung von Phänomenen stattfindet, die sich
selbst nicht (oder zumindest nicht eindeutig) selbst im Bereich des Religiösen
verorten, tritt immer das Problem auf, inwiefern hier der religionsbezogene Zugriff
überhaupt legitim ist.³⁵ Osthövener plädiert einerseits dafür, den Begriff nur dann
zu verwenden, wenn „die beteiligten Subjekte selber ausdrücklich einen Bezug
auf die Religion herstellen“ (366), gesteht aber andererseits auch zu, dass sich die
Religionsaffinität „gleichsam zwischen dem bewussten und dem unbewussten
Ausdruck“ (370) des Bezugs auf Religion ansiedelt. In diesem Sinne ist sie nicht
nur als hermeneutischer (vgl. 371), sondern auch als „heuristischer Begriff“ (377)
anzusehen: Diese Kategorie lässt Zwischenphänomene allererst entdecken, die in
einem strikt dichotomischen Denken unbemerkt geblieben wären.
In meinen Augen ist jene Lizenz, auch unausdrückliche Bezüge auf Religion
einzubeziehen, durchaus sinnvoll. Denn die Art des Bezugs kann nicht nur ganz
unterschiedlich ausfallen, sondern der ausdrückliche Bezug setzt, wie Osthöve-
ners Beispiele zeigen, in gewisser Weise ein geradezu selbstreflexives Erfassen der
Situation von Religionsaffinität voraus, welcher das Phänomen von vornherein
darauf beschränken würde, als ein Stück ‚Bildungsreligion‘ interpretiert zu wer-
den. In diesem Sinne möchte ich abschließend versuchen, die Sorgfalt auch als
eine religionsaffine Haltung aufzufassen, die unabhängig von den (selbst‐) re-
flexiven Kapazitäten derer, die die Sorgfalt üben, als ein solches verstanden
werden kann.

 Vgl. zu diesem Problem Andreas Kubik, Theologische Kulturhermeneutik impliziter Religion:


Voraussetzungen und Implikationen eines praktisch-theologischen Paradigmas der Spätmoderne,
Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 23 (Berlin/Boston: de Gruyter, 2018).
22 Andreas Kubik

4 Versuch einer Zusammenschau


Wie eingangs angekündigt, soll die versuchte Zusammenschau nicht mehr als
eine erste Aufsummierung von Annäherungen an ein Phänomen sein, das si-
cherlich noch näherer Erforschung bedarf. In aller Vorläufigkeit lässt sich
gleichwohl festhalten:
„Sorgfalt“ bezeichnet die Haltung einer besonderen Genauigkeit und
Gründlichkeit im Umgang mit einem Gegenstand, welche auf einer inneren Be-
reitschaft, einem spezifischen Antrieb beruht, die entsprechenden sorgfältigen
Handlungen auszuführen. Dabei teilt sich diese Haltung dem gesamten Prozess
einer Handlung mit, also all ihren kleinen Einzelschritten, was der Sorgfalt dann
und wann den (voreiligen) Eindruck des ‚Kleinlichen‘ bzw. des ‚Übertriebenen‘
gibt, welcher Eindruck sich aber jeweils dann revidiert, wenn die entsprechende
Handlung eben einmal ‚unsorgfältig‘ ausgeführt wurde. Sorgfalt stellt sich als
leiblich-mentale Einheit dar, bei der körperliche und geistige Prozesse sich
wechselseitig stimulieren und routinisieren und doch nur gemeinsam das ein-
heitliche Phänomen bilden. In dieser Einheit ist die Sorgfalt zugleich eine Art
‚Sorge um sich‘: Der sorgfältige Umgang mit den Dingen kann nur geleistet wer-
den, wenn auch ein sorgfältiger Selbstumgang gegeben ist. In der Haltung der
Sorgfalt ist das ganze Gemüt in Beschlag genommen. Die Sorgfalt setzt somit die
inhärente Bedeutsamkeit und Wertigkeit ihres Gegenstandes aus sich heraus (es
gibt gleichsam in diesem Moment ‚nichts Wichtigeres‘), ebenso wie zugleich die
Idee, dass das, was man sorgfältig tut, von einem Nutzen für diejenige Gruppe sein
wird, in deren Kontext die Handlung ausgeführt wird.³⁶ Sorgfalt ist, wenn man so
will, die Verkörperung einer Haltung, welche dem Gegenstand einer in diesem
Sinne ausgeführten Handlung Bedeutung zu- und einschreibt.
Ein Bezug auf die Religion mag zunächst darin gesehen werden, dass die
heiligen Dinge und Handlungen von Haus aus eine besondere Sorgfalt zu erhei-
schen scheinen: Neben der eingangs erwähnten Grabpflege kann an das
Schmücken des Altars, die Verwahrung der gottesdienstlichen Gerätschaften usw.
gedacht werden. Es ist aber auch etwas an ihr, was sie für sich selbst – wie etwa
die Dankbarkeit³⁷ – zumindest als religionsaffin kennzeichnen lässt: Dafür sei

 In diesem Sinne wäre z. B. eine Sammlung von Steinen, die eine einsame Frau scheinbar nur
für sich selbst sorgfältig führt, inhärent darauf angelegt, dass sie eines Tages doch jemand an-
deres einmal besehen wird.
 Vgl. Roderich Barth, „Dankbarkeit als religionsaffines Gefühl: Überlegungen zu dogmati-
schen Anknüpfungspunkten“, in: Erleben und Deuten: dogmatische Reflexionen im Anschluss an
Ulrich Barth: Festschrift zum 70. Geburtstag, hg.v. dems., Andreas Kubik und Arnulf v. Scheliha
(Tübingen: Mohr Siebeck, 2015), 169 – 191.
Sorgfalt 23

noch einmal an die Aspekte der Verkörperung, der Bedeutungszuschreibung, des


Selbstumgangs und des sozialen Bezugs erinnert. Es liegt sicherlich nicht nahe,
die Sorgfalt an sich selbst als ‚religiös‘ zu kennzeichnen. Und doch liegt in ihr ein
gleichsam verkörpertes „Changieren zwischen den Sphären“ (Osthövener) zwi-
schen den bloß weltlichen Bezügen und der Sphäre absoluter Bedeutung vor.³⁸
Für die Praktische Theologie im engeren Sinne scheint mir daran zweierlei
einen Unterschied zu machen. Zum einen hat die Thematisierung der Sorgfalt eine
ebenso religionsheuristische wie religionshermeneutische Dimension, indem sie
bestimmte Handlungen und Haltungen entdeckt und theologisch interpretierbar
macht. Sie erweitert damit den Kreis der theologisch interessierenden oder zu
würdigenden Phänomene. Zum anderen kann sie aber auch der professionellen
Handlungsreflexion etwas hinzufügen. Die Sorgfalt in der Vorbereitung unter-
richtlicher, diakonischer oder spiritueller Vollzüge muss nicht als etwas ‚Äußer-
liches‘ im pejorativen Sinne – im Gegensatz etwa zur allein entscheidenden ‚in-
neren Einstellung‘ – verstanden werden. Sie ist vielmehr genau diejenige Haltung,
welche aufgrund ihrer physisch-psychischen Doppelkonstitution durch das eben
nur scheinbar mechanische Abspulen von Schritten hilft, den Lehrer oder die
Pastorin oder sonst Mitarbeitende in diejenige Einstellung zu bringen, welche zur
Erfüllung der Berufsaufgaben erwünscht ist. In diesem Sinne bedarf die Sorgfalt
aber eben auch der konstanten Übung und Routine. Die Sorgfalt steht damit zu-
gleich für eine Würdigung der Dinge, des Subjekts und der äußeren Tätigkeiten.
Das ist nicht wenig für ein kaum thematisiertes Phänomen.

 Ich verweise auf den englischen Sprachgebrauch, welcher das Adverb „religiously“ für be-
sonders genaue, immer wiederkehrende, festgefügte, also doch wohl auch: sorgfältige Hand-
lungen verwendet (collect religiously, follow religiously, listen to music religiously usw.).
Klaus Hock
Der Kosmos aus dem Tintenfass
„Sag: Wenn das Meer Tinte wäre für die Worte
meines Herrn, würde es noch vor ihnen zu Ende
gehen, selbst wenn wir es an Masse verdoppeln
würden.“ (Su. 18:109)

Materialität, der material turn, die Performanz der Dinge…, sinnliche Wahrneh-
mung, Ästhetik, Affekte, der emotional turn… Diese Begriffe markieren als
Stichwörter nur einen winzigen Ausschnitt des (nicht nur) religionswissen-
schaftlichen Diskurses, der sich in den letzten Jahren zunehmend den daraus
erwachsenden Fragestellungen zugewandt hat. Sie umreißen damit zugleich ein
Forschungsfeld, von dem unter anderem auch eine einschlägige Fachzeitschrift
ihren Namen ableitet: Material Religion. ¹ In der Religionswissenschaft werden
dabei sämtliche ‚traditionellen‘ wie auch neuere Teildisziplinen oder theoretische
und methodologische Ansätze bemüht, um dem (wieder)entdeckten ‚Ding‘ auf die
Spur zu kommen, und nicht nur ihm. Denn es geht um mehr als dieses Ding. Es
geht um unsere Beziehung zu ihm, wobei wir in diesem Bezugsgeschehen ganz
unterschiedlich positioniert sein können – und eben nicht einfach zugeordnet,
sondern durch das Bezugsgeschehen aktiv wie passiv, handelnd und erleidend
involviert. Und es geht um das Andere dieses Dings, einschließlich des Jenseits
seiner selbst. Aus der Perspektive des Wissenschaftsdiskurses im Allgemeinen
dreht sich die Debatte auch um die Frage der Gültigkeit (und Erschütterung!)
unserer Erkenntnisfähigkeit und ‐möglichkeit sowie deren vermeintlich souve-
ränes Subjekt und unerschütterliches Fundament – (ego) cogito, ergo sum. Somit
geht es letztlich auch um die Frage unseres Weltverständnisses und -verhältnis-
ses; und das wiederum auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Be-
zügen.
Wie nähere ich mich einem Ding, und welches eignet sich dazu, es zum
Sprechen zu bringen? Zu Letzterem: Vermutlich jedes; zu Ersterem: Vielleicht am
einfachsten durchs Erzählen, auf jeden Fall nicht, zumindest nicht nur, durchs
Beschreiben – denn da könnte das (Bezugs‐)Geschehen verloren gehen –, und am
besten im Horizont eigener Erfahrungen. Deshalb habe ich ein auf den ersten
Blick recht alltägliches Ding herausgegriffen, das allerdings durch je spezifische
Positionierungen in verschiedenen Kontexten besonders signifikante Funktiona-
lität wie auch inhaltliche Bedeutsamkeit annehmen und äußerst unterschiedlich

 Material Religion: The Journal of Objects, Art and Belief, seit 2005.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-003
26 Klaus Hock

realisiert werden kann – realisiert im doppelten Sinn der Wahrnehmung und


Verwirklichung quasi wie ein Hologramm, dessen schillernde, prismatische, ve-
xierbildliche Dimensionen ausschnitthaft und repräsentativ, aber in großer
Reichhaltigkeit und Vielfalt in diesem Gegenstand gleichsam materialisiert sind:
ein Tintenfass.

Abb.: Tintenfass aus Ton, Westafrika (Nordnigeria). Foto: Klaus Hock

1 „Neckermann!“
Während unserer Zeit in Nigeria haben wir eine Reihe von Gegenständen erwor-
ben und dann bei unserer Rückkehr nach Deutschland mitgenommen – manche
äußerst nützlich und schön, so etwa die aus strapazierfähigem Material gewebten
und mit Indigo gefärbten Fulani-Decken; manche, obgleich als kunstvoll orna-
mentierte Utensilien in alltäglicher Verwendung, von uns tendenziell auf ein
ansprechendes Dekor reduziert, beispielsweise verzierte Kalebassen, die bei uns
(wie bei vielen anderen Expats) zum großen Amüsement der Nigerianer:innen
eher an der Wand hingen, als dass sie in Küche und Haushalt zum Einsatz ge-
kommen wären.Viele dieser Gegenstände bezogen wir von einem Hausa-Händler,
der von Zeit zu Zeit auf unseren Compound kam, um seine Schätze anzubieten. Er
kündigte sich dann je schon von weitem an, indem er mit hohem, gekünstelten
Singsang „Neeeckermaaann“ intonierte – der Versandhandel und Reiseanbieter
war bereits ab den 1970er Jahren auch in Afrika allgemein bekannt („Neckermann
macht’s möglich“), obwohl das Unternehmen zu der Zeit, als ‚unser‘ Neckermann
seinen Kleinhandel mit diesem vermeintlichen Gütesiegel bewarb, die besten
Tage schon längst hinter sich hatte. Unter anderem erstanden wir damals einen
Der Kosmos aus dem Tintenfass 27

handgeschriebenen Koran – „Neckermann“ machte dabei seinem selbstgewähl-


ten Spitznamen insofern Ehre, als ihm das Geschäft vor religiösem Skrupel ging
(er beließ es bei einer Warnung in schönsten Pidgin-English: „Clean hand! Wo-
man no touch book! No plenty beer!“)² – und dazu ein aus Ton gefertigtes Tin-
tenfass nebst Schreibrohr und einem Plastikbeutel mit verschiedenfarbigen
Klumpen zur Herstellung von Tinte. Das stand erst jahrelang irgendwo mehr oder
weniger zwecklos herum, bevor es dann doch noch einem späten Gebrauch zu-
geführt wurde – als didaktisch genutztes Anschauungsobjekt. Denn ich ließ es im
Unterricht herumgehen, um den Studierenden einen Gegenstand nebst Beiwerk
im wortwörtlichen Sinn fassbar werden zu lassen, der ein Element religiöser
Praxis repräsentiert und zugleich über diese Praxis hinausweist. Seines päd-
agogischen Verwendungszwecks inzwischen entledigt, scheint das Tintenfass
wieder zur Nutzlosigkeit verdammt und findet sich in meinem Arbeitszimmer
oben auf dem Sekretär neben einer illustren Mischung aus diversen ‚exotischen‘
Souvenirs wie einer Kava-Schale aus dem Pazifik und einem Tontopf aus Nord-
nigeria.
Das Tintenfass ist – selbstverständlich abgesehen vom Koran als wichtigstem
Element – nur eines von zahlreichen Paraphernalia, die im Kontext westafrika-
nischer muslimischer Frömmigkeit von Bedeutung sind. Dazu gehören unter
anderem insbesondere die Gebetskette, die geflochtene Gebetsmatte oder das
Wassergefäß zur rituellen Reinigung, Letzteres heutzutage meist in Form einer
wasserkesselförmigen Kanne aus Plastik. Diese Dinge hatte der Händler damals
nicht in seinem Angebot; auf Nachfrage hätte er sie allerdings sicherlich gerne
beschafft. Der Erwerb des Tintenfasses war rückblickend wohl eher zufällig ge-
schehen, und soweit ich mich erinnern kann, hatte ich seinerzeit keine weiter-
gehenden Überlegungen dazu angestellt – es war für mich nicht mehr als eines
von vielen Objekten aus der weiten Welt religionskonnotierter Gegenstände im
westafrikanisch-islamischen Kontext.
Wie gesagt, diente mir viele Jahre später das Tintenfass im Unterricht dazu,
als ein Element den westafrikanischen Islam exemplarisch zu illustrieren, quasi
zu materialisieren und stellvertretend in einem winzigen Ausschnitt zu reprä-
sentieren und so in den Händen der Studierenden greifbar zu machen. Ob es mir
in diesem Zusammenhang je gelungen war, den Gegenstand selbst auch nur in-

 Selbst in vernakularen Kontexten gilt: Der geschriebene koranische Text ist – in ebenso
wörtlicher wie physischer Hinsicht – Gotteswort und sollte auch in seinem als Buch (muṣḥaf)
materialisierten Modus entsprechend vor Verschmutzung aller Art im direkten und metaphori-
schen Sinn geschützt werden. Siehe etwa Joyce Burkhalter Flueckinger, „The Agency of the Ma-
terial Taviz (Amulet) in a South Indian Healing Room“, in Islam Through Objects, hg.v. Anna
Bigelow (London u. a.: Bloomsbury, 2021), 127– 141, hier 140.
28 Klaus Hock

direkt zum Sprechen zu bringen, kann ich aus heutiger Perspektive nicht mehr
sagen. Erst als ich mich für diesen Beitrag erneut mit dem Tintenfass befassen
musste, ist mir die unvorstellbare Gewichtigkeit und Wucht dieses Objekts deut-
lich geworden, vielleicht, weil ich es diesmal einer weitergehenden Betrachtung
unterzogen habe, die über eine bloß nüchterne, unmittelbar gegenstandsbezo-
gene und auf religiöse Funktionalitätszusammenhänge fokussierte Untersuchung
hinausgeht: einer Betrachtung, die ein Stückweit den Bezug zum Gegenstand
umzukehren und damit tatsächlich das Ding zum Sprechen zu bringen versucht.
So eröffnen sich im Nachhinein ganz neue Perspektiven, nicht nur auf das Tin-
tenfass selbst, sondern auch hinsichtlich der Möglichkeiten, durch dieses Zum-
Sprechen-Bringen eine Blickumkehr vorzunehmen, die plötzlich ‚das Ganze‘
quasi aus der Sicht des fokussierten Gegenstandes aufzuschließen vermag. In-
zwischen könnte ich mir gut vorstellen, eine Seminarreihe oder Vorlesungen zu
konzipieren, die unmittelbar beim Tintenfass selbst einsetzen, das dann über ein
oder mehrere Semester hin als roter Faden dazu dient, die Welt des westafrika-
nischen Islams und seiner Frömmigkeitspraxis zu erschließen – das wäre zu-
nächst ‚das Ganze‘; und sogar noch etwas mehr.
Warum aber habe ich hier „Neckermann“ erwähnt? Aus einem banalen und
einem tieferen Grund: Ohne „Neckermann“ befände sich das Tintenfass nicht in
meinem Besitz, in gewisser Weise existierte es dann gar nicht, zumindest nicht für
mich; und „Neckermann“ steht für einen von vielen Verwendungs- und Verwer-
tungszusammenhängen, die sich in Affirmation, aber auch in Bestreitung einer
über bloße ‚Vernutzung‘ hinausgehenden Funktion und eines ‚Eigensinns‘ des
Gegenstandes konstituiert haben.

2 Materie und Material


In der islamischen Kunst nehmen Tintenfässer durchaus einen gewissen Stel-
lenwert ein, und entsprechend werden sie nicht nur in Museen aufbewahrt,³
sondern auch auf dem freien Kunstmarkt zum Verkauf angeboten.⁴ Die Artefakte
können dabei aus sehr unterschiedlichem Material gefertigt sein – aus Kupfer-

 Siehe etwa https://global.museum-digital.org/index.php?t=objekt&oges=432840&navlang=ar,


Lesedatum: 04.12. 2021.
 Siehe etwa https://www.ebay.de/itm/272713721109?hash=item3f7f012515:g:lGsAAOSwFqNZP
mO6: Islamische Kunst – Bronze Tintenfass, Damaskus um 1900, für 680,– EUR, Lesedatum:
04.12. 2021.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 29

legierung und Bronze, aber natürlich auch aus Keramik⁵ oder Glas,⁶ in unserem
Fall aus hart gebranntem Ton. Letzteres ist insofern von Bedeutung, als damit
weitergehende Assoziationen mit religiösen Konnotationen aufgerufen werden:
Auch der Mensch ist aus Lehm geschaffen,⁷ wenngleich nicht so gehärtet wie
unser spezielles Tintenfass, das sich beinahe wie massives Steingut anfühlt und
deshalb eher an die in Su. 51:33 erwähnten „Steine aus Ton“ erinnert. Diese sollen
nicht weiter thematisiert verweisen werden; sie selbst und das, was sie dort re-
präsentieren, könnte jedoch als Subtone mitschwingen, wenn wir das Tintenfass
selbst sprechen lassen.⁸
Das Material, aus dem unser Tintenfass besteht, ist prima facie zwar nur tote
Materie, aber es verknüpft, generisch gesprochen, Mensch und Ding auf ganz
besondere Weise – beide sind aus demselben Stoff. Dass eine solche Feststellung
nicht vulgärmaterialistisch zu verstehen ist, bedarf keiner Erläuterung, und eine
Gleichung nach der Formel: „Tintenfass und Mensch sind aus Lehm → Mensch
und Tintenfass sind materiell identisch“ würde wohl kaum jemand unterschrei-
ben. Quasi in Echtzeit wird deshalb rationalisiert: Es gibt keine materielle, wohl
aber eine metaphorische Identität, deren Tertium Comparationis im gemeinsamen
Status als Gefertigtes besteht. So hastig sollten wir aber nicht rationalisieren,
denn eine solche Deutung würde vorschnell theologisieren, wobei nicht das
Theologisieren, sondern das Vorschnelle ein Problem darstellt. In der Tat gibt es
mehrere Zusammenhänge zwischen Lehm, Mensch und Tintenfass, die sich unter
einer ganz profan-materialistischen Perspektive nahelegen, so namentlich die
‚Kompostierbarkeit‘ von Mensch und Ding – christlichen Deutungen nicht völlig
unbekannt („Erde zu Erde, Asche zu Asche…“). Selbstverständlich ist dieser
Konnex nicht eindimensional-unmittelbar zu verstehen, sondern hat ebenfalls
eine metaphorische Dimension.
Hier soll zunächst noch das Materielle des Dings im Netzwerk anderer Dinge
im Zentrum der Betrachtung stehen, wenngleich dieses Netzwerk der Dinge sich
durchweg dynamisch gestaltet, als Interaktion zwischen den Dingen. Der Mensch
ist aus einer solchen Interaktion nicht ausgeschlossen, aber er ist, zumindest
unter der hier eingenommenen Perspektive, nicht der primäre Akteur und somit

 Siehe etwa https://recherche.smb.museum/detail/1523731/Tintenfass%20(Gefäßkeramik))%


7D, Lesedatum: 04.12. 2021.
 Yael Israeli, Ancient Glass in the Israel Museum: The Eliahu Dobkin Collection and Other Gifts
(Jerusalem: The Israel Museum, 2003), 45.
 Su. 23.:12; entweder aus einer Portion oder einem Extrakt aus Lehm, so Rudi Paret in seiner
Übersetzung; s.a. Su. 38:71; 32:7; 38:76.
 Siehe den entsprechenden Kommentar unter https://corpuscoranicum.de/kommentar/index/
sure/51/vers/33, Lesedatum: 04.12. 2021.
30 Klaus Hock

nicht das die Dinge bewegende oder gar beherrschende Subjekt. Das Tintenfass
selbst ist in dieses Beziehungsgeflecht eher dezentral eingebunden, weil es in
einem engen Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Dingen steht, die zum Teil von
größerer Bedeutung sind: Tinte, Schreibgerät (in islamischen Kontexten:
Schreibrohr, qalam) und Schreibfläche (Pergament, Papier etc. oder Tafel, lawḥ).
Die Signifikanz dieser Vernetzung der Dinge wird deutlich, wenn wir an einem
Beispiel aus Marokko einige basale Schritte elementarer islamischer Erziehung in
traditionellen Bildungskontexten nachzeichnen: Nach dem quasi passiven Er-
lernen der geschriebenen Buchstaben der basmala, der islamischen Anrufungs-
formel („Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers“), gestattet der Schaykh
dem Schüler nach etwa zwei Wochen, nun selbst die eröffnende Eingangssure des
Korans, die fātiḥa, zu schreiben. Zusammen mit einer Gruppe älterer Schüler wird
tags zuvor, nach dem Freitagsgebet und noch vor dem Abendgebet, in einer etwa
einstündigen Prozedur die Tinte aus karbonisierter Schafswolle und Wasser ge-
fertigt und für jeden Schüler in kleine Behälter abgefüllt, die fortan neben den
hölzernen Schreibtafeln zu ihrem persönlichen Eigentum werden. Anschließend
geht es an die Herstellung des letzten für die Initiation ins Schreiben benötigten
Objekts, des Schreibrohrs. Dieses ist von besonderer Relevanz – nicht nur für das
Schreiben von koranischen oder rechtlichen Texten auf Papier, Holz oder Leder;
auch dem Gegenstand selbst, dem Schreibrohr an und für sich, kommt heraus-
ragende Bedeutung zu. Im geschilderten Zusammenhang sind „Schreibrohre, wie
die Schreibtafeln, private und individuelle Objekte: Sie wurden niemals aus der
Hand gegeben. Nach ihrer Nutzung konnten sie als Geschenke weitergegeben
werden, stets zu speziellen Anlässen. Es kann nicht einfach jeder ein Schreibrohr
herstellen oder die von anderen nutzen.“⁹ Auch im vorliegenden Fall hat der
Shaykh höchstpersönlich die Schreibrohre für seine Schüler angefertigt. Am Ende
des Tages erhalten die Schüler mit Tafel, Tintenfass und Schreibrohr die „drei
wesentlichen Objekte, bevor sie mit dem Koranstudium beginnen können.“¹⁰
Was von anderer Seite konkret mit Blick auf die Bedeutung der Gebetskette im
westafrikanisch-islamischen Kontext konstatiert wurde, lässt sich eins zu eins auf
unser Integral aus Tafel, Tintenfass und Schreibrohr übertragen: Wir haben es
gleichermaßen zu tun mit „einer kulturell ikonischen Manifestation, einem In-
strument religiöser Praxis, einer Markierung religiöser Identität und lehrmäßiger
Zugehörigkeit, einer Verkörperung passiven Widerstands gegen die Kolonial-
herrschaft, und einem ästhetischen Schmuckstück…“ – und es ist zudem „in je-

 Aomar Boum, „The Life of a Tablet“, in Islam Through Objects, hg.v. A. Bigelow, 143 – 158, hier
153; Übersetzung von mir, K.H.
 Ebd.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 31

nen historischen Prozessen kein statisches, sondern ein transformatives Objekt


und somit eine Quelle historischer Forschung.“¹¹ Als solches evoziert letztlich
auch unser Tintenfass objekt-zentrierte wie objekt-getriebene Zugänge, die so-
wohl die „objektive Materialität“ des Dings als auch dessen multiple Manifesta-
tionen beleuchten und so Perspektiven auf weitere Zusammenhänge eröffnen.¹²
Auf diese Weise kommen nicht nur jene Diskurse in den Blick, die auf die je-
weiligen Objekte in ihren weiteren Kontexten und Wechselverhältnissen Bezug
nehmen, sondern auch der sie thematisierende Wissenschaftsdiskurs.
Nehmen wir die Beziehung zwischen Ding und Mensch in den Blick, so lässt
sich feststellen, dass eine besonders ‚intime‘ Beziehung zwischen Tintenfass und
Mensch, genauer und kulturell kontextualisiert: zwischen dem Tintenfass und
seinem gläubigen Besitzer besteht – wenngleich anders als etwa bei einem
Kleidungsstück, das irgendwo zwischen belebter (Körper) und unbelebter (Ma-
terial) Materie changiert.¹³ Damit ist der Mensch in ein Kommunikationsgesche-
hen eingebunden, das Tinte, Tintenfass, Schreibrohr und Tafel umfasst – zu-
nächst in dieser Reihenfolge, die einen prozessualen und performativen Ablauf
abbildet –, sowie eine weitere Instanz, nämlich Gott. Durch diesen wird die
Reihenfolge um-gewichtet und zumindest aus menschlicher Perspektive das
Schreibrohr an die Spitze der Sequenz befördert: Das Tintenfass fungiert als Be-
hälter der Tinte, das Schreibrohr avanciert zum Akteur und trägt in menschlicher
Hand das Gotteswort mittels Tinte auf die Tafel als empfangendes Objekt auf. Das
Tintenfass verbirgt die Tinte – und ermöglicht doch, dass etwas Unsichtbares
sichtbar wird. Im Vorgang des Schreibens wird das Abwesende und Verborgene
präsent und offenbar.
Die Absenz-Präsenz-Thematik findet sich im Islam in vielerlei Variationen,
wie der Vergleich mit anderen Phänomenen zeigt – so etwa der Lampe im Kontext
religiöser Sufi-Praktiken der Bektashi-Tradition, in der sich die Partikularität der
einzelnen, konkret-materiellen Lampe metaphorisch mit dem universalen Kon-
zept des göttlichen Lichts verknüpft: Bei den Beteiligten werden performativ
emotionale Reaktionen ausgelöst, die sich auf dem Wege sinnlicher, in unserem
Fall: visueller Perzeption und Propriozeption zu einem Mittel entwickeln, durch
das sie des Abwesenden gewärtig werden und dieses – dieser – Abwesende ge-

 Ousman Murzik Kobo, „Tashib in West African History: Spirituality, Aesthetic, Politics, and
Identity“, in Islam Through Objects, hg.v. A. Bigelow, 81– 94, hier 93; Übersetzung von mir, K.H.
 Ebd., 94.
 Scott Kugle, „Caps, Heads, and Hearts“, in Islam Through Objects, hg.v. A. Bigelow, 95 – 107,
hier 95 f.
32 Klaus Hock

genwärtig wird.¹⁴ Die im Alltag, in Alltäglichem oder in einem alltäglichen Ge-


genstand materialisierte Gegenwart Gottes kann nur in ihrem Entzug sichtbar
werden.¹⁵

3 Intermezzo: Transformationen im
Wissenschaftsdiskurs
Die vorherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, von welcher Wirkmäch-
tigkeit die Dinge selbst sein können, wenn sie in ein Kommunikationsgeschehen
eintreten, an dem sie maßgeblich Anteil haben und innerhalb dessen sie wichtige
Funktionen erfüllen. Für den religionsbezogenen Wissenschaftsdiskurs ist diese
Beobachtung nicht neu. Bereits in der älteren Religionsphänomenologie wurde
Gegenständen besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die Gründung der
Religionsgeschichtlichen Sammlung in Marburg steht nicht nur für eine wissen-
schaftshistorisch frühe Hochschätzung der materiellen Kultur seitens der Religi-
onswissenschaft. Rudolf Otto, durch sein epochales Werk „Das Heilige“ bereits zu
einiger Berühmtheit gelangt, hatte das Vorhaben ergänzend zu dem durch
Friedrich Max Müller begründeten Projekt der Sammlung von religiösen Schrift-
quellen initiiert, um religiöse Gegenstände als Zeugnisse religiöser Praxis syste-
matisch zusammenzustellen. Die Intention der bereits 1912 angedachten, aber erst
1927 realisierten Sammlungsgründung war vornehmlich didaktischer Art, denn
zunächst stand im Vordergrund, mit den zusammengetragenen Gegenständen
„die religiöse Kulturentwicklung einer trotz aller Verschiedenheit als einheitlich
gedachten, weil auf das Numinose bezogenen Religion [zu] veranschaulichen“,¹⁶
wobei Otto sich vor allem auf die religiöse Alltagspraxis konzentrierte. Doch damit
waren auch grundsätzlichere Perspektivverschiebungen in Theorie und Methode
verbunden. Entsprechend konnte Ottos Ansatz für eine geraume Zeit ebenso an
Deutungsmacht gewinnen, wie zugleich die koloniale Kontextualisierung der
Objekte und der Vorgang ihrer funktionalen Einbindung in Prozesse des Othering

 Mark Soileau, „What Comes to Light When a Lamp is Lit in Bektashi Tradition“, in Islam
Through Objects, hg.v. A. Bigelow, 111– 125, insb. 114 f., 124.
 Klaus Hock, „Iconoclash als Bildkonflikt zwischen Religionen – islamische Dispositive: Zur
Differenzhermeneutik des Bilderverbots“, in: Präsenz im Entzug: Ambivalenzen des Bildes, hg.v.
Philipp Stoellger und Thomas Klie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011), 393 – 419, hier: 418.
 Edith Franke und Konstanze Runge, „Die Religionskindliche Sammlung der Philipps-Uni-
versität Marburg: Ein Museum zur Vielfalt der Religionen“, in Handbuch der Religionen, Bd. 52,
hg.v. Michael Klöcker und Udo Tworuschka (Bamberg: Mediengruppe Oberfranken, 2017), I – 25.5,
4.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 33

und der Exotisierung invisibilisiert wurden. Abgesehen davon behielten die


Wertschätzung und der Eigenwert der Objekte (neben Handlungen und Inten-
tionen) während der folgenden Jahrzehnte für den religionswissenschaftlichen
Diskurs durchaus eine gewisse Bedeutung, auch wenn andere Ordnungsgrößen
im Zuge der zunehmenden Dominanz religionsphänomenologischer Entwürfe
etwas stärker in den Vordergrund traten. Immerhin führte insbesondere Friedrich
Heiler mit Blick auf die Religionsgeschichtliche Sammlung auch konzeptuell und
theoretisch den eingeschlagenen Weg in der Tradition Ottos weiter und „brachte
sein eigenes universalistisches Glaubensverständnis in die Präsentation der
Sammlung ein“.¹⁷
Nach dem für die Religionsforschung wissenschaftsgeschichtlich entschei-
denden Marburger Kongress der International Association for the History of Reli-
gions (1960) wandelten sich nach und nach nicht nur Verständnis, Organisati-
onsstruktur und Konzept der Religionskundlichen Sammlung, sondern der Blick
auf die Objekte ganz generell. Zuvor, schon seit dem 19. Jahrhundert, hatten
‚materialbezogene‘ Disziplinen wie Ethnologie oder Archäologie, ähnlich wie die
Religionswissenschaft, Gegenstände zunächst als historische Dokumente ver-
standen und dabei ihren wissenschaftlichen Blick von den jeweils vorherr-
schenden Theoriezugriffen, namentlich Evolutionismus und Diffusionismus,
leiten lassen.¹⁸ Im Zuge der Ausdifferenzierung von Natur- und Geisteswissen-
schaften verloren die Gegenstände dann zunächst an Bedeutung, erfuhren jedoch
ab den 1960er Jahren erneute Aufmerksamkeit, und zwar im Zusammenhang ei-
ner Reihe von „Cultural Turns“,¹⁹ die im Rahmen der wissenschaftsgeschichtli-
chen Entwicklungen von vielen Seiten wichtige Impulse erhalten hatten, unter
anderem seitens der Kulturanthropologie und strukturalistischer Zugänge. „Von
einem ‚material-cultural turn‘ im eigentlichen Sinn kann ab den 1980er Jahren
gesprochen werden“,²⁰ wozu wiederum eine Vielfalt theoretischer und konzep-
tioneller Ansätze maßgeblich beitrugen. Für unseren Zusammenhang ist dabei vor
allem die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von besonderem Interesse, da sie die

 Ebd., 6.
 Hierzu und zum Folgenden siehe Peter J. Bräunlein, „Material Turn“, in Dinge des Wissens. Die
Sammlungen, Museen und Gärten der Universität Göttingen, hg.v. Georg-August-Universität Göt-
tingen (Göttingen: Wallstein Verlag, 2012), 30 – 44; s.a. Ders. und Peter J. Bräunlein, „Thinking
Religion through Things: Reflections on the Material Turn in the Scientific Study of Religion\s“,
Method and Theory in the Study of Religion 28 (4/5) (2016): 365 – 399 sowie Ders., „Studying Ma-
terial Religion from a Non-Anthropocentric Perspective? Some Considerations on New Materia-
lisms“, Material Religion 15 (5) (2019): 622– 623.
 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften
(Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 52014).
 P. Bräunlein, Material Turn, 34.
34 Klaus Hock

agency – den Eigenwillen und die Handlungsmacht – der Objekte in den Vor-
dergrund stellt und mit ihrem Zugang letztlich die traditionelle abendländische
Subjekt-Objekt-Trennung aufzuheben oder zumindest grundsätzlich in Frage zu
stellen beansprucht.²¹ Für die Religionswissenschaft sind die unter den Begriffen
des „Neuen Animismus“ und des ontological turn verhandelten, quasi parallel
verlaufende Entwicklungen in Ethnologie, Kulturanthropologie und benachbar-
ten Disziplinen von nicht minder grundlegender Bedeutung. Insbesondere durch
das Studium der sog. Indigenen Religionen wurden weitreichende Herausforde-
rungen thematisiert, die grundsätzliche Fragen von Hermeneutik und Epistemo-
logie sowie Epistemen und Wissenskulturen, vom Einfluss ‚westlicher‘ Ontologien
auf akademische Forschung oder auch von den Bedingungen der Konstitution von
Fachidentitäten betrafen.
Einige Stichworte, die diese Entwicklungen markieren, wurden bereits ge-
nannt, weitere könnten ergänzt werden, wie auch die dadurch ausgelöste Debatte
inzwischen äußerst verzweigt ist. Für unsere Überlegungen sind in diesem Zu-
sammenhang insbesondere folgende Aspekte von Bedeutung: das im Neuen
Animismus zentral gestellte Konzept der Relationalität menschlicher und nicht-
menschlicher Akteure und die Kritik des als dazu in Gegensatz stehend wahrge-
nommenen Konzepts des Individuums sowie die Ablehnung der Vorstellung einer
als dichotomisch interpretierten Subjekt-Objekt-Beziehung;²² das Verhältnis von
„Insider-“ und „Outsider“-Diskursen und das darin implizierte Problem „episte-
mischer Gewalt“ (Gayatri Spivak) wie auch die daraus folgende Dekonstruktion
des Mythos wissenschaftlicher Objektivität; und Themen der Normativität, die
hinsichtlich wechselseitiger Resonanzen von material turn und ontological turn
erneut die ganz grundsätzliche Frage nach dem Gültigkeits- und Wahrheitswert
von Glaubensaussagen sowie ihrem Verhältnis zu dem wissenschaftlicher Aus-
sagen über diese aufwerfen. Mit einem auch in der Religionsforschung vollzo-
genen Paradigmenwechsel weg von schriftlich reifizierten intellektuellen Syste-
men hin zu ästhetischen, sinnlichen und materiellen Dimensionen –
konzeptualisiert in den visual, material, aesthetic, body, material… turns – rückt
nicht nur die Beziehung von Religion und Ökologie bzw. Umwelt im weiteren
Sinne in den Fokus religionswissenschaftlichen Interesses, sondern insbesondere
auch die Beziehung zu den Dingen oder allgemeiner: nicht-menschlichen We-
senheiten und Objekten als Teil dieser Umwelt. Daraus ergeben sich wiederum

 Siehe unter anderem Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirk-
lichkeit der Wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002).
 Isabel Laack, „The New Animism and Its Challenges to the Study of Religion“, Method and
Theory in the Study of Religion 32 (2020): 115 – 147, hier insb. 119 – 123, namentlich unter Bezug-
nahme auf Nurit Bird-David, Graham Harvey, Philippe Descola und Gayatri Spivak.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 35

weiterführende Konsequenzen für Methodologie, Epistemologie und religions-


bezogene Theoriebildung. Eine der zentralen Fragen ist in diesem Zusammen-
hang, welcher ontologische Status akademischen Konzepten zugeschrieben wird:
Sind sie ‚wahr‘ in einem religiösen, philosophischen oder wissenschaftlichen
Sinn – oder bloß heuristische Instrumente in interkulturellem Dialog und aka-
demischer Theoriebildung?²³ Bei genauerem Besehen zeigt sich, dass alle diese
Fragen und Problemstellungen weniger neu sind, als sie auf den ersten Blick er-
scheinen, und auf die eine oder andere Art bereits integraler Teil der geschicht-
lichen Entwicklung religionsbezogener Wissenschaftsdiskurse waren. Für unse-
ren Zweck müssen sie auch nicht allesamt aufgerufen und erneut diskutiert
werden. Sie bilden jedoch den Hintergrund für jede Art religionswissenschaftlich
verantworteter Befassung mit den Objekten und mit der Reflexion über sie – auch
über unser Tintenfass, dem ich mich nun nochmals vertieft zuwenden will.

4 Das Tintenfass zwischen Transzendenz und


Immanenz
Die vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurse mit Blick auf
die großen epistemologischen, theoretischen und konzeptionellen Herausforde-
rungen als „kompliziert“ beschriebene Situation der Religionsforschung²⁴ ver-
langt nicht nur nach interdisziplinärem Dialog, sondern eröffnet, positiv be-
trachtet, neue Perspektiven für experimentelle Bemühungen, die Gegenstände
sprechen zu lassen. Dies bedeutet hinsichtlich unseres Artefakts, sich auch auf
Gefilde religiöser und theologischer Kontextualisierungen zu begeben, in die der
Gegenstand selbst, das Tintenfass, mit Dimensionen und in Modi jenseits seiner
unmittelbaren Materialität eingebunden ist. Diese weisen durchaus besondere
Qualitäten ‚geistiger‘ und ‚geistlicher‘ Art auf, um Kategorien zu bemühen, die
eher in christlichen Zusammenhängen gebräuchlich sind. Für das Tintenfass sind
dabei koranische Referenzen von herausragender Bedeutung. Durch sie erhält der
Gegenstand gleichsam in göttlicher Perspektivierung seine besondere Wertigkeit
und wird somit in gewisser Weise ‚heilig‘. Die Auratisierung ist in diesem Zu-
sammenhang also, theologisch gesprochen, gottgewirkt, nicht menschlich ima-
giniert oder dem Objekt selbst a priori inhärent.
Allerdings fällt auf, dass dem Tintenfass selbst, im Vergleich zu Schreibrohr
oder Tinte, im Koran und im ḥadīṯ keine besondere Bedeutung zugesprochen

 Ebd., 134.
 Ebd., 25
36 Klaus Hock

wird; es ist nicht einmal erwähnt, jedenfalls nicht als konkret semantisch fass-
bares Ding (mögliche Bezeichnungen wie dawāh/dawāya, pl. duwīy oder diwīy/
dawayāt oder miḥbara/maḥbara, pl. maḥābir finden sich im Koran nicht), son-
dern nur als metaphorisch gedeutete Größe. Entsprechend repräsentiert es bei-
nahe so etwas wie eine Leerstelle im Prozess der Vermittlung – genauer: des vi-
suellen Festhaltens – des Gotteswortes. In der islamischen Kulturgeschichte
hingegen wird auf das Tintenfass immer wieder verwiesen. So kann es innerhalb
des rechtlichen Kontextes gleichsam zum Symbol verfasster (Amts‐) Macht und
Gesetzesgewalt avancieren. Beispielsweise wird der Sekretär eines für die Auf-
rechterhaltung von Recht und Ordnung im öffentlichen Bereich zuständigen
muḥtasib in umayyadischer Zeit als mit den Insignien von Tintenfass und Papy-
rusrolle ausgestatteter Assistent vorgestellt,²⁵ wobei das Tintenfass selbst an das
Amt des muḥtasib gebunden bleibt;²⁶ oder, um ein Beispiel aus dem politischen
Islam schiitischer Prägung aufzurufen: Der Ayatollah Khomeini vermerkt in einem
seiner Traktate, in denen er die unmittelbarer Vollstreckung des Gesetzes als
Charakteristikum des islamischen Rechtswesens postuliert, es genüge, „dass sich
ein islamischer Richter, begleitet von zwei oder drei Gehilfen, mit Federhalter und
Tintenfass in eine Stadt begibt, um über jeden beliebigen Fall sein Urteil zu
sprechen“²⁷. Neben Sonnenschirm und Schwert gehörte das Tintenfass überdies
zu den Insignien politischer Macht, so beispielsweise in fatimidischem Hofzere-
moniell und ismailitischer Herrschaftstheologie, wobei in diesem Zusammenhang
den korrespondierenden Aspekten inszenierter Sichtbarkeit und geheimnisvoller
Verborgenheit besonderes Gewicht zukommt und insofern auch implizit religiöse
Dimensionen des Tintenfasses mitschwingen.²⁸ Auch unter den Abbasiden und
späteren sunnitischen Dynastien war das Tintenfass als Herrschaftssymbol ge-
bräuchlich und wie bei den Fatimiden in Ägypten entsprechend einem eigenen
Amt, dem Tintenfassträger (dawādār) zugeordnet,²⁹ das Einflüsse aus dem Iran

 Ahmad Ghabin, Ḥisba: Arts and Craft in Islam (Wiesbaden: Harrassowitz, 2009), 42 f.
 Ebd., 48.
 Ayatollah Khomeiny, Principes politiques, philosophiques, sociaux et religieux: Extraits de trois
ouvrages majeurs de l’Ayatollah (Paris: Éd. Libres-Hallier, 1979), 25 f., zit.n. Peter Antes, Der Islam
als politischer Faktor (Hannover: Landeszentrale für politische Bildung, 2001), 16.
 Jenny Rahel Oesterle, „Die Erscheinung des sakralen Imam-Kalifen von Kairo: Inszenierte
Sichtbarkeit und Verborgenheit im fatimidischen Hofzeremoniell und in der ismailitischen
Herrschaftstheologie“, Frühmittelalterliche Studien 44 (1) (2010): 175 – 186.
 Ayalon, D., „Dawādār“, Encyclopaedia of Islam, Second Edition (online abrufbar unter http://
dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_1740, Lesedatum: 01.12. 2021). Unter den Mamluken
avancierte das Amt sogar zu dem eines „Großkanzlers“ (dawādār kabīr) – s. Henning Sievert, Der
Herrscherwechsel im Mamlukensultanat (Berlin: Klaus Schwarz Verlag, 2003) –, verlor aber später
an Bedeutung.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 37

vermuten lässt.³⁰ In der Literatur war und ist das Tintenfass ebenfalls immer
wieder ein beliebtes Motiv und kann dabei dann selbst zu einer literarischen
Metapher werden – sowie mittels dieser Methaphorizität beispielhaft weiterver-
weisen auf die Dimension des Flüchtigen, wie es sich in Duft, Aroma, Geruch oder
Parfum ‚materialisiert‘: Der „Moschus im Tintenfass“³¹ verbindet Sinnlichkeit und
Transzendenz und führt so wiederum direkt zurück zur Quelle dieser Metaphorik,
dem Koran.³²
Auf diesem Umweg sind wir also abermals bei der Frage nach den korani-
schen Referenzen auf das Tintenfass angelangt, die es, wie oben bereits skizziert,
nicht nur als „Leerstelle“, sondern im Grunde als allem entzogen, als Absenz
markieren. Aber vielleicht liegt der Clou darin, dass es gerade durch diesen Ent-
zug mit enormer Bedeutung aufgeladen, diese selbst jedoch verdeckt wird?
Eines der großen Rätsel in der traditionellen islamischen wie der modernen
islamwissenschaftlichen Koraninterpretation ist die Frage nach der Bedeutung
der sog. „geheimnisvollen Buchstaben“, die einer Reihe von Suren, genau: 29 an
der Zahl, vorangestellt sind. Der früheste Korantext, in dem sich eine solche
Markierung findet, ist Su. 68: Nach der üblicherweise (mit Ausnahme von Sure 9)
vorangestellten Formel der basmala („Im Namen Gottes, des barmherzigen Er-
barmers!“) folgt der Buchstabe ‫[ ﻥ‬nūn]. Neben den vielfältigen Deutungsversu-
chen der klassischen Islamgelehrten hat insbesondere die graphische Form des
arabischen Buchstabens schon recht früh in der islamischen Koranexegese auch
solche Interpretationen inspiriert, die sich hier von der visuellen Assoziation
leiten lassen: Die bauchige Form des Buchstabens erinnert nämlich an ein Tin-
tenfass.³³ Diese gedankliche Verknüpfung wiederum ist insofern nachvollziehbar,
als die gesamte Sure mit al-qalam überschrieben ist – „Das Schreibrohr“ – und
mit einer Schwurformel einsetzt – „Beim Schreibrohr und dem, was man nie-
derschreibt!“ –, die ihrer Gattung nach an typische Spruchformen angelehnt ist,
wie sie von altarabischen, vorislamischen Sehern überliefert sind. Auch hier be-
steht also eine assoziative Verknüpfung zum Visuellen, allerdings in einem das
Alltägliche übersteigenden Modus des visuellen Wahrnehmens, des ‚Gesichtes‘.

 Siehe hierzu auch https://iranicaonline.org/articles/dawatdar, Lesedatum: 04.12. 2021.


 Kai Borrmann, Moschus im Tintenfaß: Düfte in der islamischen Literatur (Würzburg: Ergon,
2004).
 Siehe den kursorischen Kommentar zu Su. 83:22– 28, insb. v. 26: Moschus ist im Zusam-
menhang koranischer Paradiesbeschreibungen das Siegel des Weines, den die Rechtschaffenen
bzw. die Gott Nahestehenden genießen werden (online abrufbar unter https://corpuscoranicum.
de/kommentar/index/sure/83/vers/6, Lesedatum: 04.12. 2021).
 Hierzu und zum Folgenden s. die Ausführungen in Ḥusain Naṣr u. a. (Hg.), The Study Quran: A
New Translation and Commentary (New York: Harper Collins, 2015), insb. 2560 – 2563.
38 Klaus Hock

Mystische Deutungsversuche bemühen noch weitere Assoziationen: Nūn ist


das arabische Wort für „Fisch“,³⁴ genauer „Walfisch“ – und von da ist es nur ein
winziger Gedankenschritt zu jener Gestalt, die im Koran ab der mittel-
mekkanischen Phase als „der mit dem Fisch“ (ḏūʾn-nūn) angesprochen wird – und
danach mit seinem Namen Yūnus, der uns als Jona bekannt ist. Tatsächlich ver-
weist Vers 48 derselben Sure auf Jona, allerdings hier noch mit seinem Beinamen
ṣāḥib al-ḥūt, ebenfalls „der mit dem Fisch“. Entsprechend gilt das nūn auch als
Symbol des Schutzes, den Gott dem vom Fisch verschlungenen und auf wun-
dersame Weise erretteten Jona gewährt hat.³⁵ Der Konnex von Tintenfass, Fisch
und Jona ließe sich noch weiter strapazieren und eröffnet sowohl in inter-
textueller als auch interreligiöser Hinsicht vielfältige Perspektiven.³⁶ Die my-
stischen Deutungen kennen daneben noch weitere Verknüpfungen, so etwa die
Anspielung des Buchstabens nūn auf jene göttlichen „Namen“, in denen er auf-
taucht – so beispielsweise am Ende von ar-rahmān (der Barmherzige), am Anfang
von an-nūr (das Licht) –, als Referenz auf Gott als naṣr al-muʾminīn („Helfer der
Gläubigen“, siehe Su. 30:47) oder als Hinweis auf einen besonderen Bezug zur
(himmlischen?) Schreibtafel in einem dem Propheten Muhammad zuge-
sprochenen ḥadīṯ: „nūn ist eine Tafel aus Licht“.³⁷
Grundsätzlich lässt sich jedoch feststellen, dass in der Koranexegese stets die
Verknüpfung von Tintenfass und Schreibrohr im Vordergrund stand und steht,
und zwar auf zwei Ebenen: einer, die eher auf die Kulturtechnik des Schreibens
abhebt, und einer, die auf die religiöse Bedeutung des Schreibgeräts abzielt und
entsprechend dessen transzendente Dimension in den Vordergrund rückt; es gehe
um ein „himmlisches“ Schreibrohr. Letztere Interpretation stellt einen Zusam-
menhang mit Sure 96 her, die in vielen traditionellen Deutungen als erste of-
fenbarte Sure galt, und bringt die dort in den Versen 3 bis 5 vorfindlichen Bezüge
auf das Schreibrohr („Trag vor! Dein Herr ist der Großmütige, der mit dem
Schreibrohr lehrt, den Menschen lehrt, was er nicht wusste!“) mit denen in Sure
68 in Verbindung. Aus der damit verknüpften Vorstellung eines präexistenten,
zumindest vor allem anderen geschaffenen himmlischen Schreibrohrs konnten
sich wiederum mit prädestinatorischen Annahmen verknüpfte Auffassungen
ableiten, die postulierten, dass das von diesem Niedergeschriebene von dete-

 Einige Korankommentare stellen einen Bezug zu altarabischen Erzählungen her, nach denen
die Welt auf einem mythischen Fisch ruht; s. ebd., 2562.
 Jean-Louis Michon, „The Quran and Islamic Art“, in ebd., 2990 – 3001, hier 2994.
 Zur Verknüpfung von nūn und Jona siehe Julia Bubenheim, Jona als Schlüssel zu Bibel und
Koran: Intertextuelle Lektüre im katholischen Religionsunterricht (Stuttgart: Kohlhammer, 2022),
142 f. und passim.
 Ḥ. Naṣr u. a. (Hg), The Study Quran, 2563 sowie ebd., 2097 bzgl. raḥmān.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 39

rminatorischer Qualität sei, das himmlische Schriftrohr also festgehalten habe,


was göttlich vorherbestimmt ist. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit den
sog. qadaritischen Schulen, die den freien Willen des Menschen betonten, pole-
misierten jene Schulrichtungen, die eher die göttliche Vorherbestimmung her-
vorhoben, gegen eine ‚profanisierte‘ Deutung des Schreibrohrs, wozu sie unter
anderem entsprechende, dem Propheten zugeschriebene Überlieferungen
bemühten.³⁸ Diese betrafen nicht nur das Schreibrohr, sondern auch das Tin-
tenfass, das so neben dem noch vor aller Schöpfung erschaffenen qalam nun als
zweiter Gegenstand ganz an der Spitze der kosmischen Hierarchie positioniert
wurde – bisweilen in Korrespondenz oder auch als Alternative zu der ebenfalls
mit dem nūn identifizierten, dann häufig als „Tafel aus Licht“ bezeichneten
Schreibtafel.³⁹ Eine ähnliche Interpretation der präexistent-prädestinatorischen
Qualität des Schreibrohrs findet sich auch in der islamischen Metaphysik, wo
qalam als Repräsentation des göttlichen Logos erscheint, der alles ins Leben ruft:
Das Geschriebene begründet die Existenz alles Erschaffenen entsprechend der
vorgesehenen Schöpfungsordnung, und das nūn symbolisiert das Reservoir aller
in der Schöpfung manifestierten Möglichkeiten.⁴⁰
Die stärker am Text selbst orientierte Koranexegese, ob klassisch-islamisch
oder modern-islamwissenschaftlich, hat sich bei ihren Interpretations-
bemühungen in der Regel stärker an der Beobachtung lexikalischer, semantischer
und grammatikalischer Gegebenheiten orientiert. Dabei zeigte sich, dass das nūn
selbst auf eine Vielzahl von Bedeutungen, Siglen, Metaphern, Anwendungen und
Assoziationen referenziert, von denen einige durchaus religiöse Potentiale und
theologische Konnotationen aufweisen. Beispielsweise konnte es auch als Ab-
breviatur für die Fremd- und Eigenbezeichnung christlicher Personen oder des
Christentums generell dienen (naṣrānī, pl. naṣārā, von Nazareth, dem Her-
kunftsort Jesu abgeleitet). Diesbezüglich hat das nūn in jüngster Zeit durch die
Verwendung seitens des sog. „Islamischen Staats“ und durch seine nachfolgende
Verbreitung in den sozialen Netzwerken traurige Bekanntheit erlangt: durch den
IS als Markierung der Häuser christlicher Familien, um diese für Disk-
riminierungs- und Verfolgungsmaßnahmen zu identifizieren, dann aber auch

 Josef van Ess, Zwischen Ḥadīṯ und Theologie: Studien zum Entstehen prädestinatianischer
Überlieferung (Berlin u. a.: de Gruyter, 1975), 77– 79.
 Naghmeh Jahan, Das Konzept des ewigen transzendenten Buches: Erscheinungsformen und
Modifikationen im Alten Orient, Judentum, Christentum und Islam (Baden-Baden: Tectum Verlag,
2020), 313 f.
 Ḥ. Naṣr u. a. (Hg.), The Study Quran, 2562 f.
40 Klaus Hock

durch die davon Betroffenen selbst oder durch ihre Unterstützergruppen als
Symbol des Selbstbewusstseins bzw. der Solidarisierung.⁴¹
Auch wenn die Bedeutung der koranischen Siglen im Allgemeinen und des
der Sure 68 vorangestellten nūn im Besonderen keineswegs abschließend geklärt
ist, legt sich der Bezug zum Tintenfass und zum Walfisch ebenso nahe, wie
wahrscheinlich ist, dass die „geheimnisvollen Buchstaben“ nicht sekundär re-
daktionell hinzugefügt worden sind, sondern integraler, originärer Bestandteil
des jeweiligen Textkorpus waren.⁴² Weiterhin ist bemerkenswert, dass sie jeweils
in einem inhaltlichen Zusammenhang mit nachfolgenden Aussagen stehen, in
denen sie die koranische Offenbarung näher qualifizieren – als Buch (kitāb),Vers,
Lesung… – oder von deren „Herabsendung“ (tanzīl) sprechen. Wenn wir zudem
der erstmals von Theodor Nöldecke geäußerten Beobachtung zustimmen, „es
handele sich um eine Repräsentation des arabischen Alphabets bzw. von
Schriftlichkeit im Allgemeinen – zumal Schreiben und Geschriebenes auch an-
derswo im Koran eng mit dem Thema göttlicher Offenbarung verknüpft werden …,
[würde] die … Korrelation von einleitenden Buchstabenfolgen und sich daran
anschließenden kitāb- bzw. tanzīl-Verweisen … durch diese Assoziation von
Schriftlichkeit und göttlicher Offenbarung plausibel erklärt.“⁴³ Es ist also gar
nicht notwendig, sich auf die Ebene allegorischer Koranexegese, mystischer
Deutung oder metaphysischer Spekulation zu begeben, denn der koranische Text
selbst bildet den Hintergrund für einen solchen „ikonischen Gebrauch von Ein-
zelbuchstaben“ und legt eine Verbindung zwischen Sigle und Tintenfass nahe,
zumal auch und gerade in Su. 68 „Schrift und Geschriebenes eine emblematische
Funktion zu haben [scheinen]“.⁴⁴ Lassen wir uns entsprechend darauf ein, „das
anfängliche nūn als einen ikonischen Repräsentanten von Schriftlichkeit zu ver-
stehen“,⁴⁵ korrespondiert ihm auf der Ebene des materiellen Objekts tatsächlich
das Tintenfass. Dieses wird quasi zum Behältnis wie zur Ermöglichung der
(schriftlichen) Fixierung, genauer: Aktualisierung des Gotteswortes, denn als
‚Exekutivobjekt‘ bleibt es der Dynamik des göttlichen Wortes untergeordnet, re-

 Siehe etwa Judikael Hirel, „Que signifie le symbole ‫ﻥ‬, et pourquoi le partager ?“, Aleteia v.
2. Juni 2015 (online abrufbar unter https://fr.aleteia.org/2015/06/10/irak-‫ﻥ‬-nous-sommes-tous-
des-nazareens/, Lesedatum 04.12. 2021).
 Hierzu und zum Folgenden siehe https://corpuscoranicum.de/kommentar/index/sure/68/
vers/1, Lesedatum: 04.12. 2021, hier Anmerkungen zu 1; diese orientieren sich vornehmlich an den
Vorarbeiten von Angelika Neuwirth, Frühmekkanische Suren: Poetische Prophetie (Berlin: Verlag
der Weltreligionen, 2011).
 Online abrufbar unter https://corpuscoranicum.de/kommentar/index/sure/68/vers/1, Lese-
datum: 04.12. 2021, Anmerkungen zu 1.
 Ebd.
 Ebd., Kursorischer Kommentar zu 1– 16.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 41

präsentiert aber zugleich die Schnittstelle zwischen Schöpfer und Schöpfung,


Transzendenz und Immanenz. Obwohl das Tintenfass die Kommunikation des
Gotteswortes ermöglicht, wird es doch erst durch dieses, metaphorisch gespro-
chen, im umfassenden Sinn ‚animiert‘.
Wenn wir nun die Perspektive umkehren und danach fragen, was das Tin-
tenfass ‚zur Sprache bringt‘, gewinnen der weitere Kontext und das in ihm dy-
namisch interagierende Netzwerk an Bedeutung. Sind diese, wie oben unter der
Überschrift „Neckermann“ skizziert, auf der Ebene einer banalen Alltagspraxis
angesiedelt, bleibt auch das Tintenfass dem Alltäglichen verhaftet und es wird
vornehmlich seine ‚Vernutzung‘ thematisiert. Um diese Ebene zu transzendieren,
bedarf es eines Handlungsvollzugs – einer Praxis, die das Tintenfass selbst ‚zum
Sprechen bringt‘.⁴⁶
In diesem Zusammenhang kann das bereits oben angeführte Beispiel der
Lampe im Ritus der Bektashi-Tradition dabei helfen, den Vorgang des Zum-
Sprechen-Bringens genauer zu ‚beleuchten‘ (das Wortspiel sei erlaubt): Die Ver-
wendung einer konkreten Lichtquelle in der rituellen Praxis macht den Gedanken
des göttlichen Lichts insofern fassbar, als die Koranpassage, die sich darauf be-
zieht – der sog. „Lichtvers“ (āyat an-nūr, Su. 24:35, von der die gesamte Sure ihren
Namen ableitet) – mit dem materielle Gegenstand, der Lampe, in Verbindung
gebracht wird. Die Leuchte, einmal entzündet, gibt sinnlich wahrnehmbar Licht
ab, und durch die gleichzeitige Rezitation der entsprechenden Passage aus dem
Koran wird die Assoziation zum göttlichen Licht aktiviert bzw. aktualisiert und im
doppelten Sinne realisiert, d. h. verwirklicht und wahrgenommen: „Das Bektashi-
Ritual … verwendet den Lichtvers weiterhin als Vehikel, um das abwesende
[göttliche; K.H.] Licht zu erfassen, aber indem es die bildliche Vorstellung auf eine
materielle, sinnlich wahrnehmbare Lampe und den natürlichen Vorgang des
Leuchtens gründet, vergegenwärtigt es das Licht in einer tieferen Dimension: in
einer, die mit dem Auge wahrgenommen werden kann.“⁴⁷
So, wie die Lampe durch rituelle Performanz zu einem Medium mutiert, in der
sich das göttliche Licht manifestiert, wird auch das Tintenfass als konkretes,
materielles Objekt in seinem Gebrauch beim Aufzeichnen des göttlichen Wortes
zur Schnittstelle zwischen Gotteswort und Manifestation des Gotteswortes in der
Heiligen Schrift, zwischen Schöpfer und Schöpfung, Transzendenz und Imma-

 Zwischen alltäglicher ‚Vernutzung‘ und Inkraftsetzung transzendenter Dimensionen gibt es


selbstverständlich allerlei Zwischenstufen. Beispielsweise sind kalligraphische Texte auf Ban-
nern, die bei religiösen Prozessionen getragen werden, anders zu lesen als alltäglich Geschrie-
benes; siehe Richard J.A. McGregor, Islam and the Devotional Object: Seeing Religion in Egypt and
Syria (Cambridge: Cambridge University Press, 2020), 103.
 M. Soileau, What Comes to Light, 124 f. (Übersetzung von mir, K.H.)
42 Klaus Hock

nenz, Gott und Mensch. Jeder Einsatz des Tintenfasses beim Schreiben des Korans
macht es durch diesen performativen Akt ‚lebendig‘, wobei sich eine solche
‚Animation‘ letztlich alleine der Souveränität Gottes verdankt. Der Prozess der
Verschriftlichung des Gotteswortes entspricht so einer (Wieder‐)Inkraftsetzung,
einem (re‐)enactment des nūn in seiner ganzen Fülle, wie bereits oben skizziert.
Dies wiederum kann auf alle Lebensbereiche ausstrahlen, so auch auf die Politik,
wie ebenfalls schon erwähnt. Ähnlich, wie die Gebetskette etwa in west-
afrikanischen⁴⁸ oder die Kopfbedeckung beispielsweise in südasiatischen Kon-
texten⁴⁹ bisweilen zu materiellen Symbolen antikolonialen Widerstands zu
avancieren vermochten, so kann auch das Tintenfass durchaus als politisches
Symbol gelesen werden – nicht zuletzt in Westafrika, wo es im ikonischen En-
semble mit Schreibrohr, Koran, Holztafel, Gebetskette, Gebetsteppich und Was-
serkessel so etwas wie fromme islamische Lebensform in ihrer idealen Form
markiert. Als emblematische Herrschaftsinsigne, wenngleich in konkreten (post‐)
kolonialen Kontexten ihres tatsächlichen Verweischarakters beraubt, bewahrt es
doch die Erinnerung an die Möglichkeit weitreichend selbstbestimmter Hand-
lungsmacht.
Aber bedeutsamer als die Repräsentanz politisch-rechtlicher Autorität ist die
der religiösen agency, für die das Tintenfass nicht nur steht, sondern die es in
Kraft setzt, markiert es doch die Bedingung der Möglichkeit, dass das Gotteswort
nicht nur unmittelbar ‚in Echtzeit‘ sinnlich fassbar ist, wie bei der Rezitation (al-
qurʾān) des Koran, sondern – auf eine größere Zeitdauer hin angelegt – greifbar
bleibt. Das ‚Festhalten‘ des Gotteswortes auch im materiellen Sinne macht den
diesen Vorgang ermöglichenden Gegenstand, das Tintenfass, zu einem han-
delnden ‚Ding‘.

5 Zum Schluss: Verhaltener Einspruch


Mein vermeintlich in so großer Überzeugung vorgetragenes Bemühen, das Tin-
tenfass „zum Sprechen zu bringen“, war und ist von größeren Zweifeln begleitet,
als erkennbar sein mag. Wer oder was hat denn tatsächlich gesprochen?
Die Attraktivität der vielen turns, insbesondere des material turn, für die
Religionsforschung liegt nahe, drängt sich geradezu auf. Der damit ein-
hergehende Hype im Wissenschaftsdiskurs rund um Neuen Animismus, Post-

 Die misbaḥa, auch masbaḥa, die den tasbīḥ, den Lobpreis Gottes, repräsentiert und aktiviert,
weshalb sie deshalb regional bisweilen selbst als tasbīḥ bezeichnet wird; siehe O.M. Kobo, Tashib,
82 sowie zum Folgenden ebd., 93.
 S. Kugle, Caps, 104.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 43

humanismus, Objektorientierte Ontologie oder Agentiellen Realismus etc. tut ein


Übriges.⁵⁰ Die daraus erwachsenden Herausforderungen für Religionswissen-
schaft und (Interkulturelle) Theologie im Allgemeinen wie für die fach-
disziplinären methodologischen und epistemologischen Positionierungen im
Besonderen sind exorbitant, um es zurückhaltend zu formulieren. In diesem
Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Skepsis gegenüber den Voraus-
setzungen und Konsequenzen der radikalen Hinwendung zum Objekt und dem
Versprechen der Aufhebung des traditionell ‚westlichen‘ Subjekt-Objekt-Dua-
lismus schon seit geraumer Zeit den Optimismus, die Dinge zum Sprechen zu
bringen, begleitet hat.⁵¹ Unbehagen erzeugt in diesem Zusammenhang nicht nur
der Gedanke, dass im Zuge der den Objekten zugeschriebenen Handlungsmacht
diese eine Hegemonialität und ‚Souveränität‘ entfalten und damit einen Rahmen
setzen, in dem das Subjekt neben die Gegenstände bzw. sogar unter ihnen ein-
geordnet würde. Im Ergebnis wäre das Subjekt nur noch eine „Leerstelle“ oder ein
„Nichts“, „der leere Signifikant ohne Signifikat, der das Subjekt repräsentiert. …
Durch diesen Signifikanten wird das Subjekt nicht einfach in dessen Netzwerk
eingebaut; vielmehr wird gerade sein Ausschluss (signalisiert durch die Tatsache,
dass es für diesen Signifikanten kein Signifikat gibt) darin ‚inkludiert‘, wird da-
durch markiert, registriert.“⁵² Unbehagen erzeugt jedoch auch ein möglicher
komplementärer Effekt, dass nämlich die Konzentration auf die Dinge das Subjekt
eskamotiert, dadurch jedoch zum Umkippen in einen ebenso radikalen wie ka-
schierten Subjektivismus führt. Beispielsweise droht es in der Objektorientierten
Ontologie – durchaus auch in einem gewissen Widerspruch zu anderen Formen
posthumanistischer Theoriebildungen – aufgrund des erklärten Ziels, den Sub-
jekt-Objekt-Dualismus final aufzubrechen, zu einer solchen Umkehrung zu
kommen. Der Anspruch besteht darin, bei der Auseinandersetzung mit den Ob-
jekten zu deren eigenen Bedingungen bzw. in ihrer eigenen ‚Begrifflichkeit‘ das
freizulegen, was jenseits rationaler Wahrnehmung, gegenstandsbezogenen Wis-
sens, subjektiven Erkenntnisvermögens und menschlicher Verfügungsgewalt
liegt.⁵³ Damit verbindet sich eine Art Anthropomorphismus der Dinge – ein bi-

 Von der Faszination dieser Entwürfe bin durchaus ich selbst erfasst; vgl. Klaus Hock, „Ani-
mismen: Seele als Relationsbegriff“, Berliner Theologische Zeitschrift 34 (2) (2017): 76 – 96, hier 92
und passim.
 Auch in der Semiotik, wo Roland Barthes einen gewissen Kontrapunkt zu Ferdinand de
Saussure gesetzt hat, indem er unter anderem die Verflechtung der Objekte in weitere Kontexte
hervorhebt.
 Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts (Berlin: Suhrkamp, 2010), 154 f.
 Siehe hierzu Thomas Lemke, „Materialism without Matter: The Recurrence of Subjectivism in
Object-oriented Ontology“, Distinktion: Journal of Social Theory 18 (2) (2017): 133 – 152 sowie
44 Klaus Hock

zarrer Realismus,⁵⁴ dessen theoretische Schubumkehr beim Entwurf eines


„Neuen Materialismus“ die Gefahren eines Schubrückschlags oder weiter-
gehender Kollateralschäden noch zu wenig mitbedacht hat – beispielsweise in
Gestalt einer erneuten Wende, einer Rückwendung zum Essentialismus⁵⁵ –, oder
ein mit der letztlich anthropozentrisch verfassten Anthropomorphisierung der
Objekte einhergehender epistemischer Kolonialismus gegenüber den Dingen der
materiellen Umwelt.
Selbstverständlich nicht alle, aber eine Reihe der gegenüber theoretischen
Neuansätzen rund um den material turn vorgebrachten Monita sind durchaus
bedenkenswert.⁵⁶ Herauszuheben wäre in diesem Zusammenhang neben den
eben erwähnten Einwürfen etwa die Kritik an der fehlenden Berücksichtigung der
Situiertheit, Kontextualität und Relationalität der Objekte im Zusammenhang mit
einer häufig damit einhergehenden Elimination des ‚menschlichen Objekts‘ (um
den Begriff des Subjekts zu umgehen) und seiner Handlungsmacht/agency. Als
weitere Punkte wären unter anderem Probleme zu benennen wie die, dass die
vieldimensionale Komplexität der Mensch-Objekt-Beziehungen oftmals etwas
simplifiziert wird, dass Koinzidenzen in der Ordnung der Dinge nicht als solche,
sondern als quasi intentionale Botschaften interpretiert werden, oder dass dieser
Interpretationsvorgang selbst nicht als diskursiv-wissenschaftliches Produkt bei
der Deutung eines mehr oder weniger kontingenten Nebeneinanders der Gegen-
stände in den Blick kommt, sondern als im Objektensemble (vor)gegebene In-
formation erscheint. Nicht zuletzt drohen in der Interaktion zwischen Mensch und
Ding die mit Wahrnehmung und Interpretation notwendigerweise ein-
hergehenden Widersprüche und Mehrdeutigkeiten ausgeblendet zu werden.
Nein, die Dinge selbst können nicht sprechen, die Bedeutung der Gegen-
stände vermittelt sich jedenfalls nicht per se sprachlich. Bestenfalls können sie
zur Sprache gebracht werden – das aber nicht ‚aus sich selbst heraus‘, sondern
durch die sprachlich vermittelte Deutung derer, die selbst ‚sprechen‘ können, was
nur ‚menschlichen Objekten‘ beizumessen ist. Was heißt das aber nun für ‚unser‘
Tintenfass? Das hier verwendete Possessivpronomen ist verräterisch – oder, po-

ausführlicher entfaltet in Ders., The Government of Things: Foucault and the New Materialisms
(New York: New York University Press, 2021).
 Graham Harman, Weird Realism: Lovecraft and Philosophy (Washington: Zero Books, 2012)
Das Konzept des „weird realism“, das Harman auch anderweitig entfaltet hat, ist in der Tat auf-
grund der Fixierung auf eine nur spekulativ zu erfassende hermetische Autonomie der Dinge mit
der (Selbst‐)Bezeichnung „bizarrer Realismus“, recht treffend charakterisiert.
 T. Lemke, Government, 30 ff.
 Hierzu und zum Folgenden siehe insb. Hans Peter Hahn, „Gibt es eine Sprache der Dinge?“
(zur Veröffentlichung vorgesehen in Berliner Theologische Zeitschrift 2022).
Der Kosmos aus dem Tintenfass 45

sitiv gewendet, entlarvend und erhellend. ‚Wir‘ bringen es zum Sprechen, und
zwar in der Vielfalt der Kontexte, in denen wir das Tintenfass und damit auch
seine Bedeutung als widerständig und ambivalent wahrnehmen. Zwischen
‚Neckermanns‘ Tintenfass und dem Tintenfass des nūn liegen Welten, und wenn
Letzteres auf das Universum des göttlichen Wortes verweist, dann Ersteres auf das
Universum kapitalistischer Verwertungslogik – aber nur dadurch, dass wir es je in
bestimmte Kontexte und Relationen einstellen und so auf die jeweiligen Univer-
sen verweisen lassen. In dieser Hinsicht können wir tatsächlich im Sinne eines
‚realistischen Materialismus‘ vom „Kosmos aus dem Tintenfass“ sprechen.
Eckart Reinmuth
Becher, Kreuz und Brot
Notizen zur ‚Performanz der Dinge‘ im 1. Korintherbrief

Das Stichwort ‚Performativität‘ verbindet mich mit Thomas Klie seit Beginn seiner
Professur an der Rostocker Theologischen Fakultät, sei es im gemeinsam ge-
gründeten Förderverein „Theophil“, sei es im Institut für Text und Kultur, das wir
2008 ins Leben gerufen haben,¹ sei es beim gemeinsamen Nachdenken in der
Vorphase des Graduiertenkollegs „Deutungsmacht“² oder in der Diskussion um
einen performativen Religionsunterricht.³ Wir haben öffentliche Lesungen ver-
schiedener Bibelübersetzungen in der Universitätsbuchhandlung abgehalten
oder uns den „heiligen Dingen“ mit der Ausstellung „sacra“ in der Universitäts-
kirche (2010) zugewandt.⁴ Ich denke gern und dankbar an diese bewegte und
inspirierende Zeit.
Gemeinsam gestaltete, erlebte und reflektierte Performativität macht es
leichter, über ihre theoretischen Aspekte im Gespräch zu bleiben. Mein Beitrag
wird das Ziel verfolgen, performative Momente von Materialität im ersten Korin-
therbrief aufzuspüren und nach ihrer Bedeutung in der Kommunikation des
Paulus mit der korinthischen Gemeinde zu fragen. Dieser Rückfrage ist das Ziel
gesetzt, die „Dinge“, auf die Paulus sich bezieht, in praktisch-theologischer und
religionspädagogischer Hinsicht so zu erschließen, dass heutiges Denken und
Fragen mit ihnen in einen produktiven Dialog treten kann.

1 Einführung
Im ersten Korintherbrief, einem der grundlegenden Texte des frühen Christen-
tums, wird die Geschichte Jesu Christi als Geschichte des Gottes Israels verstan-

 Online abrufbar unter https://www.theologie.uni-rostock.de/en/institute/institut-fuer-text-


und-kultur/, Lesedatum: 03.11. 2021.
 Online abrufbar unter https://www.theologie.uni-rostock.de/forschung/forschungsprojekte/
graduiertenkolleg-deutungsmacht/, Lesedatum: 08.11. 2021.
 Vgl. Eckart Reinmuth, „Performative Religionspä dagogik und Neues Testament: Ein herme-
neutischer Einwurf“, Loccumer Impulse 3 (2011): 59 – 70.
 Thomas Klie, „Öffentlichkeit riskieren – Theologie ausspielen: Eine kurze Geschichte akade-
mischer Inszenierungen des Evangeliums in der Hansestadt Rostock“, in Neutestamentliche
Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung: Studien im Anschluss an Eckart Reinmuth, hg.v.
Stefan Alkier und Christfried Böttrich (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2017), 205 – 217.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-004
48 Eckart Reinmuth

den. Auf eindrückliche Weise wird das in der Interpretation des Herrenmahls
gezeigt, die von Paulus ihrerseits als Interpretation des Kreuzestodes des aufer-
weckten Christus mit den Christusanhängern in Korinth kommuniziert wird.
Dieser Beitrag soll zeigen, wie die Dinge, die beim Abendmahl eine entscheidende
Rolle spielen – gemeint sind das Brot, der Becher mit Wein und der Kreuzestod
Christi als ihre Bezugsgröße –, in diesem Interpretationsprozess performativ
aufgeladen werden.
Auf der Suche nach einer „Performanz der Dinge“ bzw. einer „Performanz der
Materialität“⁵, mit der es deutlicher gelingt, die Bedeutung „nichtsprachliche[r]
Performativität für die Herstellung von Wirklichkeit“⁶ zu erfassen, fallen bei einer
Relektüre des ersten Korintherbriefs zunächst drei Texte ins Auge. Da ist zum
einen die Unterscheidung zwischen einem Einzelorgan wie dem Magen und dem
Körper (soma) als personaler Existenzweise, klassisch also zwischen „Bauch“ und
„Leib“, die Paulus im Zuge seiner sexualethischen Argumentation trifft (1 Kor
6,12– 20): Die sexuelle Gemeinschaft ist vom Stillen des Hungers zu unterschei-
den. Das einzelne Organ wird vergehen, es unterliegt wie alles Vergehende der
Vergänglichkeit. Dem Körper jedoch und damit dem Menschen als Person vor Gott
gilt dessen auferweckendes Handeln. Das performative Moment in dieser Passage
steckt in der abstrahierenden Rede von einem Organ, das in sexualethischer
Absicht vom Körpersein des Menschen getrennt wird. Hier lassen sich praktisch-
theologische und religionspädagogische Anschlussfragen entwickeln, die nicht
nur für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körpersein und der eigenen
Sexualität, sondern auch mit dem fraglichen Objektstatus des Körpers oder ein-
zelner Organe in Diskursen der künstlichen Intelligenz (KI) oder der Intensiv-
medizin unerwartete Aufschlüsse erbringen können.
Zum anderen hat solches Fleisch, das ursprünglich als Opferfleisch für
Gottheiten vorgesehen war, verderbliche Wirkungen, wenn es als ihnen zugehö-
riges verzehrt wird (1 Kor 8.10). Das „Götzenopferfleisch“ ist „nichts“, deshalb
kann man es genießen ohne Skrupel, denn die Gottheiten sind nichtig. Was aber
bedeutet in diesem Zusammenhang die offenbar konzedierende Feststellung,
dass es allerdings „Götter und Herren“ tatsächlich gibt (1 Kor 8,8)? Das perfor-
mative Moment ist hier in der spezifischen Frage nach der Wirklichkeit der Götter

 Vgl. einführend Arnd-Michael Nohl, Pädagogik der Dinge (Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klink-
hardt, 2011); Jörg Zirfas und Leopold Klepacki, „Die Performativität der Dinge: Pädagogische
Reflexionen über Bildung und Design“, in Mensch und Ding: Die Materialität pädagogischer
Prozesse, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 25, hg.v. Arnd-Michael Nohl und Christoph Wulf
(Wiesbaden: Springer VS, 2013), 43 – 57.
 Arnd-Michael Nohl und Christoph Wulf, „Die Materialität pädagogischer Prozesse zwischen
Mensch und Ding“, in Mensch und Ding, hg.v. A.-M. Nohl und Chr. Wulf, 1– 13, 4.
Becher, Kreuz und Brot 49

und ihrer Wirkmacht im zu verzehrenden Fleisch zu sehen; ihre Macht gilt als
eindeutig gebrochen, und doch gewinnen sie diese in dem Maße, wie sie ihnen
zugebilligt wird. Religionspädagogische Anschlussfragen liegen auf der Hand:
Wie halten wir es mit der Wirklichkeit solcher Mächte, denen wir Gewalt über uns
zubilligen (vgl. 10,20 f.)?
Und, um ein drittes Beispiel zu nennen, die Frage der Kopfbedeckung spielt
zu Beginn des elften Kapitels eine entscheidende Rolle. Konkret geht es um die
Frage, ob ich als Frau mit unverhülltem Kopf oder als Mann mit verhülltem Kopf
bete (1 Kor 11,4 ff). Auch an dieser Stelle spielt für die Performativität der Dinge, in
diesem Fall des Haupthaars oder der Kopfbedeckung, der Verweis auf jenseitige
Mächte die ausschlaggebende Rolle (vgl. v10). Gen 6,2 und seine Rezeptionsge-
schichte im antiken Judentum⁷ erinnern daran, dass nicht nur die „Natur“ (v14),
Anstand und Sitte (v13.15), die übergemeindliche Praxis (v16) oder das biblische
Narrativ der geschöpflichen Abfolge von Mann und Frau (v7– 9), sondern auch die
unsichtbare Präsenz der Engel (vgl. 6,3) zu den Faktoren gehört, die das Haupt-
haar bzw. die Kopfbedeckung performativ aufladen. Auch hier lohnen sich
praktisch-theologische und religionspädagogische Anschlussfragen. Denn das
eigene Aussehen, das Design meines Auftretens, meiner Kleidung, meiner Kör-
perlichkeit, hat für meine figurierte Identität⁸ entscheidende Bedeutung und ist
nicht lediglich eine Sache funktioneller Sachdienlichkeit. Überdies können ent-
sprechende Reflexionsgänge mit Schülerinnen und Schülern intratextuell in Re-
lation zu der Aussage in v11 gebracht werden, mit der die additive Argumentation
des Passus überboten wird: In der Beziehung zur Geschichte Jesu Christi werden
all diese Hinsichten, also eben auch die Performativität der Designs der eigenen
Person, überholt, denn in dieser Beziehung gilt die soziale, sexualethische und
existentielle Aufeinander-Gewiesenheit der Geschlechter und sexuellen Orien-
tierungen.
Im ersten Korintherbrief liegt die Performanz der Materialität, sei es des
Magens oder der körperlichen wie personalen Dimension der Sexualität, einer

 Vgl. z. B. äthHen 6 f.; 19,1; Jub 4,21 f.; 5,1; syrBar 56,10 – 12; TestRub 5.
 Vgl. dazu Rainer Leschke, „Die Figur als mediale Form“, in Formen der Figur: Figurenkonzepte in
Kü nsten und Medien, hg.v. Rainer Leschke und Henriette Heidbrink (Konstanz: UVK, 2010),
29 – 49; Philipp Stoellger, „Anthropologie der Figuration: Konfigurationen von Mensch und Me-
dium zwischen De- und Transformation“, in Figurationen des Menschen: Studien zur Medienan-
thropologie, hg.v. Philipp Stoellger (Würzburg: Königshausen und Neumann, 2019), 251– 299;
Eckart Reinmuth, „Macht und Ohnmacht: Zur Performativität ethischer Kommunikation im Ga-
laterbrief“, in Paulus und seine Gemeinden: Die Wechselwirkung zwischen Idealbildern und Rea-
litäten in den authentischen Paulusbriefen, ABG 66, hg.v. Felix John und Christian Wetz (Leipzig:
Evangelische Verlagsanstalt, 2021), 173 – 191.
50 Eckart Reinmuth

Mahlzeit oder des Verzichts auf diese, einer Kopfbedeckung oder des Haupthaars
sinnfällig vor Augen. Paulus bietet in diesen drei Fällen einiges an argumentati-
vem Gewicht auf, um seine Auffassungen zu untermauern. Die Frage der Ge-
wichtung der Argumente ist verwirrend und widersprüchlich. Mit Blick auf die
„Performanz der Materialität“ ergeben sich vielfältige Anknüpfungspunkte, die
die uns fremde antike Welt des Paulus und ihre Enzyklopädie so erhellen können,
dass dialogische Beziehungen zu seinen Texten befördert werden können.
Überdies ist die mediale Funktion der Dinge zu beachten. Sie gilt nicht nur mit
Blick auf das Brot oder den Becher, die im Zusammenhang des Herrenmahls die
entscheidende Rolle spielen (s.u.), sondern auch für jedes der drei genannten
Beispiele. Sie illustrieren den medialen Charakter der Dinge, deren Diskurse
konstitutiv für die Beziehungen in der Gemeinde und des Autors Paulus mit der
Adressatengemeinde sind.⁹
Vor diesem diskursiven Hintergrund ist nun mit Blick auf den ersten Korin-
therbrief zu fragen, wieso der Gegenstand Stauros „entleert“ werden kann, wenn
es sich doch lediglich um ein Hinrichtungsinstrument handelt (1 Kor 1,17).¹⁰ Wieso
können Becher und Brot die Gemeinschaft „sein“, als die die das Herrenmahl
feiernde Gemeinde sich als „ein Leib“ vergegenständlicht sehen darf (1 Kor 10,16)?
Diese Gemeinde darf sich als „ein Leib“ begreifen, weil sie in der Perspektive des
ersten Korintherbriefes einzig durch das erwählende Schöpferhandeln Gottes
konstituiert wird, wie es sich in der Geschichte Jesu Christi realisiert (1 Kor
1,26 – 31). Hier stoßen wir auf gemeindliche Subjektwerdungsprozesse,¹¹ die im
Zusammenspiel mit der performativen Gegenständlichkeit von Becher und Brot

 Zirfas und Klepacki stellen grundsätzlich fest: „Dinge […] sind Medien, da sie Beziehungen
stiften zwischen dem Menschen und der Welt, zwischen dem Einzelnen und den Mitmenschen
und zwischen sich und sich selbst.“ (J. Zirfas und L. Klepacki, Performativität, 52).
 Der griechische Ausdruck stauros ist – ähnlich wie die lateinische crux, ein „Marterholz zum
anpfählen, hängen, spießen oder kreuzigen“ (s. Karl-Ernst Georges, Ausführliches Lateinisch-
Deutsches Handwörterbuch [Hannover: Hahnsche Buchhandlung, 82010], s.v.) – zunächst eine
neutrale Bezeichnung für einen aufrecht stehenden Pfahl, der als Pfahl zum Aufspießen oder
auch als Palisadenpfahl verwendet werden kann (vgl. Johann Georg Wilhelm Pape, Griechisch-
deutsches Wörterbuch, Bd. II, [Braunschweig: Vieweg & Sohn, 61914] [Neudruck Graz: Akademi-
sche Druck- und Verl.-Anstalt, 1954], s.v.; Hermann Menge und Otto Gü thling, Langenscheidts
Großwörterbuch Altgriechisch: Unter Berü cksichtigung der Etymologie (Berlin u. a.: Langenscheidt,
20
2001), s.v.
 Vgl. dazu Eckart Reinmuth, „Subjekt werden: Zur Konstruktion narrativer Identität bei Paulus,
Johannes und Matthäus“, in ders., Neues Testament, Theologie und Gesellschaft: Hermeneutische
und diskurstheoretische Reflexionen (Stuttgart: Kohlhammer, 2012), 331– 358. Zur Bedeutung
„konjunktiver Transaktionsräume“ für Sozialisations- und Bildungsprozesse vgl. A.-M. Nohl,
Pädagogik, 176 ff.199 ff.
Becher, Kreuz und Brot 51

erfolgen. Im ersten Korintherbrief lassen sich vielfältige materiale Indizien für


Prozesse der kollektiven und individuellen Subjektwerdung ausmachen.¹²

2 Die Elemente des Herrenmahls


Ich gehe diesen Überlegungen mit Blick auf den Herrenmahl-Diskurs in 1 Kor
11,17 ff. nach.
Paulus stellt in 1 Kor 11,20 fest: Wie ihr zusammenkommt, ist das nicht (ouk
estin) das Verzehren des Herrenmahls. Wolfgang Schrage weist zu Recht darauf
hin, es gehe hier um „eine faktische Feststellung und eine Wertung im Sinne der
objektiven Unmöglichkeit: Das Herrenmahl, wie es in Korinth gefeiert wird, ver-
dient diesen Namen nicht, ist nicht das, was es sein soll.“¹³ Paulus unterfüttert
seine Kritik, indem er das, was das Herrenmahl tatsächlich ist, anhand der
Abendmahlsparadosis narrativ entfaltet (1 Kor 11,23 – 26). Dabei fallen die zu-
schreibend identifikatorischen Formulierungen wie „das ist“ (touto estin) in v
24.25 sowie die abschließende Formulierung, was denn faktisch mit der Praxis des
Herrenmahls öffentlich proklamiert wird, auf (v26). Mit der Möglichkeit einer
Praxis, die dem, was das Herrenmahl tatsächlich ist, zuwiderläuft (v27 ff), kehrt
Paulus zu seiner einleitenden Kritik zurück.
Ich paraphrasiere die Einleitung der Herrenmahlparadosis in 1 Kor 11,23:¹⁴ „In
der Nacht, in der der Kyrios Jesus von Gott seinen Feinden überlassen wurde,
nahm er Brot, dankte, brach es und sagte: In diesem Handeln versinnbildlicht
sich mein Todesweg, der sich in Vertretung für euch und euch zugute vollzieht.“
Wenn es wörtlich heißt „dieses ist mein Leib anstatt eurer bzw. in Vertretung für
euch (gegeben)“, dann bezieht sich die Formulierung „dieses ist“ (touto estin)
nicht auf das Brot als Gegenstand oder „Element“, sondern auf das Brechen des

 Dabei spielt die Relation zwischen der körperlich-materialen Realität der angesprochenen
Gemeinde und ihrer imaginären Verfasstheit (vgl. dazu grundlegend Cornelius Castoriades, Ge-
sellschaft als imaginäre Institution: Entwurf einer politischen Philosophie, stw 867 [Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1990] [1984; orig. L’Institution imaginaire de la société, Paris 1975]) die entscheidende
Rolle. Zirfas und Klepacki weisen zu Recht auf das komplexe Relationsverhältnis hin, in dem
„Sinnlichkeit, Reflexivität und Dinge“ stehen und den „Aufbau des selbstbezogenen Verstehens,
Strukturierens und Handelns“ ermöglichen, J. Zirfas und L. Klepacki, Performativität, 47. Zu den
sozialen Komponenten antiker christlicher Glaubenskommunikation vgl. Michael C. McCarthy,
„Modalities of Belief in Ancient Christian Debate“, JECS 17 (4) (2009): 605 – 634.
 Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 11,17 – 14,40), EKK VII/3 (Zürich/
Neukirchen-Vluyn: Benziger und Neukirchener Verlagsgesellschaft, 1999), 22.
 Vgl. zu dieser Paraphrase und zum Folgenden Eckart Reinmuth, „Brot-Brechen und Körper-
Gemeinschaft: Herrenmahl und Gemeinde im ersten Korintherbrief“, ZNT 27 (2011): 46 – 50.
52 Eckart Reinmuth

Brotes. Das Brechen des Brotes versinnbildlicht die gewaltsame und qualvolle
Tötung Jesu. „Mein Leib“ bezieht sich auf den konkreten Körper Jesu, der aus-
geliefert und zerstört wird. Die Übersetzung soma durch „Leib“ lässt kaum
deutlich werden, dass es konkret um einen in den Foltertod gegebenen Körper
geht. Die vergegenwärtigende Erinnerung,¹⁵ von der am Ende des Verses als Ziel
des wiederholenden Handelns der Gemeinde die Rede ist, bezieht sich auf diesen
Erzählinhalt und damit auf den Gesamtkontext der Jesus-Christus-Geschichte.¹⁶
Das Abendmahl vergegenwärtigt den Tod Jesu in den Deuteworten zu Brot
und Wein, die als narrative Abbreviaturen, als zusammenfassende Formulierun-
gen von Erzählkomplexen,¹⁷ für das Ganze der Jesus-Christus-Geschichte stehen.
Die Gemeinschaft der zum Mahl versammelten Gemeinde wird exklusiv von
dorther begründet.
Sieht man in der sozial kommunizierten, „objektiv anerkannte[n] Realität das
Resultat stä ndiger Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Artikula-
tionen,“¹⁸ dann kann man die die Performativität von Becher, Kreuz und Brot
konstituierende Narrativität in ihrer Widersprüchlichkeit herausarbeiten: Der
Vernichtung, dem Vergossen- und Zerbrochenwerden steht der lebendige und
Leben verheißende Christus gegenüber. Die Präsenz des am Kreuz Getöteten im
Mahl bedeutet Rettung und Leben für die Glaubenden. Es ist dieser Antagonis-
mus, der für die Stiftung des kommunizierten Sinns und mit ihr der geglaubten
Identität von Becher, Kreuz und Brot konstitutiv ist.¹⁹
Paulus deutet das Abendmahl als wiederholende Vergegenwärtigung der
performativen Zeichenhandlung Jesu. Das „ihr verlautbart“ (kataggellete) in v26
ist ebenfalls performativ zu verstehen: Für Paulus geht es um die iterative Rea-
lisierung dessen, was die ursprüngliche Zeichenhandlung bedeutete. Dass der
„Tod des Herrn“ (thanatos tou kyriou) zur Darstellung kommt, heißt nicht, dass

 Vgl. zu dieser Wendung Jens Schröter, Das Abendmahl: Frühchristliche Deutungen und Impulse
für die Gegenwart, SBS 210 (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2006), 35 Anm. 50.
 Vgl. Eckart Reinmuth, „Neutestamentliche Wissenschaft – das Politische“ (online abrufbar
unter https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200951/, Lesedatum: 13.10. 2021)
 Eckart Reinmuth, „Allegorese und Intertextualität: Narrative Abbreviaturen der Adam-Ge-
schichte bei Paulus (Röm 1,18 – 28)“, in Die Bibel im Dialog der Schriften: Konzepte intertextueller
Bibellektü re, NET 10, hg.v. Stefan Alkier und Richard B. Hays (Tü bingen: Narr, 2005), 57– 69.
 Joscha Wullweber, „Konturen eines politischen Analyserahmens – Hegemonie, Diskurs und
Antagonismus“, in Diskurs und Hegemonie: Gesellschaftskritische Perspektiven, hg.v. Iris Dzudzek,
Caren Kunze und Joscha Wullweber (Bielefeld: Transcript, 2012), 29 – 58, 40.
 Vgl. Eckart Reinmuth, „Positionen im Konflikt: Neutestamentliche Antagonismen in neuer
Perspektive“, in Antagonismen in neutestamentlichen Schriften: Studien zur Neuformulierung der
„Gegnerfrage“ jenseits des Historismus, Beyond Historicism – New Testament Studies Today 1,
hg.v. Stefan Alkier (Paderborn et al.: Brill und Schöningh, 2021), 45 – 70.
Becher, Kreuz und Brot 53

der Tod des Herrn sich in einem erneuten Opfer ereignet, sondern dass seine
Bedeutung sich im körperlichen Vollzug des Abendmahls realisiert.
Die Drastik der expliziten Körperlichkeit wird im Kontext der hier implizierten
Gottesgeschichte herausgestellt und ist ohne diese nicht verständlich. Beide
‚Geschichten‘ sind nicht in eine immanente gegenüber einer transzendenten zu
abstrahieren. Paulus geht es um das Verständnis der Lebens-Geschichte des Ge-
kreuzigten als Geschichte Gottes. Es geht ihm darum, im Gekreuzigten Gott zu
erkennen.
So, wie das Brechen des Brotes den gewaltsamen Tod Jesu symbolisiert, ist
auch der Becher Sinnbild für die sich an Jesus auswirkende Todesgewalt (11,25).
Auch hier geht es mit dem ‚Blut‘ um den gewaltsamen Tod Jesu; vgl. Röm 3,25; 5,9.
Diese beiden Verweisstellen bestätigen, dass die sich an Jesus stellvertretend
auswirkende Todesgewalt die Glaubenden nicht mehr trifft. Ihnen gilt vielmehr
die Einladung zu dem neuen Bundesschluss Gottes, der sich für sie im Gemein-
schaftsmahl versinnbildlicht.
Alle bisherigen narrativen Wendungen, die sich auf den Kontext der Passi-
onsgeschichte bezogen, werden hier auf den „Tod des Herrn“ fokussiert und mit
dieser komplexen Abbreviatur zusammengefasst. Dabei ist eine ähnliche Vor-
aussetzung zu berücksichtigen, wie sie im Übergang von 1,17 zu 1,18 sichtbar wird:
Mit dem „Kreuz Christi“, das sinnentleert werden kann, ist seine Bedeutung, das
„Wort vom Kreuz“, gemeint. In gleicher Weise ist mit dem „Tod des Herrn“ die
Bedeutung gemeint, die er im Licht des auferweckenden Handelns Gottes erhalten
hat.
Im nachlaufenden Kontext sprechen noch einmal v27.29 in aller Schärfe vom
zum Tode geschundenen Körper des Herrn. v27 wiederholt mit ‚Blut‘ und ‚Körper‘
die beiden bereits verwendeten narrativen Abbreviaturen. Sie verweisen auf den
Maßstab, den die Feier des Herrenmahls an der Passion des Kyrios nehmen soll.
Eine ‚unwürdige‘ Teilnahme, die sich konkret in der praktischen Nichtaufhebung
des sozialen Gefälles in der Gemeinde äußert (vgl. vv17– 22), käme in paulinischer
Perspektive dem Handeln der Feinde Gottes in der Passionsgeschichte gleich.
Paulus macht damit den strengen Bezug geltend, den er zwischen dem Leben
vermittelnden Herrenmahl und dem Tod Jesu Christi sieht. In dieser Perspektive
kommt alles darauf an, die Gestalt des Mahls vom Bezug auf seinen in den Tod
gegebenen Körper bestimmt sein zu lassen (v29).
Insofern geht es mit dem ‚Unterscheiden des Leibes‘ (diakrinein to soma 11,29)
nicht um eine richtige Beurteilung bzw. angemessene Wahrnehmung der Mahl-
elemente, sondern um das Identifizieren der alles überwindenden Lebensmacht
Gottes am gefolterten, dem Tod ausgelieferten Körper Christi. Diese Lebensmacht
Gottes ist zugleich richtende Macht (vgl. nur 1,18; 5,13), die sich auch an denen
auswirkt, die zu eigenem ‚Richten‘ sich selbst gegenüber nicht bereit sind (11,31 f).
54 Eckart Reinmuth

Die einfachen, alltäglichen Gegenstände – das Brot, der Wein – sind die
materialen Bezugspunkte dessen, was in der Kommunikation des Herrenmahls
geschieht. Sie stehen dafür, dass es hier nicht um „bloße Worte“ geht, sondern für
das, was sich ereignet und die neue Wirklichkeit konstituiert. Sie stellen zugleich
eine materiale Brücke her zu dem, was geschehen ist. Sie sind in diesem Sinne
unersetzlich.²⁰

3 Abjektion
Fü r Paulus ist entscheidend, dass Jesus von Nazareth, der ‚Herr der Herrlichkeit‘ (1
Kor 2,8), dem die Gemeinde ihre Praxis des Gemeinschaftsmahls verdankt, zu
Tode gefoltert wurde, und dass es dieser Tod ist, der im gemeinsamen Mahl ver-
gegenwärtigt wird. Paulus betont diesen Umstand, indem er im Zusammenhang
des Herrenmahls nicht nur von Christi Tod (vgl. 1 Kor 11,26), sondern auch von
seinem Blut (vgl. 1 Kor 10,16; 11,25.27) oder Körper (10,16; 11,24.27.29) spricht.
Ein Gekreuzigter ist ein von Gott Verfluchter (Gal 3,13). Er ist in der Perspektive
des kulturellen Wissens, das Paulus mit seinen Adressaten teilt, ein von der Ge-
sellschaft Verworfener, Ausgestoßener, Nichtexistenter. Die Kreuzesstrafe wurde
als mors turpissima, als schändlichster, schimpflichster, hässlichster Tod, als
summum supplicium, als die höchste, kaum zu überbietende Strafe verstanden,
die als äußerste Schändung eines Menschen verstanden wurde. Allein von ihr zu
reden, verbot sich in bestimmten Kreisen von selbst. Es ist deshalb bezeichnend,
dass Paulus am Anfang des ersten Korintherbriefs das „Wort vom Kreuz“, als eine

 Vgl. Luthers Beharren auf dem „hoc est“. Mit einem „hoc significat“ wäre die Substituier-
barkeit dessen, was da etwas darstellen soll, unterstellt. Die lutherische Tradition hat mit ihrem
Festhalten an dem hoc est den Umstand betont, dass in der reinen Materialität des Vollzugs das
Gleichnis sich verwirklicht, ohne dass es gedeutet, in seiner Bedeutung befragt, erklärt, erläutert
werden muss. Franz Rosenzweig (1886 – 1928) stellte 1921 in seinem „Stern der Erlösung“ (Suhr-
kamp, 1988) fest: „Das Gleichnis der Liebe geht als Gleichnis durch die ganze Offenbarung hin-
durch. Es ist das immer wiederkehrende Gleichnis bei den Propheten. Aber es soll eben mehr sein
als Gleichnis. Und das ist es erst, wenn es ohne ein ‚das bedeutet‘, ohne Hinweis also auf das,
dessen Gleichnis es sein soll, auftritt.“ (a.a.O. 221 f.). In der gleichen Zeit, im Herbst 1922, entstand
Franz Kafkas denkwürdiger Text „Von den Gleichnissen“, der in eine vergleichbare Richtung zielt
(veröffentlicht in Franz Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, hg.v. Max Brod und Hans Joa-
chim Schoeps [Berlin: Kiepenheuer, 1931]. Zur Interpretation dieses Textes vgl. Sabine I. Gölz,
„Kafka und die Parabel / das Parabolische: Gibs auf! Von den Gleichnissen und Der Jäger Grac-
chus“, in Kafka-Handbuch, hg.v. Bettina von Jagow und Oliver Jahraus (Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht, 2008), 239 – 249; Oliver Jahraus, „Sich selbst interpretierende Texte: Franz Kafkas
‚Von den Gleichnissen‘“, Poetica 26 (1994): 385 – 408.
Becher, Kreuz und Brot 55

abstoßende und dreiste oder lächerliche Dummheit bezeichnet (moria 1 Kor 1,18).
Es ist ein skandalon, dessen öffentliche Proklamation Verfolgung provoziert (Gal
5,11; 6,12). Stand im Zentrum des frühen Christentums die Geschichte Jesu Christi,
so war es gerade seine Todesart, ein Sklaventod²¹ mit einer eindeutigen politi-
schen Symbolik,²² der diese junge religiöse Bewegung verdächtig machte.²³ Der
sogenannte Philipperhymnus spricht betont von Jesu „Tod am Kreuz“, nachdem
er den Weg des Gottgleichen bis zur Existenz eines Sklaven skizziert hat (Phil
2,7 f.). Beides gehört in sozialhistorischer Hinsicht und mit Blick auf das soziale
wie politische Imaginäre antiker Gesellschaften zusammen. Christus als der, der
Gott gleich war (Phil 2,6), ist indessen in seiner Sklavenexistenz als Mensch er-
kennbar, wie Phil 2,7b in doppelter Weise unterstreicht (er „ward den Menschen
gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt“).
Diese wenigen Beobachtungen sprechen dafür, dass die in antiken Kontexten
kommunizierte Performativität des Gegenstands „Kreuz“ (stauros) nicht lediglich
auf der physischen Grausamkeit des Kreuzestodes beruht. Um den imaginären Ort
in der politischen Symbolik zu benennen, den die antike römische Gesellschaft
der Praxis des Kreuzigens zugewiesen hat, verweise ich auf den von Julia Kristeva
entwickelten Begriff des Abjekts. Kristeva brachte diesen Begriff 1980 in ihrem
Essai sur l’abjection ins Spiel.²⁴ In ursprünglich subjekttheoretischer Hinsicht

 Zur Kreuzigung als servile supplicium vgl. Martin Hengel, „Mors turpissima crucis: Die Kreu-
zigung in der antiken Welt und die ‚Torheit‘ des ‚Wortes vom Kreuz‘“, in Rechtfertigung: FS Ernst
Käsemann, hg.v. Johannes Friedrich, Wolfgang Pöhlmann und Peter Stuhlmacher (Tübingen und
Göttingen: Mohr Siebeck und Vandenhoeck & Ruprecht, 1976), 125 – 184,156 – 164; Heinz-Wolfgang
Kuhn, „Die Kreuzesstrafe während der frühen Kaiserzeit: Ihre Wirklichkeit und Wertung in der
Umwelt des Urchristentums“, in ANRW II: Principat 25/1, hg.v. Hildegard Temporini und Wolfgang
Haase (Berlin/New York: de Gruyter, 1982) 648 – 793, 719 – 723; Martin Hengel, Crucifixion in the
Ancient World and the Folly of the Message of the Cross (Philadelphia: Fortress Press, 51989), 51– 63.
 Vgl. dazu Eckart Reinmuth, „Das Bild Gottes als Politikum: Die Metapher der imago Dei im
frühen Christentum“, in Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes, HUTh 58, hg.v. Philipp
Stoellger und Thomas Klie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011), 257– 274.
 Christian Strecker, „‚Ich schäme mich des Evangeliums nicht …‘ Ehre, Scham und Schuld in
der kulturwissenschaftlichen und neutestamentlichen Forschung“, in Die verborgene Macht der
Scham: Ehre, Scham und Schuld im alten Israel, in seinem Umfeld und in der gegenwärtigen Le-
benswelt, BThSt 173, hg.v. Alexandra Grund-Wittenberg und Ruth Poser (Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht, 2019), 183 – 220, verweist in diesem Zusammenhang auf gegenwärtige Debatten um
Scham- vs. Schuldkulturen mit Blick auf die antike mediterrane Kultur (198 ff). Zur Bezeichnung
der Kreuzesstrafe als Schande im Hebräerbrief vgl. Eckart Reinmuth, „Performativität und Gewalt
im Hebräerbrief“, in Deutungsmacht: Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten,
HUTh 63, hg.v. Philipp Stoellger (Tübingen: Mohr Siebeck, 2014), 187– 204.
 Julia Kristeva, Pouvoirs de l’horreur: Essai sur l’abjection (Paris: Seuil, 21983); dies., Powers of
horror: An essay on abjection (New York: Columbia University Press, 1982).
56 Eckart Reinmuth

beschreibt der Begriff des Abjekts, abgeleitet von lat. abicere (‚wegwerfen‘ oder
‚fallen lassen‘), „die Relation zwischen dem Subjekt und allem, was seinen Wi-
derwillen oder Ekel hervorruft oder es mit seinen Ängsten konfrontiert.“²⁵
Das Abjekt ist in dieser tiefenpsychologischen Perspektive weder Subjekt
noch Objekt. Das Abjekt gilt vielmehr als „das, was jegliche Grenzziehung un-
möglich zu machen droht. Vor allem, weil es dem Subjekt versagt, was ihm Ob-
jekte gewöhnlich liefern: die Möglichkeit, sich mit ihrer Hilfe durch Abgrenzung
oder Aneignung zu definieren. Während das Subjekt den Objekten mit Begehren
begegnet, ist seine Haltung zu den Abjekten durch Ausschließung bestimmt.
Trotzdem kann das Abjekt sich in Objekten verdichten.“²⁶
Im Gefolge Kristevas hat ein Ablösungsprozess vom ursprünglich tiefenpsy-
chologisch motivierten Modell eingesetzt, der die Aufmerksamkeit vom mütter-
lichen Körper und seiner Bedeutung für die Subjektwerdung auf das Abjekt als
subjekt- und gesellschafts-konstitutives Außen richtet, das durch Abjektivie-
rungsprozesse ständig hervorgebracht wird (Judith Butler). In den kultur- und
gesellschaftstheoretischen Diskursen geht es zunehmend darum, das Abjekt bzw.
entsprechende Abjektivierungsprozesse als sozialpsychologische Phänomene zu
begreifen. Gesellschaften verwerfen im Interesse ihrer Stabilität kollektiv sie ge-
fährdende Wirklichkeiten, Phantasien, Verhaltensweisen.²⁷ Das soziale Abjekt
wird zu dem in Gesellschaften radikal Ausgeschlossenen und zugleich als Aus-
geschlossenes in ihnen Präsenten. Seine Ausgrenzung bzw. Verwerfung, die ste-
tigen Abjektionsprozesse also, gelingen nicht vollständig. Vielmehr bricht das
Abjekte immer wieder in die bestehende Ordnung ein und macht sich in Reak-
tionen der Abwehr, des Ekels oder des Abscheus bemerkbar.
Das Kreuz war ein Abjektionsinstrument der antiken römischen Gesellschaft.
Es diente dazu, gerade solche Vergehen, die die kulturell, politisch und sozial
konstruierte Wirklichkeit gefährdeten, unterminierten oder in Frage stellten, auf

 Sylvia Mieszkowski, „Subjekt, Objekt, Abjekt“, in Handbuch Literatur und Materielle Kultur,
hg.v. Susanne Scholz und Ulrike Vedder (Berlin/Boston: de Gruyter, 2018), 99 – 107, 104.
Zum Begriff des Ekels vgl. Winfried Menninghaus, Ekel: Theorie und Geschichte einer starken
Empfindung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999). Das Schlusskapitel des Buches ist dem Stichwort
Abjekt gewidmet und enthält eine kritische Auseinandersetzung mit Kristevas Entwurf (516 – 567).
 S. Mieszkowski, Subjekt, 104 f.
 Mit Martina Biebert und Michael Schetsche lässt sich feststellen: Das Konzept der Abjektion
bietet eine Möglichkeit, „die Entstehung von schwerwiegenden Wirklichkeitskrisen, welche die
Wissensordnung als Ganzes oder doch zumindest einige ihrer zentralen Bestandteile infrage
stellen wü rden, zu vermeiden und damit die Stabilität der Gesellschaftsordnung sicherzustellen.“
(Martina F. Biebert und Michael T. Schetsche, „Theorie kultureller Abjekte: Zum gesellschaftlichen
Umgang mit dauerhaft unintegrierbarem Wissen“, BEHEMOTH: A Journal on Civilisation 9 [2016]:
97– 123, 116).
Becher, Kreuz und Brot 57

sinnfällige Weise gleichsam aus der Welt zu schaffen.²⁸ Wenn permanente Ver-
werfungsprozesse zur Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse gehören, be-
steht ein wesentlicher Beitrag neutestamentlicher Theologie mit Blick auf das
Politische darin, die gesellschaftliche Wahrnehmung des Abjektiven zu unter-
stützen sowie kulturell, gesellschaftlich oder politisch Verworfenes zu identifi-
zieren und sichtbar zu machen. Damit sind erhebliche Konsequenzen für die
theologische Wahrnehmung des Politischen verbunden.
Eine sozialpsychologische Perspektive, die die Kreuzesstrafe als antikes Ab-
jektionsinstrument versteht, lässt den Zusammenhang mit dem Atheismusvor-
wurf gegen die Christen²⁹ deutlicher werden. Sie wurden als die sich selbst aus der
Gesellschaft Ausschließenden und von ihr Ausgeschlossenen, als zu Recht Aus-
gestoßene im Dienste der kulturellen Sicherung der hegemonialen Ordnung der
Welt und der sozialen Wirklichkeit wahrgenommen.³⁰
Antike Gesellschaften wie die römische der Kaiserzeit definierten sich durch
Ausgrenzung des Fremden. So beruhte etwa die Entstehung und Begrü ndung der
antiken Sklaverei auf der Ausgrenzung der Nichtgriechen, der Barbaren. Die
Modelle von Universalität, die in der hellenistisch-römischen Antike entwickelt
wurden, basierten auf einer politischen Anthropologie, die Menschsein so defi-
nierte, dass gesellschaftliche Identitäten durch Grenzziehungen entwickelt wer-

 Vgl. Joel Marcus, „Crucifixion as parodic exaltation“, JBL 125 (2006): 73 – 87. Marcus weist
nach, „that crucifixion was widely understood as parodic enthronement in the ancient world.“
(86). Wichtige Aspekte zur sozialen Symbolik der Kreuzesstrafe einschließlich ihrer Beziehungen
zur antiken Komik hat Laurence Welburn herausgearbeitet: Paul, the fool of Christ: a study of 1
Corinthians 1 – 4 in the comic-philosophic tradition (London: A&C Black, 2005), 129 – 146.
 Vgl. zu diesem Vorwurf Eckart Reinmuth, Paulus. Gott neu denken (Leipzig: Evangelische
Verlagsanstalt, 22018), 154 ff.; Wilhelm Nestle, Art. „Atheismus“, in RAC I, 1950, 866 – 870, 869 f.;
Werner Schäfke, Frühchristlicher Widerstand, ANRW II 23.1 (Berlin: de Gruyter, 1979), 460 – 723,
627– 630; Adolf von Harnack, Der Vorwurf des Atheismus in den drei ersten Jahrhunderten, TU 28
(Leipzig: Hinrichs, 1905).
 Vor genau 50 Jahren erschien Jürgen Moltmanns grundlegende Studie Der gekreuzigte Gott
(München: Kreuz-Verlag, 1972). Moltmann verwies damals eindringlich unter der Kapitelüber-
schrift „Der Widerstand des Kreuzes gegen seine Deutungen“ (34– 44) auf den Zusammenhang
zwischen dem scheußlichen Sklaventod der Kreuzigung, den Jesus gestorben war, und der
„Ausstoßung aus der Gesellschaft“ (36), die denen galt, die in diesem Gekreuzigten den Gott
Israels erkannten (35 ff.). Stefan Alkier hat eindringlich auf die Bedeutung der Materialität des
Kreuzes für den christlichen Glauben hingewiesen: „Das hölzerne Kreuz ist der historische
Haftpunkt christlichen Glaubens, der ihn davor bewahrt, zu einem intellektuellen Gedankenspiel
zu verblassen. Vor der historischen Realität dieser Hinrichtung […] haben alle mythischen,
symbolischen, konstruktivistischen Verflüchtigungen zu schweigen.“ (Stefan Alkier, „Das Kreuz
ist keine Metapher: Hermeneutische, politische und theologische Verpflichtungen der Jesus-
Christus-Geschichte“, in Wissenschaft, hg.v. S. Alkier und Chr. Böttrich, 15 – 34, 18).
58 Eckart Reinmuth

den konnten. Sie wurden mit höchsten Autorisierungen legitimiert, die die Defi-
nition des Anderen, des Fremden, des Nichtmenschen sicherten. Im Prozess des
Ausgrenzens de-finiert sich die ausgrenzende Gruppe; sie bestimmt ihre Grenzen
im Gegenü ber zu anderen Menschen und anderen Welten. Das kann zur unter-
schiedlichen Zuschreibung von Werten fü hren, bei denen die eigene Überlegen-
heit konstruiert wird; ihr steht die Abwertung der anderen gegenü ber. Gerade
diejenigen Werte werden den Ausgegrenzten abgesprochen, auf die man selbst
stolz ist.
Die Geschichte Jesu Christi setzte die Geschichte des Gottes Israels fort und
brach sie zugleich. Ihre Kraft unterschied sich radikal von der imperialen Gewalt,
die auf der politischen Anthropologie der Ausgrenzung basierte. Ihre Adressaten
waren von Beginn an die Ausgegrenzten (vgl. 1 Kor 1,26 ff.), und ihr Inhalt war der
Gott, der durch seine Zuwendung selbst zum Ausgegrenzten wurde (vgl. z. B. Hebr
13,11– 13).³¹
Die begriffliche Rede von einer „Performanz der Dinge“ ist offenkundig an-
fällig für ein magisches oder fetischisierendes Missverständnis.³² Deshalb ist die
narrativ kommunizierte Symbolik eines antiken sozialen Abjektionsmittels wie
der Kreuzesstrafe zu berücksichtigen, die der Autor mit den Adressaten teilt.³³
Paulus geht es um diese Symbolik. Denn das Abscheulichste, was das gesell-
schaftliche und politische Imaginäre der römischen Antike kennt, wird zum Ort
der Gottesgeschichte. Das ist der Kern der Performativität des „Kreuzes“ – nicht
der Performanz eines Hinrichtungspfahles (s.o. Anm. 10), sondern der an diesem
Ort sich ereignenden Geschichte.
In religionspädagogischer Hinsicht kann es gewinnbringend sein, neutesta-
mentliche Kennzeichnungen der Kreuzesstrafe und der Kreuzigung Jesu zusam-
menzustellen, ihren Spannungsreichtum herauszuarbeiten und sie mit weiteren
antiken Bewertungen und Zeugnissen zu kontextualisieren. Die Frage, warum der

 Iris Därmann stellt treffend fest, es gebe ein „Außerhalb der Polis“, das nur für „Götter, Tiere
oder Sklaven vorgesehen“ sei; vgl. dies., Figuren des Politischen, stw 1911 (Berlin: Suhrkamp,
2
2018), 11. Vgl. dazu Hebr 13,13 („Lasst uns hinausgehen aus dem Lager und seine [sc. Jesu]
Schmach tragen“). Es geht um die Hinrichtung des Christus. Sie geschah vor den Toren der Stadt
(vgl. v12); dazu Eckart Reinmuth, „Der Dritte: Eine sozialphilosophische Perspektive auf den
Hebräerbrief“, ZNT 29 (2012): 57– 68. Der Wechsel von ‚Lager‘ (Lev 16,27LXX) zu ‚Tor‘ enthält
offenbar einen Hinweis auf die Passion Jesu (vgl. ähnlich Hans-Friedrich Weiß, Der Brief an die
Hebräer, KEK XIII [Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991], 734); vgl. Mk 15,20//Mt 27,32 f; Joh
19,20 (ein Ort, nahe bei der Stadt). Vgl. die Ortsangabe „außerhalb des Weinbergs“ im Gleichnis
von den bösen Weingärtnern (Mt 21,39//Lk 20,15). Stephanus wurde nach Act 7,58 entsprechend
außerhalb der Stadt gesteinigt.
 Vgl. dazu die einleitenden Überlegungen bei J. Zirfas und L. Klepacki, Performativität, 44.
 Vgl. zu den Voraussetzungen der vorliegenden Überlegungen E. Reinmuth, Bild, 257– 274.
Becher, Kreuz und Brot 59

stauros Christi (1 Kor 1,17) bzw. das „Wort vom Kreuz“ (v18) als Gottes Kraft be-
zeichnet werden kann, wird auf diese Weise geschärft und nicht nur intellektuell,
sondern auch emotional erfahrbar.

4 Fazit
Es sind stets unsere Narrative, die den Dingen ihre eigentümliche Performanz
verleihen. In der Perspektive einer Performanz des Materiellen ist den Dingen nur
in einem abgeleiteten, uneigentlichen Sinn ein performatives Moment zuzu-
schreiben. In der eucharistischen Praxis ist eine magische Aufladung der Dinge zu
vermeiden.³⁴ Das gilt auch hinsichtlich einer einst weit verbreiteten Auslegung der
paulinischen Warnung, das Abendmahl nicht unwürdig zu sich zu nehmen (1 Kor
11,27– 30; s. dazu o.).³⁵ Eine missverstandene „Performanz der Dinge“ kann dazu
führen, dass die „Elemente“ und nicht die narrativ kommunizierte Handlung im
Mittelpunkt stehen.³⁶
Dinge können durchaus „so etwas wie eine narrative Eigenlogik entfalten“;³⁷
jedoch lässt sich von einer „Performanz der Dinge“ nur sprechen, wenn von

 Vgl. die Diskussion bei Hartmut Böhme, „Agency, Performativität und Magie der Dinge“, in
Beseelte Dinge: Design aus Perspektive des Animismus, hg.v. Judith Dörrenbächer und Kerstin
Plüm (Bielefeld: Transcript, 2016), 25 – 49 sowie speziell den Hinweis auf die Performanz der
Waren im Anschluss an Karl Marx (a.a.O. 31), sowie Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, Berei-
cherung: eine Kritik der Ware, stw 2304 (Berlin: Suhrkamp, 2019). Beide Autoren zeigen ein-
drucksvoll die narrative Aufladung der Warenwelt und die Performativität der Wertschöpfungs-
prozesse (vgl. speziell a.a.O. 145 – 201).
 Vgl. aktuell z. B. Detlef Löhde, „Jesu Abendmahl: Der Mensch braucht Brot zum Leben“
(online abrufbar unter https://www.biblisch-lutherisch.de/glaubenskurs-bibl-begriffe/glaubens
kurs-immanuel/jesu-abendmahl/, Lesedatum: 20.08. 2021): „Wer zum Abendmahl kommt und
nicht an Jesus glaubt und auch meint, beim Essen und Trinken handele es sich nur um ganz
normales irdisches Brot und Wein und es bewirke nichts, es sei nicht heilig, sei kein Sakrament,
dem wird es zum Straf-Gericht Gottes (1. Korinther 11, 29).“
In der Sendung „Im Anfang war das Wort“ auf NDR Info kam am Sa., 21.08. 2021, ein ka-
tholischer Militärgeistlicher zu Wort, der von seinem Einsatz in Afghanistan berichtete, bei der ihn
vor einer gefährlichen Patrouille zwei Kameraden um einen Rosenkranz gebeten hätten. Sie
hätten sich als „nicht gläubig“ bezeichnet und auf seine erstaunte Gegenfrage sinngemäß ge-
antwortet, dass sie den Rosenkranz als eine Art Talismann betrachten würden.
 Ich erinnere an die berühmte Formulierung aus der Aeneis, wo von den lacrimae rerum die
Rede ist (Vergil, Aeneis 1,462). Aber die lacrimae rerum sind nicht die Tränen, die die Dinge
weinen. Es ist der kriegserfahrene Aeneas, der unter Tränen über die leidgesättigte Welt spricht
(1,459 ff).
 Vgl. Dorothee Kimmich, „Dinge in Texten“, in Handbuch Literatur und Materielle Kultur, hg.v.
Susanne Scholz und Ulrike Vedder (Berlin/Boston: de Gruyter, 2018), 21– 28, 24.
60 Eckart Reinmuth

Dingen in performativen Zusammenhängen die Rede ist. Dabei ist zuzugestehen,


dass die instrumentelle Funktion der Dinge von symbolischen Bedeutungen
überlagert werden können, die in ihren entsprechenden kulturellen, politischen
und gesellschaftlichen Kontexten realisiert werden.³⁸ Theologische Reflexion
sollte jedoch auch die kulturwissenschaftlich diskutierte Tendenz, „die strikte
Unterscheidung zwischen menschlichen Subjekten und dinghaften Objekten“
aufzugeben, wie sie sich v. a. mit den Vorschlägen und Entwürfen Bruno Latours
verbindet,³⁹ kritisch prüfen.
Die gesellschaftlichen Kontexte, in denen bestimmte symbolische Bedeu-
tungen kommuniziert und realisiert werden, sind nicht zu universalisieren. Die
Konventionen, Übereinkünfte und als selbstverständlich geltenden Bedeutungen
gelten immer nur für Gesellschaften, Kulturen oder Gruppen; jenseits ihrer
Grenzen können sie ihre Bedeutung verkehren, oder sie werden bedeutungslos.⁴⁰
Barbara Stollberg-Rilinger stellt in diesem Sinn fest:

Die Dinge verweisen […] nicht einfach auf eine unabhängig von ihnen existierende Macht,
sondern sie tragen selbst dazu bei, dass soziale Machtstrukturen, Ranghierarchien, Ge-
schlechterrollen usw. erzeugt und stabil gehalten werden. Dadurch, dass sie in Kommuni-
kationszusammenhängen zwischen Menschen zur Geltung gebracht werden, kommt den
Dingen eine ‚soziale Magie‘ zu. Aufgrund ihres gegenständlichen, buchstäblich greifbaren
und sinnfälligen Charakters befördern sie den Glauben an die Objektivität und Unverfüg-
barkeit bestehender Machtverhältnisse.⁴¹

 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Art. „Macht und Dinge“, in Handbuch materielle Kultur: Be-
deutungen, Konzepte, Disziplinen, hg.v. Stefanie Samida et al. (Stuttgart und Weimar: Metzler,
2014), 85 – 88, 85 f.: „Ebenso wie sich instrumentelle und symbolische Dimensionen im
menschlichen Handeln immer miteinander mischen, lassen sich auch Gebrauchswert und
Symbolwert von Dingen kaum voneinander trennen. Durch den Kontext ihres Gebrauchs werden
die Dinge laufend mit Bedeutung aufgeladen und dabei wird umgekehrt ihre Bedeutung ver-
dinglicht und auf Dauer gestellt.“
 Vgl. z. B. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthro-
pologie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998); ders., Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur
Wirklichkeit der Wissenschaft (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000); ders., Eine neue Soziologie für
eine neue Gesellschaft (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007). Vgl. dazu A.-M. Nohl, Pädagogik, a.a.O.
34– 42.
 Ich verweise exemplarisch auf Bedeutung der „Coups“ der nordamerikanischen Crows in
ihren Auseinandersetzungen mit den Sioux und mit der amerikanischen Kavallerie; vgl. die
plastischen Schilderungen und Reflexionen in Jonathan Lear, Radikale Hoffnung: Ethik im An-
gesicht kultureller Zerstörung (Berlin: Suhrkamp, 2020), 32– 64.
 B. Stollberg-Rilinger, Macht, 86 f.
Becher, Kreuz und Brot 61

In der Tat konstituiert sich „die symbolische Macht der Dinge“ dadurch, „dass
Menschen ihnen symbolische, womöglich magisch-sakrale Wirkmacht zuschrei-
ben“.⁴²
Wird mit der „Performanz der Dinge“ ihre soziale Konstitution übersehen
oder unkenntlich gemacht, so wird die individualitätsfixierte Selbstreduktion
gegenwärtiger theologischer Tendenzen und kirchlicher öffentlicher Rede weiter
verstärkt statt überwunden.⁴³ Die „Performanz der Dinge“ verdankt sich den ih-
nen Macht verleihenden Menschen. Dinge, denen Macht verliehen wird, erhalten
einen geborgten Subjektstatus. Die oben gestellten praktisch-theologischen und
religionspädagogischen Anschlussfragen sind gut geeignet, Passagen des ersten
Korintherbriefs mit Blick auf diese komplexe Problematik zu diskutieren.⁴⁴ Mit ihr
sind aktuelle gesellschaftlich-politische und anthropologische Fragen berührt,
die sich exemplarisch mit Blick auf anthropozentrische Projektionen im Diskurs
um künstliche Intelligenz (KI) stellen. In theologischer Perspektive ist die Sub-
jektivität menschlichen Handelns zu reflektieren, die damit anstehende Diffe-
renzierung konstruktiv weiterzuführen und unsere Verantwortung für die Per-
formanz der Materialität zu stärken.

 Ebd. 87 f. Vgl. zur Diskussion dieser Problematik auch J. Zirfas und L. Klepacki, Performati-
vität, 50 ff.
 Rolf Schieder hat mit Blick auf den soziologischen Rechtfertigungsbegriff des französischen
Soziologen Luc Boltanski zu Recht auf „die geradezu fahrlässig individualistische Struktur“ eines
theologischen Rechtfertigungsbegriffs hingewiesen und gefragt, ob „die soziale Dimension von
Rechtfertigungsprozessen nicht intensiver bedacht werden müsste. Die Theologie kann dem
Vorwurf der Verharmlosung sozialer Verhältnisse und einer romantischen Verkennung der Rea-
litäten nur entkommen, wenn sie zeigen kann, dass ihr Rechtfertigungsverständnis dem sozio-
logischen nicht bloss abstrakt widerspricht, sondern dass das Theologische eine Dimension des
Sozialen eröffnet, die dessen Beschreibung präzisiert und seine Kritik ermöglicht.“ (Rolf Schieder,
„Die Dynamik von Rechtfertigungsdiskursen: Ein theologischer Versuch über Luc Boltanskis
Soziologie der Moral“, in Sphärendynamik I. Zur Analyse postsäkularer Gesellschaften, hg.v. Georg
Pfleiderer und Alexander Heit [Zürich: Nomos, 2011], 159 – 234, 172).
 Diese Aufgabe gilt auch in theologischer Hinsicht, also für die Frage, wie von Gott in den
gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontexten in globaler Perspektive zu reden ist. Angesichts der
Gefahr, dass die Karriere einer „Performanz der Dinge“ die traditionell „theistische“ Gottesrede
weiter konservieren und befestigen könnte, erinnere ich erneut an Jürgen Moltmann, Der ge-
kreuzigte Gott (s.o. Anm. 30). Jürgen Moltmann, dessen Buch den Untertitel „Das Kreuz Christi als
Grund und Kritik christlicher Theologie“ trug, stellte fest, „dass der christliche Glaube dem
theistischen Gottesbegriff in seinen philosophischen, politischen und moralischen Spielarten
entgegensteht.“ (a.a.O. 202). Er forderte deshalb, „den Gott des Kreuzes mit allen Konsequenzen
nicht nur im theologischen Bereich, sondern auch im Bereich der Sozialität und der Personalität
des Menschen, im Bereich der Gesellschaft und der Politik und endlich im Bereich der Kosmologie
zu denken.“ (ebd.)
Silke Leonhard
Klarer die Glocken (nie) klingen
Zur Performanz und Resonanz von Glockenklang aus
religionspädagogischer Perspektive

1 Biografische Glockensignaturen
„Wenn die Glocken läuten in den Klöstern, denn is Östern“, so sagt ein alter
Spruch.
Glocken: In Loccum durchtönen sie nicht nur das Kloster und den Campus,
sondern den ganzen Ort. Zum Gottesdienst, vor allem an Sonntagen, läuten
mehrere Glocken. In dem alten Zisterzienserkloster wird seit fast 860 Jahren die
Tradition der Hora im wahrsten Sinne des Wortes eingeläutet: Jeden Abend um
18.00 Uhr läutet eine Glocke auf dem Ton Es – einige Minuten, beständig, wie-
derkehrend. Jeden Abend werde ich auch an meinem Schreibtisch „auf der an-
deren Seite der Fulde“ daran erinnert, dass jetzt Menschen für eine Viertelstunde
diesen Kirchenraum bewohnen, beten, singen. Manchmal läutet dieselbe Glocke
zur Trauerfeier und Beerdigung auf dem Friedhof.
Glocken rahmen auch die Zeit zuhause in meinem Wohnviertel: Wenn abends
um 18.00 Uhr nebenan die Kirchenglocken zu schlagen beginnen, öffne ich die
Fenster und lasse mich mit hineinnehmen in das Abendgeläut. Innehalten vor
dem letzten Tagesviertel, den Tag bis hierher Revue passieren lassen, mich mit
allen anderen in Hoffnung verbinden, das Miteinander der Hoffnungsklänge in
der Welt gemeinsam in Rhythmus und Ritual finden. So klingt und schwingt
Segen.
Dass Glockengeläut das Leben markiert und unterbricht, war schon immer so.
Klingen und Wirken der Kirchenglocken vehement aus einem lebendig-kontex-
tuellen Off heraus die gefühlte Endlosigkeit digitaler Konferenzen unterbrechen,
deren Häufung seit Corona zuweilen eine kaugummiartige zeitliche Dehnung
annimmt, so dass ich sie als durch und durch heilsam erlebe.
Einmal im Jahr ist es für mehr als zwei Tage still. Von Gründonnerstag bis an
die Schwelle von Ostern läuten in vielen Kirchen und Gemeinden die Glocken
nicht – eine Zeit der karfreitäglichen Ruhe und Trauer wird dort als Stille ver-
nehmbar, wo sonst Glockengeläut tönt. Eine Zeit des längeren Nachdenkens, des
An- und Aushaltens im Moratorium des Todes.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-005
64 Silke Leonhard

Aber dann klingen sie wieder: Auferstehungsfreudenklänge, und nach der


Stille finden sie stärker Resonanz denn je. Welch ein Segen. Bei allem, was in den
letzten zwei Jahren und darüber hinaus nicht Klang finden konnte, bei aller un-
gewollten Stille, den abgesagten Konzerten, den vermissten Chorproben, den nur
digital vermittelten Stimmen uns vertrauter Menschen, denen wir nicht leiblich
begegnen konnten: Die Glockenklänge mit ihren je unterschiedlichen, doch zu-
meist regelmäßigen Rhythmen machen Stabilität und Standfestigkeit hörbar. In
vollem Klang mehrerer Glocken kann an Ostern die Hoffnungsfreude über den
Auferstandenen ertönen und das Vertrauen auf die Wiederkehr des Lebendigen
wieder erwachen.
In vielen Dörfern wird gespart: Nur am Samstagabend um 18.00 Uhr erklingt
ein Geläut vom Kirchturm, das nicht unmittelbar auf einen beginnenden Got-
tesdienst hinweist, sondern einen Scheidepunkt der Woche markiert: Zeit für das
Ende der Woche, früher als Kind für die Badewanne, dann das Fernsehprogramm
mit „Daktari“ und der „Hitparade“; heute als klingende Brücke für den Übergang
zum Sonntag – egal wo ich bin und was ich tue, wenn ich denn Glocken irgendwo
höre.
Und wie den meisten Menschen in diesem Land verbinden sich Glocken-
klänge auch für mich mit Erinnerungen an besondere Lebensübergänge und in-
sofern Kasualien wie Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Trauerfeiern und noch
viel mehr.
Über diese liturgischen Glockensignaturen, die biografisch begleiten, schärft
sich die Frage: Was tragen Glocken zur religiösen und liturgischen Bildung bei,
worauf machen sie aufmerksam? Dies soll an unterschiedlichen Annäherungen
im performanz- und resonanztheoretischen und -praktischen Sinn erkundet
werden.

2 Religionskulturelle Streifzüge
Wovon erzählt die Glocke, historisch gesehen? Die Religionsgeschichte der Glocke
ist eine Kulturgeschichte, die in verschiedene gesellschaftliche Bereiche hinein-
reicht.
Da sie in Exodus und in Sirach nur sparsam auf biblische Quellen zeigt, ist ihr
Upcoming erst einige Jahrhunderte später zu verzeichnen. Als Gebimmel am
Obergewand des Hohepriesters symbolisieren neben den Granatäpfeln zwölf
Glöckchen Stämme und Zeiten. In der nachträglichen Deutung werden Verweise
auf Apostel gesehen.
Nach der anfänglichen Ablehnung der Glocken im frühen Christentum mar-
kierten die Klöster – zunächst koptische Köster, dann karolingische – mit den
Klarer die Glocken (nie) klingen 65

Glocken und ihren Schlägen eine Lebensordnung zwischen ora et labora. ¹ Sie
läuteten für die Zeiten des Gebetes und des Gottesdienstes. Damit war eine Aus-
strahlung und Verbindung zwischen profanem und sakralem Raum, zwischen
Menschenzeit und Gotteszeit in das Leben gegeben, denn die Lebenszeit ordnete
sich in Gebet, Arbeit und Muße bzw. Freizeit. Mit den Glocken wurden Gedanken
zu Leben und Tod, Übergängen, Zeit und Ewigkeit hörbar erinnert. Als Glocke der
Verkündigung des Evangeliums nahm sie seitdem all das auch auf: mit Lebens-
erfahrungen von Flucht, Migration und Heimat, Leben und Tod, Krieg und Frie-
den.
Durch gewohnheitsmäßige Rhythmen, Rituale und Regeln wird man hell-
höriger, wenn die Glocke fehlt und ihr Ton nicht erklingt. Fundamental waren
Demontage, Formbruch und gar die quasi tödliche Transformation, als in
Kriegszeiten Glocken aus Bronze eingeschmolzen und zu Kriegsmitteln verbaut
wurden² – ein Schicksal, das sie im 19. Jahrhundert mit Orgelpfeifen aus weichem
Metall wie Zinn teilten.³ Im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg wurden im
Rahmen von Metallsammlungen reichsweit Kirchenglocken erfasst und syste-
matisch eingeschmolzen. Im Ersten Weltkrieg blieben von der durch das König-
liche Kriegsministerium und unter Strafandrohung vorgenommenen Enteignung
nur Glocken für Signalzwecke des Eisenbahn-, Straßenbahn- und Schifffahrts-
Verkehrs sowie der Feuerwehren ausgenommen. Im Zweiten Weltkrieg ging die
Enteignung vor allem vom Reichskonzern Hermann Göring aus. Interessanter-
weise gab es einen sogenannten Glockenfriedhof in Hamburg, auf dem die beiden
Materialkomponenten Kupfer und Zinn getrennt wurden. Ca. 90.000 Glocken
wurden im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten beschlagnahmt; etwa

 Joachim Wanke, „Die Glocke in Religion und Gesellschaft“, in Glocken in Geschichte und Ge-
genwart, Bd. 2, hg.v. Beratungsausschuss für das deutsche Glockenwesen (Karlsruhe: Badenia-
Verlag, 1997), 13.
 „Am 1. März 1917 erschien eine amtliche Bekanntmachung, die Einzelheiten zu Beschlag-
nahmung, Bestandserhebung und Enteignung sowie zur freiwilligen Ablieferung von Glocken aus
Bronze enthielt. Auf Ersuchen des Königlichen Kriegsministeriums und unter Strafandrohung
wurden alle Besitzer von Bronzeglocken enteignet – davon ausgenommen wurden Glocken für
Signalzwecke des Eisenbahn-, Straßenbahn- und Schifffahrts-Verkehrs sowie der Feuerwehren.
Im Laufe des Jahres 1917 wurde begonnen, auch alle Glocken von Kirchen zu erfassen und nach
ihrem historischen Wert zu kategorisieren.“ (ausführlich bei Wikipedia, online abrufbar unter
https://de.wikipedia.org/).
 Vgl. Alfred Reichling und Matthias Reichling, Die Requirierung der Orgel-Prospektpfeifen in
Deutschland während des Ersten Weltkriegs, Acta Organologica 36 (Kassel: Merseburger, 2019),
221– 400. Entschädigt wurde weder während noch nach dem Krieg weder für die beschlag-
nahmten noch für die faktisch eingeschmolzenen Glocken. Manchmal war es den Kirchenge-
meinden möglich, noch nicht verwertete Glocken später wieder zurückzuführen.
66 Silke Leonhard

15.000 waren bei Kriegsende noch nicht eingeschmolzen und konnten nach
aufwändigen Identifizierungen weitestgehend wieder an ihre ursprünglichen Orte
zurückkehren – dies nach einer Qualitätsklassifizierung.⁴ Für die Vernichtung von
kulturellen Gütern erfolgte keinerlei Entschädigung. Ein Herz aus Stahl; es waren
die Stahlglocken, die aufgrund ihrer harten Materialität Glück hatten und am
Leben erhalten blieben.
Gesellschaftlich kamen und kommen Glocken in kirchlichen und politischen
Brisanzsituationen zum Einsatz: Verkündigungen von Freiheit, von neuem Jahr,
von Trauer – die Ambivalenz bleibt. Jede Menge Glockenbrauchtum schafft
Schellen und Übertragungen von religiösen in säkulare gesellschaftliche Bereiche
– sei es die Morgenglocke, die den Tag angekündigt und bis zur Abendglocke
offenes Feuer erlaubt hat; sei es die Schiffsglocke, welche die Rhythmen der
Wachen angibt in einem ganz anderen Rhythmus als Kirchenglocken. Versamm-
lungsglocken rufen zur Pflicht, in unterschiedlichen Vergemeinschaftungsformen
zusammenzukommen. Mit ihren kulturellen Kontexten verbinden sich funktio-
nale Aspekte, die von ermahnenden über apotropäische Ziele reichen; vor allem
zeigt Geläut auch Gefahr an.
Liturgiegeschichtlich ist wissenswert, dass bereits in altchristlichen
Mönchsgemeinden die Glocke als Rufzeichen zu Gebet und Gottesdienst in Gang
gesetzt wurde; hier wurde Schallwerk eingesetzt. Nach Deutschland kam sie
durch iro-schottische Missionare im 8. Jahrhundert; seit dem Mittelalter ist sie
damit auch sakrales Instrument⁵. Glocken wurden und werden seitdem im
wahrsten Sinne des Wortes gewichtiger, indem sie liturgisch in den Pfarrkirchen,
insbesondere beim Gebet, eingesetzt werden. Seit dem Mittelalter zeigt also die
Betglocke, die oft zu hören ist, in der regelmäßigen Hora (in Loccum täglich
abends ab 18.00 Uhr) vor allem den nicht am Gottesdienst Beteiligten, mit ihrem
Geläut an, dass nun gebetet wird. Zusammen mit einer Intensivierung durch die
kultische Verwendung sind Glocken Sache der Kirchen geworden; die Glocke
gehört zur Wiederorientierung der Kirche auf theologische Grundlagen von Li-
turgik und Kirchenmusik. Die geistlich-liturgische Bestimmung hat sich nicht
nennenswert verändert, was auch daran zu erkennen ist, dass z. B. anscheinend
keine gravierenden Rechtskonstruktionen in der Landeskirche Hannovers nötig

 Einkassierte Glocken wurden in vier Kategorien qualifiziert: Neuere, etwa von Mitte des
19. Jahrhunderts an hergestellten A-Glocken wurden sofort nach Anlieferung eingeschmolzen. Sie
konnten nur in Ausnahmefällen zurückgeführt werden. Ältere Glocken wurden je nach künstle-
rischem Wert als B- bzw. C-Glocken qualifiziert und bilden das Gros der nach Kriegsende noch
vorhandenen und zurückgeführten Glocken aus. Ältere D-Glocken mit höherem künstlerischen
Wert durften häufig auf den Türmen bleiben.
 Vgl. J. Wanke, Glocke in Geschichte und Gesellschaft, 22.
Klarer die Glocken (nie) klingen 67

wurden, was die Performanz und Resonanz des Läutens angeht. Denn die Läu-
teordnung wäre zwar quasi mit 65 Jahren pensioniert, ist aber keinesfalls abgelöst
oder überarbeitet, von daher noch in Kraft bzw. im Dienst.⁶
Staatskirchenrechtlich gehört die Glockennutzung zum verfassungsrechtli-
chen Rahmen der kirchlichen Selbstverwaltung, der seit der Weimarer Reichs-
verfassung zu einer Angelegenheit der Kirchen wird. Damit ist Geläut seit dem
Inkrafttreten des Grundgesetzes im Sinne der positiven Religionsfreiheit (Art 4
GG) religionsverfassungsrechtlich geschützt. Dieser Zusammenhang bringt mit
sich, dass ein zivilrechtlicher Umgang mit „Technischen Anleitungen gegen
Lärm“ z. B. nicht möglich ist; liturgisches Glockengeläut unterliegt der Verwal-
tungsgerichtsbarkeit, bei „Profangeläut“ ist Zivilgerichtsbarkeit zuständig. In
nachbarrechtlichen Fragen und Konflikten hinsichtlich des Maßes von Geläut
obliegt den juristischen Entscheidungen ein Abwägen zwischen verfassungs-
rechtlichem Gewähren und Zumutbarkeitsentscheidungen. Meist fahren Kir-
chengemeinden das Geläut zurück, ohne es angesichts der Religionsfreiheit ab-
zuschaffen.
Im Kreis Nienburg wurde im Dorf Schweringen eine „Nazi-Glocke“ nach
vielen konflikthaften Begegnungen, nach dem nächtlichen Ausfräsen des Ha-
kenkreuzes durch Unbekannte, nach Beratungsprozessen in und mit Kirche und
Kirchenvorstand schließlich im Einvernehmen entwidmet und mittels einer
Ausschreibung zur Neugestaltung künstlerisch verändert. Ihre Nutzung wurde
dennoch nicht aufgegeben.⁷ Ein Mahnmal vor der Schweringer Kirche im Sinne
eines Negativabdrucks erinnert als „Hörmal“ an die alte Form; die Glocke erklingt
im ästhetisch anderen Gewand und mit biblischem statt nationalsozialistischem
Wort nach einer Wiedereinweihung in der Gemeinde neu weiter.⁸ Glocken und
zumal Kirchenglocken können gesellschaftlich und im Sozialraum dennoch zum
Skandalon werden, es handelt sich also keinesfalls um ein überkommenes In-
strument, vielmehr „schwingen“ etliche Konnotationen „mit“.

 Läuteordnung vom 21.8.1956 (online abrufbar unter https://www.kirchenrecht-evlka.de/docu


ment/22712, Lesedatum: 30.12. 2021).
 Online abrufbar unter https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/wir-ueber-uns/spren
gel-kirchenkreise/sprengel-hannover/aktuelles-subhome/2020/2020-06-01.
 Kirchengemeinde Balge – Kapellengemeinde Schweringen – Schweringer Glocken (online
abrufbar unter wir-e.de).
68 Silke Leonhard

3 Musikphänomenologische Wahrnehmungen
materieller Religionskultur
Süßer die Glocken nie klingen; Kling, Glöckchen, klingelingeling: Mit sinnlichen
Adjektiven oder lautmalerisch wird angedeutet, wie das Sprechen der Glocken
erklingt und nachhallt. Was an Glöckchen süß klingt, ist an metallschweren
Glocken gewichtig. Wie nähert man sich nun der musikalisch-kulturellen Er-
scheinungsform bzw. den in der Pluralität unterschiedlichen Erscheinungsformen
von Glocken? Zur Wahrnehmung und Erfassung ihrer Beschaffenheit helfen
musikwissenschaftliche Kriterien, die es leichter machen, die Resonanz auszu-
machen, welche durch sie in Gang kommt.⁹ Dazu zählt u. a., dass ihre Tonhöhen
dem menschlichen Gehör und Aufnahmevermögen entsprechen, die Lautstärken
tendenziell eher als angemessen wahrgenommen werden (bei üblicher räumli-
cher Nähe bzw. Distanz). Ihre Klang(farben)vielfalt aufgrund der zahlreichen
Material-, Herstellungs- und Anschlagmöglichkeiten wird auch musik- und kul-
turwissenschaftlich bedacht und bearbeitet.
Das In-Gang-Bringen jeder Glocke geschieht durch deren Klöppel im Innen-
raum der Glocke, indem sie an die Außenwände schlagen, oder als (z. B. Stun-
den‐)Schlag mit dem Hammer von außen. Aus dieser Bewegung ergibt sich der
Klang, der in der eigenklanglichen Performanz bedingte Variationen zulässt
zwischen Vorsicht und Vehemenz, aber in einer einzelnen Glocke nur wenig
Unterschiede in der tonalen Gestimmtheit. Dass eine Glocke durch ihr Material
und ihren Guss in ihrer Obertonhaltigkeit gefärbt ist, ergibt sich bereits bei der
Herstellung, mit der Klänge erzeugt, intoniert und damit performiert werden
können.
Performanz ist hier die Klangaufführung eines Tons bzw. genauer gesagt eines
Tongemischs in der und durch die Glocke; Resonanz ist hier substantialiter das
Phänomen, dass die Hörenden bzw. die Umgebung von Glocken beim Erklingen
ins Mitschwingen oder Mittönen kommen. Musikwissenschaftlich lassen sich
Kategorien verweisen, an denen sich Performanz und Resonanz konturieren: In-
strumentenkundliche Zu- und Einordnung, Bezeichnung, Gestalt, Maß und Ge-
wicht, materiale Entstehung mit Guss und Gussmaterial klassifizieren sie. Ihre
Wirkung entfaltet sie in Klang, Gebrauch und Geläut, Namen, Inschriften und

 Vgl.Wilfried Schrammek, „Die schwingende Glocke des Abendlandes“, in Glocken in Geschichte


und Gegenwart, Bd. 2, hg.v. Beratungsausschuss für das deutsche Glockenwesen (Karlsruhe:
Badenia-Verlag, 1997), 40 – 44.
Klarer die Glocken (nie) klingen 69

Schmuck.¹⁰ Prägend für das Erklingen wie für den Klang sind dabei diese Merk-
male als Insignien einer Form. Ihre Formvielfalt ändert nichts daran, dass es
Idealtypen gibt, die anderes prägen: Eine Glockenform zeigt eine Wölbung mit
Öffnung an dem einen Ende eines an sich geschwungenen Körpers, während das
andere geschlossen ist. Aus dem Innenleben ragt ein Klöppel heraus, der unter-
schiedlich angebracht wird.¹¹
Die Glocke „spricht“ hier also in vielerlei Gestalt, wobei ihr Klang sicherlich
ihr Resonanzmedium darstellt und die elementarste, weil originäre der Wirkun-
gen erzielt. Deren Intonierung und Stimmung sind auch Bedingungsfaktoren für
die je spezifische Ästhetik des Glockenspiels und Glockenklangs.
Ein besonderes Spiel erzeugt das Instrument, das mehrere Glocken umfasst:
das Carillon mit ca. 25 bis 40 Glocken als Instrument, das aus dem 17. Jahrhundert
stammt und insbesondere in den Niederlanden oft Gestalt und Anklang gefunden
hat. Spielbar ist es über eine Klaviatur und ein Pedal – im Pedal ähnelt es dem
Orgelspiel; die hölzerne Klaviatur wird allerdings nicht einzelnen Fingern ge-
spielt, sondern mit den Handballen. An Markt-, Fest- und Gedenktagen erklingt es
und ermöglicht ein freieres Spiel alter und neuer Klänge und Melodien, weil seine
Performanz von aktiven Spielerinnen und Spielern (und deren Können) ab-
hängt.¹²

4 Von der Religionsphänomenologie zu


liturgischen Überlegungen
Es kommt nicht von ungefähr, dass nach und neben ‚cultural turn‘ und ‚perfor-
mative turn‘ nun auch der ‚material turn‘ kulturwissenschaftlich in Gang ge-
kommen ist. Mit dieser ethnologisch wie soziologisch initiierten Gewichtsver-
schiebung verbindet sich auch ein Trend zu einer Wirkungslogik, nämlich durch
die Frage, wie Wissen in kulturell geschaffenen und verwendeten Objekten oder
Dingen seinen Niederschlag findet. Umgekehrt wird auch der Blick dafür präzi-

 Christhard Mahrenholz, Art. „Glocken, Abendland“, in Die Musik in Geschichte und Gegen-
wart: Allgemeine Enzyklopädie der Musik (Kassel/Basel: Bärenreiter, 1956, abgedruckt in Mün-
chen: dtv 1989).
 Details siehe didaktisch z. B. in: Margarete Luise Göcke-Seischab und Jörg Ohlemacher, Kir-
chen erkunden, Kirchen erschließen: Ein Handbuch (Kaufmann: Lahr, 1998), 147– 149.
 Vgl. Piet Visser, Art. „Glockenspiel“, Übers. Hans Albrecht, in Die Musik in Geschichte und
Gegenwart: Allgemeine Enzyklopädie der Musik (Kassel/Basel: Bärenreiter,1989), 293 – 295. In
Hahnenklee bei Clausthal im Harz z. B. ist das Carillon im Turm der Stabkirche vgl. auch https://
www.ndr.de/ndr1niedersachsen/Das-Carillon-in-der-Stabkirche-Hahnenklee,audio831446.html.
70 Silke Leonhard

siert, welche Bildung, welches Wissen in der Begegnung mit den bereits ge-
schaffenen Dingen und seiner Materialität in Gang gesetzt wird. Für den kulti-
schen und kulturellen Umgang mit Religion heißt dies bei Ernstnehmen dieser
Paradigmenverschiebung: Die Zeichenhaftigkeit, das Spiel, das Deuten, Inter-
pretieren, aber auch Performanz und Performativität, kurzum: die Darstellungs-,
Mitteilungs- und Wirkungskraft bekommen einen elementaren Bezug zu materi-
eller, ja körperlicher Beschaffenheit von Religion. Damit eröffnen sich Perspek-
tiven für Verknüpfungen funktionaler Perspektiven von Religion mit substanzia-
len Aspekten. Praktisch-theologisch stellt sich die Frage, wie religiöse Praxis hier
zum Zuge kommt, ohne der Gefahr traditionalistischer Verabsolutierung sub-
stanzieller Religion einerseits oder einer bagatellisierenden religiösen Fetischi-
sierung alles Materiellen andererseits zu erliegen.¹³ Daher ist die phänomenolo-
gische Perspektive von Religion zur Erschließung der Wirklichkeit auch hier
weiterhin klug, in der Ding und Erscheinung nicht voneinander gelöst werden
und in der damit zugleich die Funktions- wie Wirkungsperspektive dieses Zu-
sammenhangs ins Visier kommt. Sie fragt in nicht-naturalistischer Weise zurück
auf die leib-, raum-, zeit- und lebensweltlichen Grundierungen der Wahrnehmung
und des Umgangs mit Religion und stellt dabei Religion in ein Gegenüber zu den
Betrachtenden – als Religion.
Re-sonare meint den Widerhall, das Er-Tönen. Dass der Resonanzgedanke
von Hartmut Rosa als Zuschauerperspektive auf Religion ins Spiel kommt, ver-
wundert sicherlich nicht aufgrund der substanziellen Nähe von Glocke, Musik,
Klang und Resonanz. Gegenstand und die entsprechende Metapher „Resonanz“
als Grundlage der theoretischen Beschreibung durch Hartmut Rosa kommen aus
dem gleichen Feld. Zugleich gilt es, sich dabei gegen angesprochene Vorurteile
und Missverständnisse zu wappnen¹⁴: Resonanztheorie geht nicht in Religion auf,
aber sie ist eine der Soziologie entliehene material- und form- wie erfahrungs-
bezogene Sprache, die als Weltbeziehungstheorie religiösen und theologischen
Gedanken sehr nahekommt, manches reformuliert und Aufmerksamkeiten neu
schärft. Es geht bei der Frage nach den Beziehungen von Mensch, Gott und Welt

 Siehe Ursula Roth und Anne Gilly (Hg.), Die religiöse Positionierung der Dinge: Zur Materialität
und Performativität religiöser Praxis (Stuttgart: Kohlhammer, 2021); hier auch bes. Sonja Beck-
mayer, „Materielle Kulturforschung und Praktische Theologie“, in Die religiöse Positionierung der
Dinge, hg.v. dies., 37– 46. Zu den ersten Forschungen gehört Inken Mädler, Transfigurationen:
Materielle Kultur in praktisch-theologischer Perspektive (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus,
2006).
 Vgl. dazu Silke Leonhard und Barbara Hanusa (Hg.), Kompetenz, Performanz, Resonanz:
Konzeptionelle Perspektiven zu Religionsdidaktik im Streitgespräch, Loccumer Perspektiven 5
(Rehburg-Loccum: Religionspädagogisches Institut Loccum, 2021).
Klarer die Glocken (nie) klingen 71

nicht um naturalistische Verkürzung, Verinnerlichung oder esoterische Beflüge-


lung; sondern Resonanz ist der Schlüsselbegriff für eine Brücke, welche die
Bindungen im Falle der Nicht-Bindung und unter Einbezug von Differenz an Re-
ligion eröffnet.
Was sind oder wären religiöse, religionsbezogene Anhaltspunkte für die
Wahrnehmung, Deutung, Ingebrauchnahme, ja Resonanzbeziehungen derart
schwermetalliger Religion? Hier kommt Liturgie als „körperlich-sinnliche Er-
scheinungsform von Religion in Raum und Zeit“ zum Tragen.¹⁵ Ihr Ort ist oftmals
der Kirchturm oder ein anderer Ort im „Obergeschoss“ von Kirche. Damit ver-
bindet sich phänomenologisch, dass der Hall und Schall über Stadt und Dorf mit
den Dächern hinausragt – in die Luft, den „Hallraum“¹⁶, wohin sich der Schall
ausbreitet. Vor aller Funktionalität ist die Kirchenglocke das Klanginstrument des
Signals, der klanglichen Ausdehnung in die Breite, als Brücke von Himmel und
Erde. Mit dieser Raumanordnung kommt die religiöse Platzierung der Kirchen-
glocke der Verbindung horizontaler Resonanzachsen nahe.
Resonanzbeziehungen zeichnen sie sich durch vier Kennzeichen aus: Be-
rührung, Selbstwirksamkeit, Anverwandlung und Unverfügbarkeit.¹⁷ Diese di-
mensionale Beschreibung von Beziehung hat für die Achse zwischen Mensch und
Welt etwas Besonderes: Nicht nur geht ein Anspruch vom Menschen an die Welt
aus, diese sich anzuverwandeln. Vielmehr gehört zur Menschwerdung auch das
pathische Verhältnis dazu, quasi ein Anspruch der Welt, der beantwortet werden
will.¹⁸ Religion ist ein responsives Weltverhältnis, welches den Menschen in Be-
ziehung zu Gott als Urgrund und Antwortenden denkt.¹⁹ In diesem Beziehungs-
geflecht einer Ich-Du-Beziehung, für Angeredete²⁰, nimmt die Glocke eine spre-

 Vgl. Christoph Bizer, Art. „Liturgie“, in Lexikon der Religionspädagogik, Bd. 2, 1269 – 1272. Hier:
1269.
 Christoph Bizer und Hartmut Rupp, Kleiner Kirchenführer: Mit der Bibel durch das Haus Gottes
(Stuttgart: Calwer und Deutsche Bibelgesellschaft, 2009).
 Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit (Berlin: Suhrkamp, 2020), 37– 47.
 Vgl. Jürgen Oelkers, „Die Historizität pädagogischer Gegenstände“, Zeitschrift für Pädagogik
58 (2012): 32– 49, 32.
 Vgl. Gerd Theißen, „Religion ist Sensibilität für Resonanz und Absurdität der Wirklichkeit“, in
Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand?, hg.v. dems.
(München: Kaiser, 1978), 49; es geht um die „Resonanz der Gesamtwirklichkeit im Menschen, die
sich intentional auf ihren Ursprung bezieht“; vgl. auch Gerd Theißen, Resonanztheologie: Beiträge
zu einer polyphonen Bibelhermeneutik (Münster: LIT, 2020).
 Vgl. Martin Laube, „Wenn Soziologie religiös wird: Theologische Überlegungen zur Reso-
nanztheorie Hartmut Rosas“, in Kompetenz, Performanz, Resonanz, hg.v. S. Leonhard und B.
Hanusa, 43 – 65 sowie ders., „Eine bessere Welt ist möglich: Theologische Überlegungen zur Re-
sonanztheorie Hartmut Rosas“, Pastoraltheologie 107 (9) (2018): 356– 370.
72 Silke Leonhard

chende, klingende wie hörende Rolle ein. In nahezu existenzieller Verbundenheit


mit elementaren Lebens- und Glaubenssituationen wird die Glocke zum Medium
des Gehört-Werdens in Not, Gefahr und Kampf.²¹
Deutlich wird dies z. B. im Sterbefall eines Dorfes: Die Glocke markiert die
Unverfügbarkeit des Lebens und Todes und ihrer Schwellen. Das Totengeläut
erreicht das Ohr derjenigen, die auf dem Dorf vom Verlust eines Gemeinschafts-
mitglieds berührt werden. Früher Glöckner oder Mesner, heute Küster werden
tätig im Dienst der kirchlichen Gemeinschaft: Das hörende Dorf kommt in Gang,
Verantwortliche kümmern sich um Trauernde, die Trauerfeier wird angezeigt und
lädt zum Mit-Leid ein.
Glockengeläut zum Übergang von Alltag zu Fest(tag) markiert die zyklischen
Rhythmen des Lebens; Arbeit und Feierabend, Tages- und Jahreszeiten im Kir-
chenjahr. Der Glockenschlag hält die zeitliche Orientierung inmitten dieses Le-
benskreislaufes fest. Und zugleich kommt darin die lineare Seite zum Tragen, für
die Glaubenden, wie menschliche Zeit und Gottes Zeit aufeinander bezogen sind,
das Leben in Gottes Händen aufgehoben bleibt, wie es an manchen Glocken und
Kirchtürmen verankert ist. Gründe für Unterbrechungen und Pausieren der
Schläge liegen in der geschöpflich verankerten Lebensordnung, die den Sabbat
als Unterbrechung und Feierzeit einrechnet; mit den Glocken ertönt ein Ruf zum
Innehalten. Die kirchenjahreszeitliche Unterbrechung von Geläut wie im Über-
gang von Passion zu Ostern ist ein Beispiel, das in die christliche zyklische Le-
bensordnung mit eingegossen ist.
„Bleibet in mir und ich in euch“, ist in die Glocke der Versöhnungskirche
Dresden eingezeichnet²²: Mit diesen und anderen Lebens- und Glaubensmo-
menten verbinden sich emotionale Berührungen von Freude und Trauer, die vom
Glockenklang aufgenommen und auch ausgelöst werden. Kirchenglocken schaf-
fen regelmäßig wie kasuell einen Resonanzraum für die Wahrnehmung von Le-
benszeit im Kontext der Ewigkeit.

 Wenn auch Gefahr für die Feuerwehr zuweilen gesellschaftlich abgelöst ist durch die Sirene,
verbinden sich doch damit etliche biografiebezogene Lebensanlässe, in denen nicht nur diese
existenziellen Situs als Situationen religiös begangen werden.
 Online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=SJpjZPYJa3w, Lesedatum: 15.01.
2022.
Klarer die Glocken (nie) klingen 73

5 Klang und Resonanz. Religiöse Bildung und


Liturgiedidaktik in Schule und Gemeinde
Wie (Kirchen‐)Glocken als „Dinge“ von kirchlichem Kult und religiöser Kultur
pädagogisch und didaktisch zum Tragen kommen²³, ist nicht zu klären ohne eine
Konturierung, wie religiöse Bildung begreifbar ist.²⁴
Bildung ist eine Prozessform, in der Resonanz eine entscheidende Rolle
spielt: Menschenbildung durch Weltbegegnung. Im Raum von Schule besteht der
Bildungsprozess im Kern darin, „dass wir uns zu diesen Lebens- und Hand-
lungssphären, zu diesen Resonanzachsen [damit auch der Fächer/Weltzugänge]
verhalten und positionieren lernen, oder eben positionieren müssen.“²⁵ Religion
ist ein einzigartiger Modus der Weltbegegnung – angesichts der Unverfügbar-
keitsdimension, die auch in den Dingen wohnt. In der pädagogischen Beziehung
zur Welt als dem Resonanzpunkt steckt immer auch eine Beziehung zu ihren
materiellen, verkörperten Formen. Menschenbildung ist daher als Weltzugang
leiblich verwurzelt und auf die Gestaltung der Welt, ihrer Dinge und sich selbst
ausgerichtet. Religion ist dabei der unverwechselbare Zugang zu einem Modus der
Welt, in dem der kulturelle Umgang mit Erfahrungen des Unverfügbaren²⁶ eine
zentrale Rolle spielt; dieser bleibt auf die Dinge und Lebenswelt bezogen. Auch
die Dinge bringen mich ins Pathos und verlangen nach einer Antwort.
Wenn nun materielle Kultur wie eine Glocke pädagogisch in Form zu bringen
ist²⁷, eine „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“²⁸, so sind gerade angesichts
der Religionsferne, Gleichgültigkeit und Fremdheit Berührungsachsen nötig, um
mit Religion in Kontakt zu treten; ohne diesen Kontakt sind weder Verstehen noch
Urteil möglich. Zwischen Aneignung und Vermittlung einerseits und Anver-

 Vgl. z. B. Konstantin Lindner, „Hermeneutische Konzeptentwicklung in der Religionsdidak-


tik“, TheoWeb 19 (1) (2020): 53 – 68.
 Vgl. Silke Leonhard, „Schläft ein Lied in allen Dingen? Religionspädagogik im Horizont von
Kompetenz, Performanz und Resonanz“, in Die religiöse Positionierung der Dinge: Zur Materialität
und Performativität religiöser Praxis, hg.v. Ursula Roth und Anne Gilly (Stuttgart: Kohlhammer,
2021), 166 – 180.
 Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung (Berlin: Suhrkamp, 2016), 404.
 Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung (Graz: Styria, 1990).
 Thomas Klie, „Religion zu lernen geben: Das Wort in Form bringen“, Loccumer Pelikan: Re-
ligionspädagogisches Magazin für Schule und Gemeinde 3 (2006): 104– 109; vgl. Thomas Klie und
Silke Leonhard (Hg.), Schauplatz Religion: Grundzüge einer performativen Religionspädagogik
(Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, ²2006).
 Johann Wolfgang von Goethe, Urworte: Orphisch: Dämon, in Goethes Werke, Gedichte und
Epen I, Hamburger Ausgabe, Bd. 1 (München: C.H. Beck, 1998), 359 – 360.
74 Silke Leonhard

wandlung andererseits liegen Differenzen – letztere geht stärker in Richtung


‚prozesshaftes In-Beziehung-Treten mit einer Sache‘. Und dieser Prozess ist ein
Antwortgeschehen auf einen stets vorauseilenden Anspruch, dessen Möglich-
keitspotenzial Jörg Zirfas und Leopold Klepacki mit der Performativität der Dinge
so beschreiben: „Bildung heißt: auf die Möglichkeiten der Dinge zu antworten“.²⁹
Damit ist religiöse Bildung ein Antworten auf Resonanzen durch Dinge im Un-
verfügbarkeitshorizont.
Die Brücke liegt in der Schnittstelle von Wahrnehmung und dem Wort, das es
noch fast gar nicht gibt: Wahr-Gebung. Genau genommen ist das „Erkennen in den
Dingen der Welt“ eine kulturell hochspezifische Form des Hörens und Sehens.³⁰
Sich zu Religion hörend ins Verhältnis setzen: Bildung ist Menschenbildung
durch Weltbegegnung, immer leiblich verwurzelt und auf Gestaltung der Dinge
der Welt und sich selbst aus ihren Formen. Religion ist ein einzigartiger Modus der
Weltbegegnung – angesichts der Unverfügbarkeitsdimension. In der Haltung zu
Religion geht es um eine Grunderfahrung zur Welt. Mit Rosas Resonanzgedanken
ist Religion ein Resonanzraum für Weltbegegnung – nicht umgedreht.
In den Erscheinungsformen von Religion wie in Glocken treten Lebensun-
bedingtheiten und ‐gewissheiten an die Oberfläche. An der individuellen und
kollektiven Gestalt wird der religiöse Gehalt gewissermaßen ansichtig und
formbar. Über äußere Vollzüge, Umgangsformen und Verhaltensweisen – kurz:
über ihre Ästhetik – kann Religion sinnvoll und angemessen erschlossen werden.
Daher haben die Spielarten performativer Didaktik als materielle Lerngegen-
stände den Charakter von Werkstücken, die wahrgenommen, beschrieben, ge-
deutet und gestaltet werden. Durch Lehrprozesse mit und an ihnen kommt zur
Darstellung und Geltung, was mitgeteilt werden soll. Der affektive Bezug dabei
tritt in manchen der Performanzansätzen zutage. Damit haben die Lerngegen-
stände eine Bedeutung gegen die durch Verdinglichung entfremdete Welt. Reso-
nanzorientierte Didaktik zeigt auf, dass das Deuten, Gestalten nicht ohne das
Knüpfen von Kontakt und Beziehung gelingt, um wirksam zu sein.
Von den situativen Ausgangspunkten eines veränderten, insgesamt in den
östlichen Bundesländern schon länger distanzierten, in den westlichen Bundes-
ländern zunehmenden Distanzverhältnis zu Religion erwächst die Notwendigkeit
didaktischen Denkens, da genau die Leerstelle der Materialität, nämlich die Rolle
des Lerngegenstands, im Horizont von Fähigkeiten als Religion zum Tragen
kommen muss. Resonanzorientierung ist damit eine Antwort auf grundlegende

 Stefan Altmeyer, „Das ist ja ein Ding! Über das religiöse Lernen und das Mehr der Dinge“,
Katechetische Blätter 6 (2017): 404– 407, 404.
 Vgl. Hartmut Rosa und Wolfgang Endres, Resonanz im Klassenzimmer (Weinheim/Basel:
Beltz, 2016), 33.
Klarer die Glocken (nie) klingen 75

Religionsferne, Gleichgültigkeit und Beziehungsarmut. Sie verantwortet nicht die


Nutzung der Dinge als gelebte Religion allein, sondern behält den Blickwinkel auf
den religiösen Wirkungscharakter der Dinge der Welt als gelehrte.Wenn religiöses
Lernen und Lehren sich auf religiöses Leben, Leiden und Feiern bezieht, kommen
deren Formen und ihre Wahrnehmung ins Visier. Die religionspädagogische Ka-
tegorie der „Begehung“ gewinnt eine Akzentuierung als ein responsives Reso-
nanzgeschehen. Kompetenzen im Bereich Religion auf die Kontaktnahme mit
dem Anderen sind nicht nur in der ohnehin gegebenen Fremdheit verankert,
sondern es geht darum, auch in der gesellschaftlich wachsenden Fremdheit
Nachhall und Antwort zu finden.
Ohne Kontakt und Beziehung zu Religion – auch zu ihren materiellen Formen
– kein Lernen über Religion: Das performative Arbeiten mit Religion verändert
sich. Performative Didaktik geht davon aus, dass die Kraft der Performanz auch
durch die Subjekte zum Ausdruck gebracht wird. Die handelnde Seite ist dabei
stark involviert. Der Ausgangspunkt des Pathischen, des Angesprochenen, das
Berührt-Sein von den Dingen als Angesprochen-Werden durch Religion zu be-
greifen, macht die Offenheit und Unverfügbarkeit klar. Schulischer Unterricht
braucht geschulte, zugleich sensible Hörerinnen und Hörer und so etwas wie
Glöckner, die erfahrene Wahrnehmende religiöser Kultur sind und Expertinnen
und Experten dafür, wie man die Dinge im Horizont von Unverfügbarkeit zum
Klingen bringt. Ihre eigene Anverwandlung, ihr eigenes passgenaues Antworten
auf die Welt ist ein Anreiz für Mimesis und Auseinandersetzung.
Mit Didaktik erhebe ich den Anspruch, die Weltbegegnung didaktisch so
lehrbar zu machen, dass ich als Lernende mich auskenne und zugleich dahinter
zurücktreten kann. Religionspädagogische Profis sollten Beziehungen zu den
Dingen der Welt aufbauen können – und zwar im Horizont ihrer eigenen Reso-
nanzen, die sie leben, kennen und von denen sie sich auch distanzieren können.³¹
Responsiv kompetente Religionsexpertinnen und -experten wissen: Lehren heißt
zeigen, was man liebt.³² Daher braucht man ein selbstbewusstes, immer wieder zu
orientierendes und klärendes Verhältnis zu Religion und deren Dingen, das man
auch anderen so zeigen kann und mag, dass sie erklingen könnten. Das Sprich-
wort „Die Glocke ruft zur Kirche, geht aber selbst nicht hinein“ meint religions-
pädagogisch: Ein Probeaufenthalt in dieser religiösen Welt oder ernsthaftes Ex-
perimentieren mit religiösen Formen und Deutungen gibt Resonanzen frei.

 Vgl. Silke Leonhard, Religionspädagogische Professionalität: Eine empirisch-theologische Stu-


die im Horizont des Pathischen (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018).
 Vgl. Fulbert Steffensky, „Damit die Träume nicht verloren gehen! Religiöse Bildung und Er-
ziehung in säkularen Zeiten“, Loccumer Pelikan: Religionspädagogisches Magazin für Schule und
Gemeinde (2000): 171– 176, 175.
76 Silke Leonhard

Es gibt in und außerhalb von Universität, Seminar, Gemeinde und Schule


Resonanzräume, -orte und -formen in der Bildung, die es aufzusuchen lohnt. Hier
hat auch Kirche ihren dritten, vierten, fünften Ort: Wenn Vikarinnen und Vikare im
Predigerseminar Loccum Hora gestalten, verhilft ihnen die Glocke mit zu ihrer
Rolle. Sie hören und gestalten im Kirchenraum christliche Religion liturgisch als
Resonanzraum für das Antwortverhältnis mit Gott. Wenn Studierende ins RPI
nach Loccum kommen, auf den Klang der Glocken in Klosterkirche und Cam-
puskapelle lauschen, zeigt sich eine hohe Resonanz, dass sich ein Stück des ei-
genen berufsbiografischen Weges mit Erfahrungen von Raum, Form und Liturgie
verbindet. Das, was in der Universität bedacht wird, erklingt neu in einem für die
Erprobung und das Durchdenken von deren Wirkung eröffneten Hallraum
kirchlich gelebter Religionspraxis; und es geschieht in einem responsiven Modus
des (Aufeinander‐)Hörens und Antwortens. Würde sich Kirche doch insgesamt
klarer und tiefer als responsiver Resonanzraum für die religiöse Musikalität der
Menschen, religiöse Klangbildung und Antwortfindung begreifen.
Ralph Kunz
Streitsache Salböl
Plädoyer für ein Sakrament der Berührung

1 Prolog
Eine Schweizer Firma namens „Algordanza“ verspricht trauernden Kunden, aus
der Asche oder den Haaren ihrer verstorbenen Angehörigen ein „Symbol der
Liebe, Verbundenheit und Wertschätzung“¹ zu fabrizieren. Algordanza hat sich
auf die Herstellung von synthetischen Diamanten spezialisiert. Dazu brauchen
die Experten mindestens 500 g Kremationsasche oder 5 g Haare. Daraus wird der
verbliebene Kohlenstoff extrahiert, in Grafit umgewandelt und unter enormem
Druck zum Diamanten geformt. Geworben wird für das Produkt mit dem Argu-
ment, der Erinnerungsdiamant sei „im Vergleich zu traditionellen Bestattungs-
arten ein ganz persönlicher Ort der Trauer, Erinnerung und der Freude“². Wer sich
für ein solches Miniaturgrab entschließe, besitze ein „unvergängliches und dis-
kretes Erbstück über Generationen hinweg“.
Sein Entzücken war ihm anzusehen, als Thomas Klie im Rahmen einer Wei-
terbildung zu neuen Bestattungsriten den Pfarrpersonen Bilder von den glatt
geschliffenen Artefakten zeigte.Was für ein schillerndes Ding! Der Diamant ist ein
kurioses, stein- und beinhartes Symbol für die Privatisierung der Bestattung. Die
Forschung zeigte, wie wichtig die Gegenstände sind, die Trauernde ins Grab legen,
welche große Bedeutung der Umgang mit der Asche der Verstorbenen, der Ort der
Bestattung oder die Fotos der Hinterbliebenen haben. Die Säkularisierung sa-
kraler Gesten und religiöser Riten manifestiert sich in einer materialen Erinne-
rungskultur, die – im Fall des reinen Diamanten dank der industriell gefertigten
Transsubstantiation – eine dingfeste Quasiewigkeit verheißt.
Ausgerechnet eine Schweizer Firma liefert den materiellen Ersatz für das
spirituelle Gedächtnis. Ich fühle mich herausgefordert. Schließlich sind die Re-
formierten vor fünfhundert Jahren mit einer anderen Mission gestartet: gegen eine
materialisierte Religiosität, die sich auf Dinge verlässt, für die Freiheit des Glau-
bens, die auf die Worte des ewigen Lebens vertraut! Natürlich könnte auch der
reformierte Theologe die Losung des alten Fritz beherzigen, wonach jeder nach

 Online abrufbar unter https://www.algordanza.com/de, Lesedatum: 07.12. 2021.


 Ebd.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-006
78 Ralph Kunz

seiner Fasson selig werden darf. Weiß doch auch er, dass es bei der Bestattung um
Dinge geht, die alle unbedingt angehen, aber die Idee, dafür eine Form der Be-
stattung bereitzustellen, nicht mehr aufgeht. Ihm ist auch bewusst, dass er ein
Kraftfeld betritt, das durch Tod und Liebe existenziell bedeutsam, aber Religion,
die dafür Räume der Begehung aufschließt, in der Postmoderne flüssiger und
flüchtiger, bunter, individueller und wilder geworden ist. Also muss jede autori-
täre Regung, die in diesem sensiblen Feld mit ‚richtig‘ und ‚falsch‘ oder ‚rein‘ und
‚unrein‘ hantieren will, ins Leere laufen.
Thomas Klie sagt es knapp und bündig so: „Die Beziehung zum Tod und
seinen Folgen wird wählbar.“³ In seinem Buch „Performanzen des Todes“ typo-
logisiert er die Formenfülle im Bereich des Bestattungswesens hinsichtlich der
jeweils zugrunde liegenden Motivation und postuliert, dass sich parallel zur
klassischen kirchlichen Erdbestattung drei übergeordnete Handlungslogiken
herausgebildet hätten: ein naturreligiös-ökologischer Code, ein ästhetisch-perfor-
mativer Code und ein anonymisierend-altruistischer Code. Während beim ersten
Code das Verschwinden im ökologischen Kreislauf und beim dritten Code die
Entlastung durch Vergessen angestrebt werde, finde sich im ästhetisch-perfor-
mativen Code eine neue Wertschätzung des nachtodlichen Körpers. Dies zeige sich
besonders deutlich bei aus Kremationsasche gefertigten Diamanten. Man könne
in diesem Code eine dauerpräsente Nekrophilie, ja eine Todesversessenheit als
postmortales Pendant zur Lebensversessenheit sehen.⁴
Darüber, wie hilfreich die damit gegebenen Verhärtungen für die Trauernden
sind, ist noch nichts gesagt.⁵ Der Verzicht auf die autoritäre Geste, die Menschen
vorschreibt, was gute Religion ist und Menschen abschreibt, die religiös eigene
Wege gehen, bedeutet indes nicht, sich auf eine unkritische Position des for-
schenden Beschreibens zurückzuziehen.⁶
Natürlich wiegt ein Diamant aus 500 g Kremationsasche nicht sonderlich
schwer. Ich sehe ihn eher als Stein des Anstoßes, um über das Zeichending

 Thomas Klie, Performanzen des Todes: Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung
(Stuttgart: Kohlhammer, 2008), 7.
 Th. Klie, Performanzen des Todes, 9.
 Näheres dazu vgl. in Thorsten Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler: Der Glanz des Le-
bens: Aschediamant und Erinnerungskörper (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020).
 Thomas Klie nimmt kein Blatt vor den Mund. „Man möchte seine Toten nicht hergeben, son-
dern behalten. Die sehr privaten Trauerfeiern, bei denen freiwillig auf Öffentlichkeit verzichtet
wird, sind aber auch ein Akt der Beraubung. Ich verweigere als organisierender Angehöriger
anderen die Möglichkeit des Abschiednehmens.“ Vgl. Evelyn Finger im Interview mit Thomas
Klie, „Ohne Trauerrituale geht es nicht“, Die Zeit 16 (2021) (online abrufbar unter https://www.
zeit.de/2021/16/thomas-klie-trauer-abschied-tod-gott-erloesung, Lesedatum: 07.12. 2021).
Streitsache Salböl 79

nachzudenken⁷, das in der Theologie als „Sakrament“ codiert wird. Damit betrete
ich ein Feld von Fallstricken, denen ich kaum ausweichen kann. Ich werde stol-
pern. Aber dafür gibt es ja Festschriften! Sie bieten die Gelegenheit, in riskante
Diskurszonen aufzubrechen und ein paar ungesicherte Sprünge zu wagen. In
einem ersten Sprung geht es zum Zeichen, das eigentlich ein heiliges Ding ist und
Sakrament heißt. Anlauf nehme ich bei Huldrych Zwingli und landen will ich bei
einer lebensphänomenologisch fundierten Sakramentenlehre, die ein wenig mehr
Verständnis zeigt für den ästhetisch-performativen Code des Zeichenhandelns.
Ein zweiter Salto macht die Verbindung zu einer biblischen Geschichte (Mk
14,3 – 9), in der eine Zeichenhandlung auf dem Kraftfeld von Liebe und Tode im
Zentrum steht. Im Haus des Simon platzt eine namenlose Frau in eine Männer-
gesellschaft, salbt Jesus mit einem Luxusprodukt, das durchaus einem Diamanten
vergleichbar ist und macht eine Szene. Ihre Tat hat einige der Anwesenden
nachhaltig irritiert und mich inspiriert, nachzuhaken, was da in Erscheinung tritt.
Der dritte Sprung führt zurück auf Feld eins und fragt noch einmal nach dem
Sakrament und der Krise des Sakramentalen.

2 Was ist ein heiliges Ding?

2.1 Sakrament als Unding

In seinem Kampf gegen den Aberglauben pochte Huldrych Zwingli bekanntlich


auf ein Abendmahlsverständnis, das darauf angelegt war, die Gegenwart Gottes in
bzw. über die Elemente symbolisch zu interpretieren. Im Streit mit Luther um die
Realpräsenz Christi äußerte er seine Überzeugung, dass es keine Dinge gibt, die
an und für sich, also unabhängig vom Wort, das sie deutet, heilig sind oder eine
heiligende Wirkung entfalten könnten!

[…] Siebtens glaube, ja weiß ich, dass alle Sakramente so weit davon entfernt sind, die Gnade
zu verleihen, dass sie diese nicht einmal herbeibringen oder verwalten. […] Wie die Gnade
nämlich vom göttlichen Geist bewirkt oder geschenkt wird – ich benütze das Wort aber im
lateinischen Sinn, indem ich nämlich den Ausdruck ‚Gnade‘ für Vergebung, Nachsicht und
freie Wohltat verwende –, so fällt dieses Geschenk allein dem Geist zu. Der Geist braucht aber
keinen Führer und kein Transportmittel. Er selbst ist nämlich Kraft und Träger, durch den
alles gebracht wird, er hat nicht nötig, selber gebracht zu werden. Wir lesen in den heiligen
Schriften nie, dass Sichtbares, was die Sakramente ja sind, den Geist mit Sicherheit mit sich

 Die Maße des Diamanten auf dem Titelblatt von T. Benkel et al., Glanz des Lebens: 15,5 × 23 ×
1,7 cm, Gewicht: 0,408 kg.
80 Ralph Kunz

bringen würde.Vielmehr war, wenn Sichtbares je mit dem Geist verbunden war, der Geist der
Träger, nicht das Sichtbare.⁸

Natürlich hat Zwingli Recht! Heilige Dinge sind Zeichen für den Geist und dieser
allein entfaltet als schöpferische Kraft und göttlicher Beweggrund eine Wirkung,
die durch das Zeichen hindurchgeht, aber nicht im Zeichen aufgeht.⁹ Folglich ist
die Behauptung, ein Ding sei der „Träger“ für die Wirkung des Geistes ein Unding.
So weit so klar, doch Zwinglis Argumentation hat einen eklatanten Schwach-
punkt.
Zwingli will die Freiheit Gottes verteidigen und verpasst eine entscheidende
zeichentheoretische Pointe. Es gibt keinen zeichenfreien Geist. Denn auch als
reine Wirkung gedacht hinterlässt der Geist als Gedankending eine Zeichenspur.
Zwingli sieht diese Spur nicht, weil er eine Dichotomie von Geist und Materie
behauptet, die sowohl Körper und Seele als auch Gott und Mensch auseinan-
derhält und auftrennt. Argumentiert wird mit einer Semiotik, die den Abusus der
Zeichen verhüten will, aber den rechten Usus nicht begründen kann. Für einen
begründeten Zeichengebrauch müsste der Reformator sowohl theologisch wie
auch zeichentheoretisch radikaler denken. Wenn er die spiritualistischen Prä-
missen seiner Sakramententheologie hinterfragen würde, sähe er klarer, dass der
Geist durch das Wort an Zeichen gebunden ist und dass es – zumindest für die-
jenigen, die miteinander kommunizieren – keinen Geist geben kann, der sich
ohne Zeichensinn mitteilt. Dasselbe gilt auch für den Umkehrschluss. Sinn ohne
Zeichen ist Unsinn. Gegen Zwingli gesagt braucht der Geist also ein semiotisches
Vehikel, um wirken zu können.
Der verkürzte Symbolbegriff von Zwingli hat seine Basis in der Signifika-
tionshermeneutik Augustins und kann sich auf dieselbe Formel berufen, auf die
auch Luther und Melanchthon zurückgegriffen haben. Dass das Wort zum Ele-
ment kommen muss, ist unbestritten, strittig bleibt, wie man das Ineinander von
Ding und Deutung verstehen soll.¹⁰

 Huldrych Zwingli, „Rechenschaft über den Glauben“, in Zwingli Schriften, Bd. IV, hg.v. Thomas
Brunnschweiler und Samuel Lutz (Zürich: TVZ, 1995), 113.
 Unter „Sakrament“ versteht Augustin „jeden sinnlich wahrnehmbaren Sachverhalt, dessen
Sinn sich nicht darin erschöpft, das zu sein, als was er sich unmittelbar gibt, sondern der darüber
hinaus auf eine geistige […] Wirklichkeit hinweist.“ In der Übersetzung von Josef Finkenzeller, Die
Lehre von den Sakramenten im Allgemeinen: Von der Schrift bis zur Scholastik, Handbuch der
Dogmengeschichte, Sakramente – Eschatologie 4 (Freiburg im Breisgau: Herder, 1980), 39.
 Augustin, Tract. In Ioann. 80, 3; CChr 36, 529, 5 f.: accedit verbum ad elementum, et fit sacra-
mentum.
Streitsache Salböl 81

Die Auseinandersetzung zum Sakramentsbegriff mag aus heutiger Sicht ob-


solet wirken, ist aber insofern noch von Belang, als sie ein Problem markiert, das
sich nicht erst beim Umgang mit heiligen Dingen, sondern auch bei der Sichtung
des postmodernen religiösen Materialismus stellt. Es geht nicht so sehr darum,
wie man Dinge versteht. Mit Blick auf die Motive und Handlungslogiken spielen
Affekt und Effekt eine genauso entscheidende Rolle. Eine christliche Zeichenlehre
bedenkt die Symbolverwendung immer auch auf ihr Pathos und Ethos hin. Für
Augustin und den Augustinschüler Zwingli mündet beides in den Genuss Gottes.
Man lässt sich nicht taufen, um ein einzigartiges Baderlebnis zu machen und
kommt nicht zum Abendmahl, um köstliches Schwarzbrot und einen feinen Roten
zu verkosten. Was im Ritus geschieht, ist durchsichtig für das Unsichtbare.
Menschliche Existenz vollendet sich in der Verherrlichung Gottes.¹¹
Anders verhält es sich mit den sichtbaren oder zeitlichen Zeichen (signa), die
als Gegenstand der Interpretation nicht das Gegenüber der Anbetung sein kön-
nen. Zeichen werden verwendet. Eben darin besteht die Sünde des Menschen,
dass er bei den Temporalien verweilt und folglich nicht die unsichtbaren Dinge,
sondern die sichtbaren zeitlichen Zeichen genießt oder Gott wie ein Objekt ver-
wendet.¹² Wenn einerseits gilt, dass der ewige Gott nicht im Zeichen aufgeht und
das Zeichending nicht zum Götzen werden soll und andererseits gilt, dass Gott
sich mittels Zeichen mitteilen will, muss über den rechten Umgang mit den ge-
gebenen heiligen Zeichen Klarheit herrschen. Dieser Umgang heißt Ritus und die
geforderte Klärung ist die Unterscheidungsaufgabe der Gottesdiensttheologie.

2.2 Was sind heilige Dinge?

Die evangelischen Kirchen kennen bei allen dogmatischen Differenzen im Detail


einen gottesdienstlichen Zeichenumgang, der die Dichotomie performativ über-
windet. Die geforderte Klärung wird im Gottesdienst aufgeführt und durch die
Gemeinde ausgedrückt. Zum Beispiel, wenn diese mit Paul Gerhardt singt: „Alles
Ding währt seine Zeit, /Gottes Lieb in Ewigkeit.“ Kohelets Motto unterscheidet
Zeitliches und Ewiges, aber disqualifiziert die endlichen Dinge nicht. Ein anderer
Sänger, dem die Gemeinde ihre Stimmen leiht, fragt rhetorisch: „Sollt ich meinem
Gott nicht singen? / Sollt ich ihm nicht dankbar sein? Denn ich seh’ in allen

 So lautet die Formulierung des Shorter Westminster Catechism: „What is the chief end of man?
Man’s chief end is to glorify God 1, and to enjoy Him for ever.“
 Bei Augustin in der doctrina christiana I,22 ff. und I, 3,3.
82 Ralph Kunz

Dingen, wie so gut er’s mit mir mein.“¹³ In dieser Unterscheidung werden die
Dinge als Gaben gesehen, als Güter, die dem „Brunn der Gnade“ entspringen.
„Was sind wir doch? Was haben wir / auf dieser ganzen Erd, / das uns, o Vater,
nicht von dir / allein gegeben wird?“¹⁴
Die Rückbesinnung auf den Quellgrund hinter die Güter ist erbaulich, doch
der Absprung über die Dinge zum Ursprung immer auch riskant. Wie steht es um
die Dankbarkeit bei Knappheit? Was geschieht mit der schlechthinnigen Abhän-
gigkeit im materiellen Überfluss? Armut wie Reichtum können einen quasireli-
giösen Sog entfalten. Dass Güter nicht ewig währen, macht sie kostbar. Die ver-
lorene Gesundheit, die zerbrochene Ehe oder der verfehlte Beruf lassen nach
einem höchsten Gut Ausschau halten, das uns „zeitlich und ewig gesund“¹⁵ hält.
Was sind heilige Dinge? Den Reformierten schaudert’s. Schon der Begriff ist
ein Sakrileg – es sei denn, man nimmt nicht alle Dinge, sondern bestimmte Güter
in den Blick, gewissermaßen diejenigen, die dazu bestimmt sind, den „Brunn der
Gnade“, der auch „Ursprung aller Ding“ ist, neu zu sehen und damit den Abfluss
der religiösen Energie wieder zurückzulenken, um die Gläubigen dorthin zu
bringen, wo selbst im Leid noch Freude gefunden werden kann. Es ist das be-
sondere Mahl, das die Dankbarkeit zur Eucharistie steigert, das besondere Bad,
das alle Unreinheit wegwäscht. Mit anderen Worten: Das heilige Ding ist ein
Zeichen, das transparent ist für den Ursprung aller Güter und das unsichtbare
Leben in Erscheinung treten lässt, das sich als höchstes Gut dem Menschen zu-
wendet. Daran erinnern die biblischen Erzählungen und dazu dient die Tradition
der Formen, in denen das Zeichen aufgeführt wird. In usu sind heilige Dinge ein
ausgezeichnetes Mittel, um zum Genuss Gottes zu kommen.¹⁶
Vom Dank für alle Dinge zum Lobpreis des Schöpfers ist es ein fliegender
Wechsel. Wie kommt Gott durch das Ding zum Menschen? Der reformationsge-
schichtlich gebildete Protestant weiß um die Dispute, die darüber geführt wurden.
Die Streitereien drehten sich u. a. um das rechte Verständnis der Präsenz Christi,
der Konsens, der sich später bildete, lag schon damals in der Luft. Der Geist weht,
wo er will, aber er weht – und der Ritus erzeugt den Wind, aber bleibt ubi et
quando visum deo unverfügbar. Im Ritus wird der Geist Gottes vertrauensvoll
angerufen, weil Gott verheißt, dass er denen antworten will, die ihn anrufen
wollen. Die Gemeinde darf sich auf das Wirken Gottes verlassen, weil Gott es

 „Sollt ich meinem Gott nicht singen“, RG 723,1. Zitiert aus dem Reformierten Gesangbuch der
evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz (Basel/Zürich: TVZ, 1998).
 „Ich singe Dir mit Herz und Mund“, zitiert aus RG 723,3.
 „Die güldne Sonne“, zitiert aus RG 571,8.
 Artikel XIII der CA, in Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche: Vollstän-
dige Neuedition (BSLK), hg.v. Irene Dingel (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014).
Streitsache Salböl 83

versprochen hat. Wird das Sichtbare in usu geheiligt, sind heilige Dinge im streng
liturgietheologischen Sinne eine actio, die sich auf Gottes Wort verlässt.¹⁷ Sa-
kramente, so könnte man es in Anlehnung an ein Bonmot von Kurt Marti sagen,
sind Tätigkeitswörter, ein heiliges Tun mit Dingen, ein Zeichenhandeln, das ex
opere operatio in menschlich-göttlicher Kooperation bewirkt, was es darstellt.
Wie viele Zeichenhandlungen es sind, die Sakramente genannt werden, ob
sieben oder nur zwei, ist ein weiterer Streitpunkt. Es gibt darüber keinen öku-
menischen Konsens. Im Protestantismus hat man sich jedenfalls auf die Regel
geeinigt, dass Taufe und Abendmahl als die zwei sakramentalen Handlungen
gelten, die „von Christus“ eingesetzt sind. Wenn man das Mandatskriterium ex-
klusiv interpretiert, ist es aber zu eng gedacht. Mit der Kategorie der Sakramen-
talien kann die Fixierung auf Taufe und Abendmahl geweitet werden. Entschei-
dend ist, diese Weitung zwischen Taufe und Abendmahl aufzuspannen. In diesem
theologisch bestimmten Spielraum gehört denn auch der fruchtbare Dialog mit
performativ-ästhetisch codierten Zeichenhandlungen, die man den Kasualien
zurechnen kann. Darauf komme ich später (3.) noch einmal zurück.

2.3 Heilige Dinge in liturgietheologischer Perspektive

Gordon Lathrop, ein amerikanisch-lutherischer Vertreter der liturgischen Theo-


logie, macht im ersten Buch seiner Gottesdienst-Trilogie mit dem Titel „Holy
Things“ klar, wie prägend die heiligen Dinge für die Form der Liturgie sind. Die
Auslegung der Schrift, die Taufe und das Abendmahl sind bildlich gesprochen
keine „Möbel“, die in eine leere Ritualhalle gestellt werden. Es sind Zeichen-
handlungen, die den christlichen Ritus geformt und geprägt haben. Lathrops li-
turgietheologische Sicht der Dinge überwindet und verbindet die Unterscheidung
von Aktual- und Realpräsenz durch einen christologischen Sakramentsbegriff.

When Jesus Christ, the Word, came among the reading and remembrance of scriptures,
among washings and meal rituals which hoped for God, the ‚sacraments‘ and the patterns
of Christian worship were made. Jesus Christ, his death and resurrection and the faith

 Burkhard Neumann, Sakrament und Ökumene: Studien zur deutschsprachigen evangelischen


Sakramententheologie der Gegenwart, KKTS 64 (Paderborn: Bonifatius, 1997), 45 f. unterscheidet
drei Typen der reformatorischen Sakramentenlehre: der Typ, der den Sakramenten eher reserviert
oder gar ablehnend gegenübersteht. Er nennt – wen wundert’s? – mit Fritz Buri und Walter Bernet
zwei reformierte Theologen als Zeugen. Pointiert lutherisch und hermeneutisch gewiefter sind
Positionen wie beispielsweise die von Gerhard Ebeling, die das Sakrament unter das Wort stellen.
Und eine dritte Gruppe stellt das Sakrament neben das Wort, wie z. B. Ulrich Kühn und Gunter
Wenz.
84 Ralph Kunz

which is through him, juxtaposed to these pre-existent rituals, is the institution and conse-
cration of Sacraments. He was baptized; he read the scriptures; he ate with sinners. His
death was a baptism and the meaning of Baptisms. Risen, he opens to us all the scriptures.
He is known as risen in the bread. His death was a cup which he gives us to drink. The pat-
terns of the liturgy root in Jesus Christ.¹⁸

Mit der Verortung des sakramentalen Ursprungs in Jesus Christus zielt Lathrops
Liturgietheologie auf eine Lösung des sakramententheologischen Zwists, für die
Karl Barth die Spur gelegt hat. Er fragte in KD IV/2 an, ob die Kirche gut daran
getan habe, „besondere ‚Sakramente‘ bzw. ein besonderes sakramentales Ge-
schehen und Sein neben das eine, das in Jesus Christus geschah und ist“¹⁹ zu
stellen. Sein Ansatz, Jesus Christus als das eine und die Einheit begründende
Sakrament der Kirche zu verstehen, ist sowohl bibeltheologisch als auch dog-
matisch solide.
Die Unterscheidungsaufgabe der Theologie ist mit dieser Rückbesinnung auf
den Ursprung allerdings noch nicht erledigt.²⁰ Sie bleibt, wo sie praktisch und
nicht nur dogmatisch begriffen wird, ein virulent riskantes Geschäft, weil der
christlich bestimmte Ritus und das religiös beliebige Ritual ineinander überge-
hen. In den Mischzonen der gelebten Religion stiftet die Spur zum Ursprung
Orientierung, für das Überspringen der garstigen Gräben sind aber weitere Spuren
belangvoll.²¹

 Gordon Lathrop, “Holy Things: Foundations for Liturgical Theology”, Institute of Liturgical
Studies: Occasional Papers (1991) (online abrufbar unter https://scholar.valpor.edu/ils_papers/
57, Lesedatum: 11.12. 2021).
 K. Barth, KD IV/2, 59.
 Zur ideologischen Überfrachtung der Rückbesinnung siehe Gemeinschaft.
 Hilfreich dazu ist die Unterscheidung von Thomas Klie, „Vom Ritual zum Ritus: Ritologische
Schneisen im liturgischen Dickicht“, BThZ 26 (2009): 96 – 107. G. Lathrop, Holy Things, argu-
mentiert ähnlich, wenn er auf Ronald Grimes’ Unterscheidung zwischen ‚liturgy‘ und ‚ceremony‘
rekurriert. „Both liturgy and ceremony are necessary rituals in human life. But, unlike liturgy,
ceremony expresses a value unambiguously, without any expression of its contrary. But the
Christian liturgy embraces contraries: life and death, thanksgiving and beseeching, this com-
munity and the wide world, the order expressed here and the disorder and chaos we call by name,
the strength of these signs and the insignificance of ritual, one text next to another text which is in
a very different voice. In Christian use this ambiguity is not simply a general devotion to contrary
principles as a way to truth. For the Christian, in fact, the balance is in favor of life and than-
ksgiving and the hope for order, but only in such a way that all things are remembered, all sorrows
comforted, all wounds assuaged. The mystery of God is the mystery of life conjoined with death for
the sake of life.“
Streitsache Salböl 85

3 Die lebensphänomenologisch erweiterte


Sakramententheologie

3.1 Wann kippt Brauch in Missbrauch?

Halten wir fest: Wir handeln theologisch von heiligen Dingen, wenn von einer
sakramental bestimmten Weise des Zeichengebrauchs in der Liturgie die Rede ist.
Der Ritus ist auch ein Ritual und Liturgen sind auch „Ritualisten“. Sie sehen und
verstehen sich selbst als Teil einer Aufführung.²² Was wir anhand der Dinge be-
obachtet haben, lässt sich auch auf der Handlungsebene durchspielen. Die reine
Lehre lässt sich nicht durchhalten. Dennoch ist die Frage berechtigt: Wann kippt
ein heiliger Brauch in unheiligen Missbrauch? Oder die Frage ein wenig variiert:
Wann ist ein überlieferter Ritus religiös unbrauchbar geworden?
Das reformierte Unbehagen gegenüber dem unheiligen Theater, das den ri-
goros spiritualistischen Kurs der Sakramententheologie begleitet, ist historisch
begründet. Der Missbrauch der Messe war ein Geschäftsmodell, das auf Angst
basierte, aber gleichwohl religiöse Energien zu mobilisieren vermochte. Was die
Reformatoren Aberglauben nannten, funktionierte, weil ein religiöser Aberwitz
darin zum Vorschein kam. Vergängliches kann in Ewiges verwandelt werden. Das
Versprechen fusst auf der untergründigen Überzeugung einer wirksamen Analo-
gie der Ähnlichkeit. Die Regel similia similibus curantur – volkstümlich abgekürzt
Simsalabim – galt besonders für „Dinge“ wie Kerzen, Weihwasser und Hostien,
die als Requisiten der heiligen Show dienten. Was religiös verwendet wurde, be-
kam durch den Ritus eine Aufladung, Materie wurde durch Weihehandlungen
wirksam. Im Zentrum der Kritik war das Wandlungsgebet des Priesters. Das ge-
flüsterte „hoc est corpus meum“, das volkstümlich abgekürzt zum Hokuspokus
mutierte, hatte den Zweck, die religiöse Energie einer Hostie fassbar und ein-
setzbar zu machen – beispielsweise in einer Messe für die Toten, bei denen man
nie ganz sicher sein konnte, wie lange sie im Purgatorium bis zur endgültigen
Läuterung ausharren müssen. Was gäbe man nicht alles für die Gewissheit, dass
die Liebsten, die nicht immer so lieb waren, im Licht der göttlichen Liebe landen?
Vor allem, wenn man bedenkt, dass man dermaleinst selbst dorthin kommt. Man
gäbe gewiss viele Güter für ein Gut dieser Versicherung!
Und wie verhält es sich diesbezüglich mit dem Diamanten?

 Ronald L. Grimes, „Performance“, in Theorizing Rituals: Issues, Topics, Approaches, Concepts,


Studies in the History of Religions 1, hg.v. Jens Kreinath, Jan A.M. Snoek und Michael Stausberg
(Brill: Leiden, 2006), 379 – 394, 379 f.
86 Ralph Kunz

Die Sorge um das postmortale Geschick der verstorbenen Angehörigen, die


den Reformatoren so missfiel, beförderte Produkte einer religiösen Industrie, die
wenigstens eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit mit dem ganz persönlichen Er-
innerungsort aufweisen, für die „Algordanza“ wirbt. Dem Objekt, das sich die
trauernde Witwe aus der Asche ihres Partners anfertigen lässt, eignet zweifellos
ein Simsalabim-Moment und es erfüllt, vergleicht man es mit gewöhnlichen
Steinen, das Kriterium des höchsten Guts. Das macht es streng theologisch ge-
sehen noch nicht zu einem heiligen Ding. Aber was verlöre die Kirche, wenn sie
über den Schatten ihrer Strenge spränge und sich auf eine liturgische Verwendung
solcher Materialien im Rahmen eines Bestattungsritus einließe?
Ein gewagter Gedankensprung! Gegen eine Vermischung spricht, dass die
Wandlung von Kremationsasche in ein Juwel zu einem Erinnerungsritual gehört,
das nicht dafür bestimmt ist, eine Gemeinde teilnehmen zu lassen. Es ist Teil einer
Story, die nur Angehörige oder Freunde etwas angeht. Und natürlich steht der
Vorbehalt im Raum, dass die private Verwendung eines Souvenirs das Zeugnis der
Kirche, die im Ritus „ihren Herrn Jesus Christus als das die Existenz der Kirche
begründende Sakrament“²³ feiert, nicht ersetzen kann. Machen die theologischen
Anfragen jeden Versuch der Anknüpfung von vornherein obsolet?

3.2 Warum braucht es eine Weitung?

Ich habe keine Aktien bei Algordanza und denke nicht daran, ein Plädoyer für
Diamanten-Bestattungen zu halten. Mein Interesse geht vielmehr zu einer
Wahrnehmung der Dinge, der daran gelegen ist, den religionskritischen Auftrag
der Theologie ernst zu nehmen und gleichzeitig der spirituellen Suchbewegung,
die sich auch in den obskuren Verformungen der Gegenwartsreligiosität verbirgt,
nachzuspüren. Für eine Vermittlung braucht es zuerst eine Weitung dessen, was
die Protestanten Sakrament nennen.²⁴ Von einer Engführung war die Rede. Angst
kommt von Enge. Warum braucht es eine Weitung? Und wer tritt für sie ein? Um
eine theologisch verantwortete Weitung des Spielraums in angemessener Weise
zu diskutieren, bietet dieser Beitrag zu wenig Platz. Ich will wenigstens eine in-

 Eberhard Jüngel, „Das Sakrament – was ist das?“, Evangelische Theologie 26 (1966): 320 – 336,
335.
 Zu den Vorbehalten gegenüber dem Begriff vgl. Eberhard Jüngel, „Die Kirche als Sakrament“,
ZThK 80 (1983): 432– 457, hier: 437.
Streitsache Salböl 87

teressante Richtung anzeigen, in der die sakramententheologische Diskussion


weitergehen könnte.²⁵
Werden die Sakramente ausschließlich als Selbstbezeugung Jesu Christi
verstanden, konzentriert sich Sakramentalität auf die Frage der Einsetzung der
Sakramente durch das Stiftungswort Christi. Sakramentalität reduziert sich in
dieser Fokussierung auf die stiftungsgemäße Verwaltung des Sakraments darauf,
was gültig gesetzt ist und fragt nicht nach den subjektiven Bedingungen auf Seiten
des Spenders oder des Empfängers.²⁶ Zu Recht fragt Marcus Held zurück, ob durch
eine solche Fixierung die Sakramententheologie nicht vom Gesamt der Theologie
abgeschnitten werde. „Reicht es wirklich aus, Sakramente als eine menschlich-
kirchliche Handlung zu verstehen, durch die Christus sich selbst vergegenwär-
tigt?“²⁷
Mit Michel Henry macht sich Held für eine lebensphänomenologische Per-
spektive stark.²⁸ Sie hilft der geforderten Weitung auf die Sprünge und lenkt sie
auf die Spur der Materialität zurück, insofern sie Sakramentalität nicht nur durch
die beiden Kategorien von ‚Zeichen‘ und ‚Ursache‘ sieht. Es genüge, so Held, auch
nicht, Sakramente als bloße „Zeichenhandlungen“ zu verstehen. Vielmehr seien
sie als vermittelnde Empfangshandlungen der transzendentalen Affektivität des
absoluten Lebens „im Angesicht ihrer phänomenologischen Materialität“ zu be-
denken. Es geht um das Wie der Gebung, die „selbst radikal, das heißt phäno-
menologisch als das offenbar werdende Erscheinen oder die Manifestation selbst,
so wie sie in der phänomenologischen Materialität ihrer reinen Phänomenalität
wahrgenommen wird.“²⁹
Dadurch, dass sich der Fokus der Frage nach Sakramentalität auf das In-Er-
scheinung-Treten bzw. das Wie der Gebung (des Lebens) verschiebt, relativiert
sich auch die Frage nach einem Stiftungszusammenhang. Wenn Gott (in Christus)

 Interessant dazu der Ansatz von Louise-Marie Chauvet, Symbol und Sakrament: Eine sakra-
mentale Relecture der christlichen Existenz, Theologie der Liturgie 8 (Regensburg: Verlag Friedrich
Pustet, 2015). Vgl. dazu Martin Stuflesser (Hg.), Fundamentaltheologie des Sakramentalen: Eine
Auseinandersetzung mit Louis-Marie Chauvets ‚Symbol und Sakrament‘, Theologie der Liturgie 9
(Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 2015).
 So Gunther Wenz, Einführung in die evangelische Sakramentenlehre (Darmstadt: WBG, 1988),
41.
 Marcus Held, „Sakrament als ein In-Erscheinung-Treten der Gabe des Lebens“, in: NZSTh 63
(1) (2021): 35 – 65.
 Vgl. Michel Henry, Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens (Freiburg: Verlag Karl Alber, 2019);
ders., „Phänomenologie des Lebens“, in Affekt und Subjektivität: Lebensphänomenologische
Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, hg.v. dems. (Freiburg: Verlag Karl Alber,
2005), 13 – 32.
 M. Held, Sakrament als ein In-Erscheinung-Treten, 59.
88 Ralph Kunz

sich in seinem Lebensvollzug als Gabe des Lebens gibt, erschließt sich im Sa-
krament Gottes Lebendigkeit für uns. In der lebensphänomenologischen Per-
spektive stehen die schöpfungstheologischen und soteriologischen Aspekte nicht
nebeneinander, sondern geraten untereinander.³⁰
Die lebensphänomenologische Perspektive leitet dazu an, die Gabe des In-
Erscheinung-Tretens als Leben für uns zu deuten, d. h. als ein Leben, das sich in
seinem unverfügbaren Selbstvollzug als Gnade erschließt. Sakramente sind die
Gabe des In-Erscheinung-Tretens des Lebens in der göttlichen Verlebendigung des
Lebens der Menschen und der Kirche, wie sie durch die Gabe des Lebens in
Christus möglich bzw. in Erscheinung tritt.

3.3 Das Wort, durch das Christus in Erscheinung tritt

Welche neuen Impulse bringt die lebensphänomenologische Neuakzentuierung


der Sakramentenlehre? Zu erhoffen ist eine Belebung des Gesprächs. Wenn mit
Marcus Held das Nebeneinander von Christologie und Schöpfungslehre kritisiert
wird, stellt sich sogleich die Frage, wie das In-Erscheinung-Treten des Lebens
durch die Dinge wieder im Wort ankommt, das Christus als Sakrament der Kirche
bekannt macht. Meine Antwort auf diese Frage ist insofern erzprotestantisch, als
ich mich in einem nächsten Sprung dem Buch zuwende, dem wir dieses Wort
entnehmen.
Ich halte mich dabei nicht an die Regel, dass ein wackerer Reformierter nur
noch von Taufe und Abendmahl als Sakrament reden darf und schlage vor, im
Buch der Bücher weiter zu blättern und in den drei Variationen der Salbungsge-
schichte ein sakramententheologisches Juwel der Überlieferung zu sehen. Erst in
der Synopse werden die Differenzen erkennbar, die mich zu diesem Schluss
führen. Sie bilden Facetten der Auslegung und gleichzeitige Identifikationsan-
gebote: Markus erzählt von der Namenlosen, mit der sich alle identifizieren
können, Lukas von der bekannten Sünderin, mit der sich niemand identifizieren
will und Johannes von Maria, die Jesus inspiriert hat, an seinen Jüngern zu
handeln, wie sie an ihm gehandelt hat.

 Ebd., 61 f.: „Sakramente sind das Zugleich des darstellenden Handelns des In-Erscheinung-
tretenden Lebens, welches in Christus Fleisch wurde, also die phänomenologische Materialität in
der Welt in Erscheinung treten könnte. Die Sakramente als transzendentale Affektivität des Le-
bens sprechen das absolute Leben in das Leben der Lebendigen hinein, in der die Selbstaffektion
des Lebens zu unserer Sprache bzw. mir zur Sprache wird.“
Streitsache Salböl 89

4 Salbung Christi

4.1 Ein Stück vergessene Christologie?

Im Unterschied zu Zeichenhandlungen, die Jesus als Akteur und Provokateur in


Szene rücken, erzählt die Geschichte der Salbung in Bethanien eine Zeichen-
handlung, die an Jesus vollzogen wird. Wer die Protagonistin ist, bleibt diffus,
jedenfalls dann, wenn man alle Evangelisten nebeneinanderlegt und die beste-
henden Varianten der Episode aufeinanderlegt. Markus stellt eine unbekannte
Frau in die Mitte (Mk 14,3 – 9), die im Haus von Simon eine Szene macht. Bei Lukas
wird die Namenlose zu einer stadtbekannten Sünderin (Lk 7, 39 – 53) und für Jo-
hannes ist sie Maria, die Schwester von Marta und Lazarus (Joh 12,1– 9).³¹ In allen
Evangelien kommen aber dieselben symbolischen Obertöne zum Schwingen. Die
Tat der Frau macht aus dem Nazarener den Gesalbten. Man kann ohne Über-
treibung von einer Schlüsselstelle in der Story Jesu reden. Immerhin hat sich
„Christus“ als Hoheitstitel für Jesus durchgesetzt.
Natürlich ist das historisch betrachtet nicht alles, was zur Salbung zu sagen
ist.³² Allerdings ist es schon bemerkenswert, wie prononciert Jesu Reaktion auf
den Überfall der Frau ausfällt und wie seltsam beiläufig, um nicht zu sagen
nachlässig in der Dogmengeschichte mit der Tatsache umgegangen wurde, dass
Jesus von einer Frau gesalbt worden war. Die Salbung des Gesalbten ist also im
doppelten Sinn des Wortes ein handfestes Mysterium. Könnte es sein, dass wir es
mit einer Verdrängung zu tun haben? Oder musste diese kleine Skandalgeschichte
im Schatten der großen untergehen? Zumindest in den Augen der Zeugen des
Geschehens ist in Bethanien etwas Anstößiges und Anmaßendes geschehen.³³
Zu Recht schreibt Wolfgang W. Müller in einem Essay mit dem Titel „Die
Salbung Christi – ein Stück vergessener Christologie?“, es müsste eigentlich von
Interesse sein, der Salbung Jesu als einem Ereignis nachzugehen, das von den
Synoptikern einhellig bezeugt wird. Immerhin leiten wir vom „Christus“ die Be-
rechtigung ab, uns Christen zu nennen.³⁴ Bibeltheologisch ist die Ölspur auch

 Matthäus hält sich an die markinische Version und wurde in dieser Synopse nicht berück-
sichtigt.
 So z. B. Martin Karrer, Der Gesalbte: Die Grundlagen des Christustitels (Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht, 1990).
 Vgl. dazu Christa Mulack, Jesus – der Gesalbte der Frauen: Weiblichkeit als Grundlage christ-
licher Ethik (Stuttgart: Kreuz Verlag, 1987), bes. 104 ff.
 Wolfgang W. Müller, „Die Salbung Christi – ein Stück vergessener Christologie?“, Freiburger
Zeitschrift für Philosophie und Theologie 43 (1996): 420 – 435, 420.
90 Ralph Kunz

eine Verbindung zum Alten Testament. Zentral ist die Prophezeiung des gerechten
Königs, der als Friedefürst auftreten wird und auf dem der Geist JHWHs ruht (Jes
11,1 ff). Im Neuen Testament wird die Salbung symbolisch als Taufe mit dem
Heiligen Geist verstanden und in Verbindung mit der Taufe am Jordan, der Auf-
erstehung, der Himmelfahrt und der Geistausgießung an Pfingsten gebracht.
Zentral ist die Taufperikope (Mk 1,9 – 11), die auf Ps 2,7 zurückgreift.
Müller hält sich bei seiner Spurensuche nach dem Ereignis nicht lange in
Bethanien auf. Es ist einerseits sicher richtig, die Salbung Jesu in diesem größeren
bibeltheologischen Komplex zu erörtern und das Thema der Salbung Jesu nicht
auf diesen einen historisch feststellbaren Akt festzulegen. Andererseits geht mehr
als nur der materiale Kern der Geschichte verloren, wenn die Verhandlung der
Christologie an die Handlung an Jesus übergeht. Es fehlt das Sinnliche und der
Widerstand der Reibung, den die drei Erzählungen erzeugen.

4.2 Die Zeichenhandlung einer Namenlosen (Mk 14,3 – 9)

Historisch am nächsten kommen wir der ursprünglichen Begebenheit mit Markus.


Joachim Gnilka meint gar, man könne sich bei der Analyse dieser „biographischen
Szene aus der palästinisch-judenchristlichen Tradition“ auf seine Version be-
schränken.³⁵ Der Ort ist symptomatisch.³⁶ Erzählt wird, dass sich eine nicht näher
genannte Frau sehr auffällig verhielt. Was sie tat, fiel aus zwei Gründen aus dem
Rahmen. Sie drängte sich erstens in eine Männergesellschaft und verschleuderte
zweitens eine 300 Denar teure Nardensalbe, was ungefähr dem Jahresgehalt eines
Tagelöhners entsprach. Die Reaktion kam prompt. Einige schnaubten vor Em-
pörung. Hätte man das Geld nicht besser den Armen gegeben?
Was die Tadler ihr vorhalten, entspringe einer frommen Regung, meinen ei-
nige Ausleger.³⁷ Schließlich ist die Einstellung, dass alles, was über die normalen
Lebensbedingungen hinausgeht, den Armen gehöre, durchaus sympathisch.³⁸
Wie immer man die Zwischentöne interpretiert: Fakt ist, dass die Salbung aus der

 Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK 2: Mk 8,27– 16,20 (Neukirchen-Vluyn:
Neukirchener, 1979), 222.
 Andreas Bedenbender, „Der Epilog des Markusevangeliums – revisited“, TuK 81/82 (1999):
28 – 64, 32. Bethanien ist der Rückzugsort von Jesus und den Seinen. Es ist wörtlich das Ar-
menhaus (hebr. beth Ani).
 Umstritten ist die Deutung von Joachim Jeremias, wonach die Kritiker nicht begriffen hätten,
dass die Frau ein Liebeswerk vollbringe. Joachim Jeremias, „Mk 14,9“, ZNW 44 (1952/53): 103 – 107.
Vgl. dazu J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, 224.
 Ebd., 224.
Streitsache Salböl 91

Perspektive von Almosenspendern eine absurde Verschwendung bedeutet. Jesus


nimmt die Täterin in Schutz. Dass sie (unbewusst) seinen Leib zum Begräbnis
gesalbt hat, ist die Deutung, die er der Handlung gibt.War sie der Auslöser für eine
spontane Eingebung?
Weder ihr Name noch ihre Herkunft interessieren den Evangelisten, nur ihre
Tat tritt ans Licht. Woher die Frau ein so teures Salböl hatte, spielt für ihn keine
Rolle. Ein wenig verdächtig ist es schon. So wie Markus die Szene schildert, schert
die Herkunft der Narde aber niemand. Die Frau tut, was sie tun muss. Was sie tut,
ist zeichenhaft. Sie salbt ihm den Kopf. Ihr Tun erinnert an eine Königsalbung
(z. B. 1Sam 9,16; 2Sam 12,7 u. ö.), „wie auch der gesamte Aufbau der Szene dem
einer prophetischen Zeichenhandlung entspricht, wobei auffälligerweise das zur
Form dazugehörige Element der Beauftragung fehlt.“³⁹
Noch auffälliger ist ein weiteres Detail: Die Frau zerbricht das Gefäß (Mk 14,6).
Dass sie das Gefäß öffnet, um das Öl zu verwenden, versteht sich von allein. Aber
war es zwingend, es regelrecht zu verschütten? Musste das Gefäß, das den kost-
baren Inhalt schützt, zerbrochen werden? Bei einer so teuren Salbe macht das
keinen Sinn. Eher ist davon auszugehen und aufgrund von Ausgrabungen auch
bestätigt, dass das verwendete Alabastron, um seinen Zweck zu erfüllen, wieder
verschließbar war. Zweck des Verschlusses war es, die sparsame Verwendung der
Salbe zu ermöglichen und die Verschwendung zu verhindern.⁴⁰
Es ist also seltsam, dass die Frau das Gefäß zerbricht. Warum macht sie das?
Vermutlich wollte sie die Salbe verschwenden und das Alabastron zerbrechen!
Einerseits um alles zu geben und andererseits, um etwas zu zeigen.Was es mit der
Narde auf sich hat, ist offensichtlich. Sie ist mehr als nur kostbar.⁴¹ Im Hohelied ist
die Narde ein Symbol der Liebe, ein Schmuck der Braut (Hld. 1,12), ein Kosewort
des Bräutigams, der seine Braut wegen der Narde preist, die in ihrem Garten
wächst (Hld 4,13 f.). Dunkler ist das Zeichen oder präziser gesagt die Zeichen-
handlung des Zerbrechens. Der biblische Hintergrund könnte Jer 19,1 ff sein, wo
der Prophet ein Tongefäß zertrümmert, um das Gericht über Jerusalem anzusa-

 Kerstin Schiffner, „Salbung mit ‚Hosanna‘ im Ohr, Mk 14, 3 – 9“, GPM 71 (2017): 191– 197, 195.
 Das Alabastron (ἀλάβαστρον), eine ägyptische Erfindung, war ein birnenförmiges, in der
Regel schlankes Gefäß in Form eines Fläschchens ohne Fuß und Henkel mit abgerundetem Bo-
den. Manchmal verfügte es über zwei oder mehr Ösen, an denen es mit Hilfe von Fäden befestigt
werden konnte. Alabastra wurden zur Aufbewahrung von Ölen, Salben, Duftstoffen und kost-
baren, aromatischen Essenzen verwendet und hauptsächlich von Frauen genutzt. Vgl. Günther
Hölbl, Beziehungen der ägyptischen Kultur zu Altitalien, 1. Teil (Leiden: Verlag Brill Deutschland
GmbH, 1979), 240 – 253.
 Narde ist eine Pflanze, die in den Bergen Indiens geerntet wurde. Das Extrakt aus den Wurzeln
galt als Luxusgut schlechthin.
92 Ralph Kunz

gen.⁴² Die Erwähnung der Zerstörung des Tempels in der Endzeitrede (Mk 13,2)
spricht ebenfalls dafür, dass an diesen Zusammenhang gedacht sein könnte. Ist
nicht der Tempel wie ein Gefäß und eine Hülle für das kostbare Leben Gottes?
Auch an das Abendmahl und das Leibwort (Mk 14,22) könnte man denken.⁴³ Es
muss etwas zerbrechen, damit das Leben wieder in Erscheinung treten kann. Der
stärkste Beleg, dass die Salbung Liebe und Tod verbindet, ist die Deutung, die
Jesus vornimmt. Er erkennt in der Tat der Frau das Prophetische, er liest ihr
Zeichen und deutet es um. Das Bild kippt: Von der Liebe, die alles vereint, zum
Tod, der alles zerbricht, von der Salbung des Königs, der ewig herrscht, zur Sal-
bung eines Menschen, der dem Tod geweiht ist. Ohne Verlustschmerz wäre die
Liebe nicht tief, ohne Geschmack der Liebe der Tod nur heroisch. Das Bild muss
kippen. Dazu braucht es das Öl und einen Menschen, der salbt und Jesus, der sich
die Handlung gefallen lässt. Es braucht die Geschichte, die das zeichenhafte
Handeln der Frau erinnert und den verborgenen Sinn in ihrem unsinnigen Han-
deln deutet. Dass sie das Gefäß zerstört (Signal des Todes), um ihn wie einen
König (Signal der Liebe) zu salben, widerspiegelt seine Hingabe (Signal der Liebe)
am Kreuz (Signal des Todes). Liebe geht übers Kreuz: Dass er mit einem feierli-
chen Amen dazu aufruft, ihrer zu gedenken, ist sein Echo auf ihre Zeichenhand-
lung, die wiederum auf seine Zeichenhandlung vorauszeigt – eine Zeichenhand-
lung, die wir tun, um seiner zu gedenken.
Einen interessanten Gedanken dazu äußert Kerstin Schiffner in einer Pre-
digtmeditation zu Mk 14,3 – 9. Sie sieht die Szene der Salbung eingerahmt von
Bildern zweifelnd-verzweifelter Suchbewegungen. Symptomatisch ist ein Vorwurf
der Jünger an den Meister, der sich zum Beten zurückzog. „Alle suchen dich!“ (Mk
1,37) Und am Ende werden die Leser (und die Frauen) am leeren Grab zurück-
gewiesen: „Ihr sucht Jesus […] – er ist nicht hier.“ (Mk 16,6):

Alle suchen Jesus, den Nazarener, den Gesalbten, Gottes Sohn – und finden ihn in dem, was
von ihm erzählt wird und was er sagt, noch einmal kurzgefasst: in der guten Botschaft Jesu
Christi (euangelion Jesou Christou, Mk 1,1). Das ist präsentische Suche als ewige Suche, wenn
und weil das Präsens die Zeitform der Ewigkeit ist – ganz anders als das ‚ewige‘ Suchen, ihn

 Etwas weiter hergeholt ist die Analogie zu Röm 9,19 – 21. Paulus nimmt Bezug auf Jeremias
Töpfer-Gleichnis. Der Töpfer entscheidet, welche Gefäße er weiterverwenden und welche er
zertrümmern will.
 Dass das Wort Alabastron in der Septuaginta nur ein einziges Mal vorkommt und dort (2. Kön
21,13) auch im Kontext eines Gerichtsworts, das den Untergang Jerusalems ankündigt, kann als
weiterer Beleg dienen. Vgl. dazu Andreas Bedenbender, „Echos, Spiegelbilder, Rätseltexte: Be-
obachtungen zur Komposition des Markusevangeliums“, 3. Teil, TuK 77/78 (1998): 25.
Streitsache Salböl 93

zu töten, greifen, umzubringen, überliefern, zum Tode zu verurteilen. Objekt der Suchbe-
wegung ist ‚dieser Jesus‘ – nicht zerstörerisches Handeln.⁴⁴

Aber Jesus entzieht sich. Niemand wird seiner habhaft. Von einigen lässt er sich
finden. Sie, die Namenlose, sucht ihn auf und salbt ihn. Sie findet ihn, weil er sich
finden lässt.Wie tritt er für uns in Erscheinung? Als Wohlgeruch Christi, der in der
Luft hängt!

4.3 Die Rettung einer Sünderin (Lk 7,36 – 50)

Im dritten Evangelium hat die Geschichte von der Frau, die Jesus salben wollte,
eine prominente Stellung. Sie handelt von einer Kontroverse um eine exempla-
risch, ‚große‘ Sünderin, die mit Attributen einer Dirne ausgestattet wird. Es fragt
sich, ob die lukanische Version eine andere Begebenheit widerspiegelt. Erstens
spielt sie in Galiläa in der Anfangszeit des Wirkens Jesu und zweitens ist es der
Gastgeber, der irritiert ist. Nachdenklich macht ihn, der zunächst einfach „der
Pharisäer“ ist, nicht die Verschwendung eines Luxusprodukts (in dieser Ge-
schichte geht es nur um Myrrhe), sondern die Tatsache, dass sich sein Gast von
einer stadtbekannten Sünderin „anfassen“ lässt und sich nicht wehrt. (Lk 7,39)
Von seiner Irritation wissen wir Leser durch den erzählerischen Trick des inneren
Monologs, den Lukas öfters anwendet. Den Lesern ist auch der eigentliche Anlass
der Einladung bekannt: Der Gastgeber wollte prüfen, ob am Gerede über den
angeblichen Propheten etwas dran sei. Und jetzt dämmert es ihm. „Jesus geht
jedes prophetische Gespür ab.⁴⁵ Und von Anstand hält er auch nicht viel. Dabei ist
es doch offensichtlich, wer diese Frau ist!“ Jesus kann die Gedanken des Phari-
säers lesen und nutzt die Gelegenheit, zu kontern, indem er ihm ein Gleichnis
erzählt, das von großen und kleinen Schuldnern handelt. Erst jetzt nennt er Si-
mon bei seinem Namen. Und erst nach der Parabel wendet Jesus – immer noch mit
Simon redend – sich der Frau zu. Simon bekommt einen Denkzettel, die Frau eine
Absolution und die Zuschauer fragen sich, wer Jesus ist.
In der kunstvoll komponierten Erzählung geht einiges nicht auf. Die Frau
„wäscht“ die Füße mit ihren Tränen. Das „setzt einen Tränenstrom voraus, der nur

 K. Schiffner, Salbung mit ‚Hosanna‘ im Ohr, 193.


 Heinz Schürmann, Das Lukasevangelium: Erster Teil: Kommentar zu Kap. 1,1 – 9,50 (Freiburg:
Herder, 1984), 433: „Er hat nicht die Herzenskenntnis, die man bei einem Propheten erwarten
darf.“
94 Ralph Kunz

in Romanen vorkommt – und nicht in guten“.⁴⁶ Und „dass ausgerechnet ein auf
Reinheit bedachter Pharisäer seinem Gast kein Wasser für die Fußwaschung ge-
geben haben soll, ist völlig unwahrscheinlich, und vom Salben gilt: Einem Gast
Gelegenheit zu bieten, sich zu salben, oder ihm durch einen Sklaven die Füße
salben zu lassen, galt als Anstandspflicht.“⁴⁷ Man kann aufgrund der vielen
Ungereimtheiten davon ausgehen, dass Lukas tatsächlich eine andere Begeben-
heit schildert und das Salbungsmotiv aus der Bethanienerzählung zugewandert
ist.⁴⁸ Die Vermengung der Geschichten führte dazu, dass die Namenlose in
Bethanien mit der Sünderin identifiziert wurde. In der Auslegung der Kirchenväter
gesellte sich die in Lk 8,2 genannte Maria von Magdala dazu. Die Überblendung
der verschiedenen Frauengeschichten im Gedächtnis der Männer, hat die indivi-
duellen Geschichten und Gesichter verschwimmen lassen⁴⁹ – ein Umstand, der in
der feministischen Exegese reflektiert und kontrovers diskutiert worden ist.
Die lukanische Neuerzählung hat einerseits zur Unschärfe der Überlieferung
der Salbungsgeschichte beigetragen. Andererseits wird mit der narrativen Ein-
bettung des dritten Evangelisten die Figur der Frau zu einem wiedererkennbaren
Typus. Sie spielt die Rolle der bekehrten Sünderin, die aufgrund ihrer erotisch
(miss)verständlichen Aktionen als Dirne erkannt wird. Der eigentliche Skandal
der Jesusgeschichte, so könnte man mit Blick auf die Bethanienerzählung rück-
blickend sagen, ist die Gemeinschaft Jesu mit den Sündern. Und der zentrale
Konfliktpunkt ist die Verletzung der Reinheitsgebote durch Berührung. Lukas geht
es, so Reinhard von Bendemann, „um eine antithetische Gegenüberstellung
zweier Modelle von communitas.“⁵⁰

 Ernst Haenchen, Der Weg Jesu: Eine Erklärung des Markus-Evangeliums und der kanonischen
Parallelen (Berlin/Boston: de Gruyter, 2019), bes. 462– 471, 471.
 Ebd.
 Vgl. Reinhard von Bendemann, „Liebe und Sündenvergebung: Eine narrativ-traditionsge-
schichtliche Analyse von Lk 7,36 – 50“, Biblische Zeitschrift 44 (2) (2000): 161– 182, 181: „Lukas
nutzt verschiedene Quellen (Mk 14,3 – 9) bzw. Traditionen (Lk 7,41 f.47de) zur Inszenierung einer
Neuerzählung, die er im Aufriß seines Evangeliums – in Korrespondenz zur exemplarischen
Berufung des ersten Jüngers in Lk 5,1– 11 – an prominentem Ort präsentiert.“
 Katharina Wiefel-Jenner, „Mk 14,3 – 9, 17.04. 2011, Palmsonntag: ‚Die Namenlose und die
Liebe‘“, GPM 85 (2010): 192– 198, 193 fragt: „Ob die namenlose Frau über die Jahrhunderte hinweg
nicht für würdig genug befunden wurde, um in der Passionserinnerung einen prominenteren
Platz zu bekommen? Gern wurde sie mit der stadtbekannten Sünderin von Lk 7,36 – 50 identifi-
ziert, die doch Jesu Füße – und nicht seinen Kopf – gesalbt hatte. Hat womöglich deren
‚schlechter Ruf‘, der ihr trotz der Rehabilitation durch Jesus weiterhin anhaftet, verhindert, dass
der Namenlosen die Ehre der gottesdienstlichen Aufmerksamkeit gewährt wurde?“
 R. von Bendemann, Liebe und Sündenvergebung, 182: „Diese Antithese aber erschließt sich
nicht allein auf dem Hintergrund antiker Konventionen der Gastfreundschaft, wie dies die bis-
herige Forschung in großer Einhelligkeit voraussetzt. Vielmehr zeigte sich, dass Lukas in der
Streitsache Salböl 95

Diesbezüglich ist die Geschichte messerscharf. Lukas zeichnet das Bild einer
von Dankbarkeit überfließenden und überschwänglichen Liebe, die das sittliche
und religiöse Regelwerk einer Gemeinschaft sprengt und etwas Neues einfordert.
Was bei Markus das Alabastron ist, wird bei Lukas der geschlossene Kreis der
exklusiven Religion. Ein erster Hauch von Pfingsten ist in der Luft. Wer den Geist
nicht hat, missversteht allerdings die Gesten. Anstatt das Haupt zu salben, ver-
harrt die Frau in der Pose der Sklavin und ehrt die Füße. „Aber was objektiv
weniger ist, und auch ganz unschicklich, ist subjektiv ein Mehr: Zeichen einer
Liebe, die im Zerbrechen aller Formen zeichenhaft wird.“⁵¹
Die Liebe schert sich einen Dreck um jene Reinheit, die lieblos wird, weil sie
jede Berührung zur Sünde erklärt oder irrigerweise meint, in ihr eine Ablenkung
von der Gottesliebe zu erkennen. Als ob es nur darum ginge, seine Pflicht und
Schuldigkeit zu tun! Darin liegt die Pointe der Parabel, die Jesus dem Simon er-
zählt. Liebe und Vergebung stehen in einer Wechselwirkung.Wer viel liebt, erfährt
viel Vergebung, wer viel vergibt, bekommt es mit der großen Liebe zu tun. Das ist
die neue Lehre.
Jesus lässt seine Worte nicht einfach so stehen, wie er auch die Frau nicht
einfach stehen lässt. Er hat schon dadurch, dass er sich ihre Salbung hat gefallen
lassen, gezeigt, was er von ihr hält. Jetzt spricht er es auch aus. Es soll allen, die
ein Herz haben, unter die Haut gehen. Es ist nicht so einfach dahingesagt. Ihr sind
ihre Sünden vergeben. Sie ist eine Tochter Gottes, die in Frieden gehen kann.
„Was zeichenhaft schon ‚gesagt‘ war, wird jetzt Wort. Das ‚Wort tritt zum
Element‘ und das ‚sakramentale‘ Geschehnis ist vollendet […] Die Entlassung mit
dem Friedensgruß bekommt nach einer derartig zugesprochenen Vergebung dann
den Sinn der altchristlichen Pax.“⁵²
Könnte denn die Geschichte, wenn sie tatsächlich auf das „Sakrament“ der
Buße abzielt, auch ohne das Element der Salbung funktionieren? Sie tritt bei
Lukas tatsächlich in den Hintergrund. Ich denke aber, dass das Alabastron mit der
Myrrhe wichtig ist. Bei Lukas steht die Salbe für Zuwendung und Herzlichkeit. Es
ist ein Medium und Mittel, um Zuneigung zu signalisieren, füreinander zu sorgen,

Neukodierung des Verhaltens der Frau in Lk 7,44– 46 gezielt auf ein innovatives Niveau von
Sprachkompetenz rekurriert. Lukas kann die Figur der Frau christlich reinterpretieren und die
konkrete erzählte Begebenheit so für seine Leser aktualisieren. Die gyne wird zum Typus der
Bekehrten, deren Tun als ‚Lieben‘ qualifizierbar ist und insofern zum Grund und Ausdruck ihrer
(geschehenen) Entschuldung/Sündenvergebung.“
 H. Schürmann, Das Lukasevangelium, 433.
 Ebd., 439.
96 Ralph Kunz

etwas Gutes zu gönnen und in dieser Geschichte der Ausdruck dessen, was man
als die lukanische „Gegenwartssoteriologie“⁵³ bezeichnen kann.

4.4 Auf dem Weg zum Sakrament (Joh 12,1 – 8)

Aufschlussreich sind die Veränderungen, die der vierte Evangelist gegenüber den
synoptischen Vorlagen vornimmt. Johannes verschiebt die Szene vom Haus Si-
mons ins Haus des Geschwistertrios Lazarus, Martha und Maria. Letztere ist es, die
als Salbende auftritt. Jetzt ist ihre Stunde gekommen. Sie verwendet ein römisches
Pfund des teuren Öls, eine unsinnig große Menge, salbt damit wie die Frau in Lk 7
die Füße und nicht das Haupt, wischt aber das Öl und nicht Tränen mit ihrem
Haar ab. Sinnvoll ist das nicht, aber ein Beleg, dass Johannes sowohl die mar-
kinische als auch die lukanische Variante der Geschichte kannte.⁵⁴
Hartwig Thyen geht davon aus, dass das intertextuelle Spiel mit den vor-
handenen Erzählungen damit rechnet, dass die Prätexte stets mitgelesen werden
wollen. Der neue Text wird zwischen die beiden alten gestellt.
Dass Johannes anstelle des Gefäßes (Alabastron) die Menge nennt, hat mit
seiner Vorliebe für Zahlensymbolik zu tun, dient ihm aber auch dazu, die Ver-
schwendung anschaulich zu machen.⁵⁵ Außerdem korrespondiert das Motiv der
Überfülle mit der Mengenangabe in der späteren Salbung des Leichnams Jesu
durch Nikodemus nach Joh 19,39 – 42. Einige Ausleger deuten die ungeheure
Menge Salböl, mit dem er gemeinsam mit Josef von Arimathäa den toten Jesus
salbt, als ironischen Hinweis des Evangelisten auf die natürliche Begriffsstut-
zigkeit des Pharisäers.⁵⁶
Interessant ist die Verschiebung des Konfliktes, der sich bei Lukas zwischen
Pharisäer und Jesus zeigt. Bei Johannes ist es Judas, der opponiert und nicht wie
bei Markus „einige“, die sich empören. Aus einem bei Mk nur angedeuteten Ge-
gensatz zwischen der Frau und ihren ungenannten Tadlern sei hier der Schwarz-

 Wolfgang Schenk, Das biographische Ich-Idiom ‚Menschensohn‘ in den frühen Jesus-Biogra-


phien: Der Ausdruck, seine Codes und seine Rezeptionen in ihren Kotexten, FRLANT 177 (Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 1997), 189.
 Dass Martha am Tisch dient und Maria in anderer Rolle auftritt, ist wohl auch eine Folge des
lukanischen Einflusses, so Christian Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes, Zürcher Bi-
belkommentare (Zürich: TVZ, 22004), 381.
 Es gilt zu unterscheiden zwischen dumm verschleudern und großzügig ausschenken. Im Jo-
hannesevangelium ist Verschwendung ein Leitmotiv. In der zeichenhaften Überfülle kommt ein
Wesenszug des Messianischen zum Ausdruck.
 Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, Handbuch zum Neuen Testament (Tübingen: Mohr
Siebeck, 2015), 753.
Streitsache Salböl 97

Weiß-Kontrast geworden, zwischen der Frau, die das kostbare Gut dahingibt,
„weil sie nur an Jesus denkt, und Judas, der diese Hingabe nicht versteht, weil er
nur an sich denkt.“⁵⁷
„Ist Judas der Mensch, der Jesus verfehlt, so begegnet in Maria der Mensch,
der Jesus liebt und versteht. Sie stellt ihre Liebe, die das Berechnen hinter sich
lässt, in der überreichen Salbung dar, und diese Liebe – ob sie es weiß oder nicht
– lässt sich davon steuern, daß in der Totensalbung sich die Königssalbung er-
eignet.“⁵⁸
Wie bei Lukas sehen wir auch bei Johannes eine Typisierung. Wozu sie dient,
erschließt sich, wenn man das erzählerische Gegenstück zur ungewöhnlich lu-
xuriösen Waschung der Füße der Maria in den Blick nimmt: die Waschung der
Füße der Jünger durch ihren Meister.Wenn sich in der Fußwaschung der Maria die
Liebe der ergebenen Magd zu ihrem Herrn zeigt, zeigt sich in der Fußwaschung
des Meisters eine spektakuläre Umkehrung der Hierarchie. Auch hier muss das
synoptisch überlieferte Jesuswort mitgelesen werden.⁵⁹ Es ist Jesus, der kniet, sich
erniedrigt und den verachtenswerten Sklavendienst verrichtet, zu dem kein jü-
discher Sklave gezwungen werden durfte. Man könnte das leicht missverstehen –
und es ist missverstanden worden in der Christentumsgeschichte. Darum ist es
wichtig, die Umkehrung nicht zu verkehren: Wenn Schüler ihrem Meister die Füße
waschen, drücken sie damit ihre Ehrerbietung aus. Wenn der Meister seinen
Jüngern die Füße wäscht, tut er genau dies! Dazu passt, dass dieselbe Handlung
auch die Liebe zwischen zwei freien Personen darstellen konnte.⁶⁰
Die Fußwaschung, die Kp. 13 einleitet, ist also die Zeichenhandlung Jesu, die
auf die Zeichenhandlung der Maria antwortet. Sie mündet in das Gebot: „Daran
wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe unterein-
ander habt.“ (Joh 13,35) Seine Zeichenhandlung ist Veranschaulichung und An-
lass zur Weisung, dass die Jünger untereinander und aneinander tun, was der Herr
seinen Jüngern getan hat. Dass er sie später Freunde und nicht mehr Knechte
nennt (Joh 15,15 – 17), unterstreicht den Statuswechsel. Interessant ist, wie
kunstvoll Johannes das intertextuelle Spiel für den Petrus-Jesus-Dialog nutzt.
Wenn Nikodemus den Part der natürlichen Begriffsstutzigkeit spielt, kommt Si-

 E. Haenchen, Der Weg Jesu, 468. Allerdings scheint V. 6, in dem das moralische Urteil über
Judas gesprochen wird, ein späterer Einschub zu sein.Vgl. dazu C. Dietzfelbinger, Das Evangelium
nach Johannes, 379.
 C. Dietzfelbinger, ebd., 383.
 „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen
(diakonein) …“ (Mk 10,45).
 Jörg Augenstein, Das Liebesgebot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen, BWANT
134 (Stuttgart: Kohlhammer, 1993), 31.
98 Ralph Kunz

mon Petrus die Rolle des geistlichen Stolperers zu. Seine Verwirrung und Verir-
rung zeigt sich im Evangelium bis zum Schluss wie ein roter Faden und lässt Jesus
am Ende zurückfragen: „Liebst Du mich?“ (Joh 21,15 – 17) Die Szene ist ein Echo
des Redegangs, der auf die Fußwaschung folgt und bringt zugleich die Differenz
zwischen der Markus- und Lukasüberlieferung ins Spiel. „Da sprach Petrus zu
ihm: Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen! Jesus antwortete ihm: Wenn
ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir. Spricht zu ihm Simon Petrus:
Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt! Spricht Jesus
zu ihm: Wer gewaschen ist, bedarf nichts, als dass ihm die Füße gewaschen
werden; er ist vielmehr ganz rein.“ (Joh 13,8 – 10)
Die Verschiebungen, die Johannes gegenüber den Prätexten vorgenommen
hat, eröffnen neue Interpretationsspielräume. Liest man die Fußwaschung der
Maria als Initialereignis und die Fußwaschung der Jünger durch den Meister als
Fortsetzung, bekommt das Evangelium, das zum Gedächtnis der Namenlosen
verkündet wird (Mk 14,9) eine noch explizitere sakramentale Bedeutung. Er wie-
derholt, was sie an ihm getan hat, an seinen Jüngern, um diese wiederum auf-
zufordern, es ihm gleichzutun: „Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit
Recht, denn ich bin’s auch. Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße
gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Denn
ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr und
der Gesandte nicht größer als der, der ihn gesandt hat. Wenn ihr dies wisst – selig
seid ihr, wenn ihr’s tut.“ (Joh 13,13 – 17)

4.5 Pièces de Résistance

Springen wir zurück zum vermuteten Ursprung der Story und seiner sakramen-
talen Dimension, die in der Fortschreibung in den Text hineingeschrieben wurde:
Das Anstößige der persönlichen Geschichte ist der Anlass, dem Ding nachzu-
sinnen, das im kleinen Drama so viel ausgelöst hat. Das Pièce de Résistance geht
durch ihre Hände und findet das Haupt (oder die Füße) Jesu.Was durch sie an ihm
geschieht, geht unter die Haut – weil Haut und Haut sich berühren: freund-
schaftlich, zärtlich, pflegend und weil die Handlung einen Überschuss an Be-
deutung erzeugt, etwas, das wir „symbolisch“ nennen.
Und unversehens hat das Episodische eine epochale Bedeutung, weil eine
unbedeutende Frau ihre Liebe nicht unter Kontrolle brachte. War es die Narden-
salbe, die sie auf die Idee brachte, dem Retter ihrer Seele ihre Liebe zu zeigen?
Eugen Drewermann deutet die Szene in diese Richtung: „In gewissem Sinne ist
diese kleine Erzählung von der Salbung Jesu in Bethanien am Anfang der Pas-
Streitsache Salböl 99

sionsgeschichte eine der mutigsten Antworten auf die ewige Frage nach dem
unübersehbaren Meer von Leid und Zerstörung in der Welt […], auf der einen Seite
die sanften Hände einer Frau, die streicheln, pflegen und zärtlich sein möchten;
auf der anderen Seite die rohe Gewalt und Zerstörung.“⁶¹
Mir ist das Drewermannsche Evangelium eine Spur zu pathetisch. In der
Sache hat er aber Recht. Es ist entlarvend, wie „einige“ auf die Frau reagierten und
es ist bezeichnend, dass sich Jesus schützend vor sie stellt. Ist es doch ein Spie-
gelbild seines Geschicks. Heißt es nicht im Evangelium, dass er wie ein Heiland
handelte? Auch seine Liebestat wurde mit Schnauben quittiert. Sie sehen nicht,
wen sie vor sich haben, sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23,34). Im Markus-
evangelium werden die unheimlichen (und zuweilen fromm ummantelten) Me-
chanismen der Zerstörungswut offenbar: damit die scheinbar Siegreichen be-
schämt und die scheinbaren Verlierer gewürdigt werden. Es ist die messianische
Strategie, das bestehende Bild kippen zu lassen und Umkehr und Heilung zu
ermöglichen.⁶²
Die feministische Exegese sieht die Frauen in diesem Machtspiel als Pro-
phetinnen.⁶³ Man kann auch die Namenlose in der Bethanienerzählung in dieser
Rolle sehen.⁶⁴ Für eine solche Sichtweise eignet sich m. E. eher die johanneische
Interpretation der Geschichte.⁶⁵ Sowohl zu Maria als auch zu Martha passt diese
Rollenbesetzung besser. Denn im Markusevangelium bringt nicht die Handelnde,
sondern der Behandelte die gefährliche Deutung ins Spiel. Jesus interpretiert die
Handlung neu und macht klar, dass die Liebestat der Frau mehr ist, als ihr selbst
und ihren Tadlern bewusst ist. Allerdings ist es ihre Handlung, die ihn dazu

 Eugen Drewermann, Das Markusevangelium: Zweiter Teil: Bilder von Erlösung (Olten: Walter-
Verlag, 1988), 412, 419.
 A. Bedenbender, Echos, Spiegelbilder, Rätseltexte, 26: „Aus dem Mk-Evangelium spricht keine
politische Strategie zur Überwindung des Imperiums, dafür entlarvt es seine Wirkungsweise. Und
seine illusionslose Art, die Welt zu betrachten, ermöglicht auch ein neues Verhältnis zur Praxis. In
höchster Prägnanz wird die Praxisorientierung des Mk-Ev ausgedrückt durch das ‚irrationale‘
Verhalten der Frau und durch die Position, die Jesus dazu einnimmt.“
 Zum Frauenbild im lukanischen Doppelwerk: Vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Zu ihrem
Gedächtnis … Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge (München:
Kaiser, 1988), 172– 177; Luise Schottroff, „Die große Liebende und der Pharisäer Simon (Lukas
7,36– 50)“, in Befreiungserfahrungen: Studien zur Sozialgeschichte des Neuen Testaments, TB 82,
hg.v. dies. (München: Kaiser, 1990), 310 – 323.
 Siegfried Eckert, „Palmarum – 9.4. 2017“, Homiletische Monatshefte 92 (2017): 263 – 267, 265:
„Petrus bekannte sich mit Worten zu Jesus als dem Messias. Diese Unbekannte tut Gleiches mit Öl
in der Zeichensprache einer Prophetin.“
 Monika Fander, „Das Evangelium nach Markus“, in Kompendium Feministische Bibelausle-
gung, hg.v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker (Gütersloh: Chr. Kaiser, 1998), 499 – 512,
508 f.
100 Ralph Kunz

animiert, sich als Gesalbten zu bekennen. Dass sein Ende naht, ahnt er; dass der
Menschensohn leiden muss, ist Teil seiner Botschaft. Für Markus ist die Passion
Jesu der Anfang einer Christologie, die er nur narrativ und nicht „dogmatisch“
ausführt.
Dogmengeschichtlich wurde, wie oben vermerkt, die Salbung aus der Jesus-
geschichte in die Christologie verschoben. Nicht die Frau mit dem Öl, sondern der
himmlische Vater salbt seinen Sohn. Aus Narde wird Geist. Die Frau geht ver-
gessen, wenn Irenäus von Lyon schreibt: „Denn der Name Christus bedeutet den,
der salbt und der gesalbt worden ist, und die Salbung selbst, in der er gesalbt
wurde. Es salbte aber der Vater, gesalbt wurde der Sohn in dem Geiste, der die
Salbung ist, gemäß dem Worte des Jesaja, der da spricht: Denn damit weist er hin
auf den Vater, der salbt, den Sohn, der gesalbt wurde und den Geist, welcher die
Salbung ist.“⁶⁶
Für diese innertrinitarische Salbung braucht es keine Salbe. Es klingt zwar
salbungsvoll, aber es fließt kein Tröpfchen Öl. Es fehlt das Ding. Die geruchs- und
berührungsfrei konstruierte Salbung exkarniert das Initialereignis und macht
vergessen, was der irdische Jesus der Namenlosen versprochen hat. „Wahrlich,
ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch
das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat.“ (Mk 14,9)

5 Ein Sakrament der Berührung

5.1 Die Krise des Sakramentalen

1966 sprach Joseph Ratzinger von einer „Krise des Sakramentalen, […] wie sie im
Inneren des Christentums in dieser Härte und Zuspitzung bisher kaum bestanden
haben dürfte“.⁶⁷ Im Fokus der Kritik stand das säkulare Zeitalter: „Wo die Welt als
Materie und Materie als Material angesehen wird, bleibt fürs erste kein Raum
mehr frei für jene symbolische Transparenz der Wirklichkeit auf das Ewige hin,
auf der das sakramentale Prinzip beruht.“⁶⁸

 Iranaeus, Adv. haer. III, 18, 3.


 Joseph Ratzinger, Theologie der Liturgie: Die sakramentale Begründung der christlichen Exis-
tenz (Meitingen: Kyrios-Verlag, 1966), 5 f.
 Ebd., 6.
Streitsache Salböl 101

Ratzingers Beobachtung, dass ein materialistisches Verständnis der Welt für


die Symbolhaftigkeit der Dinge blind ist⁶⁹, ist zutreffend, aber womöglich zu
wenig radikal. Könnte es sein, dass die konstatierte sakramentale Krise auch mit
dem Umstand zu tun hat, dass der christliche Glaube sich in einer entmateriali-
sierten Symbolik verloren hat und das sakramentale Prinzip eine spiritualistische
Kopfgeburt geworden ist? Wenn das Geheimnis des Glaubens keine körperliche
Resonanz mehr erzeugt, liegt es möglicherweise daran, dass heilige Dinge nur
gehört und gesehen werden, ganz selten einen guten Geschmack entfalten und
kaum duften. Die sanctorum communio sitzt wie versteinert im Anstandsabstand
in den Kirchenbänken. Sie leistet sich eine Theologie, die ohne Ermüdungser-
scheinungen Bücher schreibt über die „Zeichen der Nähe Gottes“. Aber wehe, es
rückt einer der anderen auf den Leib! Störungen sind nicht zu befürchten, keine
Küsse, keine Berührungen und schon gar kein Salböl stören die Runde. Das wäre
alles viel zu intim, zu gefährlich und zu körperlich. Der christliche Ritus ist eine
Feier für die Unberührbaren, für Menschen, denen sehr viel an Diskretion und
kaum etwas an Konkretion liegt.⁷⁰
Kann die Erinnerung an die Salbung Jesu daran etwas ändern? Kann sie die
Erstarrung des Leibes Christi lösen? Wohl kaum, solange nicht erfahren wird,
wovon die Rede ist. Die Krise des Sakramentalen wird nicht dadurch überwun-
den, dass Berührendes darüber gesagt wird, was die Salbung Jesu bedeutet. Dass
die „Teilnahme an der Salbung Christi“ existential gedacht werden kann, soll
keineswegs in Abrede gestellt werden. In der Deutung gehe ich mit Wolfgang W.
Müller einig, der treffend formuliert:

Die Salbung Jesu als Ereignis bedacht, zeitigt in seiner geschichtlichen Sendung wie in
seinem irdischen Geschick die absolute Erfüllung der Selbsttranszendenz jeder geistigen
Kreatur, die in Gott zu ihrem Ziel kommt. Die Salbung als ein ‚Stück vergessener Christologie‘
schlägt von der Sache her Brücken zu Themen der Anthropologie, Ekklesiologie und Sa-

 Das Stichwort der „Symbolunfähigkeit“ wurde sowohl in der Liturgik als auch in der Religi-
onspädagogik eingehend diskutiert. Vgl. zur Liturgik Luca Baschera und Ralph Kunz, „Der Got-
tesdienst der Kirche im Widerspiel von formativem und expressivem Handeln“, in Gemeinsames
Gebet: Form und Wirkung des Gottesdienstes, hg.v. Luca Baschera, Angela Berlis und Ralph Kunz
(Zürich: TVZ, 2014), 299 und Annegret Südland, Der Heilige Geist im Religionsunterricht: Empiri-
sche, exegetische, systematische und religionspädagogische Untersuchungen als Anregung für die
Bildung von Religionslehrkräften (Kassel: university press GmbH, 2019), 399.
 Mit „Berührung“ ist eine positiv qualifizierte inkludierende Nähe gemeint – und nicht ein
„Anfassen“. Es sind immer wertende Unterscheidungen, die wir für jeden Sinn machen. Wir
wollen gesehen, aber nicht begafft, angehört, aber nicht belauscht werden. Was das meint, wird
von Miroslav Volf in seiner Phänomenologie der Umarmung eindrücklich demonstriert. Vgl.
Miroslav Volf, Von der Ausgrenzung zur Umarmung: Versöhnendes Handeln als Ausdruck christli-
cher Identität (Marburg: Francke-Buch GmbH, 2012), 181– 192.
102 Ralph Kunz

kramentenlehre […]. Das Ereignis der Salbung im Leben Jesu erinnert den Christen daran,
daß Gott ‚alles in allem sein wird‘ (1. Kor 15,28). Die Teilnahme an der Salbung Christi
existential gedacht, ruft dem einzelnen Glaubenden seine letzte Bestimmung in Erinnerung:
im Hl. Geist Sohn, Tochter des dreieinen Gottes zu sein. Die Salbung meint damit das freie
und gnadenhafte Angebot Gottes an den Glaubenden, im Hl. Geist Anteil an der Liebe des
dreieinen Gottes zu erhalten.⁷¹

Für Müller ist die Salbung Jesu zentral. Allerdings fragt sich, ob die existential
gedachte Teilnahme ohne rituell erfahrene Teilhabe nicht ganz und gar abstrakt
bleibt. Kann Salbung berührungsfrei erlebt werden? Wie komme ich dazu, dieses
„freie und gnadenhafte Angebot Gottes“ wahrzunehmen, wenn es kein rituelles
Angebot dafür gibt? Wie kommt das Zeichen ins Herz, wenn es mich nicht berührt?

5.2 Die Salbung als Sakrament der Berührung

Die Klage ist nicht neu und es gibt zuhauf Vorschläge, wie die Kirche leib-
freundlicher gestaltet werden kann. Auch das Schnauben der Bedenkenträger ist
nicht zu überhören! Natürlich ist naiv, wer meint, es könne die sakramentale Krise
mit ein paar Segnungs- und Salbungsgottesdiensten überwunden werden – ein-
mal ganz abgesehen davon, dass es gute Gründe gibt, die stündige Feier am
Sonntagmorgen nicht zu überfrachten und zwanghaft ganzheitlich aufzuladen.⁷²
Das alles bedacht und gesagt, meine ich dennoch, dass der Wunsch nach leib-
freundlichen Riten seine Berechtigung hat, weiß aber auch, dass kybernetische
Weisheit gefragt ist, um vom Wünschbaren zum Machbaren zu kommen. Es fragt
sich nur, wie hilfreich eine Lehre ist, die das Sakramentale zwar als konstitutiv für
die Kirche bedenkt, aber keine Antwort darauf hat, was es mit der Materialität der
Zeichen auf sich hat. Wer das Gedächtnis der Frau, die Jesus gesalbt hat, ehren
will, fragt darum nicht nur, was Sakramente für die Kirche bedeuten, sondern
besser auch, wie sie für die Gläubigen wieder bedeutsam werden – im Wissen,
dass beide Fragen nicht unabhängig voneinander beantwortet werden können.
Die Frage, was das Sakrament bedeutet, ist nicht vom Tisch und die evan-
gelische Antwort, die Eberhard Jüngel darauf gegeben hat, halte ich immer noch
für relevant. Im Anschluss an Karl Barths christologische Fundierung des Sa-
kramentenbegriffs hält Jüngel thetisch fest, dass sich die Kirche in den beiden

 W. Müller, Die Salbung Christi, 426, 435.


 Vgl. dazu Ralph Kunz, „Abendmahl und Heilung“, in Alle sind eingeladen. Abendmahl inklusiv
denken und feiern, hg.v. Jochen Arnold, Drea Fröchtling, Ralph Kunz und Dirk Schliephake
(Leipzig: EVA, 2021), 89 – 104.
Streitsache Salböl 103

Feiern des einen Sakraments selbst verstehe: im Hinblick auf ihre Herkunft in der
Feier der Taufe und im Hinblick auf ihre Zukunft in der Feier des Abendmahls.

20. Die Kirche glaubt an ihre Herkunft, indem sie in der Taufe das eine Sakrament Jesus
Christus als das ex opere operato wirksame Sakrament des Aufbruchs feiert.

21. Die Kirche hofft auf ihre Zukunft, indem sie im Abendmahl das eine Sakrament Jesus
Christus als das ex opere operato wirksame Sakrament der Wegzehrung feiert.

22. In den beiden Feiern des einen Sakraments gibt die Kirche sich selbst und der Welt zu
verstehen, daß sie nicht mit der Zeit geht und nicht mit den Wölfen heult, sondern in einer
schon beendeten Zeit ihrem Herrn als ihrem gnädigen Ende entgegengeht.⁷³

Was in dieser Bestimmung auffällt: Zwischen dem Sakrament des Aufbruchs und
dem Sakrament der Wegzehrung erscheint ein ritueller Leerraum, der zwar
theologisch bestimmt wird, aber sakramental unterbestimmt bleibt.

23. Indem die Kirche in einer schon beendeten Zeit an ihre Herkunft glaubt und auf ihre
Zukunft hofft, versteht sie die ihr gegebene Zeit als Zeit zur Liebe.

24. Glaube, Hoffnung und Liebe sind als die durch das Wort Gottes ermöglichten Wesensakte
der Kirche in der Welt unverständlich; aber sie werden als Wesensakte der Kirche in den
beiden Feiern des einen Sakraments selbstverständlich.

5.3 Fazit

Was tut die Kirche in der ihr „gegebenen Zeit zur Liebe“? Man könnte an die
Diakonie denken, an Seelsorge und Pflege. Brauchen wir dazu ein drittes Sakra-
ment?
Wenn die Liebe ein Wesensakt der Kirche ist, dann muss sie auch in der
Gestalt konkreter Zeichenhandlungen in Erscheinung treten. Mit Reinhard Hem-
pelmann bin ich der Überzeugung, „daß die Sakramente in Sonderheit als Ort der
Erfahrung des Heils und als wirksame Zeichen der heilvollen Nähe Gottes gelten
können, hat seinen Grund auch darin, daß sich Gottes Heil in ihnen sinnenhaft
und leiblich mitteilt und konkretisiert.“⁷⁴ In der von Marcus Held vorgeschlagenen
lebensphänomenologischen Perspektive sehe ich die Möglichkeit, die christolo-
gische Grundgrammatik der Sakramente zu vertiefen und zugleich zu erweitern.

 Ebd.; E. Jüngel, Die Kirche als Sakrament, 336.


 Reinhard Hempelmann, Sakrament als Ort der Vermittlung des Heils: Sakramententheologie im
evangelisch-katholischen Dialog (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992), 24.
104 Ralph Kunz

Es gilt neben dem „heiligen Bad“ und dem „heiligen Essen“ die „heilige Berüh-
rung“ als dritten Erfahrungsraum zu erschließen.⁷⁵
Das Sakrament der Salbung schenkt der Gemeinschaft, die aus der Taufe
erwachsen ist und auf das letzte Mahl zugeht, berührende Momente. Der Raum
der „Gegenwart in der Liebe“ ist aufgespannt zwischen der Herkunft im Glauben
und der Zukunft in der Hoffnung.
Das Mandat Christi dazu haben wir. In der Fußwaschung wendet sich Jesus
jedem seiner Jünger persönlich zu. Dieser Dienst ist es, der ihn als wahren Herrn
auszeichnet. Die Gemeinschaft, die durch das Bad im Akt der Taufe realisiert wird,
ist die Gemeinschaft mit Christus, der in den Seinen wohnt. Die Gemeinschaft, die
durch die Berührung im Akt der Salbung/Fußwaschung reaktualisiert wird, ist die
Gemeinschaft der Freunde, die einander lieben, wie Jesus die Seinen liebt.⁷⁶ Sie
können ihn nicht festhalten und sie haben nichts von ihm, was sich in einen
Diamanten verwandeln lässt, nur sein Wort: „Wenn ihr dies wisst – selig seid ihr,
wenn ihr’s tut.“ (Joh 13,17)

6 Epilog
In meiner Heimatstadt Winterthur wurde vor ein paar Jahren ein neues Atelier
eröffnet. Es bot Perlenschmuck an, das aus Muttermilch gewonnen wird. Das
Geschäft lief so gut, dass die Palette der Produkte erweitert werden konnte. Neu
wird Gedenkschmuck aus Material hergestellt, das aus der Medizintechnik
stammt. Seit einiger Zeit werden auch Eheringe aus Haar oder Kremationsasche
angeboten – keine teuren Diamanten, sondern günstiger Schmuck. Manche
Kundinnen und Kunden bringen auch Federn von ihrem Lieblingshuhn. Men-
schen wünschten sich in Zeiten der Trauer etwas Greifbares, erzählt die Ge-
schäftsinhaberin. Es sei berührend, schön und manchmal auch etwas traurig,
wenn die Kunden ihre Geschichte erzählen.⁷⁷
Was tritt da in Erscheinung? Dass das Geschäft mit dem greifbaren Gedenk-
stein offensichtlich einem Bedürfnis entspricht. „Algordanza“ hat Konkurrenz
bekommen. Soll die Kirche ins Geschäft einsteigen? Nein, soll sie nicht, aber den
Menschen entgegenkommen und gleichzeitig dem „Trend zur Privatisierung und

 M. Held, Sakrament als ein In-Erscheinung-Treten, 39.


 Bezeichnenderweise ist bei Johannes die Gemeinschaft, die durch das Mahl gestiftet wird,
weniger prominent als bei den Synoptikern. In der präsentischen Eschatologie des Johannes fällt
die Gemeinschaft, die auf den kommenden Herrn hofft, mit der Gemeinschaft der Liebenden
zusammen, die hier und heute mit Christus verbunden lebt.
 Siehe Der Landbote vom 09.12. 2021, 4.
Streitsache Salböl 105

Intimisierung“ mit besseren Alternativen, die das Herz berühren, etwas Hand-
festes entgegensetzen.
Paula Stähler
Lebendiges Licht
Von Kerzen in Kirchen, daheim und im virtuellen Raum

1 Kerzen in evangelischer Glaubenspraxis


Religiöses Handeln vollzieht sich mit allen Sinnen: Hören, Sehen, Tasten,
Schmecken, Riechen. Ein Blick in die christlich-religiöse Praxis in Deutschland
und der Schweiz zeigt, wie weithin bekannt, erhebliche Differenzen darin, welche
Sinne in der Praxis wie intensiv angesprochen werden. Stehen in der evangeli-
schen Tradition vor allem das Hören und Verstehen im Zentrum der Glaubens-
praxis, was sich auch in der Gestaltung der Kirchgebäude in reformatorischer
Tradition zeigt, die zumeist wenig zu sehen oder zu riechen bieten, so sprechen
sowohl die Rituale als auch die sakralen Räume römisch-katholischer Kirchen in
der Regel deutlich mehr verschiedene Sinne an.
Farblich dem Kirchenjahr angepasste Kleidung, Weihrauch, Wandgemälde
oder Prozessionen sollen hier jedoch nicht im Fokus stehen, sondern ein Ge-
genstand, der in katholischen Kirchen selbstverständlich in jede gottesdienstliche
Liturgie sowie in jeden Sakralraum gehört, in der evangelischen Religionspraxis
jedoch einen bedenkenswert unklaren Ort hat: die Kerze.
Gefragt werden soll im folgenden Gedankengang, wie sich der Gebrauch von
Kerzen im Kirchenraum und in der liturgischen Praxis darstellt, welche histori-
schen und aktuellen Befunde einzubeziehen sind, welche Veränderungen sich
derzeit im Kontext der Corona-Pandemie im Blick auf dieses Thema zeigen und
welche Fragen zukünftig zu stellen und zu beantworten sein könnten.
Sowohl in der Anordnung des Kirchenraumes als auch im liturgischen Ge-
brauch fallen für den fokussierten Gegenstand Differenzen zwischen den Kon-
fessionen sowie eine evangelischerseits mangelnde Praxis im Umgang auf. Der
Ort der Kerze ist in lutherischen oder uniert-evangelischen Kirchen in der Regel
auf dem Altar sowie – in Form einer Osterkerze – auf einem zusätzlichen Ker-
zenhalter, der im Altarraum platziert ist. In reformierten Kirchen fehlen zumeist
die Kerzen auf dem Abendmahlstisch, allein eine Osterkerze ist im Raum zu fin-
den. Ausserhalb des sonntäglichen Gottesdienstes findet die Besucherin hier
keine brennenden Kerzen vor.
Anders stellt sich dies freilich in katholischen Kirchen dar. Hier brennt ein
ewiges Licht und es findet sich, häufig im Eingangsbereich oder in einer Seiten-
kapelle, eine Möglichkeit, eine Kerze für die persönliche Fürbitte oder zum Ge-

https://doi.org/10.1515/9783110762853-007
108 Paula Stähler

denken anzuzünden. Auch im gottesdienstlichen Gebrauch zeigen sich Unter-


schiede: Während hier die Kerzen durch Messdiener*innen zur Eröffnung der
Messe brennend in die Kirche getragen werden, werden die Kerzen einer evan-
gelischen Feier bereits vor Beginn angezündet und haben in der Regel keinen
speziellen Ort im liturgischen Verlauf.
Ihren Ursprung haben diese Differenzen in der reformatorischen Kritik mit
ihrem Anliegen, in Liturgie und Gotteshäusern durch Reduktion zu einer Fokus-
sierung der Glaubenspraxis zu führen.
Für Martin Luther gehörten „liechter“ zu den Äusserlichkeiten des Gottes-
dienstes, die dem Glauben nicht übermäßig schädlich waren und daher nicht
zwingend abgeschafft werden müssten. Zugleich waren sie dem Zusammenhang
des Heilsgeschehens entzogen und somit als Adiaphora nicht mehr notwendig.¹

Die vom Wort ausgehende Reformation der Kirche legte den Akzent auf die Lehre – evan-
gelium pure docetur – und die der Stiftung Christi entsprechende Sakramentsverwaltung –
recte administrantur sacramenta (CA VII). Den äußeren Zeremonien stand sie ambivalent
gegenüber. Durch die spätmittelalterliche Verselbständigung von Riten und Gebräuchen
gegenüber der Christusmitte schien Kritik unabwendbar. Andererseits behielt man vielerorts
die traditionellen Zeremonien der Messe weitgehend bei […]. Sie wurden in christlicher
Freiheit gesichtet, z. B. von Luther in seiner DM 1526: ‚Da lassen wyr die Messegewand / altar
/ liechter noch bleyben / bis sie alle werden / odder uns gefellet zu endern› (WA 19,80).²

Ein Blick auf das Taufbüchlein Martin Luthers zeigt exemplarisch, dass ein ‚Licht-
Ritus›, bei welchem der Priester eine brennende Kerze mit einem Begleitwort an
den Täufling überreicht, in der Fassung von 1523 noch enthalten ist, sich in der
zweiten Fassung von 1526 jedoch nicht mehr findet.³
In der Folge wurde in lutherischer Tradition auch nach dieser Grundhaltung
verfahren: Liturgische Gegenstände wurden aus dem Gebrauch genommen, ihre

 Natürlich war der Gebrauch von Kerzen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Kirchen insofern
selbstverständlich als sie eines der wichtigsten Beleuchtungsmittel waren, bevor sich Kerosin-
lampen und schließlich elektrisches Licht durchsetzten. Es ist somit zwischen der Verwendung
als Beleuchtungsmittel einerseits und dem liturgischen Gebrauch andererseits zu unterscheiden.
Hier beschäftigt die Frage nach dem Gebrauch von Kerzen als religiöse Zeichen, welche in Rituale
eingebunden sind und in dieser Funktion über ihre primäre Funktion als Lichtquellen hinaus-
gehen.
 Ottfried Jordahn, „Das Zeremoniale“, in Handbuch der Liturgik: Liturgiewissenschaft in Theo-
logie und Praxis der Kirche, hg.v. Hans-Christoph Schmidt-Lauber, Michael Meyer-Blanck und
Karl-Heinrich Bieritz (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 32003), Hervorhebung im Original.
 Vgl. August Jilek, „Die Taufe“, in Handbuch der Liturgik: Liturgiewissenschaft in Theologie und
Praxis der Kirche, hg.v. Hans-Christoph Schmidt-Lauber und Karl-Heinrich Bieritz (Göttingen:
Vandenhoeck und Ruprecht, 1995), 294– 332.
Lebendiges Licht 109

Funktion geriet in Vergessenheit und die entsprechenden Formen wurden so nach


und nach aus dem Gottesdienstablauf gestrichen. Agende I formulierte 1955
schließlich gut reformatorisch Texte, die den Gottesdienst inhaltlich gehaltvoll
füllten, nahm ihn aber nicht als liturgisches Gesamtkunstwerk in den Blick. Das
Evangelische Gottesdienstbuch (EGb) von 1999 stellt dann wiederum fest, dass
der Gottesdienst ‚auch leibhaft und sinnlich‘ erfahrbar sein soll und regt an, die
Wortverkündigung zu ergänzen und so bspw. einen Segen durch Gebärden zu
gestalten. Wie Klie in seinem Durchgang durch den Gottesdienst deutlich macht,
ist Wortverkündigung lutherisch mehr als die Verwendung verbaler Zeichen.
„Lutherisch meint ‚Wort‘ immer leibliches, sakramentales Wort; es besetzt ein
deutlich über das Wortsprachliche hinausgehendes semantisches Feld. […] ‚Wort‘
ist für Luther ein eminent sinnliches Zeichen, es hat eine wahrnehmbare Au-
ßenseite.“⁴
Verschiedentlich wird in praktisch-theologischer Literatur angeregt, die li-
turgischen Formen und Ausdrucksmittel zu erweitern. Dafür wird bspw. ein
Rückgriff auf die Tradition der liturgischen Bewegungen vorgeschlagen oder auch
die Erprobung neuer (und wiederentdeckter) liturgischer Formen, wie sie durch
einzelne kirchliche Gruppen, etwa in ‚Frauenliturgien‘, praktiziert werden.⁵
Für die reformierte Tradition lässt sich die Haltung Huldrych Zwinglis zur
Verwendung von ‚Zeichen‘ im liturgischen Gebrauch in den Blick nehmen und von
dort ausgehend öffnen. Weder Bilder noch liturgische Geräte noch Musik konnten
nach dem Verständnis Zwinglis Mittler theologischer Inhalte sein. Daher aber
gehörten sie aus dem Gottesdienst verbannt, sollte doch dieser allein der Andacht
dienen und nichts von dieser konzentrierten Glaubensübung ablenken. Im Zen-
trum des Gottesdienstes stand das Wort. „Bilderlosigkeit und Konzentration auf
das Wort ist ein Charakteristikum des reformierten Gottesdienstes zwinglianischer
Prägung.“⁶ Dabei waren Bilder nicht an sich Gegenstand des Anstoßes, zumal
nicht in ihrer bloßen Anwesenheit, sondern die ihnen zugeschriebene Wirkung
missfiel dem Reformator. Im Zentrum der Kritik stand eine ganze Glaubenspraxis:

 Thomas Klie, Fremde Heimat Liturgie: Ästhetik gottesdienstlicher Stücke, Praktische Theologie
heute 104 (Stuttgart: Kohlhammer, 2010), 14.
 Vgl. zu den liturgischen Bewegungen: Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik (Berlin/New York: de
Gruyter, 2004), 336 ff. Vgl. zum Thema „Frauenliturgien“ und „Frauenrituale“ als Inspirations-
quelle für vielfältig ansprechend gestaltete Rituale (wie Salbungen, Handauflegen, Hausseg-
nungen etc.) die Hinweise in Ebd., 681 ff sowie in Wolfgang Steck, Praktische Theologie: Horizonte
der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt, Bd. 1
(Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 2000), 321 ff.
 Ralph Kunz, Gottesdienst evangelisch reformiert: Liturgik und Liturgie in der Kirche Zwinglis,
Zürcher Beiträge zu Religion und Philosophie 10 (Zürich: Pano Verlag, 2006), 118.
110 Paula Stähler

Mit den Bildern verschwanden die Reliquien, die Orgeln verstummten, Wetter- und Sterbe-
läuten wurden abgeschafft, die letzte Ölung nicht mehr erteilt, Salz und Kerzen nicht mehr
geweiht, priesterliche Gewänder für Taufe und Trauung nicht mehr verwendet. Aus der
Diskussion um die Bilder wird ersichtlich, dass es sich bei den ‚Bildern‘ nicht nur um Dar-
stellungen der Gottheit und der Heiligen auf Altarbildern, Fresken, Grabsteinen und Relie-
fen, in Form von Statuen, Kreuzen, Kruzifixen und Rosenkränzen u. ä. mehr handelt, son-
dern auch die Gesten und kultischen Handlungen wie das Bekreuzigen und Küssen, der
Gebrauch von Weihwasser und Opferkerzen, das Rosenkranzgebet, die Durchführung von
Wallfahrten und Prozessionen gemeint sind.⁷

Ob bewusst verbannt oder allmählich aus dem Gebrauch gekommen – für die
evangelische Praxis ging mit den Kerzen ein weiterer Baustein der liturgisch
vielfältigen und viel-sinnigen religiösen Ausdrucksformen verloren.
Heute treffen sich lutherische wie reformierte Tradition wieder in der Er-
kenntnis, dass das Wort Gottes nicht allein verbal Ausdruck findet und wirksam
wird, sondern in vielfältiger Weise. Wort Gottes braucht eine „Neucodierung des
konfessionellen Codes“⁸, um seinen Ausdruck zusätzlich zur Verbalsprache auch
in Musik und Körper, in nichtverbalen Vollzügen, in Raum und Gestik, in rituellen
Handlungen finden zu können. Nicht nur im lutherischen Verständnis gilt: „Das
[…] ‚Wort‘ ist nicht nur homiletisch hörbar, sondern auch liturgisch ansehnlich
und eucharistisch geschmackvoll. In Liturgie und Sakrament kommt eben kein
anderes Evangelium als in der Predigt zu Wort, wohl aber anders.“⁹
In diesem Sinne entsprechen „[l]iturgische Handlungen […] dem Wort von
Christus, wenn sie das Heilshandeln Gottes an seinem Volk und dessen lobprei-
sende Antwort in zeichenhafter Konzentration vergegenwärtigen, darstellen und
erlebbar machen.“¹⁰ Vor diesem Hintergrund ist danach zu fragen, in welcher Art
und Weise Kerzen im religiösen Gebrauch etwas vom Heilshandeln Gottes er-
fahrbar machen können. Zu beobachten ist, dass sie in evangelischen Kirchen
inzwischen wieder vermehrt ihren Ort suchen. Für die reformierte Kirche zählt
Stückelberger exemplarisch auf: „Begonnen hat es mit Kerzen auf dem Abend-
mahlstisch. Dann tauchten die Osterkerze und Taufkerzen auf. Schliesslich wurde
das Kerzenanzünden in die Fürbitte integriert. Aber auch bei Abdankungen und
Erinnerungsfeiern sind Kerzenrituale beliebt.“¹¹ Ähnliche Ausweitungen des Ge-
brauchs lassen sich auch für lutherische Kirchen beobachten.

 Ebd., 123.
 Ebd., 210. Hervorhebung im Original.
 Th. Klie, Fremde Heimat, S. 14. Hervorhebung im Original.
 O. Jordahn, Zeremoniale, 437.
 Johannes Stückelberger, „Kerzen, Weihrauch, Messgeklingel“, Magazin Bildungkirche 4
(2016): 9 – 10.
Lebendiges Licht 111

In zwei Gebrauchskontexten stehen Kerzen als religiöse Zeichen somit im


Fokus: als Teil der Liturgie im Gottesdienst, in Andachten und Kasualien auf der
einen Seite sowie als Form persönlichen religiösen Ausdrucks auf der anderen
Seite.
Unter dem aktuellen Eindruck der Corona-Pandemie und der damit einher-
gehenden Notwendigkeit veränderter religiöser Praxis, die sich in noch nicht
abschätzbarer Weise auf kollektive und individuelle Religionsausübung auswir-
ken wird, richtet sich der Fokus im Folgenden auf den Gebrauch von Kerzen als
Zeichen individuellen Glaubensausdrucks.

2 Empirisches Schlaglicht
Eine nicht-repräsentative Umfrage unter evangelischen Kirchenmitgliedern in der
reformierten Kirche in der Schweiz und in der evangelisch-lutherischen sowie
unierten Kirche in Deutschland wirft ein interessantes Schlaglicht auf die aktuelle
religiöse Praxis des Kerzenanzündens unter evangelischen Christ*innen. Zum
einen wurde nach dem Gebrauch von Kerzen im Kontext religiöser Handlungen
gefragt, zum anderen nach möglichen Veränderungen im Zusammenhang mit der
Corona-Pandemie.
Für die reformierten Befragten zeigt sich deutlich, dass das Anzünden von
Kerzen erst in jüngerer Vergangenheit zu ihrer religiösen Praxis zählt und
hauptsächlich durch die römisch-katholische, mitunter auch durch die orthodoxe
Praxis angeregt wurde. In den letzten rund dreissig Jahren entstanden dabei
immer wieder Begegnungs- und Berührungspunkte, durch ökumenische Feiern,
v. a. aber durch den Besuch katholischer oder orthodoxer Kirchen auf Reisen.
Mehrere Befragte gaben an, eher in ‚fremden‘ Kirchen oder auf Reisen eine Kerze
anzuzünden denn in der eigenen Kirche am Heimatort, obwohl es auch dort je-
weils seit einigen Jahren Tische mit Fürbitt-Kerzen gäbe und die Möglichkeit,
diese während der tagsüber offenen Kirchen anzuzünden.
Beim Blick auf die inhaltliche Füllung des Kerzenrituals wurde die Differenz
zwischen dem ‚normalen‘ Anzünden einer Kerze und dem Kerzenritual explizit
hervorgehoben. „Es ist anders, wenn ich daheim eine Kerze anzünde“, begründete
eine Gläubige, warum sie eine Andachtskerze nicht zu Hause, sondern jeweils in
einer Kirche anzünde. Verschiedene ‚Funktionen‘ wurden den Kerzen von den
Gesprächspartner*innen zugewiesen. Dabei stellten sie z.T. die Kerze als Gegen-
stand selbst ins Zentrum und bemerkten, dass sie bspw. mit ihrem Licht „die
Gedanken bündeln“ könne. Die Motive der Konzentration, der Ruhe und des
Gedenkens spielten in den Aussagen eine grosse Rolle.
112 Paula Stähler

Darüber hinaus wird das Licht als etwas Symbolisches gedeutet. Das Licht der
Kerze stehe „für das Licht des Lebens“, sagte ein Gesprächspartner. Auch eine
weitere Person stellte diese Verbindung her: „Die Kerze ist wie das Leben – erst
voll und groß, dann wird es immer weniger und immer kleiner.“ Die Kerzen, die
diese Gläubige in der Kirche anzündet, deutet sie zugleich in ihrem Lebenskontext
als deutlich über 80-Jährige.
Immer wieder genannt wurde zudem, dass die Kerzen zum Gedenken an
Verstorbene entzündet würden. Mehrfach nannten besonders sehr alte Ge-
sprächspartner*innen hier die Eltern als Bezugspersonen; auch des verstorbenen
Ehepartners wurde mit dem Anzünden von Kerzen gedacht. Eine regelmäßige
Kirchgängerin unter den Befragten weitete den Blick von den eigenen Verwandten
auf die Gemeinschaft der Kirchgemeinde, die sie mit dem Anzünden der Kerze in
den Blick nähme: „Ich zünde immer zwei Kerzen an: eine für meine Eltern und
eine zweite für jemanden, der gerade nicht da ist, der krank ist zum Beispiel;
jemanden von uns aus der Gemeinde.“
Thematisiert wurde in der Umfrage auch, ob sich die Praxis der Befragten im
Zusammenhang mit den aktuellen Verordnungen zur Eindämmung der Corona-
Pandemie geändert habe. Hier konnte festgestellt werden, dass Kirchgemeinden
vermehrt die Möglichkeit schufen, in den tagsüber geöffneten Kirchen Kerzen für
die Fürbitte anzuzünden. Allerdings zeigte sich hier die fehlende Praxis, die zu
Unsicherheit führte: eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Küsterei einer nord-
deutschen Gemeinde berichtete etwa von den Diskussionen, die in ihrer Ge-
meinde sowohl um die Art des Kerzentisches (‚normaler‘ Tisch mit Sandschalen
oder spezieller Fürbittleuchter, etwa in Form einer Weltkugel?), um die zu ver-
wendenden Kerzen (Teelichter oder Opferkerzen?) als auch um den Standort in-
nerhalb des Kirchenraumes (Eingangsbereich, Seitenschiff oder Altarraum?)
entstanden.
Auf die Frage nach einer veränderten Praxis durch die Corona-Gesetzgebung
wurden von älteren Gemeindegliedern nur wenige Veränderungen berichtet. Hin
und wieder habe jemand eine Kerze angezündet, wenn ein besonderer Gottes-
dienst im Fernsehen übertragen worden sei. Mehrheitlich wurde jedoch die be-
währte Praxis beibehalten: jemand zündet zu Hause eine Kerze an beim Wort zum
Sonntag, jemand anderes zum täglichen Bibellesen; die meisten zündeten nach
wie vor Kerzen für die Andacht nur in der Kirche an.
Anderes berichteten jüngere Befragte. Hier wurden mit den Pandemie-Be-
schränkungen z.T. erstmals Gottesdienste in der Übertragung in Fernsehen oder
Internet angeschaut und auch andere Angebote der Kirchengemeinden, wie Bi-
belgespräche oder begleitete Fastenaktionen in der Passionszeit vor Ostern, in
digitaler Form genutzt. In vielen Fällen wurden dabei, besonders wenn es sich um
bidirektionale Formate handelte, bei denen alle Teilnehmer*innen ihre Kamera
Lebendiges Licht 113

angeschaltet hatten, zum Beginn gemeinsam Kerzen angezündet. Teilweise wur-


den die Kerzen auch im Vorfeld durch die Kirchgemeinden explizit für den Got-
tesdienst oder das Bibelgespräch zur Verfügung gestellt.¹² Das Anzünden der
Kerze lässt sich hier im Sinne der Konstituierung eines sakralen Raumes deuten.

3 Kerzen und Corona


Vor dem Hintergrund dieser individuellen Eindrücke werden die Entwicklungen
auf kirchlicher und gesellschaftlicher Ebene in den Blick genommen, die sich als
Veränderungen in Folge der Corona-Pandemie beobachten lassen. Die Praxis der
Kerzenrituale erhielt in der jüngsten Vergangenheit durch die angeordneten Be-
schränkungen und die damit verbundenen Herausforderungen in der praktischen
Glaubensausübung, einen weiteren Schub.

3.1 In der leeren Kirche

Während seit März 2020 Gottesdienste nicht mit der versammelten Gemeinde vor
Ort stattfinden konnten, wurden vielerorts die evangelischen Kirchen zur indivi-
duellen Andacht geöffnet und in diesem Zusammenhang auch Möglichkeiten zum
Anzünden von Kerzen geschaffen. Während die Versammlungsmöglichkeiten
eingeschränkt wurden, waren zu keinem Zeitpunkt während der Pandemie die
Kirchgebäude selbst geschlossen. Bawidamann, Peter und Walthert weisen dar-
auf hin, dass in der Schweiz in den Anordnungen der Bundesbehörden explizit
erwähnt wurde, Kirchen dürften in ihren Öffnungszeiten beschränkt, nicht jedoch
geschlossen werden.¹³
Die Kirchen waren herausgefordert, ein klar religiöses und zugleich allgemein
zugängliches Ritual der individuellen Religionsausübung in ihren Räumen zu

 Eine Befragte berichtete bspw. von einer „Take-Away-Tüte“, die im Vorfeld des online-Got-
tesdienstes in der örtlichen Kirchgemeinde abgeholt werden konnte. Enthalten waren eine Kerze
sowie Streichhölzer, ein Liedblatt, Material und eine Bastelanleitung für Kinder zum Thema der
Predigt sowie einige Lebensmittel für den anschließend gemeinsam virtuell stattfindenden Kir-
chenkaffee. Zum Beginn der Liturgie wurden alle Teilnehmer*innen aufgefordert, die mitgege-
benen Kerzen anzuzünden.
 Loic Bawidamann, Laura Peter und Rafael Walthert, Corona und Religion: Modifikation reli-
giöser Rituale im Rahmen der ausserordentlichen Lage (2020), 1 (publiziert und online abrufbar
unter https://www.religionswissenschaft.uzh.ch/static/Corona_Religion.pdf, Lesedatum: 22.12.
2021).
114 Paula Stähler

schaffen. Kerzen waren dabei auch in protestantischen Kirchen ein willkommener


Gegenstand, um ein religiöses Ritual durchzuführen und eine Andachtssituation
ohne die versammelte Gemeinde herzustellen. Mitunter wurden zusätzlich Texte
wie Predigten oder Betrachtungen aufgelegt, um – gut protestantisch – auch den
Intellekt anzusprechen.

3.2 Als individuelles Ritual zu Hause

Nicht nur in der offenen Kirche wurden neue Formen erprobt. Zwar ist das (Mit‐)
Feiern von Gottesdiensten über den Bildschirm nicht neu. Gerade viele ältere
Menschen sehen Woche für Woche oder immer wieder einmal den Rundfunk-
Gottesdienst im Fernsehen oder hören ihn im Radio am Sonntag Morgen.
Im Kontext der vollständigen Verlagerung von Gottesdiensten in elektronische
Medien wie Fernsehen und Internet schien es kirchlichen Akteur*innen jedoch
notwendig, für das Mitfeiern von Gottesdiensten oder das Teilnehmen an anderen
religiösen Veranstaltungen eine Art Gebrauchsanweisung zu geben.
Häufig gehörte hier eine Kerze zur Grundausstattung. Empfohlen wurde, zum
Beginn eines Gottesdienstes oder einer bewusst religiös gestalteten Zeit, eine
Kerze anzuzünden und damit den Raum vor dem Bildschirm als besonderen Ort
und die nun begonnene Zeit als besonderen Abschnitt zu kennzeichnen.¹⁴ Wie
eine Teilnehmerin der Befragung berichtete, war auch in der Gottesdienst-To-Go-
Tüte ihrer Kirchgemeinde eine Kerze enthalten, die von allen Teilnehmer*innen
zu Beginn des Gottesdienstes angezündet wurde.¹⁵

3.3 Als (zivil)religiöses Ritual – Kerzen im Fenster

Nicht nur im Kontext religiös-kirchlicher Praxis, ob in Kirchen oder aufgrund der


fehlenden physischen Präsenz in den privaten bzw. bei digitalen Formaten, war

 Vgl. z. B. die Anregungen auf der Seite der ELKB in diesem Zusammenhang unter https://coro
na.bayern-evangelisch.de, Lesedatum: 22.12. 2021; vgl. auch die digitale Initiative brot & liebe, die
sich zu online-Abendmahlsgottesdiensten trifft, wobei auch hier eine Kerze zur Grundausstattung
gehört: Online abrufbar unter https://brot-liebe.net/#termine, Lesedatum: 22.12. 2021. Auch die
von der EKD vorgeschlagene Hausandacht zu Weihnachten 2021 beginnt mit dem Anzünden einer
Kerze: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/DBK_FLY_Gott_bei_Euch_2021_A4_Web.pdf, Lese-
datum: 22.12. 2021.
 In Abhängigkeit von der Gottesdienstform werden mitunter zusätzliche Utensilien benötigt
wie bspw. Brot und Saft oder Wein bei einem digital gefeierten Abendmahlsgottesdienst.
Lebendiges Licht 115

die besondere Rolle von Kerzen in der Corona-Pandemie zu beobachten. Auch in


gesamtgesellschaftlichen Verbänden oder durch politische Akteure wurde das
Medium Kerze aufgegriffen und, häufig in Allianz mit kirchlichen Akteur*innen,
zu Kerzenritualen aufgerufen.¹⁶
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier forderte so im Januar 2021 dazu
auf, jeweils am Freitagabend eine Kerze ins Fenster zu stellen als Zeichen der
Anteilnahme und Solidarität mit den an Covid-19 Erkrankten und Verstorbenen
sowie ihren Angehörigen. In einer fast schon pastoralen Ansprache werden die
Toten und Trauernden zwar nicht der Hilfe Gottes, wohl aber des gegenseitigen
Mitgefühls und des aufeinander acht Gebens anbefohlen.¹⁷ Aufgenommen wurde
die Aktion des Bundespräsidenten #lichtfenster durch die EKD. Sie stellte den
Aufruf ebenfalls auf ihre Internetseite und erweiterte das Ritual um eine explizit
christlich-religiöse Komponente, indem ein Gebet vorgeschlagen wurde, welches
zum Entzünden des Lichtes gesprochen werden könnte. Dieses fügt sich zusam-
men aus Psalmworten, Zitaten aus dem Neuen Testament sowie weiteren Gebets-
und Segensworten.¹⁸
Auch in der Schweiz wurden ähnliche Aktionen lanciert. Bereits in der Pas-
sionszeit 2020 riefen die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) und die
Schweizer Bischofskonferenz (SBK) dazu auf, jeweils am Donnerstag um 20 Uhr
eine Kerze ins Fenster zu stellen, dazu zu beten und an die von der Pandemie
direkt oder indirekt Betroffenen zu denken. Hier fand, wie Bawidamann, Peter
und Walthert feststellen, eine Verlagerung des „rituelle[n] Raum[es] […] in das
eigene Zuhause“¹⁹ statt, wobei der zeitliche Rahmen verbindlich für alle Teil-
nehmenden vorgegeben war, der Ort des Rituals jedoch aufgrund der Ausgangs-

 Der Brauch, eine brennende Kerze ins Fenster zu stellen, war bereits zuvor aus verschiedenen
Kontexten bekannt und kann dabei mit unterschiedlichen Inhalten verknüpft sein. So rufen etwa
verschiedene Institutionen und Vereine seit den 1990er Jahren dazu auf, Anfang Dezember mit
Kerzen im Fenster an früh verstorbene Kinder zu erinnern. Erwähnenswert ist auch der seit dem
Mauerbau 1961 vom Kuratorium „Unteilbares Deutschland“ angeregte – nicht religiös begründete
– Brauch, zur Weihnachtszeit eine Kerze ‚für die Brüder und Schwestern im Osten‘ ins Fenster zu
stellen und damit die Verbindung zu den Menschen auf der anderen Seite der innerdeutschen
Grenze auszudrücken. Neben den von Privatpersonen ins Fenster gestellten Kerzen wurden dar-
über hinaus Spenden gesammelt, um lichtergeschmückte Weihnachtsbäume an der Mauer auf-
zustellen und mit ihnen eine Botschaft in die DDR zu senden (Aktion ‚Licht über Mauer und
Stacheldraht‘). Vgl. https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/188966/
deutschland-zusammenhalten-wilhelm-wolfgang-schuetz-und-sein-unteilbares-deutschland,
Lesedatum: 22.12. 2021.
 Vgl. https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Frank-Walter-Steinmeier/
2021/01/210120-Aufruf-Lichtfenster.html, Lesedatum: 22.12. 2021.
 Vgl. https://www.ekd.de/aktion-lichtfenster-62441.htm, Lesedatum: 22.12. 2021.
 L. Bawidamann et al., Corona und Religion, 7.
116 Paula Stähler

beschränkungen gerade neu erprobt werden musste. Die Kerzen wurden dabei
zum eigentlichen Gegenstand, welcher das Ritual tragen und die verbindende
Gemeinschaft durch das Ritual symbolisieren sollte.

3.4 Im virtuellen Raum

In der Osterzeit 2021, also nach einem guten Jahr Pandemie-Erleben, erfolgte
durch die Schweizer Kirchen ein erneuter Aufruf zum Kerzenanzünden, allerdings
nun nicht mehr in Form eines Gegenstandes im eigenen Zuhause, sondern auf
einer Website im Internet. Eine breite Allianz aus EKS, SBK, Christkatholischer
Kirche, Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Schweiz (AGCK) u. a. rief
zur Aktion Lichtschenken.ch auf. Hier konnten in einem Zeitraum von knapp zwei
Monaten virtuell Kerzen angezündet werden, die nach den Kategorien ‚Licht des
Dankes‘, ‚Licht des Gedenkens‘, ‚Licht der Verbundenheit‘ und ‚Licht der Hoff-
nung‘ eingeteilt waren und nach dem Entzünden als farbiger Punkt auf einer
Karte der Schweiz erschienen. Auch hier gab es eine Verbindung zu politischen
Akteuren; der damalige Schweizer Bundespräsident Guy Parmelin eröffnete die
Aktion durch das Entzünden der ersten Kerze und den ersten Eintrag einer
‚Lichterbotschaft‘.
In den heute noch verfügbaren Einträgen, die zum Anzünden der virtuellen
Kerzen gepostet werden konnten, zeigt sich dann auch eine Mischung von guten
Wünschen oder Gedenken im weiteren Sinne und expliziten Gebeten im engeren
Sinne in einem Verhältnis von etwa zwei zu eins.²⁰
Bemerkenswert ist dabei, dass hier der Schritt vom realen Gegenstand ins
Digitale stattfindet. Während die Kerzen als Artefakte einerseits in die evangeli-
sche religiöse Praxis zurückfinden, werden sie andererseits im zweiten Pandemie-
Jahr ökumenisch (zusätzlich) in den virtuellen Raum verschoben. Hier ist von
einer Differenz zwischen verschiedenen Generationen auszugehen, wobei dies zu
untersuchen wäre. Die Aussagen in der Befragung deuten jedoch darauf hin, dass
für ältere und hochaltrige Personen gerade die Verwendung echter Kerzen im
Vordergrund steht. So betonten diejenigen, die in Alters- oder Pflegeeinrichtun-
gen wohnten, wie sehr sie den Gebrauch echter Kerzen in Andachten und Got-
tesdiensten schätzten, da diese in den eigenen Zimmern und Wohnungen ver-

 Die Internetseite ist weiterhin abrufbar, allerdings können keine neuen Lichter mehr ‚ange-
zündet‘ werden. Einige der geposteten Beiträge sind zudem noch sichtbar, ca. 1/3 davon wählt die
Anrede „Gott“ (davon zweimal „Christus“ sowie einmal „Allah“) als Adressat und kennzeichnet
den Beitrag so explizit als Gebet. Vgl. https://lichtschenken.ch/LichtSchenken@Message.html/
130948956, Lesedatum: 22.12. 2021.
Lebendiges Licht 117

boten seien. Auch machten sie deutlich, dass elektrische Kerzen kein adäquater
Ersatz seien, da besonders das ‚Lebendige‘ der Kerzenflamme für sie zur Andacht
gehöre.
Ob sich dies auch für jüngere Personen in ihrer religiösen Praxis bestätigen
liesse, bliebe zu fragen.
Entfaltet die Kerze als Ding selbst eine besondere Wirkung und kann damit
religiöse Empfindungen ausdrücken oder gar hervorrufen bzw. fördern oder steht
sie vielmehr zeichenhaft für die Andacht und wäre damit durch andere, auch
virtuelle Zeichen, vollständig oder zumindest weitgehend zu substituieren?
Anzunehmen ist, wenn man Brumme in seiner sehr plausiblen Argumenta-
tion über das Digitale folgt, dass die virtuell angezündete Kerze insofern einen
qualitativen Unterschied zur ‚echten‘ hat, als ihr das „[U]nbestimmte,
[U]nscharfe“²¹ fehlt, welches nicht-digitale Lebenszusammenhänge und Deu-
tungsvorgänge bestimmt.²² Die (soziale) Wirksamkeit mag sich nicht darin un-
terscheiden, ob eine Kerze in der Kirche oder im Chat angezündet wurde,²³ die
Frage nach der Unbestimmtheit des religiösen Gegenstandes ist gleichwohl zu
bedenken: Während die Kerze in der Kirche durch einen starken Luftzug ausge-
löscht werden kann – die Lebendigkeit ihrer Flamme ist wie jedes Leben gefährdet
–, brennt die virtuelle Kerze bis zum Erlöschen der Domain. Hier könnte somit von
einer Überlagerung der Unverfügbarkeit des religiösen Gehalts mit der in diesem
Fall nur bedingten Verfügbarkeit des religiösen Gegenstandes gesprochen wer-
den.
In die Überlegungen zum Verhältnis von realer und digitaler Kerze ist auch
die Frage der inhaltlichen Bestimmtheit einzubeziehen. In der hier in den Blick
genommenen Aktion waren die digitalen Kerzen bereits inhaltlich vorbestimmt;
sie sollten Dank, Gedenken, Hoffnung oder Verbundheit ausdrücken. Die in Kir-

 Robert Brumme, Zur Entfaltung des „Digitalen“ in der Welt: Strukturen, Logik und Entwicklung
(Weinheim: Beltz Juventa, 2020), 86. Hervorhebung im Original.
 Während Brumme deutlich macht, dass die Unterscheidung von „real“ und „virtuell“,
„analog“ und „digital“ etc. Implikationen mitführe, die dem Verständnis der Phänomene eher
hinderlich sei und keine haltbaren Differenzen zur Definition digitaler und nicht-digitaler Le-
bensvollzüge bereithalte, bietet er als zentrale Differenzierung die Kategorien von Bestimmtheit
und Unschärfe und in der Folge Gegensatzpaare wie Berechenbarkeit und Erfahrung, Rechnen
und Werten bzw. Technik und Lebendiges an. Vgl. Ebd, 81 ff.
 Vgl. Eintrag der Teilnehmerin „Trudi“ auf Lichtschenken.ch: „Wie schön, dass ich Dir auf
diesem Weg ein Kerzenlicht schenken kann, wenn es auf praktische Art nicht geht.“ (Online
abrufbar unter https://lichtschenken.ch/LichtSchenken@Message.html/130910353, Lesedatum:
22.12. 2021). Das Anzünden der Kerze soll hier somit nicht nur eine religiöse Funktion erfüllen,
sondern auch eine soziale, indem die Kerze für eine andere Person angezündet und diese darüber
in Kenntnis gesetzt wird.
118 Paula Stähler

chen zur Verfügung gestellten Kerzen, die Besucher*innen anzünden können,


sind im Gegensatz dazu vollkommen der individuellen Sinngebung (im Kontext
tradierter Muster) übergeben.

4 Folgerungen und Fragen


Die Ganzheitlichkeit des Menschen wie die Heilsbotschaft erfordern ein zur verbalen Di-
mension gleichberechtigtes Ernstnehmen der Handlungs-Dimension. Dazu ist liturgische
Kompetenz aller Beteiligten notwendig. Wiederentdeckung und Neubelebung der Gebär-
densprache und ihre deutliche, das Wort mitvollziehende Ausführung bedürfen intensiver
Bemühungen. Im Horizont eines neuen kulturellen Kontextes und unter Berücksichtigung
eventuell gegebener Notsituationen können Veränderungen und Mut zu Neuschöpfungen
[…] nötig werden.²⁴

Das Wort Gottes als solches und der Mensch mit allen seine leib-seelische Einheit
umfassenden Aspekten machen, wie Jordahn beschreibt, vielfältige religiöse
Handlungen als Ausdrucksformen des Glaubens nötig. Diese mögen sich in kul-
turellen Kontexten immer wieder verändern; in Notsituationen tun sie dies umso
mehr.
Aus dem Beobachteten lassen sich einige Folgerungen und so manche Fragen
ableiten.
Während in den letzten Jahrzehnten dem Bedürfnis nach rituellen Hand-
lungen und materialisierter Ausübung des Glaubens durch die langsame Wie-
deraufnahme entsprechender Zeichenhandlungen in liturgische Kontexte Rech-
nung getragen wurde, stellte die Corona-Pandemie eine solch ungewöhnliche
Situation dar, dass hier die Veränderungen beschleunigt in einem extrem kurzen
Zeitraum stattfanden. Innerhalb weniger Tage und Wochen wurden in evangeli-
schen Kirchen Möglichkeiten geschaffen, Fürbittkerzen anzuzünden und im Zu-
sammenhang mit digitalen Formaten wurden Kerzen ein essentieller Baustein der
Gemeinschaftsstiftung.
Sowohl in der individuellen Praxis als auch im liturgischen Gebrauch zeigt
sich allerdings eine evangelische Ungeübtheit im Umgang mit Kerzen als reli-
giösen Gegenständen. Wie werden Kerzentische oder -leuchter evangelisch in-
szeniert ohne allzu große Irritation bei den Besucher*innen des Kirchenraums
auszulösen? Wie werden Kerzenrituale liturgisch eingebunden? In der Praxis lässt
sich eine große Varianz und mitunter Unsicherheit in den Inszenierungen etwa
beim Entzünden von Osterkerzen (Am Osterfeuer oder mit dem Streichholz? Vor

 O. Jordahn, Zeremoniale, 438.


Lebendiges Licht 119

oder in der Kirche? Mit anschließender Prozession?), beim Anzünden der Kerzen
am Adventskranz (vor oder liturgisch eingebunden in den Gottesdienst?) oder
auch beim Umgang mit der Taufkerze in einem Taufgottesdienst (Halten Eltern
oder Paten die Kerze nach der Taufe brennend in der Hand? Was passiert, wenn
sie ausgeht oder jemand sie direkt nach der Taufe auspustet? Usw.) beobachten.
Liturgische Handbücher bieten hier noch wenig Praxisanleitung.
Auffällig war im Kontext der Corona-Verordnungen die hervorgehobene Rolle,
die Kerzen in den Anleitungen für eine religiöse Praxis zu Hause einnahmen. Als
ökumenisch verbreitetes und gemeinsam tragbares Zeichen der Andacht ist die
Kerze dabei besonders ins Zentrum gestellt worden. Sie bietet insofern in ihrer
Deutungsoffenheit grosses Potential als (zivil)religiöses Symbol und als Gegen-
stand ritueller Handlungen. Umso relevanter ist die Frage ihrer inhaltlichen Be-
stimmung. Deutungsoffenheit und Beliebigkeit liegen dabei nah beieinander und
Kerzen als religiöse Ausdruckszeichen bedürfen insofern eines sinngebenden
Deutungsrahmens.
Interessant wird künftig weiterhin im Besonderen die Verhältnisbestimmung
von digitaler und analoger Glaubenspraxis sowie ihrer hybriden Übergangsbe-
reiche sein. Werden gerade in Zeiten sich rasant durchsetzender Digitalisierung,
der online-Meetings und -Gottesdienste, des Homeoffice und des Rückgangs an
persönlich-physischen Kontakten die Gegenstände einer ‚handgreiflichen‘ Glau-
benspraxis wieder an Bedeutung gewinnen? Werden ‚echte‘ Kerzen als Ausdruck
des Glaubens auch im evangelischen Kontext dauerhaft einen Ort erhalten und
liturgisch gar deutlich aufgewertet? Und wie wird sich das Verhältnis von ‚echten‘
und virtuellen Kerzen entwickeln; werden sie sich ergänzen oder wird sich eine
Form gegenüber der anderen durchsetzen? Wenn die Notsituation mutige Neu-
schöpfungen und Veränderungen mit sich bringt, die der Handlungsdimension
religiöser Praxis weiteren Raum öffnen, so ist dies der Vielgestaltigkeit des Wortes
zuträglich.
Michael Meyer-Blanck
Mehr als Holz und Stein
Die Kanzel als locus principalis evangelischer Liturgie und
evangelischen Kirchenbaus

1 Stein und Zeichen


In Loccum, jenem ganz besonderen kirchlichen Ort im Hannoverland, an dem
auch Thomas Klie wichtige Jahre seiner Berufsbiographie zugebracht hat, gibt es
im 1163 gegründeten Zisterzienserkloster auch eine Klosterkirche, die der örtli-
chen Kirchengemeinde bis heute als Gemeindekirche dient (wobei sich der Got-
tesdienstbesuch durchaus im Bereich der volkskirchlichen Mäßigkeit bewegt). Zu
der Kanzel in dieser Kirche kursierte in meiner eigenen Loccumer Zeit (1987– 1995)
dort eine skurrile Geschichte: Bei der vorletzten Renovierung (zur 800-Jahr-Feier
1963) hatte man die damalige neogotische Kanzel durch eine neuere im funktio-
nalen Stil der Zeit um 1960 ersetzt. Die alte steinerne Kanzel wurde abgetragen.
Um das dabei anfallende Material sinnvoll zu nutzen, zerkleinerte man das
Steinwerk und nutzte es dazu, Loccumer Feldwege zu befestigen. An einigen
Stellen war aber die Herkunft des Materials durchaus noch zu erkennen, was zu
gelinder Empörung führte, gerade bei den weniger kirchlich gebundenen Lo-
ccumern.
„Se non è vero, è ben trovato“ – die kleine Anekdote veranschaulicht
Grundlinien des evangelischen Kirchenraumverständnisses. Zum einen handelten
die Verantwortlichen dort im Sinne des evangelischen Prinzips „nihil extra
usum“, positiv formuliert: Erst der Gebrauch heiligt die Dinge, als solche haben
sie keine religiöse Bedeutung.¹ Die Kanzel ist kein heiliger Ort, sie wird vielmehr
(„performativ“) geheiligt durch das Geschehen des Wortes Gottes (1 Tim 4,4 f.),
also wenn mit Hilfe von Gebet und Predigt die Zuwendung Gottes erfahren, das

 Zu der breiten Diskussion der letzten Jahrzehnte s. Peter Beier, „Über die Schwierigkeiten der
Protestanten, mit Räumen umzugehen“, in Raum und Ritual: Kirchbau und Gottesdienst in theo-
logischer und ästhetischer Sicht, hg.v. Rainer Bürgel (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995),
39 – 45 sowie Franz-Heinrich Beyer, Geheiligte Räume: Theologie, Geschichte und Symbolik des
Kirchengebäudes (Darmstadt: WBG, 2008) und Michael Meyer-Blanck, „Der Kirchenraum als Ort
der Gottesbegegnung: Eine evangelische Perspektive“, in Gott begegnen an heiligen Orten, hg.v.
Stefan Kopp (Freiburg: Herder, 2018), 159 – 174.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-008
122 Michael Meyer-Blanck

Wort des Evangeliums gehört werden kann. Extra usum und post usum ist die
Kanzel ein architektonisches Ausstattungsdetail bzw. lediglich zu recycelnder
Stein. Zum anderen reagierten die Loccumer Gemeindeglieder jedoch nach dem
Prinzip, dass das performative Handeln so etwas wie zeichenhafte und mentale
Gebrauchsspuren² hinterlässt. Gotteserfahrung und Gebet sind zwar unabhängig
von bestimmten Gegenständen, aber sie heften sich doch daran – man denke nur
an eigene Kreuze, Rosenkränze, Gesang- und Gebetbücher. Man verbindet sie mit
den eigenen Gebetserinnerungen und befleißigt sich darum im Umgang mit ihnen
einer besonderen Sorgfalt.
Der geschilderte Loccumer Konflikt erschließt sich damit als das Aufeinan-
dertreffen der beiden Prinzipien, der Profanität außerhalb des Gebrauches ei-
nerseits und der allmählichen und bleibenden Heiligung durch den Gebrauch
andererseits. Ein Buch kann zum Zeichen der tragenden Glaubenserfahrung
werden und eine mäßig gelungene steinerne Kanzel zum Ort des vernommenen
Gotteswortes. Das Material tut’s freilich nicht, aber das Material hat die Fähigkeit,
zur Materialisierung des Immateriellen zu dienen. Glaube entsteht aus der ge-
teilten Glaubenserfahrung und diese bedient sich bestimmter Zeichen, die dann
ihrerseits zu Trägern der Glaubenserfahrung werden können. Die gesamte
christliche Kirche hat ihrem Wesen nach vor allem performativen Charakter.Wenn
dieses Wort auch nicht zum Sprachschatz der Reformatoren gehörte, ist dieser
Grundsatz jedoch für Luther klar bestimmend. In einer Weihnachtspredigt for-
mulierte er als performativen ekklesiologischen Grundsatz: „Nun ist die Kirche
nicht Holz oder Stein, sondern der Haufen christgläubiger Leute; zu der muss man
sich halten und sehen, wie die glauben, leben und lehren, die haben Christum
gewiss bei sich […].“³
Dieses Grundverständnis soll im Folgenden im Sinne des zu ehrenden Jubilars
im Hinblick auf die Kanzel als gottesdienstlichen Ort beleuchtet werden. Wie im
Protestantismus alle Versuche gescheitert sind, die Bedeutung der Predigt zu-
gunsten der Liturgie zurückzunehmen (und jene als die „institutionalisierte Be-
langlosigkeit“ zu diffamieren), so ist auch die Praxis, die Kanzel als – innerhalb
der Gemeinde erhöhten – Predigtort zugunsten des Lesepultes zu relativieren, als
liturgisch kontraproduktiv einzuschätzen. Die Kanzel ist selbstverständlich nicht
letztlich entscheidend für das Gelingen der Darstellung und Mitteilung des
evangelischen Glaubens. Aber da sich auf ihr die Aktualität des Wortes materia-

 Klaus Raschzok, „Spuren im Kirchenraum: Anstöße zur Raumwahrnehmung“, PTh 89 (2000):


142– 157.
 Martin Luther, Predigt über Lk 2,15 – 20,Weihnachtspostille 1522,Weimarer Ausgabe (WA) Bd. 10
I,1,140, Zeile 14– 16, Orthographie modernisiert.
Mehr als Holz und Stein 123

lisiert, ist sie auch nicht belanglos. Die Kanzel ist mehr als Holz und Stein. Sie ist
ein hervorgehobener Ort der Mitteilung und Darstellung des Evangeliums.

2 Grundzüge einer evangelischen Theologie der


Kanzel
Es ist ein wenig überraschend, dass sich die Relativierung von Predigt und Kanzel
auch terminologisch bemerkbar gemacht hat, denn seit längerem ist der Terminus
der „Kanzelrede“ immer mehr außer Gebrauch gekommen. Überhaupt wird die
Predigt vielfach als „Einweg-Kommunikation“ kritisiert und darum in ihrer Be-
deutung für den Gottesdienst und das Gemeindeleben heruntergespielt. Dass eine
einzelne Person redet und die anderen zuhören, wird als tendenziell undemo-
kratisch und damit als nicht mehr zeitgemäß empfunden. Vor allem in den 1970er
Jahren begann man mit anderen Formen wie der Dialogpredigt oder dem Ge-
sprächsgottesdienst zu experimentieren, die das Gegenüber von Redner*in und
Publikum ablösen sollten. Es überrascht nicht, dass in dieser Zeit auch die Predigt
von der Kanzel aus der Mode kam. Vielerorts verwaisten die Kanzeln. Das
sprichwörtliche Predigen „über die Köpfe hinweg“ sollte wenigstens gestisch-
choreographisch vermieden werden. Man predigte in der Folge lieber aus der Mitte
der Gemeinde – also vom Lesepult und am liebsten im Modus des Gespräches.
Theologisch verständlich wird dieser Rückzug von der Kanzel aufgrund der
kerygmatischen Überstrapazierung der Predigt als „Wort Gottes“ in der Spätphase
der Wort-Gottes-Theologie in den 1950er und 1960er Jahren.
Doch sachlich gibt es dafür keine guten Gründe. Denn zum einen ist die Form
der „Einweg-Kommunikation“ in vielen Bereichen der Kultur weiterhin maßgeb-
lich. Man denke nur an akademische Referate und politische Reden, vor allem
aber an die Praxis von Popmusiker*innen, Kabarettist*innen und Blogger*innen.
Einweg-Kommunikation schließt die nachfolgende Auseinandersetzung bis hin
zu heftigster Kritik („shitstorm“) nicht aus, sondern ein. Zum zweiten impliziert
das Gegenüber von Publikum und Redner nicht notwendig einen autoritären
Grundhabitus, ebenso wie die Gesprächsform nicht vor einem solchen gefeit ist.
Der Stil der Kommunikation wird auf dem Platz, also auf der Kanzel entschieden.

2.1 Die Kanzel als Ort evangelischer Subjektivität

Vor allem muss die Rede einer einzelnen Person im Gottesdienst als dem evan-
gelischen Glaubensverständnis zutiefst angemessen betrachtet werden. Die Pre-
124 Michael Meyer-Blanck

digt steht für die unvertretbare Subjektivität der einzelnen glaubenden Person. Im
Glauben ist man nicht allein, aber man ist doch unvertretbar. Was für den einen
gilt, muss nicht für die andere gelten (Lk 17,34 f.). In der Glaubenserfahrung kann
keiner für den anderen sprechen. Wir leben in der Gemeinschaft und machen
unsere Erfahrungen durch diese Gemeinschaft. Doch der Glaube führt in ein di-
rektes Gegenüber des einzelnen Menschen mit Gott. Weil keiner für den anderen
sterben wird, „sondern ein jeglicher in eigener Person für sich mit dem Tode
kämpfen“ wird, darum gilt: „ich würd denn nit bey dir sein / noch du bey mir“.⁴
Die Wahrheit des Evangeliums ist nicht subjektiv, aber sie kann nicht anders als
am Ort der Subjektivität rekonstruiert und realisiert werden. Die Predigt und
speziell die Kanzel markieren die Dialektik des Glaubens zwischen Sozialität und
Subjektivität. Aus dem gemeinsamen Singen, Hören und Beten der Liturgie tritt
eine einzelne Person hervor und zeigt die Tradition des jeweiligen Sonn- oder
Festtages auf dem Wege der aktuellen und persönlichen Aneignung.
Bisweilen ist von katholischer Seite geltend gemacht worden, dass die Predigt
die Liturgie (schmerzlich) unterbreche, ja zerreiße.⁵ Aus evangelischer Sicht ist
dazu zu bemerken: Ja, das stimmt und das ist gut so, weil das der Art und Weise
des Glaubens entspricht. Aus der im Namen Jesu versammelten Gemeinde wird
eine Person hervorgehoben, die mit ihrem – stellvertretenden, nicht privaten –
Ich⁶ zeigt, was der evangelische Glaube an diesem Ort, in dieser Situation und
anhand der heutigen Perikopen sein könnte. Der Glaube der Gemeinde kommt zu
sich selbst, indem er in seiner exemplarischen Subjektivität durchschaubar wird
und indem die Liturgie aus ihrer performativen in die reflexive Gestalt wechselt.
Das Hören, Singen und Beten wird unterbrochen durch den Modus, in dem die
religiösen Bedingungen und Möglichkeiten ihres Vollzuges transparent werden.
Die Kanzel als ein „Prinzipalstück“ im evangelischen Kirchenraum ist ein
prominentes Zeichen dieses Gottesdienstverständnisses. Wenn die Kanzel erhöht
im Raum steht, dient das nicht nur der besseren Sichtbarkeit der predigenden
Person, sondern auch der Bedeutung der Predigt für den Glauben. In der Kanzel
materialisiert sich die Einsicht, dass die Predigt aus der Mitte der Gemeinde
heraus entsteht und ihr gleichwohl gegenübersteht. Die Kanzel symbolisiert die
liturgische Gestalt evangelischer Subjektivität, die aber nicht individualistisch

 Anfang der 1. Invokavitpredigt Martin Luthers vom März 1522, WA 10, III, 1 = BoA 7, 363.
 Martin Mosebach, Häresie der Formlosigkeit: Die römische Liturgie und ihr Feind (München:
Hanser, 2012), 45 f.
 Manfred Josuttis, „Der Prediger in der Predigt: Sündiger Mensch oder mündiger Zeuge?“ In
Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion: Grundprobleme der Praktischen Theologie,
hg.v. dems. (München: Verlag, 41988), 70 – 94.
Mehr als Holz und Stein 125

enggeführt werden darf. Die Subjektivität der predigenden Person zielt auf Ver-
ständigung. Die Predigt ist ein rhetorischer Fall.⁷

2.2 Die Kanzel als Ort der Suche nach Einverständnis

Die Kanzel ist keineswegs der Ort, an dem das Amt über die Gemeinde trium-
phieren, wo rhetorische Virtuosität beeindrucken oder die pfarrherrliche Autorität
fröhliche Urständ feiern sollte. Die Erhöhung der Kanzel ist das Symbol des er-
höhten Bewusstseins glaubender Subjektivität, die ihrerseits in ihrer gemein-
dlichen Signatur zu denken ist. Die erhöhte Kanzel ist dagegen nicht der Ausdruck
besonderer Ehre für Amt und Person. Die Skepsis gegenüber der Kanzelrede und
gegenüber der Kanzel als Ort der gottesdienstlichen Rede war aus dem richtigen
Bestreben entstanden, solche Verirrungen zu vermeiden. Dennoch setzt auch der
Missbrauch den sinnvollen Gebrauch nicht außer Kraft – abusus non tollit usum.
Die Hervorhebung von Kanzel und Predigt impliziert gerade nicht ihre Überhö-
hung, sondern die Einsicht in ihre dienende Funktion. Die Kanzelrede entsteht
aus der Verbindung mit der Gemeinde und sucht nach neuem Einverständnis. Die
Predigt ist immer „Homilia“, eine Unterredung unter Freunden. Das gilt erst recht,
wenn das Gesetz gepredigt wird oder scharfe prophetische Mahnungen ausge-
sprochen werden. Nur zu Freunden lässt sich offen, ohne jegliche Beschönigung
reden. Gerade dann, wenn die Lage ernst ist, darf nicht „von oben herab“ geredet
werden. Das würde die Zuhörenden eher verschließen. Die Gesetzes- und Ge-
richtspredigt muss in besonderer Weise um Einsicht werben, um nicht zum blo-
ßen Getöse zu werden.
Jede Predigt ist eine Homilia, die um die Aufmerksamkeit des Publikums
ringen muss. Das trifft auch auf die Festpredigt bei einem besonders schönen
Anlass zu. Wenn man nur das zum Ausdruck bringt, was am Tage liegt, betrügt
man die Hörerschaft um die Gelegenheit, eine neue Einsicht zu gewinnen. Von
daher birgt gerade die Festpredigt – z. B. bei einer Hochzeit oder an Weihnachten
– besondere Klippen. Sie kann zum bedeutungslosen semantischen Rauschen
werden und so die tieferen Bedürfnisse der Hörerschaft verfehlen. Allzu leicht
kann sie sich in festlichen Redundanzen erschöpfen und so „über die Köpfe
hinweg“ gehen. An dieser Stelle liegt der eigentliche Grund für die scharfe Kritik

 Michael Meyer-Blanck, „Was ist ‚homiletische Rhetorik‘?“, in Handbuch Homiletische Rhetorik,


Handbücher Rhetorik 11, hg.v. dems. (Berlin/Boston: de Gruyter, 2021), 3 – 28.
126 Michael Meyer-Blanck

am „Bedürfnis des Hörers“ in der frühen Wort-Gottes-Theologie bei Thurneysen.⁸


Die bloße Bestätigung des Hörers wäre eine rhetorische Mogelpackung, denn sie
nähme das Gegenüber nicht als Partner ernst, um dessen Einverständnis zu er-
ringen, sondern würde es sich in den sanften Auen festlicher Gemeinplätze be-
quem machen.
Die Kanzelrede soll die Empfindungen der Hörenden erhöhen und nicht die
Bedeutung der Person auf der Kanzel. Bei der praedicatio handelt es sich um ein
Geschehen von Zirkulation und Resonanz. Die hörende Gemeinde ist am Zu-
standekommen des Predigtaktes beteiligt. Die Predigt kann nicht ohne Zuhörende
gehalten werden und die Zusammensetzung der Gemeinde verändert den Pre-
digtvorgang. Wer einmal gepredigt hat, kennt diese konstitutive Bedeutung der
gemeindlichen Aufmerksamkeit. Predigende sind gezwungen, immer dasjenige
im Blick zu behalten, woraus die eigene Redekunst hervorgeht – aus dem zu er-
höhenden Gemeindebewusstsein.

2.3 Die Kanzel als Ort der Nachbereitung und Vorbereitung


des Gebets
Das „erhöhte“ Bewusstsein der versammelten Gemeinde ist nur deswegen der
Gegenstand der Predigt, weil es der eigentliche Inhalt der gesamten Liturgie ist:
Die Gemeinde erhebt sich zu Gott. In der liturgiewissenschaftlich geläufigen Be-
grifflichkeit spricht man von der „anabatischen“ Dimension der Liturgie, die sich
mit der katabatischen Dimension, mit der Zuwendung, dem „Herabsteigen“ Gottes
verbindet, so dass sich beide durchdringen. Dabei ist Wert auf die Tatsache zu
legen, dass beide Bewegungen zusammengehören und nicht gegeneinander
ausgespielt werden dürfen. Ich halte es keineswegs für gut evangelisch, den
Gottesdienst nur als „Gottes Dienst am Menschen“ aufzufassen und die anabati-
sche Realität, die Suche des Menschen nach Gott, gering zu achten. Man wird

 Eduard Thurneysen, „Predigt als Zeugnis von Gott“, in Predigt: Texte zum Verständnis und zur
Praxis der Predigt in der Neuzeit, ThB 80, hg.v. Friedrich Wintzer (München: Kaiser, 1989), 117– 121
formulierte den treffenden Grundsatz, die Predigt solle den Menschen „über sich selber hin-
ausführen“ (118). Thurneysens erstmals vor genau 100 Jahren [1921] gedruckter Text geht aller-
dings völlig fehl in der Zurückweisung der rhetorischen Aufgabe: „Die Predigt ist nicht der Ort, wo
um das Verständnis des Menschen, sondern wo um das Verständnis Gottes gerungen wird.“ (117)
Dieser Satz macht eine fatale Alternative auf. Theologisch und rhetorisch richtig muss der Satz
lauten: Die Predigt ist der Ort, wo um den Gott verstehenden Menschen gerungen wird. Das
rhetorische Handeln des Kanzelredners richtet sich nicht auf Gott, sondern auf den Menschen
coram Deo.
Mehr als Holz und Stein 127

vielmehr die soteriologische und die kommunikative Betrachtung beider Be-


schreibungen deutlich unterscheiden müssen. Gewiss soll der Mensch durch
seine kunstvolle Erhebung zu Gott nicht sein Gottesverhältnis optimieren („sein
Heil verdienen“). Aber gleichwohl ist die menschliche Erhebung zu Gott die Be-
dingung der Möglichkeit, die Zuwendung Gottes für sich zu realisieren. Die
Anabasis ist der Weg, der Katabasis gewiss zu werden. Schlichter formuliert: Der
Mensch betet, um Gotteserfahrungen zu machen.
Der gesamte Gottesdienst kann als Begegnung des Menschen mit Gott, mithin
als Gebet angesehen werden. Gottesdienst und Gebet sind Erhebungen⁹ des
Menschen zu Gott und die Predigt dient dazu, diesen Vorgang zu begleiten. Streng
genommen hat die evangelische Kanzelrede nichts anderes zum Ziel, als das
gemeinsame und individuelle Gebet nachzubereiten und vorzubereiten.¹⁰ Sie tritt
aus der Liturgie hervor und heraus (s.o.), um diesen Vorgang bewusstzumachen
und zu vertiefen. Die Kanzelrede steht zwischen Kyrie, Gloria und Kollekte ei-
nerseits und Fürbitten und Segen andererseits. Sie gibt zu erwägen, wie man im
Namen Jesu vor Gott stehen und reden und wie man Gott in den Ohren liegen
kann, bevor schließlich in der zeichenhaft verdichteten Abendmahlsliturgie
dargestellt wird, worum es im gesamten Gottesdienst geht – um die Erhöhung der
Herzen zu Gott: „Ἄνω ὑμῶν τὰς καρδίας – Sursum corda – Die Herzen in die
Höhe!“ (Traditio Apostolica 4)
Insofern kann man formulieren: Die Kanzel ist der Ort, da der Erhebung der
Herzen zu Gott gedacht, wo dieser zugleich nachgedacht und vorgedacht wird.
Darum ist der Kanzelton immer ein „erhobener“, auch wenn die Kanzelrede ab-
wägend, differenzierend und theoretisch, ja lehrhaft vorgeht. So argumentierte
Augustinus in der ersten christlichen Predigtlehre im IV. Buch von De doctrina
Christiana, dass die rhetorisch geläufige Unterscheidung zwischen einem ver-
haltenen, einem gemäßigten und einem erhabenen Redestil auf die christliche
Predigt im Grunde nicht anwendbar sei: Denn da wir „nun einmal alles, beson-
ders, was wir von der erhöhten Kanzel herab der Gemeinde sagen, auf das Heil der
Menschen, und zwar nicht nur auf das zeitliche, sondern auf das ewige, beziehen
müssen […], ist im Falle von Christen alles bedeutend, was wir sagen.“ ¹¹ Alles,
was dem Gebet und der Gottesbegegnung dient, ist für den Glauben bedeutend.
Auch das Belehrende ist sachgemäß, wenn es mehr und bessere Möglichkeiten

 Kristlieb Adloff, Erhebungen: Gemeindegebete für das Kirchenjahr (Göttingen: Vandenhoeck


und Ruprecht, 1978).
 Michael Meyer-Blanck, Das Gebet (Tübingen: Verlag, 2019), 361– 370 (§ 36, Die Predigt als
Nachbereitung und Vorbereitung des Gebets).
 Augustinus, Die christliche Bildung (De doctrina Christiana), IV, 98.
128 Michael Meyer-Blanck

des Betens eröffnet. Auf eine Formel gebracht: Die Kanzel ist der Ort der reflexiven
Gestalt des Sursum corda, der anabatischen Einübung des Herzens.

2.4 Die Kanzel als Zeichen von Subjektivität, Resonanz, Gebet


und Gemeindebildung („creatura Evangelii“)
Die drei theologischen Beschreibungen der Kanzel als Ort der gottesdienstlichen
Rede zielen sämtlich auf die Entwicklung der glaubenden Gemeinschaft, auf die
Konsolidierung und Erneuerung der Kirche. Die Predigt richtet sich zunächst an
die glaubende Subjektivität, aber sie erreicht ihr Ziel erst dann, wenn diese be-
merkt, wie sie auf andere angewiesen ist (und andere auf sie). Das glaubende
Individuum kennt nur eine jeweils neu erhoffte Gewissheit (certitudo), aber keine
selbstgewisse Sicherheit (securitas carnalis).
Die glaubende Subjektivität braucht Resonanz in der Form der Unterredung
mit Freunden. Subjektivität ist nicht ohne vergewissernde Sozialität. Der Glaube –
als etwas immer wieder Gefährdetes und Flüchtiges – richtet sich an der Ge-
meinschaft aus. Anders als das bei philosophischen Meinungen und Schulen der
Fall ist, drängt die glaubende Subjektivität nicht nur auf Mitteilung, sondern auch
auf die gemeinsame und öffentliche Darstellung der eigenen Überzeugung und
damit auf die Entstehung von Gemeinschaft: „Alles darstellende Handeln, sofern
es nichts anderes ist, als das In die Erscheinung treten eines innerlichen Zu-
standes, geht auf Gemeinschaft aus. (…) [Das bedeutet], dass die Gemeinschaft
einerseits und das darstellende Handeln andererseits gleich ursprünglich sind.“¹²
Der Glaube ist lebendig am Ort des Subjekts, aber er gewinnt seine Gestalt auf dem
Weg der gemeinsamen Vergewisserung (Mt 10,26 f.; 12,34) – es handelt sich um ein
Phänomen von „Zirkulation“ und Resonanz. Innerhalb der religiösen Zirkulation
hat die Kanzelrede eine der gemeinsamen Tätigkeit aller dienende Funktion.¹³
Die Gemeinschaft wiederum hat liturgisch vor allem die Gestalt des ge-
meinsamen Hörens, Singens und Betens. Die Kanzelrede begleitet das gemein-
same Handeln und gibt ihm neue Impulse. Sie ist die Energiequelle und die
Unruhe, die den Fluss der glaubenden Empfindungen lebendig hält. Besonders
das gottesdienstliche Gebet ist ein Resonanzphänomen: Es gewinnt durch die

 Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche
im Zusammenhang dargestellt, hg.v. Wolfgang E. Müller (Waltrop: Spenner, 1998), 510, dort ge-
sperrt.
 Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen
Kirche im Zusammenhang dargestellt, hg.v. Jacob Frerichs (Berlin/New York: de Gruyter, 1983),
49 f.; 65 [Reprint von 1850].
Mehr als Holz und Stein 129

Gemeinschaft an Kraft und Dynamik. So heißt es in Luthers bekannter Torgauer


Kirchweihpredigt von 1544: „Da ist der Vorteil dabei, wenn die Christen so zu-
sammenkommen, dass das Gebet noch einmal so stark gehet wie sonst. Man kann
und soll zwar überall an allen Orten und zu allen Stunden beten. Aber das Gebet
ist nirgendwann so kräftig und stark, als wenn die ganze Gemeinde einträchtig
miteinander betet.“¹⁴
Subjektivität, Resonanz und Gebet wirken zusammen, damit Kirche entsteht
bzw. immer wieder neu an Lebendigkeit gewinnt. Die Kanzelrede soll sich an
diesem Zusammenhang orientieren und so der Gemeindebildung dienen. Dieser
Zusammenhang wird in der reformatorischen Tradition mit der Metapher ausge-
drückt, dass die Kirche ein „Geschöpf des Wortes“ bzw. des Evangeliums sei.¹⁵
Damit ist selbstverständlich nicht nur die (sonntägliche) Predigt gemeint, sondern
jegliche Gestalt, in der das Evangelium mitgeteilt und dargestellt wird – vom
Abendgebet am Kinderbett bis hin zur Festschrift für einen Jubilar. Und doch
kommt der gottesdienstlichen Kanzelrede eine hervorgehobene zeichenhafte
Bedeutung zu. Sie verweist darauf, dass die Kirche sich des Umstandes bewusst
ist, dass sie sich nicht selbst in der Hand hat. Sie kann sich nicht auf ihre eigenen
Ämter, Strukturen und Dogmen verlassen. In diesem Wahn würde sie vertrocknen.
Sie ist darauf angewiesen, dass ihr neue Lebenskraft zuströmt, so wie der Regen
vom Himmel fällt (Jes 55,10 f.), denn nur so bleibt die Gottesbeziehung lebendig.
Die Ordination der Predigerin (die Befähigung zur „freien Wortverkündi-
gung“) ist damit auch nicht die Bescheinigung, dass diese Person das Wort Gottes
„hat“ und dieses „verkündigen kann“, sondern der Ausweis, dass sie um die
Unmöglichkeit weiß, darüber zu verfügen. In religiöser Sprache formuliert: Die
Ordination zum „Predigtamt“ ist die Einweisung in die betende Grundhaltung,
wie sie dem Evangelium entspricht. Die Kanzel steht im Kirchenraum als erhöhtes
Zeichen für diese Überzeugung. Die Kanzel symbolisiert, dass die sich versam-
melnde Gemeinde verstanden hat, wie sehr ihre eigene Erhebung zu Gott (Ana-
basis) in der Zuwendung Gottes (Katabasis) gründet.

 Martin Luther, Predigt vom 5.10.1544 über Lukas 14,1– 6, WA 49, 588 – 604, Text nach:
Martin Luther, Luther deutsch: die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart,
Predigten 8, hg.v. Kurt Aland (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1965), 440 – 444, 442.
 In den Resolutiones zur Leipziger Disputation von 1519 nahm Luther Bezug auf 1 Kor 4,15 und
formulierte: „Ecclesia enim creatura est Euangelii, […] ait Paulus: per Euangelium ego vos genui“
(WA 2,430,6 – 8).
130 Michael Meyer-Blanck

3 Der Ort der Kanzel im Kirchenraum


Sind einem die erläuterten protestantischen Grundeinsichten geläufig bzw. neu
bewusst geworden, dann zeigt sich die Komplexität der architektonischen bzw.
der choreographischen Frage. In den vergangenen Jahrzehnten ist so manche
Kanzel verwaist, weil man mit ihrer Positionierung gegenüber und über der Ge-
meinde einen autoritären Gestus und Habitus verband. Welcher also ist der ge-
eignete Ort für die Kanzel im Kirchenraum? Wie ist die Kanzel zu platzieren, damit
sie von den Gemeinden und vor allem von den Pfarrer*innen – sie entscheiden ja
in der Regel, wo sie predigen – angenommen wird?
Einerseits soll der Predigtort deutlich werden lassen, dass die Kanzelrede
ihren sachlichen Platz in der Mitte der Gemeinde hat, weil diese empirisch aus der
gemeinsamen Mitteilung und Darstellung des Glaubens, aus der gemeinschaftli-
chen Erhebung zu Gott (Anabasis) entsteht. Die predigende Person sollte dem-
nach als ein Gemeindeglied „zu stehen kommen“ und der Gemeinde möglichst
nahe sein. Andererseits weiß die Kirche auch, dass die Mitteilung des Evangeli-
ums nicht in der menschlichen Kommunikation aufgeht – die Auslegung des
Bibelwortes auf der Kanzel ist auch jenes Medium, in dem das menschliche Wort
tatsächlich als Gotteswort erfahren werden kann (1 Thess 2,13) so dass die Ge-
meinde in, mit und unter¹⁶ der Kanzelrede der Zuwendung Gottes gewiss wird
(Katabasis). Insofern ist für die Predigt ein Ort angemessen, der ihre gemeindliche
und ihre erhöhte Bedeutung anzuzeigen vermag.

3.1 Der ambivalente Charakter des spätaufklärerischen


Kanzelaltars
Die besondere Bedeutung fällt am deutlichsten beim sogenannten „Kanzelaltar“
auf, bei dem die Kanzel in die Wand hinter dem Altar integriert ist und die Pre-
digerin in der Zentralposition über dem Altar steht. Diese Bauweise war besonders
in der Aufklärungszeit maßgeblich und findet sich in vielen Kirchen aus der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das ist etwa bei der Schlosskirche in Bonn
der Fall, aber auch in vielen Dorfkirchen in Norddeutschland, z. B. in Bramstedt
und in den auf den Moorkolonisator Jürgen Christian Findorff (1720 – 1792) zu-
rückgehenden Kirchen von Grasberg, Lilienthal und Worpswede. Der Kanzelaltar
bietet mehrere praktische Vorteile.Wer predigt, befindet sich in der Sichtachse der

 Formuliert in Anlehnung an die Abendmahlstheologie der Konkordienformel: „in dem Brot,


mit dem Brot, unter dem Brot“ (FC SD VII = BSLK 984,8 ff.).
Mehr als Holz und Stein 131

Gemeinde und kann von überall im Kirchenraum bestens gesehen werden, selbst
von den seitlichen Emporen vorne bei gefüllter Kirche. Die Wand hinter der Kanzel
reflektiert den Schall, so dass Hören und Blickkontakt zugleich gefördert werden.
Auch der theologische Zeichencharakter des Kanzelaltars ist von protestan-
tischer Schlüssigkeit. Die Zentralstellung der Predigt und der glaubenden Sub-
jektivität wird hervorgehoben. Die Predigt ruht auf dem Fundament des Altars,
also auf dem Ort des Gebets und des Bibelwortes (seit der Preußischen Agende
Friedrich Wilhelms III. von 1822 hat „die große Bibel“ in der Mitte des Altars vor
dem Kruzifix zu liegen).¹⁷ Die Zusammengehörigkeit von Wort und Sakrament ist
deutlich zu erkennen. Die Predigt wird unterfangen von der sich anschließenden
Feier des Mahles.
Allerdings kann die Symbolik des Kanzelaltars auch ganz anders gelesen
werden, so dass dieser als Ausdruck der Hierarchie zwischen Pfarramt und Ge-
meinde und damit als Zeichen einer autoritären und unevangelischen Konzeption
interpretiert wird. In dieser Lesart wird die Predigt zur autoritativen Belehrung der
Gemeinde, denn die Pfarrperson steht über der Gemeinde und über dem Altar, ja
sogar über dem Kruzifix. Der Prediger ist der „Religions-Lehrer“, wie es in zahl-
reichen Quellen aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts heißt. Die bedeutendste
Gabe ist nicht mehr der Leib Christi in der Mahlfeier der Glaubenden, sondern die
moralische Belehrung aus dem Mund des Pfarrers. Die Predigt wird zum sacra-
mentum audibile.
Welche von beiden Lesarten des Kanzelaltars die Praxis bestimmt, hängt
selbstverständlich von den beteiligten Personen (in der Gemeinde und auf der
Kanzel) ab. Aber es liegt auf der Hand, dass die kritische Sichtweise dann do-
miniert, wenn die Kanzelrede ohnehin kritisch gesehen wird, wie das in der
„antiautoritär“ geprägten Zeit um 1970 der Fall war, als die „Einwegkommuni-
kation“ Predigt unter dem Generalverdacht der „Manipulation“ stand.¹⁸ Aber auch
schon ein Jahrhundert vorher hatte man im Zuge der Wiederentdeckung der Li-
turgie das Konzept des Kanzelaltars kritisch gesehen.

 Vorwort zur Preußischen Agende von 1822, in: Wolfgang Herbst (Hg.), Evangelischer Gottes-
dienst: Quellen zu seiner Geschichte (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21992), 170, 171.
 Johannes Greifenstein, 1968 und die Praktische Theologie: Wissenschaftstheoretische Per-
spektiven auf Funktion, Gegenstand und Methode einer Praxistheorie (Tübingen: Mohr Siebeck,
2017) sowie Michael Meyer-Blanck, „Vom Mysterium zum Forum: Wandlungen in Verständnis und
Praxis des Gottesdienstes um das Jahr 1968“, in Praxisrelevanz und Theoriefähigkeit: Transfor-
mationen der Praktischen Theologie um 1968, PThGG 27, hg.v. Johannes Greifenstein (Tübingen:
Mohr Siebeck, 2018), 107– 120.
132 Michael Meyer-Blanck

3.2 Reformbestrebungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts

Vom 30. Mai bis 5. Juni 1861 tagte die evangelische Kirchenkonferenz in Eisenach¹⁹
und beschloss Grundsätze für den künftigen Kirchenbau. Es war die Zeit eines
bisher nicht gekannten Städtewachstums und damit eine Epoche zahlreicher
Kirchenneubauten (man denke nur an Berlin, dessen Einwohnerzahl sich zwi-
schen 1825 und 1880 von 220.000 auf 1,22 Millionen verfünffachte). Das „Eisen-
acher Regulativ“ für den Kirchenbau aus dem Jahr 1861 sollte den Baustil einer
ganzen Epoche im Stile der Neogotik beeinflussen. Es orientierte sich an den
mittelalterlichen Kirchen und vollzog damit eine deutliche Abkehr von der auf-
klärerischen Architektur mit dem Kanzelaltar.
Das Regulativ von 1861 bestimmte, die Kanzel dürfe „weder vor noch hinter
oder über dem Altar, noch überhaupt im Chore stehen“; ihr angemessener Platz
sei darum an einem Pfeiler zwischen Chor und Kirchenschiff.²⁰ Diese Bestimmung
entsprach den hochmittelalterlichen Kirchbauten, wie sie mit den großen Ka-
thedralen, etwa in Freiburg oder Straßburg, gegeben ist.
Doch bereits 30 Jahre später gab es wiederum entgegengesetzte Bestrebun-
gen. Im Zusammenhang des Baues der dritten Wiesbadener Kirche, der heutigen
Ringkirche (bzw. Reformationskirche, errichtet 1892– 1894), wurden vier Leitsätze
formuliert, die in der „Deutschen Bauzeitung“ 1891 veröffentlicht und seitdem
über den konkreten Anlass hinaus als „Wiesbadener Programm für den Kir-
chenbau“ bekannt wurden. Der vierte Leitsatz bestimmte, die Kanzel als „derje-
nige Ort, an welchem Christus als geistige [sic] Speise der Gemeinde dargeboten“
werde, sei „mindestens als dem Altar gleichwertig zu behandeln.“ Die Kanzel
solle hinter dem Altar stehen und mit der Orgel- und Sängerbühne „organisch
verbunden werden“.²¹ So entstand eine neoromanische Kirche mit einer Art von
Auditorium, das sich wie ein Hörsaal auf den Kanzelaltar und die Orgel hin
ausrichtet.²² Damit war die Kanzel erneut zum Prinzipalort geworden.

 Die „Konferenz deutscher evangelischer Kirchenregierungen“ tagte seit 1853 alle zwei Jahre in
der Woche nach Trinitatis in Eisenach. Von nachhaltiger gottesdienstlicher Bedeutung war auch
die in Eisenach 1896 beschlossene Perikopenrevision: Perikopenbuch, hg. im Auftrage der Deut-
schen evangelischen Kirchen-Konferenz (Stuttgart: Grüninger, 1897).
 W. Herbst, Evangelischer Gottesdienst (s.o. Anm. 17), 209 – 213 („Eisenacher Regulativ für den
evangelischen Kirchenbau“ 1861 und „Wiesbadener Programm für den Kirchenbau“ 1891); Zitat
211.
 W. Herbst, Evangelischer Gottesdienst (s.o. Anm. 17), 213.
 S. den Grundriss der Wiesbadener Ringkirche in: Rainer Volp, Liturgik: Die Kunst, Gott zu
feiern Bd. 1, Einführung und Geschichte (Gütersloh: Mohn, 1992), 387.
Mehr als Holz und Stein 133

4 Zeichen der Mitteilung und Darstellung


Die Zeit der Kirchenneubauten ist vorbei (bekanntlich ist die Gegenwart von zu-
nehmenden Kirchenentwidmungen geprägt). Die letzte Welle von Neubauten
waren die Mehrzweckbauten, die Gemeindezentren seit den 1960er Jahren, die
eine Art Gegenprogramm zum Kanzelaltar bedeuteten. Anstelle einer Kanzel gab
es jetzt ein gemeindenahes Lesepult, das dem Ideal der Predigt als einem Dis-
kussionsbeitrag in der Gemeindeversammlung, als Gespräch unter Gleichen
entspricht.
Für die Predigenden allerdings ist die Diskussion um den besten Predigtort
eher von sekundärer Bedeutung, weil man die Kanzel in der jeweiligen Gemeinde
so vorfindet, wie sie nun einmal dasteht. Gewiss kann man sich weigern, auf eine
erhöhte Kanzel zu steigen (und sich „über die Gemeinde zu erheben“). Sofern man
sich aber mit dem Raumprogramm abfindet, wird man es so weit wie möglich mit
Leben zu erfüllen suchen. Es kommt darauf an, dem mehrfachen Charakter einer
Predigt zu entsprechen: Diese ist eine Rede wie jede andere, gehalten vor einem
Publikum von einem Menschen wie jedem anderen – aber doch mit dem An-
spruch, dem Ursprungsgeschehen des Glaubens durch den Bezug auf die Zeug-
nisse aus der Zeit des Herrn Jesus nahe zu kommen, so dass nicht nur etwas über
die Botschaft Jesu laut wird, sondern die evangelische Botschaft selbst gehört
werden kann.
Für die Predigenden geht es darum, so kommunikativ und gemeindenah wie
möglich zu reden von jener Sache, über die kein Mensch verfügen kann, die aber
den Menschen unmittelbar betreffen und ergreifen kann, weil sie höher ist als die
menschliche Vernunft (Phil 4,7). Der Ort für eine derart auf gänzlich menschlicher
Ebene vorgehende und gerade so erhebende Predigt ist nicht belanglos, aber
letztlich doch nicht entscheidend.
Jan Hermelink
Das Losungsbüchlein zwischen Religion
und Organisation
Ein Versuch zur Materialität der kirchlichen Leitungspraxis

1 Dinge der Kirchenleitung: Ausgangsidee


Religiöse Praxis vollzieht sich an und mit Dingen;¹ auch kirchliche Handlungs-
felder, Praktiken und Akteur*innen lassen sich durch ihre materielle Dimension
beschreiben – zur Verbreitung dieser praktisch-theologischen Einsicht hat Tho-
mas Klie vielfältig beigetragen.² Für die Praxisfelder der Kasualien, überhaupt des
Gottesdienstes und der Predigt, des Unterrichts, der Seelsorge oder der Spiritua-
lität sind typische Dinge denn auch leicht zu nennen und mit viel Gewinn zum
Sprechen zu bringen; dies gilt ebenso für die materielle Performanz der christlich-
religiösen Akteur*innen. Wie aber steht es in dieser Hinsicht um das Praxisfeld
der Kirchen- und Gemeindeleitung, das in den letzten 30 Jahren wieder hohe
Aufmerksamkeit erhalten hat?³ Welche typischen Dinge gehören zu diesem
Handlungsfeld? Oder zeichen- und praxistheoretisch zugespitzt: Welche Artefakte
bringen die Eigenart der gegenwärtigen kybernetischen Praxis besonders deutlich
zur Darstellung?
Meine ersten Einfälle, u. a. im Gespräch mit einer erfahrenen Praktikerin der
Kirchenleitung, zeigten rasch die charakteristische Doppelseitigkeit dieses Be-
rufsfeldes. Auf der einen Seite gehören zum kirchenleitenden Handeln offenbar
ein (gut gefüllter) Terminkalender, eine Flipchart oder diverse Besprechungsti-
sche; andererseits lässt sich an das Bischofskreuz denken oder an die Agende für
Ordinationen, Einführungen, Verabschiedungen, Jubiläen etc.⁴ Mit anderen
Worten, die typischen Artefakte der Kirchenleitung verweisen einerseits auf ihre

 Vgl. zuletzt Ursula Roth und Anne Gilly (Hg.), Die religiöse Positionierung der Dinge: Zur Ma-
terialität und Performativität religiöser Praxis (Stuttgart: Kohlhammer, 2021).
 Vgl. zuletzt Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.), FeinStoff: Anmutungen und Logiken religiöser
Textilien (Stuttgart: Kohlhammer, 2021).
 Vgl. vielleicht zuerst Günter Breitenbach, Gemeinde leiten: Eine praktisch-theologische Kyber-
netik (Stuttgart: Kohlhammer, 1994).
 Vgl.VELKD und UEK (Hg.), Berufung, Einführung, Verabschiedung: Agende für evang.-lutherische
Kirchen und Gemeinden, Bd. IV, Teilband 1, zugleich Agende für die Union Evangelischer Kirchen in
der EKD, Bd. 6 (Bielefeld: Verlagsgemeinschaft Evangelisches Gottesdienstbuch, 2012).

https://doi.org/10.1515/9783110762853-009
136 Jan Hermelink

organisatorische Seite, die in vieler Hinsicht der Leitungspraxis in anderen so-


zialen Organisationen ähnelt, und andererseits auf ihre ‚geistliche‘ Dimension,
die sich vor allem in liturgischen, dazu in seelsorglichen Vollzügen zeigt. Gibt es
nun auch kybernetische Dinge, die beide Seiten verbinden?
Uns kam bald ein eher unscheinbares Artefakt in den Sinn, nämlich das
‚blaue Büchlein‘ mit den Herrnhuter Losungen eines Jahres.⁵ Nach Auskunft der
kybernetischen Praktikerin und auch nach meiner eigenen Erfahrung markiert die
Nutzung dieses Büchleins zu Beginn von Gremiensitzungen sowie von Dienst-
prüfungen deren kirchlichen Charakter; und die Person, die aus diesem Büchlein
(das sie selbst mitgebracht hat) die Losung des Tages verliest, vielleicht auch zur
Grundlage einer kleinen Andacht macht, wird auf diese Weise alsbald als kir-
chenleitende Akteurin markiert.
Das Losungsbüchlein, dessen Inhalt i.W. aus biblischen Sprüchen sowie
kurzen Gebets- oder Liedzeilen aus der christlichen Tradition besteht, verbindet
also – sobald es im Kontext von Leitungspraktiken verwendet wird – deren or-
ganisationstypische Vollzüge mit einem religiösen Horizont. Wie diese Verbin-
dung praktisch geschieht, welche religiösen und welche organisatorischen
Praktiken mittels dieses Artefakts aufgerufen, welche Bilder von ‚Kirche‘ und ihrer
Leitung seine Nutzung implizit – und darum umso wirkungsvoller – kommuni-
ziert, dies soll im Folgenden näher untersucht werden.
Zunächst ist zu skizzieren, welche Praktiken mit dem Losungsbüchlein in der
Geschichte wie gegenwärtig typischerweise verbunden sind (2). Auf dieser Basis
sind die sozialen und religiösen Bedeutungen, die sich mit dem Artefakt des Lo-
sungsbüchleins verbinden, herauszuarbeiten (3). In diesem Horizont lassen sich
einige Verweisungsspuren aufzeigen, die durch die kybernetische Nutzung dieses
Artefaktes gelegt werden: Bestimmte Züge der Kirchenleitung zwischen Religion
und Organisation werden hervorgehoben (4), während andere Aspekte dieser
Praxis abgeblendet werden (5).

2 Praktiken des Losungsgebrauchs


Das Losungsbüchlein ist ein Artefakt, das einem sehr bestimmten historischen
Praxiskontext entstammt, sich aber schon bald mit weiteren religiösen Praktiken

 Aktuelle Ausgabe: Evang. Brüder-Unität (Hg.), Die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine für
das Jahr 2022, 292. Ausgabe (Lörrach/Basel: Friedrich Reinhardt, 2021).
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation 137

verbunden hat.⁶ Aus den zahlreichen überlieferten Berichten lassen sich ideal-
typisch drei Grundformen entnehmen.

(1) Religiöse Orientierung einer heterogenen christlichen Gemeinschaft. Die „Lo-


sungen“ gehören zunächst in den Kontext der ersten Jahre der Herrnhuter Brü-
dergemeine.⁷ Sie war 1722 auf dem Gut Berthelsdorf durch die Ansiedlung er-
weckter, aus Böhmen und Mähren vertriebener Protestanten entstanden; zu ihnen
kamen in den folgenden Jahren so viele weitere Glaubensflüchtlinge unter-
schiedlicher Prägung und Bildung, dass bald ein ganzes Dorf mit mehr als 30
Häusern entstand. Angesichts der starken religiösen Spannungen unter den
Exulanten hatte Nikolaus Graf von Zinzendorf (1700 – 1760), der Besitzer des
Gutes, sich 1727 selbst dort niedergelassen und eine komplexe sozial-religiöse
Ordnung für die Kolonisten geschaffen, mit diversen ständischen ‚Chören‘, auf-
gabenorientierten ‚Klassen‘ und seelsorglich orientierten Kleingruppen (‚Ban-
den‘). Alle diese Gruppen waren eingebunden in ein dichtes liturgisches Pro-
gramm aus Morgen-, Mittags- und Abendgebeten und einer ebenfalls täglichen
gemeinsamen Singstunde sowie großen sonntäglichen Abendmahlsfeiern. Durch
eigene Lieddichtung und liturgische Formulare hat Zinzendorf dieses religiöse
Gemeinschaftsleben immer wieder bereichert und intensiv geprägt.
Während einer von ihm geleiteten abendlichen Singstunde im Mai 1727 for-
mulierte Zinzendorf einen selbst gedichteten Liedvers als „Losung“, die von
einzelnen Geschwistern am nächsten Morgen in alle Häuser Herrnhuts gebracht
wurde, um dort als Weckruf, Zuspruch und Appell für das gemeinsame Leben zu
fungieren. Diese Praxis, die sich ausdrücklich an den Gebrauch militärischer
Tagesparolen zur wechselseitigen Identifikation und einheitlichen Orientierung
im Heerlager anlehnte,⁸ wurde seitdem täglich fortgesetzt.⁹ Seit 1731 stellte
Zinzendorf die von ihm ausgegebenen Losungen jährlich in gedruckten Büchern

 Den Begriff der Praktiken nutze ich im Horizont der soziologischen Praxistheorie, vgl. Andreas
Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive“,
Zeitschrift für Soziologie 32 (2003): 282– 301; Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken: Konzep-
tionelle Studien und empirische Analysen (Berlin: Suhrkamp, 2012). – Zur praktisch-theologischen
Rezeption vgl. Julia Koll, „Zu den Praktiken selbst! Der Practice Turn und seine Erträge für die
Praktische Theologie“, Pastoraltheologie 108 (2019): 66 – 82. Elementar für diesen Zugang sind
eine mentalitäts- und intentionsskeptische Perspektive sowie die Aufmerksamkeit auf die Kör-
perlichkeit, die Öffentlichkeit und die Materialität des sozialen Handelns.
 Vgl. zum Folgenden Peter Zimmerling, Die Losungen: Eine Erfolgsgeschichte durch die Jahr-
hunderte (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014), 16 ff, 28 ff; Heinz Renkewitz, Die Losungen:
Entstehung und Geschichte eines Andachtsbuches (Hamburg: Wittig, 21967).
 Vgl. P. Zimmerling, Losungen, 134 f.
 Vgl. zum Folgenden auch Jörg Neijenhuis, Art. „Losungen“, in RGG4, Bd. 5 (2002), 519 f.
138 Jan Hermelink

zusammen; sie bestanden aus Liedzeilen und Bibelversen in unterschiedlicher


Reihenfolge. Diese Losungsbücher wurden ab 1737 auch in den anderen Brüder-
gemeinen sowie in deren rasch wachsender internationalen Missionsarbeit ver-
wendet. Erst nach dem Tode Zinzendorfs wurden die Tagesparolen tatsächlich
jährlich ausgelost, zunächst aus seinen zahlreichen Textbüchern, dann aus
Sammlungen von Bibelsprüchen.
Die tägliche Verbreitung bzw. Verkündung einer kurzen religiösen „Losung“
dient also zunächst dem praktischen Umgang mit erheblichen Differenzen in
Frömmigkeit, Theologie und sozialer Lage einer rasch wachsenden christlichen
Gemeinschaft jenseits der etablierten Kirchentümer. Dazu trugen die Gespräche,
die sich in den Häusern, den ‚Chören‘ und ‚Banden‘ über die jeweilige Losung
entwickelten, wesentlich bei. Die heterodoxe Dynamik der neuen Gemeinschaft,
die sich durch diverse Erweckungsschübe im 18. Jhdt. weiter verstärkte, wurde
durch den kommunikativen Bezug auf eine knappe, daher vielfältig anwen-
dungsfähige, täglich erneuerte ‚Parole‘ eingedämmt. Dazu sollten die Spruch-
sammlungen der Losungsbücher in Zinzendorfs Absicht die Basis bilden für die
ebenfalls gemeinsame Einübung in eine elementare und daher konsensfähige
‚biblische Lehre‘.
Aus diesem ersten, durchaus kybernetischen Sitz im Leben der Losungsbü-
cher entwickelten sich rasch zwei weitere Praktiken, in denen diese Bücher eine
wesentliche Rolle spielen.

(2) Häusliche Andacht. Sehr bald wurden die Losungen zum festen Bestandteil
des Herrnhuter liturgischen Lebens.¹⁰ Bei der täglichen Morgenandacht wurde
(und wird) die Losung durch einen Bruder ausgelegt; die abendliche Singstunde
besteht aus zahlreichen Liedstrophen, deren inhaltlicher Zusammenhang durch
die Losungstexte hergestellt wird. Auch in den weiteren Brüdergemeinen, die in
Deutschland wie international entstanden, ist die tägliche Andacht der jeweiligen
Hausgemeinschaften oder ‚Banden‘ um die Losung zentriert.
Seither wird auch das religiöse Leben in vielen anderen evangelischen Ge-
meinschaften durch die jeweiligen Losungstexte geprägt. Im 19. Jhdt. sind es vor
allem erweckte Kreise, deren Andachtskultur sich am Losungsbüchlein orientiert.
Exemplarisch sei auf die täglichen Andachten in vielen Diakonissenhäusern und
diakonischen Bruderschaften hingewiesen; auch das liturgische Leben in Joh.
Chr. Blumhardts Kur- und Seelsorgezentrum in Bad Boll war ganz durch die Lo-
sungen geprägt.¹¹ Im 20. Jhdt. hat sich die liturgische Verwendung der Losungen

 Vgl. P. Zimmerling, Losungen, 25.


 Vgl. ebd., 35 f.
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation 139

aus diesem engeren Frömmigkeitskontext gelöst, und zwar vor allem durch die
‚Rüstzeiten‘ und weitere Andachtsformate der Bekennenden Kirche.¹² Hier wur-
den die kurzen Texte immer wieder als ‚vollmächtige‘ Deutung von konkreten
Situationen äußerer und innerer Bedrohung wahrgenommen – eine Erfahrung,
die sich in den Friedensgebeten der DDR-Kirchen 1988/1989 mannigfach wie-
derholte.¹³
Die zunehmende Orientierung der protestantischen Andachtspraxis an den
Losungen hat ihren Anhalt u. a. darin, dass diese selbst seit dem 19. Jhdt. als li-
turgische Form in nuce gedruckt werden, nämlich in der Abfolge zweier aufein-
ander bezogener biblischer Texte, ergänzt durch zwei (später einen) Choral- oder
Gebetsvers(e).¹⁴

(3) Individuelle biblische Meditation. Bereits die Herrnhuter Geschwister des 18.
Jhdts. nutzten die Losungen auch und gerade dort, wo sie – auf Reisen oder in der
Mission – keine tägliche Andachtsgemeinschaft erfuhren. Die Lektüre der Lo-
sungen galt ihnen als unmittelbare Begegnung mit dem Worte Gottes, als le-
bendige Anrede durch Christus selbst.¹⁵ Und zugleich vermittelte der tägliche
Gebrauch des Losungsbüchleins die Erfahrung einer inneren Verbundenheit mit
den Geschwistern, die zur gleichen Zeit die gleichen Texte lasen.
Diese individuell-religiöse Verwendung des Losungsbüchleins hat sich im 19.
Jhdt. rasch verbreitet; davon zeugen zahlreiche Äußerungen v. a. aus religiös en-
gagierten sowie aus politisch führenden Kreisen.¹⁶ Die regelmäßige Lektüre der
Losungstexte eröffnete eine religiöse Deutung der jeweiligen persönlichen Si-
tuation – und zwar insbesondere dann, wenn die Einzelnen den Text als direkte,
ihnen jetzt und hier geltende Anrede Gottes verstanden.
Die Differenz zwischen einer gemeinsam-liturgischen und einer individuell-
meditativen Nutzungspraxis der Losungen lässt sich in den einschlägigen Äu-
ßerungen D. Bonhoeffers besonders gut erkennen.¹⁷ In seiner Reflexion der Er-
fahrungen im Predigerseminar und Bruderhaus Finkenwalde (1935 – 1937), die er
als exemplarisch für ein christliches „Gemeinsames Leben“ verstand, wird ei-

 Vgl. H. Renkewitz, Losungen, 54 f; Ferdinand Schlingensiepen, „Spiritualität in der Beken-


nenden Kirche“, in Handbuch evangelische Spiritualität, Bd. 1: Geschichte, hg.v. Peter Zimmerling
(Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017), 755 – 763.
 Vgl. P. Zimmerling, Losungen, 55.
 Vgl. ebd., 144 f.
 Vgl. ebd., 125 ff.
 Vgl. H. Renkewitz, Losungen, 65 ff; P. Zimmerling, Losungen, 36 ff.
 Vgl. P. Zimmerling, Losungen, 107 ff, der allerdings zu wenig zwischen publizierten und pri-
vaten Äußerungen Bonhoeffers zum Thema differenziert.
140 Jan Hermelink

nerseits ein Gebrauch der Losungen als Schriftlesung in der gemeinsamen Mor-
genandacht harsch kritisiert, weil damit das „Ganze“ der Bibel „in der Unend-
lichkeit ihrer inneren Beziehungen“ und als „Gottes Offenbarungswort … für alle
Zeiten“ reduziert werde auf zufällig-situative „Spruch- und Lebensweisheit“.¹⁸
Andererseits empfiehlt Bonhoeffer für die individuelle Schriftbetrachtung, für die
der Christ ebenfalls eine feste Zeit zu reservieren hat, die Konzentration auf einen
ganz kurzen Text, der „uns ganz persönlich für den heutigen Tag und für unsern
Christenstand etwas zu sagen“ haben wird.¹⁹ Hier soll die Herrnhuter Losung nun
durchaus genutzt werden – zumal dann, wenn auf diese Weise auch die innere
Verbundenheit mit anderen Christ*innen zu einer tröstlichen Erfahrung wird.²⁰
Für die individuell-betrachtende Nutzung des Losungsbüchleins sind zwei
weitere Aspekte bedeutsam. Einerseits fällt – auch bei Bonhoeffer – auf, wie diese
Praxis besonders in Zeiten äußerer oder innerer Bedrohung an Intensität gewinnt.
Das können Situationen des persönlichen Misserfolgs, der Verfolgung oder der
Lebensgefahr während des Krieges sein.²¹ Hier wird die regelmäßige Lektüre der
Losungen als entlastender Distanzgewinn und insbesondere als eine persönliche
Vergewisserung, als tröstliche, weil unmittelbare Zusage erlebt.²²
Zum anderen gehört zu dieser individuellen Nutzungspraxis die ausdrückli-
che Artikulation der dabei gemachten Erfahrungen gegenüber anderen – sei es in
freundschaftlichem Austausch oder in einer religiösen Gruppe, sei es in mehr oder
weniger öffentlichen Zeugnissen. Gerade das Wissen, dass auch Andere das
Losungsbuch als Medium der persönlichen Andacht nutzen, ermöglicht die –
wiederum vergewissernde – Verständigung untereinander. M.a.W., auch der
scheinbar ganz individuelle, einsame Umgang mit dem Losungsbüchlein ist doch
eine eminent soziale Praxis.

3 Das Losungsbüchlein als Artefakt


modern-religiöser Praxis
Blendet man nun diese historisch-praktischen Kontexte des Losungsbüchleins
erst einmal aus und wendet sich – einigermaßen unvoreingenommen – der Ma-

 Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben (1937), DBW 5 (München: Chr. Kaiser, 1987), 43 – 45.
 Ebd., 70.
 Vgl. ebd., 149 (Nachwort der Herausgeber).
 Vgl. die Beispiele bei H. Renkewitz, Losungen, 73 ff.
 Vgl. P. Zimmerling, Losungen, 156 f („Atemhilfe“).
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation 141

terialität dieses konkreten Dinges zu,²³ so drängt sich zum einen die klassische
(nicht späte) Modernität dieses Artefaktes auf und zum anderen seine Verwei-
sungsbezüge auf zwei spezifische Religionspraktiken.

(1) Das Losungsbüchlein erscheint im Vergleich mit anderen Büchern klein und
eher unscheinbar, was Farbe, Typographie und Qualität von Einband und Papier
angeht. Offenbar wird bewusst auf eine ‚ästhetische‘, aufwändigere Gestaltung
verzichtet. Als einzige bildliche Darstellung findet sich eine siegelartige Darstel-
lung des Christuslammes mit Kreuzesfahne auf dem Titel, als Vorsatzblatt und als
Signet auf dem Buchrücken.
Die betont unauffällige, auf nahezu jede Stilisierung verzichtende Gestalt
setzt sich im Inneren fort. Jede Seite des kalendarischen Corpus ist – unter einem
Kolumnentitel aus Monatsnamen und Seitenzahl – dreispaltig gegliedert: außen
Wochentag und Tagesdatum, innen Nachweise der Bibel- bzw. Gesangbuchverse,
in der Mitte die biblischen Sprüche in Fettdruck und ein Gebets- oder Liedvers –
alle Texte jedoch nicht versweise, sondern im einfachen Blocksatz. Darunter für
jeden Tag weitere biblische Verweise nach zwei Lesereihen der EKD bzw. einer
ökumenischen Arbeitsgruppe.
Die typographische Gestalt erinnert mich an statistische Tabellen, die ein
Maximum an Information mit einem Minimum an ‚Verzierung‘ verbinden. Die
entsprechenden Informationen lassen sich daher rest- und mühelos digitalisie-
ren, sei es in Morsezeichen, per Twitter oder Mail bzw. mit allen möglichen Apps.²⁴
Diese schmucklos-rationale, wohlorganisierte Modernität verbindet das Lo-
sungsbüchlein mit einem klassischen Tageskalender; darauf weist auch das For-
mat des Buches. Es ist erkennbar auf eine Nutzungsroutine ausgerichtet, die den
Tagesablauf ähnlich strukturiert wie die morgendliche Zeitungslektüre oder der
Frühsport. Dazu passt weiterhin, dass die Losungen auch als „Schreibausgabe“
angeboten (und d. h. offenbar nachgefragt) werden, um Notizen zur persönlichen
Reflexion und/oder Selbstorganisation zu ermöglichen.²⁵
Die schlichte und handliche Form des Losungsbüchleins verweist weiterhin
auf seine Mobilität – es lässt sich, wie ein Notizbuch, leicht in Hand- oder Ak-

 Mir liegt die ‚einfache‘ Ausgabe der Losungen für 2022 vor (s.o. Anm. 5). Dazu gibt es einige
Varianten, die bestimmte Nutzungsaspekte der Standardausgabe akzentuieren; dazu vgl. https://
www.losungen.de/die-losungen/ausgaben/, Lesedatum: 05.01. 2021, und die folgenden Ausfüh-
rungen.
 Vgl. https://www.losungen.de/digital/.
 Vgl. die analogen Hinweise zu einem „organisierende[n] Gebrauch“ des Bibelbuches bei Sonja
Beckmayer, Die Bibel als Buch: Eine artefaktorientierte Untersuchung zu Gebrauch und Bedeutung
der Bibel als Gegenstand, Praktische Theologie heute 154 (Stuttgart: Kohlhammer, 2018), 342 f.
142 Jan Hermelink

tentasche verstauen und hat auch bei Fernreisen kein hinderliches Gewicht. Auf
eine potenziell hohe Mobilität des nutzenden Individuums verweisen zudem die
Angaben zu nationalen Institutionen der Brüdergemeine sowie zur „Unitätsge-
betswacht“, die im zwei- oder dreiwöchentlichen Rhythmus auf alle Provinzen der
Brüder-Unität (und damit fast alle Weltteile) Bezug nimmt.²⁶
Zur dezidierten Modernität des Losungsbüchleins gehören schließlich zwei
weitere Markierungen, nämlich zum einen die Betonung der eigenen Geschichte,
wenn auf dem Cover die „292. Ausgabe“ vermerkt wird und es auf der Rückseite
heißt: „Die Losungen erscheinen jedes Jahr seit 1731, ohne Unterbrechungen“.²⁷
Zum anderen ist das Losungsbüchlein deutlich auf einen individuellen Gebrauch
ausgerichtet, was die Einbindung des Buches in persönliche Beziehungen ein-
schließt. Darauf verweist das Angebot einer „Geschenkausgabe“ mit künstlerisch
gestaltetem Einband; darauf verweist auch der aus der jüngeren Geschichte
überlieferte Brauch, sich das Büchlein unter engen Freunden zu Weihnachten zu
schenken.²⁸
Schließlich sei die Kehrseite dieser klaren Ausrichtung auf eine individuelle
Nutzungspraxis genannt: Die Materialität des Losungsbüchlein weist selbst in
keiner Weise auf einen Gebrauch in häuslichen oder anderen Andachten hin. In
liturgischer Hinsicht wird lediglich auf das textliche Proprium der jeweiligen
Sonntags-, also Gemeindegottesdienste und einiger Feste verwiesen. Für eine
solenne gottesdienstliche Nutzung ist das Büchlein erkennbar nicht ausgelegt; es
gibt auch keine Sonderausgabe als liturgisches Lektionar o. ä.

(2) Die moderne, ebenso rationale wie individuelle Materialität des Losungs-
büchleins verweist jedoch sehr deutlich auf zwei andere religiöse Praktiken. Zu-
nächst zielt das Büchlein auf das regelmäßige, tägliche Bibelstudium. Dieses wird
zunächst durch die – per Fettdruck hervorgehobenen – beiden Bibelverse reali-
siert; dazu kommen die Verweise auf weitere Texte aus zwei Reihen zur täglichen
Bibellektüre, einerseits thematisch, andererseits fortlaufend geordnet.²⁹ Auf eine

 Brüder-Unität (Hg.), Losungen 2022, 150 f bzw. 152.


 Ein starkes Bewusstsein für die eigene (Wirkungs‐)Geschichte zeigt bereits Zinzendorf selbst,
wenn er in der Vorrede zu einer ersten Sammlung seiner Losungs- und Textbüchlein schreibt:
„Gewiss, der Heiland hat eine eigene Historie für sich, die der Chronica des Satans entgegenge-
stellt ist. Sollte sich der Wunsch vieler Brüder, dass eine Historie der Losungen mit ihrer ge-
nauesten und deutlichsten Erfüllung gesammelt und gedruckt werden möchte, zustande kom-
men; was für eine Menge Wunder Gottes würde sich da zeigen […].“ (zit. nach P. Zimmerling,
Losungen, 30 f).
 Vgl. P. Zimmerling, Losungen, 116 f.
 Brüder-Unität (Hg.), Losungen 2022, 6.
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation 143

dezidiert professionelle Bibellektüre zielt zudem eine Ausgabe der Losungen in


Hebräisch bzw. Griechisch, die seit einigen Jahrzehnten angeboten wird.
Sodann verweist die Materialität des Losungsbüchleins auf die Praxis des
regelmäßigen individuellen Gebets. Dazu dienen die für jeden Tag abgedruckten
Lied- oder Gebetsverse; mitunter wird auch ein kurzer meditativer Text geboten,
„der zum Gebet hinführen soll“.³⁰ Mit leichter Tendenz zu eher erwecklichen Lied-
oder Gebetstexten wird hier eine große, ganz überwiegend evangelische ‚Wolke
der Zeugen‘ gebildet, in die sich die einzelnen Betenden einfügen können. Diese
Gemeinschaftserfahrung im Gebet bezieht – das markiert die tagesrhythmische,
zugleich ortsunabhängige Struktur des Büchleins – in der Gegenwart potenziell
alle anderen Nutzer*innen ein; und diese Gemeinschaft verbindet, so unter-
streicht das Büchlein auf der Rückseite, „in mehr als 60 Sprachen […] Menschen
unterschiedlicher Kulturen und Konfessionen“. Dazu passt, dass gelegentlich auf
internationale Gebetswochen oder -tage verwiesen wird, etwa den Weltgebetstag
(4. März): „Frauen laden ein“.
Auch in religiöser Hinsicht lassen sich Horizonte benennen, auf die das Ar-
tefakt des Losungsbüchleins gerade nicht verweist: Ein ortsgemeindlicher Bezug
ist allenfalls dort erkennbar, wo einzelne Kirchengemeinden das Losungsbüchlein
an ihre (Kern‐)Mitglieder verteilen.³¹ Ansonsten beschränken sich die kirchlich-
organisatorischen Hinweise ganz auf Geschichte und Gegenwart der Brüder-
Unität, die sich als „eine kleine internationale Freikirche“ vorstellt;³² andere
evangelische Kirchen, Konfessionen o. ä. finden nirgends Erwähnung.

4 Das Losungsbüchlein als kybernetisches


Artefakt (I): Christus leitet die Kirche
Wie eingangs angedeutet, gehört das Losungsbüchlein zu den (wenigen) Arte-
fakten, mit denen typische Szenen der kirchlichen Organisation – Sitzungen und

 Ebd. Vgl. auch den Hinweis auf „Themen für das tägliche Gebet“, a.a.O., 7.
 Vgl. die Website einer württembergischen Kirchengemeinde, Ende Dezember 2021: „Auch für
das Jahr 2022 erhalten Sie bei Frau […] oder Frau […] folgende Kalender: Konstanzer Großdruck-
Kalender – Neukircher Kalender – Losungsbüchlein (auch Großdruck). Ein schönes Geschenk für
Geburtstage im zu Ende gehenden Jahr oder für Weihnachten!“ (Online abrufbar unter https://
www.bitz-evangelisch.de/aktuelles-wochentermine/aktuelleswochentermine/, Lesedatum:
05.01. 2021).
 Brüder-Unität (Hg.), Losungen 2022, 150. Zu einzelnen Tagen wird auf prägende Ereignisse der
Herrnhuter Geschichte verwiesen, etwa „21. August 1732: Aussendung der ersten Missionare aus
Herrnhut“ (ebd., 99).
144 Jan Hermelink

Arbeitstreffen, auch Prüfungen und Auswahlgespräche – in einen explizit reli-


giösen Horizont gerückt werden. Kirchenleitende Akteur*innen – von der Pfar-
rerin bis zum Kirchenpräsidenten – beginnen die regelmäßigen Teamtreffen oder
Kommissionssitzungen mit einer Lesung aus dem (erkennbar eigenen) Losungs-
büchlein; in Kreis- oder Landeskirchenämtern werden Kurzandachten mittels der
Tageslosung gehalten; bei theologischen Dienstprüfungen eröffnen die Vorsit-
zenden das Geschehen ebenfalls mittels des Losungsbüchleins – mitunter ergänzt
durch einen kurzen Kommentar, vielleicht eine Liedstrophe oder ein gemeinsames
Vaterunser.
Nach meinem Eindruck bildet diese kybernetische Nutzung des Losungs-
büchleins inzwischen einen Gutteil der Anlässe, zu denen dieses Artefakt den
Raum seines je individuellen Gebrauchs verlässt. Gewiss werden auch (Morgen‐)
Andachten in Akademien und Tagungshäusern, dazu Senioren- und andere Ge-
meindekreise gelegentlich mit dem Losungsbüchlein gestaltet; außerdem wird es
im gottesdienstlichen Leben von Kommunitäten, diakonischen Bruderschaften
oder landeskirchlichen Gemeinschaften eine Rolle spielen. Im groß- oder lan-
deskirchlichen Kontext sind es aber doch vor allem die o.g. Zusammenkünfte von
Leitungsgremien, in denen dieses Büchlein regelmäßig prägende Wirkung für
eine gemeinsame, eine soziale Praxis entfaltet. Durch die liturgisch-kybernetische
Nutzung dieses Artefakts wird, so scheint mir, nun implizit – und insofern be-
sonders wirkungsvoll – ein bestimmtes Bild der Kirche (1, 2) und eine bestimmte
Vorstellung von Kirchenleitung (3) akzentuiert. Zugleich werden andere, ebenfalls
bedeutsame Aspekte von Kirche und Kirchenleitung durch die Nutzung des Lo-
sungsbüchleins einer religiösen Codierung gerade entzogen (s.u. Abschnitt 5).
Nicht weiter verfolgen kann ich hier die kybernetischen Implikationen der
Praxis, die Losungen in einer App des eigenen Smartphones zu lesen, immer
häufiger auch im Kontext einer gemeinsamen Andacht. Eine solche Szenerie
unterstreicht jedenfalls die spezifische Modernität dieser Religionspraxis, ihre
leichte Einbettung in andere Praktiken einer hochmobilen Selbstorganisation und
persönlichen Vernetzung. Die spezifische Verbindung von ‚digital religion‘ und
hybrider Organisation, die auf diese Weise aufgerufen wird, lässt sich aber in der
hier gebotenen Kürze (noch) nicht ausloten.

(1) Ein konsensfähiges Bild von ‚evangelischer Kirche‘. Mit dem Losungsbüchlein
(sei es gedruckt oder per App präsent) wird das jeweilige kirchenleitende Han-
deln, das stets durch vielfältige Differenzen der Bildung, der Frömmigkeit, der
Professionalität, der kirchlich-theologischen Positionalität und nicht zuletzt
persönlicher Interessen bestimmt ist, zunächst auf einige konsensfähige Aspekte
dessen verwiesen, was die evangelische Kirche in besonderer Weise ausmacht. Zu
diesem ekklesiologisch-normativen Konsens gehört zunächst der deutliche Bezug
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation 145

allen kirchlichen Handelns auf die Bibel. Durch die Nutzung des Losungsbüch-
leins werden jedenfalls drei Aspekte hervorgehoben. Zum Einen erscheint das
biblische Wort hier als unmittelbare, geradezu autoritative Anrede; es wird weder
durch kirchliche Tradition noch durch theologische Reflexion relativiert. Zum
Zweiten ruft die Losungslesung die hohe Bedeutung kurzer Sprüche in der
evangelischen Kirche auf,³³ wie sie besonders bei Kasualsprüchen und -predigten,
aber auch im Rekurs kirchlich-offizieller Texte auf ‚dicta probantia‘ erkennbar
wird. Und zum Dritten präsentiert das Losungsbüchlein die Bibel stets als inter-
nen Dialog, in dem sich Sprüche aus beiden Testamenten entsprechen, variieren,
überbieten, auch wechselseitig relativieren.
Das Losungsbüchlein lässt die konkrete kirchliche Organisation, in deren
Leitung es genutzt wird, sodann als Teil eines weltweiten, vielfältigen evangeli-
schen Christentums erscheinen. Die meisten konkret Beteiligten wissen, dass
dieses Büchlein in ganz unterschiedlichen Konfessionen gebraucht wird; nicht
selten wird diese ökumenische Internationalität, wie sie das Losungsbüchlein
selbst hervorhebt,³⁴ in der kybernetischen Andacht ausdrücklich benannt.
Die kybernetisch-liturgische Nutzung der Losungen kann schließlich als eine
Praxis des allgemeinen Priestertums aller Getauften wahrgenommen werden. Mit
dem Gebrauch eines Büchleins, das Bibellektüre und Gebet in elementarer, na-
hezu voraussetzungsloser Form ermöglicht, verzichtet die jeweilige Leitungsper-
son demonstrativ auf jede Inanspruchnahme hierarchischer oder theologisch-
professioneller Autorität; sie vollzieht – auch dort, wo sie die Losung kurz kom-
mentiert – eine religiöse Praxis, die jeder Christin, jedem Christen ebenso möglich
ist.

(2) Die kybernetische Gemeinschaft im Horizont engagierter Frömmigkeit. Auch


wenn das Losungsbüchlein der jeweiligen Sitzungs- oder Organisationspraxis
also zunächst einen weiten, gemeinevangelischen Sinnhorizont eröffnet, so
werden mit der Nutzung dieses Artefakts doch zugleich Szenen einer spezifischen,
stärker engagierten Religiosität aufgerufen. Denn das Losungsbüchlein gehört,
wie oben skizziert, inzwischen primär in den Kontext einer individuellen Fröm-
migkeitspraxis, die offenbar nicht alle evangelische Christ*innen, auch nicht alle
jeweils an den Sitzungen/Prüfungen Beteiligten üben.

 Vgl. P. Zimmerling, Losungen, 31: „Traditionelle evangelische Frömmigkeit ist Spruchfröm-


migkeit“.
 Vgl. Brüder-Unität (Hg.), Losungen 2022, 152 und Einbandrücken: „Die Losungen erscheinen
in ca. 60 Sprachen in aller Welt. Sie verbinden Menschen unterschiedlicher Kulturen und Kon-
fessionen.“ S.o. Abschnitt 3 zur Mobilität und zur Ökumenizität der Losungs-Frömmigkeit.
146 Jan Hermelink

Meist wohl ungewollt wird diese Differenz zwischen aktueller und regelmä-
ßiger Nutzung des Losungsbüchleins dort aufgerufen, wo die Leitungsperson zu
Beginn der Zitation darauf verweist, dass viele Anwesende die nun folgenden
Texte ja wahrscheinlich ‚schon heute morgen‘ wahrgenommen und sich vielleicht
auch schon Gedanken zu ihrem aktuellen Bezug gemacht hätten. Diejenigen, für
die diese Annahme nicht gilt (z. B. der Verfasser des vorliegenden Textes), erleben
sich dann plötzlich am Rande, wenn nicht sogar außerhalb der kirchlichen Ge-
meinschaft, die hier imaginiert wird.
Mit dem (mindestens impliziten) Rekurs auf die tägliche Übung von Bibel-
lektüre und Gebet wird das jeweilige Leitungsgremium, die Arbeits- oder Prü-
fungsgruppe also zu einer besonderen, ausgesonderten, ja auserwählten kirchli-
chen Gruppe – eine ecclesiola in ecclesia. Anders gesagt: Mittels des Gebrauchs
des Losungsbüchleins setzen sich die Beteiligten praktisch, szenisch von der
breiten, ‚volkskirchlichen‘ Frömmigkeit ab, die sie zugleich zu organisieren be-
anspruchen.
Wie ist die religiöse Gemeinschaftlichkeit, die die liturgisch-kybernetische
Nutzung des Losungsbüchleins in Szene setzt, genauer zu charakterisieren?
Verbindet man die syntaktisch-materiale Struktur dieses Artefakts, nämlich die
kalendarische Anordnung kurzer biblischer Texte und Gebete, mit seinen histo-
risch dominierenden Nutzungspraktiken (s.o. 2), so zeichnet sich das Bild einer
engen, durch persönliche Vertrautheit konstituierten Gemeinschaft ab, in der die
regelmäßige Losungslektüre selbstverständlich ist und immer wieder auch zum
Gegenstand des Gesprächs wird – und zwar gerade dort, wo die kurzen Texte als
direkte Anrede erfahren wurden: als Zuspruch in persönlicher Bedrängnis, als
Orientierung angesichts schwerer Entscheidungen, als Vergewisserung in reli-
giösen Zweifeln.³⁵ Etwas zugespitzt: Mit der Nutzung des Losungsbüchleins wird
das Bild einer kleinen, immer wieder von außen und innen gefährdeten, aber von
Christus selbst geleiteten Gemeinschaft aufgerufen.

(3) Allein Jesus Christus leitet die Kirche. In der Bekennenden Kirche bildete sich
in Reaktion auf die Auseinandersetzungen mit den Deutschen Christen und auch
in Reaktion auf zunehmend unversöhnliche theologische und religiöse Positionen
die Vorstellung aus, die Kirche werde im Wesentlichen nicht durch Synoden,
Kirchenämter oder Bischöfe geleitet, sondern durch Jesus Christus selbst: „Die
christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und
Sakrament als der Herr gegenwärtig handelt. […] Wir verwerfen die falsche Lehre,
als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft oder ihrer Ordnung ihrem Belieben

 Vgl. mit vielen Beispielen H. Renkewitz, Losungen, 73 – 96; P. Zimmerling, Losungen, 32– 53.
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation 147

oder dem Wechsel der jeweils herrschenden […] Überzeugungen überlassen.“


(Barmen III)
In der Bekennenden Kirche wurde die Leitung der Kirche durch Christus, den
Herrn selbst, primär im Gottesdienst verortet, vor allem im „Wort“ der Predigt und
deren gemeinschaftlichem Hören. Ähnliche Funktionen werden der Predigt bis
heute vor allem in Gottesdiensten zur Ordination, zur Visitation oder zur Eröff-
nung von Synodaltagungen zugesprochen.³⁶
Dagegen verlegt die regelmäßige kybernetische Nutzung des Losungsbüch-
leins die Begegnung mit Christus, die nach Barmen III die Gestalt (auch) der
kirchlichen „Ordnung“ allein zu bestimmen hat, in eine ganz unmittelbare Er-
fahrung, nämlich in das gemeinsame Hören allein des biblischen Wortes, wie es die
jeweilige Losung vorgibt. Auf diese Weise wird die konfliktträchtige Vielfalt der
kirchlichen Verhältnisse, die das grundlegende Thema der kybernetischen Praxis
bildet, symbolisch unter das eine, immer schon geltende und je aktuell hörbare
‚Wort Gottes‘ gestellt. Wiederum etwas zugespitzt: So wie die einzelnen
Christ*innen in der täglichen Meditation der Losung die direkte, lebendig-wirk-
same Anrede Christi erfahren, so soll das kirchenleitende Gremium, das seine
Arbeit mit den Losungen beginnt, „Gottes Zuspruch“ wie seinen „kräftige[n]
Anspruch“ unmittelbar für das „ganze[] Leben“ und Handeln der Kirche erfahren
(vgl. Barmen II).

5 Das Losungsbüchlein als kybernetisches


Artefakt II: Drei Abblendungen
Mit der Nutzung des Losungsbüchleins in den gemeinsamen Leitungsvollzügen
der kirchlichen Organisation verbindet sich der implizite, symbolisch markierte
Anspruch, diese kybenetischen Vollzüge von vorneherein unter das – als unmit-
telbare, situationsbezogene Anrede gehörte – Wort Gottes zu stellen und auf diese
Weise den Anspruch aus CA 28 zu realisieren, die Kirche werde „sine vi humana,
sed verbo [Dei]“ geleitet. Die spezifische Materialität des Losungsbüchleins (s.o.
3) sowie die religiösen Praktiken, die sich damit traditionell verbinden (s.o. 2),
sorgen allerdings dafür, dass diese symbolisch-religiöse Qualifizierung des
kirchlich-organisatorischen Leitungshandelns mindestens drei wesentliche As-

 Vgl. Alexandra Eimterbäumer, Kirchenleitung durch das Wort: Eine empirisch-homiletische


Untersuchung ephoraler Predigten zur Visitation, Arbeiten zur Praktischen Theologie 72 (Leipzig:
Evang. Verlagsanstalt, 2018).
148 Jan Hermelink

pekte dieses Handelns abblendet – und damit einer religiösen oder theologischen
Deutung gerade entzieht.

(1) Abblendung der konkreten kirchlichen Konflikte. Zur kalendarisch-rationalen


Materialität des Losungsbüchleins gehört es, dass die jeweiligen biblischen
Kurztexte nicht einer bestimmten Situation oder einem bestimmten Thema zu-
geordnet sind, sondern strikt einem bestimmten Datum. Im kybernetischen Ge-
brauch dieses Artefakts werden die jeweiligen kirchlichen Verhältnisse, insbe-
sondere die jeweils verhandelten Konflikte damit szenisch gleichsam auf den
zweiten Rang verwiesen; sie haben sozusagen kein eigenes religiöses Recht. So
mag sich die aus der persönlichen Losungspraxis vertraute Erfahrung, dass das
biblische Wort die Situation in einem neuen, tröstlichen oder orientierenden Licht
erscheinen lässt, auch für die jeweilige organisatorische Lage einstellen – aber
eine solche Erfahrung bleibt zufällig und zudem in der Regel ganz individuell.
Der Vergleich mit der historisch ursprünglichen Situation, in der Zinzendorfs
Losungen durchaus einen gemeindeleitenden Impetus hatten (s.o. 2 (1)), kann die
Schwierigkeit der gegenwärtigen Praxis weiter verdeutlichen. So waren die Kon-
flikte unter den Herrnhuter Exulanten, auf deren Befriedung die Losungspraxis
zielten, primär religiöse Konflikte und damit einer Deutung durch einen ausge-
wählten biblischen Spruch eher zugänglich als die Mehrzahl der gegenwärtigen
Konflikte, die in der kirchlichen Leitungspraxis zu bearbeiten sind – die religiöse
Deutung aktueller Konfliktlagen ist nunmehr ein eigener, theologisch an-
spruchsvoller Prozess, der durch den Rekurs auf einige biblische Verse nicht zu
ersetzen ist (s.u. 5 (2)). Zudem wurden die ersten Losungen nicht situationsin-
variant ausgelost, sondern von Zinzendorf selbst mit klaren theologischen In-
tentionen ausgewählt und zusammengestellt. Die spezifische Rolle der konkreten
Person(en), die die Gemeinde oder Kirche leiten, wird mit ihrer gegenwärtigen
Nutzung des Losungsbüchleins ebenfalls ausgeblendet (s.u. 5 (3)).

(2) Abblendung kybernetisch-theologischer Reflexion. Das Losungsbüchlein ver-


weist historisch wie praktisch auf eine engagiert-erweckliche Frömmigkeitspra-
xis, die theologischer Reflexion eher skeptisch gegenübersteht. In seiner Mate-
rialität zielt es, wie oben gezeigt, auf die regelmäßige Erfahrung direkter Anrede
durch Gott oder Christus, die die jeweilige persönliche Situation der Lesenden mit
unmittelbarer Evidenz trifft. Eine reflexive Auseinandersetzung mit dem bibli-
schen Wort tritt auf diese Weise in den Hintergrund, auch wenn stets auf die
beiden biblischen Lesereihen hingewiesen wird. Dennoch wird die historisch-
kritische Auseinandersetzung mit der biblischen Überlieferung durch die knappe,
spruchförmige Grundstruktur der Losungen, also durch die Abblendung der je-
weiligen literarischen Kontexte gewiss nicht gefördert.
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation 149

Noch einmal anders gewendet: Die theologische „Moderation der Diskurse“,


die Dietrich Rössler als wesentliche „Aufgabe einer evangelischen Kirchenlei-
tung“ identifiziert hat, zielt auf eine Klärung der jeweiligen Konfliktlagen mittels
des Rekurses auf ihre historischen, religiösen, auch konfessionellen Horizonte.³⁷
Eine solche theologische Rekonstruktion kirchlicher Pluralität, die man sich im
Kontext kirchlicher Gremienarbeit durchaus vorstellen kann, steht aber in Span-
nung zur materialen Anlage des Losungsbüchleins, das die Vielfalt der Verhält-
nisse gleichsam aufhebt in die Zitation elementarer, konsensfähiger Sätze. Mit
deren kybernetischer Nutzung wird – etwas zugespitzt – die Chance, ja die Not-
wendigkeit einer differenzierten, gemeinsamen Auseinandersetzung mit den je-
weiligen Verhältnissen religiös abgewertet, oder doch implizit – und damit be-
sonders wirkungsvoll – relativiert.

(3) Selbstbeschränkung der Leitungspersonen. Setzt die kybernetische Nutzung


des Losungsbüchleins die Leitung der Kirche durch Christus selbst in Szene (s.o. 4
(3)), welche Rolle spielen dann die Leitungspersonen, die jenes Artefakt ihrerseits
ins Spiel bringen? Mehrere Dimensionen der kirchlichen Leitungsautorität, die in
anderen Zusammenhängen durchaus bedeutsam sind, treten auf diese Weise in
den Hintergrund. So erscheint der Pastor oder die Superintendentin, die eine
Sitzung mit dem Losungsbüchlein eröffnet, jedenfalls – wie gerade erläutert –
nicht als theologisch-fachliche Expertin, die zur gemeinsamen Reflexion der je-
weiligen Leitungsthemen anleitet. Ebenso verzichtet die Leitungsperson in dieser
Szenerie auf jede Betonung einer hierarchisch-lehrhaften Autorität, die eine
Deutung der Verhältnisse gleichsam ‚ex cathedra‘ vorträgt. Und schließlich setzen
sich die Nutzer*innen der Losungen auch nicht als charismatische Autoritäten in
Szene, die eine religiöse oder theologische Deutung aus eigener, persönlicher
Einsicht formulieren – so wie Zinzendorf seine Losungen ursprünglich in
Herrnhut gebraucht hat.
Positiv gewendet könnte man die Rolle der Leitungsperson, die das Lo-
sungsbüchlein nutzt, vielleicht mit Kasualprediger*innen vergleichen, die einen
biblischen Spruch auf eine konkrete Lebenslage beziehen. Der Vergleich zeigt
jedoch eher die Unterschiede der beiden Nutzungspraktiken: Kasualpredi-
ger*innen agieren in einem rituellen Setting, das nicht auf gemeinsame Ent-
scheidung, sondern auf Affirmation, ja auf Segen zielt. Und sie werden die bi-

 Vgl. Dietrich Rössler, „Moderation der Diskurse: Praktisch-theologische Erwägungen zu Art


und Aufgabe evangelischer Kirchenleitung“, in Sine vi, sed verbo: Die Leitung der Kirche durch das
Wort Gottes, hg.v. Friedrich Hauschildt (Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2005), 157– 172.
150 Jan Hermelink

blische Spruchweisheit mit Bezug auf die konkrete Situation auswählen – statt
sich die ‚Losung‘ allein durch das aktuelle Datum vorgeben zu lassen.
Mit der Nutzung des Losungsbüchleins nimmt sich die Leitungsperson pro-
grammatisch zurück. Sie ordnet sich ein in das Priestertum aller Getauften, die die
Heilige Schrift selbständig lesen und auf die eigene Situation beziehen können,
ganz ohne priesterliche Vermittlung. Und die leitenden Geistlichen unterwerfen
sich mit der Nutzung jenes Artefakts dessen kalendarisch-rationaler Materialität,
die das jeweilige biblische Motto situationsinvariant, gleichförmig und leicht
verständlich vorgibt. Man kann die kybernetische Nutzung der Losungen also als
symbolischen Verzicht auf jede Art theologischer oder religiöser Vermittlung
verstehen, als Inszenierung einer Leitung der Kirche allein und unmittelbar durch
das Wort Gottes (s.o. 4 (3)). Realistischer scheint mir jedoch die Lesart, derzufolge
die hier betrachtete kybernetische Materialität – sicher ungewollt – im Grunde
den Sieg der organisatorischen Rationalität über den Eigensinn des Religiösen,
auch der religiösen Persönlichkeit markiert. Insofern mag der Jubilar, der sich
gegenüber der kirchlichen Organisation praktisch wie theoretisch stets eher
skeptisch gezeigt hat, sich durch diesen kleinen Versuch zur kybernetischen
Materialität einmal mehr bestätigt sehen.
Jakob Kühn
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der
Dinge
Die Kasualrede und ihre Bezüge zu den Dingen

1 Einleitung
Die Kasualrede ist, wie die Sonntagspredigt auch, zuallererst ein mündliches
Phänomen, das sich über das Merkmal der „Dialogizität“¹ ausweist. Der dingliche
Kontext ist nicht nur an den Predigtvollzug gebunden: Auch, wenn Kanzel oder
Rednerpult, Antependien, Mikrophon und Beleuchtung, Ringmappe und Manu-
skript u.v.m. besonders in Augenschein treten, sind Produktions- und Rezepti-
onsbedingungen ebenfalls dinglich kontextualisiert.² Der Dingbezug der Rede, so
wie er im Folgenden in den Blick geraten soll, äußert sich explizit und – ver-
mutlich deutlich häufiger – implizit darin, dass mit Gegenständen in Kasualvor-
gesprächen Erinnerungen und Geschichten aus dem Leben hervorgebracht und
homiletisch konfiguriert werden. Darüber hinaus ist der Dingbezug der Rede je-
doch auch darin zu suchen, wie homiletische Konfigurationen auf den Ritus und
somit auf dessen Dingkontext Bezug nehmen. Dabei handelt es sich um diejeni-
gen Dinge, die für eine gottesdienstliche Inszenierung immer wieder in Gebrauch
genommen werden: Taufstein, Kanzel, Bestuhlung u.v.m. Sie sind in der Regel im
Kirchenraum vorhanden. Die Dinge, die bleiben sind jedoch auch solche, die
insbesondere bei kasuellen Anlässen in den privaten Kontext überführt werden:
Fotografien und Videomitschnitte, Gegenstände, die eng mit dem rituellen Ge-
schehen verbunden sind wie Taufkerze, Trauringe oder Urkunden.
Sie alle haben Anteil an der Performanz einer Kasualie. In dem Maße, wie die
Dinge in einem liturgischen Inszenierungsgeschehen „mitspielen“, und in dem
Maße, wie die Dinge in einer Rede „mitsprechen“, sind sie in ihrer dinghaften

 Vgl. dazu Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik (Tübingen: Narr Francke Attempto
Verlag, 32020), 243: „Dialogizität ist zunächst eine inhaltliche Dimension der Predigt. Sie steht für
die Einbeziehung der Hörersituation im Sinne einer Auseinandersetzung mit der Lebenswirk-
lichkeit der Zeitgenossen.“
 Zu denken wäre an Schreibtisch, Papier und Stift, Computer, Bibelbuch u.v.m. Die Begriffe
‚Ding‘ und ‚Gegenstand‘ werden im Folgenden synonym verwendet. Vgl. dazu Hans Peter Hahn,
Materielle Kultur: Eine Einführung (Berlin: Reimer, 22014), 20.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-010
152 Jakob Kühn

Materialität und liturgischen wie auch homiletischen Ingebrauchnahme in ein


Spannungsverhältnis von Beständigkeit und Flüchtigkeit eingezeichnet, welches
Gegenstand folgender Überlegungen sein soll.

2 Vom „Mitspielen“ der Dinge: Beständigkeit und


Flüchtigkeit der Kasualinszenierung
Kommt das liturgische Geschehen als Inszenierung in den Blick, thematisieren
theatertheoretisch orientierte Ansätze neben den räumlichen und zeitlichen Be-
dingungen insbesondere die agierenden Personen im Hinblick auf ihre Rollen und
Handlungsvollzüge.³
Forschungsgeschichtlich lässt sich festhalten, dass die materielle Dingkultur
dabei keineswegs abgeblendet wurde, jedoch lange Zeit nicht im Fokus stand. Der
architektonische Raum und seine Ausstattungsgegenstände wurden hinsichtlich
ihrer Auswirkungen auf die Handlungsvollzüge und damit des zur Darstellung
kommenden Stückes untersucht.⁴ Gegenständen und Requisiten wurde weniger
Beachtung geschenkt, nur insoweit, wie sie „mit hohem Symbolgehalt Verwen-
dung“⁵ finden.⁶ Bezeichnenderweise sind es die liturgischen Kleidungsstücke, die
in praktisch-theologischer Perspektive stärkere Aufmerksamkeit erfuhren.
Im Hinblick auf die kultischen Vollzüge hält bspw. Manfred Josuttis fest:
„Auch und gerade die priesterliche Bekleidung verleiht ja religiöse Identität und
ermöglicht den Vollzug kultischer Funktionen.“⁷ Insbesondere in spieltheoreti-

 Vgl. einleitend Michael Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, Neue Theologische Grundrisse (Tü-


bingen: Mohr Siebeck, 2011), 374– 387. Hier wird der Gottesdienst als Inszenierung u. a. im Hin-
blick auf Bühne und Publikum, Authentizität und Rolle, sowie Präsenz perspektiviert.
 Vgl. bspw. Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik (Berlin: de Gruyter, 2004), 110 – 122.
 Ursula Roth, Die Theatralität des Gottesdienstes, Praktische Theologie und Kultur 18 (Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus, 2006), 129. Jedoch erfolgt insofern keine konzeptionelle Einbettung
dieses Befundes, wie die Kategorien der Inszenierung, Korporalität, Wahrnehmung und Per-
formativität im Vordergrund stehen.
 Jüngst dazu ein Sammelband, der dieser Leerstelle begegnet: Ursula Roth und Anne Gilly (Hg.),
Die religiöse Positionierung der Dinge: Zur Materialität und Performativität religiöser Praxis
(Stuttgart: Kohlhammer, 2021). Im Hinblick auf die Vielfältigkeit der religiösen Dingkultur vgl.
einleitend: Torsten Cress, „Religiöse Dinge“, in Handbuch Materielle Kultur: Bedeutungen, Kon-
zepte, Disziplinen, hg.v. Stefanie Samida, Manfred K. H. Eggert und Hans Peter Hahn (Stuttgart/
Weimar: J.B. Metzler, 2014), 241– 244.
 Manfred Josuttis, Der Weg in das Leben: Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltens-
wissenschaftlicher Grundlage (München: Kaiser, 1991), 166 f. Vgl. zudem K.-H. Bieritz, Liturgik,
183 ff.
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der Dinge 153

scher Perspektive ist mit der (Ver‐)Kleidung die Schnittstelle von Person und Rolle
markiert: „Sie schützt den Verkleideten vor der alltagspragmatischen ‚Tyrannei
der Intimität‘ (Sennet) und gewährleistet eine synästhetisch erweiterte Rollen-
wahrnehmung.“⁸ Während liturgische Kleidung als „(Über‐)Kleidung […] gewis-
sermaßen als dritte Haut […] [den Körper] in anderer Weise und in anderer
Funktion“⁹ zeigt, kommuniziert Kleidung bzw. Mode im Allgemeinen als zweite
Haut.¹⁰ Gerade bei Kasualien zeigt sich, dass die Kleiderfrage nicht an der Un-
terscheidung von Akteur*innen und Zuschauer*innen abzugrenzen ist. Auch
Kasualbegehrende kleiden sich in der Regel ihren Rollen entsprechend üblich
und angemessen ein: Der Täufling trägt ein Taufkleid, die Braut ein Brautkleid,
die Kasualgemeinde trägt Festtagskleidung.¹¹ Die vestimentäre Praxis ist insofern
im Spiel, wie Kleidungsgegenstände zur Rollenausbildung aller Beteiligten bei-
tragen: „Ihre materiale Ausgestaltung erfährt die Rollenfigur erst im Spielverlauf,
in dem die Person sie situationsadäquat aktualisiert und damit die Kommuni-
kation je individuell Gestalt und Dynamik verleiht.“¹²
Diese spezifische nonverbale Spielfunktion, wie sie den Kleidungsstücken
zukommt, ist jedoch – so die These – auf die Gegenstände einer Inszenierung
auszuweiten. Denn auch sie bilden durch ihre Ingebrauchnahme die Rollenfigur
und damit ihre Kenntlichkeit im liturgischen Geschehen mit aus.
Dies betrifft die raumergreifenden, oft unverrückbaren liturgischen Einrich-
tungsgegenstände, die aktiv bespielt werden, wie bspw. der Altar oder die Kanzel.
Sie wirken auch auf die Inszenierung ein: Die Dinge auf der (gesellschaftlichen)
Bühne „[…] mögen nicht die Hauptdarsteller sein, aber Dinge sind Akteure, und
sei es als Komparsen. Souffleure, Handlungsstützen, Impulsgeber oder auch ‚nur‘
als Requisiten. […] Uns als Gegenpart nötigen sie dabei andere Rollen zu spielen
auf, oder sie ermöglichen sie uns. Wie etwa das Rednerpult, das seine Rolle spielt
zwischen dem Menschen, der einer Rede hält, und seinem Publikum und das
beiden ihre Rolle zuweist, andeutet, erleichtert.“¹³ Aber auch mobilere und aus-

 Thomas Klie, Zeichen und Spiel: Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pasto-
raltheologie, Praktische Theologie und Kultur 11 (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2003), 150.
 Kristian Fechtner und Thomas Klie, „Evangelische Textilien: Programmatische Überlegungen“,
in FeinStoff: Anmutungen und Logiken religiöser Textilien, hg.v. Thomas Klie und Jakob Kühn
(Stuttgart: Kohlhammer, 2020), 7– 22.
 Vgl. Rainer Wenrich, „Die zweite Haut spricht: Vestimentäre Kommunikation in Theorie und
Praxis“, in FeinStoff, hg.v. Th. Klie und J. Kühn, 23 – 38.
 Vgl. Kristian Fechtner, „Sich kleiden: Praktisch-theologischer Erkundungen zur vestimentä-
ren Praxis in der Kirche“, in FeinStoff, hg.v. Th. Klie und J. Kühn, 71– 86.
 Th. Klie, Zeichen und Spiel, 152.
 Gustav Roßler, „Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft: Eine Skizze“, in Kasualdinge: An-
mutung und Logik kirchlicher Gegenstände, hg.v. Thomas Klie und Jakob Kühn (Stuttgart: Kohl-
154 Jakob Kühn

tauschbare Dinge, die zur Hand gehen, wie das Bibel- oder Gesangbuch oder das
Abendmahlsgeschirr, zeigen Rollen und ihre Funktionen mit an. Bei Kasualien
werden darüber hinaus Kasualdinge prägend, die eng mit dem rituellen Kernge-
schehen und dessen Handlungsvollzügen verbunden sind: Taufstein und Tauf-
wasser, Trauringe, besondere Bestuhlung, Kniebänke, Kerzen, Öl, Urkunden, Sarg
bzw. Urne, Schmuck.¹⁴ Mit dem „Spiel-zeug“ wird die Rollenfunktion im Rahmen
einer Inszenierung – im Zusammenhang mit der Kleidung – kenntlich bzw.
kenntlich gemacht.¹⁵ Denn in der Weise, wie die Dingwelt in Gebrauch genommen
wird, bilden sie eine Inszenierung und ihre liturgischen Handlungsvollzüge mit
aus und prägen die Rollenwahrnehmung beteiligter Personen. In diesem Sinne
„spielen“ die Dinge mit.
Die praktisch-theologische Wahrnehmung der materiellen Dingkultur erhält
in liturgischer Hinsicht somit auch darin ihren Mehrwert, dass die Vielzahl der
Dinge in ihrer konstitutiven Bedeutung für die Inszenierung – insbesondere für
rollentheoretische Überlegungen – in ihrer gesamten Breite in den Blick kommt.¹⁶
Zur spezifischen Eigenart der liturgischen Dingwelt gehört es, dass sie nicht
auf die Performanz einer Inszenierung begrenzt ist. Vielmehr sind die Dinge vor
und nach der Aufführung in ihrer materiellen Beschaffenheit zugegen und in ihrer
funktionalen Ausrichtung vorbestimmt. Das Chorgestühl verharrt in der Apsis,
das Abendmahlsgeschirr wird in der Sakristei aufbewahrt. Während die Dinge als
Kontinuitäten zu Tage treten, erscheint die Ingebrauchnahme als ein durchaus
flüchtiges Geschehen. Das Taufwasser benetzt den Täufling, das Salböl wird
aufgetragen, das Brautkleid wird nur einmal angezogen.¹⁷ In dem Maße wie die
liturgische Dingwelt Anteil an einer Inszenierung hat, ist sie in ein Spannungs-

hammer, 2022) [im Erscheinen]. Zu beachten ist, dass Roßler das Mitspielen der Dinge im Rahmen
seines fünfgliedrigen Agency-Schemas dem Bereich der agency 2 (Akteurhaftigkeit) zuordnet,
jedoch hinsichtlich der agency 1 öffnet. Insofern ist hier die Wirkmächtigkeit durch die Inge-
brauchnahme der beteiligten Personen betont.
 Vgl. Th. Klie und J. Kühn (Hg.), Kasualdinge [im Erscheinen].
 Vgl. dazu Th. Klie, Zeichen und Spiel, 151, der festhält: „Kenntlichkeit eröffnet Distanzie-
rungsspielräume und stiftet rollenkonforme Evidenzen.“
 Vgl. dazu den Beitrag von Anne Gilly, „Ambiguität als kirchliche Positionierungspraxis: Be-
obachtungen zu zwei Dingen in einer Adventsandacht“, in Positionierung der Dinge, hg.v. U. Roth
und A. Gilly, 104– 116. Am Beispiel eines innovativen Andachtsformates zeigt sie auf, inwiefern
„Gegenstände, insbesondere der Stern, zur Projektionsfläche einer ganzen Bandbreite unter-
schiedlicher, mehr oder minder stark (christlich‐)religiös konturierter Deutungen werden.“ (vgl.
ebd., 114).
 Gleichwohl zeigt sich am Phänomen wie „trash the dress“, dass Folgehandlungen nicht
ausgeschlossen sind.
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der Dinge 155

verhältnis von Beständigkeit und Flüchtigkeit eingetragen, welches es im Fol-


genden zu explizieren gilt.
„Dinge vermitteln die Vorstellung von Kontinuität und Stabilität, sie sind dem
leiblichen Verfall scheinbar entzogen. Sie altern – je nach Material – langsamer
als Lebewesen.“¹⁸ Das Merkmal der Beständigkeit begründet sich nicht allein in
der Kontinuität der materiellen Gegebenheit. Neben der dauerhaften Verfügbar-
keit der Dinge und ihrer assemblageartigen Zusammenstellung ist die Bestän-
digkeit auch in der wiederkehrenden sinngerichteten Ingebrauchnahme zu su-
chen:¹⁹ „Rituale beruhen auf in einer Gruppe oder Kultur eingelebten und
vorgeprägten Handlungen; sie sind keine spontanen Akte, sondern intendieren,
wiederholt zu werden.“²⁰ Die Kniebank wird in der Regel für das Niederknien
genutzt und der Taufstein zum Taufen. Die Ingebrauchnahme von Dingen ist über
die liturgischen Handlungsvollzüge „zu einem gewissen Grad“ wiederkehrend
abgesichert. Dieser Aspekt der liturgischen Dingwelt ist nicht zu übergehen. Denn
neben der agendarisch geleiteten protestantischen Gestaltungsfreiheit liturgi-
scher Vollzüge ist es der artefaktorientierte kulturwissenschaftliche Diskurs, der
darauf hinweist, dass von der Beständigkeit der Dinge sowie ihrer Umgangswei-
sen gerade nicht auszugehen ist.²¹ Aufgrund der „unvorhersehbaren Konse-
quenzen der Verflechtung zwischen Mensch und Ding“²² kommt den Dingen ein
Eigensinn (nicht als stubbornness, sondern als obstinacy) zu.²³ Dieser ist insofern
auf liturgische Inszenierungen anzulegen, dass, auch wenn die Dinge in ihren
Ingebrauchnahmen deutlich stärker durch wiederkehrende Handlungsmuster
geprägt sein dürften als in anderen (alltäglichen) Kontexten, den Dingen grund-
sätzlich das Merkmal des Polysemischen zukommt. Die Dinge können auch in

 Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.), Die Dinge, die bleiben: Reliquien im interdisziplinären
Diskurs (Bielefeld: Transcript, 2020), 12.
 Abseits liturgischer Vollzüge können sie in ihrer Gesamtheit durchaus als eine heterogene
Zusammenstellung von Dingen, d. h. als eine Objektassemblage gelesen werden.
 Kristian Fechtner, „Liturgik“, in Praktische Theologie: Ein Lehrbuch, hg.v. Kristian Fechtner,
Jan Hermelink, Martina Kumlehn und Ulrike Wagner-Rau (Stuttgart: Kohlhammer, 2017), 148. Das
Kriterium der Wiederholbarkeit ist also im Intentionalen des rituellen Geschehens und weniger im
Identischen des Handlungsablaufs zu suchen (vgl. dazu Andreas Odenthal, Rituelle Erfahrung:
Praktisch-theologische Konturen des christlichen Gottesdienstes [Stuttgart: Kohlhammer, 2019],
20).
 So konstatiert Hahn: „Scheinbar eindeutige Positionierungen von Dingen mögen einer wis-
senschaftlichen Logik der ‚Momentaufnahme‘ entsprechen. Sie stehen jedoch im Widerspruch zu
unzähligen alltäglichen Erfahrungen im Umgang mit Dingen und zu ihrer Bewertung.“ (Hans
Peter Hahn, „Der Eigensinn der Dinge: Warum sich Objekte in bestimmten Momenten anders
verhalten, als sie es sollten“, helden. heroes. héros. 4 [2016]: 9 – 15, hier 12, Sp. 1).
 Ebd. 12, Sp. 2.
 Vgl. ebd.
156 Jakob Kühn

anderer Weise in Gebrauch genommen werden. In liturgischen Kontexten dürfte


dies eher weniger der Fall sein, gleichwohl sind derartige Phänomene bekannt.
Die Umwidmung von Kirchgebäuden dürfte ein besonders signifikantes Beispiel
sein. Ein Gotteshaus wird zur Kletterhalle oder zu einem Kolumbarium.²⁴ Aber
auch das Umstellen bzw. Umhängen von Taufengeln verdeutlich diesen Umstand:
Hier wird ein Nutzungsgegenstand zum musealen Ausstellungsstück.²⁵
Im Gegensatz dazu ist die eine kasuelle Inszenierung vergänglich. Für die
Kasualteilnehmenden ist sie einmalig und nicht wiederholbar. Sie verflüchtigt
sich aufgrund ihrer Ereignishaftigkeit: „Da Aufführungen […] nur im und als
Prozess ihrer Selbsterzeugung Existenz haben und nach ihrem Ende unwieder-
bringlich verloren sind, verfügen sie nicht über ein fixier- und tradierbares Arte-
fakt. Sie sind vielmehr von ihrer Flüchtigkeit gekennzeichnet.“²⁶ Was im Hinblick
auf die Performanz eines Geschehens unstrittig sein dürfte, findet jedoch im
Performativen bzw. in der transformativen Kraft des Performativen seine gegen-
läufige Figur.Wenn auch nicht materiell gebunden, wirkt die Aufführung über ihre
zeitliche Begrenztheit hinaus. Wie es in ritualtheoretischer Perspektive in An-
spruch genommen wird, können performative Akte und insbesondere Über-
gangsrituale „den Status oder die Identität einzelner Mitglieder oder Gruppen von
Mitgliedern der Gemeinschaft“²⁷ verändern. In der Weise, wie diese sozial kon-
stituierten Wirklichkeiten sich zeitlich über das rituelle Geschehen hinaus er-
strecken, d. h. von einer Kontinuität geprägt sind, können die von Flüchtigkeit
gekennzeichneten Ereignisse in ihrer Wirksamkeit Bestand haben. Insbesondere
kasualtheoretisch scheint dies besonders einsichtig zu sein.²⁸ Und die Dinge, die
mit diesem performativen Geschehen verbunden sind, zeugen davon: die Tauf-
kerze, die Trauringe, Urkunden, aufbewahrte Bilder und Kleidung u.v.m.
Es zeigt sich zum einen, dass Performanz und Materialität nicht ungebrochen
den Attributen von Beständigkeit und Flüchtigkeit zuzuordnen ist. Vielmehr
überkreuzen sie sich insofern, wie einer zeitlich begrenzten Inszenierung eine
Wirksamkeit zukommen kann, die von Bestand ist und den verfügbaren und

 Sieglinde Sparre, Bestatten in Kirchen: Eine praktisch-theologische Interpretation gegenwärti-


ger Kirchenkolumbarien und Urnenkirchen, Praktische Theologie heute 145 (Stuttgart: Kohlham-
mer, 2015).
 Ähnliches zeigt sich beim Umstellen von Grabplatten in Kirchgebäuden.
 Erika Fischer-Lichte, Performativität: Eine Einführung (Bielefeld: Transcript, 32016), 58 (Her-
vorhebungen nicht im Original vorhanden).
 Ebd., 113.
 Vgl. exemplarisch im Hinblick auf die Taufe Harald Schroeter-Wittke, „Übergang statt Un-
tergang: Victor Turners Bedeutung für eine kulturtheologische Praxistheorie“, ThLZ 128 (2003):
575 – 588.
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der Dinge 157

langlebigen Dingen eine Wandelbarkeit zu eigen ist, die auf den ersten Blick
abständig zu sein scheint.
Zum anderen zeigt sich aber auch, dass die Einwände und Hinweise arte-
faktorientierter Überlegungen nur bedingt auf die liturgischen Ingebrauchnah-
men von Dingen anzulegen sind. Denn die Ingebrauchnahme von Dingen im
Rahmen liturgischen Handelns ist in der Regel nicht spontan, sondern in be-
sonderer Weise geprägt. Damit das gottesdienstliche bzw. kasuelle Stück aufge-
führt werden kann, damit „im Medium menschlicher Mitteilung und Darstel-
lung“²⁹ sich ein Gottesdienst ereignen kann, müssen nicht nur die Rollen verteilt,
sondern auch die (Spiel‐)Regeln bekannt sein. Denn auch die Dinge spielen mit,
insofern wie die ihnen zugewiesenen Funktionsweisen erfüllt und Bedeutungs-
zuschreibungen erschlossen werden müssen. Für das Verhältnis von Rede und
Ritus, welches im Folgenden aufgenommen wird, ist dies von Bedeutung.

3 Vom „Mitsprechen“ der Dinge. Die Kasualrede


und ihr Dingbezug
So wie die Performanz der gottesdienstlichen Kasualinszenierung vom „Mitspie-
len“ der Dinge bestimmt ist, so ist die Kasualrede vom „Mitsprechen“ der Dinge
geprägt. Dies zeigt sich vor allem dann, wenn der explizite wie auch implizite
Bezug der Kasualrede auf die Dinge aus dem Kasualvorgespräch und dem ritu-
ellen Geschehen einer Kasualie kenntlich wird.

3.1 Rekonstruktion von Lebensgeschichte

Die lebensgeschichtsbezogene Perspektive auf Kasualien ist nicht nur aufgrund


dessen, dass sie „inzwischen fast zu einer communis opinio“³⁰ der Kasualtheorie
geworden ist, von hoher Bedeutsamkeit, sondern vor allem aufgrund ihrer Pra-
xisrelevanz. Folgendes Zitat von Wilhelm Gräb verdeutlicht dies:

 M. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 25 (Hervorhebungen im Original). Die vollständige For-


mulierung lautet an dieser Stelle: „Das gottesdienstliche Geschehen kann in einem einfachen Satz
zusammengefasst werden: Christlicher Gottesdienst ist Dialog mit Gott im Medium menschlicher
Mitteilung und Darstellung.“
 Christian Albrecht, Kasualtheorie: Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amts-
handlungen (Tübingen: Mohr Siebeck, 2006), 190.
158 Jakob Kühn

Sich in dem für die Öffentlichkeit der kirchlichen Kasualpraxis konstitutiven lebens- und
familiengeschichtlichen Erfahrungshorizont zu bewähren, heißt, Akte biographischer
Identitätskonstruktion zu erbringen. D. h. es geht um den Entwurf von Szenen der Erinne-
rung und um die Imagination von Erwartungen, mit denen Menschen sich im Jetzt der ri-
tuellen Begehung identifizieren können, die sie sich als den sinnhaften Entwurf ihres ei-
genen Lebens aneignen können. Um solche Identitätskonzeptionen geht es angesichts
lebenszyklischer Erfahrungen von Differenz und Distanz, von Übergängen in neu zu kon-
zipierenden Sozialbeziehungen, in abschiedlichen Trennungserfahrungen. Obwohl leben-
zyklisch erwartbar, wollen solche Erfahrungen lebensgeschichtlich verarbeitet sein. Sie
verlangen jeweils die Neukonstruktion der eigenen Biographie.³¹

Der sich darin ausdrückende lebenslängliche Prozess ist im Identitätsbegriff in-


sofern gefasst, wie dieser als „regulatives Prinzip einer Entwicklung“ und nicht
„als deren konstitutives Ziel“³² in Anspruch genommen wird. Derartige lebens-
geschichtliche Re- und Neukonstruktionen äußern sich im Hinblick auf das Ka-
sualgeschehen nicht erst in der Rede, sondern beginnen in der Regel schon in den
Kasualvorgesprächen. Diese sind u. a. von dem Bewusstsein geprägt, dass die in
einer (geschützten) Gesprächssituation ausgesprochenen Sachverhalte in einer
öffentlichen Rede aufgenommen werden können.³³ In diesem Sinne kann von
einer „Co-Autorenschaft“ der Rede gesprochen werden. Doch nicht nur die Be-
teiligten sprechen gewissermaßen mit, sondern auch die Dinge. Denn sie werden
nicht selten zur Hand genommen, um mit ihnen Erinnerungen hervorzuholen, um
mit ihnen ins Erzählen zu kommen, zu trauern, zu schweigen.³⁴
Im Rahmen des Entwurfs einer Phänomenologie des Gedächtnisses entwirft
Paul Ricoeur geschichtsphilosophische Systematisierungen, die auf die Verbin-

 Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen: Eine praktische Theo-


logie gelebter Religion (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1998), 188 (Hervorhebungen im Ori-
ginal).
 Beide Zitate Henning Luther, „Identität und Fragment: Praktisch-theologische Überlegungen
zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen“, in Religion und Alltag. Bausteine zu einer Prak-
tischen Theologie des Subjekts, hg.v. dems. (Stuttgart: Radius-Verlag, 1992), 163.
 Vgl. Maximilian Bühler, „Reden angesichts des Todes: Empirische Einblicke in Form und
Funktion gegenwärtiger Bestattungsgespräche“, in Kasualgespräche im Wandel: Eine kirchliche
Praxis im Spannungsfeld von Tradition und gesellschaftlichem Umbruch, Heidelberger Studien zur
Praktischen Theologie, hg.v. Maximilian Bühler, Miriam Pönnighaus und Florian Volke (Berlin:
LIT, 2020), 248 – 303, hier 283 ff. Zudem vgl. Jakob Kühn, „Das Bestattungsgespräch in homileti-
scher Perspektive: Beobachtungen und Anmerkungen zu ‚Reden angesichts des Todes‘“, in ebd.,
321– 334.
 Vorliegende empirische Untersuchungen zu den Kasualvorgesprächen sind gesprächsanaly-
tisch orientiert und haben daher nicht den Dinggebrauch im Blick. Vgl. dazu M. Bühler, M.
Pönninghaus und F. Volke (Hg.), Kasualgespräche, bes. 29 ff.
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der Dinge 159

dung von Kasualvorgespräch und Kasualrede bezogen werden können, um den


sich darin zeigenden Dingbezug der Rede kenntlich zu machen.
Die lebensgeschichtlichen Rekonstruktionen und ihre Dingbezüge, wie sie
exemplarisch im Kasualvorgespräch vorgenommen werden können, sind ver-
gleichbar mit der historiographischen Operation wie sie Ricoeur im Blick hat.
Diese lässt sich idealtypisch in drei Phasen unterteilen.³⁵ Die dokumentarische
Phase umfasst die Entwicklungen „von den Aussagen der Augenzeugen bis zur
Konstitution der Archive.“³⁶ Die zweite Phase bemüht sich zu erklären und zu
verstehen, wie und warum sich Dinge in der Vergangenheit abgespielt haben. Die
repräsentierende Phase ist die der „literarische[n] oder skripturale[n] Formge-
bung“³⁷. Das kasualhomiletische Geschehen ist in seiner Eigenart nun davon
geprägt, dass Kasualbegehrende sowohl an der ersten als auch an der zweiten
Phase aktiven Anteil haben. Sie sind in diesem Sinne Augenzeugen und Ge-
schichtsschreiber zugleich. Und Pfarrpersonen, die auch mit einem homiletischen
Interesse diese Gespräche führen, haben nicht nur archivierte Objekte vor sich,
die es zu erklären und verstehen gilt, sondern (Zeugen‐)Aussagen der Betroffenen
selbst. Die in dieser Gemengelage getätigten Bezugnahmen auf Dinge wie Fotos,
Schmuckstücke, Briefe oder gar Tattoos³⁸, dienen für die Rekonstruktion von
Lebensgeschichten als Vergewisserungsobjekte, als Stützen der Erinnerungs- und
Rekonstruktionsarbeit. Sie werden als Dokumente einer Vergangenheit in An-
spruch genommen, d. h. sie nehmen als materielle Träger „[…] die Funktion des
Belegs, des Garanten für eine Geschichte, Erzählung oder Debatte“³⁹ ein.
Das aufbewahrte Dokument ist über den tatsächlich dokumentierten Gehalt
hinaus eine Spur in die Vergangenheit. Mit ihr wird etwas „angezeigt, ohne daß
gezeigt würde, ohne daß sichtbar gemacht würde, was dort vorüberging.“⁴⁰ Ein

 Vgl. Paul Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, Übers. Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho
und Markus Sedlaczek (München: Wilhelm Fink Verlag, 2004), 210.
 Ebd., 211.
 Ebd.
 Tattoos kommen zwischen erster und zweiter Haut, gewissermaßen auf einer „Zwischen-
bühne“ in den Blick, die zwischen Leiblichkeit und Dinghaftigkeit oszillieren (vgl. in religions-
psychologischer Perspektive Matthias Marks, Religionspsychologie, Kompendien Praktische
Theologie 1 [Stuttgart: Kohlhammer, 2018], 146 – 159, bes. 154 und 156 f.). Matthias Marks hält im
Rückgriff auf Udo Feist dazu fest, dass sie als Ausdruck des Wunsches nach „Gültigkeit und
Festhalten“, als „Spuren, die überdauern – für zumindest eine persönliche Ewigkeit“ gelesen
werden (vgl. dazu Udo Feist, Etwas, das bleibt. Wie viel Religion steckt in Tattoos? MS. WDR 3,
Lebenszeichen, Sendung vom 01.11. 2016).
 Paul Ricoeur, Die erzählte Zeit, Bd. 3., Zeit und Erzählung, Übers. Andreas Knop (München:
Wilhelm Fink Verlag, 1991), 181 (Hervorhebungen im Original).
 Ebd., 191 (Hervorhebungen im Original).
160 Jakob Kühn

materieller Abdruck führt – und es ist durchaus an die Spur eines Tieres zu
denken – zu einer vergangenen Gegenwart.⁴¹ Der Zusammenhang von geformter
Materialität und rekonstruierter Geschichte ist für Ricoeur vor dem Hintergrund
von Erinnern und Vergessen, von Erzählung und Zeit von besonderer Bedeutung:

Das Markieren nämlich setzt eine Materie voraus, die härter und dauerhafter ist als die
vorübergehende Tätigkeit des Menschen: Vor allem deshalb, weil die Menschen den Stein,
den Knochen, gebrannte Tontäfelchen, den Papyrus, das Papier, das Tonband, die Diskette
bearbeitet haben, ihnen ihr Schaffen anvertraut haben, überleben ihre Werke ihren Schaf-
fensprozeß; die Menschen gehen vorüber, die Werke bleiben. Dieser dinghafte Charakter
jedoch ist wichtig für unsere Untersuchung: er begründet zwischen markierendem und
markiertem Etwas ein Verhältnis von Ursache und Wirkung. Folglich vereinigt die Spur eine
Signifikanzbeziehung, die sich leichter an dem Gedanken eines Spuren hinterlassenden
Vorübergehens ablesen läßt mit einer Kausalitätsbeziehung, die sich aus der Dinglichkeit der
Markierung ergibt. Die Spur ist Zeichen und Wirkung in eins.⁴²

Zentral für die hier verfolgte Fragestellung ist die sich durch die materielle Mar-
kierung ergebene Beständigkeit der Spur. Der Abdruck, die materielle Gebun-
denheit, scheint die Möglichkeit des Rekonstruierens und Erinnerns an ein
flüchtiges Geschehen nicht nur zu ermöglichen, sondern auch zu erhalten. Die
Spur schöpft die Signifikanzbeziehung dahingehend aus, dass sie dem unvor-
hergesehenen Auftauchen von Erinnerungen etwas hinzufügt.⁴³ Sie erhöht zum
einen die Wahrscheinlichkeit des Wiedererinnerns von Geschehnissen aus der
Vergangenheit. Wenn diese jedoch nicht mehr erinnert werden können, fungiert
die Spur zum anderen als letzter Haftpunkt einer vergangenen (Lebens‐)Ge-
schichte. Sie zeigt an, um was das mühsame Erinnern und Rekonstruieren ringt,
wenn zwar um ein zu Erinnerndes gewusst wird, dieses jedoch nicht mehr erin-
nert werden kann. Und selbst wenn sie dieses Abwesende nicht mehr hervor-
bringen kann, bleibt sie Zeugnis einer vergangenen Gegenwart. In dem Maße wie
Erinnerungsstücke als Zeugnisse – d. h. in einer verifizierenden Funktion – in
Anspruch genommen werden, „haften“ sie für eine schon längst vergangene
Gegenwart, die erinnert werden kann.

 „Die Spur zeigt somit hier, im Raum, und jetzt, in der Gegenwart, das Vorübergegangensein
lebendiger Wesen an; sie weist die Jagd, der Suche, der Untersuchung und Forschung die Rich-
tung. All dies jedoch ist die Geschichte. Wenn man sie eine Erkenntnis durch Spuren nennt,
appelliert man in letzter Instanz an die Signifikanz einer vollendeten Vergangenheit, die
gleichwohl erhalten bleibt in ihren Überresten und Spuren.“ (Ebd., 192 (Hervorhebungen im
Original)).
 Ebd., 193.
 Vgl. P. Ricoeur, Gedächtnis, 55 ff.
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der Dinge 161

Wenn Erinnerungsstücke im Kasualvorgespräch zur Rekonstruktion von Le-


bensgeschichten und zur Erinnerung an vergangene Geschehnisse herangezogen
werden, dürfte insbesondere die Funktion der Erinnerungsstütze (im Sinne der
Spur) und der Verifizierung (im Sinne des Dokuments) im Zentrum stehen. Die
Dinge sprechen im kasualhomiletischen Geschehen insofern „ein Wörtchen“ mit,
wie mit ihnen etwas zur Sprache kommen kann, was einerseits nicht dingfest zu
machen ist, jedoch mit den Dingen erinnert werden bzw. sich zeigen kann. Vom
„Mitsprechen“ der Dinge ist in Bezug auf das kasualhomiletische Geschehen in-
sofern auszugehen, wie sie die Beteiligten zum Sprechen – und mitunter wohl
auch zum Schweigen – bringen. Dies erinnert durchaus an eine Feststellung, die
Inken Mädler in ihrer Studie zum Umgang mit Gegenständen, an denen das Herz
ihrer Besitzerinnen hängt, äußerte: „Die Gegenstände erinnern zumeist – wenn
sie durch ihre Eignerinnen zum Sprechen gebracht werden – an ein szenisches
Geschehen in seiner ganzen Komplexität, einem dicht gewebten Sinnzusam-
menhang um einen Ort, eine Zeit, eine Situation oder eine Person herum […].“⁴⁴
Die Materialität scheint der Fragilität und Flüchtigkeit des Erinnerns und Ver-
gessens eine sichernde Beständigkeit anheimzustellen. Dies jedoch nur insofern,
wie die Dinge als Dokumente in Haftung genommen und als Spuren auch gelesen
werden können. Denn die „Erinnerungsfunktion ist den Dingen nicht inhärent,
sie wird ihnen zugeschrieben. Es sind die Menschen, die sie gesammelt, erworben
oder geschenkt bekommen haben […]“⁴⁵ und im persönlichen Umfeld zur Ver-
gegenwärtigung nutzen.
Der Dingbezug der Kasualrede äußert sich darin, dass die zur Sprache kom-
menden lebensgeschichtlichen Bezüge zuweilen mit den Dingen hervorgebracht
worden sind bzw., dass bedeutsame Gegenstände aus dem Leben exemplarisch
thematisiert werden.

3.2 Entwurf zukünftiger Gegenwart

Der Dingbezug der Kasualrede ist nicht allein auf das ihr vorausliegende Kasu-
alvorgespräch zu entfalten. So sehr wie die Rede von einem Erfahrungsraum

 Inken Mädler, Transfigurationen: Materielle Kultur in praktisch-theologischer Perspektive,


Praktische Theologie und Kultur 17 (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2006), 326.
 Thomas Klie und Jakob Kühn, „Die Dinge, der Trost und die Erinnerung: Zur Einleitung“, in
Dinge, hg.v. dens., 8.
162 Jakob Kühn

zehrt, so sehr eröffnet sie einen Erwartungshorizont.⁴⁶ Der Kasualrede kommt


auch dahingehend ein Entwurfcharakter zu, wie sie in die Zukunft vorausschaut.
Genauer gesagt entwirft die Kasualrede „mögliche Welten“⁴⁷, wenn im Hin-
blick auf die Zukunft lebensgeschichtlich wahrscheinliche und theologisch
plausible Geschehnisse und Deutungen miteinander verstrickt werden.⁴⁸ Im
Modus des „als ob“⁴⁹ führt die Performanz des kasualhomiletischen Stücks nicht
nur vor Augen, wie bspw. ‚das ewige Leben‘ verstanden werden kann oder was es
bedeutet konfirmiert zu sein, sondern greift in seiner transformativen Kraft auf
eine zukünftige Gegenwart voraus, die sich jedoch erst verwirklichen muss.⁵⁰
Sowohl die Performanz als auch die Performativität der Rede ist jedoch nur
vor dem Hintergrund ihrer Einbettung in die Gesamtheit des gottesdienstlichen
Inszenierungsgeschehens zu bedenken.⁵¹ „Das spannungsvolle Zusammenspiel
von ritueller und rhetorischer Kommunikation“⁵² äußert sich darin, dass die Rede
den Ritus (mit‐)deutet.⁵³ Das Verhältnis von Rede und Ritus konkretisiert sich

 Vgl. Reinhart Koselleck, „‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Ka-


tegorien“, in Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, hg.v. dems. (Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 92015), 349 – 375.
 In narratologischer Perspektive kann die Kasualrede ähnliches leisten wie ein literarischer
Text. Auch sie löst „uns von der Sichtbarkeit und Begrenztheit der Situationen […] indem eine
Welt für uns erschlossen wird, d. h. neue Dimensionen unseres In-der-Welt-seins.“ Paul Ricoeur,
„Der Text als Modell: Hermeneutisches Verstehen“, in Verstehende Soziologie: Grundzüge und
Entwicklungstendenzen, hg.v. Walter L. Bühl (München: Nymphenburger Verl.-Handlung, 1972),
259.
 Gleichwohl wäre der Entwurfcharakter auch auf die Retroperspektive anzulegen, was an
dieser Stelle nicht erfolgt. Für ein Verständnis der Predigt (bzw. der Kasualrede), in der es gilt
„Gottesgeschichte und Menschengeschichten miteinander zu verstricken“, vgl. Albrecht Grözin-
ger, Homiletik, Lehrbuch Praktische Theologie 2 (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2008), 203 –
220, hier 203.
 Paul Ricoeur, Zeit und historische Erzählung, Bd. 1., Zeit und Erzählung, Übers. Rainer Rochlitz
(München: Wilhelm Fink Verlag, 1988), 77. Das „Reich des Als ob“ wird mit der Konfigurations-
tätigkeit der Mimesis II eröffnet. Mit dieser Formulierung möchte Ricoeur Missverständnisse
vorbeugen, die durch die Verwendung von „Reich der Fiktion“ entstehen würden (vgl. ebd.,104).
 Vgl. zur transformativen Dimension der Predigt Manuel Stetter, Die Predigt als Praxis der
Veränderung: Ein Beitrag zur Grundlegung der Homiletik, Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik
und Hymnologie 92 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018).
 Vgl. zur Terminologie und theoretischen Konzeptualisierung in der Homiletik Ursula Roth,
„Die Predigt als Performance: Ein homiletischer Trend auf dem Prüfstand“, in Homiletische
Präsenz: Predigt und Rhetorik, Ökumenische Studien zur Predigt 7, hg.v. Michael Meyer-Blanck,
Jörg Seip und Bernhard Spielberg (München: Don Bosco, 2010), 101– 112, bes. 104 ff.
 M. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 12.
 Ebd. Im Hinblick auf die Verhältnisbestimmung von Rede und Ritus hält Meyer-Blanck fest:
„Die Aufführungsregeln werden von der Liturgie bestimmt – wie umgekehrt das verkündigende
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der Dinge 163

kasualhomiletisch, wenn bspw. der Sinngehalt der „mitspielenden“ Dinge ho-


miletisch aufgenommen und gedeutet wird, bzw. wenn Bedeutsamkeiten her-
ausgestellt werden, indem Geschichten, die eng mit einem Kasualding zusam-
menhängen, erzählt werden: Bei Taufhandlungen dürften es insbesondere das
Wasser und der Taufstein⁵⁴, die Taufkleidung⁵⁵ oder auch die Taufkerze sein, bei
der Trauung die Eheringe bzw. das Brautkleid⁵⁶. Bei Bestattungen die Urne und

Element die Grunddimension des gesamten Gottesdienstes bleibt. Die Liturgie als Mitteilung und
als Darstellung eröffnet und begrenzt die Interpretationsmöglichkeiten.“ (Ebd., 13).
 Exemplarisch die Thematisierung und Deutung des Taufsteins: Liebe Gemeinde, was ist ein
lebendiger Stein? Das ist doch ein Widerspruch in sich, wovon da eben in diesem Bibelabschnitt
die Rede war: „Kommt her zu Jesus! Er ist der lebendige Stein“, „Lasst euch auch selbst als le-
bendige Steine zur Gemeinde aufbauen“ – was soll das heißen? Wie kann ein Stein lebendig sein?
Das möchte ich am Beispiel unseres Taufsteins erläutern. Denn der Großvater von zweien unserer
heutigen Täuflinge hat den Taufstein in unserer Thomaskirche selbst angefertigt. Es war sein
Meisterstück als Steinmetz. Er ist heute unter uns und könnte uns Geschichten dazu erzählen –
z. B. dass der Oberkirchenrat zunächst dagegen war, weil der Taufstein angeblich die Kirche zu
sehr dominiere. Aber schließlich ging es dann doch. Und natürlich ist es etwas Besonderes, wenn
der Großvater erlebt, wie zwei seiner Enkel an dem Taufstein getauft werden, den er selbst her-
gestellt hat. So kann man auch zu einem vermeintlich toten Stein eine emotionale Beziehung
haben. […]. In gewissem Sinn lebendig wird der Taufstein dadurch, dass lebendige Menschen an
ihm getauft werden wie heute Morgen.“ Aus einer Predigt „Kommt zu Jesus, dem lebendigen
Stein“ aus der Thomasgemeinde Rastatt mit unbekanntem Verfasser. (Online abrufbar unter
https://thomasgemeinde-rastatt.de/wp-content/uploads/2020/07/Predigt-%E2%80%9EKommt-
zu-Jesus-dem-lebendigen-Stein%E2%80%9C-.pdf, Lesedatum: 15.11. 2021).
 Exemplarisch die Thematisierung und Deutung des Taufkleides: „Dieses weiße Kleid, dessen
Farbe die Unschuld ist, darf Ihre Tochter tragen. Davon wird sie profitieren. Übrigens habe ich
zwei der Jungen auf dem Fußballplatz vor einigen Jahren auch im Taufkleid gesehen. Wie in Ihrer
Familie hatte deren Großmutter die Namen in die weiße Seide eines Taufkleides einsticken lassen.
Das Weiß des Trikots, Entschuldigung, der Taufkleides, stand für ihre Unschuld. Und der Ruhm,
den Jesu erworben hat, schenkte ihnen schon die Unsterblichkeit. Und es war oft wie bei der
Taufe: Das Wasser wäscht so manchen Schmutz und, seit dem das Fußballfieber in diesem Jahr
ausgebrochen ist, auch viel Schweiß von der Haut. Eigentlich möchte ich meine alten Klamotten
auch neben das Tor werfen und auf dem Platz laufen. Ein Trikot will ich gerne überstreifen.
Schneller laufen, leichtfüßig spielen, hoffnungsvoller leben und von der Unsterblichkeit wirklich
was spüren! Es wird auf dem Trikot ein Name zu lesen sein, der an Gott erinnert. Es wird der
Schriftzug Christi sein und unser Name mit dabei. Heute ist es der Name Ihrer Tochter. Die wird
nun getauft. Amen.“ Aus einer Taufpredigt über 1. Korinther 15,50 – 58 von Propst Henning Keine
vom 17.04. 2006 (Ostermontag) im Meldorfer Dom. (Online abrufbar unter https://www.predigt
preis.de/predigtdatenbank/predigt/article/taufpredigt-ueber-1-korinther-1550-58.html, Leseda-
tum: 15.11. 2021).
 Exemplarisch die Thematisierung und Deutung der Eheringe: „Ehe bedeutet das Leben zu
teilen, uns selbst mitzuteilen, uns einander zu schenken mit all unseren Facetten. Dies kommt
auch in dem Symbol für die Ehe zum Ausdruck, das ihr „Hochzeitsheftchen“ ziert: Die ineinander
fassenden Ringe. Vor allem in der Tatsache, dass die Ringe in dieser Form eine Schnittmenge
164 Jakob Kühn

die Asche bzw. der Sarg und der Leichnam, und – bei klassischen Bestattungs-
formen – das Grab und der Erdwurf.⁵⁷
In der Weise, wie die Kasualrede, die sich auf dieses Geschehen bezieht und
ihre Deutungen und Verstehensbemühungen auch an und mit den Dingen ex-
pliziert, entwirft sie eine Vorstellung einer Zukunft, die sich zwar realiter erst
einstellen muss, jedoch in der Rede vor einer Vergangenheit entfaltet und als
Vorschlag zu einer möglichen Welt präsent ist. Konstituieren Performanzen zu
ihren Gelingenheitsbedingungen Wirklichkeit und geht in diesem Sinne mit dem
rituellen Geschehen einher, dass eine Person getauft, ordiniert, bestattet bzw.
getraut ist, dann zeigt sich an und mit den Kasualdingen, dass ein Geschehen
vollzogen wird bzw. eine Wirklichkeit sich einstellt. In diesem Sinne sprechen
auch die Kasualdinge durch die homiletischen Bezugnahmen in der Rede mit, wie
sich mit ihnen eine gewünschte, erhoffte oder geglaubte Zukunft anzeigt. Und in
einer zukünftigen Gegenwart bezeugen sie diese Wünsche und Hoffnungen aus
einer Vergangenheit, die – möglicherweise – gerade gegenwärtig sind.

bilden – ein Zeichen für geteiltes Leben, für gemeinsames Verschmelzen. Manchmal mag diese
Schnittmenge groß sein und wachsen, mitunter auch schrumpfen, doch wird immer eine
Schnittmenge, eine Gemeinsamkeit bestehen. Ohne diese Schnittmenge keine Ehe, keine Ge-
meinschaft, keine Liebe.“ Aus einer Traupredigt über Johannes 6,1– 13 von Pfarrer Dr. André
Golob (ak) vom 24.06. 2017 in der Alt-Katholischen Pfarrgemeinde Rosenheim. (Online abrufbar
unter https://www.predigtpreis.de/nc/predigtdatenbank/predigt/article/traupredigt-ueber-joh-
61-13.html, Lesedatum: 15.11. 2021).
 „Wir finden uns an Särgen und Gräbern konfrontiert mit einer Welt, in der der Tod das Sagen
hat. Unausweichlich ist der Tod. Für alle. Wir müssen seine Herrschaft anerkennen, der uns
auseinanderreißt und uns solche Schmerzen zufügt.“ Aus einer Predigt über Lukas 7, 11– 17 von
Pfarrer a.D. Ernst-Friedrich Jochum (ev.) vom 16.11. 2013 in der Namen-Jesu-Kirche in Bonn im
Rahmen eines Gedenkgottesdienstes für Menschen, die auf Veranlassung der Stadt Bonn ohne
Trauerfeier beerdigt wurden. (Online abrufbar unter https://www.predigtpreis.de/predigtdaten
bank/predigt/article/predigt-ueber-lukas-7-11-17.html, Lesedatum: 15.11. 2021).
Kristian Fechtner
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern
Erkundungen zur Gegenständlichkeit der Zeit

1 Einstimmung: Kalenderdinge
Mist, jetzt hat Caro nur einen Kugelschreiber zur Hand und muss den verabredeten
Termin eintragen. Sonst schreibt sie immer mit dem Bleistift in ihren Kalender. Dann
ist es verbindlich notiert, aber eben nicht fix; es kann sich ja noch etwas ändern.
Bleistifteintragungen sind nicht nur praktisch, es schwingt auch ein Zukunftsgefühl
mit: Wer weiß, was wird. Wohl ist ihr nicht, als sie notgedrungen den Termin mit dem
Kuli notiert. Fühlt sich falsch an, so definitiv. Dafür nimmt sie es mit ihrem Ad-
ventskalender nicht so genau; da macht sie auch schon mal das nächste und
übernächste Türchen auf, bevor sie am Wochenende unterwegs ist. Und sie blättert
auch gerne mal voraus im Adventskalender mit den Geschichten, bis sie auf etwas
stößt, was sie anspricht. Robert macht das ganz kirre, wenn er es mitbekommt. Das
geht gar nicht. Er erinnert sich: Als Kind hat er einmal bereits in den ersten De-
zembertagen die Schokolade aus den hohen Zahlen rausgegessen, auch die 24.
Heimlich von hinten, die Rückseite aufgebogen. Die Eltern haben nur die Augen
verdreht, aber er hat noch heute das Gefühl, dass es ihm irgendwie nicht gut be-
kommen ist. Fühlte sich nicht recht an, man kann doch die Zeit nicht hintergehen.
Und nun liegt vor Caro und Robert der Geburtstagskalender der beiden, der sonst
links neben dem Kühlschrank hängt. Muss mal aktualisiert werden. Über die neuen
Einträge sind sie sich rasch einig; die Freundin des Sohnes wird eingetragen, ist ja
was Festes. Aber was ist mit Austragungen, kann man auch jemanden streichen?
Rita, die Schwester seiner Mutter, ist schon mehr als drei Jahre tot. Robert, er war ihr
Patenkind, schüttelt den Kopf. Und was ist mit Isa, ehemals Caros beste Freundin,
mit der sie nach einem heftigen Streit den Kontakt abgebrochen hat?

2 Kalender als symbolische Ordnungen der Zeit


Kalender halten etwas fest: zunächst die Reihenfolge von Tagen, die Gliederung
der Zeit in Wochen und Monaten, das Ganze eines Jahres. Sie strukturieren Zeit,
bringen sie in ein Maß und damit in eine Ordnung. Kalender beziehen sich auf
natürliche Gegebenheiten, sie orientieren sich an solaren und lunaren Rhythmen,

https://doi.org/10.1515/9783110762853-011
166 Kristian Fechtner

sie sind selbst aber kulturelle Konstruktionen ¹, insofern sie Zeit(en) in je unter-
schiedlicher Weise bestimmen: als Werktag und Sonntag; als Pfingstmontag und
Muttertag; als Monatsanfang und Jahresende und so fort. Kalender legen die Modi
der Zeit fest: das Heute der Gegenwart durch das Tagesdatum auf dem Kalen-
derblatt oder durch das zu öffnende Türchen des Adventskalenders; das Morgen
und zukünftige Zeit durch die noch ausstehenden, aber bereits eingetragenen
Verabredungen und erwartbaren Ereignisse; das Gestern als vergangene Zeit, die
nun nicht mehr präsent ist, weil das Kalenderblatt an der Wand nach hinten
geklappt wurde.
Kalender bilden Zeit(en) aber nicht nur ab, sie konstruieren und deuten die
Wirklichkeit der Zeit; sie modellieren damit Zeiterfahrungen. Selbstverständlich
fängt das Jahr am 1. Januar an, aber „natürlich“ ist dieser Jahresbeginn nicht,
sondern historisches Erbe römischer Amtseinführungen und eine geschichtliche
Festlegung durch den Julianischen Kalender. Wenn es nach Martin Luther ge-
gangen wäre, dann begönne das Jahr an Weihnachten: „Wir Christen fangen
unsern neuen Jahrestag an am heiligen Christtage“, den Neujahrstag hingegen,
„so wir von den Römern haben, lassen wir itzt fahren“.² Im Kalender, der im Zuge
der Französischen Revolution eingeführt wurde und nur wenige Jahre Bestand
hatte, wurde der Jahresanfang hingegen bewusst auf den 22. September gelegt als
demjenigen Tag, an dem die Republik ausgerufen worden war. Kalender sind
demnach auch Instrumente von symbolpolitischen Auseinandersetzungen und
Medien religiöser wie weltanschaulicher Perspektivierungen.³ So ist als christlich
bestimmter Jahres(fest)kreis das Kirchenjahr ein eigenständiger Kalender mit ei-
nem eigenen Rhythmus, der in seine religiöse Textur unterschiedliche Aspekte
(z. B. astronomische, agrarische oder kulturelle Bezüge) integriert und mit dem
Kalender des bürgerlichen Jahres (etwa durch seine Zählweise) verwoben ist.⁴
Dabei bilden die „großen“, übergreifenden Kalender längst nicht das Ganze un-
serer gegenwärtigen Zeitorientierungen ab, Zeitgenossinnen und Zeitgenossen
sind heute lebensweltlich notorische Zeiten-Wechsler, die sich zwischen unter-

 Vgl. z. B. Anthony Aveni, Rhythmen des Lebens: Eine Kulturgeschichte der Zeit (Stuttgart: Klett-
Cotta, 1991); Jörg Rüpke, Zeit und Fest: Eine Kulturgeschichte des Kalenders (München: Beck,
2006).
 Martin Luther, WA 34, I, 1. Vgl. dementsprechend die letzte Strophe seines Weihnachtsliedes
„Vom Himmel hoch“ (EG 24): „… Des freuet sich der Engel Schar und singet uns solch neues Jahr“.
 Vgl. zu Kalendern als symbolischen Zeitordnungen Kristian Fechtner, Schwellenzeit: Erkun-
dungen zur kulturellen und gottesdienstlichen Praxis des Jahreswechsels (Gütersloh: Kaiser/Gü-
tersloher Verlagshaus, 2001), 113 ff.
 Vgl. dazu insgesamt Kristian Fechtner, Im Rhythmus des Kirchenjahres: Vom Sinn der Feste und
Zeiten (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2007).
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern 167

schiedlichen Kalendarien bewegen: jahreszeitlichen Naturkalendern mit einem


Verzeichnis der Mondphasen und häuslichen Kalendern mit Rubriken für die
Zeitpläne aller Familienmitglieder, Kalender des Geschäftslebens mit ihrer
durchlaufenden KW-Zählung und öffentliche Kulturkalender mit ihren Saison-
Zyklen. Erkennbar wird: Kalender sind Systeme, in die vielfältige Wissensbe-
stände ebenso einfließen wie kollektive Wertigkeiten, sie sind Gedächtnisspeicher
und Zukunftsprognosen. Sie organisieren soziales Leben, dienen pragmatischen
Zwecken, orientieren individuelles und gesellschaftliches Handeln und stiften
gemeinschaftliche Identität. Als symbolische Ordnung der Zeit besitzen Kalender
Macht, sie definieren Zeit.⁵

3 Kalender als Gebrauchsgegenstände: ein


kurzer kulturgeschichtlicher Streifzug
Mit dem Begriff Kalender wird nun nicht nur ein System der Zeit, sondern es
werden auch konkrete Dinge bezeichnet, die man in die Hand nehmen und bei
sich tragen oder aufhängen und umblättern kann. Wand-, Taschen-, Kunstka-
lender etc. sind heute Ausstattungs- und Gebrauchsgegenstände in hoher Auflage
und mit weiter Verbreitung. Seit dem 14. Jahrhundert fanden sich, zunächst vor-
nehmlich in Klöstern, deutschsprachige Kalender; ab Mitte des 15. Jahrhundert
gehörten sie zu den ersten Druckwerken.⁶ Sie verzeichneten im Jahreskreis bei-
spielsweise Tage, die sich zum Aderlass eignen, notierten die Daten des Neu-
mondes oder später auch Bauernregeln zum Wetter. Im Zuge der Reformation
wurden „Historien-Kalender“, die auf evangelischer Seite die älteren Heiligen-
kalender ersetzten, neben Bibel und Katechismus zum wichtigsten Medium der
„protestantischen Identitätsstiftung“.⁷ Philipp Melanchthons „Calendarium his-
toricum“ verzeichnete „Ereignisse aus der Kirchengeschichte, Feste, Naturphä-
nomene sowie Eckdaten der Weltgeschichte, vor allem die Lebensdaten der

 Hier münden, dies soll im folgenden Abschnitt ausgeführt werden, die Überlegungen in ein
spezifisches Interesse von Thomas Klie, der ausdrücklich nach der „Macht der dinglichen Ak-
teure“ fragt. Vgl. Thomas Klie, „Kasualdinge: Wenn die Sachen mithandeln“, in Volkskirche in
postsäkularer Zeit: Erkundungsgänge und theologische Perspektiven, hg.v. Sonja Beckmayer und
Christian Mulia (Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2021), 179 – 188, 187 f.
 Vgl. Marco Heiles, „Die Entstehung des modernen Kalenders: Zur ungeschriebenen Medien‐
und Literaturgeschichte der deutschsprachigen Kalender von den Anfängen bis um 1600“, Mit-
telalter: Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte 2 (2019): 208 – 225 (online abrufbar
unter https://mittelalter.hypotheses.org/22042, Lesedatum: 29.07. 2021).
 Ebd.
168 Kristian Fechtner

Fürsten, aber auch Geburtstage von Gelehrten“⁸; zusammen bildeten sie eine Art
evangelisch gestimmten Kalenderkosmos. Die in hoher Auflage gedruckten
„Volkskalender“ waren im 17. und 18. Jahrhundert bevorzugte Lesematerialien
breiterer Volksschichten, sofern sie – der Alphabetisierungsanteil wuchs suk-
zessive – lesen konnten. Im Kontext aufklärerischer Anliegen wurden die Ka-
lender auch als pädagogische Medien genutzt, um ‚abergläubische‘ Vorstellungen
innerhalb der Volkskultur zurückzudrängen. Dies gelang mal mehr, zumeist aber
weniger: Die „‘vernünftigen‘ Kalender fanden nämlich in vielen Regionen nur
schwer breitere Resonanz“.⁹ Als Massenmedium enthielten die Volkskalender
neben religiös Erbaulichem und Lebensweisheiten sowie medizinischen, meteo-
rologischen und agrarischen Angaben auch unterhaltsame Erzählungen über
„merkwürdige Begebenheiten“, die eine eigene Gattung von „Kalendergeschich-
ten“ bildeten. Diese avancierten im 19. Jahrhundert – etwa bei Johann Peter Hebel
oder Jeremias Gotthelf – zu einer eigenen literarischen Kunstform. In dieser Weise
fungierten die Kalender mit ihrer Ordnung von Tagen, Wochen und Monaten im
Jahresrund zugleich als literarische Container für sehr unterschiedliche Textsor-
ten und Bildprogramme, sie waren eine „Kompilation zahlreicher Text‐ und
Bildelemente“.¹⁰
Die Kalender, die seit der frühen Neuzeit produziert wurden, waren aber nicht
nur Druckerzeugnisse, sondern bereits seit Mitte der 16. Jahrhunderts auch ein
Schreibmedium. Die Nutzer und später auch Nutzerinnen trugen persönliche
Randnotizen in die Kalender ein; eine Praxis, die von den Kalendermachern
aufgenommen wurde, die fortan Leerflächen auf den Kalenderblättern für Ein-
tragungen derjenigen vorsahen, die sie verwendeten. So wurden familienge-
schichtliche Ereignisse wie Geburt oder Taufe ebenso wie besondere Haushalts-
ausgaben, Heilbehandlungen von Krankheiten oder Begebenheiten im
Gemeinwesen festgehalten.¹¹ Die „Schreibkalender“ mit ihren vorgegebenen ka-
lendarischen Rubriken und ihren handschriftlichen Eintragungen stellten eine
sinnstiftende „Einordnung des Jahres und damit auch der persönlichen Notizen in
verschiedene ‘offizielle′ Ordnungen des religiösen wie weltlichen Lebens“¹² dar;

 Harald Tersch, Schreibkalender und Schreibkultur: Zur Rezeptionsgeschichte eines frühen Mas-
senmediums (Graz/Feldkirch: Neugebauer, 2008), 40.
 A.a.O., 95.
 A.a.O., 26.
 Neben den gedruckten Kalendern mit ihrer vorgegebenen zeitlichen Anordnung werden auch
Haushaltsbücher geführt oder Familienchroniken in freier Form verfasst, die – indem chronolo-
gisch Ausgaben oder Ereignisse festgehalten werden – durch die zeitliche Abfolge der Eintra-
gungen selbst eine kalendarische Logik erhalten.
 Ebd.
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern 169

mit ihnen gliederte sich die eigene Familiengeschichte in den Gang des Zeiten-
laufes und dessen übergreifender sozialer Ordnung ein. Kalender sind in dieser
Weise Formen der Vergemeinschaftung, in ihnen strukturiert und ordnet sich das
Leben.

4 Kalender in ihrem heutigen Gebrauch: der


Abreißkalender und der Termin- /
Notizkalender
Seit den 1870er Jahren werden Abreißkalender angeboten, bei denen die einzelnen
Tages-, Wochen‐ oder Monatsblätter in Gestalt eines Papierblocks auf einen grö-
ßerformatigen Kalenderrücken geheftet sind, der in der Regel mit einem Bild
versehen ist.¹³ Als Gattung sind Wandkalender bis heute weit verbreitet; sie
hängen in Wohnzimmern und Küchen, in Büros, Kinderzimmern und Montage-
hallen. Entsprechend unterschiedlich sind die Bildmotive, nicht selten dienen sie
auch als Werbeträger. Sie haben nicht nur die Funktion, das Datum anzuzeigen –
wobei nicht nur Kalender-, Wochentag und Monat angegeben, sondern farblich
auch Werk-, Sonn- und Feiertag unterschieden werden –, sondern sie fungieren in
ihrer Gesamtgestaltung auch als Wandschmuck. So finden sich Kunst-, Natur‐ und
Architekturkalender genauso wie Haustier-, Trachten- und Erotikkalender; und
vieles andere mehr. Häufig sind die Wandkalender auch thematisch ausgerichtet,
sie können – auf der Vorderseite des jeweiligen Kalenderblattes oder auf dessen
Rückseite – mit einer Lebensweisheit oder einer Karikatur, einem Küchenrezept
oder einem Bibelwort bedruckt sein. In dieser Weise enthalten sie ‚Tagesbot-
schaften‘, mithin religiöse oder säkulare „Losungen“.¹⁴ So gehören Kalender im
weiteren Sinne und auf ihre Art zum auflagenstarken Segment der Ratgeberlite-
ratur.
Nun enthält der Abreißkalender bereits durch seine Machart eine Ge-
brauchsanweisung, denn er legt seine Nutzerin auf eine bestimmte Kalender-

 Vgl. Christa Pieske, Das ABC des Luxuspapiers: Herstellung, Verarbeitung und Gebrauch 1860 –
1930 (Berlin: Reimer, 1984), 151.
 Eine klassische Gattung sind christliche Kalender mit Bibelversen als Tageslosungen. Es gab
beispielsweise aber in den 1920er Jahren auch einen verbreiteten „Arbeiterkalender“ als „roten
Abreißkalender“ mit entsprechend proletarischem Bildprogramm und revolutionären Losungen.
Vgl. Wolfgang Hesse, „Der rote Abreißkalender: Geschichts-Bilder als Wandschmuck“, Fotoge-
schichte 144 (2017). Heute finden sich Abreißkalender mit sprichwörtlichen „Kalendersprüchen“
sehr unterschiedlicher Provenienz und Ausrichtung.
170 Kristian Fechtner

praxis fest: Jeden Tag gilt es, ein Blatt zu entfernen. In dieser Weise hat er
Handlungs-, Wirkungs- und Deutungsmacht¹⁵ im Umgang mit der Zeit: Er fokus-
siert den Betrachter auf den gegenwärtigen Tag, die Jetztzeit. Alle zukünftigen
Tage sind im Papierblock verborgen, man kann sie zwar aufblättern, aber der
jeweils heutige Tag fungiert als ‚Deckblatt‘. Tag für Tag wird dann das Kalen-
derblatt des nunmehr vergangenen Tages aus dem Kalender entfernt, wobei die
Perforation des Papierblattes dies bereits vorsieht. Das Jahr wächst in seinem
Jahreslauf nicht an, indem es sich mit Ereignissen und Begebenheiten anfüllt,
sondern die Zeit wird Blatt für Blatt zusehends weniger; der Abreißkalender mit
seinem täglich kleiner werdenden Papierblock deutet Zeit als schwindende Zeit,
mithin als Frist. Die alltägliche Routine, ein Kalenderblatt abzureißen, wird damit
zu einem sinnenfälligen Ritual im Umgang mit der Zeit: Gestern ist vorbei, das
Blatt landet im Papiercontainer und verschwindet.
Zum modernen Alltagsleben gehören Termin‐ bzw. Notizkalender, die in Ge-
stalt von Taschenkalendern bei sich getragen werden können. Anders als die
stationären Wandkalender als Gestaltungselemente von Räumen sind diese
handlichen Kalender mobile Begleiter im Privat‐ und Geschäftsleben. Sie stehen
in der Tradition der Schreibkalender, insofern sie für den Gebrauch konzipiert
sind, Eintragungen in ihnen vorzunehmen. Sie enthalten Rubriken, um Termine
festzuhalten, und kleinere Freiflächen für weitere Notizen. Allerdings steht –
anders als bei den älteren Schreibkalendern – die Gattung der Taschenkalender
unter dem Vorzeichen einer restriktiven ‚Ökonomie des Platzsparens‘, sie geben
kaum Raum zur Selbstthematisierung. Damit verändern sie zugleich den Blick auf
die Zeit und die Umgangsweise mit ihr, die sich in dem manifestiert, was in sie
eingetragen wird: Die Nutzerinnen „protokollieren“ eben nicht mehr die „eigene
Vergangenheit“, sondern sie notieren künftige Termine, um „Zukunft zu organi-
sieren“.¹⁶ In der Verknüpfung von Daten des beruflichen und des privaten Lebens
fungieren die Taschenkalender nicht nur als Ordnungs‐ und Koordinationsin-
strumente, sondern auch als To-Do-Listen: Sie sind Medien der Verabredung und
der Selbstverpflichtung, etwas zu tun oder zu erledigen, sich an einem Ort ein-
zufinden oder mit anderen etwas zu regeln. Zukünftige Zeit wird hier im Modus
des Planens als Tätigkeitszeit fokussiert; entsprechend erscheinen die wenigen

 Ich lehne mich bei meinen Überlegungen lose an das von Gustav Roßler entfaltete Konzept
von „agency“ an.Vgl. Gustav Roßler, Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft: Sozialität – Kognition
– Netzwerke (Bielefeld: Transcript, 2016), 84 ff. Vgl. zum Begriff der „Deutungsmacht“, der hier
ohne theoretische Tiefenschärfe verwendet wird, die konzeptionellen und analytischen Beiträge
in Philipp Stoellger (Hg.), Deutungsmacht: Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten
(Tübingen: Mohr Siebeck, 2014).
 H. Tersch, Schreibkalender und Schreibkultur (Anm. 8), 97.
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern 171

eingedruckten Angaben und Tabellen als Rahmenbedingungen persönlicher


Planung (bspw. Feiertage, Schulferien, Messen und Ausstellungen). Für andere
zum Teil nur schwer dechiffrierbar sind die nicht selten mit Kürzeln notierten
Eintragungen Interna der beruflichen Aufgaben und persönlichen Kontakte der
Nutzerinnen, die ihren Taschenkalender so handhaben, dass sie die zeitliche
Gestaltung ihres Lebens im Griff haben.
Eine jüngere Entwicklung zeichnet sich durch das sog. „Bullet Journal“¹⁷ ab.
Es ist ein Notizbuch oder eine leere Kladde, die selbständig als Kalender gestaltet
wird, um in diesem Ideen, Beobachtungen oder Listen zu notieren. Das Bullet
Journal ist eine kreative Form, Gedanken und Aspekte des eigenen Lebens ka-
lendarisch zu gliedern und zu ordnen. Dabei können ganz eigene Kalendarien
entstehen, unter Umständen werden einzelne Wochenenden unter persönlichen
Arbeitstagen rubriziert oder Ferientage werden als Ereignistage sehr viel größer
dimensioniert als gewöhnliche Tage etc. In gewisser Weise handelt es sich dabei
um eine spätmoderne, individualisierte Form der Schreibkalender früherer Jahr-
hunderte, wobei diese hier nicht in ihrer sozialen Funktion, sondern im Sinne
eines individuellen kalendarischen Tagebuches genutzt werden. So forcieren
Bullet Journals die Selbstbeobachtung: In ihnen verbindet sich die Möglichkeit
einer biographischen Rückschau mit einem je eigenen Entwurf der kommenden
Zeit(en).

5 Kalender im Kontext pastoralen Handelns: der


Pfarramtskalender
Heute gibt es Taschenkalender nicht nur in unterschiedlicher Aufmachung,
sondern auch für verschiedene Gruppen und Berufe: Schüler‐ und Lehrerinnen-
kalender, Business-, Ärztinnen-, Rentnerkalender und manches mehr. Zu den
berufsbezogenen Kalendern gehören auch die jährlichen Pfarramtskalender, die
heute von Pfarrvereinen herausgegeben werden.
Seit dem 18. Jahrhundert wurden Kalender als amtliche Periodika publiziert,
die unter anderem behördliche Angaben und Verzeichnisse enthielten; aus dieser
Gattung erwuchsen dann auch spezielle „Amtskalender für evangelische Geist-
liche“. Sie waren in ihrem Aufriss und mit ihren Rubriken Dokumente beruflicher
Tätigkeiten wie pfarramtlicher Aufgabenzuschreibungen und sie stellten Angaben

 Für die englische Bezeichnung existiert noch kein deutscher Ausdruck; sie leitet sich von
bullet points: Gliederungspunkte ab. Den Hinweis auf diese neue Kalenderpraxis verdanke ich
Sonja Beckmayer.
172 Kristian Fechtner

und Wissensbestände für die Ausübung des Pfarramtes vor Ort zur Verfügung. So
umfasste etwa der „Amtskalender für evangelisch-lutherische Geistliche im Kö-
nigreich Sachsen“¹⁸ für das Jahr 1894 insgesamt 218 Druckseiten: Er enthielt nicht
nur ein Tageskalendarium mit Gedenktagen und sonntäglichen Predigtperikopen,
sondern auch eine Übersicht über „feststehende Amtsgeschäfte“ (im Blick auf
verpflichtende Kirchenkollekten, Treffen kirchlicher Vereine, kirchliche Verwal-
tungsanforderungen etc.), Rubriken zu „ausgeliehenen Büchern“, zu „besu-
chenden Gemeindegliedern“ und zu den einzelnen „Amtshandlungen“ sowie eine
Preisliste für „kirchliche Formulare“ und eine „Publikationsliste sächsischer
Theologen“ und mündete in eine Kirchenchronik der beiden vorangegangenen
Jahre, in der hervorgehobene Ereignisse in der Kirche und in den Gemeinden (wie
Amtswechsel, Gottesdienstbesuch zu Weihnachten oder Baumaßnahmen) ver-
zeichnet waren.
Im Grundriss ist der alte Amtskalender für Geistliche den heutigen Pfarr-
amtskalendern sehr ähnlich, auch wenn diese keine vorangestellte „Fürstentafel“
und keine angefügte Kirchenchronik mehr enthalten. Sie folgen der gleichen
Logik. Auch sie sind Planungshilfen für Gottesdienste, Kasualien und Unterricht
und bieten Platz für Termineintragungen im Stundentakt jedes Kalendertages.
Indem sie wesentliche Daten und Adressen zusammenstellen, die für die pfarr-
amtliche Tätigkeit von Belang sein können, entlasten sie die einzelnen von ei-
gener Recherche. Als Gattung dokumentieren und instruieren die Pfarramtska-
lender den Pfarrberuf in der Moderne als eine Tätigkeit im Modus des
Organisierens, durch den die pastoralen Kernaufgaben selbst und damit auch das
Amt als Beruf geprägt sind. Dabei geht es weniger um eine häufig beklagte Zu-
nahme an Verwaltungstätigkeiten, sondern darum, dass zur (gottesdienstlichen,
unterrichtlichen, seelsorglichen) Praxis von Pfarrerinnen und Pfarrern wesentlich
dazu gehört, diese zu planen, anzubieten, zu koordinieren, abzustimmen und
jeweils zeitgenau und angemessen zu gestalten.¹⁹ Kurzum: Pfarramtskalender
lassen sich pastoraltheologisch lesen; sie sind – mit Thomas Klie gesprochen –
gleichsam „Feinjustierungen zu Habitus, Gebaren und professionstypischen
Werthaltungen“²⁰, die Pfarrerinnen und Pfarrern zugeschrieben werden. Die
Dinge sagen, was es mit dem Pfarramt auf sich hat und wie es ausgeübt wird (oder
ausgeübt werden soll).

 In digitalisierter Form zugänglich unter https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/


57019/1, Lesedatum: 05.08. 2021.
 Vgl. zur Unterscheidung von „Organisieren“ und „Verwalten“ Sonja Beckmayer, Die Bibel als
Buch: Eine artefaktorientierte Untersuchung zu Gebrauch und Bedeutung der Bibel als Gegenstand
(Stuttgart: Kohlhammer, 2018), 165 ff.
 Th. Klie, Kasualdinge (Anm. 5), 188.
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern 173

6 Der Adventskalender als Medium spätmoderner


Religiosität
In ganz andere Gefilde führt eine Kalendergattung, deren Verkaufszahlen ohne-
gleichen sind: Adventskalender werden hierzulande zigmillionfach gedruckt und
zumeist mit Schokolade gefüllt; sie erfreuen Kinderherzen, vielfach bis ins hohe
Alter, sie sind Mitbringsel, Süßigkeitsartikel, Bilderbögen und Sinnzeichen in
einem.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen Eltern, individuelle
Kalender zu gestalten und kalendarische Gegenstände für ihre Kinder zu basteln,
mit denen sie die einzelnen Adventstage auf das Weihnachtsfest hin markierten:
mit täglichen Kreidestrichen auf dem Türstock, die Sonntage erkennbar länger
ausgezeichnet; durch eine Pappscheibe als Weihnachtsuhr, auf welcher der Zeiger
jeweils einen Schritt nach vorne gestellt wurde; in Gestalt eines Adventshäuschen,
bei dem jeden Tag ein Fenster vor durchscheinendem roten Papier und am Morgen
des Heiligabends die Tür geöffnet wurde.²¹ Es ging bei dem sich neuentwickeln-
den Brauch um eine familienpädagogische Einübung ins Warten, in Selbstbe-
herrschung und in Vorfreude.²² In Thomas Manns Roman „Die Buddenbrooks“
heißt es entsprechend: „Unter solchen Umständen kam diesmal das Weih-
nachtsfest heran, und der kleine Johann verfolgte mit Hilfe des Abreißkalenders,
den Ida [scil. seine Kinderfrau, K.F.] ihm angefertigt, und auf dessen letztem Blatte
ein Tannenbaum gezeichnet war, pochenden Herzens das Nahen der unver-
gleichlichen Zeit.“²³ Seit Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es dann auch erste
gedruckte Adventskalender, zunächst als Bogen mit 24 Bildern zum Ausschneiden
und Aufkleben; am Heiligabend ein größeres Bild mit dem weiß gekleideten
Christkind.²⁴ Rasch setzte sich die heute geläufige Form als Kalender mit vorge-

 Vgl. auch zum Folgenden Esther Gajek, „Türchen auf! Zur Geschichte des Adventskalenders“,
in Dem Licht entgegen: Winterbräuche zwischen Erntedank und Maria Lichtmess, hg.v. Alois Döring
u. a. (Köln: Greven-Verl., 2010), 179 – 193.
 Vgl. a.a.O, 179.
 Thomas Mann, Die Buddenbrooks:Verfall einer Familie (1901) (Frankfurt: S. Fischer, 1997), 528.
 Die Geschichte des Christkind-Motivs ist verschlungen; vermutlich existierte es schon im
15. Jahrhundert, wurde mit Martin Luther ikonographisch auf evangelischer Seite prägend, bevor
es im 19. Jahrhundert auch in das katholische Weihnachtsbrauchtum einwanderte. Vgl. Matthias
Morgenroth, Weihnachts-Christentum: Moderner Religiosität auf der Spur (Gütersloh: Kaiser/Gü-
tersloher Verl.-Haus, 2002), 200 ff.; Thomas Ludewig (Hg.), Christkind, Weihnachtsmann & Co.
Kulturgeschichtliches zu den weihnachtlichen Gabenbringern (Neuss: Clemens Sels Museum,
2007).
174 Kristian Fechtner

stanzten, nummerierten „Türchen“ durch, hinter denen, wenn sie geöffnet wer-
den, ein Bild sichtbar wird und/oder seit den 1920er Jahren auch ein Stück
Schokolade herausnehmbar ist. Die Bildprogramme der Adventskalender reichen
von christlicher Weihnachtssymbolik (mit Krippe, Engeln, Stern, Christkind etc.)
bis hin zu weltlichen Motiven (z. B. Naturembleme, stilisierte Kindergeschenke);
nicht selten mischen sich beide Stränge und bilden ein Ensemble moderner
Weihnachtsikonographie, das zwischen christlicher Tradition und weihnachtli-
chen Retrobildern changiert. Fast durchweg sind die Deckblätter der Adventska-
lender mit ihren Fachwerkhäusern und verschneiten Winterlandschaften idylli-
sierende Bildwelten und bilden das Substrat einer modernen Gefühlsreligiosität,
die sich auch aus anderen Quellen – man denke an die Weihnachtsmärkte²⁵ oder
die Ausgestaltung der Wohnungen – speist. Heute gesellen sich zu den kom-
merziellen Adventskalendern weitere Spielarten, beispielsweise: selbstgestaltete
Adventskalender, die persönlich adressiert werden; „Lebendige Adventskalen-
der“, bei denen an offenen Fenstern kleine Szenen für die Nachbarschaft arran-
giert werden; der „Andere Advent“²⁶, ein in seiner Bildsprache und mit literarisch-
religiösen Texten anspruchsvoll gestalteter Kalender, der bewusst christlich-spi-
rituelle Akzente setzt. Die neuen Formen transponieren das Prinzip des ge-
wöhnlichen Adventskalenders, indem sie ihn individualisieren, ästhetisieren und
ihn als Kommunikationsmedium inszenieren.
Dabei steht der Adventskalender für eine spezifische Logik im Umgang mit
der Zeit, er vergegenständlicht Zeitbewusstsein in einer besonderen Art und
Weise. Dies gilt in dreifacher Hinsicht:
Erstens wird – darin liegt so etwas wie die „Deutungsmacht“ des Advents-
kalenders – in ihm greifbar, dass die Adventszeit in der Moderne kulturell und
auch religiös immer stärker als Vorweihnachtszeit verstanden wird; die Dezem-
berwochen sind im Vorgriff auf Weihnachten (durch Aufnahme von dessen
Symbolik, durch den Vorgeschmack der Schokolade als Gabe en miniature, durch
eine vorfreudige Gestimmtheit) zu dessen erweiterter Spielfläche geworden.
Spätestens ab dem 1. Dezember und mit dem ersten geöffneten Adventstürchen
„weihnachtet es sehr“. Die moderne Adventszeit wird nicht als Kontrastzeit,
sondern als sich steigerndes weihnachtliches Festivitätsgefühl konzipiert und
erlebt. In theologischer Perspektive gesprochen, verblasst damit die traditionelle
eschatologische Prägung des Adventlichen mit seinen Motiven der Buße in Er-

 Vgl. Martin Kumlehn, „Weihnachtsmärkte: Ewigkeitsglanz in grauer Zeit als Inszenierung der
Sehnsucht“, in Valentin, Halloween & Co. Zivilreligiöse Feste in der Gemeindepraxis, hg.v. Thomas
Klie (Leipzig: EVA, 2006), 207– 223.
 Vgl. dazu die Studie von Annika Happe, Auf der Suche nach dem „Anderen Advent“?! Gelebte
Religiosität im Weihnachtsfestkreis (Leipzig: EVA, 2015).
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern 175

wartung der Wiederkunft Christi. Leitmotivisch tritt in den Vordergrund, dass das
Christfest mit seinem adventlichen Vorspann – gleichsam protologisch – als er-
innerter Anfang gedeutet wird, mit dem Motiv der Geburt verknüpfen sich Themen
wie Herkunft und Lebensvertrautheit.
Zweitens besteht die „Handlungsmacht“, mithin der gegenständliche Hand-
lungsappell eines traditionellen Adventskalenders, darin, dass er – in einem ge-
wiss sehr schlichten und konventionalisierten Sinne – seinen Gebrauch festlegt:
Jeden Tag ein Türchen aufmachen. In dieser Praxis wird Zeit in der sinnenfälligen
Erfahrung erlebt, dass in der Abfolge der Tage bislang Verborgenes und Unzu-
gängliches geöffnet wird und sich nunmehr offen darbietet.²⁷ Diese Form der
Zeitpraxis korrespondiert mit dem modernen Brauch des Adventskranzes, der im
Grunde auch eine spezifische Form des Kalenders darstellt.²⁸ Dass Sonntag für
Sonntag eine weitere Kerze entzündet wird, entspricht der Logik eines Advents-
kalenders.²⁹ Geöffnete Türen und entzündete Lichter qualifizieren symbolisch Zeit
als Erfahrung je besonderer Zeit(en); sie tun dies im Medium des Kalenders si-
gnifikant: Advent/Weihnachten ist diejenige Zeit, in der es „draußen“ dunkler
wird und die natürlichen Gegebenheiten beschränkter und enger werden, im
„Inneren“ jedoch öffnet sich mehr und mehr etwas und es wird heller. In dieser
Weise wahrgenommen, manifestiert sich im Adventskalender eine implizite
theologia popularis, eine „Spielart des Religiösen, der die vordergründigen
Wirklichkeiten nicht ausreichen“³⁰.
Drittens schließlich, und darin kann man so etwas wie seine „Wirkungs-
macht“ sehen, erzeugt der Adventskalender im Gebrauch eine besondere Haltung
in der Zeit und im Blick auf die Zeit. Als Vorweihnachtszeit ist der Advent für sich

 Wobei es im heutigen Zeitgefühl der Beschleunigung durchaus auch eine Erfahrungskehrseite


gibt: Jedes geöffnete Türchen macht die vorweihnachtliche Zeitspanne für notwendige Besor-
gungen enger.
 So auch E. Gajek, Türchen auf (Anm. 21), 179.
 Es überrascht nicht, dass sich der Adventskranz, der auf den evangelischen Theologen Johann
Hinrich Wichern zurückgeht, sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zunächst vornehmlich in pro-
testantischen Regionen einbürgert. Interessant ist allerdings, dass er sich zuerst vornehmlich in
urbanen Lebenskontexten etabliert – hier zeigt sich, ähnlich wie an der Geschichte des Ernte-
dankfestes oder der Etablierung von Friedwäldern, dass sich „naturhafte“ Elemente nicht selten
(religions)kulturell dann durchsetzen, wenn der lebensweltliche Abstand zur Natur in der indu-
strialisierten Moderne gewachsen ist. Zur Geschichte und Deutung des Adventskranzes vgl.
Hermann Bausinger, „Der Adventskranz – ein uralter Brauch?“ in Abschied von der Dorfidylle?
hg.v. Martin Blümcke (Stuttgart: Theiss, 1982), 46 – 53.
 A.a.O., 53. Im Blick auf den Adventskranz, der durchaus „kein ausschließend und verpflich-
tend christliches Symbol“ darstelle, setzt Bausinger hinzu: „[N]och wer unter scheinbar rein äs-
thetischen Gesichtspunkten unter adventlichen Floristikgebilden seinen vorweihnachtlichen
Zimmerschmuck auswählt, bewegt sich im Bannkreis des Religiösen“.
176 Kristian Fechtner

gesehen eine Zeit des Wartens, in welcher der Adventskalender die pädagogische
Funktion übernimmt, sich selbst zu beherrschen, um abwarten zu können. Dies
wird insbesondere dann deutlich, wenn die Disziplinierungsregel, kein Türchen
vorzeitig zu öffnen, verletzt oder ignoriert wird – Robert etwa macht es ganz un-
ruhig, wenn Cora so nonchalant darüber hinweggeht. Die erzieherische Wir-
kungsabsicht ist aber nur die eine Seite. In existentieller Hinsicht nämlich
transformiert der Adventskalender die Empfindung des Wartens in Erwartung,
oder vorsichtiger gesprochen: er versinnbildlicht diese Anverwandlung. Während
Warten eine Geduldsprobe ist, die äußerlich veranlasst ist und die darauf aus ist,
dass eine Zeitspanne lediglich vorübergeht, bringt der Gebrauch vorweihnacht-
licher Kalender eine adventliche Haltung des „In-Erwartung-Seins“ hervor. Der
Adventskalender ist in seiner Gestaltungslogik mehr als Zeitvertreib; vielmehr
bringt er das, was in der Jetztzeit durch das Öffnen einer Tür, durch das Entzünden
eines Lichtes, getan wird und geschieht, inhaltlich mit dem in Verbindung, was
noch aussteht. In religiöser Diktion gesprochen: In der Erwartung wird die Ge-
genwart zur Vorausschau (Tür) und zum Vorschein (Licht) dessen, was erwartet
und gewollt, verlangt und – im Symbol der Geburt des göttlichen Kindes – ver-
heißen ist. Man kann den Adventskalender durchaus auch so lesen, dass er eine
Tiefengrammatik und eine Pragmatik besitzt, durch die ihm ein christlich inter-
pretierbares Zeitbewusstsein eingestiftet ist: Zeit gewinnt ihren Sinn teleologisch,
sie ist – im linear-zyklischen Sinne des Kirchenjahres – wiederkehrende und
zielgerichtete Zeit: Da kommt (noch) was.
Man kann die Rede von der Deutungs-, Handlungs‐ und Wirkungsmacht in
diesem Zusammenhang für überzogen halten. Gewiss, der Adventskalender ist mit
seiner gemeinhin weltlichen Kitsch-Textur und seiner Gestaltungs‐ und Verwen-
dungstrivialität ein kommerzielles Produkt. Aber er gehört zu den Dingen, die
auch über eine explizit christlich-religiöse Gesinnung hinaus als alltagsweltliches
Substrat einer spätmodernen Religiosität gelten können. Als Ausstattungsge-
genstände und durch ihren Gebrauch machen Adventskalender die letzten Wo-
chen eines Jahres zu einer eigen bestimmten Zeit und erzeugen für Zeitgenos-
sinnen und Zeitgenossen ein spezifisches (Vor‐)Festivitätsempfinden. Wie alle
anderen Kalender vergegenständlichen und versinnbildlichen sie Zeit. Dies tun –
so hat der Rundgang ergeben – Heiligenkalender und protestantische Historien-
kalender, Volks‐ und Schreibkalender, Abreiß‐ und Taschenkalender, Bullet
Journals, Pfarramts‐ und Adventskalender auf unterschiedliche Weise. Sie haben
einen je eigenen Sitz im beruflichen, kirchlichen, familiären oder individuellen
Leben und folgen verschiedenen Logiken, in denen sich die pragmatische Nut-
zung des Kalenders und eine symbolische Deutung der Zeit miteinander ver-
knüpfen. Dabei gehören Kalender zur religiösen wie zur säkularen Praxis der
Gegenwart – dass beides in den verschiedenen Gattungen kaum trennscharf zu
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern 177

scheiden ist und ineinander liegt, gehört nicht nur zu ihrer Geschichte, sondern
ist womöglich auch ein Signum heute gelebter Religion.

7 Epilog: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen


Ben, Caros jüngerer Bruder, muss immer lächeln, wenn Kollegen ihren Taschenka-
lender zücken, um am Ende einer Sitzung den nächsten Termin einzutragen. Den
speichert er selbstverständlich im digitalen Kalender seines Smartphones ab, au-
tomatisch synchronisiert mit seinem Notebook im Büro, mitlesbar von seinem As-
sistenten. Business halt. Roberts ältere Schwester Lena nutzt den elektronischen
Familienkalender, auf den ihr Lebensgefährte genauso Zugriff hat wie die beiden
Kinder. Da braucht es keine umständlichen Abfragen: Klappt es nächste Woche
Dienstag? Und die Erinnerungsfunktion sorgt dafür, dass Lena weder ihre Tabletten
noch den Geburtstag ihres Bruders vergisst. Ploppt beides auf dem Handy auf, ge-
gebenenfalls auch ziemlich penetrant. Kalender können auch nerven. Letztes Jahr
hatte sie zum ersten Mal auch einen digitalen Adventskalender. Naja, geht so. Ben
hingegen hat immer einen in echt. Nicht nur wegen der Schokolade.
Ulrike Wagner-Rau
Ein Abdruck im Sitzkissen
Die Materialisierung von Absenz und ihre Bedeutung im
Trauerprozess

1 Materielle Hinweise auf Abwesendes


Der erste Eintrag in Anne Brannys „Enzyklopädie des Zarten“ gilt der Absenz.¹
„Absenz materialisiert sich durch die Spur, die die Anwesenheit hinterlassen hat,
so wie der helle Streifen am Ringfinger, der sichtbar von der Anwesenheit des
abgenommenen Ringes erzählt, obwohl dieser abwesend ist.“ So heißt es dort:
„Manchmal setzen wir uns auf einen Platz, auf dem vor uns bereits jemand ge-
sessen hat, und spüren noch die Körperwärme des abwesenden Vorgängers.Viele
Menschen empfinden diese Wärme als ein Unbehagen, weil sie uns in eine intime
Situation mit einer unbekannten Person überführt. Aber diese Wärme erzählt
auch die Geschichte eines lebenden Körpers, den es an der gleichen Stelle ge-
geben hat.“²
Diese wenigen Sätze lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass etwas, das der
gegenwärtigen Situation eigentlich in räumlicher wie in zeitlicher Hinsicht ent-
zogen ist, nicht nur geistige, sondern auch materielle Präsenz haben kann, die
mehr oder weniger bewusst wahrgenommen wird und ambivalente Gefühle her-
vorruft. Die Spur des abgenommenen Ringes ruft die Trauer über eine verlorene
Beziehung ins Gedächtnis, die Befreiung und Erleichterung darüber, dass eine
nicht mehr gewollte Verbindung zu Ende ist, oder aber sie verrät, dass das Ge-
genüber nicht so ungebunden ist, wie es zu sein vorgibt. Die Wärme eines Sitzes
signalisiert eine sich wider Willen aufdrängende, unangenehme Nähe ebenso wie
die tröstliche Erinnerung daran, nicht allein auf der Welt zu sein.
Anne Branny stellt einige Kunstprojekte vor, die mit der materiellen Spur der
Absenz spielen.³ Charlotte Seidel zum Beispiel hat durch das Einziehen von
Heizdrähten ein Sesselpolster auf menschliche Körpertemperatur gebracht. In-
dem das Objekt den Namen „Joseph“ trägt, verweist es nicht nur auf menschliche

 Vgl. Anne Brannys, Eine Enzyklopädie des Zarten (Frankfurt a. M.: Frankfurter Verlagsanstalt,
2017), 7– 10.
 A.a.O., 10.
 Vgl. ebd.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-012
180 Ulrike Wagner-Rau

Wärme überhaupt, sondern auf die eines bestimmten Menschen, der zuvor auf
diesem Polster gesessen hat, aber aktuell nicht mehr dort zu finden ist. Vor einer
Pariser Telefonzelle füllte dieselbe Künstlerin die leichten Vertiefungen im As-
phalt, die durch die Füße der vor der Zelle Wartenden entstanden sind, mit
Wasser aus und macht diese so indirekt sichtbar. „After you“ (2012) nannte sie
dieses Objekt, das durch die beständige Verdunstung des Wassers ein zusätzliches
Moment der Flüchtigkeit mit dem Zeichen vormals Anwesender verbindet.
Auf dem Appellplatz im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald haben
die beiden Künstler Horst Hoheisel und Andreas Knitz mit ihrem „Denkmal an ein
Denkmal“ eine verstörende Spur der Erinnerung an die dort gequälten und er-
mordeten Menschen gelegt.⁴ Die Metallplatte, in die die Nationalitäten der Opfer
eingraviert sind, wird kontinuierlich auf 37 Grad Celsius, die Temperatur des
menschlichen Körpers, erwärmt.Wer sie berührt, erfährt es ganz handgreiflich: Es
war nicht einfach eine Menge ungenannter Menschen aus vielen Nationen, son-
dern hier standen einmal lebende Individuen aus Fleisch und Blut, die um ihr
Leben gebracht wurden. Am 25.1. 2020 sendete der Deutschlandfunk eine „Eine
Lange Nacht über die Habseligkeiten von Auschwitz“.⁵ In der Sendung ging es um
die Tausenden von Gegenständen, die von den ermordeten Menschen auf dem
Gelände zurückblieben und als Zeugnisse des Geschehens aufwändig konserviert
werden.
Die Beispiele zeigen eine Bandbreite von Phänomenen, durch die sich Absenz
materialisiert: Unspektakuläre Erfahrungen des Alltags werden lesbar als Zeichen
der vergehenden Zeit. Sie evozieren Erinnerungen an verlorene oder unterbro-
chene Verbindungen oder vergangene Szenen. Sie geben dem Gedenken an kaum
vorstellbare Verbrechen eine sinnliche Evidenz und damit eine Unterbrechung der
Tendenz zur gefühlsfernen Abstraktion der einzelnen Schicksale in der unvor-
stellbar großen Menge der Opfer.
Die materiellen Zeichen der Absenz verweisen auf Menschen und Ereignisse,
die im gegenwärtigen Raum nicht mehr zu finden sind. Damit erinnern sie selbst
an das ununterbrochene Fortlaufen der Zeit und damit an die Vergänglichkeit
jedes Momentes und jeder Begegnung.
Der Verweis auf Vergangenes entsteht freilich nicht durch das Artefakt an
sich, sondern im Prozess einer Signifikation: Die sinnliche Wahrnehmung der
Materialität verbindet sich mit einer Szene und damit mit einem spezifischen
Deutungszusammenhang. Dass etwas oder jemand fehlt, kann nur wahrnehmen,

 Online abrufbar unter http://www.zermahlenegeschichte.de/index.php?option=com_con


tent&task=view&id=26&Itemid=32, Lesedatum: 14.10. 2021.
 Vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/eine-lange-nacht-ueber-die-habseligkeiten-von-
auschwitz.1024.de.html?dram:article_id=468531, Lesedatum: 14.10. 2021.
Ein Abdruck im Sitzkissen 181

wer gewusst hat, dass zuvor jemand oder etwas dagewesen ist. „Die Gegenstände
erinnern zumeist – wenn sie durch ihre Eignerinnen zum Sprechen gebracht
werden – an ein szenisches Geschehen in seiner ganzen Komplexität, einen dicht
gewebten Sinnzusammenhang um einen Ort, eine Zeit, eine Situation oder eine
Person herum […].“⁶ So Inken Mädler in einer empirischen Studie über den Um-
gang von Frauen mit Gegenständen, an denen ihr Herz hängt. Was einmal erlebt
worden ist und sich als bedeutungsvoll eingeprägt hat, kann durch Materielles
präsent gesetzt werden, und zwar, ohne dass man sich dies im Einzelnen bewusst
machen muss.
Das Stichwort des Szenischen, das Mädler verwendet, verweist auf Alfred
Lorenzers Konzept des szenischen Erlebens. Die menschliche Persönlichkeit wird
von Anfang an durch soziale Praktiken geprägt. Die frühen Interaktionen ver-
dichten sich in emotional hoch besetzten Szenen, die in den frühen Lebensjahren
verinnerlicht werden. Sie stellen ganz persönliche, unverwechselbare Erfahrun-
gen dar, die zugleich eingebunden sind in einen spezifischen gesellschaftlichen
und kulturellen Kontext. Wenn die Erinnerung an sie getriggert wird, erwachen
diese Szenen der Vergangenheit zu neuem Leben und prägen damit die Erwar-
tungen, die das gegenwärtige Erleben und Verhalten beeinflussen. Die frühen
Szenen finden zwar im Laufe der Entwicklung eine sprachliche Symbolisierung,
man kann davon erzählen. Aber sie sind – so Lorenzer – im Erleben prinzipiell
umfassender und vieldeutiger als sprachliche Ausdrucksformen: „Das Wechsel-
spiel, aus dem Erinnerungsspuren (Interaktionsformen) hervorgehen, ist ja nichts
anderes als ein Austausch von Gesten, Körperbewegung, sozial geformten, sozial
relevanten Körpervorgängen; es ist ‚Praxis‘. Jede Interaktionsform ist Teil dieser
Praxis und daher weiter, umfassender als die Sprache.“⁷
Wenn uns also vergangene Erlebnisse durch die Begegnung mit Gegenstän-
den, Räumen, Ritualen, Körperempfindungen präsent wird, sind zwei Szenen
daran beteiligt, die sich wechselseitig interpretieren: Eine gegenwärtige Praxis
verbindet sich mit einer vergangenen. Möglicherweise wird diese Verbindung
bewusst und kann in Sprache gefasst werden: Man erzählt davon, was geschehen
ist und wie sich Vergangenheit und Gegenwart berühren. Aber der Vorgang geht in
der sprachlichen Symbolisierung nicht auf; denn diese kann das unmittelbare
Erleben nicht einholen. So wird es auch gesehen in der Theorie der sozialen
Praktiken. Sie fokussiert darauf, dass Bedeutung nicht allein durch Sprache und

 Inken Mädler, Transfigurationen: Materielle Kultur in praktisch-theologischer Perspektive (Gü-


tersloh: Gütersloher Verl.-Haus, 2006), 326.
 Alfred Lorenzer, „Tiefenhermeneutische Kulturanalyse“, in Kultur-Analysen, hg.v. dems.
(Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 1986), 11– 98, 47.
182 Ulrike Wagner-Rau

Texte entsteht, sondern bereits im Vollzug der Praktiken selbst.⁸ Schon die Be-
gegnung mit Materiellem, die Spuren der Erinnerung wachruft, kreiert so etwas
wie ein praktisches Verstehen, das die Wirklichkeit auf seine Weise erschließt.
In vielen Bereichen des Alltagslebens begegnen uns Absenz und damit Ver-
gänglichkeit in materiellen Repräsentationen: Die Teller in der Spülmaschine sind
Zeugen der vergangenen Mahlzeit, die losen Fädchen am Mantel hielten einmal
einen Knopf, der helle Fleck an der Wand war einst von einem Bild bedeckt.
Vergangenes bleibt nicht zuletzt durch materielle Reste spürbar.

2 Die Toten sitzen mit am Tisch


Auch in der Trauer hat die materielle Dimension eine wesentliche Bedeutung.⁹
Tote hinterlassen vieles, mit dem praktisch umgegangen werden muss, ihren
Körper zuerst, aber dann auch ihren Besitz und andere Spuren, die darauf hin-
weisen, dass sie da gewesen sind. „So klein die Sache als Symbolträger oft ist, so
groß ist oft die Bedeutung für die Betroffenen. Bei Trauernden kann z. B. der Rest
der Seife, die man mit dem verstorbenen Partner geteilt hat, eine ganze Bezie-
hung, den ganzen Verlust und als Rückseite die ganze Liebe wachrufen.“¹⁰ Im
Folgenden sollen die sozialen Praktiken der Trauer, die mit solchen materiellen
Spuren der Absenz umgehen, mit Aufmerksamkeit versehen werden. Zwar ist
immer schon die Bedeutung erkannt worden, die z. B. die Trennung von der
Kleidung oder von anderen Besitztümern der Verstorbenen im Trauerprozess hat.
Aber meist wird dies eher als sekundärer Ausdruck eines geistigen und psychi-
schen Wandlungsprozesses verstanden. Eine Verbindung zu diesem ist zweifellos
vorhanden. In der hier verfolgten Perspektive aber liegt die Aufmerksamkeit
darauf, dass bereits die Praktiken selbst etwas verändern in der Haltung gegen-
über dem Verlust. Trauer ist auch etwas, das getan wird. Ähnlich hat dies Manuel
Stetter im Blick, wenn er auf der Basis seiner empirischen Befunde konstatiert:
„Trauer bezeichnet nicht einen vorausliegenden Empfindungszusammenhang,
der dann sozial lediglich sekundär bearbeitet wird. Trauer wird ab ovo sozial

 Vgl. Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoreti-
sche Perspektive“, Zeitschrift für Soziologie 32 (2003): 282– 301.
 Einen Beitrag zu diesem Thema leistet eine empirische Studie des hier zu Ehrenden: Thorsten
Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler, Der Glanz des Lebens: Aschediamant und Erinne-
rungskörper (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019).
 Ehrhard Weiher, „Symbolische Kommunikation in Seelsorge und Spiritual Care“, in Bilder als
Vertrauensbrücken: Die Symbolsprache Sterbender verstehen, hg.v. Simon Peng-Keller (Berlin/
Boston: de Gruyter, 2017), 17– 34, 26.
Ein Abdruck im Sitzkissen 183

mitkonstituiert, entsteht, prozessiert, formt, bildet und variiert sich in den


Sphären sozialer Interaktion.“¹¹
„Die Toten sitzen mit am Tisch.“ So lautet der Titel eines Buches über die
Verlusterfahrungen verwaister Eltern.¹² Das Foto auf dem Einband dokumentiert,
was mit diesem Satz gemeint ist: Ein Esstisch ist für vier Personen gedeckt, ein
fünfter Platz aber ist ohne Teller und Besteck. Hier – so suggeriert das Bild – hat
einmal jemand gesessen, der nicht mehr da ist. Der leere Stuhl ist Thema im In-
terview mit einem Ehepaar, das über den Umgang mit dem Unfalltod seiner
Tochter spricht.¹³ Es ist der Blick auf den Stuhl, auf dem die Verstorbene früher
gesessen hat, der zur Auseinandersetzung provoziert. Was macht man mit einem
Stuhl, der wie immer am Esstisch der Familie steht, auf dem das verlorene Fa-
milienmitglied täglich und selbstverständlich Platz genommen hat und der nun
leer bleibt? Wenn der Blick der Lebenden darauf fällt, ist die Verstorbene für sie
ganz selbstverständlich da. Der Stuhl ist nicht mehr einfach ein Stuhl, sondern er
repräsentiert langjährige Szenen am Tisch, in denen die Tote mitgespielt hat.
Zugleich ist der leere Stuhl ein Zeichen ihrer Abwesenheit: Die junge Frau, die
einmal darauf gesessen hat, fehlt. Im unbenutzten Möbelstück ist die Anwesen-
heit der Tochter ebenso repräsentiert wie ihre Absenz. Der Umgang mit dem Stuhl
ist deshalb viel mehr als der funktionale Umgang mit einem Möbelstück; er ge-
winnt Signifikanz für die Beziehung zu einem verstorbenen Menschen. Damit
wird das Handeln und das Umgehen mit jenem zum wichtigen Teil des Trauer-
prozesses. Die Mutter der Verstorbenen sagt über die Veränderung am Esstisch der
Familie: „Also, schon auch real und optisch: Hier stehen vier Stühle am Tisch und
der fünfte Stuhl steht in der Ecke. Der ist durch die Haushaltshilfe da irgendwann
hingekommen. Den hätten wir nie vom Tisch weggestellt. Aber er steht nicht mehr
am Tisch.“¹⁴ Die Frage, ob der Stuhl stehenbleibt, ganz aus dem Zimmer ge-
nommen oder – wie in dem angesprochenen Fall – schließlich ein Stück weit vom
Tisch weggerückt wird, aber doch im Blick bleibt, ist keine Nebensache, sondern
steht für den Umgang mit Erinnerungen und mit dem Schmerz der Abwesenheit.
Andere Menschen – hier die Haushaltshilfe – spielen dabei absichtlich oder un-
absichtlich eine Rolle. Sie kann hilfreich sein, aber auch schmerzen und verär-
gern. Wenn z. B. ein Besucher auf diesem Stuhl Platz nimmt, hat das ein anderes
Gewicht als in den Zeiten, in denen die Eltern fest mit der Wiederkehr der Tochter

 Manuel Stetter, „Die Sozialität der Trauer: Erfahrungen des Verlusts in Zeiten der Pandemie“,
WzM 73 (2021): 390 – 402.
 Vgl. Dorothea Mecking, Die Toten sitzen mit am Tisch: Verlusterfahrungen von verwaisten Eltern
und ihr Umgang mit dieser Lebenskrise (Göttingen: Lit, 2016).
 Vgl. a.a.O., 151.
 Ebd.
184 Ulrike Wagner-Rau

gerechnet haben. Möglicherweise ist es für die Trauernden schmerzhaft, wenn ein
anderer Mensch die Verstorbene gewissermaßen von ihrem Platz verdrängt.
Eventuell fühlen sie sich verletzt durch diesen Vorgang. Möglich ist es aber auch,
dass sich mit einer solchen Handlung Momente einer Selbstverständlichkeit der
neuen Lebenssituation konstituieren. Schmerz oder Schuldgefühle, die den
Hinterbliebenen selbst den Umgang mit dem Stuhl erschweren, können dadurch
erträglicher werden. Vielleicht merken die Trauernden im Laufe der Zeit, dass der
Stuhl sich allmählich weniger zwingend mit dem Verlust der Tochter verbindet, er
immer mehr in seine funktionale Bedeutung als Möbelstück zurückgleitet.
In vieler Hinsicht spielt das Umgehen mit Gegenständen eine Rolle im Trau-
erprozess.Wenn die Kleidung der Verstorbenen ausgeräumt und weggegeben, das
Ehebett in ein Einzelbett verwandelt, das ganze Zimmer umgestaltet wird, wenn
die Wohnung leer geräumt, das Haus verkauft werden muss – oder eben dies alles
nicht geschieht, sondern die materielle Umgebung der Toten bewahrt und mu-
sealisiert wird: Beides macht etwas mit den trauernden Menschen, ist nicht ein-
fach Ausdruck ihres psychischen Zustandes, sondern erzeugt und prägt diesen
mit. Sie gehen nicht nur mit Gegenständen und Räumen um, sondern – in Ver-
bindung mit diesen – indirekt mit den Verstorbenen selbst und mit Szenen der
Vergangenheit, die über Artefakte und Räume zugleich ab- und anwesend sind.
Dabei fällt auf, wie unterschiedlich das Umgehen mit der sinnlich erfahrbaren
Repräsentanz der Toten ist: Manche Trauernden meiden lange die Berührung mit
allem, was spürbar die Toten gegenwärtig sein lässt. Sie umgehen die Räume und
Landschaften, in denen sie früher gemeinsam mit den Verlorenen unterwegs
waren. Sie wollen nichts sehen oder berühren, was sie an die Verstorbenen er-
innert – schon gar nicht den Leichnam selbst, der den Tod ganz unmittelbar
kenntlich macht. Andere wieder verhalten sich ganz gegensätzlich, suchen
handgreifliche Berührungspunkte mit den Verstorbenen und gehen – vermittelt
über Gegenstände, Räume, Körperempfindungen – mit der Repräsentanz der
Abwesenden um. Man muss diese unterschiedlichen Handlungsweisen nicht
bewerten.¹⁵ Sie sind individuell dem angepasst, was die Einzelnen für sich als
passend und erträglich imaginieren. Man wird aber wohl sagen dürfen, dass es
einer Stillstellung des Lebens gleichkäme, wenn die eine wie die andere Haltung
sich in einem statischen Zustand verfestigte und damit eine Zwangsstruktur an-
nähme, die dem Prozesscharakter der Trauer widerstrebt. Denn damit würde das
spielerische Tun, in dem die notwendige Umgestaltung des Lebens und seiner

 Insgesamt betont die Trauertheorie die Individualität des Trauerprozesses, die sich durch
Phasenmodelle nicht adäquat einfangen lasse und der auch Aufgabenmodelle nur begrenzt ge-
recht werden können. Vgl. Kerstin Lammer, Den Tod begreifen: Neue Wege in der Trauerbegleitung
(Göttingen: Neukirchener Theologie, 62013).
Ein Abdruck im Sitzkissen 185

sozialen Lage bearbeitet wird, zu einem Wiederholungszwang, der den Fortgang


der Geschichte verhindert. Indem das Tun der Trauer immer wieder in Bewegung
gerät, variiert und verändert wird, führt es in einen Zustand hinein, der neben der
bleibenden Verbindung mit den Verlorenen auch anderen Beziehungen und
neuen Lebensmöglichkeiten Raum lässt.
Die Bestattungsunternehmen nehmen das Wissen um die materielle Dimen-
sion der Trauer zum Teil offensiv und phantasievoll auf, indem sie zum Tun
einladen: zum Sitzen bei den Toten, zum Waschen und Bekleiden des Leichnams,
zum Bemalen und zum Schmücken des Sarges, zum gemeinsamen Gestalten der
Trauerfeier. Damit erweitern sie die Handlungen, die immer schon für Hinter-
bliebene wichtig gewesen sind: das Grab auszuwählen und die Kleidung, die der
oder die Tote tragen soll, den Blumenschmuck für den Sarg und später den Stein.
Auch die Grabpflege gehört in diesen Zusammenhang, aber ebenso das Umgehen
mit allen anderen materiellen „Resten“, die Verstorbene hinterlassen. Der un-
wiederbringliche Verlust materialisiert sich in solchen Handlungen, sie machen
ihn greifbar. Unablässig verweisen sie auf den Menschen, der nicht mehr am
Leben ist, sind ein Tun für ihn, für den nichts zu tun übrigbleibt, umkreisen seine
Abwesenheit, machen das Unbegreifliche „begreifbar“. Sie „bearbeiten“ im
wahrsten Sinn des Wortes die Trauer. Sie bringen sie nicht zum Verschwinden,
sondern sie stellen Umgangsweisen mit ihr dar.
Zugleich verstärkt sich im gegenwärtigen Wandel der Bestattungskultur eine
Tendenz zur Abstraktion: Der Leichnam ist bei der Trauerfeier oft nicht mehr im
Sarg dabei, sondern – nach der Kremation – nur noch die Asche in der Urne: eine
körperlose Substanz, die nicht einmal eine genetische Identifikation der Toten
ermöglicht. In vielen Fällen bleibt auch das Grab anonym. Das ist der Kontext, in
dem die Repräsentation der Verstorbenen im Foto immer häufiger zu finden ist,
die eigentlich im mitteleuropäischen Kulturraum wenig verbreitet war. Nicht nur
in den Wohnräumen und Taschen der Trauernden finden sich solche Fotos,
sondern auch bei den Trauerfeiern selbst. Sie stehen neben der Urne und erinnern
daran, dass es einst einen lebenden Menschen gegeben hat, einen Körper von
spezifischer Gestalt und zahlreiche Szenen gemeinsamer Praxis, die nun an ihr
Ende gekommen sind.

3 Fotos der Verstorbenen


Seit ihrer Erfindung kennzeichnet die Fotografie ein besonderes Verhältnis zum Tod und zu
den Toten. Wie westliche Fototheoretiker – z. B. Siegfried Kracauer, Susan Sontag und Ro-
land Barthes – betont haben, besitzt das Medium Fotografie eine besondere Nähe zum Tod.
[…] Weil ein Toter und eine fotografierte Person Starrheit und Schweigen teilen, scheint es,
186 Ulrike Wagner-Rau

als ob die Toten überall auf der Welt in der Fotografie ein etwas unheimliches Medium ge-
funden haben, das sie als tot darstellt und gleichzeitig ihre Wiederauferstehung feiert.¹⁶

So schreibt die Ethnologin Heike Behrend.


Tatsächlich ist es eine Zwischenstellung zwischen Leben und Tod, die Roland
Barthes als das Wesen der Fotografie herausstellt. Dabei betont er nicht so sehr
das Aufrufen der Erinnerung in der Betrachtung des Bildes, wie es oben im
Rückgriff auch die Theorie des szenischen Erlebens geschehen ist, sondern viel-
mehr, dass das fotografische Abbild der Garant für die tatsächliche Anwesenheit
der abgebildeten Person ist – zwar vergangen, aber im Foto dokumentiert. „Die
Photographie ruft nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis zurück […] Die Wir-
kung, die sie auf mich ausübt, besteht nicht in der Wiederherstellung des (durch
Zeit, durch Entfernung) Aufgehobenen, sondern in der Beglaubigung, daß das,
was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist.“¹⁷ So zeige die Fotografie „auf der einen
Seite ‚das ist nicht da‘, auf der anderen ‚aber das ist sehr wohl dagewesen‘.“¹⁸
Folgt man diesem Gedanken, so hätte das Foto neben der Urne vor allem die
Bedeutung, die Realität des vergangenen Lebens zu bezeugen und damit in einer
Situation, in der die Realität ins Schwanken gerät, eine gewisse Sicherheit her-
zustellen. Die Person, so zeigt das Bild, die jetzt nicht mehr greifbar ist, hat es
wirklich gegeben. Dies kann bedeutsam sein, wenn der Körper der Verstorbenen
nicht mehr greifbar ist. Aber ebenso legt das Foto als ein Abbild offen: Der oder die
Verstorbene ist nicht mehr da. Die Situation, in der man ein Foto von ihm*ihr
aufnehmen konnte, ist vorüber.
Susan Sontag betont stärker den Ausschnittcharakter der Fotografie. Sie sieht
in den Bildern nicht so sehr „Aussagen über die Welt als Bruchstücke der Welt“¹⁹
D. h. sie zeigen nicht die Realität, sondern einen bestimmten – manipulierten –
Blick darauf. Aber auch ihr geht es um die Gleichzeitigkeit von An- und Abwe-
senheit, die im Foto repräsentiert ist: „Ein Foto ist zugleich Pseudo-Präsenz und
Zeichen der Abwesenheit.“²⁰ Familienbilder, so konstatiert sie, übernehmen dabei
die Funktion, die in der Realität schwindende familiäre Verbundenheit zu be-
zeugen. „Als jene klaustrophobische Einheit, die Kernfamilie, aus einem sehr viel
umfassenderen Familienkollektiv herausgelöst wurde, beeilte sich die Fotografie,

 Heike Behrend, Menschwerdung eines Affen: Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung
(Berlin: Matthes & Seitz, 2020), 245.
 Roland Barthes, Die helle Kammer (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985), 92.
 A.a.O., 126.
 Susan Sontag, „In Platos Höhle“, in Über Fotografie, hg.v. dies (Frankfurt a. M.: Fischer-Ta-
schenbuch-Verl., 1995), 9 – 30, 10.
 A.a.O., 22.
Ein Abdruck im Sitzkissen 187

die gefährdete Kontinuität und den schwindenden Einflußbereich des Familien-


lebens festzuhalten und symbolisch neu zu formulieren. Jene geisterhaften Spu-
ren, die Fotografien, sorgen jetzt für die zeichenhafte Präsenz der verstreuten
Angehörigen.“²¹ Bilder haben in dieser Deutung ihre Funktion in der Bearbeitung
verunsicherter Lebensverhältnisse. Insgesamt, so Sontag, bearbeite das Foto-
grafieren die Angst in Veränderungen. „Wie die toten Angehörigen und Freunde
im Familienalbum, deren fotografische Präsenz etwas von der Angst und Reue
vertreibt, die ihr Hinscheiden ausgelöst hat, verschaffen uns Fotos von abgeris-
senen Stadtvierteln, von entstellten und unfruchtbar gemachten ländlichen Ge-
genden eine auf Taschenformat geschrumpfte Beziehung zur Vergangenheit.“²²
Das Foto „verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann“²³.
Und: „Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit,Verletzlichkeit und
Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge).“²⁴
Auch diese Überlegungen erhellen etwas von der möglichen Funktion der
Fotos der Verstorbenen. Die Bilder stellen eine Verbundenheit her, die es vermag,
die verwirrenden und beängstigenden Gefühle nach einem Todesfall etwas zu
beruhigen. Sie sind materielle Verweise auf eine Beziehung, die ebenso an ihr
Ende gekommen ist wie sie auch fortbesteht.
Dabei ist das symbolische Moment der Beziehung zum Foto bzw. zum Men-
schen auf dem Foto mehr als eine Täuschung. Das Foto ist nicht „nur ein Sym-
bol“²⁵, sondern ein Gegenüber, mit dem es auch ein Gespräch und eine Ent-
wicklung der Beziehung geben kann. So berichtet der Vater über die
Auseinandersetzung mit dem Bild seiner Tochter: „… das steht ja auch ziemlich im
Weg zum Wohnzimmer, also, da kommt man auch öfter dran vorbei, aber
manchmal geht man auch einfach, ich jedenfalls, einfach dran vorbei. In der
Anfangszeit gab’s dann auch irgendwelche stummen Dialoge mit ihr: Musste das
denn jetzt so sein, Kind?“²⁶ Die materielle Repräsentanz der Toten, so wird hier
deutlich, provoziert zum Kontakt und zur Auseinandersetzung mit der Verstor-
benen. Manche Trauernde berichten davon, dass sie am Grab mit den Toten
sprechen. Man kann vermuten, dass ähnliche Verhaltensweisen auch durch Er-
innerungsstücke ausgelöst werden, die mit dem verlorenen Menschen in Ver-
bindung stehen. Der Kontakt zum konkreten Ort oder zum greifbaren Artefakt

 A.a.O.,14 f.
 A.a.O., 22.
 A.a.O., 20.
 A.a.O., 21.
 Vgl. Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, Ullstein Buch 318 (Frankfurt/Berlin/Wien:
Ullstein, 1975), 75.
 D. Mecking, Die Toten sitzen mit am Tisch, 168.
188 Ulrike Wagner-Rau

unterstützt die Beziehungsaufnahme zu den Toten. Es bietet ein Gegenüber, mit


dem man sprechen und sich austauschen kann, ja: welches in mancher Hinsicht
sogar „antwortet“, so dass die Beziehungsgeschichte sich weiterentwickelt und
verwandelt.

4 Materialität als wesentliches Moment der


religiösen Trauerpraxis
In den Berichten über den Trauergottesdienst für die 150 Opfer des vom Piloten
absichtlich herbeigeführten Absturzes der Germanwings-Maschine am 24. März
2015 wurde in den Medien fast durchgehend über die – von Menschen mit Be-
hinderungen in einer russischen Werkstatt gefertigten – Holzengel berichtet, die
auf jedem Platz lagen und auch im Gottesdienst eine Rolle spielten. „Ein Engel –
für Dich. Halten und gehalten werden.“ Dieses Motto begleitete die Figur. Auch in
der folgenden Zeit blieb die Nachfrage nach diesen Engeln hoch.²⁷ Das Angebot
zeugt vom Bewusstsein für die Bedeutung materieller Repräsentanz in liturgi-
schen Vollzügen und in der Seelsorge.
Die religiöse Praxis lebt in vieler Hinsicht von Zeichen, die auf Abwesendes
verweisen: auf Gott, auf Hoffnung und Trost in der Not, auf Begleitung und Halt.
Sie geht mit Mitteln gegen die Angst um, deren Faktizität hinterfragt und in
Zweifel gezogen werden kann, denen aber zugleich offenkundig Wirksamkeit
eignet. Sprachliche Ausdrucksformen, die über sich hinausweisen, spielen dabei
eine wesentliche Rolle. Aber auch materielle Zeichen von Transzendenz werden in
den religiösen Formen des Trostes gesucht und gebraucht. Den Engel in die Hand
zu nehmen, bewirkt etwas in einer Situation, die als starke Verunsicherung der
Lebensgewissheit empfunden wird. Ähnlich finden Menschen Halt im Aufsuchen
eines Kirchraums oder im Entzünden einer Kerze.²⁸
Ein Erklärungsmodell dafür ist die Theorie des Übergangsobjektes. Donald W.
Winnicott beschreibt die haltende Bedeutung des Kuscheltiers, des Bettzipfels,
aber auch körperlicher Praktiken wie Summen oder Schaukeln, die für das

 Vgl. https://www.evangelisch.de/inhalte/121136/21-04-2015/holzengel-vom-trauergottes
dienst-fuer-flugzeugabsturz-opfer-koeln-koennen-jetzt-bestellt-werden, Lesedatum:13.10. 2021.
 Vgl. Ulrike Wagner-Rau, „Angedeuteter Glaube: Kerzen im Kirchenraum“, in Das Christentum
hat ein Darstellungsproblem, hg.v. Tobias Braune-Krickau, Katharina Scholl und Peter Schüz
(Freiburg i.Br.: Herder, 2016), 207– 215.
Ein Abdruck im Sitzkissen 189

Kleinkind die abwesende Elternfigur repräsentieren.²⁹ Das Objekt steht für, aber
ist nicht die geliebte Person. Es vermittelt zwischen dem Wunsch, nicht allein zu
sein und der beängstigenden Realität der Abwesenheit der Eltern. Ähnlich, so
Winnicott, finden auch Erwachsene in vielfältigen kulturellen Manifestationen
Halt und Beruhigung ihrer Ängste, die aus der Differenz zwischen inneren Be-
dürfnissen und den Gegebenheiten der äußeren Realität erwachsen. Im kultu-
rellen Spiel erfinden Menschen – und finden sie zugleich vor – soziale Über-
gangspraktiken, die das Ertragen von Kontingenz ermöglichen. In ihrem
Zusammenhang spielen Artefakte, Körper, Räume eine wesentliche Rolle, die
durch den wissenschaftlichen Diskurs über Materialität neue Bedeutsamkeit er-
halten.
In den öffentlichen Trauergottesdiensten aus Anlass von Katastrophen findet
die materielle Dimension entsprechende Aufmerksamkeit.³⁰ Wichtig sind zum
Beispiel die Kerzen, die für die Toten aufgestellt werden: Zeichen ihrer Abwe-
senheit ebenso wie einer religionsübergreifenden Hoffnung auf ihre Fortexistenz
„im Licht“. Das in den letzten Jahrzehnten auch in der protestantischen Prakti-
schen Theologie und kirchlichen Praxis gewachsene Interesse für die ästhetische
Dimension liturgischen Handelns und die Vielfalt gottesdienstlicher Sprachen³¹
rückt die Bedeutung der Materialität neu in den Blick. In den Gottesdiensten am
Toten- bzw. Ewigkeitssonntag wird das Verlesen der Namen der Verstorbenen in
den meisten Gemeinden mit dem Anzünden einer Kerze begleitet. Diese Praxis
wird auch zunehmend individuell an den Gräbern vollzogen, und zwar nicht nur
in katholisch geprägten Gegenden und nicht nur im November, sondern auch an
anderen Tagen, z. B. am Heiligen Abend. Ebenso findet sich bei vielen Trauer-
feiern eine Tendenz zur Ausweitung von Praktiken, die zu einem Tun der Trauer
einladen. Auch hier werden Kerzen entzündet oder Blumen gebracht. Zuweilen
versammeln sich die Trauernden um den Sarg oder berühren ihn zum Abschied.
Im monatlichen Totengedenken im Erfurter Dom, das von Weihbischof Reinhard
Hauke entwickelt wurde, besteht die Möglichkeit, den Namen der Verstorbenen in
ein „kostbares Buch“ einzuschreiben. „Beim Lesen des Namens wird der Mensch
in den Gedanken lebendig.“ So heißt es auf der entsprechenden Homepage.³²

 Vgl. Donald W. Winnicott, „Übergangsobjekte und Übergangsphänomene“, in Von der Kin-


derheilkunde zur Psychoanalyse, hg.v. dems. (Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verl., 1983),
300 – 319; Ellen Stubbe, Die Wirklichkeit der Engel in Literatur, Kunst und Religion (Münster: Lit,
1995).
 Vgl. Kristian Fechtner und Thomas Klie (Hg.): Riskante Liturgien: Gottesdienste in der gesell-
schaftlichen Öffentlichkeit (Stuttgart: Kohlhammer, 2011).
 Vgl. Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik (Berlin/New York: de Gruyter, 2004), 27– 57.
 Vgl. http://www.dom-erfurt.de/index.php?article_id=37, Lesedatum: 14.10. 2021.
190 Ulrike Wagner-Rau

Ebenso wird man sagen können: Bereits im Schreiben des Namens ist der oder die
Tote repräsentiert. Eingetragen ins „kostbare Buch“ erhält der Name noch einmal
eine besondere Dignität, wird etwas von der Bewahrung der Toten, deren Namen
ins „Buch des Lebens“ eingeschrieben sind, greifbar.³³
Diese kirchlichen liturgischen Vollzüge haben in vielen Fällen ein Pendant im
privaten Raum. Auch dort stellen die Trauernden Kerzen und Blumen auf, be-
rühren hinterlassene Gegenstände, nennen, schreiben und lesen den Namen der
Verstorbenen im sozialen Austausch mit anderen, nicht zuletzt wenn sie Konten
und Verträge auflösen und insgesamt vollziehen, was in einem Trauerfall zu re-
geln ist. Alltägliches und gottesdienstliches Handeln haben im Tun der Trauer
vielfältige Berührungspunkte, gehen in mancher Hinsicht ineinander über.
Eine geschärfte Aufmerksamkeit für die materiellen Spuren der Absenz
scheinen mir im Blick auf Trauerprozesse erhellend zu sein zu sein. Denn diese
Spuren führen in den Zwischenraum von An- und Abwesenheit, in dem konkre-
tistische Antworten auf die Frage nach dem Verbleib der Toten keinen Bestand
haben. Weder sind die Verlorenen völlig verschwunden, noch sind sie da. In
diesem Spannungsfeld lebt das Spiel mit Handlungsformen und Vorstellungs-
welten, die Überzeugungskraft aus ihrer Deutungsoffenheit gewinnen. Man tut
etwas, aber kann nicht genau bestimmen, was eigentlich der reale Kern davon ist.
Etwas Ort- und Zeitloses wird in einer Handlung berührt, aber lässt sich nicht
festhalten. Es wird eine Dimension greifbar, die Tote und Lebende zusammenhält,
aber sie zeigt sich als Abwesenheit, als Leerstelle.
„Er ist nicht hier.“ Auch die christliche Hoffnung beginnt mit einer materi-
ellen Spur der Absenz. Das Grab ist leer, der Leichnam verschwunden. Erst später
kommen die Begegnungen mit dem Auferstandenen, die aber etwas Flüchtiges
behalten, sich nicht festhalten lassen. Der Auferstandene erscheint und ent-
schwindet durch die verschlossenen Türen. Das Brot wird geteilt und gegessen,
aber dann sind die Jünger wieder allein. Die kleinen Szenen konstellieren sich
und lösen sich wieder auf. Sie werden weitererzählt, das ist wichtig, aber das
Erleben selbst wird damit nicht eingeholt.
Das Umgehen mit den materiellen Spuren der Absenz umkreist eine Wirk-
lichkeit, auf die wir unmittelbar keinen Zugriff haben. Diese Spuren wahrzu-
nehmen und sich auf sie einzulassen, verweist auf die Toten ebenso wie auf Gott.
Sie rufen in der Praxis selbst auf, was sprachlich letztlich nicht zu fassen ist. Sie
lassen die Gestorbenen auf ihre Weise lebendig sein, ohne zu leugnen, dass sie

 Vgl. zum biblischen Vorkommen diese Vorstellung https://www.bibelwissenschaft.de/filead


min/buh_bibelmodul/media/wibi/pdf/Buch_des_Lebens2018-12-032100.pdf, Lesedatum:14.10.
2021.
Ein Abdruck im Sitzkissen 191

entschwunden sind. Sie machen den Schmerz körperlich spürbar und auch den
Halt und die Hoffnung, die im Prozess der Trauer schließlich den Schmerz be-
grenzen und über ihn hinausführen.
Antje Mickan
Stein und Raum
Ein funerales Kommunikations- und Erinnerungsmedium im
Gebrauch

1 Intro
Bis vor kurzem hatte ich ihn nur mal im Vorübergehen betrachtet und mir gar
nicht vorstellen können, wie sich die Beziehung noch gestalten würde. Nun rede
ich ihn im Geiste schon mit „Joachim“ und „du“ an. Alles begann damit, dass ein
in der Familie weitergegebenes Buch mit erbaulichen Schriften bei mir zu Hause
ankam.¹ Ich schlug es auf und erblickte auf der zweiten Seite, am unteren Rand
einer aufwendigen Kupferstich-Illustration von Johann Georg Bäck² das Porträt
eines mir bekannt vorkommenden Herrn mit modischem Erscheinungsbild wie
aus einem Mantel-und-Degen-Film: Joachim Lütkemann (1608 – 1655), General-
superintendent zu Wolfenbüttel und, wie sich leicht in Erfahrung bringen ließ,
nicht nur ehemals Theologie-Professor der Rostocker Universität, sondern später
auch Abt des Klosters Riddagshausen.³

 Es handelt sich um den 1669 erstmals erschienenen Band: Heinrich Müller und Joachim Lüt-
kemann, D. Heinrici Müllers, Theolog. Profess. Senior. und Superintend. zu Rostock, Evangelischer
Hertzens-Spiegel. Oder: Geistreiche Erklärung und Betrachtung der Son- und Fest-täglichen Evan-
gelien, wie auch beygefügten Passions-Predigten, und D. Joachimi Lütkemanns, Superint. Generaliss
zu Wolfenbüttel, Apostolische Aufmunterung zum lebendigen Glauben in Christo Jesu, nach dem Sin
und Anleitung der gewöhnlichen Son- und Fest-täglichen Episteln, nebst einer Vorrede, welche der
sel. D. Martin Luther ehemals vor seine Kirchen-Postil gemachet, und billig von allen, welche Er-
klärungen der Evangelischen Texte mit Nutzen betrachten wollen, sol gelesen werden (Lüneburg:
1790). – H. Müller (1631– 1675) war ein Schüler J. Lütkemanns (s.u., FN 3), Pastor an der Rostocker
St. Marien-Kirche und Theologie-Professor an der Rostocker Universität. Vgl. Christian Deuper,
Theologe, Erbauungsschriftsteller, Hofprediger: Joachim Lütkemann in Rostock und Wolfenbüttel
(Wiesbaden: Harrassowitz, 2013), 127.
 Der doppelseitige Kupfertitel des Bandes trägt die Signatur „I. G. Bäck Sculp: Braunsch.: 1721“.
Zum auch unter dem Namen „Beck“ bekannten Künstler vgl. Ludwig Ferdinand Spehr, „Beck,
Johann Georg“, Allgemeine Deutsche Biographie 2 (1875): 215 (online abrufbar unter https://www.
deutsche-biographie.de/pnd122090292.html#adbcontent, Lesedatum: 12.11. 2021).
 J. Lütkemann wurde am 15.12.1608 in Demmin/Pommern als Sohn eines Apothekers und
Bürgermeisters geboren. Er studierte in Greifswald und Straßburg, 1639 erfolgte seine Wahl zum
Diakon von St. Jacobi zu Rostock. Ein Jahr später, nach dem Tod von Zacharias Deutsch, erhob

https://doi.org/10.1515/9783110762853-013
194 Antje Mickan

Hier in der Klosterkirche am östlichen Rand Braunschweigs, an der ich auf


alltäglichen Spaziergängen vorbeikomme, musste sich eine erste Begegnung er-
eignet haben. Meine Neugierde war geweckt und die Suche nach anfänglicher
Enttäuschung schließlich doch erfolgreich. Eine zuverlässige Informandin versi-
cherte,⁴ dass Lütkemann in der zweiten Kapelle von rechts des östlichen Chor-
umgangs begraben sei. Seine Grabplatte war allerdings zwischenzeitlich mit
Teilen eines Bühnenpodestes zugestellt, die Ausgrabung aber möglich. Etwas
schwarz im Gesicht – fast wie schwarz vor Ärger ob der erfahrenen Behandlung –
zeigte sich Joachim Lütkemann lebensgroß, plastisch aus dem Stein hervorge-
hoben in seiner amtlichen Kleidung und Haltung: ein beglückender Moment.
Dieser Moment zog weitere Nachforschungen zur Person, Lektüren von Lütke-
manns erbaulichen Schriften⁵ und – seit die Kapellen des Chorumgangs nicht
mehr als Abstellräume genutzt werden – etliche Besuche „bei ihm“ in Riddags-
hausen nach sich. Zu einer weitergehenden Entzifferung der verwitterten Grab-

man ihn dort ins Amt des Archediakons und er heirate die Witwe seines Vorgängers. Ab 1643
unterrichtete Lütkemann an der Rostocker Universität Physik und Metaphysik, ab 1646, nachdem
er in Greifswald das theologische Licentiat erworben hatte, auch Theologie. Er wurde Rektor der
Universität und erlangte 1647 in Greifswald den theologischen Doktorgrad. 1649 erhielt eine von
ihm in einer Disputation vertretene christologische Lehraussage die Zensur. Lütkemann ließ sie
dennoch drucken, musste das Land verlassen und erhielt einen Ruf nach Wolfenbüttel. Ab 1651
war er auch Abt von Riddagshausen. Neuordnung nach Ende des Dreißigjährigen Krieges war sein
hauptsächliches Tätigkeitsfeld. Er erarbeitete eine Katechismuslehre, beteiligte sich an der Ver-
fassung einer neuen Schulordnung und Kirchenordnung und blieb ein regentenkritischer Pre-
diger. Lütkemann starb am 18.10.1655. Vgl. überblickend Jill Bepler, „Lütkemann, Joachim“, in
Braunschweigisches Biographisches Lexikon. 8. bis 18. Jahrhundert, hg.v. Rüdiger Jarck u. a.
(Braunschweig: Appelhans, 2006), 465 f.; mit ausführlicher Darstellung des Rostocker Disputs vgl.
Johann Bernhard Krey, Andenken an die hiesigen Gelehrten aus den letzten drei Jahrhunderten:
Zweites Stück: In welchem weiter ausgeführt sind die Lebensumstände von J. Slüter. J. Oldendorp: A.
Burenius. J. Caselius. N. Chyträus. Jac. Bording der Jüng. J. Quinstorp der Aelt. J. Tarnow. J. Lütke-
mann. Th. Großgebauer. H. Müller. J. Fecht (Rostock: 1813), 46 – 50; zum Grab vgl. Tilmann Schmidt,
„Joachim Lütkemann: Geistlicher Berater des Herzogs August des Jüngeren von Braunschweig-
Wolfenbüttel: Seine Grabstätte in Riddagshausen“, Braunschweigische Heimat 62 (2) (1976): 56 – 58
sowie ausführlich Ch. Deuper, Theologe, 31– 117.
 Für ihre kundige, umfangreiche Auskunft sei an dieser Stelle Griseldis Knisch, Leiterin des
Zisterziensermuseums Riddagshausen, gedankt.
 Neben J. Lütkemanns o.g. Apostolischer Aufmunterung ist von Einfluss gewesen besonders
Joachim Lütkemann, Der Vorschmack göttlicher güte durch Gottes gnade, von Joachimo Lütkemann
vorgetragen (Wolfenbüttel: 1653). – Im Katalog der Rostocker Universitätsbibliothek werden aktual
etliche Werke Lütkemanns als Ablichtungen lizenzfrei digital zur Verfügung gestellt. – Zu Lüt-
kemanns Bedeutung für das evangelische Kirchenlied vgl. Ch. Deuper, Theologe, 134– 139, 144–
154.
Stein und Raum 195

platten-Schriftgravur habe ich mich noch nicht bemühen können,⁶ denn wenn ich
dort bin, hänge ich am steinernen Bild, schaue mir die verwitterte Nase an, seine
hier ernsten Gesichtszüge, die Hände mit ihrer Haltung, die Schleifen-Schuhe mit
Absätzen. Ist gerade keiner da, beginne ich ein Gespräch über den schönen
Garten, zu dem Joachims Fenster gerichtet ist, über seine Ehefrau, wo die wohl
begraben liegen mag,⁷ über die Rostocker Fakultät und den Wolfenbütteler Her-
zog August den Jüngeren, der ihn dankenswerterweise hierher berief, wenig bevor
man ihm in Mecklenburg wegen theologischer Lehraussagen einen Landesver-
weis erteilte:⁸ Joachim Lütkemann vertrat die Ansicht, dass Christus während
seiner drei Tage im Grab kein wahrer Mensch war, denn im Tode trennten sich Leib
und Seele, so dass ein Leichnam kein Mensch sei. Dies gelte auch für den
wahrhaft toten Christus zwischen Kreuzigung und Auferstehung.⁹ Was hätte
dieser Professor und Abt zu Lebzeiten nur davon gehalten, dass über dreieinhalb
Jahrhunderte nach seinem Tod einmal jemand zu seinem Bildnis redete, als wäre
er da? Also lassen wir das Spiel¹⁰ und untersuchen theoretisch, wie es dazu
kommen konnte und ob sich daraus etwas über Funktionsweisen und Sinn von
Grabsteinen erschließen lässt. Zwar ist unter den Grabsteinen die Platte mit le-
bensgroßem Halb-Relief einer verstorbenen Person eindeutig eine besondere,
heute unübliche Ausführung, die auch in früheren Zeiten nur für Wenige infrage
kam.¹¹ Doch gerade an einem derart reichhaltig ausgestatteten Exemplar mit der

 Eine Wiedergabe der Inschrift findet sich bei T. Schmidt, „Lütkemann“, 56: „Joachimus Lut-
kemann, theol. doctor, ecclesiarum in ducatu Guelphico superintendens generalissimus, abbas
coenobii Riddageshusani, vir eruditione insignis, candore plenus, zelo admirabilis, natus Dem-
min Pomer. MDCVIII d. XV. decembr., publice voce et scriptis docuit annos XVI, exacto nondum
XLVII vitae anno relictaque optima coniuge et liberis VI superstitibus defunctus MDCLV d. XVI.
octobr. Ossa et sineres tegit h(oc) m(onumentum), quod Dorothea Lewezowen marito dulcissimo
p(osuit).“
 „Dorothea Lütkemann geht 1665 nach Rostock zurück, wo sie am 8. Februar 1666 verstirbt.
Heinrich Rudolph Redecker d.Ä. (1625 – 1680) hält im Namen der Universität eine Trauerrede auf
die Witwe des einstigen Kollegen.“ Ch. Deuper, Theologe, 57.
 Vgl. J. Bepler, Lütkemann, 466.
 Zu den Rostocker christologischen Streitigkeiten und Lütkemanns theologischer Position vgl.
Ch. Deuper, Theologe, 75 – 112, ferner J.B. Krey, Andenken, 47– 49.
 Zu einer spieltheoretischen Perspektive auf Möglichkeiten friedhöflicher Praxis vgl. Antje
Mickan, „Deutungsspiel und Sinnsorge im sepulkralen Zeichenraum: Der Friedhof als Identität
signifizierender Ort und Bezugsraum von Seelsorge“, Zeitschrift für Sepulkralkultur: Friedhof und
Denkmal 60 (2/3) (2015): 41– 44.
 Zur mittelalterlichen Bestattung in Kirchen vgl. Barbara Happe, Der Tod gehört mir: Die Vielfalt
der heutigen Bestattungskultur und ihre Ursprünge (Berlin: Reimer, 2012), 17– 31. Zur Bestattung in
protestantischen Kirchen bis ins 19. Jahrhundert mit exemplarischer Untersuchung der Rostocker
Marienkirche vgl. Kristin Skottki, Denn die Toten sind unvergessen: Zu den Grabmälern der Ma-
196 Antje Mickan

Untersuchung zu beginnen, verspricht die Generierung zahlreicher Hypothesen,


die auf Eigenschaften und Gebrauchsmöglichkeiten von Grabsteinen im Allge-
meinen hinweisen könnten.¹²

Abb. 1: Porträt von J. Lütkemann, Ausschnitt aus Kupfertitel von I.G. Bäck (Braunschweig:
1721), in: H. Müller u. J. Lütkemann, Herztens-Spiegel u. Aufmunterung

rienkirche in Rostock (Rostock: Universität Rostock, 2010). Zur plastischen Gestaltung vgl. Sylvina
Zander, „Das figürliche Grabmal vom Barock bis zum Zweiten Weltkrieg“, in Grabkultur in
Deutschland, hg.v. Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Museum für Sepulkralkultur
(Berlin: Reimer, 2009), 67– 93, hier 68 – 71.
 Wenn es um Fragen der Artefaktanalyse geht, folgt dieser Beitrag soweit möglich Manfred
Lueger und Ulrike Froschauer, Artefaktanalyse: Grundlagen und Verfahren (Wiesbaden: Springer
VS, 2018). Eine gehaltvollen Forschungsüberblick zum (religions‐)soziologischen Materialitäts-
diskus bieten Uta Karstein und Thomas Schmidt-Lux, „Die materiale Seite des Religiösen: So-
ziologische Perspektiven und Ausblicke,“ in Architekturen und Artefakte: Zur Materialität des
Religiösen, hg.v. dies. (Wiesbaden: Springer VS, 2017), 3 – 22.
Stein und Raum 197

Abb. 2: Grabplatte von J. Lütkemann (1608 – 1655), Klosterkirche Riddagshausen (Ausschnitt).


Foto: Antje Mickan

2 Auswertung eines Selbstversuchs


Bei der Nutzung der obigen Eingangsszene – sie hat sich abgesehen von einer
gewissen Überzeichnung realiter ereignet – als empirisches Material qualitativer
Forschung stellt sich als erstes die Frage, wie der ausschlaggebende Impuls be-
schrieben werden kann, der zur kommunikativen Praktik mit Bezug zum sepul-
kralen Artefakt führte. Erst im zweiten Schritt wird dann die Grabplatte mit ihrer
Situierung detaillierter in den Blick kommen und sich Fragen danach anschlie-
ßen, welche Gebrauchs- und Kommunikationsangebote aus einer möglichst ob-
198 Antje Mickan

Abb. 3: Grabplatte von J. Lütkemann (1608 – 1655) am originalen Begräbnisort, Klosterkirche


Riddagshausen. Foto: Antje Mickan

jektiven Perspektive¹³ von diesem Artefakt ausgehen, sowie danach, welche Ge-
brauchsbedingungen und Sinngebungen durch den Grabort vorstrukturiert wer-
den.

 Die Einhaltung eines reflexiven Abstands, Selbstbeobachtung und Begründung der gebilde-
ten Hypothesen sind die hierzu eingesetzten Mittel. Dass ein deutliches Maß an Subjektivität
dennoch bleibt, sei angemerkt. Zu dieser Problematik qualitativer Sozialforschung vgl. z. B. Aglaja
Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung: Ein Arbeitsbuch (München:
Oldenbourg Verlag, 42014), 26 – 28.
Stein und Raum 199

2.1 Raumsynthese als aktivierender Impuls einer


Praktikentwicklung
Das handelnde Subjekt des hier untersuchten Fallbeispiels reagiert nicht auf eine
interaktiv erfahrene Anleitung oder Anfrage, sondern aufgrund eines Wiederer-
kennens und Neuerkennens, das sich bei der erinnernden Relationierung von
zwei Abbildern ein und derselben historischen Person ereignete. Es ist daher
angemessen von einer Akteurin und ihrer Entwicklung einer schließlich auf das
materiale Ding „Grabplatte“ bezogenen Praktik zu sprechen. Anzunehmen ist,
dass sie dabei auch auf erlernte Fertigkeiten und Konzepte zurückgreift.¹⁴
Bei früheren Besuchen in der Klosterkirche Riddagshausen hatte die Akteurin
die Grabplatte Lütkemanns zwar wahrgenommen, dieser jedoch weder eine
ortsunabhängige Bedeutung beigemessen, noch ein über den Moment der Be-
trachtung hinausreichendes Interesse an der Person des Abtes gefunden. Das
Porträt Lütkemanns im alten Folianten dagegen stand vom ersten Erblicken an in
Zusammenhang mit Narrationsfäden, an die die Akteurin anschließen konnte:
Das Buch mit dem Porträt und erbaulichen Schriften war ein persönlich weiter-
gegebenes Familienerbstück mit authentischen Worten des Porträtierten. Der
historische Mensch Lütkemann wurde schon bei der Buchweitergabe vorgestellt
als jemand mit Bezug zu Orten, die der Akteurin vertraut sind. Und es wurde bei
ihr eine Erinnerung aktiviert, die besagte, dass sie wohl schon mehr als einmal an
der originalen, sich in der erweiterten Nachbarschaft befindenden Grabstelle des
Abtes gestanden hatte. Als dann auch noch eine eigene Nachforschung und
„Ausgrabung“ erfolgreich war, verstärkte dies wahrscheinlich die Manifestation
der Beziehung zur Grabplatte mit ihrem Signifikat „Lütkemann“ noch. Unter
Anwendung einer raumtheoretischen Perspektive, die Raum relational als Mani-
festationsaspekt von Beziehungen versteht,¹⁵ der sich im Wechsel zwischen Po-
sitionierungen von etwas zu etwas anderem (Spacing) und dem wahrnehmenden
Deuten dieses Zueinander als etwas (Syntheseleistung) konstituiert,¹⁶ zeigt sich

 Vgl. Torsten Cress, Sakrotope: Studien zur materiellen Dimension religiöser Praktiken (Bielefeld:
Transcript, 2019).
 Vgl. Matthias D. Wüthrich, Raum Gottes: Ein systematisch-theologischer Versuch, Raum zu
denken (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015), 76, 84, 439. Zum relational gedachten Raum
in Abgrenzung zu Raumvorstellungen, die einem Container-Modell folgen vgl. Ebd., 34– 36, 45 f.
sowie zu einer Abgrenzung absolutistischer und relativistischer Raumvorstellungen voneinander
vgl. Martina Löw, Raumsoziologie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001), 24– 35.
 Spacing und Syntheseleistung sind die von M. Löw herausgearbeiteten, zu differenzierenden
raumkonstitutiven Prozesse einerseits der (An)Ordnung, andererseits der subjektiven Wahrneh-
mung, Deutung, Konstruktion, vgl. M. Löw, Raumsoziologie, 158 – 161.
200 Antje Mickan

die Raumsynthese der Akteurin als ausschlaggebend für ihr Praktizieren. Mit dem
Buch und Porträt, der Grabstelle, deren Umgebung und dem Spazierweg dorthin
als wesentlichen Elementen synthetisiert sie einen Raum, der insgesamt für einen
spezifischen Erzählzusammenhang steht und in dem sie agieren kann. Speziell
seit der erfolgreichen Grabpatten-Wiederentdeckung ist dieser Raum mit positiven
Emotionen verbunden, welche die Erinnerungen färben. Durch die vorgenom-
mene Verknüpfung bilden die Raumeinrichtungselemente in der Wahrnehmung
der Akteurin Erinnerungsmedien füreinander. Das Sehen des Buches mit Lütke-
manns „Aufmunterungen“ zu Hause auf dem Tisch löst also ein mentales Bild der
Grabstelle aus, die über einen schönen Spazierweg leicht zu erreichen ist. Die
wiederum hat durch ihre originale Relation zu Lütkemann in diesem Raum eine
herausragende Bedeutung und soll nun näher vorgestellt werden.

2.2 Die Grabplatte von Joachim Lütkemann in der


Klosterkirche Riddagshausen
Die Steinplatte mit dem lebensgroßen Abbild von Lütkemann befindet sich noch
immer über der Stelle, wo der Abt 1655 bestattet wurde,¹⁷ mittig in einer Kapelle an
der Ostseite der Klosterkirche mit dem Haupt nach Osten ausgerichtet.¹⁸ Wie der
letzte Satz der lateinischen Inschrift mitteilt, ließ Lütkemanns Witwe Dorothea
Lewezowen das Grabmal errichten.¹⁹ Es ist aus hellem Kalkstein gefertigt, hat eine
Länge von 2,40 m und Breite von 1,18 m. Seine Sockelhöhe von 9 cm zusammen
mit der plastischen Gestalt des Abbilds halten Besucherinnen und Besucher von
selbst vor dem Betreten zurück.²⁰ Die Gesichtszüge, Haar und Barttracht des Abtes
sind so ausdrucksstark herausgearbeitet, dass sie sich leicht einprägen und ein
Wiedererkennen auf einem Porträt ermöglichen. Kragen, geknöpftes Unterge-
wand und Talar sind detailliert ausgeführt, bis hin zur Wiedergabe von Sticke-
reimustern. Ähnliches gilt für die Schuhe. Eher schwach zu erkennen ist das

 Vgl. T. Schmidt, Lütkemann, 56.


 An der Ostseite des Chorumgangs der Riddagshäuser Klosterkirche befinden sich vier Ka-
pellen. Lütkemanns Grab liegt in der zweiten Kapelle von rechts. In der links anschließenden
Kapelle liegt das Grab von Petrus Wiendruwe (Abt von 1586 – 1614), das ebenfalls mit einem le-
bensgroßen Reliefabbild gestaltet ist. Die übrigen Grabplatten in den Kapellen der Klosterkirche
sind flach in den Fußboden eingelassen. Schräg vor der Grabkapelle Lütkemanns ist das Grabmal
von Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709 – 1789), dem Gründer der Braunschweiger
Universität, in Form eines Marmorsockels mit großer Amphore positioniert.
 Zitat der Inschrift unter FN 6.
 Zu Grabplatten als Fußbodenbelag in Kirchen vgl. B. Happe, Tod, 26.
Stein und Raum 201

Scheitelkäppchen. Die dargestellte Handhaltung gleicht derjenigen auf dem


Kupferstich-Porträt von Bäck (Abb.1): Die Hände liegen leicht nach innen gewölbt
aneinander, wobei der Zeigefinger der rechten Hand ausgestreckt auf der linken
Hand zwischen dortigem Daumen und Zeigefinger ruht und der rechte Daumen
leicht nach oben gerichtet ist. Dies wirkt wie eine Geste der Kontemplation oder
auch des Haltens einer Schreibfeder. Der obere Korpus wird derart von einer
Rundbogennische gerahmt, dass Lütkemann vor einem Torbogen zu stehen
scheint, als sei er gerade ins himmlische Jerusalem eingetreten. Oberhalb dieses
Bogens zieren zwei Wappen²¹ die Grabplatte, wie es auch auf den sich rechts und
links von Lütkemanns Grab in derselben Kapelle befindenden, ebenerdigen
Grabplatten der Fall ist. – Die rechte trägt eine großflächige Inschrift mit dem Zitat
von Hiob 19,25 – 27,²² die linke in ähnlicher Gestaltung die Verse Röm 14,7– 9. –
Zumal die zwischen 1216 und 1275 angelegte Zisterzienserkirche St. Mariae²³ trotz
ihrer auch touristischen Bedeutung nicht als Museum fungiert,²⁴ sondern im
Wesentlichen für den Gottesdienst und Kirchenmusik in Gebrauch ist,²⁵ sind keine
Informationsschilder an den Gräbern angebracht, was sie als Ausstellungsstücke
etikettiert hätte.
Außerhalb von Veranstaltungen steht die Kirche täglich von 10 – 16 Uhr für
Besichtigungen und private Andacht offen. Sie ist von einem Park und Garten mit

 Das linke ist ein Abtswappen, das rechte ein persönliches Wappen.Vgl. Ch. Deuper, Theologe,
57.
 Es handelt sich um das Grab von Abt Johann Schoppensius (Schoppe). Die Identität der be-
statteten Person des linken Grabes in der Kapelle ist der Verfasserin aktual nicht bekannt.
 Zur Geschichte der Klosterkirche vgl. Hans Pfeifer, Das Kloster Riddagshausen bei Braun-
schweig (Wolfenbüttel: 1896), 5 – 26 (online abrufbar unter https://doi.org/10.24355/dbbs.084-
200806270200-0, Lesedatum: 26.10. 2021), ferner Ev.-luth. Kirchengemeinde Riddagshausen-
Gliesmarode: „Geschichte“ (online abrufbar unter https://www.klosterkirche-riddagshausen.de/
geschichte, Lesedatum: 26.10. 2021), zur Baugeschichte vgl. Harmen H. Thies, „Die Zisterzienser-
Klosterkirche Riddagshausen: Zu Einzelheiten ihres Aufbaus“, in Jahrbuch 2016: Sonderdruck,
hg.v. Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft (Braunschweig: J.Cramer Verlag, 2017),
115 – 137 (online abrufbar unter https://publikationsserver.tu-braunschweig.de/servlets/MCRFile
NodeServlet/dbbs_derivate_00043745/13bThies_Zisterzienser-Klosterkirche-Riddagshausen.pdf,
Lesedatum: 26.10. 2021).
 Ein Zisterziensermuseum befindet sich heute im ehemaligen Torhaus des Klostergeländes.
Vgl. Riddagshausen: Naturschutz und Bürgerschaft e.V.: „Zisterziensermuseum“ (online abrufbar
unter https://www.riddagshausen.net/riddagshausen/sehensw%C3%BCrdigkeiten/zisterzienser
museum/, Lesedatum: 16.11. 2021).
 Die Kirche ist als Ort für Taufen und Trauungen sehr beliebt und es finden sich auf der Website
zur Klosterkirche Riddagshausen eigens dafür Informationssparten. Vgl. Ev.-luth. Kirchenge-
meinde Riddagshausen-Gliesmarode, „Home“ (online abrufbar unter https://www.klosterkirche-
riddagshausen.de/home, Lesedatum: 26.10. 2021).
202 Antje Mickan

Obst- und Gemüseanbau umgeben, der im Osten von der alten Klostermauer be-
grenzt ist und zum Verweilen einlädt. Die Artefakte, die an diesem Ort begegnen,
zeugen von verschiedenen Jahrhunderten und sind zugleich Teil einer aktiv ge-
stalteten (Religions)Kultur der Gegenwart, deren Horizont durch sie gleichsam
eine material-greifbare Erweiterung in Richtung Vergangenheit erfährt.²⁶ Bei ei-
nem Rundgang durch die Kirche zeigt sich so auch Lütkemanns Grabmal als
Verkörperung der über Jahrhunderte fortgesetzten Bedeutung des Ortes und der
hier situierten religionskulturellen Praxis. Seine Gestalt ist im Hier und Jetzt zu
erfahren.²⁷ Sie vermittelt den Eindruck eines gelehrten protestantischen Geistli-
chen mit Macht über das Geschehen in der zum Ort gehörenden Gemeinschaft,²⁸
hebt sich in ihrer Randlage dezent aus dem Ensemble der inneren Kirchenar-
chitektur hervor und steht dabei zur dieser doch in gewisser Spannung. Denn die
Form des Gemäuers folgt Leitgedanken der Zisterzienser sowie einem Bedarf
mönchischer Praktiken,²⁹ die durch das aus dem Boden hervorgehobene Artefakt
gestört wäre.³⁰ Der reformatorische Traditionsbruch und die Machtübernahme
evangelischer Theologie spiegeln sich also auch in diesem Kirchengrab wider.³¹
Andererseits werden die Kapellen im östlichen Chorumgang heute durch den 1735
gestifteten Hochaltar³² vom Kirchenhauptschiff großflächig abgeschirmt, so dass
auch die Grabplatte Lütkemanns in einen Schattenbereich geraten ist, dessen
vorübergehende Nutzung als Abstellraum immerhin Plausibilität besitzt. Dagegen
war der aus Elmkalkstein gefertigte Taufstein im westlichen Hauptschiff der Kir-
che mit seinem reich verzierten Gitter und Baldachin aus Lindenholz ebenso wie

 Die Klosterkirche wurde entsprechend in den Pool der sogenannten ZeitOrte aufgenommen.
Vgl. TourismusRegion BraunschweigerLAND e.V.: „Klosterkirche u. Zisterziensermuseum Rid-
dagshausen“ (online abrufbar unter https://zeitorte.de/entdecken/mittelalter-renaissance/kloster
kirche-u-zisterziensermuseum-riddagshausen/, Lesedatum: 16.11. 2021).
 Zur Bedeutung der Präsenz des Ausdrucks bei bildlichen Erinnerungsmedien vgl. Antje
Mickan: „Sterblichkeit und Lebensfluss“, in Wunderkammern des Lebens: Das Kolumbarium DIE
EICHE wird zum Erinnerungsort für eine neue Abschiedskultur, hg.v. Michael Angern und Thomas
Klie (Lübeck: 2020), 52– 61, hier 57 f.
 Nachweislich hat Lütkemann an der Reorganisation des Kirchenwesens nach Ende des
Dreißigjährigen Krieges teilgehabt (vgl. Ch. Deuper, Theologe, 239 – 314), was indirekt eine Er-
möglichungsbedingung auch der Evangelischen Kirche von heute darstellt.
 Die Kapellen dienten den Mönchen als Rückzugsorten, an denen sie nach dem Gottesdienst
ihren Oberkörper entblößen und eine Selbstgeißelung vornehmen konnten. Vgl. H. Pfeifer,
Klosterkirche, 41.
 Zu architektonischen Leitlinien vgl. H.H. Thies, Zisterzienser-Klosterkirche.
 Gleiches gilt für die Grabplatte von Abt Petrus Wiendruwe (Weintraube) in der benachbarten
Kapelle. – Das Kloster wurde unter Abt Lorbeer 1568 evangelisch und nach dem Dreißigjährigen
Krieg säkularisiert. Vgl. H. Pfeifer, Klosterkirche, 19 f., 25.
 Vgl. Ebd., 60.
Stein und Raum 203

die kunstvolle Kanzel, deren Fuß die Figur des Mose mit Gesetzestafeln bildet und
dessen Schalldeckel der auferstandene Christus krönt, schon zu Lütkemanns
Lebzeiten Teil der Kircheneinrichtung.³³ Er wird diese Artefakte also mit großer
Sicherheit in Gebrauch genommen haben. Beispielsweise im Zusammenhang mit
einer Kirchenführung bzw. kirchenpädagogischen Arbeit könnte auch auf diesen
Umstand hingewiesen und so den Raumsynthesen der Besucherinnen und Be-
sucher eine weitere Möglichkeit hinzugefügt werden.
Fragt man sich, welche Wirklichkeit durch die Grabplastik an diesem Ort zur
Aufführung kommt, so tritt zuerst der Abt selbst auf die imaginierte Bühne, tut
dies allerdings in Liegeposition. Es scheint, dass er sich in der Kapelle zur Ruhe
begeben hat und nun – zusammen mit den in seiner Nähe bestatteten Kollegen –
mit etwas Abstand Anteil am Geschehen an seiner ehemaligen Wirkungsstätte
nimmt. Doch, gerade wenn die Morgensonne durch das Kapellenfenster auf das
steinerne Haupt fällt, spannt sich zeichenhaft eine Relation zwischen himmli-
schem und irdischem Sein auf und aktiviert bei der Betrachtung Überlegungen
zur transzendenten Existenz des Abgebildeten bei Gott. Die Grabplatte erscheint
dann stärker als ein Erinnerungsmedium, das durch seine Inschrift eindeutig auf
eine verstorbene Person verweist. Die aber ist für die Betrachterin eben stärker
bildlich und mit Gesichtszügen präsent, erscheint also als ein „Ich“, das die
korrespondierende Anrede mit „du“ provoziert.³⁴ Das Artefakt überliefert uns
heutigen Menschen eine Mitteilung – auch wenn uns keine besonderen religi-
onskulturellen Codes etwa über Kleidung, Wappen oder Bedeutung der Inschrift
bekannt sein sollten – wenigstens der schlichten Art wie: „Ich war da, wo du jetzt
bist. Bedenke deine Sterblichkeit.“ Im Grabzeichen kommen Vergangenheit und
Präsenz zusammen zum Ausdruck. Die Altersspuren am Artefakt können eine
reflexive Distanz bei der Wahrnehmung verstärken. Neben dadurch hervorgeru-
fenen Fragen zum Umgang mit diesem historischen Zeugnis – zum Beispiel da-
nach, ob Anfassen erlaubt ist – geben sie Anlass zu einem vergleichenden
Nachdenken über die Welt des Ichs „Joachim Lütkemann“ in einer durch den
Dreißigjährigen Krieg geprägten Zeit und der gegenwärtigen Wirklichkeit. Au-
ßerdem zeigt sich die Bedeutung der Grabplatte als ein Bindeglied zwischen den

 Vgl. Ebd., 54– 57.


 Vgl. Christian Brouwer, „Abschied von Dir: Die persönliche Anrede von Verstorbenen in
protestantischen Trauer- und Begräbnisritualen“, in Praktische Theologie der Bestattung, hg.v.
Thomas Klie, Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag (Berlin/München/Boston: de
Gruyter, 2015), 229 – 250. – Kommunikationen mit „du-Anrede“ von Verstorbenen am Grab sind
nicht selten, vgl. Gerhard Schmied, Friedhofsgespräche: Untersuchungen zum „Wohnort der Toten“
(Opladen: Leske + Budrich, 2002), 37– 44.
204 Antje Mickan

Zeiten und Welten, das in christlicher, durch den Ort repräsentierter Deutung auf
die Gemeinschaft von Lebenden und Toten hinweist.
Was bei der Betrachtung der Grabplatte im Einzelfall tatsächlich anspricht, ist
wie jede Raumsynthese und jedes Aufführungserlebnis von den subjektiven Er-
innerungen, Sichtweisen und Prägungen abhängig.³⁵ Wer etwa eine Aversion
gegen Amtsträger besitzt wird sich beim Erblicken des steinernen Talars vielleicht
gleich wieder abwenden und das Bildnis so nicht zur Sprache kommen lassen.
Ganz anders könnte das mit einer Vielzahl von Knöpfen dargestellte Untergewand
bei an Pastoralmode Interessierten eine faszinierende Wirkung hervorrufen.³⁶ Die
Akteurin des obigen Fallbeispiels bringt nun bereits ein Ensemble an Gedanken,
Erinnerungen und Fragen mit Anschluss zu einer Bedeutungseinheit „Joachim
Lütkemann“ mit zum Grabmal. Hier zeigt sich die von Thorsten Benkel heraus-
gearbeitete Funktion des Grabes als zweitem Körper der Verstorbenen in ganz
eigener Darstellung.³⁷ Die Grabplatte mit Lütkemanns plastischer Gestalt wird von
der Akteurin als ein solcher zweiter Körper angesprochen und in Gebrauch ge-
nommen. Die Situierung in der Klosterkirche ermöglicht einen freien Zugang wie
auch Momente der Ungestörtheit. So kann sich in spielerischer Weise und Wirk-
lichkeit für die Grabbesucherin ein Gespräch entfalten, in dem sie dem Objekt
etwas erzählt oder Fragen stellt. Entdeckt sie beim gleichzeitigen Betrachten des
alten Bildnisses Einzelheiten neu, könnte dies als Resonanz des Gegenübers ge-
deutet werden. Die Akteurin mag sich dabei vergegenwärtigen, dass sie Themen
und Orte mit jemandem teilt, der genau hier vor Jahrhunderten lebte, und sich
dabei in einem sozialen Kontinuum verortet sehen. Hier in der Klosterkirchen-
kapelle mit dem Fenster zum schönen Garten vermittelt diese spielerische Praktik
eine andere Form von Gegenwärtigkeit, von ernster Wirklichkeit als es beim Ge-
brauch einer alten Ausgabe mit Schriften Lütkemanns oder mit einem Porträt für
ähnliche Kommunikation möglich wäre. Die fokussierte Akteurin befindet sich
jenseits von Trauer. Sie betreibt aber, wie es für Trauernde von Bedeutung ist, eine
identitätsbezogene Praktik. Sie entdeckt Gemeinsamkeiten und Anschlussmög-

 In Hinblick auf Raumsynthesen ist insbesondere Bourdieus Habitus-Begriff weiterführend


vgl. Löw, Raumsoziologie, 177– 230. Für den Prozess der Wahrnehmung von Aufführungen sind
nach E. Fischer-Lichte die Ordnung der Präsenz und die Ordnung der Repräsentation relevant und
zu unterscheiden, vgl. Erika Fischer-Lichte, „Die verwandelnde Kraft der Aufführung“, in Die
Aufführung: Diskurs – Macht – Analyse, hg.v. Dies. u. a. (München: Wilhelm Fink, 2012), 11– 23,
hier bes. 14– 16.
 Zur Thematik vgl. Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.), Feinstoff: Anmutungen und Logiken
religiöser Textilien (Stuttgart: Kohlhammer, 2021).
 Vgl. Thorsten Benkel, „Das Schweigen des toten Körpers“, in Sinnbilder und Abschiedsgesten:
Soziale Elemente der Bestattungskultur, hg.v. dems. und Matthias Meitzler (Hamburg: Kovač,
2013), 15 – 92, hier 58 – 65.
Stein und Raum 205

lichkeiten zu vergangenen Existenzen, kann sich vorübergehend mit diesen


identifizieren und kann sich beim prospektiven Ausblick versichern, dass es nach
ihr genau hier noch Menschen geben wird, die dem eigenen Leben nicht völlig
fremd sein werden.

3 Vergleichsartefakte aus dem 19. und


21. Jahrhundert
Bisher war ein barockes Grabmal an einem Ort im Blick, der nicht eigens für
Bestattungen geschaffen wurde, an dem also ein Fehlen von funeralen Artefakten
lediglich eine gewisse Reduktion seines praktisch erfahrbaren Bedeutungsspek-
trums, keinesfalls aber eine merkliche Einbuße seiner Funktionalität darstellte.
Eine für Grabsteine übliche Positionierung auf einem Friedhof kennzeichnet da-
her die Objekte aus unterschiedlichen Jahrhunderten, auf die sich die Aufmerk-
samkeit nun ergänzend richten wird, um einen Vergleich zu ermöglichen. Es
wurden zwei Exemplare ausgewählt, die mit der Grabplatte Lütkemanns ihr
steinernes Material, die Inschrift mit Namen und Daten Verstorbener sowie die
Prägung des Ortes durch (evangelisch‐)christliche Religionskultur gemein haben.

3.1 Der Grabstein von Wilhelm Mannhardt auf dem Hanerauer


Waldfriedhof
Wer den Ort Hanerau-Hademarschen auf einer Tour zur Nordsee jenseits der
Autobahnen durchquert oder hier im ländlichen Raum zwischen Itzehoe und
Heide Erholung sucht, kann dabei auf ein Hinweisschild zu einer Statue Theodor
Storms (1817– 1888) aufmerksam werden. Dem Wegweiser folgend gelangt man zu
einer Waldlichtung, wo sich die Bronzestatue des norddeutschen Dichters be-
findet und die zugleich den östlichen Zugang zum Hanerauer Waldfriedhof dar-
stellt. Storm, der seine letzten acht Lebensjahre in Hanerau-Hademarschen ver-
brachte, soll seine Gäste auf Spaziergängen gerne zu dieser Stelle geführt haben,
wo sie überrascht den Friedhof entdeckten.³⁸ Dieser von Laubbäumen umgebene
Bestattungsort vermittelt auf den ersten Blick einen Eindruck der Ruhe, schlichter
Ordnung und freundlich-liebevoller Zuwendung. Es sind ausschließlich Einzel-

 Vgl. Waltraut Barnstedt, „Die Theodor-Storm-Statue am Hanerauer Waldfriedhof“ (online


abrufbar unter http://kulturwegweiser.kreis-rd.de/fileadmin/kulturfuehrer_bilder/5_Storm-Sta
tue_Langtext.pdf, Lesedatum: 17.11. 2021).
206 Antje Mickan

Abb. 4: Blick von Westen auf den Waldfriedhof Hanerau. Foto: Antje Mickan

gräber vorhanden, alle mit einem liegenden Grabmal gleicher Größe aus Sand-
stein oder Marmor, auf dem in stilvoll geschwungener Kursivschrift Name, Le-
bensdaten mit Ortsangaben, teils die Profession und oft eine Bibelversangabe
eingraviert sind. Alle Gräber liegen so in Ost-West-Richtung, dass die Morgen-
sonne auf die meist leicht angekippten Steine fällt. Sie wirken daher wie Kopf-
kissen der nach Osten blickenden Verstorbenen. An den „Kopfenden“ stehen
Lebensbäume, die alle auf etwa die gleiche Höhe (ca. 1,5 m) gestutzt wurden. Die
Gräber sind fast durchweg grün bewachsen und an den „Fußenden“ sind – beim
Besuch Ende Oktober – vor allem Heidekräuter oder Begonien gepflanzt. Die
schmalen Wege zwischen den Gräbern erscheinen frisch geharkt. Am Westzugang
des Friedhofes fällt ein grünes Holztor auf. Es trägt von dieser Seite aus gesehen
die auf pietistische Frömmigkeit hindeutende Aufschrift „Selig sind, die in dem
Herrn sterben. Sie ruhen von ihrer Arbeit“. Von Westen kommend ist zu lesen:
„Trachtet nach dem, was droben ist“.³⁹ Fünf Kreuze weisen oben auf dem Tor in
diese Richtung. Die Gleichheit der Menschen im Tode, die der Theologe, Guts-

 Der Wortlaut wurde original vom Gottesacker der Brüderngemeinde in Herrnhut übernom-
men. Vgl. zu Herrnhut Barbara Leisner: „Grabmalreform im 19. Jahrhundert“, in Grabkultur in
Deutschland, hg.v. Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Museum für Sepulkralkultur
(Berlin: Reimer, 2009), 95 – 125, hier 96 f.
Stein und Raum 207

besitzer, Manufakturbetreiber und Gründer des Ortes Hanerau, Johann Wilhelm


Mannhardt (1760 – 1831)⁴⁰ hier wie bei seinem Vorbild, dem Herrnhuter Friedhof in
Christiansfeld, versinnbildlichen wollte, als er in seinem öffentlich zugänglichen
Gutspark 1805 den Waldfriedhof anlegte,⁴¹ ist noch heute dank strikter Gestal-
tungsvorschrift erkennbar.⁴² Die getrennten Grabfelder für Männer und Frauen
bewirken, dass auch verwandtschaftliche Bindungen gelöst sind und die Guts-
besitzerin neben der Bediensteten ihr Grab erhalten kann.⁴³ Auch aktual dient die
Einrichtung vor allem den Nachfahren von Johann Wilhelm und Anna Mannhardt
sowie der Hanerauer Bevölkerung als Bestattungsort.⁴⁴ Die Grabsteine bilden
daher ein Ensemble, das insgesamt mit Familien- und Lokalgeschichte imprä-
gniert erscheint.
Ein Grabstein fiel bei der Ortsbesichtigung allerdings besonders auf. Es
handelt sich um das für Wilhelm Mannhardt aus weißem Marmor gefertigte Ex-
emplar. Unter dem Namen sind in schwarzer Schrift die folgenden Daten ein-
graviert: „geboren in Altona den 29. Januar 1800, entschlafen den 30. Dezb. 1890.
1. Corinth. 13 V. 8, 13“. Die Steinkante rechts oben ist leicht abgebrochen und der
letzte Buchstabe des Nachnamens in diese Bruchstelle hinein nachgezeichnet –
ein sicheres Indiz für die jüngere Restaurierung der Schriftzüge. Einzelne grüne
Stellen deuten auf widerständige Reste eines Moos- und Algenbewuchses hin, der
sich beim Putzen offenbar nicht entfernen ließ. Der Stein liegt in einem Bett aus
den Blättern von Waldsteinien (Golderdbeeren). Er hat wie alle anderen Grabmale
an diesem Ort die Maße 58 × 43 × 12 cm. Und auch auf allen weiteren Exemplaren
ist vom „entschlafen“ der benannten Personen die Rede.⁴⁵ Etliche ältere Grab-

 Vgl. Eckart Niemöller, „Johann Wilhelm Mannhardt: Ein Theologe gründet ein Dorf“,
Rendsburger Jahrbuch 61 (2011): 163 – 179. Ein Wikipedia-Artikel über J.W. Mannhardt bietet im
Wesentlichen eine Zusammenfassung dieses Beitrags.
 Vgl. E. Niemöller, Mannhardt, 170.
 Die Vorschrift ist als Informationstafel vor Ort veröffentlicht. Der Waldfriedhof wird von den
Erbbesitzern des Gutes Hanerau, heute R.-M. u. Ch. Niemöller, verwaltet. Vgl. zum heutigen
Gutsbetrieb und seinen Anlagen Familie Niemöller, „Gut Hanerau“ (online abrufbar unter http://
www.gut-hanerau.de/, Lesedatum: 12.11. 2021).
 Der Friedhof ist in sechs Felder unterteilt, wobei sich links vom Mittelgang untereinander die
Felder für verheiratete Männer, Männer und Kinder befinden und rechts die entsprechend auf-
geteilten die der Frauen. Die Gräber der Ehepartner sind spiegelbildlich angeordnet. Die Liegezeit
beträgt 30 Jahre und ist verlängerbar.
 Auf Anfrage können auch ortsfremde, nicht verwandte Verstorbene bestattet werden.
 Auch J. Lütkemann sprach in einer Predigt zum 25. Sonntag nach Trinitatis mit 1 Thess
4,13 – 18 vom „entschlafen“ der Gläubigen, während Christus wahrhaft starb und auferstand. Vgl.
H. Müller und J. Lütkemann, Hertzens-Spiegel u. Aufmunterung (1296). – Zu heutigen Vorstellung
des Todes als Schlaf vgl. exemplarisch Antje Mickan, „… wenn ich irgendwo so ’n Steinchen da hätte
mit Namen“: Bestattungswünsche älterer Menschen (Berlin: LIT, 2015), 116 – 118, 120.
208 Antje Mickan

Abb. 5: Grabstein von W. Mannhardt, Waldfriedhof Hanerau. Foto: Antje Mickan

zeichen sind an der aus Felssteinen gesetzten niedrigen Mauer rechts (Frauen)
und links (Männer) vom Friedhofstor aufgestellt. Sie bilden so eine Art Ahnen-
galerie, die sich jedoch nicht über die Nachfahren erhebt, sondern zeichenhaft
das unten an den Seiten des Himmelstores wachsende Band der Wartenden
verkörpert. Wilhelm Mannhardts Stein aber wurde aufgearbeitet und am Grab
belassen. Wie bei einer Internetrecherche zu ermitteln ist, machte er sich be-
sonders dadurch verdient, dass er mit dem Anlegen einer Landesbaumschule,
also Begründung eines Waldes südlich von Hanerau dem in der Region lange
betriebenen Raubbau entgegenwirkte.⁴⁶. Bereits seinem Vater Johann Wilhelm
Mannhardt ging es um einen sozialen Einsatz der Begüterten für die Menschen vor
Ort.⁴⁷ In einer Zeit, wo andere Adelige und Landbesitzer den eigenen Wald als
abgegrenzten Bestattungsort entdeckten, um sich dort Grabmonumente zu er-

 Vgl. Hans-Jürgen Kühl, „Wald als Lebenswerk von vier Generationen“, Schleswig-Holsteinische
Landeszeitung (2010) (online abrufbar unter https://www.shz.de/lokales/landeszeitung/wald-als-
lebenswerk-von-vier-generationen-id2162666.html, Lesedatum: 12.11. 2021).
 Neben Aufforstungen machte J.W. Mannhardt sich durch ein breites soziales Engagement
verdient, wobei er finanziell von seinem Schwiegervater Hinrich III. van Smissen unterstützt
wurde. Vgl. E. Niemöller, Mannhardt, 175 – 177.
Stein und Raum 209

richten,⁴⁸ schafft er einen bewusst bescheiden gehaltenen Friedhof in seinem


Wilhelmshain nicht nur für eigene Nachfahren, sondern auch für die Arbeite-
rinnen und Arbeiter des Dorfes Hanerau. Die Ausrichtung christlicher Frömmig-
keit auf nachhaltiges Wirtschaften und soziale Fürsorge kommt hier stärker zum
Ausdruck als eine mit Waldfriedhöfen oft verbundene Naturfrömmigkeit.⁴⁹ Die
Grabsteine sind von größerer Härte und Dauer als Holz, wenngleich mit den
Jahren nicht ohne Verwitterungsspuren. Sie versinnbildlichen hier den Platz der
Entschlafenen, wo diese bis zu Ihrer endzeitlichen Auferweckung ruhen, still
besucht und umsorgt werden können, beispielsweise indem man ihre Steine
pflegt, die Grabumgebung instand hält oder auch ihre Lebensgeschichten tra-
diert. Erzählt man beispielsweise Spaziergängern im Mannhardt-Wald von dessen
Begründer und fragt sich, wo der jetzt sein könnte, müsste die Antwort lauten: Er
liegt in einem grünen Bett, hat ein schimmernd weißes Angesicht und erholt sich
von seinen Lebensmühen.
Es ist vor allem das Miteinander der funeralen Artefakte in ihrer schlicht-
schönen und gleichartigen Gestaltung, die dem Ort seine Anmutung verleiht. Mit
der Theodor-Storm-Statue am Ostzugang ist er mit einem Kranz von Narrationen
verknüpft, den dieser Dichter schuf. Zumal Theodor Storm und Wilhelm Mann-
hardt sich in ihren letzten Lebensjahren mit Sicherheit kannten, stehen Plastik
und Grabstein der beiden für Einheimische möglicherweise in einer besonderen
Beziehung. Und wer diesen Ort kennt und zu Hause eine Storm-Ausgabe in die
Hand nimmt, erinnert sich dann vielleicht auch an den Hanerauer Waldfriedhof,
wobei die Gemeinschaft der dort Bestatteten in der einen oder anderen Weise
dabei präsent sein wird.

3.2 Würfelstein eines Urnengrabes auf dem Braunschweiger


Hauptfriedhof
Der in diesem Beitrag zuletzt beobachtete Stein kennzeichnet ein Urnengrab des
Braunschweiger Hauptfriedhofs. Er ist Teil eines Ensembles von vier gleichge-
stalteten, im Carré mit etwa zwei Metern Abstand angeordneten würfelförmigen
Grabmalen aus hellem Sandstein auf einer Rasenfläche, wo sich auch andere,
größere Ensembles von ähnlichen Grabmalen befinden. Der Stein hat eine Länge
und Breite von je 40 cm sowie eine Höhe von 30 cm. Seine Oberseite ist schwach

 Vgl. B. Happe, Tod, 44– 57.


 Vgl. B. Happe, Tod, 136 – 153. Sie benennt (Ebd., 137) als ersten typischen Waldfriedhof
Deutschlands den in München 1907 geschaffenen.
210 Antje Mickan

gewölbt. Am Boden ist er ebenerdig von 10 cm breiten Sockelplatten eingerahmt,


die unter einem Bewuchs mit Moos, Grashalmen und Flechten nur noch beim
genauen Hinsehen zu erkennen sind. Unter dem Namen in Blockschrift eingra-
vierte Jahreszahlen lassen erkennen, dass die hier beigesetzte Urne zu einem
Menschen gehört, der – bezogen auf den Zeitpunkt der Betrachtung – vor 13
Jahren starb. Obwohl es sich um eine Grabart mit Möglichkeit der Mehrfachbe-
legung handelt, sind an diesem Stein keine weiteren Namen zu erkennen. Ein
dickes Moospolster auf der Steinoberseite, das eine mittig gelegene kahle Stelle
umgibt, zeigt an, dass lange Zeit eine Pflanzschale dort aufgestellt war, wie es auf
diesem Friedhof zu den üblichen Praktiken gehört. Nun wurde die Schale ent-
fernt. Neben dem Stein ist eine Topfpflanze ohne Topf, mit loser Wurzelerde auf
der Seite liegend zu sehen. Sie könnte dort vergessen schon ein paar Tage liegen.
Bei der Betrachtung wirkt dieser Stein wie ein Spiegel der fließenden Veränderung
von Trauer und Andenken. Vielleicht wuchsen, während das Moos auf diesem
Artefakt im Schatten der Schale gedieh, parallel Lücken im Leben der Angehö-
rigen zu, die der Tod hinterlassen hatte. Nun liegt die topflose Pflanze neben dem
Stein wie ein Tropfen alter Trauer, der noch lose am verlorenen Menschen hängt,
bald unbemerkt eingetrocknet und abgeräumt sein mag. Mindestens sieben Jahre
lang wird aber der Stein noch an seiner Stelle bleiben und ein festes Angebot zum
Gedenken darstellen.⁵⁰ Und er bildet so ein Zeugnis nicht nur für vergangene
personale Identität der Toten, sondern auch für einen verlorenen Anteil der
Identität der Lebenden, die durch den nun verstorbenen Menschen konstituiert
wurde. Zu Trauern bedeutet ja auch auf dem Weg des Abschieds an der eigenen
Identität Umbildungsarbeit zu leisten.⁵¹ Und ebenso wie die Erinnerung an nur
wenige Menschen vom kommunikativen Gedächtnis ins kulturelle Gedächtnis
übergeht, so bleiben auch nur wenige Grabsteine stehen. Sie beginnen von Moos
und Flechten zugedeckt zu werden, werden irgendwann von der Friedhofsver-
waltung abgeräumt und dienen später in zertrümmertem Zustand als Bestandteile
von Straßen und Gebäuden, in anonymen Kleinstteilen also als tragende Ele-
mente der gebauten Gesellschaft.

 Die Ruhefrist für Urnengräber Erwachsener beträgt laut § 10 der betr. Friedhofsordnung
20 Jahre mit anschließender Möglichkeit der Verlängerung.
 Vgl. G. Schmied, Friedhofsgespräche, 72.
Stein und Raum 211

4 Schlussfolgerungen: Was Grabsteine können


Grabsteine dokumentieren Wirklichkeit von Verstorbenen und lassen diese
greifbar werden, so dass auf sie bezogene Praktiken die Unfassbarkeit des Todes
überwinden helfen. Der Ort von Grabsteinen gleicht einer Bühne, einer Surplus
Reality, wo Grabsteinen Charakterrollen zugeschrieben werden, die sie durch ihre
Erscheinung und Materialität ein Stück weit selbst bestimmen. Dass sie bei die-
sem Spiel auf ein Gegenüber angewiesen sind, streicht ihre unbedingt soziale
Bedeutung heraus. Wie andere Grabzeichen auch geben Grabsteine Anlass, nach
den Lebensgeschichten der Verstorbenen zu fragen. Sie lassen sich pflegen und
erhalten, ermöglichen also die besondere Würdigung von Persönlichkeiten und
den von ihnen vertretenen Konzepten.
Als Steine stehen sie dem schnellen Fluss der Zeit ein Stück weit widerständig
im Weg und bieten sich zum Wiedererinnern an. Sie lassen sich aber auch still
abräumen und weiterverwenden. Christlich gesehen erinnern Grabsteine an die
Gemeinschaft von Lebenden und Verstorbenen, was besonders an Orten deutlich
wird, die einen direkten Bezug zu Gottesdienstfeiern aufweisen. Grabsteine sind
aktivierbar. Sie können durch den Bezug zu anderen Erinnerungsmedien kon-
stitutives Element von Räumen werden, die mit Narrationen, Bedeutungen und
Sinnkonzepten imprägniert sind und so spezifische religiöse oder existentiell
bedeutsame Praktiken ein Stück weit ermöglichen. Grabsteine treten in ihrer
materialen Umgebung mit anderen Dingen als Ensemble in Beziehung und per-
formieren so unter Mitwirkung der anwesenden Subjekte eine Wirklichkeit der
Toten über den Tod hinaus. Sie geben Anlass zu Spekulationen und Reflexionen
über Leben, Tod und Glaubenskonzepte.
Grabsteine ermöglichen die zeichenhafte Einrichtung von idealen Gesell-
schaften und paradiesischen Landschaften mit dem Abbild einer Bevölkerung.
Und sie treten heute in einer großen Vielgestalt auf, die bis hin zur Virtualität
reicht. Mag auch das himmlische Paradies eines Joachim Lütkemann oder Johann
Wilhelm Mannhardt für den spätmodernen Menschen verloren sein, ermöglichen
die vieldimensionalen Raumvorstellungen von heute doch auch wieder neue
Jenseitsvorstellungen, begleitet von der Hoffnung, dass die von Grabsteinen ver-
körperte Ewigkeit des Lebens dort wahr sein möge.
Thorsten Benkel
Stille Klänge
Macht das Artefakt Geräusche? Nein, sein Gebrauch entfaltet keine Töne, allen-
falls ein leichtes Rauschen der von ihm bewegten Luft wäre vernehmbar, würde
nicht sein Einsatz als gesehenes, niemals als gehörtes Utensil in diesem eigen-
willigen sozialen Zusammenspiel, in dem allein er nützlich ist, zugleich einer
komplexen Entstehung von Klängen dienen. Die Verdichtung der damit verur-
sachten akustischen Reize zu einem bald mehr, bald weniger harmonischen Zu-
sammenklang (σύμφωνος) findet ihren so wichtigen wie häufig übersehenen
Gegenpart in der Stille, die den Tönen vorausgeht und die das Zusammenklingen
immer wieder unterbricht. Am Ende, wenn ein immaterielles Werk vollendet
wurde, setzt sie erneut ein. Manchmal, dann nämlich, wenn das Artefakt sein
zauberhaftes Wirken unter den Augen einer interessierten Öffentlichkeit voll-
bringt (wo es doch in naiver Vorstellung vorrangig um deren Ohren gehen sollte),
bleibt diese Stille allenfalls kurz bestehen. Der Gegenstand muss ruhen, weil nur
der unstrittige Beweis seines Übergleitens in die Passivität, ja in die Nutzlosigkeit
die Stille einläutet. Nicht nur der Klang, sondern auch dessen Vergehen ist an das
Artefakt gekoppelt – beide Male wird etwas erzeugt, einmal das Werk, einmal
dessen Abschluss und Verschwinden. Was dann kommt, ist das sinnlich weniger
harmonische, aber klanglich gleichsam tönende Ritual des Applaudierens, wel-
ches bruchlos – attacca – in die Geräusche des Körperaufrichtens, Sich-Fortbe-
wegens und des endlich wieder gestatteten Sprechens überleitet.

1 Die Prothese
Der Dirigierstab, etwas funktionalistischer auch als Taktstock bezeichnet, ist ein
eigenwilliges Ding. Im englischen Sprachraum heißt er baton, was namensgleich
auch den Schlagstock eines Schutzmannes bezeichnet. Der Zusammenhang ist
nicht nur ein äußerlicher: Seine Reputation als Insignie eines Führungsanspruchs
und damit der Dominanz über ein untergeordnetes Kollektiv macht den Diri-
gierstab zur normativen Apparatur. Zugleich ist er aus der Gruppe der musikali-
schen Instrumente ausgeschlossen, denen gegenüber er sich in einer dialekti-
schen Zwickmühle befindet. Jenen haftet ein Wert an sich – soziologisch
gesprochen: kulturelles Kapital – an, derweil der Taktstock immerzu mit der Re-
putation assoziiert ist, ‚lediglich‘ ein Werkzeug derer zu sein, die ihn zu nutzen
wissen und ihn damit erst in das transformieren, was er als passives Ding nicht zu
sein mag. Im Vorgang seiner Verwendung, wenn man so über seine Funktion

https://doi.org/10.1515/9783110762853-014
214 Thorsten Benkel

sprechen möchte, scheint er Autorität zu symbolisieren. Abgelegt auf dem Pult


oder in der Schatulle, umgibt ihn Bedeutungslosigkeit – nicht einmal mehr als
Gebrauchsgegenstand wahrgenommen, ist er ohne Augen, die ihm folgen, nur
mehr ein Stöckchen.
Quantitativ betrachtet, dürfte das musikalische Terrain, welches das Diri-
gieren von Instrumental- und Vokalensembles beheimatet, für die meisten Men-
schen von eher nebensächlichem Interesse sein. Die dem gegenüber buchstäblich
‚populäreren‘ Genres sind zwar alles andere als hierarchiefrei (wie könnten sie
dies als überwiegend am kommerziellen Erfolg orientierte Sparten eines weit
ausgedehnten Kunstbegriffs auch sein), sie kommen aber ohne die soziale Dy-
namik aus, die einem Dirigat inne liegt, und sie haben mittlerweile manche einst
für die ‚E-Musik‘ reservierten Felder, etwa die Bestattungsfeier,¹ für sich erobern
können. Das bedeutet aber – entgegen mancher entsprechenden (Fehl‐)Wahr-
nehmung – nicht das Ende des, wie es terminologisch unglücklich heißt, ‚klas-
sischen‘ Musikbereichs und seiner Artefakte.
Kulturhistorisch betrachtet, bewegt der Dirigierstab sich hinsichtlich seiner
materiellen Dimension zwischen der Größe einer Hellebarde und der Beschei-
denheit eines Kugelschreibers. Er kann aus unterschiedlichen Stoffen – Holz,
Elfenbein, Glasfaser, Metall, sogar Papier – bestehen. Nach oben hin meist zu-
gespitzt, befindet sich an seinem von der Handfläche umschlossenen Ende
häufig, aber nicht zwingend eine verbreitertes, oft kegelförmiges, manchmal aber
auch rundes Griffelement. Obwohl es essentiell ist, dass der Taktstock mit der
Hand geführt wird, gibt es hinsichtlich seiner tatsächlichen Handhabung keine
verbindlichen Vorschriften. Er agiert innerhalb eines Regimes, bei dem nur
Schriftstücke – Noten, um genau zu sein – als strittige, weil stets auf’s Neue
auslegbare Legitimationen des Geschehens fungieren. Sein Existenzrecht steht
seit Jahrzehnten zur Disposition, denn ebenso, wie es lange Zeit – bis ins
19. Jahrhundert hinein – untypisch war, in musikalischen Aufführungen längliche
Objekte als Signalgeber zu verwenden, gibt es spätestens seit den 1960er Jahre
den Trend weg vom dinglichen Fortsatz hin zur Einheit des Zeichens mit dem
Körper. Seither hat sich als gleichberechtigte Variante das Signalisieren mit den
Händen etabliert. In dieser Askese der Dirigierenden vom Herrschaftssymbol ihres
Leitungsanspruchs offenbart sich dessen prothesenhafte Natur. Der Stab verlän-
gert einen der beiden je eigenständig agierenden Arme der Dirigent*innen, die mit
ihren Bewegungen dem Chor, dem Instrumentalensemble oder einem großen
Orchester den Einsatz, Feinheiten der Intonation, die angemessene Dynamik und

 Cäcilie Blume, Populäre Musik bei Bestattungen: Eine empirische Studie zur Bestattung als
Übergangsritual (Stuttgart: Kohlhammer, 2014).
Stille Klänge 215

irgendwie auch das ‚Wesen‘ des zu erzeugenden Musikstücks anzeigen. Es ist vor
allem der Körper, der diese Evokationsarbeit leistet; durch den Dirigierstab wird
die Leistung lediglich verstärkt und verdeutlicht. Da sich das Utensil von eben
diesem Körper mühelos trennen lässt, kann es sinnbildlich für eine Aufgabe
einstehen, die es nicht selbst erbringt, die zu unterstützen aber seine einzige
Daseinsberechtigung ist.
Im Sinne der Theorie Helmuth Plessners, jenes in Zoologie wie Philosophie
geschulten und dann zur Soziologie abgebogenen Exponenten anthropologischer
Nachforschungen am Wesen der Lebendigkeit – was eine Abgrenzung zum
Dinglichen zwangsläufig erfordert –,² dient eine Prothese der Transzendierung
der menschlichen Körperausstattung. Ohne jene segensreiche Determination, die
Tieren zukommt, steht der Mensch als Mängelwesen da: Ihm fehlen umgrenzte
Lebensräume, vorgegebene Lebensführungsmuster, eingeschränkte Zeitab-
schnitte der Paarung und viele weitere Leitlinien, die Komplexität reduzieren, weil
sie Möglichkeiten negieren und Spielräume beschneiden. Die Sinnlücke wird
durch künstliche Erzeugnisse kompensiert, zu denen nicht lediglich manuelle
Anfertigungen gehören, sondern auch Erzeugnisse der Kultur wie die Musik, die
Mathematik, die Religion.
So wie die Geometrie das Ergebnis einer zaghaften, über Jahrtausende ver-
laufenden Koordination von Auge und Hand ist, ist die Musik das Ergebnis ab-
sichtsloser, aber eben doch evozierter Beziehungsverflechtungen zwischen Ohr
und Stimme. Sie entstammt also dem Körper, genauer der körperlichen Ausstat-
tung des beseelten Leibes, hinter bzw. in dem ein Geist wirkt, dem sie seither in
allmählicher Ausdifferenzierung hin zur Musik eine geradezu metaphysische
Freude verleiht, die sich in Worte nicht so recht fassen lässt. Ziel und Zweck der
Künste, und allemal der musischen Variante, sind vielleicht dann am besten er-
forscht, wenn über sie nicht näher nachgedacht wird. Ästhetische Abhandlungen
verhalten sich zur Realität der Töne nämlich so wie die Schwangerschaftsverhü-
tungsanleitung zum Geschlechtsakt – man lernt etwas daraus, aber sicherlich
nichts, was das Vergnügen mehrt.
Prothesen transzendieren die körperlichen Einschränkungen, die die Biologie
dem Menschen auferlegt. Der Erfindungsreichtum, sich die vorhandene Welt
materiell so anzueignen, dass Substanzen und Gebilde umgeformt werden kön-
nen zu Verlängerungen der Sinnesausstattung, gilt folglich als Zivilisationsindi-
kator. Bestimmte Affenarten oder zum Beispiel auch Tintenfische, denen es ge-
lingt, Hindernisse auf dem Weg zur Bedürfnisbefriedigung unter Zuhilfenahme
und Umfunktionierung von Gegenständen aus dem Weg zu räumen, beweisen im

 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (Berlin: de Gruyter, 31975).
216 Thorsten Benkel

Lichte humaner Denkkategorien ein beeindruckendes Level an Intelligenz. Das


tatsächliche anthropologische Niveau bewegt sich indes längst schon in ganz
anderen Bahnen, nachdem künstliche Körperglieder am und innerhalb des Lei-
bes, ja sogar artifizielle Organkompensationen existieren und menschliches wie
übrigens auch tierisches Leben faktisch verbessern und verlängern. Als im
Plessner’schen Sinn prothesenhaft könnten übrigens, wie das vorliegende Buch
wenigstens unterschwellig nahelegt, auch institutionalisierte Formen der Religi-
on gelten, da sie nicht nur einen buchstäblich transzendentalistischen Gegen-
stand formulieren, sondern auch Mechanismen der Annäherung an diese Tran-
szendenz zumindest andeuten.
Der Dirigierstab ist eine Prothese, die recht umstandslos und derart plakativ
als Extension des Körpers fungiert, dass kein tiefergehender Zauber unterstellt
werden muss, der erst und einzig und allein im Rahmen musikalischer Auffüh-
rungspraxen zur Wirkung gelangt. Er reiht sich damit in die Armada jener All-
tagsgebrauchsgegenstände ein, von denen Norbert Elias im Kontext seiner
Überlegungen zum „Prozess der Zivilisation“ spricht: Es wurde „im gesellschaft-
lichen Verkehr und Gebrauch allmählich ihre Funktion umgrenzt“³. Diese Ding-
lichkeiten sind nicht erfunden worden, weil irgendwer irgendwann die kreative
Leistung vollbracht hat, zu erkennen, wie sehr einem just dieses oder jenes Ge-
bilde fehlt. Entsprechende Vorstellungen über die Genese der Materialität redu-
zieren die Komplexität des Vorgangs vielmehr über Gebühr. Zum einen ist die
Welt, in der sich prothesenhafte Hilfsmittel etablieren konnten (was ohnehin nur
für einen Bruchteil aller entsprechend gelagerten Erfindungen gelten dürfte), per
se eine materielle; der ontologische Urgrund der „Technik“ (τέχνη – planvolles
Können, Verwirklichung einer Absicht, Strategie zu Erreichen eines Ziels) ist also
immerzu vorhanden, und auch künstliche Stoffe entstammen jenen, die nach
traditionellem Verständnis als natürliche gelten. Zum zweiten wäre es naiv, davon
auszugehen, dass die heute nicht mehr wegzudenkenden materiellen wie auch
kulturellen Erfindungsgüter dadurch entstanden sind, dass sie bereits vor ihrer
Existenz eine Sinnlücke aufgelassen haben, auf die die einfallsreichen Köpfe
vergangener Zeiten irgendwann stoßen mussten. Tatsächlich verhält es sich wenn
auch nicht in jedem Fall, so doch bei vielen Neuschöpfungen aus der gegebenen
Weltmaterie um Vorgänge, die der ausgebliebenen Erfindung der Gesellschaft
ähneln. Wäre Gesellschaft eine datierbare Innovation, schreibt Niklas Luhmann,
so hätte es einen historischen Punkt gegeben, an dem Menschen, die noch ohne

 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Unter-
suchungen, Bd. 1, Wandlungen des Verhaltens in den westlichen Oberschichten des Abendlandes
(Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993), 236.
Stille Klänge 217

sie existierten, darüber übereingekommen wären, dass es sich mit und in der
Gesellschaft wohl angenehmer lebe. Wie aber hat man sich den sozialen Um-
schlagplatz vorzustellen, der aktiv praktiziert, was sukzessiv erst noch entwickelt
wird?
In diesem Sinne hält Elias fest, dass nicht wenige kreative Entwicklungen im
Kanon jener Errungenschaft, die als gesellschaftsverändernd, als anschlussfähig,
als vorbildlich, als schulbildend, schlichtweg als modern galten und noch immer
gelten, sich sozusagen aus den Lebensweisen der Menschen herausgeschält ha-
ben. Dazu gehört, auch wenn dies nicht Elias‘ Thema ist (zumindest nicht an
zentraler Stelle),⁴ gewiss auch die Musik. Die Genealogie ihrer Organisationsfor-
men und Institutionalisierungen darf an dieser Stelle weitgehend vernachlässigt
werden. Entscheidend ist – um auf die buchstäblichen Zuspitzungen des Diri-
gierstabes zu kommen –, dass ein Anstieg der Komplexität, selbst wiederum
(zumindest im Geiste der Luhmann’schen Systemtheorie) ein evolutionäres
Prinzip, das aus dem Zusammenleben ‚psychischer Systeme‘ als nicht-intentional
verfolgbarer Emergenzeffekt geboren wird, die Entstehung des Stäbchens be-
günstigt hat. Oder anders formuliert: In dem Augenblick, da die Erzeugung ge-
ordneter Wohlklänge als Phänomen der Mehrstimmigkeit festgeschrieben und der
vokale Sound allmählich durch Instrumentalbeigaben unterstützt wurde, zeich-
nete sich die Notwendigkeit einer ordnungsgebenden Instanz ab, die zunächst als
primus inter pares und später von einer beteiligt-unbeteiligten Meta-Position aus
im Sinne ästhetischer Politik zu steuern hatte, wann, wie und wie lange sich Töne
miteinander verbinden. Der Dirigierstab ist, so betrachtet, also ein Werkzeug zur
Regulierung sozialer Uneinheitlichkeit.

2 Das Ensemble
Je komplexer das Ensemble der Musizierenden, desto notwendiger wurde es im
Laufe der Zeit, der stummen Autorität der Noten (die sich aus der Tradition der
Neumen entwickelt hatten) eine Art Verwaltungsposition anheim zu stellen. Diese
stellt ein interessantes Scharnier dar, insofern sie die performativen Handlungen
der anwesenden Musizierenden im Zeichen einer abwesenden Instanz koordi-
niert, die (fast immer) als hintergründige Macht einzig durch schriftartige Zeichen
vertreten ist. Der Komponist (damals eine ausschließlich männliche und außer-
dem recht verrufene, weil künstlerische Profession) braucht sich nicht damit

 Siehe aber Norbert Elias, Mozart: Zur Soziologie eines Genies (Frankfurt am Main: Suhrkamp,
1991).
218 Thorsten Benkel

herumzuschlagen, ob die Kopfgeburt auf dem Notenpapier, die er beim Kompo-


nieren allenfalls in ihrer Klavierfassung hat anhören können, später im Zusam-
menspiel des Dirigenten und der Musiker tatsächlich so ertönt, wie er selbst es
konzipiert hat. Ludwig van Beethoven war bekanntlich gegen Ende seines Lebens
so gut wie taub, er ließ sich aber nicht daran hindern, die Uraufführungen von
Werken wie der weltberühmten Symphonie in d-Moll zu leiten, denn schließlich
ist diese Aufführung schon zuvor als kognitives Konstrukt von ihm entfaltet
worden und somit ‚fertig gewesen‘. Das ist der Geist des Genius, von dem damals
noch die Rede war: es zählte die Idee, weniger die Ausführung.
Dass realiter die Kongruenz von Theorie und Praxis tatsächlich Ohren
braucht, um zu gelingen, ist dank der Berichte über die Stolpersteine dieser
starrköpfigen Aufführungspraxis bekannt. Narrative wie diese haben im 19. Jahr-
hundert gewiss die Herausbildung der Berufssparte des Dirigenten befördert, der
eben nicht mehr als Erster unter Gleichen fungiert (etwa als die heute noch
sprichwörtliche ‚erste Geige‘), sondern Zeichen gibt, die das musikalische Spiel
animieren. In dieser Epoche ergriffen ohnehin fast nur Personen den Taktstock,
die mindestens im Nebenengagement selbst Tonsetzer waren, da es die Berufs-
sparte des Orchesterleiters schlichtweg noch nicht gab. Der Komponist, und ab
Mitte des 19. Jahrhunderts zaghaft auch die Komponistin, nehmen also die Posi-
tion transzendenter Referenzpunkte ein, deren unverrückbarer Wille im Testa-
ment ihrer Partituren verzeichnet ist. Damit andere sich nicht in den Fallstricken
verheddern, die der Notentext aufweist und deren Tiefe einzig der Komponist
richtig auszumessen weiß, hat beispielsweise Hector Berlioz, der große franzö-
sische Komponist der Frühromantik, zwischen den Notensystemen diverse, zum
Teil recht polemische Anweisungen gegeben, wie man die Musik nicht zu inter-
pretieren habe.
Aus diesem kulturellen Zusammenhang stammt der pejorative Begriff „Ka-
pellmeistermusik“ – denn wer eigentlich ‚nur‘ dirigiert, kann nicht gelegentlich
ein ‚wirklicher‘ Komponist sein. Das in Einsamkeit und Freiheit vollbrachte äs-
thetische Schaffen galt als geistige, folglich materialitätslose Tätigkeit (Papier und
Stift waren dabei nur mehr Sklavenartefakte, so wie es heute die Computer sind),
derweil die trivialen Arrangements der Aufführung zwar die Musik zum Tönen
bringen, aber eben bodenständiger, buchstäblich ‚sachlicher‘, irgendwie also
auch geistloser von Statten gehen. Das Problem ist aus den platonischen Ästhe-
tikvorstellungen bekannt: Zentral ist die ‚Idee‘ des Werkes, die abstrakt über den
irdischen Realisierungsversuchen schwebt und die durch die Kraft menschlicher
Hände niemals deckungsgleich sein kann mit der von aller Materialität entho-
benen geistigen Schöpfung. Einzig Diener der Koordination von Holz- und Blech-
und einigen Instrumenten mithin eines zum Herumfuchtel degradierten Taktge-
Stille Klänge 219

bungsartefakts zu sein, ist angesichts dieser Sachlage damals nicht sonderlich


erstrebenswert gewesen.
Die Ensembles wurden im Laufe der Zeit größer, nachdem sie zunächst –
nach ihrer Migration aus kirchlichen, hier noch rein vokalen Kreisen in die „hö-
fische Gesellschaft“ (Elias) hinein – aus kleinen Gruppierungen bestanden. Die
Kulturgeschichte dieser Transformation ist auch kirchenhistorisch interessant,
denn die Klangräume, die etwa Johann Sebastian Bach an der Orgel, in seinen
Kantaten und in den vergleichsweise wenigen Instrumentalwerken entfaltete,⁵
waren trotz bzw. gerade wegen ihrer geradezu mathematischen Strukturperfek-
tionierung zuvorderst dem Herrgott zu Ehren geschaffen worden. Ihr Zweck war
nicht Unterhaltung. Das wandelt sich schon während der späten Barockzeit. Die
Musik löst sich zunehmend vom liturgischen Beiklang auch dadurch, dass
Stimmen (und damit: Text) dem Vorrang der ‚stummen‘, textlosen, somit all-
mählich auch säkularen Instrumentalklängen wichen. In Bachs Ära mochte bis-
lang noch ein Cembalo ausgereicht haben, um einem schlaflosen Fürsten eine
Serenade zu liefern (Stichwort Goldberg-Variationen), schließlich aber wurde die
Verdichtung zum (nach heutiger Diktion: Kammer‐)Orchester und die Hinzuzie-
hung talentierter Musikanten (in Personalunion aller denkbaren, auch reprä-
sentativer Aufgaben) zum Indikator des kulturellen Sachverstandes eines Herr-
schaftshauses und zum Aushängeschild seines Bildungsstandards. Die kleinen
Formen differenzierten sich in den Rubriken der Kammer- und der Instrumen-
talmusik aus; so entstanden Formen wie die Sonate oder das Streichquartett. Die
Überschaubarkeit des gemeinsamen Musizierens – für Alfred Schütz⁶ der Inbegriff
einer gelingenden Interaktion und sozialen Beziehung – verlangt hier, wie über-
haupt in der Kammermusik, nicht nach Dirigenten und somit auch nicht nach
Taktstöcken.
Weil außerdem die Komponisten da, wo es realistisch war, Aufstiegsambi-
tionen entwickelten, wuchsen die Musikergruppen an. Ein Orchester aus der Zeit
der Wiener Klassik umfasste bereits um die 30 Instrumente. Die ursprünglich
behelfsmäßigen Versuche, in der Person des Komponisten die eigentliche Auto-
rität selbst vor das Orchester zu positionieren – wie es zuvor beispielsweise schon
im 17. Jahrhundert am Pariser Königshof der Fall war, wo nicht dirigiert, sondern
im Sinne einer symbolischen Präsenz des Werkschöpfers der Takt von diesem,
seitlich zum Ensemble positioniert, mit einem Zeremonienstab gestampft wurde
–, war nicht länger praktikabel. Es dürfte als schlechtes Omen für diesen Vorläufer

 Klaus Hock und Thomas Klie (Hg.), Bachzitate: Widerhall und Spiegelung (Bielefeld: Transcript,
2021).
 Alfred Schütz: „Gemeinsam musizieren: Eine Studie sozialer Beziehungen“, in ders., Werk-
ausgabe, Bd. 7: Schriften zur Musik (Konstanz: UVK, 2016), 149 – 169.
220 Thorsten Benkel

des Taktstocks gegolten haben, dass bei einem dieser Konzerte, die im Wesent-
lichen Tanzveranstaltungen für den Adel waren, der französische Komponist
Jean-Baptist Lully sich den Stab in die große Zehe rammte und an einer Wund-
entzündung starb.
Mit der Vergrößerung der Orchester betrat der explizite dirigierende, d. h.
leitende, steuernde, machtvolle musikalische Herrscher die Bühne, der seine
interpretatorischen Einfälle deutlich sichtbar, ja geradezu in inszenatorischer
Manier verkörperte. Berlioz entsprach diesem Typus, ebenso Felix Mendelssohn
Bartholdy. Sie agierten für eine historisch kurze Zeitspanne als handgreifliche
Sachverwalter ihres ästhetischen Selbst, bis sie schließlich durch die hauptbe-
ruflichen Orchesterleiter zwar nicht ersetzt, aber doch umfangreich ergänzt
wurden. Die Orchester wuchsen zu stark an und die interne Zusammenarbeit des
Ensembles verlangte bisweilen zu viel didaktisches Geschick, als dass die prin-
zipiell laienhaft und aus dem Bauch heraus agierenden Tonschöpfer und diri-
gierenden Dilettanten der Angelegenheit gewachsen waren. Hinzu kommen die
politischen, wirtschaftlichen und auch psychologischen Transformationen jener
Zeit, in der sich die alte Welt Europa in nationalstaatliche Kulturbereiche auf-
spaltete, was sich in der Ausbildung eigenwilliger musikalischer Traditionen
niederschlug. Mit einem Mal war Musik „deutsch“, „französisch“, „italienisch“
oder „russisch“. (Nicht aber „englisch“ – denn die britische Insel galt damals, wie
in chauvinistischer Sicht deutsche Feuilletons oft unterstrichen, als „Land ohne
Musik“.) In dieser Zeit der Umbrüche und Neuaufstellungen entstanden die ersten
Taktstöcke – und es entstand der Berufstypus des selbstbewussten Musikers, der
um seine Kompetenzen bei der Koordination von Körper, Instrument und Per-
formanzwissen weiß⁷ und der daher nicht immer glücklich mit besserwisseri-
schen externen Signalen ist.
Die Nostalgischen unter den Musikliebhabern der Gegenwart lassen
manchmal, dann etwa, wenn eine Aufführung besonders ergreifend war, die
Äußerung fallen, dass sie zu gerne einmal gehört hätten, wie der Komponist selbst
das Werk interpretiert hätte bzw. hat. Bekannt ist heute, dass aufgrund ver-
schiedener kultureller, aber auch technischer Facetten (die etwa das Verständnis
von Geschwindigkeitsangaben betreffen, welches das Metronom nur bedingt zu
vereinheitlichen wusste), Musik – und insbesondere Orchestermusik – früher
wesentlich schneller gespielt wurde. Anhand frühester Tonaufnahmen, die seit
dem Beginn des 20. Jahrhunderts in größerem Umfang entstanden sind, lässt sich

 Thorsten Benkel, „Einschreibungen: Körper und Gedächtnis – eine musiksoziologische Be-


trachtung“, in Musik, Kultur, Gedächtnis: Theoretische und analytische Annäherungen an ein
Forschungsfeld zwischen den Disziplinen, hg.v. Christofer Jost und Gerd Sebald (Wiesbaden:
Springer VS, 2020), S. 83 – 103.
Stille Klänge 221

dieser bemerkenswerte Befund hier und da verifizieren. Dies spricht Bände über
die Übersentimentalität heutiger Aufführungspraxen. Und es zeigt, dass Musik-
kultur keine Frage der devoten Unterwerfung unter bedrucktes Papier ist. Viel-
mehr wird in der Formung und Gestaltung durch Dirigent*innen ein Werk immer
wieder neu erfunden. Ob dies unter demokratischen oder diktatorischen Um-
ständen geschieht, ist seit jeher eine umstrittene Frage.
Man könnte sie, wenn diese Überdehnung der Zulässigkeitsgrenzen von
Analogien an dieser Stelle ausnahmsweise gestattet ist, vergleichen mit der Si-
tuation einer (Kirchen‐)Gemeinde, die einer Predigt zuhört bzw. einer Messe oder
einer anderen liturgischen Feier beiwohnt. Die einzelnen Versatzstücke sind all-
gemein bekannt und müssen es sogar sein, damit das Resultat des ‚Zusammen-
spiels‘ von Pfarrer*in und Gemeinde – wie etwa der Gottesdienst – als solches
zustande kommt. Dies gelingt unabhängig von der konkreten Semantik des Got-
tesdienstes, also unabhängig vom Erzählten und Gesungenen, durch den von
allen Beteiligten (früher hätte man gesagt: von allen „Rollenträger*innen“) ak-
zeptierten und performativ realisierten Ablauf. Die symbolische Ordnung der re-
levanten Rituale kennt ‚Leitungspersonal‘ (bei Max Weber: „Virtuosen“⁸), die aber
keiner passiv rezipierenden, sondern einer aktiv mitgestalteten, ja unvermeidlich,
weil unabdingbaren Gruppe wortwörtlich gegenüberstehen. Gottesdienst ist also
– idealtypisch betrachtet – Emergenz, nicht Vortragen und Nachbeten, und in
schwacher Ähnlichkeit gilt dies eben auch für musikalische Anleitungen diri-
gistischer Art, wie sie in Konzertsälen stattfinden. Das kirchliche Singen mit
seiner eigenen, sehr alten Entwicklungshistorie und überhaupt die Tradition des
Chorgesangs als intime, anfänglich und vielerorts noch immer religiös affizierte
Lobpreisung sind Überbrückungen zwischen zwei Kommunikationsformen, die
genealogisch demselben Ursprung entstammen. Die in der Kirche materiell fest
verankerte Orgel und die Orgel im Konzertsaal mögen unterschiedlich verwendet
werden, in kultureller Hinsicht aber sind sie Geschwister.
So schwer es fällt, sich im Rahmen einer regulären Gottesdienstfeier – also
nicht etwa anlässlich kirchlicher Musikaufführungen, die sowohl aufgrund des
sakralen Rahmens wie auch angesichts der akustischen Besonderheiten vieler
Gotteshäuser regelmäßig stattfinden, wenn nicht gerade eine Pandemie tobt –
Pfarrerin oder Pfarrer mit Taktstock in der Hand vorzustellen, so naheliegend
wirkt es andererseits, dass im religiösen Kontext, der hier aus einer offenkundigen
Außenperspektive beschrieben und stark ‚soziologisiert‘ betrachtet wird, die
bloßen Hände in der einen oder anderen Weise ‚den Takt vorgeben‘. Der Diri-

 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der Verstehenden Soziologie (Tübingen: Mohr
Siebeck, 51976), 327.
222 Thorsten Benkel

gierstab als Funktionsgegenstand kommt heutzutage zwar relativ unverziert und


geradezu glanzlos daher (im Gegensatz zu der Zeit, als Arturo Toscanini bei-
spielsweise ein entsprechend langes Gegenstück peitschenartig einsetzte – zur
Sorge des von seinen polemischen Ausbrüchen betroffenen Orchesters). Er bringt
dennoch, weil Ding, die durch seine Signale in Reaktionsbereitschaft versetzten
bzw. setzenden Menschen auf Distanz. Das Artefakt wirkt zwar körperverlän-
gernd, zugleich aber abstandserzeugend. Bildersprachlich gesprochen: Diri-
gent*in und Orchestermusiker*in können nicht ‚Hand in Hand‘ miteinander
agieren, wenn der Taktstock bald hinweisend, bald bedrohlich Vorgaben diktie-
rend im Einsatz ist. Im besten Fall schwingt die von Foucault konstatierte Pas-
toralmacht mit, die ja in vielen Deutungs(konflikt)kontexten subtil im Spiel ist.⁹
Dem Stab haftet dadurch etwas gleichsam ‚Außermenschliches‘ an, schließlich ist
die beschriebene prothesenhafte Funktion eine Ergänzung der anthropologischen
Grundausstattung und ihr gegenüber somit ein Fremdkörper.
Über die nicht eben geringe Zahl namhafter Dirigent*innen, die oft, manche
von ihnen sogar immer ohne Stab dirigieren, wird folglich in der einschlägigen
Feuilleton-Berichterstattung (dem einzigen Forum für entsprechende Reflexio-
nen) regelmäßig gesagt, dass dieser ‚gegenstandslose‘ Dirigierstil persönlicher, ja
menschlicher wirke. Es fehlt nicht nur eine Insignie des Befehlgebens und Do-
minierenwollens – die ja nicht zufällig an allerlei Waffenexponate aus dem mit-
telalterlichen Arsenal erinnert –, sondern es wird durch das Zusammenwirken der
Hände und des Gesichtsausdrucks (des vielleicht eigentlichen Mediums beab-
sichtigter musikalischer Wirkungen) eine andere Art körperliches Gegenüber
konstituiert.¹⁰ Gemäß der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour¹¹ vermen-
gen sich Artefakte und Akteure zu Hybridwesen, die gemeinsam wirken bzw.
zusammen etwas bewerkstelligen. Die nackte Hand hebelt diesen Hybridcha-

 Thomas Klie, „Zwischen Konvention und Konversion: Deutungsmachtkonflikte bei Taufen im


konfessionslosen Umfeld“, in Machtvergessenheit: Deutungsmachtkonflikte in praktisch-theologi-
scher Perspektive, hg.v. dems., Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag (Berlin/Boston:
de Gruyter, 2021), 241– 256, 242.
 Ist es mehr als nur ein persönlicher Eindruck, dass die ‚stablosen‘ Maestras und Maestros vor
allem im Kontext Neuer und Neuester Musik auftauchen? Vielleicht sind es die hier ebenfalls
beheimateten (wenn auch nicht obligatorischen) eigenwilligen Notationen (Erhard Karkoschka,
Das Schriftbild der neuen Musik [Celle: Moeck, 52004]), die bezüglich der Performanz des stum-
men, aber klangerzeugenden Dirigent*innenkörpers zumindest diese eine Innovation, die Takt-
stockaskese, nahelegen – was wiederum für eine tiefergehende Bedeutungsebene spräche, die an
der Optik des Dirigierens festgemacht werden könnte, wenn jemand sich dafür im Zeichen mu-
sikwissenschaftlicher Hermeneutik würde erwärmen können.
 Bruno Latour, „Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie“, in
ANThology, hg.v. Andréa Belliger und David J. Krieger (Bielefeld: Transcript, 2006), 483 – 528.
Stille Klänge 223

rakter von Taktstock und Dirigent*in allerdings auf und macht die entsprechende
Person, so sie denn vor einem Orchester steht, zur einzig nicht-hybrid an der Musik
beteiligten. Oder, im Lichte der beliebten Vorstellung gesagt, dass Dirigent*in und
Orchester ohnehin grundsätzlich so verfeindet sind wie Lehrer und Schüler oder
Vorgesetzte und Angestellte: Die Orchesterleitung ist materiell unbewaffnet,
derweil das Ensemble seine Gerätschaften (seine Instrumente) weiterhin zur
Hand hat und sie erklingen lassen kann, darf und soll. Der Klang kommt also stets
von der Gemeinde.

3 Stille und Umkehr


In dem ansonsten unspektakulären Horrorfilm Nocturne (USA 2020, Regie: Zu
Quirke), einer Variante des Faust-Mythos, ist eine Klavierstudentin, die sich in den
charismatischen, Liebschaften gegenüber aufgeschlossenen Dirigierprofessor
verguckt, nach einigen Begegnungen dermaßen von seiner versteckten Klein-
bürgerlichkeit angewidert, dass sie seinen ‚Fetisch‘, einen wie eine Ikone be-
handelten Taktstock, Ausweis seines zweiten Preises bei einem großen Dirigier-
wettbewerb, wütend ins Feuer wirft. Der Getroffene ist tief geschockt und die
Studentin so sadistisch, ihm die Peinlichkeit seines Festhaltens an letztlich be-
deutungslosen Artefakten auch noch unter die Nase zu reiben. Der Handlungs-
verlauf flaggt aus, dass das brennende Stöckchen, weil für den Zweitplatzierten
vergeben, ohnehin nichts anderes als die Materialisierung (s)eines Versagens sei.
Um hierin eine Phallusassoziation zu erkennen, reichen schon rudimentäre
Kenntnisse der Psychoanalyse aus. Aus dieser Episode lässt sich der Gedanke
ableiten, dass die materielle Verkörperung eines eigentlichen unverkörperten
Sachverhalts – eines Gedankens, einer Idee, oder eben eines raum-zeitlich be-
grenzten künstlerischen Tuns – womöglich nur der Abklatsch einer hier und jetzt
nicht mehr rekonstruierbaren ‚Wahrheit‘ darstellt. Mit anderen Worten, ist der
Dirigierstab, der sich außer Dienst befindet, nicht lediglich ein Verweis auf längst
vergangene Genüsse, auf den nicht genutzten Moment, auf ausbleibende Mög-
lichkeiten? Wenn keine Töne erklingen, wenn nicht dirigiert wird,¹² dann ist der

 Davon unabhängig können größere Ensembles – wie etwa das Orpheus Chamber Orchestra –
durchaus ohne Dirigent*in auftreten, was das Vorhalten einer Taktstocksammlung im Orches-
terfundus erst recht erübrigt. Die Phrasierungsentscheidungen werden gemeinsam getroffen, die
notwendigen Einsätze gibt die Primgeige, und auch alle anderen Aufgaben der obsoleten Lei-
tungsfigur werden vom Kollektiv getragen. Es handelt sich, metaphorisch gesprochen, somit um
kleine soziale Gemeinschaften in völliger Säkularisierung gegenüber der (vielleicht doch primär
nur symbolischen) Leitfigur, die außerdem in ästhetischer Organisationsfreiheit schwelgen. Dem
224 Thorsten Benkel

Zweck des Artefakts nicht erfüllt. Der Zusammenklang bleibt aus; andere Dinge
sind offenbar dringlicher. Was bleibt und was in einer Wartestellung abgelegt ist,
sind die materiellen Bedingungen der Möglichkeit des orchestralen Sounds, vor
allem die Instrumente. Ihnen gegenüber wirkt das Stäbchen nicht nur bezüglich
seiner Ausmaße bescheiden, sondern auch bezüglich seiner Bedeutsamkeit für
die Verwirklichung der Möglichkeiten: Jedes einzelne Musikinstrument kann
nämlich Wohlklang erzeugen. Genau genommen, reicht sogar schon ein leben-
diger Körper aus, damit Töne kontrolliert entstehen. Anleitungen, die nur stille
Klänge erzeugen, sind nicht obligatorisch. Auch deshalb ist der Wurf des Takt-
stocks in den Kamin, der in Nocturne ausbuchstabiert wird, eine verschlüsselte
Kastration: Ohne dieses Hilfsinstrument ist die Verbindung zur Musik abgebro-
chen.
Nun gibt es andererseits Artefakte, die den Reduktionismus des Dirigierstabes
konterkarieren, indem sie ohne Gebrauchswert sind. Ihre bloße Existenz ist ihr
Zweck, der also ein lediglich selbstbezüglicher ist. Sie erfüllen keine Funktion
außer der, da zu sein und in diesem Dasein wahrgenommen zu werden. Sie
brauchen sich nicht an andere Materialitäten zu koppeln, um etwas auszulösen.
Das klingt mystisch, und in gewisser Weise ist das Beispiel, das mir an dieser
Stelle nicht zufällig einfällt, tatsächlich von Mystik ummantelt. In der Studie über
Artefakt und Erinnerung, die ich gemeinsam mit Thomas Klie leiten durfte, wurde
in theologisch-soziologischer Koproduktion auf den sogenannten „Aschedia-
manten“ geschaut.¹³ Dabei handelt es sich um ein Juwel, das einerseits als ‚echter‘
(Industrie‐)Diamant gilt, das aber andererseits auf dem Kohlenstoffgehalt der
Kremationsasche Verstorbener basiert. Konkret werden nach der Kremation eines
verstorbenen Menschen seiner Asche die Kohlenstoffanteile maschinell entzogen,
die wiederum in einem technischen Verfahren – welches die Entstehungsver-
hältnisse von Diamanten im Erdinneren simuliert – zu einem Edelstein gepresst
werden. Diese Diamanten, die in Europa beispielsweise in der Schweiz von einem
darauf spezialisierten Unternehmen hergestellt werden, sind von einer spezifi-
schen Blaufärbung geprägt. Obgleich nur ein kleiner Bestandteil der Krema-
tionsasche für diesen Verzauberungszusammenhang benötigt wird (die Restasche
wird den Angehörigen ausgehändigt oder, wenn diese daran kein Interesse haben,
auf einem firmeneigenen Bergfriedhof bestattet), gilt der Aschediamant den
meisten Hinterbliebenen als materielle Repräsentation des verstorbenen Ehe-

gegenüber ist mir nur ein Stück bekannt, das den Spieß umdreht und zumindest passagenweise
die Dirigent*in ‚ins Leere hinein‘ dirigieren lässt, weil die Partitur verlangt, dass das Orchester den
Gesten untätig zusieht: Sofia Gubaidulinas Stimmen… Verstummen… für großes Orchester (1986).
 Thorsten Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler, Der Glanz des Lebens: Aschediamant und
Erinnerungskörper (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019).
Stille Klänge 225

mannes, der verstorbenen Partnerin, des verstorbenen Kindes. Ist er erst einmal in
den heimischen Kontext der Angehörigen ein- bzw. ‚zurückgekehrt‘, ‚macht‘ der
Diamant nichts weiter, als da zu sein. Zwar sind Schmucksteine immerzu von
einer sehr eingegrenzten Performativität geprägt – sie hübschen beispielsweise
auf und/oder sind Stellvertretersymbole für einen bestimmten (Wohl‐)Stand –, der
Aschediamant aber (übrigens eine projektinterne Wortschöpfung, um eine Ab-
grenzung zu den Deklarierungen der Herstellerfirma zu bewerkstelligen) ist nicht
einmal um dieses ‚Leistungspotenzials‘ willen gekauft, ja erzeugt worden. Er re-
präsentiert in den Augen derer, die gedenken, trauern und noch immer lieben,
eine andere Person, ohne diese Person zu sein; und doch ‚ist‘ er nichts anderes.
Die dreijährige Projektarbeit zwischen Rostock und Passau – nicht eben ein
nachbarschaftliches Unternehmen – hat zu Tage gefördert, wie soziale Zu-
schreibungen an die Adressen von Objekten funktionieren, die doch eigentlich
mehr als Objekte sind.¹⁴ Die materielle Gestalt ist zwar durchaus von Gewicht,
denn ein Diamant (meistens handelt es sich um kleine Steine von 1 bis 2 Karat
Größe) ist fraglos mit Glanz und Pracht, mit Vorzeigbarkeit und Prestige ver-
knüpft. In dieser lebenszugewandten Assoziationskette bildet er einen denkbar
scharfen Gegensatz zu Sterben, Tod und Trauer. Entscheidend aber ist die An-
thropomorphisierung in den Gedankenwelten der Auftraggeber*innen des Juwels,
der Hinterbliebenen: Sie halten mit dem Edelstein ein materielles Souvenir, wenn
nicht gar den letzten Überrest eines geliebten Menschen in den Händen.
Aschediamanten sind in einer ontologischen Selbstbezüglichkeitsschleife; es
gäbe sie nicht, wenn sie nicht – aus der Tragödie eines singulären Todesfalles
heraus – gezielt in Auftrag gegeben würden, um als Endprodukt des Transfor-
mationsablaufs Leiche – Asche – Kohlenstoff – Diamant¹⁵ zu existieren. Takt-
stöcke dagegen sind Massenware. Die Musikalienfachhandel hat zahlreiche Fa-
brikate vorrätig, und in einigen Geschäften für den eher rezipierenden
Musikliebhaber (etwa bei Tower Records am Piccadilly Circus, seit 2009 bedau-
erlicherweise geschlossen) waren sogar Plastik-Pendants zum ‚Mitdirigieren‘ vor
der Stereoanlage erhältlich. Diese Instrumente, die keine wirklichen Instrumente
sind, werden unabhängig von emotionalen Dispositionen hergestellt und auch
unabhängig davon verwendet. Die Ergriffenheit beim Klang der Musik hat nichts
mit dem Schwung des Stabes zu tun. Gleichwohl ist der Taktstock ein performa-

 Thorsten Benkel, „Der unsichere Status der Dinge: Zum Kontinuum von Sozialität und Ma-
terialität“, in Die Dinge, die bleiben: Reliquien im interdisziplinären Diskurs, hg.v. Thomas Klie und
Jakob Kühn (Bielefeld: Transcript, 2020), 71– 86.
 Thorsten Benkel und Matthias Meitzler, „Die Transformierbarkeit des Körpers: Vom ver-
gänglichen Leib zur beständigen Materialität“, in Vanitas und Gesellschaft, hg.v. Claudia Ben-
thien, Antje Schmidt und Christian Wobbeler (Berlin/Boston: de Gruyter, 2021), S. 87– 107, 89 ff.
226 Thorsten Benkel

tiver Gegenstand, der ‚fungiert‘, um etwas außerhalb seiner materiellen wie auch
symbolischen Qualität zu verwirklichen.
Dinglichkeit hat viele Gesichter. Funktionalismus, Oberflächenästhetik und
symbolischer Gehalt sind Komponenten von Artefakten, die unterschiedlich stark
gewichtet bzw. in verschiedenartiger Weise von ‚Nutzern‘ wertgeschätzt oder
nachgefragt werden. Ein toter Mensch kann – keineswegs nur als Edelstein – im
Kontext materieller Ankerpunkte adressierbar sein; dafür steht klassisch die
Grabstätte. Der Grünwuchs am Grab konterkariert die Zerfallslogik der unsichtbar
gemachten Leiche, und seit einiger Zeit sorgen individualisierte Grabgestaltungen
für eine weitere Ebene von ‚Lebendigkeit‘ auf dem Totenacker. Funktion, Ästhetik
und Symbolik treffen hier auf anschauliche und daher auch im Hinblick auf die
sie begleitenden Ritualformen aufschlussreiche Weise aufeinander.¹⁶
Funktion, Ästhetik und Symbolik des Dirigierstabes sind hingegen keine
gleichwertigen Kategorien. Die Standardformel für soziologische Kontingenzbe-
schwörungen – „Alles könnte anders sein“¹⁷ – trifft bei diesem Artefakt ins
Schwarze: Eine musikalische Aufführungsszene, bei der der Taktstock nicht ge-
braucht wird, ist schließlich keine Vision, sondern in vielen Konzertsälen und
Aufnahmestudios Realität.Wenn ein Gegenstand nicht gebraucht wird, damit das,
was seine Existenzberechtigung impliziert, evoziert werden kann – ist dieser
Gegenstand dann tot?
Der britische Dirigent Thomas Beecham wünschte sich einmal einen „magic
wand“, der die Musik dirigiert, ohne dass er sich dafür engagieren müsse. Der
Mensch fiele somit zurück hinter das Ding. Dies wäre ein lebendiges, ein soziales,
ein voluntatives Artefakt – es hätte einen Willen. Und ein zauberhafter Taktgeber
ohne steuernde Hand wäre außerdem auf eigenwillige Weise das Pendant des
Aschediamanten, ihm dürfte nämlich zugeschrieben werden, aus sich heraus zu
wirken. Tatsächlich aber verbleibt der Stab, etwa bei Valery Gergiev reduziert auf
die Größe eines Zahnstochers, da, wo es ihn noch gibt, fest in der Hand des ei-
gentlich Wollenden, der sich von dem Gegenstand, welcher diesen Willen nach-
zeichnet, unterscheidet. Das ist der Wirklichkeit des Diamanten nicht unähnlich –
denn auch hier sind es fremde Willensbekundungen, ja Projektionsleistungen, die
das glanzvolle Artefakt erst zu dem machen (die es geradezu ‚vitalisieren‘), als das
es im Umkreis der Eingeweihten erscheinen kann.
Ein Anfang der 1970er Jahre entstandenes Orchesterstück von Bernd Alois
Zimmermann trägt den Titel Stille und Umkehr. Neben den Instrumentalklängen

 Thomas Klie, „Bestattungskultur“, in Tod, hg.v. Ulrich Volp (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018),
201– 254.
 Niklas Luhmann, „Komplexität und Demokratie“, in ders., Politische Planung: Aufsätze zur
Soziologie von Politik und Verwaltung (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1994), S. 35 – 45, 44.
Stille Klänge 227

erklingt aus einem Lautsprecher eine vorab aufgenommene Tonspur – ein damals
beliebtes Gimmick und eine Art material expansion turn, in dessen Gefolge auf
dem Konzertpodium außermusikalische Gerätschaften plötzlich Platz fanden.
Noch bevor man weiß, wie das Ganze klingen mag, legt der Titel Stille und Umkehr
gewisse Assoziationen nahe. Eine schöne Implikation dieses Titels besteht darin,
dass man sich angesichts der Stille, die zu Beginn dieses Textes angesprochen
wurde, mit dieser auseinandersetzt – um dann doch wieder umzukehren auf die
andere Seite, dahin, wo die Töne und Klänge lokalisiert sind. Auch darin ist eine
Parallele zu Tod und Trauer eingegraben: Sich der Stille zuzuwenden, die ein
Lebensende erzwingt, bedeutet nicht, dass man nicht umkehren kann. Ob diese
Kehre ‚von außen dirigiert‘, durch die Anleitung anderer, oder auf anderen Wegen
zustande kommt, kann nur der Einzelfall zeigen. Auf das Schweigen folgt ein
weiteres Sprechen, scheint Zimmermann besagen zu wollen.
In diesem Sinne habe ich am Beispiel eines gänzlich meinen subjektiven
Interessen entstammenden Exempels für ein Ding zwischen ‚Zeichen und Spiel‘
nicht mehr als in Dankbarkeit anzudeuten versucht, dass einer wie ich, der – wie
eine berühmte Briefstelle von Max Weber an Ferdinand Tönnies besagt – der
weitgehend „religiös unmusikalischen“ Zunft der Soziolog*innen angehört, zu
produktiven und inspirierenden Berührungen mit der Praktischen Theologie ge-
langen kann – allemal dann, wenn der Mensch gegenüber Thomas Klie heißt.
Bernhard Dressler
Ein Paar Bergschuhe
Verstreute Gedanken zum Bergsteigen und zur Religion

Über die Religionsaffinität des Bergsteigens ist schon oft nachgedacht worden.
Bergsteigen steht – oder sollte man angesichts seiner zunehmenden Bemächti-
gung durch die Freizeitindustrie sagen: stand? – für die Suche nach dem Erha-
benen, nach existenziellen Grenzsituationen, nach dem Einklang mit der Natur.
Auch Bergsteiger, die sich als nichtreligiös verstehen, geraten oft in eine religi-
onsanaloge Redeweise, wenn sie von ihren Bergerlebnissen sprechen. Vor allem:
Wenn sie von den Motiven sprechen, die sie in die Felswände, auf die Gletscher
und die Firngrate treiben, von der Bereitschaft zur mühevollen Anstrengung und
zum Risiko großer Gefahr. Manche Grate werden als „Himmelsleitern“ mit Jakobs
Traum assoziiert. Schon die nur auf den ersten Blick triviale Antwort vieler
Bergsteiger auf die Frage nach dem Grund, warum sie einen Berg besteigen – „weil
er da ist“ – verweist auf jenes zweckfreie, aber zielgerichtete Handeln, als das mit
Friedrich Schleiermacher der Gottesdienst begriffen werden kann. Und Schleier-
machers Nähe zu den Romantikern, die, etwa in vielen der Gemälde Caspar David
Friedrichs, in den Bergen das Erhabene entdeckten, dürfte kein Zufall sein. Der
alpinistische Stilwandel von Edward Whymper über Luis Trenker bis zu Reinhold
Messner hat die Kontinuität der Suche nach dem Kontingenten und dem Sublimen
nicht gebrochen.

1 Meine Bergschuhe
Ich gehe aus Altersgründen nicht mehr über schwierige Routen auf hohe Gipfel.
Wenn ich auf leichten Wanderungen im Gebirge ferne Firne leuchten sehe, ver-
binden sich Erinnerungen mit einer Sehnsucht, die ungestillt bleibt. Für die
Wanderungen wähle ich aus dem Schuhregal im Keller oft die Hochtouren-Stiefel,
mit denen ich eigentlich overdressed bin, aber an denen diese Sehnsucht und
Erinnerungen an hochalpine Bergtouren kleben wie das Lederfett, mit denen sie
gepflegt werden. Auch wenn sie schwerer sind als die normalen Plastik-Wan-
derschuhe, die heute die Regale der Sportgeschäfte füllen, versprechen sie Tritt-
sicherheit und deshalb entspannteres Gehen auch auf leichten Gebirgspfaden.
Warum finde ich meine Bergstiefel schön? Liegt es nicht nur an den Erinne-
rungen, die ich mit ihnen verbinde, sondern auch an ihrer Materialität, der
Stofflichkeit, mit der sie sich vom gängigen Sportwaren-Design der Freizeitindu-

https://doi.org/10.1515/9783110762853-015
230 Bernhard Dressler

strie unterscheiden? Dunkelbraunes, glattes Juchtenleder (ein auf besondere Art


gegerbtes Rindsleder), zwiegenäht (die hellen, vom Leder optisch abgehobenen
Nähte sind am auffälligsten), die Schäfte aus einem Stück, die berühmte feste
Vibram-Montagna-Sohle, die Steigeisenfestigkeit fürs Eisgehen garantiert. Viel-
leicht als unmodern belächelt, bieten sie ein Distinktionsmerkmal für einen Le-
bensstil jenseits modernen Life-Style-Designs. Aber sie verkörpern das Verspre-
chen äußerster Langlebigkeit, zeitgemäß formuliert: äußerster Nachhaltigkeit.
Moderne Bergschuhe werden nicht mehr genäht, schon gar nicht zwiegenäht,
sondern fast nur noch geklebt. Das ist unaufwändiger und kostengünstiger. Nach
wenigen Jahren können sich die Weichmacher in den Klebstoffen verflüchtigen
und die Schweißnähte der Gummiränder lösen sich auf: Dahinter steckt die nie-
derträchtige Profitgier geplanter Obsoleszenz, der gezielt eingebaute Produkt-
verschleiß – schneller kaufen, schneller wegwerfen; Sinnbild eines Konsumis-
mus, der identisch ist mit unendlicher Müllproduktion. Stilistisch passend zur
Verwandlung des Gebirges in einen Freizeitpark und des Berges in ein Turngerät.
Natürlich ist die Frage erlaubt, ob die im Kontrast zu modernen Berg- und
Wanderschuhen herausgestellte Optik und Stofflichkeit meiner Stiefel nicht ge-
rade solche ästhetischen Bedeutungsüberschüsse enthält, die auf eine konser-
vative Kulturkritik hindeuten, die heute aus der Zeit fällt, und gerade damit –
gewissermaßen selbstwidersprüchlich – einer Art konsumistischer Warenästhetik
verhaftet bleiben.¹

 Aus einer Werbung im Internet (online abrufbar unter http://www.jagd-schuhe.de/wanderstie


fel/): „Zwiegenähte Bergsschuhe (sic!): Bei zwiegenähten Bergsschuhen gibt es nur 2 Meinungen.
Entweder man lehnt sie ab oder man liebt sie. Sie sind nichts für Technik-Freaks und High Tech
Materialien Fans und auch nichts für „Flachlandtiroler“. Zwiegenähte Bergschuhe spiegeln die
Einstellung der Menschen wider. Das Leder und die Machart geben dem Bergstiefel die Seele. Hier
spielt das Gewicht keine Rolle. Entscheidend sind Passform, Strapazierfähigkeit und die Sehn-
sucht der Menschen nach dem Ursprünglichen. Die weiche Polsterung der zwiegenähten Berg-
schuhe mit Lederfutter geben (sic!) dem Fuß das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit in den
Bergen. Das Leder ein gesundes Fußklima und die grobe Sohle einen sicheren Tritt. Luis Trenker
hätte seine wahre Freude daran. Die klassische Form und die traditionelle Ausstattung machen
diese Wanderschuhe zu einem wertvollen, verlässlichen Begleiter. Ob E5, der Jacobsweg, gute
Schuhe sind ein Muss auf jeder Pilgerreise und für all diejenigen die durchs Leben wandern.“
Konservatives Stil-Versprechen geht freilich auch hier mit konsumistischer Verblödung einher:
Auf der gleichen Seite ist von „Preis-Knallern“ die Rede.
Ein Paar Bergschuhe 231

2 Bedeutungsüberschüsse von Schuhen


An Schuhen überhaupt, nicht nur an meinen Bergstiefeln, haften Bedeutungs-
überschüsse. Gealterte Schuhe sind ein Sinnbild des Alterns. Die nostalgischen
Erinnerungen, die mir meine Bergstiefel wecken, rufen das Bewusstsein der Be-
wegungsrestriktionen im Alter wach. Schuhe sind Sinnbilder der Bewegung. Sie
geben Bodenkontakt, Stand, den Füßen Schutz, manchmal auch Bequemlichkeit.
Der Blick nach unten gilt bisweilen mehr als der Blick nach oben. Erinnerungen
sind mit ihnen fast immer verbunden: Die lange gewohnten, die abgetragenen
Schuhe, deren Wert nur noch darin liegt, dass sie noch da sind.²
Schuhe scheinen neben ihrer profanen Funktion immer schon als Allegorien
gedient zu haben, ob als Fetisch oder als Statussymbol. In Erzählungen und
Märchen wohnt ihnen Zauberkraft inne; Stiefel symbolisieren Herrschaft; mit
Frauenstiefeln wird sexuelle Begierde, weibliche Stärke oder Dominanz assoziiert;
High Heels stehen für Erotik. Besonders in Jugendkulturen signalisieren Schuhe
Gruppenzugehörigkeiten.Wie kaum ein anderes Kleidungsstück funktionieren sie
als Distinktionsmarker.
Und was unterscheidet im Kunstzeitalter der ready mades ein Paar Schuhe
von einem Kunstwerk? Mein erinnerungsträchtiger Blick auf meine alten Berg-
stiefel zeigt, dass Schuhe, zumal außerhalb ihres Gebrauchskontextes, zumindest
kunstanaloge Objekte werden können. Kunst ist Alltagsunterbrechung, darin der
Religion verbunden. Der Blick auf die Dinge wird ein anderer, wenn sie ihren
Gebrauchswert abgestreift haben. Freilich mag darin auch der Grund für die
häufige fetischistische Verdinglichung von Schuhen liegen: „Durch die Selbst-
behauptung der Ware herrscht das Subjekt nicht länger über die Dinge, sondern
besetzt die Dinge mit Begehren, die dadurch ein Eigenleben gewinnen, mit den
Menschen agieren und ihnen Realität abstreiten.“³
Dinge, zumal als Waren – das wissen wir, seit Karl Marx im Warenfetischis-
mus die „theologischen Mucken“ aufdeckte – sind mehr als Dinge. Nicht nur, weil
sie allerhand Projektionen auf sich ziehen, mit bewussten und unbewussten
Selbstdeutungen verbunden sind, sondern weil sie infolge einer subtilen Selbst-
ermächtigung über die Menschen verfügen. In der fetischistischen Objektbezie-
hung geht das Bewusstsein davon verloren, dass die einem Objekt zugeschriebene

 Vgl. Dietrich Zilleßen, „Seltsames Begehren“, in Lust und Abgrund: Theologische und kultur-
wissenschaftliche Zugänge zum Begehren, hg.v. Richard Janus und Harald Schroeter-Wittke
(Wiesbaden: VS-Springer, 2022).
 Isabel Capeloa Gil, „Fuß-Karrieren: Der Schuh von Baudelaire bis Warhol“, Paragrana 21 (1)
(2012): 212– 229, hier 213. Ich verdanke Dietrich Zilleßen den Hinweis auf diesen Aufsatz.
232 Bernhard Dressler

Macht nicht real ist. Es geht um ein „als ob“, das Hartmut Böhme im Sinne einer
„Fetisch-Dynamik“ deutet: „Wir glauben (nicht), aber wir handeln so, als
glaubten wir, und glauben dadurch, ohne zu glauben.“⁴ Doch gerade weil er nicht
verfügt, weiß der Fetischist mit dem „als-ob-Spiel im Konjunktiv“ wenig anzu-
fangen.⁵ Und das unbewusste Begehren kommt nie zur Ruhe.
Einen Höhepunkt erreichte die ästhetische Sublimierung von Schuhen im
Streit um Martin Heideggers Deutung eines Gemäldes von Vincent van Gogh in
seinem Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerks“, in dem er 1960 einige voraus-
gehende (kunst)philosophische Einzelarbeiten zusammenfasste. In den zwei
ausgelatschten alten Schuhen auf van Goghs Bild sieht Heidegger ohne jeden
Grund die Schuhe einer Bauersfrau und eine Metapher für deren Leben. Er „er-
klärt die Schuhe zur dinglichen Verkörperung des Daseins einer Bäuerin. Warum
er meint, dass sie einer Bäuerin gehörten, sagt er nicht, schlussfolgert aber ‚Kunst
ist das Sich-Ins-Werk-Setzen der Wahrheit.‘“⁶

Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeugs starrt die Mühsal
der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeugs ist aufgestaut die Zä-
higkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen
des Ackers (…). Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen
schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem
Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde (…) Durch dieses Zeug zieht das
klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens
der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes.
Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Aus diesem behüteten
Zugehören ersteht das Zeug selbst zu seinem Insichruhen.⁷

Kann man sagen, van Goghs Bild bringe das zur „Unverborgenheit“, was von den
Alltagsroutinen verdeckt wird, zeuge von der „Zeughaftigkeit des Zeugs“, zeige
einen verborgenen Bezug zur Erde, setze die Wahrheit „ins Werk“, offenbare
Schönheit als eine „Weise, wie Wahrheit west.“?⁸ Ist Heideggers Deutung eine
Abart des Schuhfetischismus? Es ist jedenfalls eine Art von Idyllenmalerei, gegen
die Einspruch erhoben wurde, am deutlichsten vom deutsch-amerikanischen
Kunsthistoriker Meyer Schapiro, der 1968 in einem Aufsatz Heidegger vorwarf, das

 Zitiert bei I. Gil, ebd., 215.


 Ebd., 215 ff.
 Uta Baier, „Wie sich Forscher über van Goghs Schuhe streiten“, Die Welt v. 24.10. 2009 (online
abrufbar unter https://www.welt.de/kultur/article4909929/Wie-sich-Forscher-ueber-van-Goghs-
Schuhe-streiten.html).
 Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerks (1935/36)“, in Holzwege, hg.v. dems.
(Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 61980), 18 f.
 Thomas Assheuer, „Kunst: Die Schuhe der Philosophen“, Die Zeit v. 24.09. 2009.
Ein Paar Bergschuhe 233

Malerische am Bild zu ignorieren, van Gogh als Vorwand für seine Seinsphilo-
sophie, für sein raunendes „Pathos des Ursprünglichen und Bodenständigen“ zu
missbrauchen.⁹ Wahrscheinlich hatte van Gogh die Schuhe in der Stadt, in Paris,
gekauft, sie kaum selbst getragen, sondern sie aus einem einzigen Grund in sein
Atelier am Montmartre gebracht: Er wollte sie malen. Es entstand ein radikales
Gemälde, mit dem ein alltägliches Ding, das vorher kaum als kunstwürdig galt,
völlig isoliert zum malerischen Objekt erhoben wurde. Die Entmythologisierung
noch weiter als Meyer Shapiro trieb, man kann es sich denken, Jacques Derrida,
der fragte: „Handelt es sich überhaupt um ein Paar Schuhe? Sind es nicht zwei
linke Schuhe? Und warum sind sie unterschiedlich geschnürt?“¹⁰ Für Derrida ist
van Goghs Gemälde kein Spiegelbild der Realität, sondern eine „Allegorie der
Malerei“. Er dekonstruiert die „Zuschreibungsdiskurse“: „Es gibt Schuhe – das ist
alles“.¹¹ Das Bild soll als Kunstwerk ernstgenommen werden, und nicht als Il-
lustration einer philosophischen Meinung oder ästhetischen Theorie.

3 Erinnerungsträchtigkeit meiner Stiefel. Vom


Bergsteigen
Nun, was mir beim Blick auf meine Bergschuhe durch den Kopf geht, sind keine
kunsttheoretischen Reflexionen. Ich sehe kein Bild meiner Stiefel, sondern meine
Stiefel. Die sind behaftet mit Naturerlebnissen, genauer noch, mit Sedimenten
biographischer Erinnerung: Wo überall (und wo besonders intensiv) bin ich mit
diesen Schuhen gegangen? Mir kommen Aufbrüche an hohen Berghütten in den
Sinn, deren Zugang oft selbst schon einen langen, mühsamen Aufstieg verlangt.
Aufbrüche in der Dunkelheit vor Morgenanbruch, man muss mittags zurück sein,
bevor der Gletscher in der Hitze sulzig wird und die Schneebrücken über den
Spalten brüchig werden. Der Gang nach draußen, kalte Luft, tastendes Gehen in
der Weglosigkeit, im Dunkeln tanzende Lichter der Stirnlampen anderer Berg-
geher vor und hinter mir. Dann die aufgehende Sonne, ringsum leuchtendes Rot
auf den Firnflächen und auf den ins Licht getretenen fernen Gipfeln. Schließlich
der Übergang auf die eigentliche Route: Anseilen, das Klickern der Karabiner, das

 Kerstin Thomas, „The Still Life of Objects – Heidegger, Schapiro and Derrida“, Zeitschrift für
Ästhetik und Allgemeine Kulturwissenschaft 1 (2015) (online abrufbar unter https://doi.org/10.
28937/1000106256).
 Zit. von Th. Assheuer, Kunst.
 Vgl. Thomas Keith, „Restitutionen“: Derridas Auseinandersetzung mit Heideggers „Ursprung
des Kunstwerks“ (München: GRIN, 2008).
234 Bernhard Dressler

Anlegen der Steigeisen, deren Knirschen beim Gehen auf dem noch harten Firn,
das allmähliche In-den-Rhythmus-finden beim Gehen, und dann irgendwann
stellt sich im gleichmäßigen Schreiten eine Art medidatives Selbsterlebnis ein,
unterbrochen nur gelegentlich von Kletterpassagen im harten Fels. Beim Blick auf
meine Schuhe sind das fast intensivere Erinnerungen als an die grandiosen
Fernblicke und Panoramen auf den Gipfeln. Schuhe sind erdverbunden.
Ja, das ist keine Phrase: Die Berge geben zu erleben, weil sie da sind. „Subtile
Momente, die man dort erlebt. Es ist vorwiegend die Stille, die man dort suchen
darf. Obwohl der Berg steht und sich nicht rührt, kann man dort Grunderfah-
rungen des Sozialen machen“¹²: Das Gehen und Steigen in einem Gelände, das vor
nicht langer Zeit von den Menschen gemieden wurde. Noch vor wenigen Jahr-
zehnten wäre es keinem Gebirgsbauern eingefallen, hier heraufzusteigen.
„Da gehört wirklich kein Mensch her. Das ist (…) so nicht für den Menschen
gemacht. Und dennoch ist man hier. Da ist mir klar geworden, wie zwiespältig, wie
von Grund auf ambivalent diese ganze Bergsteigerei ist. Und diese Ambivalenz zu
denken, auf keine Seite abzugleiten, sich nicht für Eindeutigkeiten zu entschei-
den, sondern im Mehrdeutigen, zumindest im Zweideutigen zu bleiben, das habe
ich mir zur Aufgabe gestellt.“¹³
Zugegeben: Man kann Bergsteigen auch als bloßes Freizeitvergnügen betrei-
ben. Das trifft für zunehmend viele Bergsportler zu. Aber noch mindert das nicht
das Elitäre am Bergsteigen, das wortwörtliche Sich-Erheben über die Niederungen
des Lebens. Auch wenn der Nietzscheanismus, das Pathos der Gefahrensuche und
der ursprüngliche Männlichkeitsgestus des Bergsteigens aus der klassischen
Phase des Eroberungsalpinismus längst verschwunden ist. Heute dominieren
subtilere Formen existenzialistischer Selbstdeutung oder – bei Reinhold Messner
gelegentlich – spirituelle Selbstinterpretationen meist ostasiatischer Provenienz.
Ich selbst habe beim Bergsteigen, insbesondere weil und indem ich vom Fels-
klettern zu den Hochtouren auf die großen Alpengipfel gewechselt bin, selten
etwas riskiert, geschweige denn das Risiko gesucht. Aber Mühe und Anstrengung
verbinden sich mit der Leichtigkeit eines Gefühls des Außer-der-Welt-Seins. Liegt
hier der Berührungspunkt zur Religion?
Aber wie kann das sein, dass das kontingente und chaotische Resultat des
Geschiebes, Gedränges, Gewürges der unseren historischen Horizont völlig
überspannenden Plattentektonik als schön und erhaben wahrgenommen wird?
Und zwar umso mehr, als seine geologischen Ursachen naturwissenschaftlich

 Die Alpinistin Helga Peskoller in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (online abrufbar
unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/extrembergsteigerin-helga-peskoller-der-berg-
lehrt-das.970.de.html?dram:article_id=441527).
 Ebd.
Ein Paar Bergschuhe 235

durchschaut sind, und das Gebirge nicht mehr als menschenfeindlicher, unzu-
gänglicher Ort, nicht mehr als Wohnstatt lebensfeindlicher Geister wahrgenom-
men wird? Auch hier sind in den Wahrnehmungen Deutungen im Spiel, aber wie
werden sie stimuliert? Als Reaktion auf die langweilige Glätte und Berechenbar-
keit des Lebens in der Zivilisation? Aber es ist ja doch am Ende die Rückkehr in die
Welt der Gewohnheiten, die uns das Risiko der Alltagsunterbrechungen wagen
lassen:

Gewohnheiten versichern das Reisen gegen sich selbst, gegen seine Haltlosigkeit, gegen die
Unwägbarkeiten des Lebens, gegen die tiefe Fremdheit der Existenz. Gewohnheiten: das
Wort ist bezeichnend. Wohin anders als nach Hause soll es denn gehen, wenn wir in die
Fremde ziehen. (…) Wir ziehen in die Fremde, um zu Hause bleiben zu können, um Heimat zu
sichern. Die Fremde ist der Grund der Heimat, weil sie die Heimat bestätigt. In der Fremde, in
die wir ziehen, spiegelt sich die Heimat, an der wir hängen. Wir ziehen in die Fremde. Aber
wir kommen nirgends anders als bei uns selbst an.¹⁴

Wahrscheinlich liegt darin ein Grund, warum sich Religion immer schon mit
Pilgerreisen, Wallfahrten, Prozessionen verband: „Loslassen und sich binden,
weggehen und zurückkehren.“¹⁵
Es ist deshalb auch das „normale“ Wandern mit ähnlichen, wenn auch we-
niger extremen Erlebnissen behaftet, wenn einem im Alter das Steigen auf hohe
Berge verwehrt ist. Es gibt viele gute Gründe, zu gehen. Und ich ziehe meine
Hochtourenstiefel gern auf Wanderwegen an. Auch dort, wo das Gehen keine
sportliche Anstrengung ist, kann es mit einem Bewusstsein des Zu-sich-selbst-
Kommens verbunden sein.

4 Religiöse Dimensionen des Bergsteigens


Nun endlich soll noch kurz etwas ausdrücklicher zur Sprache kommen, wovon
bisher überwiegend implizit die Rede war: Die religiöse – oder etwas zurück-
haltender – die spirituelle Dimension, die mit dem Bergsteigen verbunden ist und
die, wie es z. B. Jörg Lauster gezeigt hat, das Bergerlebnis zwar nicht zwingend
eröffnet, die es aber fördern kann.¹⁶

 Dietrich Zilleßen, „Wir ziehen in die Fremde: Ein kleines Kapitel Religionspädagogik“, Lo-
ccumer Pelikan 2 (2004): 62.
 Ebd.
 Jörg Lauster, „Der Berg ruft: Eine Christologie der Alpen zwischen Materialismus und Meta-
physik“, NZSTh 4 (2016): 435 – 452.
236 Bernhard Dressler

Lauster zeigt am Beispiel des US-Amerikaners John Muir, dessen Wirken eng
mit der Errichtung von Nationalparks im nordamerikanischen Hochgebirge ver-
bunden ist, wie sich in dessen Lektüre von Autoren der Romantik „Wurzeln
moderner Naturverehrung“ zeigten:

Platonismus, Aristotelismus und Christentum verschmelzen darin zu einer Haltung, die in


der Natur eine göttliche Ordnung ausmachte, die Aufklärung begeisterte sich für die Ziel-
gerichtetheit und Lenkung der Natur, die Romantik für die außer-gewöhnlichen Stimmungen
der Erhabenheit, Ehrfurcht, aber auch kosmischer Geborgenheit, die die Natur im Menschen
auslösen kann. Muir formte daraus die Idee, dass die Natur ein Erscheinungsraum des
göttlichen Geistes sei. Später sagte er sogar, dass sich Gott im Buch der Natur besser und
klarer als in der Bibel offenbare.¹⁷

Lausters theologische Pointe besteht nun aber nicht in der Wiederentdeckung


einer Art „natürlicher Theologie“, die sich von der christlichen Religion am Ende
abkoppelt, sondern darin, wie sich die Naturerlebnisse im Gebirge spiegeln lassen
in der Materialismuskritik und der Überwindung postmodernen konstruktivisti-
schen Denkens durch den sog. „Neuen Realismus“¹⁸ und, vor allem, durch den
amerikanischen Philosophen Thomas Nagel und dessen großes Buch „Geist und
Kosmos.“¹⁹ In dieser Sicht auf die Welt gründet „weniger ein gestiegenes Zutrauen
in die menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten als vielmehr die Überzeugung der
robusten Widerständigkeit der Welt, die sich in das Bewusstsein hineinbildet. Es
gibt den Berg also nicht nur, er prägt sich auch kräftig ein in das Bewusstsein.“²⁰
Thomas Nagels Überlegungen zu „Geist und Kosmos“ lese ich wie eine Re-
pristination des Pan-Psychismus eines Baruch Spinoza oder des Friedrich
Schelling zugeschriebenen Gedankens: „Die Natur schlägt im Menschen die Au-
gen auf und bemerkt, dass sie da ist“. Nur, dass Nagel diesen Gedanken auf dem
Niveau einer intensiven kritischen Erörterung materialistischer Theorien, insbe-
sondere der neodarwinistischen Evolutionstheorie, entwickelt.²¹ Mit Nagel je-

 Ebd., 438.
 Lauster erwähnt besonders: Markus Gabriel (Hg.), Der Neue Realismus (Berlin: Suhrkamp,
2014).
 Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption
der Natur so gut wie sicher falsch ist (Berlin: Suhrkamp, 2016).
 J. Lauster, Berg, 451.
 „Jedes einzelne Leben bei uns ist ein Teil des langwierigen Prozesses, in dem das Universum
allmählich erwacht und sich seiner selbst bewusst wird.“ (Th. Nagel, Geist, 125; zit. bei J. Lauster,
Berg, 447). Ich würde nicht so weit gehen, Darwins Erkenntnisse für die Evolution der Artenvielfalt
vollständig zu verwerfen, wohl aber für die Erklärung der Entstehung von Leben überhaupt. Dass
Thomas Nagel immer wieder betont, er sei Atheist, ist nach meiner Vermutung der Abgrenzung
vom in Amerika in den christlichen Denominationen vorherrschenden Theismus, insbesondere
Ein Paar Bergschuhe 237

denfalls kann Jörg Lauster „begründet annehmen, dass es auch wiederum etwas
an den Bergen selbst ist, auf das wir im Modus einer inneren Stellungnahme
reagieren. Wir finden die Berge schön, weil etwas an ihnen zu uns sagt, dass sie
schön sind.“²² Und weiter „lässt sich mit den Kritikern des Materialismus sagen,
dass diese offensichtliche Resonanz zwischen unserem Bewusstsein und dem
Berg nur unzureichend erklärt ist, wenn wir die Resonanz als Resultat einer in sich
gänzlich zufälligen Evolution begreifen. Eine solche Erklärung kann sowohl ra-
tional als auch emotional die Tiefe der Bergerfahrung nicht angemessen reprä-
sentieren.“²³
Zugespitzt: „Wenn ich auf den Bergen stehe, dann werden sich in dem, was
ich dort über die Berge denke und empfinde, die Berge ihrer selbst bewusst.“²⁴
Und, im Blick auf die Gipfelkreuze, von denen in den letzten Jahren viele von
wahren Barbaren, von angeblichen Kämpfern für Religionsfreiheit (verstanden als
Freiheit von vermeintlicher religiöser Bevormundung) zerstört wurden, lässt sich
sagen, dass sie uns anregen, und

dass es gute Gründe gibt, an diesem Ort die Gegenwart Gottes in der Welt für denkmöglich zu
halten, das Gipfelkreuz vergegenwärtigt aber zugleich, dass diese Präsenz in unseren
Denkmöglichkeiten niemals ganz aufgeht, ja diese Präsenz überhaupt niemals ganz in dem
aufgeht, was sich Menschen von der Gegenwart Gottes erdenken und ersinnen. Am Gipfel-
kreuz leuchtet beides auf, Sinn und Geheimnis der Welt. Darum ist das Gipfelkreuz die
Eucharistie eines freien und dennoch frommen Christentums.²⁵

5 Ein Ausblick ins Weite: Religionspädagogik und


Geist
Pneumatologische Themen sucht man in der Religionspädagogik weitgehend
vergeblich. Wenn „Spiritualität“ zum Thema wird, dann eher in Gestalt jener
weichgespülten Formen von Religiosität, die oft nicht von Esoterik, gar manchmal
nicht von Kitsch, zu unterscheiden sind. Die Geistphänomene, die auch die Berge
zum Sprechen bringen, sind indes die Voraussetzung dafür, uns als Personen zu
verstehen, als „jemand“ von „etwas“, also von der Dingwelt, unterschieden zu

von den Kreationisten, geschuldet, mit denen er von seinen Kritikern umstandslos in einen Topf
geworfen wird. Nach den Kriterien europäischer, insbesondere deutschsprachiger Theologie ist er
allenfalls ein der Religion nicht unfreundlich gesonnener Agnostiker.
 J. Lauster, Berg, 447.
 Ebd.
 Ebd., 448.
 Ebd., 452.
238 Bernhard Dressler

sein, uns also nicht als jene Objekte zu verstehen, als die uns materialistisch-
naturalistische Theorien letztlich nur verstehen können. Von der Dingwelt ver-
schieden zu sein, ist die Bedingung dafür, uns von Dingen ansprechen lassen zu
können. Wie verändern sich Phänomene geistig-bewussten Lebens, wenn die
Frage thematisiert wird, ob, und wenn ja: warum die Welt „lesbar“ ist, also eine
intelligible Sinndimension jenseits eines materialistischen Evolutionsgeschehens
erkennen lässt? Warum bleibt Bewusstsein in naturalistischer Perspektive ein
Rätsel? Und wie erscheint es in religiöser Perspektive als Geheimnis? Das lässt
sich auch ohne Religion fragen, mit möglichen Antworten auf diese Fragen ist
keine Nötigung zum Gottesgedanken verbunden. Selbst dann, wenn man vor
diesen Fragen auf Verstehen verzichtet, hält man durch sie aber doch ein Sen-
sorium für Geistphänomene wach. Und wo, wenn nicht im Religionsunterricht, ist
ein vorzüglicher Ort für solche Fragen? Es ist ein religionsdidaktisches Desiderat,
Bezüge zwischen Subjektivitätstheorien und den Selbstbewusstseinsdimensionen
des Welterlebens und Weltumgangs stark zu machen, mit denen Geist-Phäno-
mene zu erhellen sind. So ist die Grenze scharf zu ziehen gegen die auch in der
Religionsdidaktik (vor allem der sog. „konstruktivistischen Religionsdidaktik“)
bisweilen beobachtbaren Tendenzen, sich auf Theorien zu beziehen, bei denen
die Unterscheidung zwischen Personen und Sachen unscharf wird. Die Rezeption
nicht jeden kulturwissenschaftlichen turns ist für Religion und Theologie be-
kömmlich.
Petra Schulz
Schieferdachplatten
Annäherung an ein imaginäres Museum

Es geht im Folgenden um das Kunstprojekt „Grauzone. Ein Dach wird Kunst“¹, das
auf dem Gelände einer Remise im dänischen Gedser beginnt und seinen vorläu-
figen Höhepunkt im Kulturhistorischen Museum der Hansestadt Rostock findet.
Im Mittelpunkt dieses Kunstprojekts stehen die Schieferdachplatten, die einst das
Dach der Remise bildeten. Erzählt wird von der Entstehung und Entwicklung des
Kunstprojekts aus der Perspektive der Schieferdachplatten und das metaphori-
sche Potential dieser Erzählung wird exemplarisch entfaltet.

Als der Künstler auf die Schieferdachplatten stieß, ahnten weder diese noch er, was
aus der Begegnung einmal werden sollte. Für den Transport zur Entsorgungsde-
ponie vorbereitet lagen sie da. Achtlos auf Haufen geschüttet. Ausgedient als
Dachschiefer nach 130 Jahren. Man fragt sich, was in einer Schieferdachplatte in
solch einem Augenblick vorgeht. Man kann es nur ahnen.

Schieferdachplatten können nicht denken und fühlen. Sie sind aus Gestein. Sie
können jedoch „belebt“ und auf diese Weise zum Denken und Fühlen gebracht
werden. Allerdings: Ihre „‘Belebung‘ […] soll ganz und gar uns zugerechnet
werden.“² Aktiv handeln können die Schieferdachplatten nicht. Sie fungieren
vielmehr als Zeugen der Ereignisse, die sich um sie herum abspielen. „[D]er Zeuge
tut nichts, er greift nicht ein, er ist nur dabei. Dinge sind stumme Zeugen.“³ Dinge,
das sind Objekte, die mit Deutung versehen werden und in besonderer Weise
Relevanz für jemanden gewinnen.⁴ Das, was den Schieferdachplatten widerfuhr,
kann zum Gleichnis, zur Metapher menschlicher Erfahrungen werden und asso-
ziativ Anschlüsse bieten zu biblischen Sprach- und Erzählwelten.

Die Eisenbahnlinie Berlin – Kopenhagen. Die Kriege. Die Sehnsucht derer, die nicht
von Rostock aus nach Gedser in See stechen konnten. All dies focht die Schiefer-

 Projektidee und Projektleitung: Bernard Misgajski, Projektträger: Der Rostocker Frauenkul-


turverein DIE BEGINEN e.V., Projektkoordination: Gudrun Brigitta Nöh, Rostock/Wreechen 2019.
 Michael Niehaus, „Geschichtsdinge/Parcours“, in Biography of Objects: Aspekte eines kultur-
historischen Konzepts, hg.v. Dietrich Boschung, Patric-Alexander Krenz und Tobias Kienlin (Pa-
derborn: Wilhelm Fink, 2015), 173 – 188, hier 174.
 A.a.O., 175.
 Vgl. Emo Bodei, Das Leben der Dinge, Übers. Daniel Creutz (Berlin: Matthes & Seitz, 2020), 92.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-016
240 Petra Schulz

dachplatten in all den Jahren nicht an. Nur Wind und Wetter. Diese beiden machten
ihnen zu schaffen dort auf dem Dach der Remise. Doch sie hielten stand. Ihrer
Herkunft aus Wales waren die Schieferdachplatten sich stets bewusst. Denn dort lag
ihre Vergangenheit vor plus/minus 450 Millionen Jahren. Dort hatte man Schiefer
entdeckt, geborgen, in neue Form gebracht und zu Dachschindeln zurechtge-
schnitten. Seitdem waren die Schieferdachplatten nicht mehr um ihrer selbst willen
da gewesen. Seitdem hatten sie eine Funktion gehabt. Sie boten als Dach dem Haus
Schutz. Verlässlich, denn sie hielten zusammen. Nicht mehr wie damals vor langer
Zeit still im Gestein. Jetzt lagen sie hoch oben mit weitem Blick. Und unter ihnen
lagen Werkzeuge aller Art, Eisenbahnen und Lokomotiven. Laute Geräusche dran-
gen aus der Remise. Die Schieferdachplatten lebten damit.

+++ in einer guten Position sein +++ sich der eigenen Rolle/Funktion bewusst sein
+++ strapaziert werden +++ Unbillen trotzen +++ traditionsbewusst +++ sich
selbst als Teil einer Geschichte verstehen +++ um das eigene Geworden-Sein
wissen +++ eingebunden sein in einen großen Zusammenhang +++ eine Aufgabe
haben, sich dieser Aufgabe stellen und sie gut ausfüllen +++ Weltoffenheit spü-
ren/zeigen +++ geschäftiges Treiben um sich herum wahrnehmen +++ mitten im
Leben stehen +++ …

Kann einem Ding eine Lebensgeschichte zugeschrieben werden? Schwierig


scheint es zunächst, in einer Objektbiographie⁵ Anfang und Ende des „Lebens“ zu
bestimmen. Gehört die Zeit im Gestein in Wales bereits zur „Lebensgeschichte“
der Schieferdachplatten? Oder beginnt diese erst mit der Fertigung für ihre
Funktion und liegt deren Ende dann im Verlust der Funktion? Gehören Wand-
lungen der Funktion dazu? Dies kann man fragen, so wie man fragen kann, ob die
Masse, aus der eine Plastikplane für einen Lastwagen hergestellt wird, bereits zu
deren „Lebensgeschichte“ gehört. Endet dieselbe im Recyclingverfahren, in der
sie zur Umhängetasche wird? Oder ist die Wandlung ein Teil dieser „Lebensge-
schichte“? Die Herausforderung, Anfang und Ende des „Lebens“ genau zu be-
stimmen, wird auch nicht gelöst, wenn statt von Biographie nun von Itinerar oder
Parcours gesprochen wird. Beim Itinerar wären die Wegmarken festzulegen. „Die
Leistungsfähigkeit dieses Begriffs liegt im sensiblen Nachzeichnen komplexer
Wege durch Raum und Zeit.“⁶ Wobei diese Wege allerdings nicht freigewählt,

 Vgl. Matthias Jung, „Das Konzept der Objektbiographie im Lichte einer Hermeneutik materieller
Kultur“, in Biography of Objects, hg.v. D. Boschung, P.-A. Krenz und T. Kienlin, 35 – 65.
 Hans Peter Hahn, „Dinge sind Fragmente und Assemblagen: Kritische Anmerkungen zur Me-
tapher der ‚Objektbiographie‘“, in Biography of Objects, hg.v. D. Boschung, P.-A. Krenz und T.
Kienlin, 11– 33, hier 27.
Schieferdachplatten 241

sondern durch kulturelle und religiöse Vorgaben bestimmt sind.⁷ Und beim Par-
cours, dem Hindernislauf, müsste überlegt werden, was als Hindernis, das zu
überwinden ist, gilt. Dabei besteht die Möglichkeit, dass das Ding in verschiedene
Verfassungen sowie Kontexte gerät, in denen es auf vielfältige Weise wahrge-
nommen und in Gebrauch genommen werden kann.⁸
Biographie, Itinerar und Parcours setzen eine gewisse Aktivität voraus, die
den Schieferdachplatten als Zeugen des Geschehens nicht eigen ist. Biographie,
Itinerar, Parcours mögen zur Beschreibung dessen, was einem Ding widerfährt,
Grenzen haben. Doch gerade die Unschärfen im Blick auf Lebensanfang und Ende
eines Dings bieten besondere Zugänge zur Lebensgeschichte einer Person, die als
Biographie, Itinerar oder Parcours geschrieben/gelesen werden kann. Ein Vor und
Nach kann vielperspektivisch zur Sprache kommen als Tradition, Familienge-
schichte, Eingebunden- und Bestimmt-Werden. Kann gesellschaftliche, soziale,
kulturelle Kontexte beschreiben, in die Menschen hineingeboren oder geworfen
und von denen sie bestimmt werden. Kann Wandlungen nachzeichnen, denen sie
unterworfen sind. Kann Nachleben in vielfältiger Gestalt wahrnehmen. Der
Mensch wird in einen Kontext hineingeboren, zu dem er sich allerdings verhalten
und diesen mitgestalten kann. Jeder Zugang entwickelt eine je eigene Perspektive
auf eine Lebensgeschichte. Jeder Zugang setzt einen anderen Fokus, indem er
etwas besonders hervorhebt. Die Frage ist, welche Rolle im Rahmen der Le-
bensgeschichte Passivität und Eigeninitiative spielen.

Irgendwann trat Veränderung ein. Der Betrieb auf der Remise wurde eingestellt. Die
vertraute Geschäftigkeit wich einer merkwürdigen Stille. Die Eisenbahn traf nicht
mehr im Hafen von Gedser auf einer Fähre ein. Zunächst focht dies die Schiefer-
dachplatten nicht an. Doch dann traf es auch sie. Zu sehr hatten Wind, Sonne, Regen
und Sturm ihnen zugesetzt. Man nahm sie ab und warf sie als nicht mehr brauchbar
befunden in den Hof der Remise. Dort lagen sie nun. Weithin unbeachtet.

+++ Veränderungen in der Umgebung/im näheren Umfeld wahrnehmen +++ von


Veränderungen des Umfeldes selbst betroffen sein/werden +++ einem Alte-
rungsprozess ausgesetzt sein +++ Spuren des Alters an sich tragen +++ Spuren
des Vergänglichen zeigen +++ ausrangiert/aussortiert werden +++ die vormalige/
einstige Funktion verlieren +++ als nicht mehr funktionstüchtig/leistungsfähig
eingestuft werden +++ ins Abseits/aus dem Blickfeld geraten +++ übersehen
werden +++ sich auf dem Abstellgleis fühlen +++ sich vor der Vernichtung/Aus-

 Vgl. A.a.O., 28.


 Vgl. M. Niehaus, Geschichtsdinge/Parcours, 181.
242 Petra Schulz

löschung fürchten +++ Einsamkeit +++ Depression +++ innere Leere +++ Ver-
zweiflung +++ Arbeitslosigkeit +++ Ruhestand +++ …

Die Schieferdachplatten waren, wenn nicht Müll, so doch zum Abfall geworden.
Aus der Ordnung, die ihnen einen Platz zuwies, waren sie herausgefallen.⁹ „Wie
Wasser bin ich hingeschüttet, und es fallen auseinander meine Gebeine. Wie
Wachs ist mein Herz, zerflossen in meiner Brust. Trocken wie eine Scherbe ist
meine Kehle, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, in den Staub des Todes
legst du mich.“ (Psalm 22, 15 f.) Den Gefühlen, die den Schieferdachplatten zu-
geschrieben werden, kann mit Worten der Psalmen eine Stimme gegeben werden.
Die emotionale Verfassung wird in den Psalmen in Metaphern gekleidet. „Der
Begriff der Metapher meint ungewohnte, nicht durch Konventionen abgesicherte
Wort- und Bildkombinationen […] Der Psalter ist voll von solch metaphorischem,
das Alltägliche transzendierendem Sprachgebrauch.“¹⁰

Abfall ist das aus der Ordnung heraus Gefallene. Das Ausgesonderte. Doch anders
als Müll ist Abfall nicht das schlechthin, endgültig wertlos Gewordene. Abfall
kann in Recyclingverfahren zum Wertstoff werden. Abfall kann aber auch in nicht-
recycelter Form neue Wertschätzung erfahren. „Abfälle können Grenzgänger der
Ordnung werden.“

Als der Künstler auf die Schieferdachplatten stieß, die dort auf den Abtransport zur
Entsorgungsdeponie warteten, sah er die Ablagerungen von Staub, Sand, Erde und
Kalk. Er sah, dass Gestein abgerieben und ausgebrochen war. Er sah Moos und
Flechten auf den Platten. Und teerige Klebereste. Aber er sah zugleich etwas an-
deres. Er sah in den ausrangierten Schieferdachplatten ihre Geschichte. Er sah die
außergewöhnliche Schönheit, die in den Zeichen, die die Zeit eingraviert hatte,
wahrnehmbar war. Dem Künstler zeigten sich Bilder. Ihm zeigten sich Bilder, die die
Natur gemalt hatte. So barg er die Schieferdachplatten kurze Zeit später. Und sie
wechselten erneut ihren Ort. Die Fahrt nach Rügen war kürzer als damals die Reise
von Wales nach Gedser.

+++ wider Erwarten (erneut) wahrgenommen werden +++ wider Erwarten in-
tensiv, detailliert und in der eigenen Schönheit wahrgenommen werden +++ ge-
rettet werden +++ einen Ortswechsel erleben +++ an einen neuen Ort kommen ++

 Vgl. Susanne Hauser, Metamorphosen des Abfalls: Konzepte für alte Industrieareale (Frankfurt
a. M.: Campus-Verl., 2001), 12.
 Bernd Janowski, Konfliktgespräche mit Gott: Eine Anthropologie der Psalmen (Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 52019), 30 f.
Schieferdachplatten 243

+ zufällig auf etwas treffen, das am Rande liegt/ausrangiert wurde +++ dessen
Besonderheit und Schönheit erkennen +++ sich dessen annehmen +++ verlieben
+++ …

Schönheit liegt im Auge des Betrachters.¹¹ Die Wahrnehmung der Schönheit ge-
schieht durch Resonanz¹², durch ein Berührt-, Affiziert-Sein, das auch Altes, ja
bereits Aufgegebenes neu aufscheinen und in eine neue Ordnung Eingang finden
lässt. Im Spiegel der imaginierten Erfahrungen eines Dings, hier der Schiefer-
dachplatten, kann ein Mensch sich mit seiner Lebensgeschichte gebrochen
wahrnehmen, kann Schlüsselerfahrungen und Lebenspassagen vergegenwärti-
gen, kann sich im Perspektivenwechsel aus der Rolle des passiven Zeugen in die
des aktiv Handelnden, hier des Künstlers, begeben, dem es gelingt, neue Le-
bensoptionen freizulegen und zu initiieren. Gelesen werden kann dies als ein
Geschehen, das einem Menschen widerfährt. Gelesen werden kann es aber auch
als ein intrapersonaler Prozess, ein Vorgang, eine Möglichkeit, das eigene Leben
neu zu ordnen, in neue Kontexte zu versetzen in der Imagination und/oder auch
in der tatkräftigen, konkreten Umsetzung. Beides ereignet sich in einem Zwischen
von etwas bewirken, steuern, gestalten können und der Erfahrung, dass es Mo-
mente, Situationen, Lebensphasen gibt, in denen etwas mit einem geschieht, man
preisgegeben ist einer Entwicklung, auf die man keinen Einfluss hat. Ist es un-
verhoffte Gnade, was den Schieferdachplatten widerfuhr? Vielleicht hätten sie ja
mit Sarah, wenn ihnen die Geschichte (Gen 18) bekannt gewesen wäre, nur un-
gläubig gelacht angesichts dessen, was sich verheißungsvoll ankündigte.

Wieder verging eine geraume Zeit. Die Schieferdachplatten hatten Geduld. Viel
später dann wählte der Künstler nahezu einhundert Stück aus. Einige von diesen
waren sogar lädiert. Doch dies schien nicht zu stören. Der Künstler bestimmte einen
gemeinsamen Ausschnitt, der auf allen Stücken intakt war, und ließ diesen mittels
Wasserstrahl auslasern. Format 240 × 194 Millimeter. Damals in Wales war der
Schiefer geschnitten und in die Form der Dachschindel gebracht worden. Jetzt erhielt
er erneut eine andere Form. Die neue Form verband von nun an die ausgewählten
einhundert Stück. Eine Erinnerung an die alte Zeit war die horizontale Linie, die sich
durch nahezu jede Schieferdachplatte zog. Hier hatten die Schieferdachplatten sich
einst überlappt. Ansonsten sah man der Form nach den Schieferdachplatten ihre
Vergangenheit auf dem Dach der Remise nun nicht mehr an.

 Vgl. Umberto Eco (Hg.), Die Geschichte der Häßlichkeit, Übers. Friederike Hausmann, Petra
Kaiser und Sigrid Vogt (München: Carl Hanser Verlag, 2007), 8 – 20.
 Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung (Berlin: Suhrkamp, 22016).
244 Petra Schulz

+++ in Erwartung leben +++ ausgewählt werden +++ in besonderer Weise in


Gebrauch genommen werden +++ einer Gestaltung ausgesetzt sein +++ in eine
neue/andere/unerwartete Form/Gestalt gebracht werden +++ sich in Gemein-
schaft mit anderen, die vom gleichen Schicksal betroffen sind, wissen/fühlen +++
mit Schicksalsgefährten sich verbunden fühlen +++ sich in neuer Gestalt zeigen +
++ nicht ausgewählt werden +++ wahrnehmen, dass andere ausgewählt werden +
++ zurückbleiben +++ in Erwartung verharren +++ die Hoffnung aufgeben +++
eine Auswahl treffen +++ sich mit dem Ausgewählten intensiv auseinandersetzen
+++ das Ausgewählte in eine neue Form/Gestalt bringen +++ ihm einen neuen/
anderen Rahmen geben +++ zugleich die vorhandene Prägung wahrnehmen und
teilweise hervorheben +++…

Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Das Auge des Betrachters kann auch das
am Rande Liegende wahrnehmen, das Abseitige, das Ausgegrenzte, das Aus-der-
Ordnung-Gefallene in die Mitte rücken, neu sehen, sehen lassen und auf diese
Weise in eine neue Ordnung einfügen. „Die Widerkehr des Abfalls setzt voraus,
dass etwas, das aufgegeben war, neu interpretiert, in neue Bezüge gesetzt und in
eine Ordnung eingefügt wird, die sich aber in diesem Prozess verändert und ihre
Grenzen verschiebt.“¹³ Es ist ein Anderes, das zum Gegenüber wird und diesen
Prozess anstößt. Das kann vieles sein. Ein anderer Mensch, ein Eindruck, eine
Imagination, eine Berührung, ein Erlebnis. Die Geschichte der Schieferdach-
platten kann zur Metapher einer Heilung werden, vielleicht eines Aussätzigen
oder eines Blinden oder beides zugleich. Von der Heilung kann sowohl inter- als
auch intrapersonal erzählt werden. Der Heilungsprozess kann als ein Bezie-
hungsgeschehen, das durch etwas von außen Kommendes angestoßen wird,
verstanden werden oder als etwas, das sich im Innern eines Menschen ereignet. In
jedem Fall ist da etwas, das unverfügbar ist, das einem Menschen widerfährt und
eine Neuausrichtung des Lebens auf Zukunft hin zur Folge hat. Auch dieser Er-
fahrung kann mit einem Psalmwort zum Ausdruck verholfen werden: „Du lässt
meine Leuchte strahlen, HERR, mein Gott erhellt meine Finsternis.“ (Psalm 18,29)

Was dann geschah, lag quer zu allem, was die Schieferdachplatten, die sich von nun
an als Schieferplatten mit einer besonderen Vergangenheit verstanden, bisher erlebt
hatten. Wenngleich, und das wurde ihnen im Verlauf der kommenden Monate klar,
sich seit der Begegnung mit dem Künstler alles Schritt für Schritt angebahnt hatte.
Den Schieferplatten eröffnete sich jetzt ein für sie geradezu kategorial anderer
Horizont. Dies war weder der Horizont, der sich ihnen damals gezeigt hatte auf dem

 S. Hauser, Metamorphosen des Abfalls, 33.


Schieferdachplatten 245

Dach der Remise, noch war es der Horizont, den der Künstler auf ihnen sah. Der
andere Horizont, der sich ihnen eröffnete, war der Blick auf die Kunst. Und zwar der
Blick auf sie selbst als Teil von Kunst und auf die Kunst, die in Resonanz auf sie
entstand. 37 Künstlerinnen und Künstler wiederum hatte der Künstler angefragt,
sich ein, zwei oder drei Schieferplatten auszuwählen und zu jeder der ausgewählten
Schieferplatten eine dazugehörige eigene Arbeit anzufertigen. Als einzige Bedingung
hatte er die Beibehaltung der Maße im Hoch- oder Querformat genannt. Durch diese
Idee schafften die Schieferplatten es vom Steinbruch in Wales über das Dach der
Remise und den Hof des Künstlers sogar bis ins Internet. Denn ein Transport war
aufgrund ihrer Fragilität unmöglich. Über eine Online-Galerie wurden sie allen be-
teiligten Künstlern zugänglich gemacht. Wieder begann eine Zeit des Wartens,
verbunden auch mit der Hoffnung, dass die Wahl eines Künstlers oder einer
Künstlerin auf sie fallen würde. Einige der Schieferplatten, das sei nur am Rande
erwähnt, wurden nicht ausgewählt. Anders als diejenigen, die Teil eines Diptychons
wurden, wurden sie nicht in Stahlrahmen gefasst. Sie sind noch in Erwartung, was
irgendwann einmal mit ihnen geschehen wird. Oder haben sie die Hoffnung auf-
gegeben?

+++ zur Schau gestellt werden +++ darauf warten/hoffen, ausgewählt zu werden +
++ eine kategorial andere Erfahrung machen +++ eine Schlüsselerfahrung ma-
chen +++ erneut ausgewählt werden +++ nicht ausgewählt werden +++ übrig
bleiben +++ in Erwartung verharren +++ enttäuscht resignieren +++ Tanzstunde +
++ etwas nicht unmittelbar wahrnehmen können und sich dennoch dafür ent-
scheiden müssen +++ Onlinedating +++ eine Resonanz spüren +++ sich in der
Begegnung mit einem Anderen auf einen kreativen Prozess einlassen +++ sich mit
einem Anderen auseinandersetzen +++ …

Worauf richtet sich der Blick, wenn er auf etwas fällt? Was leitet die Wahrneh-
mung? Wodurch stellt sich Resonanz ein? Erfordern die „Dinge den langen fas-
zinierenden Blick, der sich von der Dichte der Oberfläche nicht abzulösen vermag
[…]“¹⁴? Oder erschließt sich Sinn erst dem, der die Oberfläche deutend durchstößt,
um so in tiefere Bedeutungsschichten zu gelangen? Beides ist möglich und kann
sich vielschichtig verbinden und spannungsvoll wechselseitig erschließen. Etwas
Neues entsteht so oder so. Assoziativ stellt sich eine Verbindung zur Struktur der
Psalmen ein, nämlich zum parallelismus membrorum, „der darauf beruht, dass

 Aleida Assmann, „Die Sprache der Dinge: Der lange Blick und die wilde Semiose“, in Ma-
terialität der Kommunikation, hg.v. Hans-Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer (Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 21995), 237– 251, hier 241.
246 Petra Schulz

ein Sachverhalt durch zwei oder drei parallele Aspekte beschrieben wird [und
dadurch, P.S.] eine produktive Unschärfe und Plastizität der Aussage“ entsteht.“¹⁵
Die in den beiden Satzgliedern eines Verses verwendeten Worte decken sich nicht,
sie stehen aber in Resonanz zueinander und öffnen dadurch auf einen Sachver-
halt mehrere Perspektiven. Jedes in den Satzgliedern verwendete Wort öffnet
andere Deutungshorizonte. „Darauf, dass sich zwei Wörter nie ganz in ihrer Be-
deutung decken, kommt es aber gerade an, weil ‚das Ganze‘ nie durch ein einziges
Wort oder einen einzigen Gedanken zu erfassen ist, sondern immer nur durch
mehrere […].“¹⁶

Plötzlich trat den Schieferplatten, die inzwischen in Stahl gerahmt worden waren,
ein Anderes gegenüber, das in Resonanz auf sie so oder so entstanden war. Einige
erkannten sich selbst in dem Anderen, sie sahen die Bilder, die sich in sie eingeprägt,
hatten. Sie sahen die Zeichen der Zeit, die sie auf ihrer Oberfläche spürten. All dies
nahmen sie in dem Anderen wahr, allerdings in einer veränderten Gestalt. Anderen
wiederum schien es, als würden sie durch das Andere in eine Geschichte eintreten,
die offensichtlich in Resonanz auf sie erzählt wurde. Sie rätselten nun, was diese
Geschichte erzählte und versuchten, sie zu erschließen. Oder sie überließen sich
dieser Geschichte und tauchten in sie hinein wie in einen Traum. Einige Schiefer-
platten waren froh, dass das Andere, das ihnen gegenübertrat, einen Titel trug. Das
eröffnete ihnen sogleich einen Zugang zu der Weise, wie das Andere sich verstand.
Andere Schieferplatten hoben wiederum den Vorzug eines unbestimmteren Zugangs
zum Anderen hervor.

+++ sich überraschend einem Anderen gegenüber sehen, das in Resonanz auf
einen selbst entstanden und gestaltet wurde +++ sich selbst im Spiegel eines
Anderen noch einmal neu und anders wahrnehmen können +++ sich im Anderen
spiegeln können +++ in der Begegnung mit dem Anderen Teil einer Erzählung
werden +++ die Unbestimmtheit des Anderen wahrnehmen und schätzen +++
spüren, dass sich hier Imaginations- und Deutungsräume öffnen +++ vermeint-
liche Sicherheit gewinnen durch die genaue Bezeichnung des Anderen +++ sich
dem Raum, den ein Anderer öffnet, vertrauensvoll überlassen +++ sich dem An-
deren interessiert zuwenden +++ …

Das „Urbild“ der Schieferdachplatte zeigt sich in vielerlei Gestalt. Keines ähnelt
dem anderen. Das Gleiche gilt für die auf die einzelnen Schieferdachplatten be-

 B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 17 f.


 A.a.O., 15.
Schieferdachplatten 247

zogenen Resonanzen. Nicht nur Urbild, sondern auch Resonanz gibt es nur im
Plural. Zugleich zeigt sich ein Verweisungszusammenhang zwischen Urbildern
sowie den darauf bezogenen Resonanzen. Es fällt auf, dass bei näherer Be-
trachtung der Schieferdachplatten sowie ihres jeweiligen Gegenübers in einzel-
nen Fällen nicht auf den ersten Blick deutlich wird: Was ist das Original und was
ist die Resonanz? Davon ausgehend ist es nur ein kleiner Schritt, bei allen Di-
ptychons die Perspektive zu wechseln und die Paare in wechselseitiger Resonanz
wahrzunehmen. Assoziationen stellen sich ein zur Vielfalt von Gottes- und
Menschenbildern, die sich unterscheiden, aufeinander verweisen und in Span-
nung zueinander gesetzt werden. Von der Schieferdachplatte ausgehend kann die
Resonanz zum Kunstwerk gehen oder auch umgekehrt. Vermeintlich klare Zu-
ordnungen (Wer oder was war zuerst da?) werden durchkreuzt im Prozess der
Wahrnehmung. Der Blick weitet sich von den Paarkonstellationen auf das Ganze
der Vielfalt. „Stelldichein bei den Netzen I“ – Der Titel eines der Kunstwerke mag
nicht zuletzt als Aufforderung verstanden werden, intuitiv, assoziativ Verbin-
dungen zwischen den verschiedenen Schieferdachplatten sowie ihrem jeweiligen
Anderen herzustellen und so ein Netzwerk wechselseitiger Verweisungen ent-
stehen zu lassen. Jedes einzelne Kunstwerk wiederum kann Deutungsräume für
biblische Textwelten öffnen.
So verbindet sich „Stelldichein bei den Netzen I“¹⁷ nicht nur mit der Berufung
des Fischers Petrus, dem Erfolg und Misserfolg beim Fischfang, sondern auch mit
dem höchst ambivalenten Bild des Menschenfischers. Jesus fordert den von seiner
Blindheit geheilten Menschen auf, in sein Haus zu gehen und nicht in das Dorf
zurückzukehren. Weshalb? Vielleicht weil dort die Gefahr besteht, von alten und
beschädigenden Netzen wieder eingefangen, erneut verwickelt zu werden. Der
Rückzug ins Haus ermöglicht Zeit, innezuhalten, sich zu besinnen, neu aufzu-
stellen. Das Bild lässt sich auch als Verweis auf die Versuchungsgeschichte
deuten. Da ist der Versuch des Satans, Jesus mit (vermeintlich) reizvollen Ange-
boten auf seine Seite zu ziehen/einzufangen. „Stelle dich ein bei den Netzen“, das
wäre dann die auf der Oberfläche freundlich einladende Geste, um jemanden zu
verführen und der eigenen Sache dienstbar zu machen. „Stelle dich ein bei den
Netzen“ kann aber auch die Einladung sein, sich einer Gemeinschaft anzu-
schließen, die als gut vernetzte den Einzelnen auffängt, ihn hält und trägt.

Andere Assoziationen stellen sich ein, wenn dem Werk „Stelldichein bei den
Netzen I“ die auf eine andere Schieferdachplatte entstandene Resonanz gegen-

 Grit Sauerborn, 2018. Acryl, Farb- und Graphitstift auf Sperrholz. Abbildung in: Grauzone,
132 f.
248 Petra Schulz

Abb. 1: Schiefertafel zu Grit Sauerborn, Stelldichein bei den Netzen I. Foto: Martin Kumlehn

übergestellt wird. So bietet die „Audiovisuelle Installation“¹⁸ die Möglichkeit, mit


einer Nadel über die Rillen der Schieferdachplatte zu fahren, um dieser, gleich
einer Schallplatte, Töne zu entlocken. Vernetzung und Gemeinschaft entstehen
durch Musik, auch wenn die Töne in diesem Fall ziemlich schräg sind. Der
„Seismograph“¹⁹ nimmt hoch sensibel alles wahr. Und mit „Space“²⁰ und „‘wahr‘-
nehmen“²¹ öffnet sich der Blick in die Weite der Transzendenz, die von den Netzen
nicht eingefangen werden kann.

Im Spiegel der Kunst nahmen die Schieferplatten sich selbst und ihre Gemeinsam-
keit noch einmal in besonderer Weise wahr. Unversehens erschienen ihnen die Zeit
auf dem Hof und die Zeit auf der Remise nur wie ein Augenblick. Und sie dachten
noch einmal an die Millionen Jahre, in denen sie einstanden waren. Sie dachten an
die unendlichen Weiten der Zeit und des Kosmos und sahen im Anderen auch
Spiegelungen dieser Weiten, die sich im Spiegel des Anderen noch einmal ganz
anders zeigten. In der Begegnung mit dem Anderen wurden die Schieferplatten sich
des Eigenen umso stärker bewusst. Interessant war, dass die Schieferplatten – be-
dingt durch die Nähe zu den anderen Schieferplatten – von Anfang an auch deren
jeweiliges Andere wahrnahmen und sich davon ansprechen ließen. Die Schiefer-

 Björn Hinze/Paul Reiss, 2018. Abbildung in: Grauzone, 108 f.


 Anne Hille, 2018. Mixed Media. Abbildung in: Grauzone, 114 f.
 Anna Silberstein, 2018. Acrylglas, geritzt und gefräst/LED-Licht. Abbildung in: Grauzone, 44 f.
 Wim Cox, 2018. Fotografische Überlagerung, Fine Art Print auf Baryt. Abbildung in: Grauzone,
58 f.
Schieferdachplatten 249

Abb. 2: Grit Sauerborn, Stelldichein bei den Netzen I. Foto: Martin Kumlehn

platten gerieten darüber in Austausch. Es kam gar zu Deutungskonflikten. Die


Schieferplatten gingen damit offensiv um. Denn sie wussten, dass die Wahrheit sich
im Zwischen bewegt. In den unendlich vielen Schattierungen der Grauzone.

+++ Rückblick halten +++ das Leben Revue passieren lassen +++ die eigene
Geschichte und Tradition vergegenwärtigen/derer gedenken +++ sich eingebun-
den in einen großen Zusammenhang wahrnehmen +++ der Vielfalt/Fülle des
Lebens gewahr werden +++ um die Wahrheit des Lebens ringen +++ durch Be-
gegnungen angeregt werden +++ sich auf Andere(s) einlassen +++ Vielfalt und
Widersprüchlichkeit von Erfahrungen wahrnehmen +++ Selbstwerdung +++
Identität als soziale Identität +++ um die Wahrheit ringen +++ Vielfalt der Per-
spektiven +++ im Dialog mit sich selbst und anderen sein +++ kontroverse
Standpunkte wahrnehmen +++ sich bereichern lassen durch Andere und Anderes
+++ Vielfalt der Perspektiven als horizonterweiternd oder als bedrohlich erleben +
++

Das Zwischen der Schieferdachplatten und das Zwischen der Psalmen korre-
spondiert. Im Zwischen der Psalmenverse zeigt sich die Wahrheit der Gefühle, die
in den Psalmen ihren Ausdruck findet. „Die Wörter und Texte werden in ihrer
Bedeutung aufeinander hin durchsichtig und erschließen so gegenseitig ihren
250 Petra Schulz

Sinn. Diese Vieldimensionalität des Sinns gleicht einen ‚Raum‘, in dem sich das
Verstehen hin und her bewegen kann.“²²

Mit der Kunst eröffnete sich den Schieferplatten auch eine neue Öffentlichkeit. Sie
fanden Eingang in Kunstorte und wurden zuletzt mit ihrem Anderen gar in einem
Museum gezeigt. Dort fand das, was sich Schritt für Schritt angebahnt hatte, einen
vorläufigen Höhepunkt.

Wer sich durch die Ausstellung wie ein Flaneur durch eine Stadt treiben lässt²³,
stellt kontinuierlich neue Verbindungen her und nimmt auch das am Rande (der
Deutung) Liegende wahr. Auf seinem Weg geraten die nicht ausgewählten
Schieferdachplatten in besonderer Weise wieder in den Blick. Der im Museum
aufgeschüttete Rest mag zur Veranschaulichung der Originale, die damals auf der
Mülldeponie geborgen wurden, dienen. Auf deren Herkunft verweist zudem ein
Foto des Schiefersteinbruchs in Wales, das sich hinter der Aufschüttung zeigt.
Jedoch zeigt sich der Haufen dem Flaneur nicht nur als übrig gebliebener Rest,
sondern vielmehr als Potential dessen, was noch möglich wäre. Nicht allein als
Veranschaulichung der Geschichte des Kunstprojekts, sondern als Hinweis auf die
Fülle möglicher Gestalten und Resonanzen, die den Rahmen der Ausstellung
übersteigt. „Über den Weg, genauer gesagt über die Betrachtung des Weges im
Nachhinein flechten sich die einzelnen Ereignisse zu einem Ganzen zusammen.
Hierbei spielen das Zufällige, die Funde am Rande des Weges, die ‚Serendipities‘ –
Glücksfunde – eine große, wenn nicht bestimmende Rolle.“²⁴ Glücksfunde stellen
sich ein durch „freie[s], imaginative[s] Suchen und […] den Sprung, den kreativen
Sprung über das hinaus, was bislang vorgegeben war.“²⁵

Werden Dinge, die Eingang ins Museum finden, einschließlich ihrer Geschichte
als Metaphern in Gebrauch genommen, öffnet sich die Tür zu einem kategorial
anderen Deutungs- und Erkenntnisraum. „Bei der Musealisierung […], also bei der
Aufnahme von Dingen ins Museum, findet […] ein Aufheben in einem dreifachen
Sinne statt: ein Aufheben im Sinne der Zerstörung eines ursprünglichen Kontex-
tes, ein Aufheben im Sinne von Bewahren (Speichern) und schließlich ein Auf-

 B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 18.


 Vgl. Karsten Michael Drohsel, Das Erbe des Flanierens: Das Souveneur: Ein handlungsbezo-
genes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse (Bielefeld: Transcript, 2016).
 A.a.O., 147.
 Walter Höllerer, „Die Leute von Serendip erkunden die Giftfabrik“, in Die Leute von Serendip
erkunden die Giftfabrik, hg.v. Walter Höllerer und Norbert Miller (Berlin: Literarisches Colloquium
Berlin, 1986), 3 – 16; hier: 4.
Schieferdachplatten 251

heben im Sinne eines Erhöhens, nämlich durch die Konstruktion einer symbo-
lisch-epistemischen Ordnung.“²⁶ Ein Aufheben in einem vierten Sinne schließt
sich nun im Blick auf die Schieferdachplatten und ihres jeweiligen Anderen an.
Nämlich im Sinne einer Bewahrung über das konkrete Projekt „Grauzone. Ein
Dach wird Kunst“ hinaus durch Metaphorisierung und Einbettung in einen wei-
teren Kontext, nämlich den der anthropologischen Grunderfahrungen und reli-
giösen Sprach- und Textwelten.

Museumsbesuchern könnten zur Orientierung verschiedene Klassifizierungssys-


teme zur Verfügung gestellt werden, um Deutungszugänge zu den ausgestellten
Schieferplatten und ihrem jeweiligen Anderen zu gewinnen.

Sei es in einem wenig überraschenden Sinne geordnet nach biblischen Bezügen.


Sei es in zunächst irritierenden Formen, beispielsweise geordnet nach „Kleine[n]
Dingen im Stadtraum“, angeregt durch den italienischen Architekturhistoriker
Lampugnani.²⁷ Im öffentlichen Stadtraum stößt man wie selbstverständlich auf
vertraute Objekte, die als solche in der Regel gar keine besondere Beachtung
finden. Schachtdeckel oder Poller, Denkmal, Bank oder Abfallkorb, um nur einige
Beispiele zu nennen. Diese Objekte können in experimenteller Weise mit an-
thropologischen Grunderfahrungen und religiösen Sprach- und Textwellten ver-
knüpft werden.

Mit dem Schachtdeckel, der als Metapher für den Einstieg in Tiefenstrukturen der
Identität wahrgenommen werden kann, wird die Versuchungsgeschichte Jesu (Mt
2,1– 11) aufgerufen.²⁸ Der geöffnete Schachtdeckel macht die Welt, die unterhalb
der Stadt liegt und dunkel, andersartig, fremd, bedrohlich anmutet, zugänglich.
Vieles von dem, was die Funktionsfähigkeit der Stadt gewährleistet, findet sich
dort. Der Schachtdeckel verweist auf das, was auf der Oberfläche der Wahrneh-
mung zunächst nicht sichtbar ist. Beispielsweise das existenzielle innere Ringen
eines Menschen um den für ihn stimmigen Weg.

Poller dienen der Abgrenzung. Als Metapher verweisen sie auf die Grenzen, die
Menschen zum Schutz setzen oder die ihnen gesetzt werden. Die Komposition der

 HG Merz, „Lost in Decoration“, in Dingwelten: Das Museum als Erkenntnisort, hg.v. Anke te
Heesen und Petra Lutz (Köln: Böhlau, 2005), 37– 43; hier: 97.
 Vgl.Vittorio Magnago Lampugnani, Bedeutsame Belanglosigkeiten: Kleine Dinge im Stadtraum
(Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2019).
 Vgl. Maria Kassel, Biblische Urbilder: Tiefenpsychologische Auslegung nach C.G.Jung (Mün-
chen: Pfeifer, 31980), 8 – 29.
252 Petra Schulz

Versuchungsgeschichte ist so angelegt, dass mit Jesu Entgegnungen auf die An-
gebote des Satans biblische Erzählungen als Poller aufgerufen werden, an denen
sich zugleich das Profil der Jesusfigur zeigt.²⁹

Das Denkmal fungiert als Zeichen der Erinnerung und des Gedächtnisses. Ein
Denkmal könnte an das Ende der Versuchungsgeschichte gesetzt werden als Er-
innerung an eine Situation, in der sich nach einer Zeit des existenziellen Ringens
wieder Ruhe einstellt und neue Kraft zuwächst.

Oftmals finden sich Bank und Abfallkorb im nahen Umfeld eines Denkmals. Die
Bank lädt zum Innehalten ein und der Abfallkorb nimmt das auf, was nicht mehr
benötigt wird. Wobei Müllsucher nicht nur in Abfalleimern Verwertbares finden.

Nicht nur die Schieferdachplatten und ihr jeweiliges Andere bieten die Möglich-
keit vielperspektivischer Deutung. Im Grunde genommen kann nahezu jedes Ding
in dieser Weise in Gebrauch genommen werden. Neue Zugänge zu anthropolo-
gischen Grunderfahrungen und religiösen Text- und Sprachwelten eröffnen sich
somit über „verschiedene ästhetische Sprachspiele […], die sich ihrerseits am
Sagen des Unsagbaren abarbeiten und der theologischen Sprache von daher neue
Übersetzungsmöglichkeiten zuspielen können.“³⁰

Die Dinge können in einem imaginären Museum gesammelt und Besucher an-
geregt werden, über spezifische Klassifizierungssysteme „ihre eigenen Verbin-
dungen und Interpretationen“³¹ herzustellen.
Das zweite Objekt in dem imaginären Museum könnte beispielsweise das
fleckige Shirt sein.

Was kann dieses Shirt erzählen von dem, der es trägt? Was kann es erzählen von den
Erfahrungen, die er gemacht hat? Viele Erfahrungen hat es gemacht! Zuweilen

 Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 1. Teilband (Mt 1– 7) (Zürich/Düsseldorf:
4
1997), 162– 164; Eckart Reinmuth, Anthropologie des Neuen Testaments (Tübingen: UTB, 2006),
56 – 59.
 Martina Kumlehn, „Zwischen Babel und Pfingsten: Übersetzungen zwischen Sprachwelten als
Kernaufgabe sprachsensibler Theologie“, in Sprachsensibler Religionsunterricht, Jahrbuch für
Religionspädagogik 37, hg.v. Stefan Altmeyer u. a. (Neukirchen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021),
30 – 41, hier: 41.
 Nicky Reeves, „Einblick ins Depot: Einblick in die Museumsarbeit, in Kultur & Gespenster:
Archive und Depots: Archive und Depots und Lager und Halten und Haufen und Bunker und Ver-
liesse und Kammern, Kultur & Gespenster 21, Übers. Birthe Mühlhoff, hg.v. Gustav Mechlenburg,
Nora Sdun und Christoph Steinegger (Hamburg: 2021), 220 – 237, hier: 223.
Schieferdachplatten 253

diente es gar als Serviette – nachts, wenn der Kühlschrank geöffnet wurde und alles,
fast alles, was sich im Kühlschrank befand, Eingang fand in den Bauch, den das
Shirt bedeckte. Das Shirt hielt alles aus. Es hatte auch keine andere Wahl. Denn es
gehört zu dem, der es trägt. Das weiß das Shirt sehr wohl. Das muss es ertragen. Vor
allem nachts vor dem Kühlschrank fällt ihm das oftmals schwer. Da wird es zum
Zeugen. Es wird zum Zeugen eines geheimen Gelages. Und hin und wieder finden
sich Spuren dieses Gelages an ihm. Die Flecken gehen beim Waschen meist raus.
Tagsüber denkt das Shirt viel nach. Hin und wieder fragt es sich, wie es eigentlich zu
dem, der es trägt, steht. Über Stunden des Nachts ist es ihm so nah wie sonst nie-
mand. Es liegt auf ihm. Es umspielt seinen Körper. Es bleibt ihm auch dann nah,
wenn er sich von allem zurückzieht, verkriecht. Es bleibt ihm nah, wenn er sich selbst
kaum noch aushält. Es würde sich wünschen, er spräche mit ihm. Doch er sagt
nichts. Er liegt nur da und sagt nichts und fühlt sich gut und schlecht zugleich. Gut,
weil mit vollem Magen, und schlecht, weil viel zu viel gegessen. Das spürt das Shirt
ganz genau. Und es umarmt ihn. Trotz allem. Auch, weil es nicht anders kann.
Wahrscheinlich spürt er die Umarmung gar nicht, weil es ja sowieso die ganze Zeit
seinen Körper umhüllt. Und sein Träger ein Mehr als diese Umhüllung vielleicht gar
nicht fühlen und denken kann. Das zumindest vermutet das Shirt.

Später begegnen dem Flaneur im imaginären Museum vielleicht ein Talar und
eine Stola als Zeugen des gottesdienstlichen Vollzugs. „Der Talar sagt etwas – die
Stola auch.“³² Was sagen Talar und Stola? Und was sagen sie/Sie zum fleckigen
Shirt?

 Kristian Fechtner und Thomas Klie, „Evangelische Textilien: Programmatische Überlegun-


gen“, in FeinStoff: Anmutungen und Logiken religiöser Textilien, hg.v. Thomas Klie und Jakob Kühn
(Stuttgart: Kohlhammer, 2020), 7– 22, hier 19.
Matthias Marks
Dinge, die unter die Haut gehen
Über die Performanz von Tattoos und ihre Bedeutung aus
religionspsychologischer Sicht

1 Ein Hoch auf das Bild


Lebt ein Mensch eher von innen nach außen? Oder eher von außen nach innen?
Wo und wie entstehen die Bilder, die sich ein Mensch von seiner Lebenswirk-
lichkeit macht? Eher durch Projektion, indem sich Vorgänge der inneren Welt in
Dingen der äußeren Wirklichkeit erkennbar zeigen? Oder eher durch Introjektion,
indem erfahrene äußere Wirklichkeit aufgenommen wird und die innere Welt
formt? Es gibt diese Frage seit Menschengedenken: Was war zuerst, Huhn oder Ei?
Idee oder Zeichen? Plan oder Spiel? Geist oder Materie? Eindeutige Antworten gibt
es bekanntlich bis heute nicht. Und alle Versuche, das Huhn gegen das Ei bzw. das
Ei gegen das Huhn auszuspielen, haben zur Aufklärung wenig bis gar nichts
beigetragen. Wohl aber die wechselnden Zeiten und mit ihnen die wechselnden
Anliegen und Betrachtungsweisen, hier mehr das Ei vom Huhn her und dort mehr
das Huhn vom Ei her zu verstehen. Nur zusammen kommt man der Wahrheit
näher und den Interdependenzen auf die Spur.
Folgt man den unterschiedlichen ‚turns‘ in der Praktischen Theologie seit den
1970er Jahren bis heute, scheint es reichlich Nachholbedarf im Blick auf Letzteres
zu geben: das Ding, das aus dem heraus gekommen sein soll, was dies selbst einst
war, aber doch nur gewesen sein kann, wenn es vor dem ersten bereits ein solches
gegeben hätte, was nicht sein kann, wenn es das erste war. Selbstverständlich hat
sich Religion/Religiosität noch nie allein ‚von oben‘ erklären lassen, als wäre das
erste Huhn oder das erste Ei vom Himmel gefallen, auch wenn es von den Pro-
duzent*innen und Rezipient*innen solcher Theologien lang genug so gedacht,
praktiziert und zur Vergangenheitsbewältigung offenbar gebraucht wurde. Heute
kann es horizontaler zugehen. Mit der Hinwendung zu den lange vernachlässigten
sinnlich-leiblichen und überhaupt körperlich-dinglichen Facetten von Religion/
Religiosität ist die Praktische Theologie auf dem Weg zu neuen Ufern.¹ Dabei zeigt

 Diesen Kurs hat Thomas Klie entscheidend mitgeprägt. Allzu vertikale Argumentationsmuster
sind ihm fremd. Das Interesse für Zeichen, Spiel, Gesten, Stoffe, Sprache, Musik, Theater und
andere Dinge, die er auf Religion hin zum Sprechen bringt, zeigen die horizontale Ausrichtung.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-017
256 Matthias Marks

sich auf Schritt und Tritt, wie wichtig die ‚empirische Wende‘ war. Neue Reflexi-
onspotenziale taten sich auf durch die Öffnung für den Dialog mit Nachbardis-
ziplinen. Seitdem ist klar: der Gegenstand der Praktischen Theologie ist viel
komplexer als zuvor gedacht und kann nur interdisziplinär gewinnbringend be-
arbeitet werden.
Bei der Nennung der zukunftseröffnenden Perspektiven- und Paradigmen-
wechsel darf neben dem ‚cultural turn‘, ‚performative turn‘, ‚material turn‘ und
anderen ‚turns‘ freilich der ‚iconic turn‘² nicht fehlen. Dies sei erwähnt, weil es
derzeit immer noch so aussieht, als stünde die Bildwissenschaft in der Prakti-
schen Theologie auf einem Abstellgleis.³ Ob es daran liegt, dass im Zuge der
phänomenologisch-hermeneutischen (Wieder‐)Entdeckung des Visuellen in der
Theologie bisher vor allem die strukturellen Eigenarten des Bildes im Fokus
standen und die bildlich vermittelten Botschaften und ihre Bedeutung bei der
rezeptionsästhetischen Aneignung noch zu wenig Beachtung finden?⁴ Oder ist es
nach wie vor der erhöhte Respekt vor der Macht des Bildes, jenem Ding, das die
Spielregeln im Umgang mit ihm nicht zu kennen scheint, das sich als Schauplatz
entstehenden Sinns verselbstständigen, einem leicht aus den Fingern gleiten,
nicht nur Neugier entlocken, sondern auch das Fürchten lehren kann? Dagegen
hatte es die Semiotik vergleichsweise leicht, in der Praktischen Theologie Fuß zu
fassen.⁵ Denn wer ‚Zeichen‘ sagt, muss noch nicht ‚Bild‘ meinen.⁶ Die Frage ist

Gleichwohl weiß er zu betonen: „Kommunikation des Evangeliums“ meint nicht nur, was Men-
schen kommunikativ mit dem Evangelium tun (gen. obj.), sondern ebenso, was das Evangelium
kommunikativ mit Menschen tut (gen. subj.).
 Der Begriff „iconic turn“ stammt von Gottfried Boehm, „Die Wiederkehr der Bilder“, in Was ist
ein Bild?, hg.v. Gottfried Boehm (München: Fink, 1994), 11– 38, und meint im interdisziplinären
Kontext einen wissenschaftsübergreifenden Paradigmenwechsel von der Textwissenschaft zur
Bildwissenschaft. Wie dies praktisch-theologisch aussehen könnte, ist eindrücklich zu studieren
in dem Beitrag von Thomas Klie, „Lektüren liturgischer Performanz am Beispiel der Elevation“, in
Präsenz im Entzug: Ambivalenzen des Bildes, hg.v. Philipp Stoellger und Thomas Klie (Tübingen:
Mohr Siebeck, 2011), 373 – 388.
 Nach zögerlichen Aufbrüchen in den 1980er Jahren durch Beiträge von Rainer Volp, Eilert
Herms u. a. wurde die Bildthematik lange nur am Rande der theologischen Ästhetikdebatte oder
in Dialog-Foren ‚Kunst und Kirche‘ mit verhandelt. Wie der Beitrag der Praktischen Theologie im
interdisziplinären Bilddiskurs aussehen könnte, wurde erst kürzlich gezeigt. Vgl. Matthias Marks,
Menschwerden aus Passion: Das Religiöse in der Malerei von Rudolf Hausner (1914 – 1995) (Stutt-
gart: Kohlhammer, 2013), insbes. 101– 134; 299 – 311; dort auch die wichtigsten Literaturverweise.
 Vgl. Christian Schwindt, Art. „Theologie, christliche“ in Bildwissenschaft: Disziplinen, Themen,
Methoden, hg.v. Klaus Sachs-Hombach (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005), 196 – 212.
 Mit der Semiotik hat sich die Praktische Theologie eine Theorie zu Eigen gemacht, mit der sie in
vielen Handlungsfeldern Neuland betreten konnte: in der Liturgik (Bieritz, Volp), der Homiletik
Dinge, die unter die Haut gehen 257

nur, ob syntaktische, semantische und pragmatische Gesichtspunkte auf Dauer


genügen, um Dinge zum Sprechen zu bringen, die sich anschicken, Erfahrung
gelebter Religion zu bergen, die vielleicht so anders, fremd und neu daherkommt,
dass es mit der Analyse von Lexemen und Entschlüsselung von Codes noch nicht
getan ist. Religion ist jedenfalls mehr als nur eine formale Zeichendeutung.⁷ Bevor
wir Dinge zum Sprechen bringen, könnte es sein, dass sich diese Dinge selbst bei
uns zum Sprechen gebracht haben, und sei es zunächst mehr unbewusst.⁸ Bevor
wir ihnen Bedeutung zuschreiben, könnten sie uns zuvorgekommen sein, indem
sie den Projektions-Introjektionsmechanismus in Gang setzen, das Wechselspiel
der Bilder zwischen innerer Welt und äußerer Realität anregen und sich ange-
sichts dieser rezeptionsästhetischen Dynamik bereits ohne unser aktives Dazutun
als bedeutungsträchtig erweisen. Um zu verstehen, was sich in den Zwischen-
räumen abspielt, wenn Dinge z. B. auf Religionshybride⁹ hin zum Sprechen
kommen, erscheint das Bild in einem umfassenderen Verständnis als Medium
jedenfalls gut geeignet. Dies sei im Folgenden am Beispiel der Performanz von
Tattoos ansatzweise gezeigt.

2 Tattoos – nur eine Modeerscheinung?


Tattoos sind ‚in‘. Was einst nur bei subkulturellen Gruppen bzw. extremen Min-
derheiten anzutreffen war, hat sich zu einem allgemeinen, vorwiegend jugend-
kulturellen Massenphänomen entwickelt, auch in Deutschland. Jeder 10. Bun-
desbürger ist tätowiert. Jeder fünfte im Alter zwischen 14 und 34 Jahren sucht

(Martin, Bieritz, Witzel, Engemann), der Symboldidaktik (Meyer-Blank), der Pastoraltheologie


(Klie), der Religionspädagogik (Dressler), der Seelsorge (Engemann).
 Vgl. Hans Belting: „Auch Bilder lassen sich als Zeichen benutzen, aber sie haben ein Surplus in
der Anschauung von Wirklichkeit, einer vermeintlich von Deutung und Entstellung freien Wirk-
lichkeit, weshalb sie für uns gefährlicher oder verführerischer sind: sie halten unsere Sinne und
unsere Imagination gefangen. Zeichen üben Macht aus im Namen dessen, der über sie verfügt und
sie vertreibt, aber Bilder üben Macht bereits aus eigener Kraft und in der Anleihe auf Wirklichkeit
aus.“ Hans Belting, Das echte Bild: Bildfragen als Glaubensfragen (München: C.H.Beck, 22006), 8.
 Der semiotische Ansatz besagt zugespitzt: Religion ist ein Zeichenprozess, aber nicht jeder
Zeichenprozess ist Religion, sondern nur diejenigen Zeichenprozesse, die religiöse Lesarten zu-
lassen. Der bildtheoretische Ansatz fragt weiter zurück, z. B. nach dem Woher des Verstehens und
Unterscheidens der Lesarten.
 Vgl. Philipp Stoellger, „Vom Nichtverstehen aus: Abgründe und Anfangsgründe einer Herme-
neutik der Religion“, in Hermeneutik der Religion, hg.v. Ingolf U. Dalferth und Philipp Stoellger
(Tübingen: Mohr Siebeck, 2007), 59 – 89.
 Vgl. Peter A. Berger, Klaus Hock und Thomas Klie (Hg.), Religionshybride: Religion in posttra-
ditionalen Kontexten (Heidelberg: Springer VS, 2013).
258 Matthias Marks

heute Bodyart-Studios auf, um sich Tattoos (oder auch Piercings) stechen zu


lassen. Die Beweggründe für Tätowierungen sind so vielfältig wie die Bilder,
Zeichen, Symbole, Zahlen und Worte, die mit Tinte in bzw. unter die Haut ge-
stochen werden. Auch religiöse Motive sind keine Seltenheit.
Die kulturelle, soziale und psychische Bedeutung von Tattoos wird seit län-
gerem erforscht.¹⁰ Der erste praktisch-theologische Beitrag¹¹ war seiner Zeit vor-
aus und wurde zunächst kaum wahrgenommen. In der Psychologie wurde die
Thematik lange Zeit eher abwertend behandelt, in der Psychoanalyse der 1960er
Jahre beispielsweise mit Begriffen wie Exhibitionismus, Masochismus und Im-
pulsivität belegt und oft pathologisiert. Erst mit dem Tätowierungsboom seit den
1990er Jahren wurde dem Phänomen mehr Aufmerksamkeit gewidmet und ge-
nauer hingeschaut, inwiefern in Tattoos auch existenzielle Bedürfnisse artiku-
liert, Wünsche nach Heilung von Wunden, Bewältigung von Krisen, Orientierung
in schwierigen Lebensphasen, Identitätssuche usw. zum Ausdruck gebracht sein
können. Tätowierungen sind eben nicht bloß eine Modeerscheinung und werden
nicht nur zum Zweck des Körperschmucks oder der Nachahmung von tätowierten
Prominenten begehrt, sondern müssen viel differenzierter betrachtet werden.
Dafür ist der Dialog von Natur- und Geisteswissenschaften gefragt, wie er bei-
spielhaft in der Religionspsychologie geführt werden kann, deren zentrales An-
liegen es ist, den psychischen Vorgang in der Religion am Ort des Menschen in
seiner Entwicklung, seinem Selbst- und Weltverständnis, seinen Beziehungen
und in den Interaktionen zwischen Individuum, Gruppen und Institutionen zu
verstehen.¹² Mit dieser Wahrnehmungseinstellung können unterschiedliche Be-
weggründe zu Tätowierungen auf eine religiöse Grundierung hin transparent
werden, sei es im Blick auf den manifesten Bildinhalt des Tattoos, also das ma-
teriale Ding unter der Haut, oder im Blick auf den latenten Bildgedanken, der sich
im Akt des Tätowierens in seiner Wirkung auf das körperliche und seelische Be-
finden offenbaren kann. Im begrenzten Rahmen dieses Beitrags sollen drei Fragen
im Mittelpunkt stehen:

 Einen Forschungsüberblick bieten Iris Därmann, Thomas Macho und Nina Franz (Hg.), Unter
die Haut: Tätowierungen als Logo- und Piktogramme (München: Fink, 2016). Ebenso Elisabeth
Rohr, „Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design: Zur sozialen und psychischen Be-
deutung von Piercings und Tattoos“, in Körperhandeln und Körpererleben: Multidisziplinäre Per-
spektiven auf ein brisantes Feld, hg.v. Anke Abraham und Beatrice Müller (Bielefeld: Transcript,
2010), 225 – 242.
 Inken Mädler, „Grenzüberschreitung als Phänomen populärer Religionskultur: Die Tätowie-
rung als Arbeit an der Grenze“, in Kommunikation über Grenzen, VWGTh 33, hg.v. Friedrich
Schweitzer (Gütersloh: Ev. Verlagsanstalt, 2009), 710 – 722.
 Vgl. Matthias Marks, Religionspsychologie, Kompendien Praktische Theologie 1 (Stuttgart:
Kohlhammer, 2018).
Dinge, die unter die Haut gehen 259

– Welche Erkenntnisse lassen sich vom kulturellen Ursprung des Phänomens


her für die Bedeutung zeitgenössischer Tätowierungsmotive und -praktiken
gewinnen?
– Was bewirkt der Akt der Tätowierung mit seinem wesentlichen Kennzeichen
des Sich-stechen-Lassens (Schädigung der Haut, Blut, Schmerz) aus psy-
choanalytischer Sicht?
– Was ist religiös daran, wenn Menschen ihren Körper tätowieren lassen? In-
wiefern weisen auch un-religiöse Tattoo-Motive auf Bedürfnisse, Konflikte,
Krisen, Such- und Fluchtbewegungen und deren implizite religiöse Dimen-
sion hin?

3 Zu den kulturellen Ursprüngen des Tätowierens


Sitte. Als früheste Zeugnisse der Tattoos gelten Funde in der südfranzösischen
Grotte von Arcy-sur-Cure, die auf über 35.000 Jahre alt geschätzt werden. Höh-
lenmalereien in der Sahara aus dem 5. Jh. v.Chr. werden als weitere Belege ge-
nannt, ebenso die Tätowierungen von „Ötzi“, der Mumie vom Hauslabjoch aus der
Bronzezeit, der Skythen, einem Reitervolk der russischen Steppe und des Kau-
kasus aus der Eisenzeit, der Pasyryk-Kultur im russischen Ukok-Plateau aus dem
3.–2. Jh. v.Chr. Ähnlich alt sind Funde aus der 11. Dynastie Thebens und aus dem
Reich Ägyptens. Seine Wurzeln hat das Tätowieren auch in verschiedenen Kul-
turen Mikronesiens und Polynesiens sowie bei indigenen und japanischen Ur-
bevölkerungen. Aufgrund der weltweit gefundenen Hinweise wird heute davon
ausgegangen, dass die Sitte des Tätowierens bei den verschiedenen Völkern
selbständig und unabhängig voneinander entstanden ist.¹³ Weil Tätowierungen
ihre farbliche Wirkung nur auf heller Haut entfalten, verbreitet sich die Praxis vor
allem im europäischen und asiatischen Raum (Japan, Polynesien, Neuseeland).

Technik. Der Akt des Tätowierens stellt sich seit jeher als ein Eingriff dar, der mit
Blut und Schmerz verbunden ist. Unterschiedliche Verfahren werden praktiziert,
um die Farben unter die Haut zu bringen. Als Beispiele: Die Inuit benutzen rußige
Fäden, die narbenähnliche Markierungen hinterlassen. Die Maori in Neuseeland
schneiden sich mit Meißel-ähnlichen Holzinstrumenten Farbe in die Gesichts-
haut. Die Samoaner verwenden eine kammähnliche Hacke, die u. a. aus Men-
schenknochen bestand. Auf Tahiti wird die Haut mit scharfen Steinen, Knochen

 Lange galt die These, dass die Sitte des Tätowierens ursprünglich aus Südwestasien stamme,
sich von dort über Ägypten nach Polynesien und Australien ausgebreitet habe und schließlich
nach Nord- und Südamerika weitergetragen wurde. Dies wird heute in Frage gestellt.
260 Matthias Marks

oder Haifischzähnen aufgeritzt und dann mit Asche oder Pflanzenfarbe einge-
rieben. Bei den Maya und Azteken sind Dornen und Kakteenstacheln gebräuch-
lich. Tätowiert wird an allen Körperstellen.

Kult. In der Frühzeit ist die Körperkunst des Tätowierens stets eingebettet in einen
sakralen, rituellen und sozialen Kontext. Sie dient „u. a. der Markierung zentraler
Lebensphasen, der Initiation, d. h. dem Abschied von der Kindheit und der In-
tegration in die Erwachsenenwelt, der Geburt des ersten Kindes, der Tötung des
ersten Tieres während der Jagd, aber auch dem siegreichen Kampf in der krie-
gerischen Auseinandersetzung.“¹⁴ In Ägypten werden mit einer Tätowierung
magische Kräfte verbunden, die über den Tod hinaus wirken und dem Verstor-
benen im Jenseits zugutekommen. Bei den frühen Christen ist es üblich, sich zur
Vergewisserung ihres Glaubens und als Identifikationszeichen die Initialen CX
oder I.N. (Iesus Nazarenus) bzw. christliche Symbole (Lamm, Kreuz, Fisch) auf
Stirn oder Handgelenk stechen zu lassen.

Begriff. Das Wort „tätowieren“ hat seinen Ursprung in den polynesischen Spra-
chen. „Tattoo“ stammt vom tahitianischen Wort „tattau“ oder „tatatau“ (= ein-
schlagen, kunstgerecht, ein Muster in der Haut). Der Begriff, der erstmals 1769 von
Captain James Cook erwähnt und als „tattoo“ in die englische Sprache eingeführt
wird, verbreitet sich ab 1774 in Europa. Im deutschen Sprachraum sind zuerst
beide Begriffe „Tatauieren“ und „Tätowieren“ gebräuchlich, bevor sich zu Beginn
des 20. Jh. die Bezeichnung „Tätowieren“ durchsetzt.

Stigma. Die europäische Tradition der Tattoos ist eng mit der Geschichte der
Sklaverei verbunden, in einem doppelten Sinne. Zum einen dienen Tätowierun-
gen dazu, Menschen zu Besitzstücken und Zwangsarbeitern zu machen. In der
griechischen Antike tragen Sklaven die eintätowierten Namen ihres Herrn oder
Buchstaben und Ziffern, die wie Brandstempel auf Tieren als Eigentumsmarke
oder Erkennungszeichen fungieren. Im alten Rom dient die Gesichtstätowierung
als Zeichen der Strafe für entlaufene Sklaven, Kriegsverbrecher und Kriminelle,
die als Gladiatoren in den Arenen oder Zwangsarbeiter in den Minen den Tod
finden sollen. Zum anderen werden Straf- und Sklaventätowierungen auch im
umgekehrten Sinne verwendet als Überlebens-, Schutz- und Freiheitszeichen,
d. h. als Stiftung der neuen Identität bzw. Zeugnis oder Bekenntnis, zu dieser
sozialen Gruppe zu gehören. Als sakral gilt die Sklaventätowierung, die einen
Sklaven als unter dem Schutz seines Gottes stehendes Eigentum ausweist, d. h. als

 E. Rohr, Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design, 228.


Dinge, die unter die Haut gehen 261

von ihm befreit (losgekauft) und somit für profane Zugriffe unerreichbar. Daran
angelehnt bezeichnet sich der Apostel Paulus als „Sklave des Messias“, der „die
Stigmata Jesu“ an seinem „Leibe trägt“ (Gal 6, 17).

Ambivalenz. Die Tätowierung in der Bedeutung als Stigma verbreitet sich in Eu-
ropa (und Japan¹⁵) bis ins 20. Jh. hinein. An die Straf- und Sklaventätowierungen
im erstgenannten Sinne erinnern die Häftlingsnummern, die im Nationalsozia-
lismus KZ-Insassen eintätowiert wurden, oder auch Tätowierungen von Zwangs-
prostituierten durch Zuhälter. Ganz anders erscheint die Bedeutung der Stigma-
tisierung im Anschluss an die Tradition des tätowierten Seemanns (seit James
Cook). Es entwickelt sich jene Tätowierungspraxis, bei der Personen, die als ge-
sellschaftlich Randständige galten (wie Seeleute, Kriminelle, Prostituierte usw.),
die Tätowierung als identitätsstiftende Initiierung freiwillig auf sich nehmen, um
ihrer exklusiven Gruppe anzugehören und sich vor anderen auszuzeichnen.¹⁶ Zum
Beispiel sind ehemalige Häftlinge mit Spinnen am Hals oder Hinterkopf, mit
Tränen an den Augenrändern („Knasttränen“) oder mit drei Punkten zwischen
Daumen und Zeigefinger („Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt“) täto-
wiert. Sind Anfang des 20. Jh. Tätowierungen fast nur bei Seeleuten, Soldaten,
Angehörigen sog. Subkulturen oder Häftlingen zu sehen, werden sie in den 1970er
Jahren v. a. bei Punks und Rockern zum Bestandteil ihrer Kultur. Was gesell-
schaftlich lange als negativ galt (Stigma von Schande, Sünde, Verbrechen, so-
zialem Außenseitertum), wird ästhetisch zur Schau getragen. Das Stigma wird
also zunehmend im positiven Sinne als Zeichen von etwas Herausgehobenem,
Besonderem und Exklusivem verstanden. Tätowierte Prominente, wie Stars im
Profi-Fußball und in der Musikbranche, werden zu Vorbildern einer modernen
Jugendkultur.¹⁷

4 Zu den Beweggründen des Tätowierens


Fragt man, warum heutige Menschen sich freiwillig tätowieren lassen, erscheint
auf den ersten Blick in nur wenigen Motiven etwas vom kulturellen Ursprung des
Tätowierens fortzuleben: als Zeichen der Zugehörigkeit und Solidarität zu einer

 Auch wenn Tätowierung in Japan (erst seit 1948 offiziell erlaubt) immer beliebter wird, haftet
ihr bis heute das Stigma des kriminellen Milieus an. Früheste Belege stammen aus dem 3. Jh., als
Tätowierungen v. a. zur Stigmatisierung von Verbrechern eingesetzt werden (vgl. Yakuza-Kultur),
bevor um 1868 die Schmucktätowierung aufkommt.
 Vgl. dazu genauer: I. Därmann, Th. Macho u. a., Unter die Haut.
 Vgl. E. Rohr, Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design, 240 – 242.
262 Matthias Marks

Gruppe, als dauerhafter Körperschmuck (zeitspezifisches Modedesign) oder als


Zeichen magischer Kräfte. Davon zu unterscheiden sind diejenigen Motive, die im
Zuge der Entwicklung, insbesondere seit den 1970er Jahren, hinzugekommen
sind: als Code krimineller Banden, als Ausdruck von Rebellion, Protest, Anklage,
Provokation oder als Ich-Botschaft (Laune, Nachahmung von Idolen, Erinnerung,
Sehnsuchtszeichen, sexueller Kick, erotische Stimulation, Geltungsbedürfnis,
Wunsch nach etwas Bleibendem usw.).
Offensichtlich ist, dass Tattoos ihren ursprünglichen sakralen, rituellen wie
sozialen Kontext weitgehend verloren haben.¹⁸ Ursprünglich versinnbildlichte die
für alle sichtbare Kennzeichnung des Körpers die Vergesellschaftung des Ein-
zelnen und seine soziale Einbindung in die Gemeinschaft. Piercings und Tattoos
übernahmen dabei zivilisatorische Funktionen. Die dauerhaften Spuren auf dem
Körper, zuerst als Wunden und später als ewige Narben, hielten die Erinnerung an
diese bedeutsamen Ereignisse der kollektiven Sozialisierung wach. Etwas anderes
ist es, wenn Tattoos und Piercings heute – etwa im Stil eines ‚kulturellen Ge-
dächtnisses‘ (Assmann 1999) – an die Überwindung gesellschaftlicher Krisen-
und Konflikterfahrungen erinnern.¹⁹ Sie stehen dabei mehr im Dienst voran-
schreitender Individualisierung und übernehmen dabei neue Aufgaben. Diese
können sich zwar ebenso im Gewande (quasi‐)sakraler Rituale präsentieren, sind
dann aber anders zu verstehen. Das gilt auch für (christlich‐) religiöse Motive, z. B.
Kreuz (Kruzifix, Schmerzensmann, Golgatha, Pieta usw.), Bibel (aufgeschlagenes
Buch, Psalmverse usw.), Glaubensbekenntnisse („In God′s Hands“ usw.), Engel-
und Teufelsgestalten, Marienbildnisse, Dürers „Betende Hände“ usw. Werden
solche oder andere (christlich‐) religiöse Motive gewünscht, muss das nicht hei-
ßen, dass der/die Tätowierte sich damit als christlich outen will. Sie können auch
stellvertretend für andere Beweggründe stehen.
Meistens liegt dem Begehren nach einer Tätowierung nicht nur eine bewusste
Entscheidung zugrunde. Häufig spielen auch unbewusste Gründe eine Rolle, z. B.
Suche nach Bindung, Ausdruck eines Lebensgefühls, Mittel, um eine Kränkung,
Trennung oder Verletzung zu verarbeiten, Versuch, eine Angst zu bannen,
Wunsch, innere Stabilität zu gewinnen und zu vermitteln, Notwendigkeit, Stress
oder Aggression abzubauen, Hilfe, um Nähe und Distanz in Beziehungen zu re-
geln usw. Auch diese und andere unbewusste Beweggründe können religiös
grundiert sein. Diese Grundierung kann sich in explizit religiöser bzw. christlicher
Symbolik, aber auch mittels einer profanen Tätowierung, auch mittels eines
profanen Motivs zum Sprechen bringen. Spannend wird es, wenn beides in einen

 E. Rohr, Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design, 233.


 Ebd., 229.
Dinge, die unter die Haut gehen 263

Zusammenhang kommt²⁰, was wiederum dem Tätowierten selbst gar nicht be-
wusst sein muss, aber in der persönlichen Auseinandersetzung und im Gespräch
über sein Tattoo zum Vorschein kommen kann. Darum soll hier die tätowierende
Handlung, also der performative Aspekt von Tattoos genauer betrachtet werden.

5 Psychoanalytische Bemerkungen zum


tätowierenden Akt und seiner Bedeutung im
lebenslangen Individuationsprozess
Wo tätowiert wird, fließt Blut. Schmerz gehört – je nach Körperstelle mehr oder
weniger – auch dazu. Was Tattoos (auch Piercings, Brandings und Skarifikatio-
nen) „von allen anderen Formen der Körperkunst (wie Make-up oder Körperbe-
malung) unterscheidet, ist der invasive und die Körperhülle dauerhaft beschä-
digende Charakter.“²¹ Auch wenn eine Tätowierung heute mithilfe von
Lasertechnik wieder entfernt werden kann, bleiben doch Narben, die an sie er-
innern.²² Die Verletzung der Haut mit der Tätowier-Nadel und damit verbunden
Blut und Schmerz sowie die Dauerhaftigkeit des eingestochenen Motivs scheinen
wesentliche Aspekte zu sein, wenn man bei der Frage nach dem Wunsch eines
Tattoos besonders auch die unbewussten Triebkräfte mit berücksichtigt. Fünf
Gesichtspunkte seien genannt:

Autoinitiation. In der modernen Welt ist es nicht leichter geworden, den


schwierigen Entwicklungsschritt von der Kindheit zum Jugend- und Erwachse-
nenalter zu bewältigen. Einerseits geht es um die Ablösung von den Eltern, um die
Suche nach dem eigenen Weg, um erste intime Beziehungen und die Angst, dass
diese zu nah werden könnten. Andererseits sind zunehmende Vereinzelung,
grassierende Flüchtigkeit, auch als Folge digitalisierter Lebenswelten, sowie po-

 Vgl. Patrick Dzambo, „Tattoos: Mehr als nur Farbe in der Haut?“, KatBl 141 (2016): 130 – 135;
Ders., „Tattoos, a modern way of religious identity construction?“, in: Religiöse Bildung in Europa:
Exemplarische Einblicke in eine komparative Religionspädagogik, hg.v. Patrik Dzambo, Jadranka
Garmaz und Bernhard Grümme (Münster: LIT, 2019), 39 – 45.
 E. Rohr, Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design, 226.
 Statt einer Entfernung wird manchmal auch ein „Makeover“ gewünscht. Ein Tattoo wird
damit quasi zu einem Palimpsest, indem das bisherige Tattoo, das ausgedient hat, von einem
neuen überdeckt wird, ohne damit jedoch zu verschwinden.
264 Matthias Marks

litische Unsicherheit die bestimmenden Faktoren.²³ Besonders gewichtig sind die


körperlichen Transformationsprozesse. Der „allseits sprießende adoleszente
Körper“ gerät in Widerspruch zu „dem allgemein erlebbaren, gesellschaftlichen
Bedeutungsverfall des Körpers wie auch zum modernen Körperkult, denn weder
Wellness, Fitness, Trainings noch Extremsportarten vermögen regulierend und
kontrollierend auf die sich ausweitenden Körpergrenzen und die noch unbe-
kannten sexuellen Erregungszustände der Jugendlichen einzuwirken.“²⁴ Der
Wunsch nach einer Tätowierung kann Ausdruck dafür sein, dass die Grenze un-
klar wird, dass es um zu viel Nähe oder zu viel Trennung geht. Das Stechen von
Tattoos (wie auch Piercings) kann unerträgliche körperliche und/oder emotionale
Spannungszustände (zumindest vorübergehend) erträglich machen. „Durch die-
sen autoaggressiv anmutenden Akt der eigenmächtig vorgenommenen Verwun-
dung der Körperhülle wird diesen Gefühlen eine andere, kontrollierte Erfahrung
entgegengesetzt und damit die Angst vor der Dissoziation begrenzt.“²⁵ Die Täto-
wierung wäre damit eine „Rettungsstrategie“, um sich in einem diffus geworde-
nen, sich ausdehnenden und von Triebregungen überfluteten Körpererleben neu
zurechtzufinden. Deshalb suchen nicht nur Jugendliche Tattoo-Studios auf. Der
Individuationsprozess ist heute oft durch eine verlängerte Adoleszenz gekenn-
zeichnet.²⁶ Gleichwohl bleibt das Ringen um die richtige Balance zwischen Nähe
und Distanz in der Gestaltung von Beziehungen eine lebenslange Herausforde-
rung, am deutlichsten ablesbar an der Situation von Seefahrern, Häftlingen und
auch Fußballstars. Was sie verbindet ist, „dass es auf der einen Seite sehr nah ist
in der Gruppe der Menschen, mit denen man zusammen ist, und auf der anderen
Seite ist man weit weg von zu Hause, es droht der Verlust der Identität.“²⁷ In
Tattoos soll diese Ambivalenz gebannt werden.

Psychosomatische Kompromissbildung. Nicht zufällig wird die Materie der Haut


zum Medium der beschriebenen Rettungsstrategie. Auf bzw. in ihr wird der see-
lische Schmerz nach außen gelenkt und in einer körperlichen Wunde fokussiert,

 Udo Feist, „Etwas, das bleibt“: Wie viel Religion steckt in Tattoos?, Manuskript WDR 3, Le-
benszeichen, Sendung vom 01.11. 2016, 11.
 E. Rohr, Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design, 234.
 Ebd., 233.
 Vgl. Matthias Marks, Art. „Adoleszenz“, in Wissenschaftlich-Religionspädagogisches Lexikon
im Internet (2020) (online abrufbar unter www.wirelex.de); im Anschluss an Peter Blos, Adoles-
zenz: Eine psychoanalytische Interpretation (Stuttgart: Klett, 1973).
 Uta Karacaoglan, in U. Feist, Etwas, das bleibt, 9.Vgl. dies., „Tattoo and taboo: On the meaning
of tattoos in the analytic process“, in The International Journal of Psychoanalysis 93 (1) (2012):
5 – 28.
Dinge, die unter die Haut gehen 265

die aufgrund der Selbstheilungskräfte des Körpers ohne eigenes Zutun heilt. Als
bunte Zeichnung oder Narbe hält sie „die Erinnerung an den Schmerz“, vor allem
jedoch „die Erinnerung an die aktiv gestaltete Überwindung des Schmerzes“²⁸ und
an die künftig weiterhin dafür benötigen Abwehrkräfte fest. Insofern spiegelt sich
im Begehren einer Tätowierung „sowohl ein autoaggressives wie auch ein re-
gressives Verhalten“, das helfen soll, Krisen- und Konflikterfahrungen nicht nur
passiv erleiden zu müssen.²⁹ Stattdessen wird die Haut, in der man steckt, als
Pufferzone, d. h. als Experimentierfeld und Schutzwall genutzt in einer globali-
sierten Welt, wo „nur noch der eigene Körper als Objekt der Kontrolle, der
Selbstvergewisserung und der performativen Ausgestaltung der eigenen Identität
zur Verfügung zu stehen scheint.³⁰

Ästhetisierung von Tabus. Tattoos können als ein Mittel benutzt werden, um be-
stimmte Themen, Probleme und Konflikte von sich fern zu halten. Indem sie als
Tattoo gestochen werden, erscheinen sie sozusagen auf magische Weise in einem
bestimmten Motiv (Verdichtung) oder in ihr Gegenteil verkehrt (Verschiebung)
gebannt und somit entschärft. Wie in einem Traumbild, in dem äußere Erfah-
rungen und die darauf antwortenden inneren Phantasievorstellungen zunächst
undifferenziert zusammenkommen und eine andere Ebene brauchen, um ge-
ordnet und verarbeitet werden zu können.³¹ Diese andere Ebene können Tattoos,
solange sie nur gestochen, aber sachlich nicht bearbeitet werden, nur bedingt
sein, insofern die dahinterstehenden Themen, Probleme und Konflikte auf diese
Weise auch tabuisiert und durch Selbsttäuschung zum Verschwinden gebracht
werden können. „Tattoos helfen nicht dabei, mit unerträglichen Gefühlen besser
umgehen zu können. Sie halten sie bloß auf Distanz“, sind sozusagen ein „Auf-
schub“, ein „Snapshot“, eine Momentaufnahme von der Situation, in der man
emotional stecken geblieben ist.³² Ein Tattoo kann somit nur vorübergehend be-
ruhigen, was erklärt, warum es oft bei einem Tattoo nicht bleibt. Denn die Sym-
bolisierung auf der Haut kann den für eine wirkliche und dauerhafte Heilung und
Individuation notwendigen innerpsychischen Symbolisierungsprozess³³ nicht er-
setzen. Psychoanalytisch würde man das Ding unter der Haut dann als „projektive
Identifizierung“ bezeichnen, ein vorläufig hilfreicher psychischer Mechanismus,
der zur sog. „ersten Wahrnehmung“ von Wirklichkeit gehört, die es im weiteren

 E. Rohr, Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design, 236.


 Ebd.
 Ebd., 234.
 U. Karacaoglan, in: U. Feist, Etwas, das bleibt, 10.
 Ebd., 9.
 Vgl. M. Marks, Religionspsychologie, insbes. 55 – 57, 82– 102.
266 Matthias Marks

Verlauf der Identitätsentwicklung jedoch zugunsten einer realistischeren Wirk-


lichkeitswahrnehmung immer wieder zu überwinden gilt.³⁴

Ruf nach Heilung. Im Zentrum der psychoanalytischen Deutung steht das Para-
dox, dass die Haut als äußerste Grenze des Körpers zur Darstellung eines in-
nersten Aspekts des Selbst genutzt wird. D. h. in den Bildern, Zeichen, Symbolen
oder Worten, die im wahrsten Sinne ‚unter die Haut‘ gestochen werden, erschei-
nen Dinge zum Sprechen gebracht, die im sprichwörtlichen Sinne ‚unter die Haut‘
gegangen sind. Insofern können Tattoos als bildgewordene Biographie oder vi-
sualisiertes Tagebuch³⁵ verstanden werden, „Botschaften an die Innen- und Au-
ßenwelt, mit denen versucht wird, die Seele ein wenig Gerechtigkeit oder Aus-
gleich erfahren zu lassen, die sie in der traumatisierenden Interaktion nicht
erfahren konnte.“³⁶ Zu den extremsten Traumata³⁷ gehören sexuelle Miss-
brauchserfahrungen. In diesem Zusammenhang kann ein Tattoo oder Piercing in
Genital-Nähe begehrt werden und ein Ausdruck des Rufs nach Heilung der kör-
perlichen und seelischen Verletzung sein. Im Akt des Tätowierens oder Piercens
wird dabei dem Tätowierer oder Piercer – wie in einer „Übertragungssituation“³⁸ –

 „Diese erste oder früheste Wahrnehmung von Wirklichkeit gehört zur psychischen Grund-
ausstattung von Menschen und kann in bestimmten auslösenden Situationen immer wieder
hervorgerufen werden. Nur die Überwindung, die ständige Überwindung dieser ‚ersten Wahr-
nehmung‘ von Wirklichkeit führt dazu, dass Wahrheit überhaupt in den Blick genommen werden
kann. Diese hermeneutischen Konsequenzen aus den Forschungen von Melanie Klein (1946) und
anderen Autoren sind der wesentliche Beitrag der Psychoanalyse zur Diskussion über die
Wahrnehmung von Wirklichkeit und Wahrheit.“ Wulf-Volker Lindner, „Religiöse Erfahrungen
und Rituale im Lebensalltag, in Religiöses Erleben verstehen, hg.v. Wilfried Ruff (Göttingen:
Vandenhoeck, 2002), 29.
 Ann-Kathrin Brenke, „‘Ein Tagebuch in Bildern‘ – reportage“, Hamburger Abendblatt v. 29.11.
2021: 5.
 Aglaja Stirn, Körperkunst und Körpermodifikation: Interkulturelle Zusammenhänge eines
weltweiten Phänomens (Gießen: Psychosozial, 2003), 140.
 Vgl. Maike Schult, Ein Hauch von Ordnung: Traumaarbeit als Aufgabe der Seelsorge (Leipzig:
Ev. Verlagsanstalt, 2018).
 Vgl. M. Marks, Religionspsychologie, 61. – Das psychoanalytische Übertragungs-Gegenüber-
tragungskonzept ist nur im Kontext mit anderen psychoanalytischen Konzepten und vor dem
Hintergrund des psychoanalytischen Menschenbildes zu verstehen. Hier aufs Kürzeste: Inhalte
des Unbewussten kommen – wenn sie denn kommen – meist nicht direkt, sondern indirekt auf
anderen Wegen, am bewussten Selbst-Erkennen-Können vorbei, zum Vorschein. Dies kann in
gewöhnlichen Alltagssituationen geschehen. Im therapeutischen, im kreativen wie im rezeptiven
Prozess können jene verborgenen Anteile der eigenen Person unter bestimmten Beziehungsvor-
aussetzungen übers „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ erschlossen werden. Mithilfe eines
Gegenübers ist es möglich, dass die unbekannten Selbstanteile sich ungewollt ‚inszenieren‘
(„Projektion/Introjektion“), sich unkontrolliert am Anderen, der mit der Sache gar nichts zu tun
Dinge, die unter die Haut gehen 267

mehr unbewusst als bewusst die Rolle des Übeltäters zugedacht. Die unbewältigte
Erfahrung soll durch eine Re-Inszenierung des Übels gelöst werden. Indem die/
der Tätowierte sich nun freiwillig in die Hände eines Menschen begibt, der ihr/ihm
an derselben Stelle wieder Gewalt antut, geschieht das in einem von ihr/ihm selbst
kontrollierten Rahmen. Darin erfolgt eine Identifikation mit dem Aggressor, zu-
gleich jedoch eine quasi-religiöse Handlung, indem ‚Narbe auf Narbe‘ gesetzt und
die erfahrene Gewalt in etwas ‚Schönes‘ umgewandelt wird. Dem Skandalon muss
zunächst ein bildhafter Ausdruck gegeben, es muss noch einmal ähnlich erlebt
werden, um bewältigt werden zu können. Der körperliche Schmerz, den es bei der
Tätowierung heroisch und stoisch zu ertragen gilt (Narkose ist verpönt), erhält so
den Charakter einer Mutprobe im Hinblick darauf, ob die ungleich schmerzhaftere
Auseinandersetzung mit der seelischen Verletzung, mit dem, was ‚echt‘ an den
Nerv gegangen ist, vielleicht gelingen könnte.

Übergangsobjekt. In Gestalt des Tattoos wird das Problem zunächst auf eine
‚Zwischenbühne‘ der Symbolisierung gebracht, bevor es sich – vielleicht – in ein
Narrativ verwandeln, mentalisieren und lösen lässt. Das Tattoo fungiert auf diese
Weise wie das, was in der Psychoanalyse unter dem Begriff des „Übergangsob-
jekts“³⁹ diskutiert wird. Denn dieses enthält „sowohl regressive wie auch pro-
gressive Elemente und ist notwendig, um subjektive wie objektive Umbrüche zu
bewältigen und diese individuell und kreativ zu gestalten.“⁴⁰ Ob ein Tattoo diese
Funktion erhält, ist allerdings nicht garantiert. Es kann ein „Snapshot“ bleiben
oder sogar kontraproduktiv wirken, wenn damit ein innerseelisches Anliegen
bloß nach außen gelenkt („projektive Identifizierung“) und die nötige Ausein-

hat, ausagieren („Wiederholungszwang“), um so („Identifizierung“) durch „freie Assoziation“ des


Analysanden und „gleichschwebende Aufmerksamkeit“ des selbst- und fremdreflektierenden
Analytikers („Abstinenz-Konzept“) tastend erkannt zu werden („Übertragung/Gegenübertra-
gung“). Dabei gilt: Wenn Freiheit klingt, haben es beide gehört.
 Vgl. Donald W. Winnicott, „Übergangsobjekte und Übergangsphänomene“, in Von der Kin-
derheilkunde zur Psychoanalyse, hg.v. dems. (Frankfurt a. M.: Fischer, 1983), 300 – 319; Ders., Vom
Spiel zur Kreativität (Stuttgart: Klett-Cotta, 101987), 10 – 36. – In dieser Theorie, die Freuds Er-
kenntnisse aufnimmt, sie z.T. hinter sich lässt, um sie im Anschluss an die englischen Objekt-
beziehungstheorien (Klein, Mahler, Anna Freud) weiterzuführen, wird heute großes Potenzial für
die Religionspsychologie gesehen. Auch in der Praktischen Theologie wird sie viel rezipiert (vgl.
Klessmann 2014, Klie 2003, Drechsel 2002, Wagner-Rau 2000, Seiler 1996, Stubbe 1995, Raguse
1994, Wahl 1994 u. a.). Allerdings wurde sie dort bisher oft zu affirmativ für pastoraltheologische
Belange und zu unkritisch im Hinblick auf Winnicotts These vom Übergangsraum als eines an-
geblich unzerstörbaren Schutzraums aufgenommen. Vgl. im Einzelnen: M. Marks, Religionspsy-
chologie, 87– 94.
 E. Rohr, Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design, 239.
268 Matthias Marks

andersetzung umgangen wird. Auf diese Weise gerinnt ein Tattoo „zum ästheti-
sierten, aber leeren Zeichen auf der Haut.“⁴¹ In der Psychoanalyse wird seit Freud
davon ausgegangen, dass der nötige Prozess des „Erinnerns, Wiederholens und
Durcharbeitens“⁴² nicht allein und nicht schon auf der Ebene der Gefühle und
Bilder zu einer (Er‐)Lösung führen, sondern dass der Konflikt letztlich erst durch
Erzählen und mit Hilfe eines Anderen kommunikativ entschärft werden kann.
Möglich wäre dies durchaus mithilfe eines Tattoos, wenn beispielsweise beim
Aussuchen und Stechen des Motivs über die Beweggründe offen gesprochen
werden kann. Dann könnte der Akt des Tätowierens sogar zu einer Art „Therapie“
werden: „die Leute sitzen da oder liegen da, ähnlich wie beim Friseur, und reden
halt über diese Geschichten.“⁴³ Ob allerdings Tätowierer*innen immer über die
nötigen bildhermeneutischen, psychotherapeutischen bzw. seelsorglichen Kom-
petenzen verfügen, ist fraglich. Ihre Aufgabe ist es nicht.

6 Zur religiösen Dimension von Tätowierungen


Tätowierungen sind eine Form von Kunst, wie auch immer diese qualitativ be-
wertet wird. Darin begegnet Religiöses, wie in der Kunst überhaupt, nicht unbe-
dingt auf den ersten Blick oder nur im Stil theologisch vertrauter oder kirchlich
tradierter Symbolwelten. Tattoos sind Bilder in der Haut, die oft über ihre iko-
nografische Wertigkeit hinausweisen. Wer sich tätowieren lässt, findet das meis-
tens nicht nur einfach schön, sondern bringt damit auch etwas von sich selbst, für
das es vielleicht (noch) keine Worte gibt, bildhaft zur Ansicht. Denn „Bilder ge-
hören neben Gefühlen zu den elementarsten Eindrücken, die wir vom Leben
aufnehmen, gewinnen und miteinander austauschen können. Es ist sogar so, dass
wir die wichtigsten Dinge in unserem Leben, unsere Sehnsüchte, unsere Hoff-
nungen, unsere Sorgen und Ängste, unsere Lebenseinstellungen, Zweifel und
unseren Glauben immer nur annäherungsweise in Phantasien und Bildern und in
aller Regel nicht in der Klarheit des Gedankens ausdrücken können. Und auch der
hat immer noch seine Bildhälfte.“⁴⁴ Ob künstlerisch begabt und interessiert oder
nicht, ein Mensch, der erwachsen wird, kann dem Symbolisierungsprozess seines

 Ebd.
 Sigmund Freud, „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“, in GW X (1914): 125 – 136.
 Ramon Sanchez, in U. Feist, Etwas, das bleibt, 10.
 Wulf-Volker Lindner, „Die Abendmahlsbilder Rudolf Hausners in St. Jacobi“, in Kirchen –
Kulturorte der Urbanität, hg.v. Hans Werner Dannowski,Wolfgang Grünberg et. al. (Hamburg: EB,
1995), 116.
Dinge, die unter die Haut gehen 269

Geistes⁴⁵ nicht entrinnen, kann nicht aufhören, erfahrene äußere, sehnsüchtig


erhoffte und ängstlich vermiedene Wirklichkeit in sich abzubilden und mehr oder
weniger geformt aus sich herauszusetzen, und sei es zunächst ‚nur‘ in Bildern.⁴⁶
Tattoos können solche Sinnbilder sein. Sie sind religiös zu nennen, wenn der
Tätowierte darin seine Lebenserfahrungen, sei es unter der Perspektive eines ihn
umfassenden, haltenden und integrierenden Ganzen oder der gegenteiligen Per-
spektive eines für ihn fragwürdig gewordenen Lebenshorizontes, mehr oder we-
niger öffentlich auf bzw. in seiner Haut trägt. Dies gilt insbesondere, wenn solche
Bilder dynamisch wirksam die Frage nach dem Grund und Ziel des eigenen und
des Menschseins überhaupt aufwerfen und lebendig halten. Das geschieht rück-
blickend und vorausschauend zugleich. Indem eine Tätowierung im kreativen Akt
ihrer Entstehung oder im rezeptiven Akt ihrer Betrachtung immer wieder noch ein
‚Mehr an Sinn‘ enthüllt, das sich allgemeiner und umfassender darstellt als der
Tätowierte, der Tätowierer und andere zu realisieren vermögen, kann es dazu
dienen, bisher unbewusste Teile der eigenen Persönlichkeit kennenzulernen. Auf
diese Weise fördert eine Tätowierung den Prozess von Subjektwerdung und kann
sogar bewirken, dass ein Mensch durch sie zur Erfüllung seines Selbst gelangt, in
diesem materialen Ding seine gesamte Lebensgeschichte in ihrer Einzigartigkeit
in einem universalen und unausschöpflichen Sinn- und Wahrheits-Ganzen ge-
halten und getragen erlebt. Spuren des Religiösen in diesem Sinne können als
biblisch, christlich bzw. kirchlich geprägte Ikonografie erscheinen, aber auch in
anderen Motiven, die ihre religiöse Semantik erst bei näherem Hinsehen ent-
hüllen, stets unter verschiedenen Aspekten. Fünf seien kurz skizziert:

Bekenntnis zu Glaube, Hoffnung, Liebe. Tattoos können Bilder der Hoffnung und
Zuversicht auf eine Macht sein, die höher, größer, weiter ist als man selbst und
diese Welt, eine letzte Wahrheit, eine umfassende Güte und Gerechtigkeit, Quelle
von Liebe und Frieden. Mit diesem bekenntnishaften Charakter religiöser Täto-
wierungen wirbt beispielsweise ein Tattoo-Studio in Essen mit seinem Namen
„Glaube, Hoffnung, Liebe“ in Anlehnung an 1. Kor 13. Der Akt der Tätowierung
könnte damit an das ursprüngliche Verständnis als sakrales Ritual erinnern, sehr
wohl aber auch, wenn es um das geht, was Menschen „über alle Dinge fürchten,

 Vgl. dazu M. Marks, Religionspsychologie, 55 – 57 – im Anschluss an Susanne K. Langer,


Philosophie auf neuem Wege: Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst (Frankfurt a. M.:
Fischer, 1965).
 Dass bildhaft etwas zum Ausdruck kommen kann, was so (zunächst) auf keine andere Weise
ausgedrückt werden kann, ist ein zentrales Argument, was den Ausruf des „iconic turn“ veran-
lasste. Vgl. G. Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, a.a.O.
270 Matthias Marks

lieben und dem sie vertrauen“ (Luther), als ‚liturgische Handlung‘ bezeichnet
werden.⁴⁷

Wunsch nach etwas, das bleibt. Tätowierungen können Antwort auf die kulturelle
Beschleunigung sein, also Ausdruck des Wunsches „nach Gültigkeit und Fest-
halten“, nach „Spuren, die überdauern – für zumindest eine persönliche Ewig-
keit.“⁴⁸ Wird ein Tattoo begehrt, weil das gewünschte Motiv nicht nur (ab-
waschbar) gemalt, sondern bewusst auf Dauer angelegt sein soll, spiegeln sich
darin oftmals Ahnungen oder Erfahrungen der Verletzlichkeit und Endlichkeit des
Lebens und von Beziehungen zu geliebten Menschen, angesichts der Vergäng-
lichkeit von allem die Sehnsucht nach „etwas, das bleibt“⁴⁹. Auch dieser Aspekt
ist ‚religiös‘ zu nennen, weil man damit über sich hinausgreift. Ersehnt wird eine
Beziehung, die nicht fällt, wenn alles fällt, die aller Flüchtigkeit und Beliebigkeit
zum Trotz auch über das eigene Ende hinaus bleibt und Gewissheit stiftet, dass
das, was hier und jetzt ist, nicht alles ist (vgl. dazu auch die Ausstellung „Kör-
perwelten“).

Ruf nach Körperlichkeit. Der Tätowierungsboom kann Antwort auf den gesell-
schaftlichen Bedeutungsverfall des Körpers sein, also eine Gegenbewegung als
Ruf nach Ganzheit, mit der der verlorene Bezug zum Leiblichen eingeklagt wird.
Das würde erklären, warum bei einer Tätowierung die Verwundung der Haut, Blut
und Schmerz nicht nur in Kauf genommen, sondern als geradezu dazugehörend
wahrgenommen werden. Damit verweisen Tattoos als Zeugnisse eines neuer-
wachten Interesses am Körper zugleich auf die Bedeutung jener tiefen Kränkung,
die im Individuationsprozess unumgänglich ist und der Einsicht in die Wahrheit
des Selbst dient. Denn:

Körperliche Schmerzen (…), die zum einen an die Vergänglichkeit, die Verwundbarkeit und
Endlichkeit des Körpers gemahnen, der fern davon ist, immer und zu allen Zeiten perfekt
gestylt, allseits fit und ewig gesund zu sein, und seelische Konflikte, die trotz aller An-
strengungen nicht aus der Welt zu schaffen sind, erinnern (…) daran, dass der Mensch auch
schwach, unvollkommen und abhängig und nach wie vor und trotz aller Bemühungen nicht
Herr oder Herrin im eigenen Hause ist. Diese Kränkung war immer schon existent, doch wird
sie in einer Zeit besonders virulent, die Hedonismus, Narzissmus und Perfektion zum Leit-

 Diese Deutung setzt freilich ein weites Liturgieverständnis voraus, wie es Thomas Klie vertritt,
indem er dort forscht, wo Kirchenleute und Liturgiewissenschaftler für gewöhnlich nicht unter-
wegs sind: auf den Spiel- und Schauplätzen von Religion im offenen kulturellen Raum, im
Theater, in der Musik, bei Halloween, Valentin und Co. u.v.a.m.
 U. Feist, Etwas, das bleibt, 2.
 Ebd.
Dinge, die unter die Haut gehen 271

bild einer Gesellschaft erkoren hat und geradezu gnadenlos Schwache, Kranke und Arme
marginalisiert und sanktioniert, so als sei jeder und jede allein an dem eigenen Schicksal
schuld.⁵⁰

Der Ruf nach Körperlichkeit wäre somit ein Ruf nach Menschlichkeit, d. h. den
nötigen Bedingungen, menschlich erwachsen werden, also auch schwach sein zu
dürfen. Das ist ohne Körperempfindungen nicht möglich. Dieses Begehren nach
„Verkörperung“⁵¹ ist religiös, ja christlich-religiös zu nennen, wenn darin jene
Wahrheitsdimension berührt wird, wo sich das ersehnte Bild eines ganzen Men-
schen durch Leiden hindurch verwirklicht. Dies hat nichts mit Masochismus zu
tun, wie in der Psychoanalyse zunächst angenommen. Vielmehr verweist dies auf
ein Leiden, das konstitutiv zur Gott-Mensch-Beziehung gehört, worüber ein
Mensch versucht eins zu werden, wie der Glaube mit einer Hostie. Herstellbar wie
ein Tattoo ist das nicht. Doch wenn es geschieht, dass eine Tätowierung, etwa im
Stil eines Übergangsobjekts, jemandem hilft, „wieder ganz, also ‚heil‘ zu werden“,
ist das nicht nur ein „psychosomatisches Phänomen“⁵² Beim Heilwerden im
christlichen Sinne jedenfalls wird Gewalt nicht bloß in etwas „Schönes“, sondern
vor allem Lebens- und Identitätsstiftendes gewandelt und dieses Tattoo nicht von
Menschen, sondern von Gott vollbracht.

Ruf nach Akzeptanz. Beim Verstehen des Religiösen in Tattoos werden stets
körperliche und seelische Aspekte, innere und äußere Lebenswirklichkeiten und
verschiedene Perspektiven ins Blickfeld gezogen. Wird die Haut als äußerste
Grenze des Körpers zur Darstellung eines innersten Anliegens des Selbst genutzt,
wie die psychoanalytische Deutung es nahelegt, dürften sich viele gestochene
Bilder und Zeichen bei näherem Hinsehen als symbolisierte Ausläufer der Aus-
einandersetzung mit Vater- und / oder Mutter-Imago erweisen.⁵³ Sie treten damit,
mehr unbewusst als bewusst, mehr verschlüsselt als direkt, sei es in religiöser
Verkleidung (Engel, Teufel, Maria, Jesus etc.) oder durch andere Gestalten (Dra-
chen, mythische Helden, erotische Frauen, Totenkopf etc.) in den Dienst von
Such- und Fluchtbewegungen im Ringen mit unbewältigten Konflikten aus der
frühen Kindheit oder Umständen, die mit der eigenen Geburt zusammenhängen.

 E. Rohr, Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design, 239.


 Im aktuellen „Verkörperungs“-Diskurs soll die allgemeine Leibvergessenheit in den Hu-
manwissenschaften mit der Perspektive einer interdisziplinären Anthropologie überwunden
werden. Vgl. Gregor Etzelmüller und Annette Weissenrieder (Hg.), Verkörperung als Paradigma
theologischer Anthropologie (Berlin: de Gruyter, 2016).
 U. Feist, Etwas, das bleibt, 6.
 Vgl. dazu kurzgefasst: M. Marks, Religionspsychologie, 97– 102. Ausführlich: M. Marks,
Menschwerden aus Passion, 135– 298.
272 Matthias Marks

„Die Bindung an die Eltern ist ein gängiges religiöses Bild. Immer schon sprechen
Menschen Ahnen, Geister und Götter als Vater und Mutter an. Es geht dabei um
Herkunft, auch um Bestimmung, den Platz, an den man gehört. Und um Gebor-
genheit. Bei Totemtieren in alten Stammeskulturen ist das ähnlich. Sie gelten als
Urzeitahnen eines Clans. Sie sind mythische Eltern-Wesen. Ihr auf den Körper
tätowiertes Bild schafft Verbindung zu ihnen, gibt Anteil an ihrer Macht – und
damit auch Schutz.“⁵⁴ Dieses Begehren drückt aus, was fehlt: gelungene Tren-
nung, die gewünschte Beziehungsqualitäten ermöglicht, oder psychoanalytisch
ausgedrückt: die Fähigkeit oder Bereitschaft zur Überwindung der Widerstände
gegen die Auflösung des Ödipuskomplexes. So könnte in Tattoos auch der exis-
tenzielle Grundkonflikt, der sich tief in das Lebensgefühl eingraben kann, zum
Sprechen kommen: Zwischen der Überzeugung, in dieser Welt freundlich emp-
fangen worden und trotz aller Brüche, Risse und Widersprüche richtig und für
sich selbst und andere akzeptabel zu sein, und dem nagenden Zweifel, nicht
richtig, vielleicht unwert zu sein und eine tiefe Schuld in sich zu tragen.“⁵⁵

Tattoos als Ikonen. Dass im Tragen von Tattoos das Wirken magischer Kräfte er-
wartet oder erfahren wird, ist vom kulturellen Ursprung des Phänomens her be-
kannt, erinnert jedoch auch an die Erwartungen und Erfahrungen mit Ikonen in
der christlichen Orthodoxie. Nicht ganz unbegründet werden sie in der Ostkirche
als „heilige Bilder“ (Ikonen) verehrt. Der Auftrag, der ihnen zuerkannt wird, ist die
Vergegenwärtigung der Offenbarungswirklichkeit als Heilsmitteilung an den
Glaubenden, also Verkündigung. Deshalb werden diese Bilder geweiht und ge-
küsst. Im liturgischen Kontext dienen sie „zum Erlass der Sünden derer, welche
die Ikonen verehren und welche die Ikonen mit Ehrfurcht begrüßen und auf deren
Urbild die Ehre übertragen.“⁵⁶ Damit berühren sie den Kern der menschlichen
Existenz. Wollte man Tattoos als Ikonen verstehen, träfe die Bezeichnung „Sin-
Skin“, die in Tätowierer-Kreisen natürlich als Adelung des Stigmas vom Außen-
seitertum gebraucht und als Name eines Tattoo-Studios in Dortmund wahr-
scheinlich in diesem provokativen Sinne verwendet wird, in existenzieller Hinsicht
durchaus das entscheidende Ding.

 U. Feist, Etwas, das bleibt, 5.


 Wulf-Volker Lindner, „Das dynamisch Wirksame in der Malerei von Rudolf Hausner: Bemer-
kungen eines Psychoanalytikers und Theologen“, in Adam und Anima, Ausstellungskatalog zur
Retrospektive Rudolf Hausner 80 Jahre, hg.v. Historischen Museum der Stadt Wien (Wien: 1994),
31.
 André Deguer, Ikonen (Ramerding: Berghaus, 1977), o.S. Vgl. Paul Johannes Müller, Byzanti-
nische Ikonen (Genf: Weber, 1978), o.S.
Dinge, die unter die Haut gehen 273

7 Präsenz im Entzug
Soweit das Beispiel „Tattoo“ als Versuch, das Huhn vom Ei her zu verstehen (siehe
1). Er hinkt freilich, solange nicht offengelegt ist, wie die umgekehrte Perspektive
verborgen mitgelaufen ist: eben das Ei vom Huhn her zu verstehen. Denn das kann
keine Alternative sein, so wahr der Mensch sowohl von innen nach außen als auch
von außen nach innen existiert. Über die Reihenfolge kann man streiten. Klar ist:
Der Mensch lebt nicht vom Ding allein. Aber ohne das Ding ist alles nichts.
Martina Kumlehn
Unter und an Masken lernen
Impulse religiöser Identitätsbildung im performativen
Spannungsfeld von Zeigen und Verbergen
Die Maske ist zu dem Dingsymbol der Covid-19-Pandemie schlechthin avanciert.
Sie ist omnipräsent im öffentlichen Raum und hat auch im Unterricht und im
Gottesdienst ihren Ort. Dabei ist sie zweifellos ein Gegenstand, „über den zu
diskutieren und zu entscheiden ist“¹ und der mit einem „mehrfachen Sinngehalt
ausgestattet zu denken, wahrzunehmen oder zu imaginieren“² ist. Auch wenn es
sich um eine (bloße) Schutzmaske handelt, die nicht in Gänze den vielschichtigen
Gehalt der Maske als Kultgegenstand, Theatermaske, Schminkmaske, Masken-
gesicht bzw. der Maskenmetaphorik im Zusammenhang von (religiösen) Identi-
tätsdiskursen repräsentieren kann, so bieten die genauen Beobachtungen zur
Materialität, Performanz und Symbolik der Maske in der gegenwärtigen Situation
doch hinreichend Anregungs- und Anschauungsmaterial, um weiterführend die
verschiedenen Deutungshorizonte und pragmatischen Implikationen der Maske
im konkreten, metaphorischen und vor allem auch religiösen Sinne neu freizu-
legen. Man könnte mit Bodei sagen, dass sich die Maske im Kontext der Pandemie
„nach einem langen Interregnum des Vergessens in ein Ding zurückverwandelt“,
das „auch die Ideen, Vorurteile, Neigungen und Geschmäcker einer ganzen Ge-
neration und Gesellschaft“ mit prägen wird.³ In diesem Sinne will der vorliegende
Text die Maske zum Sprechen bringen, ihrer „Aufeinanderfolge von Verweisun-
gen“⁴ nachgehen, um dadurch im Ausgang von einer phänomenologisch orien-
tierten Betrachtung zum aktuellen Gebrauch der Maske zu einer mehrperspekti-
vischen Erschließung dieses Dinges in seinen verschiedenen Facetten im
Spannungsfeld von Theater und (christlicher) Religion fortzuschreiten und
schließlich Impulse für religiöse Bildungsprozesse in performativer und reflexiver
Auseinandersetzung mit Maske, Person und Identität im Spannungsfeld von
Zeigen und Verbergen zu formulieren. Dabei wird deutlich werden, wie ein All-
tagsgegenstand im Kontext seiner Bedeutungsgeschichte und im Feld der zuge-

 Remo Bodei, Das Leben der Dinge (Berlin: MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft,
2020), 23.
 Ebd., 37.
 Ebd., 54 f.Vgl. dazu auf die Covid-Pandemie bezogen: Manfred Brauneck, Masken: Theater, Kult
und Brauchtum: Strategien des Verbergens und Zeigens (Bielefeld: transcript, 2020), 10.
 R. Bodei, Das Leben der Dinge, 78.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-018
276 Martina Kumlehn

hörigen Konnotationen zwischen konkreter und metaphorischer, zwischen pro-


faner und religiöser Resonanz und Relevanz ausgespannt sein kann.⁵

1 Zwischen Schutz und Provokation:


Wahrnehmungen und Deutungen der Maske im
Kontext der Covid-19-Pandemie
Anhand der Mund-Nasen-Bedeckung, der Schutzmaske, die bei nahezu allen
(größeren) Zusammenkünften von Menschen während der Pandemie getragen
werden muss, lassen sich in exemplarischer Weise Wechselwirkungen aufzeigen,
in denen „Menschen und Dinge in der Form gegenseitiger kausaler Bedingungen
verknüpft sind“⁶. Denn es handelt sich um ein Ding, das „das Handeln jedes
Einzelnen in umfassender Weise beeinflussen“⁷ kann und dementsprechend ei-
nen „Eigensinn“ entwickelt, der durch seine „Gegenwart, durch die Ko-Präsenz“
auf die Individuen einwirkt.⁸ Das Tragen der Maske gehört zum Alltag, ihr
Überstreifen beim Betreten von Räumen bringt unterschiedliche Performanzen
hervor und ob bzw. wie sie getragen wird, zeigt etwas von der jeweiligen Haltung
gegenüber dem pandemischen und gesellschaftlichen Geschehen. Sie verändert
die Wahrnehmung von uns selbst, vom Anderen und rührt an grundlegende
Fragen der Existenz im Kontext von Leben und Tod, Identität und Sozialität,
Freiheit und Verantwortung. Entsprechend verändert sie signifikant Wahrneh-
mungs-, Deutungs- und Interaktionsmuster sowohl in Bildungskontexten der
Schule und Hochschule als auch im rituellen und liturgischen Raum des Got-
tesdienstes. Im Folgenden kann keine erschöpfende Analyse der komplexen Zu-
sammenhänge und Konsequenzen entfaltet werden, sondern es werden in der
fokussierten Konzentration auf die Maske Zusammenhänge von „Objekt und
Botschaft“⁹ herausgearbeitet, um mögliche Anschlussstellen für die weitere
praktisch-theologische und religionspädagogische Reflexion zu skizzieren.¹⁰

 Vgl. zu diesem Spannungsfeld Hans Peter Hahn, „Materialität zwischen Alltag und Religion:
Lebensweltliche Verwandlungen der geringen Dinge“, in Die religiöse Positionierung der Dinge:
Zur Materialität und Performativität religiöser Praxis, hg.v. Ursula Roth und Anne Gilly (Stuttgart:
Kohlhammer, 2021), 13 – 26.
 Hans Peter Hahn, „Der Eigensinn der Dinge – Einleitung“, in Vom Eigensinn der Dinge: Für eine
neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, hg.v. dems. (Berlin: Neofelis Verlag, 2015), 9 – 56, 25.
 Ebd., 26.
 Vgl. ebd., 34.
 Hans Peter Hahn, Materielle Kultur: Eine Einführung (Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 22014), 113.
Unter und an Masken lernen 277

Als medizinischer Gegenstand, der der heutigen Form schon sehr nahe-
kommt, wurde sie von dem Arzt Wu Lien-teh während der mongolisch-man-
dschurischen Lungenpest 1910/11 erfunden.¹¹ Durch den weltweit massenhaften
Bedarf als unverzichtbarer Teil der Pandemiebekämpfung in der Corona-Krise ist
sie über die Operationssäle und Krankenhäuser hinaus auch in ökonomische
Dynamiken verwickelt worden. Schutzmasken waren zunächst ein knappes und
teures Gut, das dann jedoch in schnellstmöglicher Zeit in größtmöglicher Zahl
produziert wurde. Ihr Erwerb und ihre Verteilung in den Zeiten des Mangels war
anfällig für Versuche der Bereicherung und der Vorteilsnahme, wie die soge-
nannten „Maskenaffären“ oder „Maskenskandale“ offenbart haben.¹² Inzwischen
jedoch sind sie weitgehend flächendeckend verfügbar und erschwinglich. Ent-
sprechend werden sie auch oft achtlos weggeworfen. Sie werden nicht nur per-
manent erneuert, sondern auch in dem möglichen Rahmen hinsichtlich ihres
Materials und Tragekomforts optimiert.
Die Schutzmaske partizipiert ebenso an Logiken der Modewelt. In der jetzigen
Form der OP- und FFP-2-Masken wirkt sie zwar einerseits hochgradig uniformie-
rend, andererseits werden über Farbwahl und vor allem Motivik jedoch auch
deutliche Akzente gesetzt und die Maske möglichst passend in das eigene Er-
scheinungsbild eingefügt. Als Stoffmasken noch zugelassen waren, sind sie nicht
nur kreativ individuell gestaltet worden, sondern auch von großen Modehäusern,
z. B. Fendi und Chanel, als modisches Accessoire adaptiert worden.¹³ Daneben
finden sich politische Statements: „Bajuwaren-Chef Markus Söder trägt die weiß-
blaue Raute der Bayern vorm Gesicht, EU-Minister zeigen sich mit euroblauen
Masken und Sternenkranz.“¹⁴
Die Mund-Nasen-Bedeckungen verbergen das Gesicht zwar nur halb, rufen
aber dennoch – über die Aspekte der Uniformierung und ihrer punktuellen
Durchbrechung hinaus – unausweichlich Fragen bezüglich der genaueren
Wahrnehmung der menschlichen Individualität und Identität auf und sie greifen
in die Gestaltung der sozialen Kommunikation und Ordnung ein. Sie zeigen uns,

 Die narrativen Einbettungen bzw. Grundierungen der Covid-19-Pandemie bleiben in diesem


Beitrag nur angedeutet. Ausführlicher dazu Martina Kumlehn, „Akteure – Bilder – Narrationen:
Deutungsmachtsensible Religionspädagogik und die Macht der Erzählungen am Beispiel der
Corona-Krise“, in Machtvergessenheit: Deutungsmachtkonflikte in praktisch-theologischer Per-
spektive, hg.v. Thomas Klie, Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag (Berlin/Boston: de
Gruyter, 2021), 277– 306.
 Vgl. https://www.newscientist.com/people/dr-wu-lien-teh/, Lesedatum: 07.02. 2022.
 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Maskenaffäre, Lesedatum: 07.02. 2022.
 Vgl. M. Brauneck, Masken, 11.
 Christine Brinck und Stefan Moses, „Von Menschen und Masken“, FAZ Magazin (Dez. 2021):
54– 55, 54.
278 Martina Kumlehn

dass die individuelle Identität keine „Monade oder ein reines Selbstbewusstsein
darstellt“, sondern die Dinge und dieses Ding im Besonderen dazu herausfordern,
„auf die Wirklichkeit zu hören und diese […] in uns ‚einzulassen‘“.¹⁵ So markieren
die Schutzmasken zunächst für jeden sichtbar die Grundstruktur des Social Dis-
tancing: Sie kennzeichnen „den oder die Maskenträger*in zwar als verantwortlich
gegenüber der eigenen Gesundheit und der anderer Menschen. Zugleich aber
isolieren diese Masken ihre Träger. Nicht zuletzt deswegen, weil Abstand zu an-
deren zu halten, eine mit dem Maskentragen verbundene, verpflichtende Anord-
nung ist.“¹⁶ Das Tragen der Maske macht das Infektionsrisiko bewusst, das jeden
betreffen kann. Damit werden in elementarer Weise die für das menschliche
Selbstverständnis zentralen Themen von Vergänglichkeit und Tod vor aller Augen
gestellt. Der vermeintliche Ausnahmefall aus dem Operationssaal, „in den nie-
mand hineingeraten will“¹⁷, wird zum deutungsmächtigen Normalfall und legt
damit jedoch als spezifisches memento mori eigentlich nur die existentielle
Grundverfassung des Menschen als vom Tod umfangen neu und radikal offen. Die
Maske ist dabei doppelt codiert: Sie zeigt die Bedrohung und soll zugleich dazu
beitragen, diese abzuwenden. Damit wird sie einerseits – wie im asiatischen
Raum schon lange etabliert – zum Symbol des wechselseitigen Respekts und der
Verantwortung,¹⁸ andererseits jedoch auch zum Symbol eines „grundlegenden
Misstrauens“, das die Art, wie „wir einander begegnen, die Ordnung unserer
Berührungen“¹⁹, nachhaltig verändern kann und diesbezüglich auch langfristig
im Blick bleiben muss. Das gilt für den kulturell bedeutsamen Bereich der Be-
grüßungsrituale und vieles mehr.²⁰ Denn unter dem Einfluss der Maske und
dessen, wofür sie steht, können sich die Wahrnehmung von Körpergrenzen und
auch Empfindungen hinsichtlich von Ekel und Scham verschieben.²¹ Das hat
nicht zuletzt auf Entwicklungs- und Bildungsprozesse während der Adoleszenz im
Raum von Schule und Hochschule erhebliche Auswirkungen.²²

 R. Bodei, Das Leben der Dinge, 188.


 M. Brauneck, Masken, 11.
 Ebd.
 Vgl. Ulrich Hildebrandt, Aus Corona lernen: Was wir besser machen können in Gesellschaft,
Politik, Gesundheitswesen (Berlin/Heidelberg: Springer, 2021), 141– 143.
 Gesa Lindemann, Die Ordnung der Berührung: Staat, Gewalt und Kritik in der Coronakrise
(Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2020), 57 f.
 Vgl. Christian Stegbauer, „Auf der Suche nach einer neuen Begrüßung: Schnelle Kulturent-
wicklung in Krisenzeiten“, in Corona-Netzwerke: Gesellschaft im Zeichen des Virus, hg.v. dems.
und Iris Clemens (Wiesbaden: Springer, 2020), 199 – 208.
 Vgl. G. Lindemann, Die Ordnung der Berührung, 59.
 Vgl. z. B. die Beiträge von Thorsten Fuchs und Dominik Matzinger, „Lost in Pandemic: Zur
Frage von adoleszenten Bildungsprozessen und Übergängen in Zeiten des Social Distancing“ und
Unter und an Masken lernen 279

Im Modus des Entzugs, quasi sub contrario, zeigt das schützende Verbergen
des Gesichts zugleich verstärkt, worauf wir eigentlich als soziale Wesen ange-
wiesen sind: Wir brauchen symbolisch vermittelte Berührung zum Leben und
„sind als leibliche Wesen wie eingewoben in die eine Ordnung unserer Berüh-
rungsbeziehungen.“²³ Von daher muss Nähe unter den gegebenen Bedingungen
bewusst anders hergestellt und kommuniziert werden. Da die Maske die Augen
freilässt, sind wir aufgefordert, in der Konzentration auf diese Gesichtspartie und
die reduzierte Mimik die Emotionalität des Gegenübers und der Situation zu er-
schließen. Auch in diesem Kontext wird deutlich, dass Maske und Gesicht we-
sentlich zusammengehören. Das eine ist nur am anderen zu bestimmen. Im
Verborgenen ist das Nicht-Gezeigte mit präsent.²⁴ Dabei spitzen sich die Fragen,
wie ich Andere erkenne und wie ich selbst erkannt werde, bzw. was und wie wir
etwas von uns zeigen wollen (oder nicht), zu. Denn neben der Sehnsucht nach
„unverstellter“ Begegnung kann sich der Schutzfaktor des Verbergens nicht nur
physisch, sondern auch im sozialen Kontext durchaus entlastend auswirken. Das
Ich ist (noch) weniger leicht zu durchschauen, weniger leicht zu lesen als mit
offenem Gesicht. Zudem lassen sich Kommunikationssituationen eher umgehen
und schwache Beziehungen, die sich zufällig ergeben, werden weiter geschwächt:
„Endlich müssen sie (sc. die Menschen, MK) keine Höflichkeiten mehr austau-
schen, wenn sie lieber schweigen wollen. Das wird von ihnen als Befreiung von
Verpflichtungen zum vermeintlichen Zwang zum Kommunizieren wahrgenom-
men.“²⁵ Im Raum der Maske kommt es von daher nicht nur zum vielschichtigen
Verbergen, sondern auch zum komplexen Abgleich dessen, was jeweils als we-
sentlich für gelingendes Miteinander erachtet wird.
Dass es sich dabei um hochambivalente Aushandlungsprozesse handelt, wird
u. a. an den sehr unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich des Verhältnisses
von Maske und individueller bzw. gesellschaftlicher Freiheit deutlich. Die Maske
kann unter Pandemiebedingungen sowohl als Möglichkeitsbedingung bleibender
Sozialität und Mobilität und damit auch von Freiheit und Verantwortung gesehen
werden als auch als Symbol für die Einschränkung von persönlichen Freiheits-

Andreas Köpfer, „‚Distant Bodies – Collective Spaces – Borders‘: Herstellung und Aneignung von
Lernräumen in Zeiten erforderlicher Distanzierung“, beide in Corona bewegt – auch die Bil-
dungslandschaft, hg.v. Sabine Krause, Ines Maria Breinbauer und Michelle Proyer (Bad Heil-
brunn: Julius Klinkhardt Verlag, 2021), 33 – 48 und 103 – 116.
 G. Lindemann, Die Ordnung der Berührung, 58.
 Vgl. dazu Hans Belting, Faces: Eine Geschichte des Gesichts (München: C.H. Beck, 2013),
25 – 44.
 Christine Averius, „Was bedeutet Corona für starke und schwache Beziehungen?“, in Corona-
Netzwerke, hg.v.Chr. Stegbauer und I. Clemens, 53 – 61, 58 f.
280 Martina Kumlehn

rechten, die als Provokation erlebt werden und in der Folge selbst zu provokantem
Antwortverhalten führen kann. Das Tragen oder Nichttragen der Maske wird zu
einem „Bekenntnisakt“.²⁶ In der Perspektive der Ablehnung der Maske kann sie
heftige Aggressionen wecken, wird zu einem verhassten Gegenstand, der den
Bedeutungsüberschuss einer insgesamt als untragbar empfundenen Situation
versinnbildlicht. Im Extremfall von Idar-Oberstein hat das Einklagen der gelten-
den Maskenpflicht in einer Tankstelle zum Mord des Kassierers geführt. Der Täter
sah in ihm einen Repräsentanten der symbolischen Ordnung und wollte aufge-
stachelt von deutungsmächtigen Verschwörungsnarrativen mit der Tötung ein
„Zeichen“ des Widerstands setzen.²⁷
Diese dunkle Seite einer möglichen gewaltsamen Wirkmacht der symboli-
schen Aufladung eines „Dings“ ist gerade im Kontext intendierter Bildungspro-
zesse im Rekurs auf materielle Kultur bewusst zu machen und kritisch zu re-
flektieren. In jedem Fall ist die Maske in ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung
immer als ambivalent und mehrdeutig in dichotomischen Spannungsfeldern
wahrgenommen worden. Sie ist ein Ding der Unterscheidung, der Distanz zu sich
selbst und zum anderen, der Durchbrechung von vertrauter Wahrnehmung, der
Spannung zwischen Außen und Innen, zwischen Abwesendem und Anwesen-
dem, zwischen Rolle und Identität, zwischen Schein und Sein, zwischen Lüge und
Wahrheit, zwischen Leben und Tod, zwischen Immanenz und Transzendenz.²⁸
Dieser „semiotische(n) Ambiguität“ der Maske soll jetzt im Sinne einer rudi-
mentären, höchst selektiven „Objektbiographie“ genauer nachgegangen wer-
den,²⁹ um ihre existentiellen und religiösen Bedeutungshorizonte weiter auszu-
leuchten.

 Vgl. M. Brauneck, Masken, 49.


 Vgl. https://www.tagesschau.de/inland/idar-oberstein-103.html, Lesedatum: 07.02. 2022.
 Vgl. z. B. M. Brauneck, Masken, 25; Ansgar Michael Hüls, Maske und Identität: Das Masken-
motiv in Literatur, Philosophie und Kunst um 1900 (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013),
11, 26; Judith E. Filitz, Masken im Altertum: Zwischen Religion und Kunst (Darmstadt: WBG, 2018),
13.
 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Torsten Cress, „Soziale Praktiken und die Sakralisierung der
Dinge“, in Die religiöse Positionierung der Dinge, hg.v. U. Roth und A. Gilly, 27– 36, 28.
Unter und an Masken lernen 281

2 Zwischen Religion und Theater:


Bedeutungsentwicklungen und
-verschiebungen im semantischen Feld von
Maske, Gesicht und Person
Die ältesten Masken „mit einem Alter von ca. 9000 Jahren stammen z. B. aus der
judäischen Wüste“.³⁰ Ursprünglich weisen alle frühen Formen der Maske eine
Verbindung zum Tod bzw. zum Totenkult auf. Über die Mumien bis zu den To-
tenmasken der Neuzeit hält sich diese Tradition durch. In der Maske tritt „das Bild
der Toten den Lebenden gegenüber“: „Es ist der Blick des Toten, dem man aus-
gesetzt ist und darin womöglich dem einer Gottheit, eines dämonischen Wesens,
eines Geistes, eines Ahnen oder einer Ahne.“³¹ Gerade in dieser Praxis des Tot-
enkultes und der Ersetzung des Gesichts des Toten durch eine (angepasste) Maske
sieht Belting die Grundspannung von Zeigen und Verbergen: „Mit dieser aller-
frühesten Praxis wurde der Dualismus von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von
Zeigen und Verbergen des Bildes an einem und demselben Träger, am Körper
selbst, eröffnet. Das Gesicht wurde gegen eine Maske eingetauscht, wenn der Tod
es zerstört hatte.“³² Auch die Dichotomie von Vertrautheit und Befremden im
Umgang mit Masken könnte in diesem Zusammenhang einen möglichen Ur-
sprung haben. Denn die Totenmaske weist einen Bezug zum vertrauten Gesicht
auf und zugleich wirkt sie durch die Verfremdung unheimlich und in ihrer
Starrheit erschreckend.³³
Religionsgeschichtlich spielen Masken in den verschiedensten Varianten
zwischen Toten- und Ahnenkult, mythisch-ritueller Ursprungsvergewisserung
und Darstellung kosmischer Ordnung eine Rolle, wie es eindrücklich z. B. die
Traditionen aus dem afrikanischen Raum belegen. Spiel, Tanz, Fest, Kult, Ritus
und Spiritualität gehen dabei ein unauflösliches Amalgam ein: „Die Masken
stellen eine Verbindung zu jener übernatürlichen Sphäre her, von der die Men-
schen glauben, dass sie ihr Leben bestimmt.“³⁴ Die Masken bilden dabei das
Transzendente nicht ab, sondern „verkörpern“ seine Kraft, und der Maskenträger
wird zum Medium: „Im Ritual glaubt der Maskenträger in eine andere Welt ver-
setzt zu sein, zumindest glaubt er, an einer anderen Sphäre teilzuhaben: Ver-

 J. Filitz, Masken im Altertum, 8.


 Ebd.
 H. Belting, Faces, 50 f.
 Vgl. etwas anders akzentuiert A. M. Hüls, Maske und Identität, 25 f.
 M. Brauneck, Masken, 17.
282 Martina Kumlehn

mittler zu sein zwischen dem Gegenwärtigen und dem Vergangenen; das Über-
natürliche herbeitanzen, beschwören zu können. […] Seine menschliche, seine
individuelle Natur verbirgt der Maskenträger hinter der Maske. Nur so vermag er
seine Vermittlerfunktion auszuüben. Die Maske verleiht ihm diesen exzeptionel-
len Status.“³⁵
Für den westlichen Kulturraum spielt die Melange von Kult, Religion, Tanz
und Aufführungspraxis als Deutungshorizont für die Funktion und den Einsatz
von Masken ebenfalls eine wichtige Rolle – und zwar vermittelt über den Dio-
nysos-Kult bzw. die Dionysosfeste im antiken Griechenland. Der Weingott Dio-
nysos wurde durch eine Maske dargestellt, die an einer Säule aufgehängt war und
vor der im Zusammenhang mit Opfern und Gebeten ekstatisch getanzt wurde:
„‘bis dann im Singen der Hymnen, im Trinken des Weins und im sich steigernden
Tanz um die Säule der Gott eben da war‘“.³⁶ In dem mit Dionysos verbundenen
Anthesterienritual in Athen wurde das Maskenspiel weiter vorangetrieben und
auch im Sinne des Parodierens und Improvisierens ausdifferenziert, bis daraus
schließlich Komödie, Satyrspiel und Tragödie als griechische Theaterformen
entstanden, die jeweils Masken für festgelegte Rollen vorsahen.³⁷ Der griechische
Begriff prósopon spiegelt das Vexierspiel von Gesicht und Maske, weil er beides
bedeuten kann. Prósopon ist jeweils „gleichsam die Fassade, die dem Beobachter
zugewandt ist.“³⁸ Entsprechend wird die Maske im Rahmen dieser religiös co-
dierten Festkultur, die für die gesamte Polis und ihr Selbstverständnis bedeutsam
war, spannungsreich oder „doppelgesichtig“ bestimmt: „Sie ist ein Phänomen des
Übergangs und des Durchgangs, erzeugt Schwellenbewusstsein. Sie konstituiert
vielfältige Beziehungen zwischen Akteur und Maske, zwischen Symbol und
Realität. Sie bestimmt das Verhältnis neu zwischen dem, was ist und was nicht
ist.“³⁹ Im römischen Einflussbereich korrespondierten den Dionysosfesten die
Festkulturen der Bacchanalia und Saturnalia, wobei Letztere als Fest der Win-
tersaat mit Gelagen, Opfern und karnevalesken Zügen am Saturntempel statt-
fanden. Es ist in diesem Zusammenhang eine interessante These – wenn wohl

 Ebd., 20. Dazu auch H. Belting, Faces, 53 – 55.


 Klaus Hoffmann, „Religion – Maske – Theater“, in Masken – eine Bestandsaufnahme mit
Beiträgen aus Pädagogik, Geschichte, Religion, Theater, Therapie, hg.v. dems., Uwe Krieger und
Hans-Wolfgang Nickel (Berlin/Milow/Strasburg: Schibri-Verlag, 2004), 124– 136, 125.
 Vgl. ebd. 126.
 Vgl. Richard Weihe, „Die Maske als Denkmodell: Das Sichtbare und das Unsichtbare“, in
Maske: Kunst der Verwandlung, hg.v. Kunstmuseum Bonn (Köln: Wienand, 2019), 114– 133, 124.
Ausführlich dazu ders., Paradoxie der Maske: Geschichte einer Form (München: Wilhelm Fink
Verlag, 2004).
 R. Weihe, Die Maske als Denkmodell, 127.
Unter und an Masken lernen 283

auch nicht haltbar, so doch wirkmächtig –, dass Jesus im Kontext der Passions-
geschichte als „Saturnalienkönig“ verstanden werden konnte, „in der soldati-
schen Maskierung eines Spottkönigs“ oder auch als „Fastnachtskönig“ oder
„Narrenkönig“, wie Luther es formuliert hat.⁴⁰ Es wäre ein eigenes Vorhaben, den
Entwicklungen und Dynamiken dieser Feste und ihrer herrschaftskritischen Im-
pulse im Schutz der Masken weiter nachzugehen und bis in die Karnevals- und
Fastnachtstraditionen der Gegenwart hinein zu verfolgen.⁴¹ Dabei wäre auch die
Ermöglichung enthemmten erotischen oder auch groben Verhaltens unter der
Maske mit zu thematisieren, welches zugleich den Reiz und die Ambivalenz der
Maske bzw. der Maskeraden bis zum Wunsch des Demaskierens (bzw. des Ent-
larvens als Herunterreißen der Larve/Maske) ausmacht und schließlich mit zum
Verbot bzw. zur Dämonisierung der Maske als Objekt der Täuschung und der Lüge
nicht zuletzt im christlich-religiösen Kontext geführt hat.⁴²
Für die weitere Entwicklung des Bedeutungsspektrums von Maske und Rolle
ist jedoch vor allem die Verknüpfung mit dem lateinischen Begriff persona von
zentraler Relevanz. Denn der Ausdruck persona wurde von der Maske auf die
Theaterrolle übertragen, wie es sich in der Nennung der dramatis personae eines
Stückes abbildet. Im Ausgang davon wurde das Rollenverständnis z. B. bei Cicero
in seiner Schrift De Officis auf die Entwicklung der Person im Kontext ihrer bio-
logischen und gesellschaftlichen Vorgaben als konstitutiver Rollen bezogen,
wobei er vier personae in der einen Person unterschied: die Vernunft als Vor-
aussetzung moralischen Handelns, die natürliche Ausstattung und die Talente,
die zeitlich bedingten Lebensumstände und schließlich die Bildung.⁴³„Die Aus-
führungen Ciceros lassen sich als zwei Verständnisse von Person interpretieren:
zum einen als Maske mit Bezug auf die angemessene Erfüllung der Aufgaben
eines äußeren Raumes, zum anderen als Existenz mit Bezug auf einen inneren
Raum des Menschen, was die Voraussetzung für eine freie Wahl der Gestaltung

 Vgl. dazu ausführlich Martin Leutzsch, „Karnevaleske Bibel“, in Massen und Masken: Kul-
turwissenschaftliche und theologische Annäherungen, hg.v. Richard Janus, Florian Fuchs und
Harald Schroeter-Wittke (Wiesbaden: Springer VS, 2017), 205 – 236, insbesondere 211– 216.
 Vgl. die verschiedenen Beiträge zu Karneval und Maske in dem Band R. Janus, F. Fuchs, H.
Schroeter-Wittke (Hg.), Massen und Masken und Werner Mezger, „Masken an Fastnacht, Fasching
und Karneval: Zur Geschichte und Funktion der Vermummung und Verkleidung während der
närrischen Tage“, in Masken und Maskierungen, hg.v. Alfred Schäfer und Michael Wimmer (Op-
laden: Leske + Budrich, 2000).
 Vgl. A. M. Hüls, Masken und Identität, 35 f.
 Vgl. die Darstellung bei Eric Mührel, „Maske und Existenz: Philosophische und sozialpäd-
agogische Betrachtungen zu Person und Biographie“, in Subjekt – Identität – Person? Reflexionen
zur Biographieforschung, hg.v. Birte Griese (Wiesbaden: Springer, 2010), 103 – 114, 104 f.
284 Martina Kumlehn

des Lebens ist.“⁴⁴Die Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit in einer Person sowie


die Notwendigkeit, dass diese Komplexität integriert und als Einheit repräsentiert
wird, ist dem Personenverständnis demnach nicht erst in der Moderne einge-
schrieben. Die Person ist vielmehr von Beginn an Trägerin verschiedener Rollen
im öffentlichen Leben und zugleich in der römischen Gesellschaft als Identität
eines Rechtssubjektes begriffen.⁴⁵
Damit ist dem Personenbegriff von seinem Bezug auf Maske und Rolle her
eine Struktur der Verdopplung inhärent, die ganz wesentlich ihre Fähigkeit zur
Selbstdistanz spiegelt.⁴⁶ Die Fähigkeit zum Selbstbezug und das als vorgängig
(re‐)konstruierte Selbstverhältnis sind schließlich in den transzendentalphiloso-
phischen Selbstbewusstseinstheorien bei Fichte, Hegel und Schleiermacher hin-
sichtlich der Entfaltung des Selbst-, Welt- und Gottesverhältnisses des Subjektes
oder der Person ins Zentrum des Interesses gerückt. Diese Zugänge rekurrieren in
idealistischer Perspektive auf die vielschichtigen Bewusstseinsstrukturen der
Person und ihre Grunderfahrung, sich immer schon als vorgegeben zu erleben. In
gegenwärtigen philosophischen Bestimmungen kann in dieser Linie der ehema-
lige Bezug zur Maske auch wieder explizit aufgenommen werden, der in den
transzendentalphilosophischen Ansätzen nicht verfolgt worden ist. Der Akzent
liegt dabei auf der Person als relationalem Gefüge: „Person ist sowohl Seele
mitsamt der ‚Maske‘ des Körpers als auch seine wechselnden weltlich-seelischen
Bezüge als ‚Maske‘ transzendierendes Relationsgefüge. Sie ist Seele mit allen
Relaten, die auf ganz verschiedenartige Weise relational zu ihr gehören bzw. sie zu
ihnen. In diesem Sinne behält die Deutung von Person als personare, ‚Hin-
durchtönen‘, ihre Aktualität: Person ist das relationale Paradox, selbstbezügliche
Transpersonalität zu sein.“⁴⁷
Im Laufe der christlichen Rezeption des Personenbegriffs ist vor allem seine
Integration in die Gottesvorstellung selbst maßgeblich geworden, indem das re-
ligiöse oder fromme Bewusstsein Gott als personales Gegenüber im Gebet, in den
narrativen Verarbeitungen der Transzendenzerfahrungen oder im kommunikati-
ven Geschehen des Gottesdienstes vorstellt und anspricht bzw. sich selbst in
seiner Personalität in Gott gegründet oder von Gott her angenommen und be-

 Ebd., 105.
 Vgl. dazu auch A. M. Hüls, 35.
 Vgl. dazu R. Weihe, Die Maske als Denkmodell, 130.
 Die Literatur zur Theorie der Person im Kontext von Identität, Individualität, Subjekt, Selbst,
Ich ist sowohl in philosophischer als auch theologischer Perspektive Legion. Deshalb nur sym-
bolisch der Verweis auf Johannes Heinrichs, Art. „Person I, philosophisch“ und Konrad Stock, Art.
„Person II, theologisch“, in TRE, Bd. 26 (1996), 220 – 231, hier das Zitat von Heinrichs 224.
Unter und an Masken lernen 285

gründet erfährt.⁴⁸ Darüber hinaus wird der Begriff der Person in der Ausbildung
der Christologie und der Gotteslehre bzw. Trinitätslehre wirkmächtig eingesetzt.
Unlängst hat Malte Dominik Krüger in der Explikation der unterschiedlichen
Auslegungsmöglichkeiten der drei „Personen“ im Kontext des trinitarischen
Gottesgedankens und seiner kommunikativen, relationalen und bildorientierten
Implikationen wieder ausdrücklich auf die Bezüge zu Maske und Rolle verwiesen:

Wenn man ‚Maske‘ […] im Sinn von ‚Rolle‘ versteht und darin die Sozialität im Zusam-
menklang mit der Individualität einer ‚Person‘ erkennt, passt es […]: Jesus ist als ‚persona‘
nicht nur als bestimmtes Individuum, sondern agiert auch in einer sozialen Rolle; und in
beidem erkennt der christliche Glaube nach Ostern das Besondere Jesu. Insofern ist der
Begriff ‚Person‘ doch passend. Er nähert sich dann offenbar dem griechischen Wort
‚prósopon‘ an, welches ‚Gesicht‘ und ‚Maske‘ bedeutet. Dass Gott demnach in Jesus ein
definitives menschliches Gesicht bekommt und darin handelt, führt zur Überlegung: Wie
verhalten sich das Wesen Gottes und sein personales Handeln in Jesus zueinander?⁴⁹

Die trinitätstheologischen Modelle spannen sich diesbezüglich zwischen den


Polen „relationaler Einheit“ und „personaler Gemeinschaft“ aus und können
darin doch das Geheimnis Gottes nicht ausschöpfen.⁵⁰
Damit sind christologisch über den Geist vermittelt die Dimensionen der
bleibenden Unverfügbarkeit und des Offenbarwerdens Gottes spannungsreich
zusammengedacht: „Die nicht bezähmbare Dynamik des Unbedingten bekommt
durch die Erscheinung in Jesus ein menschliches Gesicht und definitive Perso-
nalität.“⁵¹
Die Erfahrungen des Glaubens, dass Gott sich durch das Andere seiner selbst
hindurch zeigt und dabei doch immer entzogen oder verborgen bleibt,⁵² werden in
den biblischen Erzählungen auch sonst in starken Bildern zum Ausdruck ge-
bracht. So erscheint Gott im „brennenden Dornbusch“ als Stimme der Zusage
seines bleibenden Dabei- und Mitseins (Ex 3, 1– 14); in „Wolken- und Feuersäule“

 Die Herausforderungen des personalen Gottesverständnisses sind jüngst gerade auch mit
Bezug zur Praktischen Theologie wieder reflektiert worden bei Christian Polke, „Welchen Sinn hat
es, heute (noch) personal von Gott zu reden? Expressiver Theismus im Zeitalter wachsender
Konfessionslosigkeit“, in Neues von Gott? Versuche gegenwärtiger Gottesrede, hg.v. Philpp David,
Anne Käfer, Malte Dominik Krüger, André Munzinger und Christian Polke (Darmstadt: WBG, 2021),
119 – 146.
 Malte Dominik Krüger, „Gesicht und Trinität: Zur christlichen Gotteslehre“, in Neues von
Gott?, hg.v. Ph. David, A. Käfer, dems., A. Munzinger und Chr. Polke, 61– 100, 81 f.
 Vgl. ebd., 82.
 Ebd., 86.
 Vgl. die Beiträge in Philipp Stoellger und Thomas Klie (Hg.), Präsenz im Entzug: Ambivalenzen
des Bildes (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011).
286 Martina Kumlehn

beim Auszug aus Ägypten (Ex 13, 21 f.); im „stillen sanften Sausen“, so dass Elia
am Horeb sein Antlitz vor Ehrfurcht im Mantel verbirgt (1 Kön 19, 12 f.); im
„Brausen vom Himmel“ und in Feuerzungen als Vermittlung des Heiligen Geistes
in der Pfingsterzählung (Apg 2, 2– 4), um nur wenige Bilder und Metaphern auf-
zurufen. In theologischer Perspektive wird vor allem in den Exodus-Erzählungen
reflektiert, dass der Mensch das unverstellte „Antlitz“ Gottes gar nicht ertragen
könnte, so dass es zum Schutz des Menschen verborgen bleiben muss: „Mein
Angesicht kannst Du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“
(Ex 33, 20). Mose partizipiert dann dennoch durch seine Gottesbeziehung an
dessen „Glanz“, der sich auf seiner Haut zeigt, und entsprechend begegnen auch
ihm die Israeliten mit Angst und Ehrfurcht. (Ex 34, 29 f.). Hatte schon Mose den
Wunsch, Gott zu sehen, so bleibt es für den Glauben in eschatologischer Per-
spektive eine starke Hoffnung und Sehnsucht, Gott „von Angesicht zu Angesicht“
zu erkennen und vor allem von Gott – bar aller Masken – erkannt zu werden (1 Kor
13,12). Diese Sehnsucht nach dem zugewandten Antlitz Gottes spiegelt sich nicht
zuletzt im aaronitischen Segen: „der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir
und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“
(Num 6, 24 f.)
Von hier aus lässt sich der Bogen zu der gegenwärtigen Situation des Lebens
unter Masken zurückschlagen, weil das Irritationspotential der getragenen Mas-
ken im Gottesdienst besonders nachdrücklich erlebt werden kann. Dabei liegt
eine intrikate Wechselwirkung vor. Einerseits unterstreichen die Masken indirekt,
was in der praktischen Theologie – nicht zuletzt auch von Thomas Klie – her-
ausgearbeitet worden ist, nämlich die Theatralität des Gottesdienstes mit seinen
Inszenierungsmustern, seinen performativen Gestaltungsakten und liturgischen
Rollen, die die Bezüge zu den ursprünglichen Verbindungen von Religion und
Theater wiederentdecken lassen.⁵³ Diese Einsicht steht jedoch in Spannung zu
den hohen Authentizitätserwartungen an die Pfarrperson und ihre personale
Kompetenz, die gerade nicht mehr um die ursprüngliche Verbindung von Person,
Maske und Rolle weiß, sondern Echtheit und unverstellte Glaubwürdigkeit von
den Akteuren und Akteurinnen einfordert. Es ist ja durchaus angemessen, im
Gottesdienst sowohl Gott als auch den Mitmenschen und sich selbst ohne „fal-
sche“ Masken begegnen zu wollen, allerdings ist vollumfängliche Authentizität
für Menschen kaum erschwinglich, wie Michael Meyer-Blanck auch für die Form

 Vgl. Thomas Klie, Zeichen und Spiel: Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der
Pastoraltheologie (Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 2003) und Ursula Roth, Die
Theatralität des Gottesdienstes (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2006).
Unter und an Masken lernen 287

der liturgischen Präsenz festhält.⁵⁴ Die Person kann sich gerade in dieser Rolle mit
einer bestimmten Haltung und einer adäquaten Performanz angesichts möglicher
eigener Zweifel und Anfechtungen schützend bergen. Wenn die (Schutz)masken
symbolisch neu etwas davon zeigen, dass wir als Menschen nur als fragmenta-
rische Identität und in gebrochener Authentizität, also oft nur im Schutz von
Masken und Rollen agieren können, so zeigt das performative Ablegen der Maske
durch den Liturgen vor dem Segen – wann immer es möglich ist –, dass ihr Tragen
in dieser Rolle des Zuspruchs des zugewandten Antlitzes Gottes als unstimmig
erfahren wird und dass es darauf ankommt, unsere Sehnsucht nach unge-
schütztem Seinkönnen und Gesehenwerden offen zu halten. Unter Corona-Be-
dingungen spitzt sich deshalb exemplarisch im liturgischen Raum die Notwen-
digkeit zu, die eigene Person und ihre existentielle Bedürftigkeit zwischen Maske,
Rolle und ungeschütztem Angesicht im jeweiligen Kontext zu reflektieren. Daraus
ergeben sich sowohl Bildungsanregungen für das pastorale Selbstverständnis als
auch grundsätzlich Impulse für die (religiöse) Identitätsbildung im Lernen unter
und an Masken, die abschließend in Form eines Ausblicks formuliert werden
sollen.

3 Zwischen Zeigen und Verbergen: Performative


und reflexive Impulse religiöser
Identitätsbildung unter und an Masken
Die hermeneutischen Erschließungen in den ersten beiden Abschnitten haben in
der Verschränkung von aktuellen lebensweltlichen sowie kulturellen, religiösen
und theologischen Deutungshorizonten gezeigt, wie die Maske als Ding(symbol)
zu einer „Sinnsynapse()“ werden kann, die zwischen verschiedenen „Segmenten
der individuellen und kollektiven Geschichten“ zu vermitteln vermag.⁵⁵ Sie er-
weist sich dabei geradezu als „Kristallisationspunkt()… von Geschichten und
Bedeutungen“ und zeigt damit, dass in den Dingen mehr steckt, „als der ober-
flächliche Gebrauch verrät.“⁵⁶ In diesem Gewebe von Verweisungen zwischen den
ambivalenten Erfahrungen, die das Masketragen in der aktuellen Situation her-

 Vgl. zum Aspekt des Überforderungspotentials einer radikalen Authentizitätsforderung Mi-


chael Meyer-Blanck, „Authentizität, Form und Bühne: Theatralisch inspirierte Liturgie“, Prakti-
sche Theologie 94 (2005): 134– 145 und ders., Inszenierung und Präsenz: Zwei Kategorien des
Studiums Praktischer Theologie, Wege zum Menschen 49 (1997): 2– 16.
 R. Bodei, Das Leben der Dinge, 190.
 H.-P. Hahn, Der Eigensinn der Dinge, 12.
288 Martina Kumlehn

vorruft oder neu bewusst macht, und der existenzerhellenden Reflexion der
Maske durch die kulturellen, religiösen, philosophischen und theologischen
Traditionen hindurch lassen sich verschiedene Spuren und Akzente in religiösen
Bildungsprozessen verfolgen. Soll die Beschäftigung für Jugendliche Relevanz
entfalten, so sind sie nicht nur als Experten des konkreten Lernens unter und an
Masken mit ihren lebensweltlichen Erfahrungen intensiv einzubeziehen, sondern
es bietet sich für die Vertiefung in dieser Lebensphase der Zusammenhang von
Masken(metaphorik) und Identitätsfragen im Spannungsfeld von Zeigen und
Verbergen besonders an.⁵⁷ Im Folgenden soll deshalb über das bereits Dargestellte
und seine Bezüge zur Identitätsthematik hinaus noch einmal pointierter fokus-
siert werden, warum die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen gerade in Zei-
ten radikaler Verunsicherung nicht hinreichend ohne die performative und re-
flexive Integration der Maskenthematik mit ihrer Grundstruktur von Zeigen und
Verbergen gelingen kann. In religiöser Deutungsperspektive geht es dabei um das
Freilegen der existentiellen Bedeutungsschichten von Maske und Identität sowie
um das Aushalten der unauflösbaren Spannung von Zeigen und Verbergen im
eigenen Selbstverstehen und im religiösen Wahrnehmen und Deuten von Tran-
szendenz- und Gotteserfahrungen, um letztlich in der ambiguitätstoleranten
Auseinandersetzung mit dieser Spannung gleichzeitig zur Stärkung und Entlas-
tung der Subjekte beizutragen.
Nicht zufällig hat die „Maske als Bild- und literarisches Motiv, aber auch als
Metapher und Denkfigur eine regelrechte Verve“⁵⁸ an der Schwelle vom 19. zum
20. Jahrhundert erlebt (z. B. bei Oscar Wilde, Rainer Maria Rilke, Thomas Mann,
Arthur Schnitzler und James Ensor, dem Maler der Masken), als sowohl personale
als auch gesellschaftliche Identitätsentwürfe angesichts von radikalen sozio-
kulturellen und politischen Transformationen und der Individualisierung und
Pluralisierung religiöser und säkularer Lebensentwürfe zunehmend fraglich, ja
brüchig wurden. Im Zuge der zunehmenden Belastung des Subjekts hinsichtlich
der Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung im Horizont der vielfältigen
und vielstimmigen Erwartungen an die personale Kompetenz wurde deutlich, wie
unauflöslich sich Maske, Identität und Person miteinander verschränken: Men-
schen brauchen Masken, „um sich zu verbergen, zugleich aber, um sich zu zei-
gen.“⁵⁹ Es gilt: „Die Person ist ein Maskenwesen. Sie verwendet Masken, um die

 Vgl. exemplarisch den Einstieg über die Plastik „Die zerbrochene Maske“ von Helmut Am-
mann (1948) in die Reihe Identität – Liebe – Partnerschafft, in Religion entdecken – verstehen –
gestalten 9/10, hg.v. Gerd-Rüdiger Koretzki und Rudolf Tammeus (Göttingen: Vandenhoek & Ru-
precht, 2002), 53.
 A. M. Hüls, Maske und Identität, 11.
 M. Brauneck, Masken, 9.
Unter und an Masken lernen 289

eigene Identität zu inszenieren. Zwar wurde das Maskenhafte aus der Definition
des Begriffs persona herausgenommen, doch im sozialen Verhalten kann sich die
Person nicht auf ihr ‚nacktes Gesicht‘ beschränken. Als gesellschaftliches Wesen
ist der Mensch auf Auftrittsformen und Rollen angewiesen.“⁶⁰ Die Maskenmeta-
phorik betont, dass der moderne Mensch sich immer wieder neu erproben und
erfinden muss und dabei versucht, „‘das Repertoire des Denkbaren,Vorstellbaren,
Erlaubten und Erreichbaren‘“⁶¹ zu vergrößern. Unter dem Druck, als unverwech-
selbares Individuum wahrgenommen zu werden, wächst im Gegenzug der Druck
der gestaltenden Selbstoptimierung und Inszenierung des eigenen Ichs und sei-
nes Gesichts. Vor diesem Hintergrund kann die Maske jetzt von Nietzsche in der
Ambivalenz von Ermöglichung und Schutz akzentuiert werden, indem er „die
Möglichkeit des geistigen und seelischen Schutzes durch die dissimulativen
Möglichkeiten der Maske“ hervorhebt und sie als „Tarnung, Fassade und Schutz
für das wahre Gesicht, den Ort der Verletzlichkeit und Preisgabe“ begreift.⁶²
Doppelgesichtigkeit wird hier neu durchgespielt: einerseits sind Konvention und
Maskerade für Nietzsche Synonyme für das „‘Elend des modernen Menschen‘“⁶³
und andererseits wird die Maske „im Sinne einer Sprach- bzw. Geistesmaske zum
Schutz der seelischen und geistigen Tiefen, also als Camouflage der wahren Ge-
danken gebraucht“⁶⁴. Man könnte auch sagen, dass Masken in ihrer übertragenen
Bedeutung in der Moderne zwischen dem „Festhalten an der aufklärerischen
Forderung nach Selbsttransparenz“ und dem Schutz vor Intimitätszumutungen
verstanden werden können.⁶⁵
In der Spätmoderne sind diese ambivalenten Prozesse auf Dauer gestellt, das
Krisenbewusstsein ist perpetuiert und Identität wird fragmentarisch, fluide und
multiperspektivisch verstanden. Die identitätstheoretischen Diskurse mit der
Betonung der Patchwork- oder Bricolage-Identität und der Notwendigkeit per-
manenter Identitätsarbeit als Passung von Innen und Außen sowie der immer
wieder neuen (Re‐)konstruktion der eigenen Identität im Erzählen spiegeln diese
Entwicklung und sind im religionspädagogischen Diskurs omnipräsent.⁶⁶ Inter-

 R. Weihe, Die Maske als Denkmodell, 128.


 A. M. Hüls, Maske und Identität, 44.
 Ebd., 42.
 Ebd., 106.
 Ebd., 108. Vgl. dazu ausführlich Corinna Schubert, Masken denken – in Masken denken: Figur
und Fiktion bei Friedrich Nietzsche (Bielefeld: transcript Verlag, 2021).
 Michael Wimmer und Alfred Schäfer, „Einleitung: Zwischen Maskierung und Obszönität.
Bemerkungen zur Spur der Masken in der Moderne“, in Masken und Maskierungen, hg.v. den-
selben, 9 – 31, 21 f.
 Vgl. exemplarisch für diese komplexen Diskurse vgl. Heiner Keupp, „Identitäten – befreit von
Identitätszwängen, aber nicht von alltäglicher Identitätsarbeit“ und Martina Kumlehn, „Leben
290 Martina Kumlehn

essanterweise sind es jedoch auch gegenwärtig insbesondere wieder Künstler und


Künstlerinnen, die das Maskenmotiv nutzen, um Fragen der Identitätsfindung in
der Gegenwart neu zu stellen und die Menschen vor und hinter ihren Masken
wahrzunehmen.⁶⁷ Dabei werden nicht nur Geschlechterrollen und Fragen ethni-
scher Zugehörigkeit neu fraglich, sondern vor allem wird im Kontext des Digitalen
das Verhältnis von Maske und Gesicht problematisiert bzw. werden die Grenz-
ziehungen zwischen beiden als immer prekärer gespiegelt. Denn in den Social
Media – für Jugendliche sehr präsent⁶⁸ – wird „das eigene Antlitz durch Filter und
Apps mit unterschiedlichsten Effekten“⁶⁹ bearbeitet, so dass sich ein großes
„Experimentier- und Spielfeld für Maskierungen darbietet“⁷⁰, das die Künstle-
rinnen und Künstler aufnehmen und in ihren Adaptionen sowohl hinsichtlich der
digitalen Techniken als auch der Aussageintentionen radikalisieren. Die Frage,
was man von sich selbst zeigen will und was durch Retuschieren usw. verborgen
werden soll, ist ständig zu reflektieren. Um den Bogen noch einmal zu den Aus-
gangsbeobachtungen in der Covid-19-Pandemie zu schließen, sei darauf verwie-
sen, dass auch deren massiven (Identitäts‐)Verunsicherungseffekte durch die
Masken schon Gegenstand künstlerischer Adaptionen geworden sind, die sich im
digitalen Raum betrachten lassen und die Situation direkt in der kreativen Ver-
fremdung der Maske spiegeln.⁷¹
Im Kontext einer ästhetisch und performativ ausgerichteten Religionspäda-
gogik, die von Thomas Klie wesentlich mit entwickelt worden ist und die den
Zusammenhang von Gestalt und Gehalt, Form und Inhalt genau reflektiert,⁷²

(anders) erzählen: Narrative Identität als religionspädagogische Bildungsaufgabe“, Zeitschrift für


Pädagogik und Theologie 64 (2) (2012): 100 – 111 und 135 – 145. Zum Zusammenhang von Maske und
biographischer Rekonstruktion vgl. auch Bernhard Fetz und Hannes Schweiger, Spiegel und
Maske: Konstruktionen biographischer Wahrheit (Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2006).
 Vgl. z. B. Aargauer Kunsthaus (Hg.), MASKE: In der Kunst der Gegenwart (Aarau und Zürich:
Verlag Scheidegger und Spiess, 2019); Kunstmuseum Bonn (Hg.), Maske: Kunst der Verwandlung
(Köln: Wienand Verlag, 2019).
 Vgl. Tanja Gojny, Kathrin S. Kürzinger und Susanne Schwarz (Hg.), Selfie – I like it: Anthro-
pologische und ethische Implikationen digitaler Selbstinszenierung (Stuttgart: Kohlhammer, 2016).
 Madeleine Schuppli, „Maske – Maskierungen in der Gegenwart“, in MASKE, hg.v. Aargauer
Kunsthaus, 11– 17, 15.
 Ebd.
 Vgl. z. B. die Arbeiten des Künstlers Iconeo (Steffen Kraft) (online abrufbar unter https://www.
jetzt.de/digital/kunst-mit-mund-nasen-schutz, Lesedatum: 07.02. 2022).
 Vgl. z. B. Thomas Klie und Silke Leonhard (Hg.), Performative Religionsdidaktik: Religionsäs-
thetik – Lernorte – Unterrichtspraxis (Stuttgart: Kohlhammer, 2008); Bernhard Dressler und
Thomas Klie, „Strittige Performanz: Zur Diskussion um den performativen Religionsunterricht“,
Pastoraltheologie 96 (6) (2007): 241– 254; Bernhard Dressler, Thomas Klie und Martina Kumlehn,
Unter und an Masken lernen 291

wären mit den Jugendlichen in differenzierten Wahrnehmungs-, Darstellungs-


und Partizipationsprozessen – angeregt von der Gegenwartskunst – die Vielfalt
der Bedeutungen von Masken im spannungsreichen Gegenüber bzw. in intensiver
Wechselwirkung mit der unstillbaren Sehnsucht nach Gesehen- und Wahrge-
nommenwerden, Authentizität⁷³ und Intimität zu entdecken und selbst gestaltend
zu durchdringen. Dabei können spielerische und experimentelle Erprobungen mit
eigenen Masken und den Masken anderer integriert werden, um dann der Be-
deutung von Masken im Kontext von Religion und Theater nachzugehen und
diese in Analogie und Differenz auf das eigene Selbst-, Welt- und Gottesver-
ständnis zurück zu beziehen. In dieser Dynamik ist reflexiv zu prüfen und im
Gespräch zu erschließen, was sich im Durchgang durch die Vielfalt der Deu-
tungsmöglichkeiten im Spannungsfeld von Maske, Rolle, Gesicht, Person und
Identität bzw. Zeigen und Verbergen neu und anders sehen lässt bzw. welche
Perspektivenwechsel sich hinsichtlich der eigenen Positionierung in diesem Feld
ergeben.
Religionspädagogisch besonders zu betonen wäre, dass sich im Span-
nungsfeld von Zeigen und Verbergen, von Schutz und Provokation im Spiel mit
Masken und der eigenen Identität immer differenz- und grenzbewusst das blei-
bende Geheimnis der eigenen Person und vor allem auch das bleibende Ge-
heimnis Gottes mitteilen kann. Wir bleiben uns nicht nur selbst immer auch
entzogen, sondern sind im Glauben ebenso den Totalitätsansprüchen der Be-
stimmungs- und Verfügungsmacht anderer entnommen. Das vollkommene Er-
kennen ist in dieser Deutungsperspektive allein Gott vorbehalten bzw. wird im
Eschaton „von Angesicht zu Angesicht“ erhofft. Das schützt und bewahrt das
eigene Ich und appliziert die Dimension der Unverfügbarkeit auf Gott und
Mensch. Zugleich wird jedoch in religiöser Deutungsperspektive die Sehnsucht
nach unverstelltem, echtem Leben und seiner vorbehaltlosen Annahme in seiner
ganzen Fülle durch die Rollen und Masken hindurch wachgehalten. Es geht um
die „Kunst der Unterscheidung“: „Denn die Masken wechseln, solange das Spiel
des Lebens geht.“⁷⁴ Aber in der Perspektive des Glaubens wird eine Selbstunter-
scheidung möglich, die entlasten kann: „Der außerhalb seiner selbst integrierte

Unterrichtsdramaturgien: Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung (Stuttgart: Kohlhammer,


2012), 9.
 Vgl. zur intensiven Beschäftigung mit dem Gegenpol zur Maske Christoph Wiesinger, Au-
thentizität: Eine phänomenologische Annäherung an eine praktisch-theologische Herausforderung
(Tübingen: Mohr Siebeck, 2019).
 Michael Meyer-Blanck, „Von der Identität zur Person: Religionspädagogische Redigierungen
in der Postmoderne“, Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 51 (4) (1999): 347– 356, 352.
292 Martina Kumlehn

Mensch ist zu Übergängen innerhalb seiner differenten Identitäten fähig, ohne


sich aufzuspalten.“⁷⁵
Religiöse Identitätsbildung hätte dann im Kontext dieser Thematik das Ziel,
Subjekte zu befähigen und zu ermutigen, sich der vielfältigen Masken und Mas-
kierungsstrategien bewusst zu werden, aber zugleich ihre Ambivalenz und
Mehrdeutigkeit, ja die Möglichkeit der groben Täuschung und Verführung kritisch
mit zu bedenken, um in transzendierender Perspektive zu erschließen, was es
bedeuten kann, dass der Wert der Person und ihre Würde gerade nicht in dem
Vexierspiel von Gesicht und Maske aufgehen. Die mögliche Gottesbeziehung
stünde dann genau für die Ausgangs- und Zielrelation der Person, die das Bleiben
in der Spannung von Zeigen und Verbergen als immanent unhintergehbar aus-
halten lässt und zugleich die Erwartung ihrer Aufhebung in Glaube, Hoffnung,
Liebe offen hält.

 Ebd. 353.
Marcell Saß
Digitale Dinge?
Eine praktisch-theologische Spurensuche

Zwei Jahre nach dem Auftauchen eines „neuartigen Coronavirus“ leben wir immer
noch in bedrängenden, pandemischen Zeiten, blicken gebannt auf die nächste
„Omikron-Welle“, verfolgen mit Sorge Inzidenzen oder Hospitalisierungen, hoffen
auf eine baldige endemische Entwicklung und müssen inmitten unzähliger Vi-
deokonferenzen und eingeschränkter Präsenzlehre letztlich konstatieren: die
gesellschaftliche Abreise aus der Gutenberg-Galaxis geht schneller als vielleicht
erwartet, schneller als vielleicht gewünscht. Denn innerhalb sehr kurzer Zeit sind
wir endgültig im digitalen Zeitalter angekommen.¹ Der Prozess der Digitalisierung
ist unaufhaltsam, eine Kultur der Digitalität² hat Einzug gehalten und durchdringt
sämtliche Lebensbereiche, die Medienevolution der letzten Jahre ist eine Medi-
enrevolution. „Bit by bit“³ tasten wir uns vor in neue Zeiten. Da mag das Nach-
denken über Fragen der Materialität fast etwas aus der Zeit gefallen wirken,
ebenso wie die Suche nach Schauplätzen⁴ der Religion in virtuellen Weiten. Geht
das überhaupt noch? Oder müssen wir den „material turn“ hinter uns lassen?
Und in der Tat, die Hinwendung zu den Dingen, die gefühlte, be-griffene
Stofflichkeit in rituell-religiösen Praxen mag aufs erste so gar nicht passen zu
Künstlicher Intelligenz, Algorithmen oder durch Bildschirme vermittelte Kom-
munikation. Indes, so kann man beruhigt nach einem kurzen Blick in aktuelle
Diskurse feststellen: Auch Digitalität fragt nach Materialität, etwa, wenn Dinge
digital werden, wenn Medialität und Digitalität einander neu zuzuordnen sind.
Das „Internet der Dinge“ zeigt: Offenkundig sind wir bereits unterwegs in post-
digitalen Zeiten⁵, die die eindimensionale Gegenüberstellung analoger und digi-
taler Welten, von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen und virtueller Realität
als obsolet ausweisen und auf die selbstverständliche Einbettung des Digitalen in
unsere artifizielle, alltägliche Normalität verweisen. Auch dieses neue Nachden-
ken über Dinge, in Museen und Archiven, von Ökonomie bis Kunst, findet im

 Vgl. Gordon Mikoski, „On the Mediation of the Mediation of the Mediation: The (Im)possibility
of Online Communion and the Limits of Online Worship“, Liturgie und Kultur 9 (1) (2018): 6 – 11, 6.
 Felix Stalder, Kultur der Digitalität (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2016).
 Matthew J. Sagalnik, Bit by Bit: Social Research in the Digital Age (Princeton: Princeton Uni-
versity Press, 2019).
 Thomas Klie und Silke Leonhard (Hg.), Schauplatz Religion: Grundzüge einer performativen
Religionspädagogik (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2003).
 So mit Nicholas Negroponte, Being Digital (New York: Alfred Knopf, 1998).

https://doi.org/10.1515/9783110762853-019
294 Marcell Saß

Horizont von Digitalität statt. Und wer über das Smartphone als Artefakt nach-
denkt, weiß: Das Digitale kann sich sehr materiell zeigen. So sind die folgenden
Überlegungen zu verstehen als eine Spurensuche im Schnittfeld von post-digitaler
Normalität und alltäglicher Materialität.

1 Digitale Zukünfte und die materielle


„Vermessung des Menschen“
Über die Zukunft zu reden, liefert eher einen differenzierten Einblick in die Art
und Weise, wie wir unsere Gegenwart aktuell wahrnehmen. Erkenntnistheoretisch
ist ja eindeutig: Wüssten wir die Zukunft empirisch gesichert, so wäre sie gar keine
mehr, sondern schon die Gegenwart! Und wer nach vorn schaut, auch theoretisch,
trägt dabei die Vergangenheit mit sich, als Rahmen und Deutungshorizont.⁶ „Past
is prologue“, lautet eine Inschrift im Capitol in Washington D.C.
Dieses Motto gilt auch und gerade für das Filmgenre Science-Fiction. Hier
wird im massenmedial tauglichen Format gegenwartskulturelle Deutung mit Zu-
kunftsprognose verschränkt und (filmisch) inszeniert. Science-Fiction als mediale
Inszenierung zukünftiger, digitaler Welten findet sich in den späten 1980er Jahren
eindrücklich in den Abenteuern des Raumschiffs Enterprise in seiner nächsten
Generation⁷. Die Serie wird bis heute rezipiert, ist kulturell klar in den 1980er und
1990er Jahren lokalisiert, technisch und filmisch für heutige Sehgewohnheiten
eher unaufregend und doch bleibende Quelle für manche Sehnsucht, z. B. nach
der eigenen Kindheit oder einer Zukunft, die offen und vielversprechend ist:

Space: the final frontier. These are the voyages of the starship Enterprise. Its five-year mis-
sion: to explore strange new worlds. To seek out new life and new civilizations. To boldly go
where no man has gone before!⁸

Wer, wie der Autor dieses Beitrages, in der eigenen Jugend die Abenteuer der
„neuen“ Enterprise miterlebte, hat vermutlich ein Besatzungsmitglied der neuen
Enterprise besonders zu schätzen gelernt: Lt. Commander Data. Er ist ein Android,

 Vgl. Foucaults archäologische und genealogische Vorgehensweisen, die unsere Selbstver-


ständlichkeiten mit einem Gang ins Archiv irritieren.Vgl. dazu Marcell Saß, „Deutungsmacht und
die Geschichte religiöser Bildung“, in Machtvergessenheit: Deutungsmachtkonflikte in praktisch-
theologischer Perspektive, hg.v. Thomas Klie, Martina Kumlehn, Ralf Kunz und Thomas Schlag
(Berlin: de Gruyter, 2021), 75 – 90.
 Star Trek – The Next Generation, Regie: Gene Roddenbery/Rick Bermann, USA 1987– 1994.
 So der berühmte Vorspann von Star Trek, TNG.
Digitale Dinge? 295

ein kybernetischer Organismus. Zu gern möchte Data menschlich sein, was ihm
jedoch permanent misslingt. Er ist unfähig Gefühle zu erleben, versucht sich je-
doch – auf Grundlage seiner umfangreichen Datenbanken – an einer Liebesbe-
ziehung zu einer Kollegin. Er möchte erfahren, was Wut ist, studiert Humor,
scheitert aber an der Pointe; und er spielt perfekt klassische Musik, jedoch ohne
die Schwermut oder transzendente Freude wirklich transportieren zu können.
Alles bleibt technisch und doch ist Data den Zuschauenden menschlich sehr
nahe.
In einer Folge nun stellt sich dezidiert die Frage, was der Android per defi-
nitionem ist: Ding oder Person. „Die Vermessung des Menschen“ (engl.: The
Measure of a Man)⁹ spitzt den Konflikt um Datas Status als Person zu, da ein
Wissenschaftler namens Maddox Data zerlegen und studieren möchte, um dann
eine ganze Kohorte von weiteren Datas zu produzieren. Es sollen unendlich viele
werden, die den Menschen dienen. Dass hier die us-amerikanische Debatte um
Rassismus und Sklaverei den Kontext bietet, ist offensichtlich – beeindruckend
inszeniert übrigens in einem Gespräch des Kapitäns der Enterprise mit der Bar-
keeperin, gespielt von Woopi Goldberg.
Data spricht dem Wissenschaftler Maddox die Kompetenzen für das Experi-
ment insgesamt nicht zu, verweigert sich dem Experiment und möchte schließlich
seinen Dienst quittieren. Das allerdings, so das Kommando der Sternenflotte, sei
unmöglich, schließlich „gehöre“ er der Sternenflotte. Als Ding ist er Eigentum,
Maddox spricht von ihm konsequent als „it“.
Der kommandierende Offizier der Enterprise, Jean Luc Picard, bringt die
Sternenflotte schließlich dazu, in einem Musterprozess zu klären, ob Data Ding
oder Person ist, ob er Rechte hat. Picard argumentiert leidenschaftlich und liefert
als Richtschnur für die Personalität Datas die Frage, ob er ein „sentient beeing“
(dt.: empfindsam Wesen/Sein) sei.
Maddox definiert daraufhin „sentient“: Ein „sentient being“ ist intelligent
(intelligent), selbst-bewusst (self-aware) und hat Bewusstsein (consciousness).
Data kann auf Anhieb zwei Kriterien erfüllen, und auch „Bewusstsein“ scheint er
durchaus zu haben. Darauf wird entschieden: Er darf als Person handeln, obwohl
er physisch nicht als Mensch, sondern als Ding und Maschine klassifiziert wurde.
Die Grenzen sind verschoben, Mensch-Maschine-Verhältnisse filmisch unter-
haltsam neu justiert.

 Vgl. Marcell Saß, „‚Die Vermessung des Menschen‘ – christliche Anthropologie im Zeitalter der
Digitalisierung“, Perspektiefe 47 (2018) (online abrufbar unter https://www.zgv.info/perspektiefe-
online/artikel-einzelansicht/505-die-vermessung-des-menschen-christliche-anthropologie-im-
zeitalter-der-digitalisierung.html?type=123, Lesedatum: 12.07. 2019). „The Measure of a Man“ er-
schien zuerst am 13. Februar 1989.
296 Marcell Saß

Das alles wird nun erstmals 1989 ausgestrahlt, in Zeiten vor der Digitalisie-
rung: Smartphones und das World Wide Web waren da letztlich noch Science-
Fiction.
Drei Dekaden später sitzen wir nun selbstverständlich in Videokonferenzen,
denken über ethische Implikationen selbstfahrender Autos nach und nutzen
automatisches Lernen, Künstliche Intelligenz (KI) und vieles mehr. Das Digitale
prägt unseren Alltag, bestimmt uns tief, hat Arbeit und Kommunikation, kurzum
unser Leben tiefgreifend transformiert¹⁰: „At the end of a century filled with
turmoil and change, we are no longer limited to where the wires run.“¹¹
Mediengeschichtlich¹² gesehen leben wir in turbulenten Zeiten, ungeachtet
anderer Umbrüche in der Vergangenheit, denn der Abschied von der Gutenberg-
Galaxis und die Ankunft im „Digital Age“¹³ vereint nicht nur Beschleunigungs-
erfahrungen, sondern löst bisweilen heftige Reaktionen aus, etwa heilsähnliche
Machbarkeitsvorstellungen¹⁴ für eine bessere Welt ohne Leid und Vergänglich-
keit¹⁵, aber auch eher pessimistische Aussagen¹⁶.
Digital über Dinge zu denken, sozusagen Data in unseren Alltag zu lassen,
und dabei materiell den Menschen fest im Blick zu haben – in ein solches
Spannungsfeld eingezeichnet ringen Wissenschaftsdisziplinen unserer Tage um
Deutung. Übliche Unterscheidungen zwischen den Natur- und Geistes- bzw. Ge-
sellschaftswissenschaften werden dabei neu bestimmt, bisweilen gar als For-

 Vgl. Irving Fang, A History of Mass Communication, Six Information Revolutions (Boston:
Routledge, 1997). Fang zählt folgende Informationsrevolutionen auf: 1.Writing, 2. Printing, 3. Mass
Media, 4. Entertainment, 5. The Toolshed Home, 6. The Highway.
 Ebd., 189.
 Vgl. grundlegend Werner Faulstich, Das Medium als Kult: Von den Anfängen bis zur Spätantike
(8. Jahrhundert) (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,1997); ders., Medien und Öffentlichkeiten im
Mittelalter (800 – 1400) (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,1996); ders., Medien zwischen
Herrschaft und Revolte: Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400 – 1700) (Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht, 1998); ders., Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700 – 1830) (Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 2002), ders., Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (1830 –
1900) (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004).
 Vgl. Eric Schmidt und Jared Cohen, The New Digital Age: Reshaping the Future of People,
Nations and Business (New York: Vintage, 2013).
 Exemplarisch genannt seien die Versuche von Tesla-Gründer Elon Musk ab 2020 mittels
Neuralink Gehirn und Internet zu verbinden.Vgl. dazu https://www.nytimes.com/2019/07/16/tech
nology/neuralink-elon-musk.html, Lesedatum: 17.07. 2019.
 Man denke hier etwa an die Debatten um Pflegeroboter wie Pepper. Vgl. https://www.mdr.de/
wissen/pflegeroboter-pepper-100.html.
 Vgl. Volker Jung, Digital Mensch bleiben (München: Claudius, 2018).
Digitale Dinge? 297

schungsziel ausgemacht, indem die verschiedenen Perspektiven von Anfang an in


Technikentwicklung integriert werden.¹⁷
Digitale Dinge sind Anlass für ethische oder juristische Fragen. Und so wie
Data um sein Recht kämpft, so müssen wir neu prüfen, wie viel Digitalität wir den
Dingen als Autonomie geben, und wie wir selbst digital-souverän bleiben können.
Big Data¹⁸ und die lebensweltlich tiefgreifende Bedeutung von Algorithmen
deuten an, wie grundlegend und komplex die Herausforderungen sind, nicht nur
für die (evangelische) Ethik, die, will sie theoretisch redlich operieren, eben keine
„Entscheidungswissenschaft“ ist, sondern hermeneutisch anspruchsvoller Bei-
trag zur Problemanalyse des Verhältnisses von materiellen Dingen und digitalen
Räumen, oder prinzipieller: Wir sind gefordert uns an einer Neuvermessung von
Mensch und Technik zu beteiligen, differenztheoretisch versiert und hermeneu-
tisch tiefgründig im Horizont großer gesellschaftlicher Herausforderungen und
transdisziplinärer Zugänge.¹⁹
Dass die Theologie hier vorgibt wirklich zu wissen, wohin die Reise geht, wäre
selbstverständlich Hybris,vor allem, wenn man an die oft eher mediendistanzierte
Kultur bildungsbürgerlicher Milieus denkt. In jedem Fall aber lehrt etwa eine
„Brief History of Tomorrow“ des Jerusalemer Historikers Yuval Noah Harari, dass
die Welt sich rasant verändert: „Tatsächlich – und hierfür kann er (sc. Harari, MS)
viele Beispiele … anführen – greifen Algorithmen bereits heute in vielfacher, meist
unbemerkter Weise in das Leben der Menschen ein.“²⁰
Genau hier könnte eine in der Tradition der europäischen Aufklärung als
„Sattelzeit“²¹ lokalisierte evangelische Hermeneutik gut anschließen, mit ihrem
tiefen Interesse am Verständnis des Menschen – im Kontext. Und zudem sind ja
die Wurzeln evangelischer Theologie in der Reformation als eines Medienereig-
nisses durchaus medial bestimmt und damit per Genese an einem Zusammen-

 Vgl. z. B. das Projekt Guide+ der FH Bielefeld (online abrufbar unter www.guide-projekt.de,
Lesedatum: 17.07. 2019). Vgl. auch www.technik-zum-leben-bringen.de, Lesedatum: 17.07. 2019.
 Vgl.Viktor Meyer-Schönberger und Kenneth Cukier, Big Data: A Revolution That Will Transform
How We Live, Work and Think (London: Redline, 2013).
 Friedemann Voigt, „Vom Ethos der Ethik: Die protestantische Sozialethik und die modernen
Lebenswissenschaften“, Zeitschrift für Evangelische Ethik 58 (2014): 203 – 212, 212 mit Bezug auf
Hartmut Kreß, „Dogmatisierung ethischer Fragen: Kirchliche Stellungnahmen zu ethischen
Themen: Neue Dogmatisierungen, Konfessionalisierungen und die Retardierung der kirchlichen
ethischen Urteilsfindung“, Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 61 (2010):
3 – 9.
 Chr. Grethlein, Kirchentheorie, 225, mit Bezug auf Yuval Noah Harari, Homo Deus: A Brief
History of Tomorrow (New York: de Gruyter, 2017).
 So der Begriff für den Übergang von 18. zum 19. Jahrhundert von Reinhart Koselleck, „Ein-
leitung“, in Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg.v. dems. (Stuttgart: Klett, 1979), 9 – 16.
298 Marcell Saß

hang von Medien und Religion interessiert. Dies auf (neue) digitale Materialität zu
übertragen, scheint lohnend.
Es geht dann um zweierlei: die Notwendigkeit einer grundsätzlichen, mög-
licherweise neuen, Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von Medien und
Religion und um die Neuformatierung anthropologischer Vorstellungen, etwa
vom Subjekt oder Individuum. Es gilt Kants berühmte Fragen neu zu stellen: „1.
Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der
Mensch?“²².

2 Digitale Dinge und religiöse Praxis²³


Unstrittig ist, dass Digitalität religiöse-kirchliche Praxis bereits nachhaltig tan-
giert. Ob Dialogpredigten im Videokonferenzformat über Kontinente hinweg, di-
gitale Lernplattformen, per E-Mail versandte Gemeindebriefe, Gottesdienste in
virtuellen Realitäten wie Second Life u.v.m.: Nicht erst pandemische Zeiten deu-
ten auf eine Erweiterung religiöser Praxis in technisch vermittelten Kommuni-
kationsformen hin. Auch eine digitale „Kommunikation des Evangeliums im
Kontext“ ist künftig vielfältig neu zu gestalten.²⁴ Grundsätzliche Gewohnheiten,
wie wir auch über die „Dinge der Religion“ nachdenken, werden irritiert, wenn
digitale Varianten tradierte kirchliche Praxen transformieren. Das mag man be-
dauern, unter Umständen jedoch auch beherzt Potentiale markieren, die darin
liegen könnten.²⁵
Immerhin: Gegenwärtig werden wohl diejenigen anthropologischen Grund-
bestimmungen verschoben, die uns seit der Aufklärung prägen. Religiös-rituelle
Praxis, nicht nur Gottesdienste, bleiben ohne Zweifel individuell wie gemein-
schaftlich an materielle Kulturen angeschlossen, beziehen sich jedoch zuneh-
mend – wie wir in digitalisierten Lebenswelten merken – auf Prämissen, die
mittlerweile durchaus infrage stehen. Hier ist eine Annahme aus Michel Serres’

 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Ingeborg Heidemann (Stuttgart: Reclam,
1993), 815.
 Online abrufbar unter https://www.evangelische-akademien.de/veranstaltung/heilig-christ
lich-smart-digitale-kommunikation-als-kirchliche-herausforderung, Lesedatum: 17.07. 2019.
 Vgl. Chr. Grethlein Kirchentheorie, 51– 123, der Kirche in ihrem Transformationsprozess von
der Bewegung zur staatsanalogen Institution nachzeichnet und in eben dieser Staatsanalogie
eine wesentliche Hürde für die Fortentwicklung der (ev.) Kirche im digitalen Zeitalter ausmacht.
 Vgl. hierzu Claudia Rudolff, „Sublan-Gottesdienste“, Liturgie und Kultur 9 (1) (2018): 32– 36;
Marcell Saß, „‚Rent a Pastor?‘ – Beobachtungen zur Ritualpraxis im Zeitalter der Digitalisierung“,
in Provozierte Kasualpraxis: Rituale in Bewegung, hg.v. Ulrike Wagner-Rau und Emilia Handke
(Stuttgart: Kohlhammer, 2019).
Digitale Dinge? 299

„Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ anregend und beunruhigend zu-


gleich: „Die großen Institutionen also gleichen … jenen Sternen, deren Licht uns
erreicht, während sie, wie die Astrophysik uns lehrt, seit langem schon erloschen
sind.“²⁶
Übrigens liegt das auf der Linie, die Michel Foucault schon vor gut einem
halben Jahrhundert epistemisch formuliert hat, in der berühmt gewordenen
Schlusssequenz seiner Ordnung der Dinge, dass nämlich der Mensch eine

Erfindung sei, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt.
Vielleicht auch deren baldiges Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie
erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis […] diese Dispositionen ins Wanken gerie-
ten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens
es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer
ein Gesicht im Sand.²⁷

Sollen nun in post-digitalen Zeiten, in denen die Alltäglichkeit digitaler Dinge der
Normalfall ist, Materialität und Digitalität als Spannungsfeld der Anthropologie
neu in Bezug gesetzt werden, wird man bei Serres wie Foucault gute Gesprächs-
angebote finden, die in post-humanistische Diskursen fortgesetzt werden und die
Praktische Theologie neu inspirieren könnten: Gemeint sind damit Versuche in
Philosophie, Natur-, Technik-, Literatur- und Kommunikationswissenschaften
und andernorts, die die gegenwärtigen (technischen) Entwicklungen als Bruch
mit Annahmen unserer Kultur deuten. Zunächst geht es hierbei um ein anderes
Verständnis des Verhältnisses des Menschen zur Welt und Natur. Es geht darum,
tradierte anthropozentrische Deutungen zu verändern und neue epistemologi-
sche Deutungsangebote für die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Technik zu
formulieren.²⁸ Daraus folgend sehe ich auch Anregungen, die Grenze zwischen
der sinnlich wahrnehmbaren, stofflichen Materialität religiös-ritueller, v. a. litur-
gischer Kommunikation und der digitalen Ausformung eben solcher Praxis neu
zu vermessen.
Mitten in aufregenden gesellschaftlichen Zeiten wird so aus der ethisch-mo-
ralischen Auseinandersetzung um die Nutzung und den Nutzen neuer Techno-
logien eine grundlagentheoretisch bemerkenswerte Herausforderung: Tiefer zu

 Michel Serres, Erfindet Euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation (Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 2013), 63.
 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 1974), 462.
 Vgl. Jay David Bolter, Art. „Posthumanism“, in The International Encyclopedia of Commu-
nication Theory and Philosophy (2016), 1 (online abrufbar unter https://onlinelibrary.wiley.com/
doi/pdf/10.1002/9781118766804.wbiect220, Lesedatum:10.07. 2019).
300 Marcell Saß

verstehen, wie und wo die anthropologischen Herausforderungen, die sich z. B.


aus Mensch-Maschine-Interaktionen ergeben, ist das Gebot der Stunde – gerade
auch für Konzepte von Materialität.²⁹
Die uns selbstverständlich gewordene Digitalität der Dinge könnte für die
christliche Anthropologie folgenreich sein, wenn wir darin einen Prozess fundiert
bearbeiten, der jede soziale Konstruktion auf neue Weise als Konstruktion von
Wirklichkeit verstehbar macht:

A way of capturing this deep, consistent and self-reinforcing role of media in the construc-
tion of the social world is to say that the social world is not just mediated but mediatized:
that is, changed in its dynamics and structure by the role that media continuously (indeed
recursively) play in its construction.³⁰

Hier ist die Theologie als hermeneutische Disziplin gefordert, gerade, weil
kirchliche Gemeinschaft(en) und deren ekklesiologische sowie anthropologische
Konstruktionen von Sozialität dazu in Spannung treten können. Der material turn
bleibt geeigneter Dreh- und Angelpunkt, wenn wir ihn auch in digitale Phäno-
mene fragend eintragen und hermeneutisch neu aufrufen, worum es prinzipiell
geht, z. B. um Annahmen christlicher Religion wie die Gott-Ebenbildlichkeit des
Menschen oder die Frage einer zeitgemäßen Liturgik. Die Feier des Abendmahls
etwa verweist hier auf Probleme, die man auch im Spannungsfeld von „Mediali-
tät“ und „Materialität“ wird deuten können.³¹
Die Praktische Theologie würde damit übrigens vertrautes Terrain bearbeiten,
bliebe sie doch auf Religion als kommunikative und diskursive Praxis konsequent
bezogen, mit der leitenden Prämisse, dass es ohne Medien keine Religion gibt³²
und Transzendenz immer mediatisiert ist, jede Religion dann aber lediglich eine
(begrenzte) Mediatisierung dieser Transzendenz zeigt: „The Ultimate is infinitely
apprehensible, yet never entirely comprehensible“³³.
Den material turn digital auszudehnen, die Medialität der Dinge in digitali-
sierten Lebenswelten zu fokussieren ist dann – strukturanalog zur Umformung

 Vgl. dazu Peter Mahon, Posthumanism: A Guide for the Perplexed (London: Bloomsbury, 2017),
25.
 Nick Couldry und Andreas Hepp, The Mediated Construction of Reality (Cambridge: Polity,
2017), 15.
 Anregend ist hier Ilona Nord, Realitäten des Glaubens: Zur virtuellen Dimension christlicher
Religiosität (Berlin: de Gruyter, 2008).
 Jörg Rüpke, „Religion medial“, in Religion und Medien: Vom Kultbild zum Internetritual, hg.v.
Jamal Malik, Jörg Rüpke und Theresa Wobbe (Münster: Aschendorff, 2007) 19 – 28.
 Paul Knitter mit Bezug auf Tillich, „Doing Theology Interreligiously: Union and the Legacy of
Paul Tillich“, Crosscurrents 61 (1) (2011):117– 132, 123
Digitale Dinge? 301

der Glaubenspraxis in der Reformation durch eine Medieninnovation oder zur


produktiven Erarbeitung der Unterscheidung von Glaube und Religion in der
(protestantischen) Aufklärung im 19. Jahrhundert – eine bleibende Aufgabe in
digitalen Zeiten.

3 Ausblick
Digitale Materialität und deren anthropologische Relevanz betrifft grundlegend
die (Praktische) Theologie. Das sollte auch dazu führen künftig noch beherzter
intra- und interdisziplinären Formen in Forschung und Lehre zu finden – gerade
im Dialog mit den Technik- und Kommunikationswissenschaften liegen dann gar
Chancen die Frage nach Sinn und Ziel theologischer Wissenschaft neu zu be-
antworten und die Fachlichkeit der Theologie zu befördern. Dabei dürften neue
Potenziale der Selbst-Vergewisserung eines traditionsreichen Faches zu entde-
cken sein, weil hier an einer gegenwärtig großen gesellschaftlichen Herausfor-
derung nicht nur binnentheologisch und -kirchlich, sondern im Dialog mit an-
deren Wissenschaften konstruktiv gearbeitet wird.
Was für die Theologie als Wissenschaft, für theologische Bildung und Aus-
bildung gilt, betrifft auch die (ev.) Kirche. Digitalisierungsprozesse, die Einsicht in
post-digitale Zeiten mit einer grundlegend anderen Selbstverständlichkeit des
Umgangs mit Technik, ermutigen dazu, kirchliche Praxen, kirchliches Selbst-
Verständnis und kirchliche Institution zu transformieren. Rituelle Praxen und
gottesdienstliche Feiern, vor allem die Kasualien, sind dabei der Indikator dafür,
wie es gelingen kann Formen von Kirchlichkeit in Kontakt zu bringen mit den
Lebenswelten der Menschen. Hier, so drückt es Thomas Klie auf unnachahmliche
Weise aus, kollidieren ja, wie wohl an kaum einem anderen Ort, der „Kunden-
habitus“ eines „ambulanten Christentums“ mit dem „stationären“, kernge-
meindlichen.³⁴ „On demand“ als Konzept trifft die Kasualien, daher dürften
spätmoderne Lebenswelten geradezu dem Nachdenken über deren digitale,
künftige Materialität neue Räume bieten. Das macht durchaus Mut für die Zu-
kunft.

 Vgl. dazu insgesamt die Dokumentation einer Rostocker Tagung hierzu bei Thomas Klie,
Folkert Fendler und Hilmar Gattwinkel (Hg.), On Demand: Kasualkultur der Gegenwart (Leipzig:
Evangelische Verlagsanstalt, 2017).
Thomas Schlag
Das Smartphone als Spiegel des Lebens

1 Einführung: Smartphones im Bataclan


Den Ersthelfern im Pariser Club Bataclan bot sich ein zutiefst erschreckendes
Hörbild. Im dunklen, totenstillen Raum blinkten zwischen den reglos am Boden
liegenden Anschlagsopfern immer wieder Smartphone-Screens auf. In unregel-
mäßigen Abständen machten Vibrations- und Klingeltöne hörbar, dass die Au-
ßenwelt Kontakt zu den vermissten Angehörigen aufnehmen wollte. Die Benut-
zenden waren tot, aber ihre Smartphones leuchteten im Dunkeln weiter. Sie
produzierten individuelle Signale, in denen die Verzweiflung auf Seiten derer, die
nach einem Lebenszeichen suchten, manifest wurde.
Verloschene und funktionsfähige Materie zur gleichen Zeit in dramatischer
Ungleichzeitigkeit – und inmitten all dessen das Smartphone als globales, indi-
viduelles und kollektives Vernetzungszentrum einer existenziellen Todes- und
Lebenssituation.
Um den Tatort herum spielte das Smartphone ebenfalls eine wesentliche
Kommunikationsrolle. Personen riefen mit dessen Hilfe um Rettung. Wieder an-
dere filmten die dramatischen Szenen der Pariser Ereignisse am 13.11. 2015, die als
„news alert“ in Echtzeit in die gesamte Welt hinaus wie ein Lauffeuer in Bild und
Ton kommuniziert und abgerufen wurden. Schrecken, Leid, Empathie und Soli-
darität wurden „live“ digital geteilt und sind bis heute – etwa der Beginn der
Schüsse während des Konzerts¹ – immer wieder als digitale Erinnerung abrufbar.
Zugleich war, wie man kurze Zeit später erfuhr, der islamistische Anschlag mit
Hilfe von Smartphone-Kommunikation koordiniert worden. Bei einem anderen
zeitgleichen Anschlag in der französischen Metropole wurde ein Mann nach
Selbstauskunft durch sein in der Brusttasche befindliches Handy gerettet, indem
sich ein umherfliegendes Metallteil in die Benutzeroberfläche eingebohrt habe.²
Und unmittelbar nach den Anschlägen entwickelten sich politisch folgen-
reiche Nutzungsdynamiken. Zum einen wurden über Smartphone-Kommunika-

 Le Bataclan Concert’s Interruption by Gunmen, Shown in Video (online abrufbar unter https://
www.youtube.com/watch?v=qXZG8QbT7jA, Abrufdatum: 15.01. 2022).
 Vgl. Ashley Cowburn, „Paris terror: Man reveals he was saved by his mobile phone as survivors
share stories“, Independent vom 14.11. 2015 (online abrufbar unter https://www.independent.co.
uk/news/world/europe/paris-attacks-survivors-and-witnesses-share-accounts-of-deadly-paris-at
tacks-a6734401.html, Lesedatum: 01.12. 2021).

https://doi.org/10.1515/9783110762853-020
304 Thomas Schlag

tion vermeintliche islamische Freudenfeiern über das Ereignis als digitaler Fake
verbreitet.³ Zum anderen kam es nach den Anschlägen spontan – etwa unter
#prayforparis oder #NotInMyName – zu muslimischen Solidaritätsbekundungen
sowie zur Produktion von religiösen Memes, was ebenfalls den produktiven und
global kommunikativen Verwendungszwang des Smartphones offenbar machte.⁴

2 Das Smartphone in praktisch-theologischer


Perspektive – Zielsetzungen
Weshalb sollte man sich praktisch-theologisch mit der Performanz, Interaktion
und Resonanz dieses „smarten Dings“ beschäftigen? Wären nicht auch ohne
diesen digitalen Helfershelfer die Ereignisse in Paris mehr oder weniger gleich
abgelaufen und ähnlich dramatisch beschreibbar? Worin liegt eigentlich die re-
ligiös bedeutsame Dimension dieses technischen Artefakts?
Im Unterschied zu anderen – auch in diesem Band behandelten – Dingen
zeichnet sich das Smartphone zweifelsohne nicht durch eine sogleich religiös
identifizierbare Gestalt oder eine mehr oder weniger selbstverständliche liturgi-
sche Zwecksetzung aus. In einen Setzkasten religiöser Gebrauchsgegenstände
würde man es kaum einstellen. Für die gottesdienstliche Inszenierungs- und
Teilhabepraxis spielt es keine wesentliche Rolle – bislang jedenfalls.⁵ Das
Smartphone ist kein religiöses Artefakt im Sinn eines zum klassischen religiösen
Gebrauch nutzbaren Dings.
Auf der anderen Seite ist dieses technische Ding⁶ durch seinen selbstver-
ständlichen medialen Alltagsgebrauch intensiv mit der individuellen und kol-

 Yanan Wang, „Fake video, images claim to show Muslim joy over Paris attacks“, Washington
Post vom 18.11. 20215 (online abrufbar unter https://www.washingtonpost.com/news/morning-
mix/wp/2015/11/18/fake-video-images-claim-to-show-muslim-joy-over-paris-attacks/, Leseda-
tum: 05.02. 2022).
 Vgl. https://esmemes.com/t/pray-for-paris-images, Abrufdatum: 01.12. 2021.
 Vgl. Zielsetzung, Design und erste Ergebnisse der ökumenischen und internationalen CONTOC-
Studie (Churches Online in Times of Corona) unter www.contoc.org.
 In erziehungswissenschaftlicher Perspektive, die auch für die spätere religionsdidaktische
Reflexion anregend sein kann, werden Dinge vor dem Hintergrund ihrer Performativität näher
gefasst als „Medien, da sie Beziehungen stiften zwischen dem Menschen und der Welt, zwischen
dem Einzelnen und den Mitmenschen und zwischen sich und sich selbst.“ Von dort aus besteht
„der performative Bildungshabitus der Dinge“ in „Ambivalenzen, Widersprüchen und Parado-
xien. Bildung ist die Antwort auf die Möglichkeiten der Dinge.“, Jörg Zirfas und Leopold Klepacki,
„Die Performativität der Dinge: Pädagogische Reflexionen über Bildung und Design“, Zeitschrift
für Erziehungswissenschaft 16 (2013): 43 – 57, 52, 54.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 305

lektiven Lebensführungs- und Kommunikationspraxis verbunden – in dramati-


schen Schicksalsmomenten ebenso wie in den ganz alltäglichen, undramatischen
Lebenswelten.
Das Smartphone – so die im Folgenden näher auszuführende These – ist in
seinem materialen performativ, interaktiven und resonsanzermöglichenden
Charakter zwar prima facie – von sehr viel leichter erkennbaren und entziffer-
baren klassischen Dingen religiöser Praxis unterschieden. Die Smartphone-Nut-
zung mitsamt der damit verbundenen Performanz- und Resonanzerfahrungen
bildet aber einen spezifisch materiell-virtuellen Modus der Weltbegegnung⁷ in-
mitten der Kultur der Digitalität.⁸
Das Smartphone stellt – so die Annahme – einen material-geistigen Spiegel
der je individuellen Existenz bzw. existenziellen Suchbewegungen angesichts der
Fülle des Lebens dar.⁹ Von seiner glänzenden Oberfläche bis hin in die weitge-
henden verborgenen (abwesend-anwesenden) Unterflächen und Tiefenschichten
kommt es für seine Nutzer*innen als manifest gewordenes Freiheitsmedium und
zugleich als Medium der Erschließung von Wirklichkeit zum Tragen.
Zugleich und von daher ist es in religiöser Hinsicht mindestens ebenso be-
deutsam wie viele andere Gegenstände, in deren Bedeutungszuschreibung und
Gebrauch sich religiöse Praxis zeigt. So soll erörtert werden, inwiefern sich in
diesem materialen Artefakt Smartphone und dessen alltäglichem Zeichen-Ge-
brauch Facetten gelebter Religion widerspiegeln. Denn auch dieses materiale
Ding wird im Einzelfall durch den Gebrauch und dessen Deutung in durchaus
religiösem Sinn zum Sprechen gebracht.¹⁰ Oder um es provokativ zu sagen: Durch
einen spezifisch religiös konnotierten Gebrauch und die entsprechende theolo-
gische Zuschreibungs- und Deutungspraxis kann das Smartphone im und durch
den Gebrauch mitsamt der leibhaftigen Nutzungspraktiken von Sehen, Hören,

 Hier ist zu erinnern an die religionsdidaktisch relevante Figur des Modus der Weltbegegnung
konstitutiver Rationalität; mit anderen Worten: Gebrauch, Zwecksetzung und Bedeutung des
Smartphones lassen sich durchaus mit Fragen nach dem „Woher?“, „Wozu?“ und „Wohin“
menschlicher Lebensführung verbinden.
 Vgl. Felix Stalder, Kultur der Digitalität (Berlin: Suhrkamp, 2017).
 Vgl. Thomas Schlag, „Gebildete Wahrheitskommunikation unter den Bedingungen digitaler
Bild-, Wort- und Zeichenfülle – eine praktisch-theologische Perspektive“, in Von semiotischen
Bühnen und religiöser Vergewisserung: Religiöse Kommunikation und ihre Wahrheitsbedingungen,
hg.v. Daniel Bauer, Thomas Klie, Martina Kumlehn und Andreas Obermann (Berlin/Boston: de
Gruyter, 2020), 109 – 123.
 Vgl. den Beitrag von Klaus Hock in diesem Band.
306 Thomas Schlag

Tasten und Sprechen als existenziell bedeutsamer, religiös deutungsoffener,


wenn nicht sogar als „heiliger“ Gegenstand erfahren werden.¹¹
Der praktisch-theologische Sondierungsprozess „im Blick“ auf das Smart-
phone ist von aufschließend aufklärerischer, bereichernder und eminent praxis-
relevanter Bedeutung. Praktisch-theologische Reflexion sollte wissen oder zu-
mindest ahnen, wovon jeweils die Rede ist, wenn dieses Ding in Gebrauch ist, zur
Sprache kommt oder sich selbst zur Sprache bringt. Die individuellen und in-
teraktiven Gebrauchslogiken, von denen noch näher die Rede sein wird, eröffnen
jedenfalls vielfältige Deutungsmöglichkeiten, die in das ureigene Feld praktisch-
theologischen Verstehens fallen.¹²
„Stiftet“ und macht das Smartphone somit in der ihm eigenen Materialität
Sinn? Oder noch zugespitzter gefragt: „Wenn man die Dinge definitiv nicht los-
werden kann, welche theologische Bedeutung kommt ihnen dann zu?“¹³
Es geht dabei weniger darum, dem materialen Medium von außen eine
pseudoreligiöse Qualität zuzuschreiben. Und im Zentrum steht auch nicht die
gegenwärtig intensiv traktierte Frage nach den Chancen digitaler Übertragungs-
medien für neue attraktive Kommunikationsformen des Evangeliums.¹⁴ Vielmehr
soll dafür plädiert werden, dessen eigener materialer Gebrauchslogik und Nut-
zung auf seine existenziellen, individuellen und kollektiven und damit – dieses

 Dass es sich beim Smartphone hingegen um ein kleines, unscheinbares, oftmals sogar ver-
nachlässigtes oder vergessenes Ding handelt, sollte eher nicht behauptet werden, vgl. Hans Peter
Hahn, „Materialität zwischen Alltag und Religion: Lebensweltliche Verwandlungen der geringen
Dinge“, in Die religiöse Positionierung der Dinge: Zur Materialität und Performativität religiöser
Praxis, hg.v. Ursula Roth und Anne Gilly (Stuttgart: Kohlhammer, 2021), 15. Vielmehr kommt ihm
unverkennbare Macht zu bzw. wird in es eingeschrieben, die sich gleichwohl von der Machtfülle
sakraler Objekte im klassischen Sinn unterscheidet, vgl. dazu Karl-Heinz Kohl, Die Macht der
Dinge: Geschichte und Theorie sakraler Objekte (München: Beck, 2003).
 Angesichts der spezifisch mit dem Oberflächen-Grund des Smartphones verbundenen zei-
chenbezogenen Gebrauchspraktiken sowie der damit verbundenen typischen leibhaften Gesten
sei an das aufforderungsklare Diktum von Thomas Klie erinnert, wonach sich Praktische Theo-
logie „als eine das Leben deutende Wissenschaft auch und gerade gestischen Erscheinungsfor-
men zuwenden [sollte]. Sei es nun in der liturgischen Performance, in der seelsorgerlichen
Bußsituation oder in den opaken Übergängen des Alltags“; Thomas Klie, „Alltagsreligion –
Sonntagskultur: Das praktisch-theologische Interesse an Oberflächen“, in Lebenswissenschaft
Praktische Theologie?!, hg.v. dems., Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag (Berlin/
New York: de Gruyter, 2011), 149.
 Stefan Altmeyer, „Ist das alles? Die Dinge theologisch denken mit Bruno Latour“, in Gott, Gaia
und eine neue Gesellschaft: Theologie anders denken mit Bruno Latour, hg.v. Daniel Bogner, Mi-
chael Schüßler und Christian Bauer (Bielefeld: transcript, 2021), 29.
 Exemplarisch Christian Grethlein, „Kommunikation des Evangeliums in der digitalisierten
Gesellschaft“, ThLZ 140 (2015): 598 – 611.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 307

„damit“ ist durchaus von programmatischer Natur! – auf seine religiösen Kon-
notationen hin zu bedenken.¹⁵ Dann lässt sich möglicherweise sogar von einem
Transzendenzbezug des Mediums sprechen – vielleicht im Sinn dessen, was einen
unbedingt angeht bzw. noch technikangemessener: was für einen unbedingt an-
geht bzw. anbleibt.
Die weit reichende Alltagsbedeutung dieses technischen Mediums, das sei-
nerseits weit mehr als ein bloßes Objekt ist, ruft nach theologisch-religionsher-
meneutischem Deutungsmut. In diesem Horizont soll den Dynamiken digitaler
Resonanz- und Beziehungsstiftung, die durch das Smartphone möglich oder eben
auch verunmöglicht werden, näher und kritisch auf die Spur gegangen werden. In
dieser Perspektive lassen sich anhand dieses Dings von einem weiten Begriff di-
gitaler Religion bzw. digitaler Religionspraxis her eine ganze Reihe von herme-
neutisch-theologisch deutungsfähigen Aspekten aufzeigen, die wiederum mit den
Grundfragen der Materialität und Virtualität eines religiös konnotierten Zei-
chengebrauchs verbunden sind bzw. von dort her näher betrachtet und in Au-
genschein genommen werden können.
Aber auch dies ist festzuhalten: Bei den unterschiedlichen Annäherungen an
dieses spezifische materiale Ding des 21. Jahrhunderts soll und kann es aus
praktisch-theologischer Perspektive nicht um eine reine Technik- und Medien-
kritik gehen. Auf der anderen Seite sind allzu nahe liegenden und gefälligen
Analogiebildungen – etwa zwischen technischer Ubiquität und göttlicher All-
präsenz – ebenfalls nicht angezeigt, weil dies die komplexen Bedeutungszu-
schreibungen digitaler Performanz, Interaktion und Resonanz zu unterlaufen
droht.

3 Materiale Revolution
Es muss hier kaum näher erläutert werden, wie die Erfindung des Smartphone die
Wahrnehmungs- und Alltagswelten geradezu revolutionär verändert hat. Diese
technisch handgreifliche Form ist der sicherlich bisher augenfälligste materiale
Ausdruck gegenwärtiger Digitalisierungsprozesse sowie Gebrauchs- und Kom-
munikationslogiken. Tatsächlich gibt es gute Gründe, spätestens mit dessen

 Vgl. dazu die interdisziplinären Forschungsansätze und Themen des Zürcher Universitären
Forschungsschwerpunktes (2021– 2032) Digital Religion(s). Communication, Interaction and
Transformation in the Digital Society (online abrufbar unter www.digitalreligions.uzh.ch).
308 Thomas Schlag

Einführung von einer revolutionären Transformation mit erheblichen Auswir-


kungen auf fast alle Lebensbereiche zu sprechen¹⁶.
Für diese technische Geburt gibt es – und dabei handelt es sich keineswegs
nur um Mythenbildung – tatsächlich ein fixes Creatio-ex-nihilo Datum, bestens
inszeniert, „verlässlich“ bebildert und nachhaltig dokumentiert in einem anderen
digitalen Medium¹⁷: Am 09.01. 2007 stellte Apple-Gründer Steve Jobs dem stau-
nenden Auditorium und quasi digital der ganzen Welt das „revolutionary product
that changes everything“ vor. Aus den bisher schon „three revolutionary pro-
ducts“ – iPod, Phone und internet communicator – wurde ein Neues erschaffen
und sowohl audiovisuell wie auch segenssemantisch aus der Taufe gehoben: „we
are calling it iPhone“. Sieht man sich die gesamte Inszenierung an, ist die engste
Verbindung von neuester Technik und körperlicher Zugänglichkeit unverkennbar:
Über eine Multi-Touch-Funktion verheißt der Erfinder „something wonderful in
your hand“. Es wird möglich, to „touch your music“ und das „internet in your
pocket“ zu haben¹⁸. Diese körperliche Handgreiflichkeit erfährt ihre Spitze darin,
dass dem klassischen Stift sozusagen die Spitze abgebrochen wird. Fast schon
ironisch wird die Einschreibung mit dem Stift als archaisch zurückgewiesen: „We
don’t need a stylus“. Dagegen wird der Finger zum „best pointing device in the
world“ erhoben.
Damit steht das Smartphone in einer so genialen wie konsequenten Ent-
wicklungslinie von Digitalisierungsprozessen seit ungefähr den 1950er Jahren.
Neu und damit in seinen Konsequenzen für die Materialität dieses Artefakts von
wesentlicher Bedeutung ist die etablierte Technik und Logik eines „User Inter-
face“ als Verbindung von Hardware und allen nur denkbaren Software-Möglich-

 Jürgen Habermas beschreibt den „revolutionären Charakter der neuen Medien“ wie folgt: „An
den Inhalten der Presse-, Radio- und Fernsehprogramme ändert sich nichts, wenn sie über
Smartphones empfangen werden. … die veränderte Rezeption und die bedauernswerte Auszeh-
rung des Kinos sind durch die Konkurrenz des Fernsehens längst angebahnt worden. Neben ihren
evidenten Vorzügen hat die neue Technologie andererseits auch höchst ambivalente und mög-
licherweise disruptive Auswirkungen auf die politische Öffentlichkeit im nationalen Rahmen. Das
liegt an der Art und Weise, wie die Nutzer der neuen Medien von der Bereitstellung von gren-
zenlosen Verknüpfungsmöglichkeiten, d. h. von ‚Plattformen‘ für mögliche Kommunikationen mit
beliebigen Adressaten Gebrauch machen.“; vgl. Jürgen Habermas, „Überlegungen und Hypo-
thesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit“, in Ein neuer Struktur-
wandel der Öffentlichkeit? Sonderband Leviathan 37, hg.v. Martin Seeliger und Sebastian Se-
vignani (Baden-Baden: Nomos, 2021), 486 f.
 Vgl. Oliver Ruf (Hg.), Smartphone-Ästhetik: Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien
(Bielefeld: transcript, 2018).
 Steve Jobs iPhone 2007 Presentation (online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?
v=vN4U5FqrOdQ, Abrufdatum: 28.01. 2022).
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 309

keiten in einem Gerät. Aus dem Telefon wird also ein umfassendes bzw. körper-
lich-ganzheitliches Informations- Kommunikations- und Speichermedium, das
„ähnlich wie ein Personenkraftwagen [funktioniert], dessen Innenleben für die
allermeisten Fahrerinnen und Fahrer gleichermaßen intransparent wie eine black
box [kursiv J-.F. S.] erscheint.“¹⁹
Will man sich den grundstürzenden Charakter dieser technischen Innovation
bzw. den von seinen Schöpfern damit verbundenen Anspruch deutlich machen,
so lohnt sich ein kurzer Rekurs auf den Begriff des „Smarten“. Gemeint ist hier erst
einmal ganz banal „klug“. Aber natürlich ist die personale Konnotation hier of-
fensichtlich – denn smart sind normalerweise eben nicht materielle Dinge, son-
dern Personen! Der Möglichkeit personaler Resonanz ist bereits durch diese ge-
radezu genialische Namensgebung im Rahmen dieser emotional befeuerten
Gesamtinszenierung angelegt.
Man könnte also sagen: Smart wird diese Materialität erst und nur dadurch,
dass sie in ihrer personalen Funktionalität, Nützlichkeit und dann eben auch
Unverzichtbarkeit deutlich wird.²⁰ Von dieser ganzheitlichen und zudem höchst
einfachen Zugänglichkeit aus musste man von Seiten der Erfinder für die Be-
deutsamkeit dieses Dings eigentlich gar nicht mehr weiter werben oder gar apo-
logetisch Partei ergreifen. Dieses Artefakt verstand sich – wie übrigens auch die
digitale Taufinszenierung und der immer wieder spontan aufbrechende Applaus
zeigen – von Anfang an von selbst. Damit war zugleich die Brücke zum Alltags-
gebrauch durch alle wie selbstverständlich gebaut.

 Jan-Felix Schrape, Digitale Transformation (Bielefeld: transcript, 2021), 9.


 Dass die allererste öffentliche Präsentation angesichts des damals überhaupt noch nicht
ausgereiften Produkts den Entwicklern angeblich im Vorfeld den Schweiss auf die Stirn trieb, mag
man hier als eine Art Erfinderätiologie ansehen, was das Staunen und Raunen über die Dignität
dieses fast schon religiös inszenierten Geburtsprozesses übrigens mit einer Art Taufliturgie zu
Beginn eher noch verstärkt haben dürfte. Übrigens hat sich in diese erste Inszenierung auch eine
Art Heilsgeschichtsschreibung eingebunden, insofern Steve Jobs sich im ersten Teil seiner Rede
und Visualisierung explizit von der früheren Generation von Handys und nota bene von der
Konkurrenz überhaupt absetzte. Im Übrigen mag es aber Zufall sein, dass die Präsentation selbst
mit etwas mehr als 51 Minuten recht exakt der Länge eines „traditionellen“ Gottesdienstes ent-
sprach. Noch weitergehend könnte man selbst die hier vorgeführte neue Verbindung von bisher
drei getrennten Devices zu einem neuen Gerät – die übrigens ebenfalls eindrücklich bildhaft
vorgeführt wird – fast schon als trinitarisch aufgeladen bezeichnen – oder in diesem Fall viel-
leicht als eine Art digitaler „unio mystica“.
310 Thomas Schlag

4 Dauerhafter Lebensbegleiter im Alltag – zur


Materialität eines Dings von existenzieller
Bedeutung

4.1 Nutzungshinweise

Alltagsbeobachtungen zur Nutzung des Smartphones sind praktisch tagtäglich an


uns selbst und an anderen zu machen. Jeder hat im wahrsten Sinn des Wortes sein
je eigenes Nutzungsverhalten vor Augen und Ohren. Zugleich erschließt jede
Beobachtung öffentlicher Räume sogleich Einblicke in die weitreichende Nut-
zungskultur des Smartphones – die faszinierenderweise inzwischen praktisch
unabhängig von Bildungs- und kulturellem Hintergrund, Milieu und Alter funk-
tioniert.
Die individuelle Nutzung fügt sich zugleich in ein eindrückliches big picture
gegenwärtiger Nutzungszahlen ein: Wir sind inmitten dieser materialen Ge-
brauchs- und Resonanzkultur alles andere als allein: Im Jahr 2020 sind 88 % aller
Bundesbürger*innen und dabei sagenhafte 99 % aller 14- bis 29-Jährigen mit ei-
nem Smartphone ausgestattet.²¹
In seiner „24/7“-Verfügbarkeit stellt es ein ständiges Vademecum und sozu-
sagen eine informationelle Herz-Lungen-Maschine dar. Übrigens gilt diese Ver-
fügbarkeit auch „vice versa“: Die entsprechenden Anbieter greifen etwa alle zwei
Minuten unbeobachtet auf das Smartphone zu, bestimmen Standorte, Nut-
zungsverhalten und Inhaltspriorisierung und perfektionieren algorithmisch die
Bestimmung der jeweiligen Nutzer*innenidentität.²² Paradox gesprochen: Die
Anbieter der Software sind erheblich aktiver als die jeweiligen Smartphone-Nut-
zer*innen selbst. Was Nutzer*innen als „heilig“, „intim“, „erinnerungswert“ oder
„unbedingt zu vergessen“ erscheinen mag, wird längst außerhalb seiner selbst
angesehen und registriert, bewacht und überwacht, gespeichert und für ganz
andere Zwecke benutzt. Dass die Provider mehr über Nutzer*innen wissen, als
diese selbst ahnen oder wissen, ist bekanntermaßen längst keine Zukunftsvision
mehr.

 ARD/ZDF-Forschungskommission, ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation 2020


(online abrufbar unter https://www.ard-zdf-massenkommunikation.de/, Lesedatum: 03.02. 2022).
 Vgl. die Dokumentation des Bayerischen Rundfunks „Euphorie oder Hysterie: die Möglich-
keiten der Digitalisierung“ (online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=
06QeMSP7bPY, Abrufdatum: 01.02. 2022).
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 311

Der im wahrsten Sinn des Wortes entscheidende Fingerzeig ist, dass sich das
Smartphone in seinen Eigenschaften und Nutzungsmöglichkeiten von anderen
technischen Gebrauchsobjekten und deren Be-Nutzung in einer Reihe von „Hin-
sichten“ unterscheidet. Gerade dieses Artefakt wird durch den interaktiven und
resonanten Eigen-Gebrauch in mehrfachem Sinn zum lebensbestimmenden Ding
an sich. Es mag möglicherweise nur ein Zufall sein, dass der Begriff des Eigen-
Gebrauchs normalerweise für Drogenkonsum verwendet wird – wenn er bei der
Verwendung für die digitale Nutzung eigenartig harmloser klingt, so kann auch
dies zu denken geben.

4.2 Materiale Verbindungen und Verwischungen

Als technisches Verbindungsobjekt ist das Smartphone zumindest in Hinsicht auf


seine Hardware einigermaßen leicht beschreibbar. Die materiale Außenhülle und
auch die technischen Einzelteile stellen kein Geheimnis dar. Im Smartphone be-
finden rund 60 verschiedene Rohstoffe.²³ Zugleich besteht es aus einer Reihe von
Komponenten, hier vor allem dem Prozessor und dem jeweiligen Betriebssystem,
das in sich eben nicht alles zum Vorschein bringt, was vorhanden, wirksam und
möglich ist: Durch die Verknüpfung von Hard- und Software mit „habitualisierten
Handlungsroutinen“ entfalten sich aus diesen drei soziotechnischen Kernsyste-
men bestimmte, gesellschaftlich hochwirksame soziotechnische Prozesszusam-
menhänge.²⁴
Angesichts dieser Koevolutionsdynamik von Technik und Gesellschaft steckt
im Smartphone im wahrsten Sinn des Wortes die ganze Welt. Dies bezieht sich
nicht nur auf die prekären globalen Produktionsverhältnisse, sondern eben auch
auf die gesellschaftsgestaltende Kraft dieser soziotechnischen Datenproduktions-
und -nutzungsdynamiken.²⁵
So ist von einer ganzen Reihe von dynamischen und in sich komplexen,
spannungsvollen Gebrauchsmodi und Zuschreibungen auszugehen, die je nach
performativem Gebrauch so oder auch wieder ganz anders – oder im Fall von
algorithmisch Geheimnisvollem eben auch gar nicht – zum Vorschein kommen.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sich in diesem Gebrauch ur-

 Gut ein Viertel des Smartphones besteht aus insgesamt etwa 30 Metallen, wie zum Beispiel
Kupfer, Eisen, Zinn und Metalle der seltenen Erden. Bei rund einem Prozent der insgesamt ver-
bauten Metalle handelt es sich um Gold, Silber, Platin, Palladium, seltene Metalle wie Kobalt,
Gallium, Iridium und Wolfram und Metalle der seltenen Erden, wie zum Beispiel Neodym.
 Vgl. J.-F. Schrape, Digitale Transformation, 24 f.
 Ebd., 47.
312 Thomas Schlag

menschliche Orientierungspraktiken sich selbst und der Welt gegenüber zeigen.


Das Smartphone, auch wenn es liegt oder man mit ihm geht, steht für weit mehr
als nur das, was man zu sehen und zu verstehen glaubt. Seine Aufgeladenheit und
Resonanzmacht erweist sich weder an der Höhe der Batterieladung noch an der
Anzahl von Empfangssignalbalken und -bögen.
Insofern macht die klassische binäre Unterscheidung zwischen Materialität
und Virtualität, Sakralem und Profanem, Oberflächlichkeit und Tiefgang, Sub-
stantiierung und Fetischierung²⁶, Stabilität und Flüchtigkeit²⁷, Seele oder See-
lenlosigkeit in Hinsicht auf das Smartphone schon deshalb keinen Sinn, weil in
den Augen der Betrachtenden als Benutzende und der Benutzenden als Be-
trachtende sehr unterschiedliche Zuschreibungen geschehen. Im Phänomen des
Smartphones verwischen sich die Grenzen zwischen Mensch und Ding, „weil die
typisch moderne Trennung zwischen stummen Objekten und intentional han-
delnden Subjekten nicht länger funktioniert.“²⁸
In radikalem Sinn ist die digitale tabula, auf der man fingerflink hin- und
herwischt, nicht einfach Materie, sondern „Bedingungsmöglichkeit des Gedan-
kens“. Gegen einen problematischen Dualismus gesagt, schließt die „Vorstellung
des Geistes als einer Schreibtafel, einer Tabula … die Materie nicht aus und stellt
das Geistige sogar als ein Resultat der Spuren und Veränderungen der Materie
dar.“²⁹

4.3 Verflüssigung der Subjekt-Objekt-Relation

Natürlich gilt für alle technischen Produkte, dass sie erst durch ihre aktive Be-
nutzung ihre Funktion überhaupt erfüllen können. Dennoch liegt beim Smart-
phone nochmals ein besonderer Fall dessen vor, wie dieses Ding handgreiflich
und interaktiv zum Sprechen gebracht wird. Seine eigentliche Bedeutung erlangt
es somit nicht im Modus einer Subjekt-Objekt-Relation, sondern durch eine In-
teraktion, in der gleichsam von beiden Seiten – also vom Produkt wie vom Be-
nutzenden aus – Interaktion und Resonanz initiiert wird.
Der Sinn seiner Verwendung liegt somit nicht darin, dass das Smartphone für
sich einen Sinn hat, sondern aus Sicht der Benutzenden einen Sinn macht – und
übrigens auch aus der Sicht der Technologiekonzerne, wobei hier der Sinn ein

 Vgl. den Beitrag von Silke Leonhard im Band.


 Vgl. den Beitrag von Jakob Kühn in diesem Band.
 S. Altmeyer, Ist das alles, 33.
 Maurizio Ferraris, Die Seele – ein iPad? (Basel: Schwabe Verlag, 2014), 59.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 313

gänzlich anderer ist.³⁰ Dieser Gebrauchs-Sinn liegt in einer intensiven Mi-


schungsdynamik von Empfangen und Weitergeben, Consuming und Producing
(von daher die Rede vom „Prosuming“), Sehen und Gesehen-Werden, Suchbe-
wegung und Findungserfahrung.
So sind es gerade nicht die Oberflächen-, sondern quasi die Unterflächenei-
genschaften, die das materiale Rohprodukt überhaupt erst zum Leben erwecken.
Und dies gilt sowohl für die Unterfläche des Smartphones selbst, also seine
„verborgenen softwarebezogenen Eigenschaften“, wie auch – metaphorisch ge-
sprochen – für die Unterfläche der Benutzer*in. Dies soll heißen: Nur weil es
unterhalb der Oberfläche von Netzhaut und Daumenhaut ein interagierendes
menschliches Ich gibt, kann überhaupt von zwei Seiten her Interaktion und Re-
sonanz stattfinden.
Dieses Ding wird am Körper getragen, angeschaut, in die Hand genommen
und – vermeintlich eigenständig – für je eigene lebensrelevante Alltagsbegleitung
in Dauergebrauch genommen. Von dieser Ursprungslogik aus kommt dann Be-
wegung in dieses Nutzungs-Geschehen. So kann das Smartphone durch konkrete
Signale, Geräusche und Symbole nur deshalb Reflexe, Reaktionen erzeugen, weil
es etwas am Menschen anspricht, was über einen reinen Reiz-Reaktions-Mecha-
nismus hinausgeht. „Sinnvoll“ ist diese Interaktion insofern, weil sie den Men-
schen mit fast allen Sinnen gleichzeitig anspricht: Tast-, Hör-, und Sehsinn. Sogar
bis zum Geruchs- und Geschmackssinn dürfte es im Einzelfall auch nicht mehr
weit sein – zumindest werden die entsprechenden Reflexe schon jetzt im Rahmen
der technischen Möglichkeiten durchaus gesetzt, wie Versuche mit dem soge-
nannten „Ophone“ zeigen.³¹

4.4 Kurzlebigkeit der Materie – Langlebigkeit der Inhalte:


Oberflächenhardware und Unterflächensoftware
Die Emotion der Nutzung hängt paradoxerweise nicht an diesem Ding als Objekt
selbst. Dieses ist bekannterweise beliebig austauschbar, weil die entscheidenden
Informationen durch die entsprechende Software einfach in eine neuere Version
übertragen werden können oder ohnehin auf einer externen Cloud liegen. Das
Produkt selbst ist nicht unverwechselbar, sondern technisch standardisiert und

 Vgl. Shoshana Zuboff, The age of surveillance capitalism: The fight for the future at the new
frontier of power (London: Profile Books, 2019).
 Vgl. https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article137177999/Wenn-die-SMS-nach-Braten-
duftet.html, Lesedatum: 30.01. 2022; vgl. https://www.newyorker.com/tech/annals-of-technolo
gy/is-digital-smell-doomed, Lesedatum: 30.01. 2022.
314 Thomas Schlag

wiederum ökonomisch gewollt von programmatischer Kurzlebigkeit. Insofern


mag es auch nicht verwundern, dass Nutzer*innen ihrem Smartphone in der Regel
keinen Namen geben, sondern es bestenfalls in eine „individuelle“ Hülle einpa-
cken. Die Typenbezeichnung ist dementsprechend nicht mehr als ein Ausdruck
für die jeweils aktuelle Version. Im Unterschied zu einem Auto oder Segelschiff
scheinen sich die Nutzer*innen dem Unterschied zwischen dem technischen
Produkt und dem, was in ihm steckt, sehr bewusst zu sein. Eine Namensgebung
würde diesem spezifischen Mischungsverhältnis aus Materialitätsoberfläche und
Identitätsunterfläche gar nicht gerecht werden können.
Die eigentlichen langlebigen Dinge spielen sich somit im Hintergrund und im
Nicht-Sichtbaren ab. Denn gerade durch seine technisch ermöglichte, indivi-
dualisierte Unterflächen-DNA bietet dieses Ding ganz smart den materialen Raum
für unverwechselbare Inhalte, wie je eigenen App-Katalog, individuelle Nut-
zungsprofile und dies in enger Verbindung mit den ebenfalls programmatisch
unsichtbaren Algorithmen.

4.5 Nutzungsdynamiken: Bildhafte Emotions- und


Resonanzerzeugung
Die Macht der Bilder und die Bildmacht³² sind im Smartphone unverkennbar auf
das Engste miteinander verbunden – das dramatische Bataclan-Beispiel hat dies
bereits vor Augen geführt. Die Sichtbarkeit liegt dabei auf einer doppelten Ebene:
Zum einen ist es die Sichtbarkeit der Materie des technischen Dings selbst, zum
anderen die Sichtbarkeit, mit der einem bestimmte Inhalte gezeigt, vielleicht ja
auch vorgespielt und vorgespiegelt werden und damit selbst zum Spiegel der
Seele werden können.³³
Dabei nähert man sich schon technisch gesprochen über Icons an die je-
weiligen Inhalte an: Das Bild steht als gewisse Sichtbarkeits-Wand bzw. als eine
Art visueller Gatekeeper vor den dahinter möglicherweise zu entdeckenden
Textwelten.
Die hybride Verbindung von Materialität und digitaler Ikonographie lässt sich
übergreifend durch Bezugnahme auf den Resonanzbegriff näher in Augenschein

 Dazu jetzt in aufschlussreicher und tiefgreifender theologischer Deutung Dietrich Korsch,


„Rechnen und Verstehen: Anfänge zur Kritik der digitalen Vernunft“, in Eindeutigkeit und Am-
bivalenzen: Theologie und Digitalisierungsdiskurs, hg.v. Ralph Charbonnier, Jörg Dierken und
Malte Dominik Krüger (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2021), 195 – 293, v. a. zur Dialektik der
Bilder 246 – 264.
 Vgl. M. Ferraris, Seele.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 315

nehmen. Resonanz so verstanden, dass sie eine bestimmte Art und Weise und
Manifestation der Welt- und Wirklichkeitsbeziehung des Menschen in seiner Re-
lationalität zum Ausdruck und Vorschein bringt.
Mit anderen Worten: Das Smartphone ermöglicht in seinem eigenen An-
spruch auf Ganzheitlichkeit eine Reihe von urmenschlichen Emotionen, die ih-
rerseits mit der spezifischen Materialität des Dings, den Erfahrungen gelingender
Interaktion und Resonanz sowie den davon ausgehenden Bedeutungszuschrei-
bungen zu tun haben:
Zuerst einmal vermittelt schon der „souveräne“ Gebrauch die Erfahrung von
Autonomie und Selbstwirksamkeit und erzeugt damit eine positive Resonanz sich
selbst gegenüber. Dies verbindet sich durch den kreativen Eigengebrauch mit der
Erfahrung des Smartphones als eines häufig primär bildhaften Narrationsmedi-
ums, d. h. es wird als Medium der Selbst-Darstellung, des Bekenntnisses und oft
auch der intimen Beichte genutzt und erlebt.
Eine solche Performanzerfahrung macht das Ding selbst zum je für den Ein-
zelnen bedeutsamen und lebensrelevanten Resonanzding. Man könnte durchaus
sagen, dass das Smartphone im positiven Fall als emotionaler Ort der anschauli-
chen Gewisswerdung von unbedingter und dauerhafter Zuwendung erfahren wird.³⁴
Damit verbunden und darüber hinaus gehend ist der berührende Gebrauch –
im Doppelsinn des Wortes – ein ganzheitliches körperliches Phänomen (aus
Augen- und Daumenhandlung),³⁵ das ebenfalls eine produktive und resonanz-
steigernde Dynamik aus sich heraus entbindet. Damit geschieht nicht weniger als
eine durch das Artefakt seinerseits erzeugte Sichtbarwerdung der eigenen Wirk-
lichkeit und Weltschöpfungsmacht.
Diese Interaktion mit sich selbst verbindet sich mit der Interaktion nach au-
ßen, insofern das Smartphone in seiner material-geistigen Bedeutung Kontakt-
aufnahme und Kommunikation ermöglicht und eine Art Erfüllungsresonanz von
Verbundenheitssehnsucht liefert. Die technische Möglichkeit von bildhafter An-

 Für positive Interaktionserlebnisse mit digitalen Technologien wird von psychologischer Seite
her auf den klaren Zusammenhang zwischen grundlegenden Bedürfnissen nach Autonomie,
Kompetenz und Verbundenheit sowie positiven Emotionen hingewiesen, vgl. etwa die For-
schungsarbeiten von Marc Hassenzahl (Universität Siegen) oder Jörn Hurtienne (Universität
Würzburg).
 Offensichtlich kann aufgrund exzessiven Smartphone-Gebrauchs am Daumen sogar das so-
genannte Repetitive-Strain-Injury-Syndrom auftreten, weil dieser anatomisch gesehen nur zum
Gegenhalten für die anderen Finger ausgelegt sei, nicht aber für feinmotorisches Tippen auf der
Smartphone-Oberfläche!, vgl. Lina Timm, „Du böses Handy!“, FAZ vom 07.02. 2014 (online ab-
rufbar unter https://www.faz.net/aktuell/stil/leib-seele/smartphones-und-gesundheitsschae
den-du-boeses-handy-12784725/wie-entsteht-das-12789052.html, Lesedatum: 11.11. 2021).
316 Thomas Schlag

schaulichkeit und bildhaftem Angesehen-werden steigert diese Resonanzerfahrung


mit dem Anderen noch weiter.
Die emotionale und identitätsstiftende Erfahrung des Erkennens und
Erkanntwerdens – wenn auch oft nur im sehr profanen Sinn eines selfie-gesteu-
erten bella figura-Aufmerksamkeitserregung – ist ebenfalls ein wesentliches at-
traktives Moment des resonanten Smartphonegebrauchs nach außen.
Im wahrsten Sinn noch weiterreichend eröffnet sich durch das signalhafte
Teilen persönlicher Sehnsüchte die Dimension von digitalen Plattformen, auf
denen Privatheit und Öffentlichkeit eine geradezu leibhafte Verbindung mitein-
ander eingehen. In der individuellen, aktiven und passiven Teilhabe an solchen
Plattformen können Resonanzen ein Verbundenheits- und Gemeinschaftsgefühl
erzeugen, durch das sich der Einzelne eingebunden und anerkannt findet.
Schließlich ermöglichen die permanente Anwesenheit und Verfügbarkeit des
Artefakts eine positive Resonanz des Benutzenden mit sich selbst. Durch be-
stimmte visuelle und akustische Trigger – etwa Likes als Zeichen oder bestimmte
individualisierte Nachrichtentöne – findet zwischen der digitalen tabula und dem
individuellen Sehnsuchtssinn permanente Resonanzerzeugung statt – und übri-
gens bei ausbleibenden Signalen auch heftige Gefühle dauerhafter Enttäuschung
bis hin zu körperlich manifesten Entzugserfahrungen.
H. Rosa beschreibt vor dem Hintergrund seiner Charakterisierung von digi-
talen Medien als „Resonanzachsen“ diese emotionsgeladene Dynamik: „So ist es
kein Wunder, dass wir bei jedem Vibrieren des Smartphones in der Tasche zu-
sammenzucken, denn jede eingehende Nachricht stellt eine ‚Weltanrufung‘
dar.“³⁶ Zugleich verweist er plausibel auf die geringe Nachhaltigkeit dieser Signale
hin, die „umgekehrt proportional zur wachsenden Menge der Resonanzsignale“
zu schrumpfen scheinen und dementsprechend „zu einem suchtförmigen, stei-
gerungsorientierten Verhalten“³⁷ führen. Das Smartphone verweist in gewisser
Hinsicht immer wieder auch auf sich selbst als zur Verfügung stehendes Ding
zurück und zeigt damit gleichsam dauerhafte Resonanzreferentialität. ³⁸
Auch wenn das Smartphone bisher fraglos – bisher jedenfalls! – über kein
eigenes Bewusstsein verfügt, ist es doch Resonanzcontainer für das je individuelle
Nutzer*innenbewusstsein. Denn diese Materialität kann eine Art von Bewusst-
seinsresonanz erzeugen bzw. „streuen“ und aus sich entlassen. Der physikalische

 Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung (Berlin: Suhrkamp, 2016), 159.
 Ebd., 159.
 Dies knüpft an die dreifache Näherbestimmung der Formen der Digitalität, nämlich „Refe-
renzialität“, „Algorithmizität“ und „Gemeinschaftlichkeit“, vgl. F. Stalder, Kultur der Digitalität,
96 – 128.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 317

Begriff von strahlungsbezogener Reichweitenerzeugung dürfte tatsächlich sowohl


für das Artefakt wie seine Bedeutungszuschreibungen erheblichen Sinn machen.

4.6 Alltagsgebrauch als ritueller Zeichen-Gebrauch

Man kann die beschriebene Interaktions- und Resonanzdynamiken durchaus


auch ritualtheoretisch durchspielen. Denn aufgrund seiner Dauerpräsenz bzw.
Dauerverfügbarkeit ist das Smartphone für viele Nutze*innen zum festen rituellen
Bestandteil eigener hoch getakteter Zeichen- und Zeigepraxis geworden. Mögli-
cherweise hat man es sogar mit einer nochmals viel intensiver getakteten rituellen
Praxis zu tun, denn erwiesenermaßen wird mehrere hundert Male am Tag auf das
Smartphone geblickt oder gehört.³⁹
Dieses digital induzierte Dauerritual besteht insofern in der punktuell-per-
manenten Selbstvergewisserung der eigenen Kontaktmöglichkeiten oder sogar
der Vergewisserung, noch am Leben zu sein. Was früher einmal das Tagesbrevier
gewesen sein mag, nimmt jedenfalls nun eine neue materielle Gestalt an. Durch
immer eindringlichere Algorithmentrigger ist jedenfalls der ritualisierten Dauer-
prägung und Indoktrination Tür und Tor geöffnet. Ein Abstandnehmen ist kör-
perlich, emotional und auch sozial ein höchst schwieriges Unterfangen. Deshalb
gilt es übrigens unbedingt zu vermeiden, dass der Ritus unterbrochen oder die
Ritualteilnahme verunmöglicht wird: Dass dieses Ding keine Energie mehr hat, ist
unbedingt zu vermeiden und der Verlust des Smartphones verbindet sich nach-
weislich mit handfesten Entzugserscheinungen.

4.7 Der fremde Blick

„Es“ – also das Artefakt selbst – will als repräsentiertes und repräsentierendes
„Ich“ natürlich auch gefüttert werden. Insofern ist es ein höchst gefräßiges Ding,
das den einzelnen Nutzenden im Blick auf dessen Aufmerksamkeitsressourcen
unbarmherzig verschlingen kann. Im Sinn schwarzer Technikpädagogik könnte

 Eine nachdenkenswerte kriteriologisch-kritische Bestimmung für die Unterscheidung zwi-


schen klassisch-gemeinschaftlichen und digitalen Ritualen lautet: „Die Kommunikation ohne
Gemeinschaft lässt sich beschleunigen, denn sie ist additiv. Rituale sind dagegen narrative [kursiv
hier und folgenden B.-C. H.] Vorgänge, die keine Beschleunigung zulassen. Symbole stehen still.
Informationen hingegen nicht. Sie sind, indem sie zirkulieren. Die Stille bedeutet nur Stillstand
der Kommunikation. Sie produziert nichts.“, Byung-Chul Han, Vom Verschwinden der Rituale:
Eine Topologie der Gegenwart (Berlin: Ullstein, 42019), 22.
318 Thomas Schlag

man sagen: Wer nicht folgt, dem wird die Resonanz entzogen, wer in die falsche
Richtung schaut, dem droht Entfremdung. Entsprechende Ausschließungsdro-
hungen und Suchtphänomene sind auch jenseits ihrer populären und allzu ein-
gängigen Dramatisierung⁴⁰ nicht zu bezweifeln.
Resonanztheoretisch gesehen ist es natürlich ebenso bedenkenswert wie
bedenklich, dass eine „smartphonefixierte Kultur des gesenkten Blicks [kursiv,
H.R.], die auch im Sozialraum Augenkontakte durch Bildschirmbeziehungen er-
setzt, per se ein Entfremdungspotential birgt“.⁴¹ Zu ergänzen wäre hier, dass diese
Entfremdungsdynamiken wohl nicht nur im Blick – bzw. Nichtblick – auf die
Außenwelt und Weltbeziehungen als Weltverlust, sondern auch hin-sichtlich der
je eigenen Person und deren Selbstbeziehung als Selbstverlust auswirkungsreich
sind.⁴²
Dass sich schon die Entwicklung und nun auch der stetige weitere Ausbau der
Smartphonetechnologien mit handfesten kommerziellen und nicht zuletzt mili-
tärischen Interessen verbindet, kann nicht deutlich genug betont werden. In be-
wusster Analogiebildung über die Zeiten hinweg ist in ideologiekritischer Hin-
sicht von digitaler „Aufzeichnung, [totalen] Mobilmachung und
Standardisierung“ als den „Soldatengesichter[n] des Internets“⁴³ die Rede. Die
ganzheitliche und handfeste Gebrauchslogik des Smartphone setzt immer auch
die handfeste Kritik in ihr gutes Recht.

5 Theologische Reflexionen
Zu Anfang wurde gefragt, weshalb man sich praktisch-theologisch mit der Per-
formanz und Resonanz dieses „smarten“ Dings beschäftigen sollte. Zu Recht wird
konstatiert: „Digitale Kultur ist religionsproduktiv und fordert theologische Kri-
teriologien heraus.“⁴⁴ Nach den bisherigen Ausführungen ist festzuhalten, dass
das grundsätzliche Ziel der theologischen Beschäftigung mit den digitalen Dy-
namiken nicht darin bestehen kann, im Sinn einer „Reinigungsarbeit der Mo-
derne“ Menschliches vom Nicht-Menschlichen säuberlich zu trennen.⁴⁵ Ohnehin

 Vgl. etwa Manfred Spitzer, Die Smartphone-Epidemie: Gefahren für Gesundheit, Bildung und
Gesellschaft (Stuttgart: Klett-Cotta, 2019).
 H. Rosa, Resonanz, 311 f.
 Vgl. ebd., 716.
 M. Ferraris, Seele, 85.
 Michael Schüßler, „Latours hybride Schöpfung: Transformationen einer Theologie der Digi-
talität“, in Gott, Gaia und eine neue Gesellschaft, hg.v. D. Bogner, M. Schüßler und Chr. Bauer, 172.
 Vgl. ebd., 178.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 319

sind ideologische Positionalisierungen zwischen „analog“ und „digital“ von


theologischer Seite aus oder gar Anmaßungen ultimativer Sinndeutungen zu
vermeiden.⁴⁶
So legt sich von der erfolgten Charakterisierung des Smartphones, seiner
Oberflächen-Unterflächen-Logik und den davon ausgehenden lebensrelevanten
Interaktions- und Resonanzdynamiken aus eine differenziertere theologische
Reflexion unmittelbar nahe.
Dass sich die hier interaktiv und resonanzstark erzeugten emotionalen Er-
fahrungen durch das sozusagen „profane Artefakt“ von den Orientierungsfunk-
tionen explizit religiöser Artefakte eher wenig unterscheiden, sollte zumindest
thesenhaft zum Ausdruck gebracht werden.⁴⁷ Bei aller Vorsicht vor allzu
schnellen und platten Analogien: In gewissem Sinn können diese Nutzungslo-
giken als eine Art selbst produzierter Offenbarungserfahrungen im Spiegel eige-
ner produktiver Existenzfragen gedeutet werden.
Um nochmals den Grundgedanken performativer Resonanzerzeugung auf-
zunehmen: Man sollte dieses technische Medium nicht als gottähnlich ansehen,
aber offenbar erfüllt es bestimmte emotionale Funktionen, die sich vielleicht als
Facetten dessen, was einen unbedingt angeht, interpretieren lassen. Dass damit
das Verständnis von Offenbarung und Erfahrung überhaupt auf den Prüfstand
kommt, sei hier zumindest angedeutet.
Man könnte sogar noch weitergehen, und fragen, ob man es hier eigentlich
wirklich „nur noch“ mit einer technischen Maschine zu tun hat, wenn man dieser
aufgrund ihrer sichtbaren Anwesenheit doch offenbar „Tag und Nacht“ vertrauen
kann. Jedenfalls repräsentiert sich in diesen aufgezeigten Performanz-, Interak-
tions- und Resonsanzdynamiken durchaus so etwas wie anwesende Abwesenheit,
Allgegenwart, Allwissenheit im Sinn gottähnlicher Ubiquität. Dies ist übrigens
nicht nur eine theologische Interpretationsmöglichkeit. Sondern eine solche Be-
stimmung ist auch auf Seiten der Erschaffer durchaus gewollt, was die Notwen-
digkeit einer seriösen theologischen Deutung umso wesentlicher macht.
Tatsächlich stellt sich hier die Frage nach der theologischen Deutung der
beanspruchten Schöpfungskraft der Entwickler und deren Interesse an ubiqui-
tärer Positionierungsstrategie. Dass die führenden Technikunternehmen und ihre
Protagonisten längst selbst in die Rolle von alternativen neuen Religionen und

 Vgl. R. Charbonnier, J. Dierken und M. Dominik Krüger, Eindeutigkeit und Ambivalenzen.


 Grundsätzlich nochmals zur „beiläufigen Bedeutung“ mancher Dinge, die in diesem Beitrag –
auch wenn es nicht klein, unscheinbar und vergessen ist – auch für das Smartphone angenom-
men wird: „Indem diese Dinge tief im Alltag einbettet sind und ihre Bedeutung oftmals nur im-
plizit auftritt, können sie durch subjektive oder objektive Prozesse mehr als andere Objekte die
Verflechtung von Religion und Alltag ausdrücken.“, H.P. Hahn, Materialität, 24.
320 Thomas Schlag

Religionsstiftern getreten sind, ist kein Geheimnis mehr. Vielleicht tun sie dies
nicht in dem Sinn, bewusst in die traditionelle Rolle von göttlichen Schöp-
fungsinstanzen eintreten zu wollen. Aber offenkundig ist, dass von technologi-
scher Seite die Hoffnungen auf manifeste Gotteserfahrung auf ihre eigene Art und
Weise zur materialen Anschaulichkeit gebracht werden bzw. durch diese techni-
schen Möglichkeiten eine Art von verfügbarem Verlässlichkeitsraum bereitgestellt
wird. Von hier aus lassen sich konkrete praktisch-theologische Erdungen und
Möglichkeitsräume zumindest exemplarisch für den Bereich religionsdidakti-
scher Herausforderungen aufzeigen.⁴⁸

6 Religionsdidaktische Folgeüberlegungen
Soll und kann man in Bildungsprozessen für diese Bedeutung und den Gebrauch
dieses technischen Artefakts überhaupt sensibilisieren oder ist man hier nicht
übergriffig im Sinn einer Kolonisierung jugendlicher Lebenswelten? Wenn reli-
giöse Bildung in einer Kultur der Digitalität den Anspruch auf kritische Medien-
und Selbstbildung hat, fällt die Antwort einigermaßen klar aus. Digitale Kom-
munikationsformen sind fraglos legitime Formen der je individuellen Glaubens-
äußerung und -kommunikation.⁴⁹ Zur weiteren didaktischen Konkretisierung ist
hier an die Unterscheidung zwischen einem ethischen Lernen mit digitalen Me-
dien und einem ethischen Lernen über digitale Medien bzw. prinzipiell über Di-

 Der Verfasser enthält sich des überaus reizvollen Versuchs, den Einsatz des Smartphones als
Möglichkeit des gottesdienstlich-liturgischen Geschehens durchzubuchstabieren. Die Möglich-
keiten der Resonanzerzeugung über die bisherigen Grenzen hinweg sind für alle kirchliche Ver-
kündigungspraxis eigentlich sensationell. Dann wäre aber angesichts der pandemisch bedingten
Transformationen gottesdienstlicher Praxis etwa zu fragen, wie sich das ohnehin schon höchst
strittige digitale Abendmahl darstellen würde, wenn man sich dessen liturgischen Vollzug per
Smartphone und die entsprechende Kreuzung unterschiedlichster Materialitätsdimensionen
vorstellte.Was würde etwa geschehen, wenn man die Abendmahlsinszenierung sozusagen digital
in der Hosentasche zum freien Gebrauch bei sich trüge? Es käme einmal auf den Versuch an, mit
allen notwendigen Utensilien per Smartphone in einer vollbesetzten S-Bahn an einem digitalen
Abendmahl zu partizipieren oder dieses gar zu inszenieren. Würden dann die anderen Fahrgäste
durch den hör- und sichtbaren Vollzug des liturgischen Akts zur Gottesdienstgemeinde, auch
ganz ohne ausgesprochene Einladung zur Teilnahme, und was würde materialiter wirksam?
 Vgl. Ilona Nord, Realitäten des Glaubens: Zur virtuellen Dimension christlicher Religiosität
(Berlin: de Gruyter, 2008); vgl. in religionspädagogischer Perspektive Thomas Schlag und Ilona
Nord, Art. „Religion, digitale“, in Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im In-
ternet (online abrufbar unter https://www.bibelwissenschaft.de/fileadmin/buh_bibelmodul/me
dia/wirelex/pdf/Religion_digitale__2021-02-03_12_26.pdf, Lesedatum: 05.01. 2022).
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 321

gitalisierungsprozesse insgesamt sowie dem ethischen Lernen in einer postdigital


era zu erinnern.⁵⁰
Dann ist aber auch klar, dass eine subjektorientierte und existenziell le-
bensrelevante Bildung nicht beim Kompetenzerwerb hinsichtlich des Gebrauchs
digitaler Medien verweilen kann. Im konkreten Fall ist die oben angesprochene
Vielfalt und material-geistige Ambivalenz des Smartphones als Ausdruck digitaler
Lebenswelten auch wirklich zur Sprache zu bringen.
Hilfreich sind dafür analytische Zugänge zum Smartphonegebrauch, die die
ambivalenten Dynamiken, Nutzungen und Wirkungen digitaler Transformation in
Begriffspaare wie „Ermöglichung und Kanalisierung“, „Flexibilisierung und
Kontrolle“, „Öffnung und Schließung“ sowie „Dezentralisierung und Zentrali-
sierung“ näher zu fassen versuchen.⁵¹
Vor dem Hintergrund der religiösen bzw. theologisch deutbaren „Sinndi-
mension“ des Smartphones gilt es dann, vorsichtig mit einer Art Generalkritik zu
sein, dass dieses per se auf jeden Fall abhängig machen wird – zugleich ist nicht
auszuschließen, dass es dies könnte. Denn weil dieses Artefakt kein Objekt im
äußerlich-äußeren Sinn ist, wäre eine solche Kritik gleichbedeutend mit dem
Vorwurf, dass man doch bitteschön nicht abhängig von sich selbst sein solle, was
logischerweise absurd wäre.
Insofern gilt nach wie vor, was Thomas Klie „einst“ in Hinsicht auf die Ver-
heißungen der Werbekultur und des damaligen kommenden Telekom-Bildtele-
fons (!!) formuliert hat: „Zur Erschließung religiöser Deutekompetenzen und
Vergewisserungen bedarf es heute einer Religionsdidaktik, in der Religion primär
in Bezug auf die sich durch sie vollziehende Identitätszuschreibung hin thema-
tisch wird“. Dazu bietet er materialiter gleich selbst eine Näherbestimmung dieses
Erkenntnisvollzugs an, wenn er fortsetzt: „Die evangelische Religion bekennt im
Glauben an die Verheißung der leistungslosen Annahme des Gottlösen (Rö 4,5)
diese Identitätszuschreibung.“⁵² Interessanterweise wird dies von ihm vor dem

 Vgl. Ilona Nord, „Ethisches Lernen im digitalisierten Raum“, in Handbuch ethische Bildung:
Religionspädagogische Fokussierungen, hg.v. Konstantin Lindner und Mirjam Zimmermann (Tü-
bingen: Mohr Siebeck, 2021), 354– 360; erstaunlicherweise kommt diese medienkritische Per-
spektive oder auch nur die Sensibilisierung für die Bedeutung und Benutzung des Smartphones in
den jüngsten, ansonsten elaborierten didaktischen Überlegungen zur Thematik – abgesehen von
einigen eher allgemeinen Bemerkungen (29 – 32) – nur sehr am Rande zu Sprache; vgl. Andrea
Dietzsch und Stefanie Pfister, Digitaler Religionsunterricht: Fachdidaktische Perspektiven und
Impulse (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021).
 Vgl. J.-F. Schrape, Digitale Transformation, zusammenfassend 202– 205.
 Thomas Klie: „‘Sie werden sehen.‘ Eine didaktische Miszelle zum Berufsschul-Religionsun-
terricht“, in Spiegelflächen: Phänomenologie – Religionspädagogik – Werbung, hg.v. dems.
(Münster u. a.: Lit, 1999), 244.
322 Thomas Schlag

Hintergrund der These entfaltet, dass Religion in „Resonanzen … eine wahr-


nehmbare und kommunizierbare Gestalt bekommt und sich so selbst erschließen
und entdecken läßt.“⁵³
Von einer solchen verheißungssstarken Ambivalenzthematisierung aus las-
sen sich in medienkritischer Hinsicht einzelne Phänomene näher zum Thema
machen. Dies umfasst die Sensibilisierung für entstehende Identitätsmöglich-
keiten und -zwänge⁵⁴, für Freiheitsgewinn und Entmündigungsabsichten, pro-
duktive Aufmerksamkeitserzeugung und oberflächliche Aufmerksamkeitserre-
gung. Zudem ist zu thematisieren, dass eine durch das Smartphone „gefühlte“
Optionenvermehrung und Reichweitenvergrößerung, wenn sie als verabsolutierte
„Haltung des Verfügens und Beherrschens“ auftritt, letztlich die Möglichkeit
untergraben könnte, überhaupt noch „Dinge zum Sprechen zu bringen.“⁵⁵
Und um an das anfangs gewählte Bataclan-Beispiel anzuschließen: Es könnte
ja durchaus sein, dass gerade diese Formen global-universaler Echtzeitkommu-
nikation in neuer Weise die Bildung von Empathie und Solidarität befördern:
„Social media … offers the possibility not just of information about, but of a re-
lationship with, those distant to us. Digital media hast he potential, at least, to
create new kinds of communities separated by huge distances. Thus, its mediation
of distant suffering is perhaps qualitatively different from what has gone be-
fore.“⁵⁶
Letztlich geht es damit um eine aufklärend-orientierende religiöse Bildung
überhaupt.⁵⁷ Insofern ist die folgende Einsicht für eine sinnvolle theologisch-re-
ligionsdidaktische Annäherung hilfreich: „Weder ist der Mensch der Natur und
den von ihm geschaffenen Technologien (als das ganz Andere) völlig ausgeliefert,
noch ist er umgekehrt mit jenen Fähigkeiten ausgestattet, welche die christliche
Tradition Gott zuschreibt.“⁵⁸ Es erscheint übrigens so erstaunlich wie hoff-
nungsvoll, dass man diese Sensibilität für eine „andere“ theologische Wirklich-
keitsbeschreibung nicht zuletzt bei manchen Digitalexpert*innen selbst findet.⁵⁹

 Ebd., 247 f.
 Vgl. Tanja Gojny, Kathrin S. Kürzinger und Susanne Schwarz (Hg.), Selfie – I like it: Anthro-
pologische und ethische Implikationen digitaler Selbstinszenierung (Stuttgart: Kohlhammer, 2016).
 H. Rosa, Resonanz, 430.
 Jolyon Mitchell and Joshua Rey, „Religion, Evolving Media, and Distant Suffering“, in Reli-
gion: Material Religion, hg.v. Diane Apostolos-Cappadona (Farmington Hills: Gale, 2016), 164.
 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Evangelischer Religionsunterricht in der digitalen Welt: Ein
Orientierungsrahmen (Hannover: Gütersloher Verlag, 2022).
 Schüßler, Latours hybride Schöpfung, 183.
 Luc Cachelin, Internetgott: Die Religion des Silicon Valley (Bern: Stämpfli Verlag, 2017) und in
Romanform Willemijn Dicke und Dirk Helbing, iGod (CreateSpace Independent Publishing Plat-
form, 2017).
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 323

Die von dort her aufgeworfenen zentralen Fragen „What does a humane future
look like?“ und „How can we support those working to catalyze change?“⁶⁰ sowie
die damit verbundenen konstruktiven Überlegungen sind auch für die theologi-
sche Reflexionsarbeit eine inspiratorische Quelle.
Eine solche kritisch-theologische Betrachtung material-geistiger Hybridität
bleibt im Rahmen religiöser Bildungsprozesse ein riskanter Grenzgang, der mit
immer neuen Abwägungen verbunden ist und sich weder eindeutig auf die Seite
von Technikeuphorie noch die der Technikverdammung schlagen sollte. Aber
gerade dann stellt sich – nicht zuletzt im Zusammenhang medienethischer Re-
flexion⁶¹ – die kritische theologisch induzierte Frage, was den Menschen inmitten
der Möglichkeiten medialer Performanz als Beziehungswesen eigentlich aus-
macht.
Wenn ein technisch erzeugtes Ding alle wesentlichen Sinne in Bewegung
bringt, braucht es dann das „reale“ fleischgewordene Gegenüber überhaupt
noch? Oder sind wir uns, technisch angetrieben, irgendwann selbst genug? Die
Möglichkeit der VR-Brillen und die Vision vom Metaversum deutet darauf hin,
dass uns schon bald ganz eigene Möglichkeitsräume zur Verfügung stehen. Dann
stellt sich aber umso mehr die Frage danach, wie theologisch eine Schöpfungs-
wirklichkeit und Vision von gegenwärtiger und zukünftiger Wirklichkeit be-
schrieben werden kann, die den Menschen nicht auf Dateninformationen redu-
ziert oder „am Ende der Zeiten“ in Datenspuren aufgehen lässt. Auf der anderen
Seite macht die Einsicht Hoffnung, dass eine VR-Realität bisher jedenfalls nur
deshalb so echt wirken kann, weil wir zuvor echte Erfahrungen gemacht haben.⁶²

 Beispielsweise sind die Aktivitäten des Center for Humane Technology (CHT), das die hier
aufgeführten Fragen aufgeworfen hat, überaus inspirierend, noch zumal sich dessen Engagement
auch in technologischer Hinsicht auf den „state of the art“ bezieht, vgl. https://www.humanetech.
com/, Lesedatum: 12.01. 2022; aus der Fülle der digitaltechnisch kompetenten Reflexionen sei nur
verwiesen auf Dirk Helbing (Hg.), Towards Digital Enlightenment: Essays on the Dark and Light
Sides of the Digital Revolution (Cham: Springer, 2019) sowie mit Verweis auf die demokratischen
Herausforderungen das auch von diesem mitverfasste sogenannte Digitale Manifest (online ab-
rufbar unter https://www.allmytraveltips.ch/?tag=digitales-manifest-der-neun-wissenschaftler-
dirk-helbing, Lesedatum: 11.02. 2022); zur weiteren Einordnung vgl. Carsten Könneker (Hg.), Un-
sere digitale Zukunft: In welcher Welt wollen wir leben? (Berlin/Heidelberg: Springer, 2017) sowie
Adrienne Fichter (Hg.), Smartphone-Demokratie: #fakenews #facebook #bots #populismus #weibo
#civictech (Zürich: NZZ libro, 2017).
 Vgl. Susanna Endres und Alexander Filipović, „Medienethik“, in Handbuch ethische Bildung:
Religionspädagogische Fokussierungen, hg.v. Konstantin Lindner und Mirjam Zimmermann (Tü-
bingen: Mohr Siebeck, 2021), 166 – 173.
 Das eindrücklichste Beispiel ist der Fall der südkoreanischen Mutter, die ihrer verstorbenen
Tochter in einer holographischen VR-Gestalt begegnet und dabei offenkundig auf intensivste
324 Thomas Schlag

Wird diese existentiell bedeutsame Unterscheidung von leibhaft menschlichen


und virtuell erzeugten Erfahrungen hingegen programmatisch verwischt, dürfte
es mit der freien, mündigen Nutzung digitaler Artefakte endgültig sein Ende ha-
ben.⁶³

7 Schluss: Wohin geht die Reise?


Ganz am Ende sei eine ketzerische Frage aufgeworfen: Ist es in diesem Beitrag
überhaupt um das Smartphone als technisches Ding und als Resonanzermögli-
chungsding gegangen? Oder haben wir nicht eigentlich die ganze Zeit pars pro
toto von etwas anderem, sehr viel Weiterreichendem gesprochen?
Ja und Nein. Offenkundig hat das Smartphone gegenwärtig seine ganz eigene
Zeit und Dignität. Als ein für religiöse Deutungen naheliegendes Artefakt faszi-
niert es und strahlt seine eigene Bedeutsamkeit aus. Zugleich mag es sich schon
schneller als wir denken überholt haben. Die letzte Version dessen, was wir ge-
genwärtig nutzen, mag bald einer schon jetzt ziemlich realen Vision weichen und
dazu führen, dass sich das immer noch materialreiche Objekt in seine Einzelbe-
standteile auflöst. Die Verlagerung des materialen äußeren Dings in die körper-
liche Innenwelt ist absehbar möglich. Zwischen „Körperräumen“ und „Raum-
körpern“⁶⁴ scheint bald nicht mehr leicht unterschieden werden zu können.
Zwischenstadien zu einer gänzlich unkörperlichen Form medialen Verknüpft-
werdens stehen bereits mit „google smart glasses“ buchstäblich vor Augen. Die
Vision von Nanoteilchen im Körper, die Informationen vorhalten und produzie-
ren, ist technisch längst möglich. Und mit dem „Metaversum“ wird eine materiale
Dinghülle verheissen, in der Körperlichkeit und Bewusstsein miteinander ver-
schmelzen. Dann wird das Smartphone möglicherweise irgendwann seinen Geist
aufgeben und technische sowie körperliche Materialität sich zu einem bisher in

Weise Trauer, Schmerz, aber auch Glück erlebt (online abrufbar unter https://www.youtube.com/
watch?v=0p8HZVCZSkc, Abrufdatum: 02.02. 2022).
 Thomas Klies Entfaltungen zu den Leib-Räumen bzw. sein Verständnis von Religion als leib-
räumlichem Geschehen sowie seine Charakterisierung von Religionsunterricht als Spielraum, der
sich „durch performativ ausgelegte Deutungshandlungen konstituiert“, könnte weiterführend
produktiv gemacht werden, um so die absehbar Realität werdenden technischen Artefakte von
einer theologischen Anthropologie her näher und kritisch in Augenschein zu nehmen, vgl. Tho-
mas Klie, „Geräumigkeit und Lehrkunst: Raum als religionsdidaktische Kategorie“, in Schauplatz
Religion: Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik, hg.v. Silke Leonhard und dems.
(Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2003), 192– 208.
 Thomas Klie und Silke Leonhard, „Performative Religionspädagogik: Religion leiblich und
räumlich in Szene setzen“, in Schauplatz Religion, hg.v. dies., 17.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 325

seinen Konsequenzen noch ganz unabsehbaren neuen Aggregatzustand verbin-


den.
Werden wir am Ende womöglich selbst zur körperlichen Oberfläche einer in
uns produktiven Unterfläche – und falls ja, wo sind wir dann mit uns? Ob das dann
Sinn machen wird und was dann mit dem Menschen geschieht, ist einstweilen
nicht absehbar. Im worst case gäbe die Vision eines technisch eingeschriebenen
und einverleibten Dings dem paulinischen Wort „Wir sehen jetzt durch einen
Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt er-
kenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin“
(1. Kor. 13,12) einen schrecklich smarten, neuen Sinn.
Frank Albrecht Uhlhorn
Das (fiktive) Kamel im Konstruktivismus
Anmerkungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis

Ein Vater hatte drei Söhne… Im Okzident ist das ein ganz normaler Anfang für ein
schönes Märchen. Auch im Orient, aus dem das folgende Gleichnis stammt, ist
dieser Beginn nicht ungewöhnlich. Ebenso normal ist die Bedeutung, die in
diesem Kulturkreis in einer vergangenen Zeit den drei Söhnen verliehen wurde.
Der erste Sohn ist der wichtigste. Er wird ja einmal die Nachfolge seines Vaters
antreten. Der zweite Sohn tritt nur dann in die Familientradition ein, wenn der
erste wegen Krankheit oder Tod ausfallen sollte. Dementsprechend ist der dritte
Sohn nicht mehr ganz so wichtig.
In unserem Gleichnis ist der Vater ein Beduine, der aufgrund unglücklicher
Umstände fast seinen ganzen Besitz verloren hatte, als er „seine Knochen zu
seinen Vätern versammeln“ musste, wie das Sterben im Alten Testament be-
zeichnet wird. Nun wird es ungewöhnlich, denn er besitzt nur noch elf Kamele. Sie
müssen entsprechend der Wichtigkeit der Söhne und qua Gesetz vererbt werden.
Der Älteste bekommt demnach die Hälfte des Besitzes, der zweite noch ein Viertel
und auch der dritte geht nicht ganz leer aus und bekommt immerhin noch ein
Sechstel der Erbmasse.
Die Pointe beginnt damit, dass der älteste Sohn im Gleichnis daherkommt
und sechs Kamele mit nach Hause nehmen will; wie er aus seiner Perspektive
angibt, die Hälfte des Bestandes. Die anderen Brüder widersprechen. Sechs Ka-
mele sind zu viel, sie sind mehr als die Hälfte der Herde, die ja nur elf Kamele
umfasst.
Der Streit wird unversöhnlich. So zerren die beiden jüngeren Brüder den Äl-
testen vor den Kadi und das Gleichnis steuert auf seinen Höhepunkt zu. Denn der
Kadi spricht: „So Allah will, nehmt eines meiner Kamele und gebt es mir wieder
zurück, wenn ihr es nicht mehr braucht“. Und siehe da, nun ist die Aufteilung des
Erbes einfach: Der erste Sohn bekommt die Hälfte, also sechs Kamele, der zweite
bekommt sein Viertel, also drei Kamele, und auch der dritte kriegt seinen vom
Gesetz her vorgeschriebenen Anteil (das Sechstel) ausgehändigt, nämlich zwei
Kamele. 6 plus 3 plus 2 = 11. Die Rechnung geht nun auf und die Söhne könnten
dem Kadi sein Kamel eigentlich wieder zurückgeben.

https://doi.org/10.1515/9783110762853-021
328 Frank Albrecht Uhlhorn

1
Nun haben sich zwei der bekanntesten Konstruktivisten der Welt zu diesem
Gleichnis geäußert. Der Kybernetiker Heinz von Foerster (der das Storyboard mit
den Zahlen 17 und 18 durchdekliniert) und der Systemtheoretiker Niklas Luh-
mann.¹ Luhmann insbesondere zeigt sich fasziniert von der offenen Stelle des
Gleichnisses und gibt sich mit dem Ende nicht zufrieden und fragt den Kadi zu-
rück: Was will Allah denn eigentlich? Und er fragt sich und uns: War das Kamel
nun nötig oder nicht? Wozu war es nötig? War es für die Teilung wichtig und
danach nicht mehr? Braucht ein Richter für ähnliche Fälle einen Bestand von
Prozesskamelen, die verliehen werden können, und/oder braucht es ein
„diensttuendes“ Kamel? Ist es sinnvoll und richtig, es zurückzugeben, wenn man
den Grund gar nicht kennt, warum das Kamel nötig war? Musste das Kamel
wirklich den Söhnen ausgehändigt werden oder reicht die Fiktion eines Kamels?²
Luhmann bezeichnet die offene Stelle im Gleichnis in Anlehnung an einen Ter-
minus des Philosophen und Logikers Gotthard Günter als „Kamelogramm“.
Darauf wird zurückzukommen sein.
Uns erinnert diese Geschichte an das erste Auftreten eines Dozenten für Re-
ligionspädagogik vor einem neuen Kurs von Vikar*innen im Kloster Loccum in der
Nähe von Hannover. Der Reihe nach mussten sich alle Lehrenden denen vor-
stellen, die sie nun für zweieinhalb Jahre als Pfarrpersonen ausbilden wollten.
Darunter waren Studienleiter und Konventualstudiendirektoren, Abt, Prior und –
so hieß es damals noch – die Hausdame, der die Hauswirtschaft des Klosters in
die Hände gelegt war und die den angehenden Pastor*innen auch gesellschaft-
liches Benehmen (etwa bei Tisch) beizubringen hatte.
Nun waren alle angesichts der feuchten Kälte in einem Zisterzienserkloster
praktisch gekleidet. Mit Birkenstockschuhen und weiten Hosen sowie wärmenden
Westen aus Fell. Nur Thomas Klie, der Dozent für Religionspädagogik, kam mit
einem feinen Zwirn vom Herrenausstatter und blauen Wildlederschuhen. Mit viel
Chuzpe erklärte er uns, welchen Stellenwert in unserem Ausbildungsgang sein
Fach habe und dass man an dieser Schnittstelle von Schule und Religionsunter-

 Vgl. Lynn Segal, Das 18. Kamel oder Die Welt als Erfindung – Zum Konstruktivismus Heinz von
Foersters, Übers. Inge Leipold (München: Pieper, 1986) sowie Niklas Luhmann, „Die Rückgabe des
zwölften Kamels – Zum Sinn einer soziologischen Analyse des Rechts“, Zeitschrift für Rechtsso-
ziologie 21 (2000): 3 – 60. Die folgenden Ausführungen verdanken sich dem Aufsatz von Dirk
Baecker, „Wie steht es mit dem Willen Allahs?“, in Wozu Systeme?, hg.v dems. (Berlin: Kadmos,
2002), 126 – 169.
 Vgl. N. Luhmann, Die Rückgabe des zwölften Kamels, 31 sowie D. Baecker,Wie steht es mit dem
Willen Allahs, 127.
Das (fiktive) Kamel im Konstruktivismus 329

richt, Gesellschaft und Kirche, ein „Feuerwerk abbrennen“ müsse, um die Schü-
ler*innen oder Konfirmand*innen für die Sache zu interessieren, denn naturge-
mäß fänden sie Religion langweilig.
Diese Inszenierung des Thomas Klie beeindruckte den Ausbildungskurs 53
nachhaltig.Was war es, das uns dazu bewegte, uns nach diesem Auftreten mit den
blauen Schuhen innerlich zu schwören, für den Religions- und Konfirmanden-
unterricht besonders viel Kraft und Kreation aufzuwenden? War es die Differenz
zu den anderen Dozierenden, war es die Performanz, von Überraschung und
Abweichung nicht nur zu reden, sondern sie auch zu verkörpern, oder waren die
blauen Schuhe aus feinstem Wildleder nicht auch ein „zwölftes Kamel“, das die
Rechnung, das Kalkül, der angehenden Geistlichen mit einem „Kamelogramm“
ausstattete, um gleich zu Beginn einer kirchlichen Karriere ein Rezept zu liefern,
manche praktisch-theologische Rekursionen aufbrechen zu können?

2
Der Reihe nach sollen diese und die anderen offenen Fragen nun abgearbeitet
werden. Heinz von Foerster, Niklas Luhmann und Dirk Baecker stehen dabei im
Rücken, so dass wir uns nicht allein in der Einöde der Sümpfe um ein Zisterzi-
enserkloster und auf logisch recht schwierigem Terrain bewegen müssen.
Wir beginnen mit der einfachsten: Das Kamel war nämlich nötig und nicht
nötig zugleich. Das ist eine Paradoxie. Es ist nötig für die Rechnung und nicht
nötig für das Ergebnis. Hier schlägt das Herz des Systemtheoretikers, der den
„Trick“ seiner Theorie folgendermaßen schildert: Es wird „zwischen zwei Auf-
hängern, die beide paradox sind, ein operativ rein logischer Raum erzeugt“.³ Er
weist aber auch darauf hin, dass die Relation zwischen nötig und nicht-nötig nur
zeitabstrakt betrachtet prekär ist. Sieht man auf die Dynamik des Vorgangs, lässt
sich erkennen, dass diese Paradoxie operativ durch die Kategorie Zeit aufgelöst
werden kann, nämlich im Augenblick der Rechnung ist es nötig und danach nicht
mehr.⁴
Schwieriger ist die Frage nach dem Willen Allahs zu beantworten. Denn der
Kadi bedient sich eines gewissen Betrugs, was für einen Richter ja nicht statthaft
ist. Denn er spricht das Recht nicht über dem Bestand des Erbes des Verstorbenen,
sondern fügt diesem ein (virtuelles?) Kamel zu. Das kann er nur, so der Soziologe
Luhmann, indem er die Grenzen des Funktionssystems Recht überschreitet und

 Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie (Heidelberg: Carl Auer, 32006), 88.
 Vgl. Frank Albrecht Uhlhorn, Kommunikation kalkulieren (Berlin: de Gruyter, 2015), 136.
330 Frank Albrecht Uhlhorn

auf eine gesellschaftliche Ressource, nämlich in diesem Fall seinen eigenen Besitz,
zurückgreift.
Wir sind juristisch zu wenig gebildet, um zu beurteilen, ob das noch rechtens
ist. Man könnte aber dem Kadi wenigstens zu Gute halten, dass er den Betrug nur
vornimmt, um dem Recht seine Geltung zu verschaffen. Er sieht also die Grenze
des Systems und entscheidet sich, eine zusätzliche Größe einzuführen, um die
Systemlogiken und Systemoperationen, die ins Stocken geraten sind, wieder in
Gang setzen zu können. Er promoviert dadurch die gesellschaftliche Funktion des
Rechts, in einem Streitfall für Ausgleich zu sorgen.
Erfüllt der Kadi damit den Willen Allahs? Es wäre doch nicht abwegig, zu
behaupten, dass der Wille Gottes auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zielt, also
darauf, dass die Menschen in Frieden und Eintracht zusammenleben. War, in
diesem Zusammenhang gesehen, dann die exaltierte Kleidung des Dozenten ein
zwölftes Kamel, dass die gesellschaftliche Funktion der Religion, nämlich eine
Form zur Verfügung zu stellen, die die Unbeobachtbarkeit der Welt und des Be-
obachters zu beobachten hilft, durch diese Äußerlichkeit so lanciert, dass Vi-
kar*innen Lust dazu bekommen, Methoden zu lernen, um sie jungen Menschen
im Unterricht zu vermitteln? Dann würde das Wahrnehmungsschema „Kleider
machen Leute“ oder elaborierter: sind ein semiotisches Zeichen, das Deutungen
auslöst, erweitert sein um ein Mittel zum Zweck.
Wir müssen hier offen lassen, ob das damals bewusst die Absicht des Thomas
Klie war und betrachten auch die erste Antwort auf die Frage nach dem Willen
Allahs nur als Durchgangsstadium für das sich daran anschließende Problem:
Kann man analysieren, welche Fähigkeit der Kadi gehabt haben musste, um die
Systeme beobachten und das eine sprengen zu können – und dabei zeitgleich und
schnell auszurechnen, dass ihm das persönlich in Hinsicht auf seinen Besitz von
Kamelen nicht schaden werde? Denn eine solche Fähigkeit zu besitzen, wäre si-
cher auch für Theolog*innen hilfreich, weil es in der Schule und der Gemeinde-
leitung einige Konflikte zu lösen gilt.

3
Manch*e Kritiker*in wirft der Systemtheorie vor, dass auch sie letztlich nichts
anderes tut, als einen gewissen Betrug zu institutionalisieren. Die offene oder
„Leerstelle“, von der sie nach dem Vorschlag Gotthard Günters spricht, sei in
Wahrheit eine Theorielücke, die durch die Einführung des „Beobachters“ gefüllt
werde. Er komme immer dann ins Spiel, wenn das Gedankengebäude ins Stocken
gerät und blockiert. Er ist nicht im System und nicht in dessen Umwelt zu loka-
lisieren, sondern nur auf der Grenze von beidem zu finden. Doch wir lassen diese
Das (fiktive) Kamel im Konstruktivismus 331

Skepsis nicht gelten. Denn Dirk Baecker etwa beschreibt den Beobachter präzise:
Er ist „eine Heuristik, die man braucht, um Grenzziehungen beobachten zu
können, von denen die beteiligten Systeme nichts wissen, obwohl sie sie laufend
realisieren, so lange sie sie realisieren.“⁵ Und nicht nur das. Denn er hat eine
weitere wichtige Funktion. Nur der Beobachter (= eine Beobachtung zweiter
Ordnung) kann den blinden Fleck sehen, den die Operationen eines Systems be-
nötigen, um überhaupt operieren zu können.
Diese Erkenntnis stammt von Heinz von Foerster. In einer seiner Publikatio-
nen druckt er das Symbol eines Sternes und daneben eines kleinen Kreises ab.⁶ Er
fordert die Leser*innen dazu auf, mit den Augen den Stern zu fixieren und das
Buch etwa dreißig Zentimeter vor die Augen zu halten. Nun muss mit dem Buch
etwas auf der Horizontalen und Vertikalen gespielt werden, dann ist schnell
festzustellen: Es gibt einen Punkt des Abstandes des Blattes von den Augen, an
dem man den Kreis nicht mehr sieht. Physiolog*innen können das erklären: Es
existiert eine Stelle auf unserer Netzhaut, an der sich keine Rezeptoren finden. An
dieser Stelle werden alle Nervenfasern zum Sehnerv gebündelt. Dieser Punkt er-
möglicht erst das Sehen, macht das Sehfeld aber unvollkommen. Diese Unvoll-
ständigkeit bleibt unter normalen Bedingungen verborgen. So spricht Heinz von
Foerster davon, dass wir nicht sehen, dass wir nicht sehen. Entscheidend ist, dass
dies ein Problem Zweiter Ordnung ist. Im normalen Sehvorgang taucht das Pro-
blem nicht auf, sondern nur, wenn wir unser Sehen besehen oder beobachten.
Wäre das dann eine Fähigkeit, die der Kadi hatte? Also Beobachtungen zweiter
Ordnung vornehmen zu können und blinde Flecken zu erkennen? Gemäß der
Theorie hat ja jedes System einen blinden Fleck.

Der blinde Fleck, der das Sehen erst ermöglicht, ist für soziale Systeme die Ausgangspara-
doxie, die sie konstituieren. Es geht im Umgang mit ihr darum, sie zu erkennen und zu
entfalten. Dabei ist Entfaltung nicht das Ausmerzen der Paradoxie, sondern der kreative
Umgang, der zu einer vorübergehenden Anpassung an vorübergehende Lagen führt. Luh-
mann beschreibt das Rezept für eine funktionale Analyse und/oder eine systemische The-
rapie so:
Man identifiziert die bisher gewohnten Unterscheidungen mit der Frage nach dem
Beobachter als paradox, treibt sie auf die Frage nach der Einheit der Differenz zurü ck, um
dann die Frage zu stellen, welche anderen Unterscheidungen das Paradox ‚entfalten‘, also
wiederauflösen können. So behandelt, ist das Paradox eine Zeitform, deren andere Seite eine
offene Zukunft, ein neues Arrangement und eine Neubeschreibung der Gewohnheiten als

 D. Baecker, Wie steht es mit dem Willen Allahs, 131.


 Heinz von Foerster, „Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftli-
chen Bereich“, in Wissen und Gewissen – Versuch einer Brücke, Übers. Wolfram Karl Köck, hg.v.
Siegfried J. Schmidt (Frankfurt: Suhrkamp, 1993), 233 – 268, hier 237.
332 Frank Albrecht Uhlhorn

fragwü rdig bildet. Wie in der Autopoiesis auch gibt es dabei keine Abschlußform, die, sei es
als Ursprung, sei es als Ziel, die Frage nach dem ‚Davor‘ und dem ‚Danach‘ nicht zuläßt.⁷

Wäre eine solche Fähigkeit dann nicht aber dem hinzuzufügen, was Gott für seine
Menschen wollen könnte? Uns scheint es nicht nur einen spielerischen Unsinn
darzustellen, eine Fähigkeit auch von Theolog*innen zu befördern, Grenzzie-
hungen von sozialen Systemen besonders dann beobachten zu können, wenn
diese Systeme ins Stocken geraten. Wenn also beispielsweise die Parochialstruk-
turen der Kirche aus dem 19. Jahrhundert daraufhin geprüft werden müssen, ob
sie auch in einer kleiner werdenden Kirche noch funktional sind. Oder wenn der
Status des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen in Frage gestellt wird.

4
Wenn die blauen Schuhe damals ein zwölftes Kamel gewesen waren, um die
Dynamik der Bewusstseinssysteme der Vikar*innen in Hinsicht auf die Kreativität
für die Vermittlung der Funktion der Religion anzukurbeln, dann hätte dieser
„Betrug“ eigentlich dadurch finalisiert werden müssen, dass er auch zur Adaption
einer Beobachtung zweiter Ordnung führt. Die akademisch sehr gut ausgebildeten
jungen Leute wurden nach dem Auftreten ihres Dozenten im Verlauf ihrer Aus-
bildung ja zumeist erstmals in ihrem Leben vor einen Klassenverband von
Schüler*innen gestellt, sollten nach Lehrbüchern Unterricht erteilen und an-
schließend Noten vergeben.
Die dafür anempfohlene Fachliteratur wie Leitfäden zur Unterrichtsvorberei-
tung (Hilbert Meyer), UnterrichtsMethoden – Praxisband (ders.) oder Grundlagen
der evangelischen Religionspädagogik (Jörg Ohlemacher/Heinz Schmidt), war sie
nicht aber auch irritierend? Sie treffen eine Unterscheidung zwischen Didaktik
und Pädagogik. Aber gehören Lernen und Lehren nicht zusammen, weil das
Lehren des Lehrers am Lernen der Schülerin ausgerichtet sein sollte und nicht
etwa an seinen eigenen Interessen? Ebenso muss doch das Lernen am Lehren sich
orientieren und nicht etwa nach Lust oder gute Laune der Schüler*innen.⁸ Wer
trifft also diese Unterscheidung? Hat der soziologisch geschulte Beobachter recht,
wenn er sagt: Didaktik ist, wenn „Lehrer beobachten, was Lehrer tun, wenn sie
kommunizieren wollen, daß sie Erziehung für möglich halten“⁹?

 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien (Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 32004),
214.
 Vgl. D. Baecker, Wie steht es mit dem Willen Allahs, 139.
 Ebd.
Das (fiktive) Kamel im Konstruktivismus 333

Eine Alternative zu den klassischen Entwürfen skizziert Heinz von Foerster


übrigens fast im Predigtstil:

Wissen läßt sich nicht vermitteln, es läßt sich nicht als eine Art Gegenstand, eine Sache oder
ein Ding begreifen (…). Meine Vorstellung ist dagegen, daß das Wissen von einem Menschen
selbst generiert wird und es im wesentlichen darauf ankommt, die Umstände herzustellen in
denen diese Prozesse der Generierung und Kreation möglich werden. Das Bild des Lernen-
den wird auf diese Weise ein anderes. Er ist nicht mehr passiv, er ist keine leere Kiste, kein
Container, in den eine staatlich legitimierte Autorität (ein Lehrer oder ein großer, weiser
Professor) Fakten und Daten und seine enorme Weisheit hineinfüllt. Der Lernende erscheint
aus einer solchen kognitions- oder perzeptionstheoretischen Perspektive als aktiver Kon-
strukteur; er ist es, der sich das Wissen erarbeitet.
(…) Es wäre gut, wenn er (scil.: der Lehrer) seine überlegene Position aufgeben und die
Klasse in dem Bewusstsein betreten könnte, daß auch er nichts weiß. (…).
Laßt den Lehrer, der wissen soll, zum Forscher werden, der wissen möchte! Und (…)
dann werden die sogenannten Schüler und Lehrer zu kooperierenden Mitarbeitern, die ge-
meinsam – ausgehend von einer sie faszinierenden Frage – Wissen erarbeiten. Es entsteht,
so meine ich, eine Atmosphäre der Kooperation, des gemeinsamen Suchens, des Forschens.
Man weckt die Neugierde und die Empathie, regt zu eigenen Gedanken an, serviert nicht
irgendwelche fertigen Resultate, sondern Fragen, die zum Ausgangspunkt einer Zusam-
menarbeit und des wechselseitigen Entzückens werden.¹⁰

Die Lernenden sind keine trivialen Maschinen (von Foerster), und die Lehrenden
sind es genauso wenig wie das Wissen, das vermittelt werden soll. In diesem
hochkomplexen Feld stellen die Noten ein zwölftes Kamel dar, das das Kolla-
bieren des Systems verhindert. Ohne die Notengebung und ihre Selektionsfunk-
tion, zu der sich die Pädagog*innen systematisch gezwungen sehen müssen, er-
geben ihre Bemühungen keinen Sinn. Sie ist systemtheoretisch gesehen die
Leistung, die das Erziehungssystem den anderen Teilsystemen der Gesellschaft
zur Verfügung stellt, jedoch in einem absoluten Nichtwissen darüber, wie mit den
erteilten Noten dort umgegangen wird.
Das Bonmot von sich an Kinder richtende TV-Serien („Schloss Einstein“), dass
auch Albert Einstein nur eine „4“ in Mathe hatte, wurde um die Jahrtausendwende
für Vikar*innen der Hannoverschen Landeskirche bitterer Ernst. Die Note für
Unterrichtsentwurf und Lehrprobe zum Abschluss der katechetischen Ausbildung
musste eine „1“ ergeben, sonst wurde eine Anstellung als Pfarrperson unwahr-
scheinlich. Es kam vor, dass der vom Erziehungssystem bereitgestellte Mentor für
den Berufsanfänger als Tipp für die Lehrprobe mitgab, der skizzierte Unter-
richtsverlauf sei zu lang und müsse gekürzt werden und die tatsächliche Unter-

 Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Gespräche
für Skeptiker (Heidelberg: Carl-Auer, 112016), 70 f.
334 Frank Albrecht Uhlhorn

richtsstunde dann noch zehn Minuten dauerte, aber die „Didaktische Reserve“
schon aufgebraucht war. Nicht der Mentor bekam dann aber Abzüge in der Ab-
schlussnote, weil der seinen „Tipp“ der Prüfungskommission gar nicht berichtete,
sondern der Kandidat. Inwiefern „Opfer“ solcher Kontingenzen dann aufgrund
der schlechteren Benotung nicht Pfarrpersonen wurden, obwohl sie für die Kirche
viel einzubringen gehabt hätten, kann heute wohl nicht mehr aufgeklärt werden.
Leider erkennt das Erziehungssystem nicht, dass Noten ein klassisches
zwölftes Kamel sind und geht daher mit ihnen auch nicht besonders kreativ um.
Das System wendet sie immerhin aber auch auf sich selbst an, gibt sich selber
Zensuren und entwirft aufgrund dieser endogenen Unruhe immer neue Didakti-
ken, Pädagogiken und sogar Schulformen.¹¹ Wenn diese den Betrug mit dem
Kamel verstehen und das Kamel eines Tages zurückgeben könnten, wäre viel er-
reicht.

5
Der Dozent am Religionspädagogischen Institut wechselte dann vom Erzie-
hungssystem in das Teilsystem Wissenschaft der Gesellschaft und beschäftigte
sich u. a. mit Themen wie dem Zusammenhang von Zeichen und Spiel für die
Pastoraltheologie (2003), Ästhetik und Ethik als Kategorien der öffentlichen Be-
deutung der Praktischen Theologie (2007) Performanzen des Todes in der Be-
stattungskultur (2008), Krankheitsdeutungen (2019), Logiken religiöser Textilien
(2020) und Hybrider Vergewisserungen (2020), um nur einige Gegenstände seiner
Beschäftigung zu nennen. Aber ein zwölftes Kamel wird auch gern in diesem
System und auch in Klies Forschungsarbeiten verwendet.
Die Praxis jeder Theorie hat nämlich ein Problem, das sie mit einem Kamel
lösen muss. Sie benötigt für ihre Erklärungen Gründe, für ihre Vergleiche Kriterien
und für ihre Modelle Geschichten. Diese können aber nicht in den zu untersu-
chenden Dingen, Phänomenen und Zusammenhängen selbst liegen, deshalb
müssen die jeweiligen Begründungen einen Beobachterstatus schaffen, Selbst-
referenz und Fremdreferenz trennen und die Wirklichkeit als die Einheit dieser
Differenz einführen, um ihre Reflexionen operationsfähig zu gestalten. Die Be-
gründungen führen dann als Argument die Wirklichkeit an, „obwohl und weil die
jeweilige Wirklichkeit eine andere ist.“¹²

 Vgl. D. Baecker, Wie steht es mit dem Willen Allahs, 141.


 Ebd., 161.
Das (fiktive) Kamel im Konstruktivismus 335

Thomas Klie hat den theoretischen Zugriff für sein Wirken als Theologe in
seiner Habilitationsschrift unter die Überschrift „Semiotische Perspektiven“ von
„Zeichenspiele(n)“ gesetzt.¹³ Er führt aus, dass christliche Religion sich in je ak-
tuellen Kontexten in sinnstiftenden Zeichen zeige, die Religion allererst kommu-
nizierbar mache, aber auch zur Deutungsarbeit aufrufe. Die Semiotik wahre dabei
eine kategoriale Differenz zwischen „wahrnehmbaren Formen und den inhaltli-
chen Motivationen“ und halte „die theologischen Wechselverhältnisse (…) zwi-
schen Gott und Welt, Innen- und Außensicht, Zeichen und Referent, Religion bzw.
Kultur und Evangelium“ präsent.¹⁴ Diese Relationen müssen in ihrer geschicht-
lichen Gestalt gedeutet werden und können so in ihrer „Vieldeutigkeit und Mul-
tifunktionalität“ dargestellt werden – ohne (und darauf kommt es Klie als
Theologe an!) dass diese notwendigerweise selektiven Wahrnehmungen „die
transzendierende Wirklichkeit des dreieinigen Gottes und den daraus resultie-
renden Wahrheitsanspruch“ relativieren.¹⁵
Ob ein solcher Zugriff theoriekonsistent ist, weil doch, wie Klie selber aus-
führt, die Semiotik sich einer „Generalthese über Grund und Wahrheit der Phä-
nomene“ enthält, sei dahingestellt. Ein zwölftes Kamel, wie es im Buche steht,
erscheint jedenfalls, wenn der Professor für Praktische Theologie ausführt, dass
„gewissermaßen als Vorzeichen vor der Klammer“ bei seinen Forschungen „Gott
[als der] in jeder Gegenwart gegenwärtig [Seiende]“¹⁶ mitgeführt wird. Das ist
insofern das Vorgehen des Einsatzes einer Leerstelle oder eines „Kamelo-
gramms“, weil die Wirklichkeit hier, obwohl es nur eine gibt, als Differenz in die
Theorie eingeschmuggelt wird, damit sie selbst als Differenz gegenüber ihrem
Gegenstand mit diesem in Beziehung gesetzt werden kann.¹⁷ Die nun sich in
Bewegung setzenden Systemoperationen und Ergebnisse solcher Spiele mit
Deutungen sind jedoch äußerst instruktiv, wie die Arbeiten zur Praxis von immer
ungewöhnlicheren Trauerfeiern, Liturgien bei Großschadensereignissen und
Schulkulturen zeigen. Und sie sind kompatibel mit dem monströsen Anspruch
eines Konstruktivismus, alle anderen Theorien gleich miterklären zu können, sich
dabei aber zurückzunehmen auf die Absicht, ein Moment der Verstörung einzu-
bauen und Unberechenbarkeit zu spoilern. Dass dieses nicht nur therapeutisch in
der Hypnose (siehe dazu nur die Ausführungen von Paul Watzlawick), sondern

 Thomas Klie, Zeichen und Spiel: Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pasto-
raltheologie (Gütersloh: Chr. Kaiser, 2003), 166.
 Ebd., 167.
 Ebd., 168.
 Ebd.
 Vgl. D. Baecker, Wie steht es mit dem Willen Allahs, 161.
336 Frank Albrecht Uhlhorn

auch theologisch im Sinne der ersten Tafel des Dekalogs „würdig, recht und
heilsam“ ist, braucht an dieser Stelle nicht begründet zu werden.

6
Will man den großen Kybernetiker*innen, Konstruktivist*innen und System-
theoretiker*innen folgen, muss am Schluss eine autologische Zirkulation einge-
baut werden. Mit anderen Worten: Es ist anhand der Beispiele von Schule und
Wissenschaft gezeigt, was man tut, wenn man nicht weiß, was man tut – und dass
dann das Kamel dem Kadi nicht zurückgegeben werden darf, weil andernfalls die
Systemoperationen kollabieren könnten. Aber wie soll es denn anders gehen?
Was kann man denn tun, wenn man nicht weiß, was man tun soll? Wenn nur elf
Kamele da sind und einer, dem die Hälfte zusteht, sechs haben will? Wie löst man
also ein Dilemma, das in den Begriffen des Systems keines ist?
Der Ruf nach einem Kamel, das selbstreferentielle Systemoperationen auf-
bricht, damit sie sich auch mit Fremdreferenz anreichern können, ist verständlich
und führt, wie von Foerster gezeigt hat, zwar nicht auf eine logische, aber eine
operative (doppelte) Schließung. In Bezug auf das Problem mit der Erbschaft
würde eine Gewaltfreie Kommunikation (Marshall B. Rosenberg) empfehlen, dass
Alter Ego dem Ego seine Beobachtung, Gefühle und Bedürfnisse mitteilt und dann
darauf hoffen darf, dass seine zusammenfassende Bitte eine solch sanfte Macht
ausübt, dass Ego sie erfüllt.¹⁸ Dementsprechend hätten die beiden jüngeren
Brüder der Bitte des Ältesten folgen können und es wäre alles genauso gut aus-
gegangen. Doch das kann noch nicht die letzte Antwort darstellen, weil psychi-
sche Systeme eine Black box darstellen und die Ablehnung der Bitte nur in den
infinitiven Regress führten, sie, wenn auch anders formuliert, immer wieder
stellen zu müssen.
Weiter führt die Erkenntnis, dass eine Fremdreferenz durch rekursive
Selbstreferenz je und je selbst produziert wird, weil, wie von Louis H. Kauffman
dargestellt, der pointer eines Pfeils nach seiner kreisförmigen Bewegung gar nicht
genau auf seinen eigenen body treffen kann.¹⁹ Oder um es mit Edmund Husserl zu
sagen, das Bewusstsein intentional ausgerichtet ist und sich nicht nur mit seinem

 So Marshall B. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (Paderborn:


Junfermann, 2004), 25 ff.
 Vgl. Louis Kauffman, „Self-Reference and Recursive Forms“, Journal of Social and Biological
Stucture 10 (1987): 54 und F. A. Uhlhorn, Kommunikation kalkulieren, 158.
Das (fiktive) Kamel im Konstruktivismus 337

eigenen Denken beschäftigen kann.²⁰ Diese letzte Unbestimmtheit, die aus der
Rekursivität der Selbstreferenz erzeugt wird, kann aber durch die Funktion des
Gedächtnisses, Abweichungen zu erinnern und wieder zu vergessen, handhabbar
gemacht werden. Denn durch die vom Gedächtnis in seinen Operationen bereit-
gestellten Redundanzen befähigt sich das System selbst zur Freiheit, Offenheit für
andere Möglichkeiten zu konstruieren. Die Fremdreferenz ist also eine selbst er-
zeugte, muss aber als Fremdreferenz ausgewiesen und belegt werden, damit das
System seine selbstreferentiellen Rekursionen fortsetzen kann. Deswegen kann
das Kamel jetzt endlich zurückgegeben werden, aber nicht in toto. Man kann nur
„so tun, als könnte man es zurückgeben wollen“²¹, denn nur so kann es unter-
schieden und bezeichnet werden und dann seinen lebenswichtigen Dienst an der
Konstruktion der Wirklichkeit tun.
Mit einem solchen Kamel, das in die Differenz zwischen Selbst- und Fremd-
referenz galoppiert, lässt sich trefflich spielen: Mit Deutungen oder Paradoxien,
mit Redundanzen und Variationen, mit praxis oder poiesis. Man kann mit ihm
Situationen schaffen, in denen die Chance besteht, dass Änderungen erkennbar
werden. Dafür standen in Erinnerung ja auch die blauen Schuhe und das ist ganz
sicher auch der Wille des Himmels, in festgefahrene Strukturen wieder Bewegung
zu bringen, um Konflikte zu vermeiden und Entwicklungen der vorübergehenden
Anpassung an vorübergehende Lagen zu fördern. Und diese Erkenntnis kann
schließlich helfen, das Religionssystem in eine fruchtbare Differenz zur Gesell-
schaft zu bringen²², um diese möglicherweise mit einer unmöglichen Gabe zu
beglücken und zu den anstehenden Veränderungen in ihrer Umwelt zu motivie-
ren.

 Siehe etwa Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie: Erstes Buch: Allgemeine Einfü hrung in die Phänomenologie, Husserliana 3, hg.v.
Walter Biemel (Den Haag: Nijhoff, 1950).
 D. Baecker, Wie steht es mit dem Willen Allahs, 169.
 Ebd.
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Akademischer Rat am Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nach-
haltige Entwicklung an der Universität Passau

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reich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg

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tenberg-Universität Mainz

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Georg-August-Universität Göttingen

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kultät der Universität Rostock

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logie der Universität Osnabrück

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kultät der Universität Rostock

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Deutungsmachtkonflikten“

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Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg

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und Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich

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Apl. Professorin im Fachbereich Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Univer-
sität Rostock

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