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Dinge Zum Sprechen Bringen
Dinge Zum Sprechen Bringen
Praktische Theologie im
Wissenschaftsdiskurs
Practical Theology in the
Discourse of the Humanities
Herausgegeben von
Christian Bauer, Amy Daughton,
Maureen Junker-Kenny, Thomas Klie,
Martina Kumlehn und Ralph Kunz
Band 30
Dinge zum
Sprechen bringen
Herausgegeben von
Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag
ISBN 978-3-11-074432-3
e-ISBN (PDF) 978-3-11-076285-3
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-076289-1
ISSN 1865-1658
www.degruyter.com
Thomas Klie gewidmet –
dem performanzstarken Grenzgänger
zwischen Zeichen- und Dingwelten
und Liebhaber riskanter Gedankenspiele
Inhalt
Andreas Kubik
Sorgfalt
Annäherungen an eine religionsaffine Haltung zu den Dingen 9
Klaus Hock
Der Kosmos aus dem Tintenfass 25
Eckart Reinmuth
Becher, Kreuz und Brot
Notizen zur ‚Performanz der Dinge‘ im 1. Korintherbrief 47
Silke Leonhard
Klarer die Glocken (nie) klingen
Zur Performanz und Resonanz von Glockenklang aus
religionspädagogischer Perspektive 63
Ralph Kunz
Streitsache Salböl
Plädoyer für ein Sakrament der Berührung 77
Paula Stähler
Lebendiges Licht
Von Kerzen in Kirchen, daheim und im virtuellen Raum 107
Michael Meyer-Blanck
Mehr als Holz und Stein
Die Kanzel als locus principalis evangelischer Liturgie und
evangelischen Kirchenbaus 121
Jan Hermelink
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation
Ein Versuch zur Materialität der kirchlichen Leitungspraxis 135
VIII Inhalt
Jakob Kühn
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der Dinge
Die Kasualrede und ihre Bezüge zu den Dingen 151
Kristian Fechtner
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern
Erkundungen zur Gegenständlichkeit der Zeit 165
Ulrike Wagner-Rau
Ein Abdruck im Sitzkissen
Die Materialisierung von Absenz und ihre Bedeutung im
Trauerprozess 179
Antje Mickan
Stein und Raum
Ein funerales Kommunikations- und Erinnerungsmedium im
Gebrauch 193
Thorsten Benkel
Stille Klänge 213
Bernhard Dressler
Ein Paar Bergschuhe
Verstreute Gedanken zum Bergsteigen und zur Religion 229
Petra Schulz
Schieferdachplatten
Annäherung an ein imaginäres Museum 239
Matthias Marks
Dinge, die unter die Haut gehen
Über die Performanz von Tattoos und ihre Bedeutung aus
religionspsychologischer Sicht 255
Martina Kumlehn
Unter und an Masken lernen
Impulse religiöser Identitätsbildung im performativen Spannungsfeld
von Zeigen und Verbergen 275
Inhalt IX
Marcell Saß
Digitale Dinge?
Eine praktisch-theologische Spurensuche 293
Thomas Schlag
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 303
Thomas Klie, Zeichen und Spiel: Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pasto-
raltheologie (Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 2003).
https://doi.org/10.1515/9783110762853-001
2 Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag
wird als „Schauplatz“² wahrgenommen und auf den Bühnen von Bildung und
Liturgie in ihren Inszenierungs- und Darstellungsmodi verfolgt. Zusammen mit
anderen hat Thomas Klie in diesem Sinne die Entwicklung einer performativ
ausgerichteten Religionspädagogik im kritischen Diskurs vorangetrieben, die die
Zeichenprozesse bzw. die besonderen Modi religiöser Kommunikationsformen in
ihrem aktiven Gebrauch fokussiert und das Verhältnis von Inhalt und Form, von
Gehalt und Gestalt stets mit reflektiert. Religion soll in ihren lebensweltlichen
Praxisdimensionen gezeigt und dargestellt werden, um sie wahrnehmungsori-
entiert und differenziert reflexiv ins Gespräch bringen zu können.³
Als zweites signifikantes Feld performanzorientierter praktischer Theologie
hat Thomas Klie gemeinsam mit Kristian Fechtner „riskante Liturgien“⁴ in den
Blick genommen, die im Schnittfeld von verschiedenen Akteuren und Institutio-
nen bei außergewöhnlichen Ereignissen öffentliche Kontingenzbewältigungsakte
wagen. Gerade die Liturgie erscheint dabei als der Spielraum für religiöse Zeichen,
Gesten, Sprache, Musik und Dinge, die die Kommunikation des Evangeliums
gestalten und zur Aufführung bringen. Dass sich im rituellen Zusammenspiel der
Zeichensprachen eine natürliche Nähe zum Theater ergibt, ist in der Liturgie-
wissenschaft nicht per se etwas Neues. Innovativ ist jedoch die über diesen Begriff
der Performanz forcierte Durchlässigkeit der Disziplinen für einander und der
dadurch geschärfte Blick in der Analyse dessen, was in der öffentlichen Darstel-
lung von Religion der Fall ist.
Riskante Liturgien werden in der Regel bei außergewöhnlichen Trauerfällen
oder Katastrophen von nationalem Ausmaß eingefordert. Von daher ist es nicht
verwunderlich, dass der Forschungsschwerpunkt von Thomas Klie auf der Be-
stattungskultur lag, die er gegenwartskulturell durchbuchstabiert und in den
verschiedensten Deutungshorizonten entfaltet hat.⁵ Artefakte spielen in der Be-
Thomas Klie und Silke Leonhard (Hg.), Schauplatz Religion: Grundzüge einer performativen
Religionspädagogik (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2003).
Vgl. z. B. Thomas Klie und Silke Leonhard (Hg.), Performative Religionsdidaktik: Religionsäs-
thetik – Lernorte – Unterrichtspraxis (Stuttgart: Kohlhammer, 2008); Bernhard Dressler und
Thomas Klie, „Strittige Performanz: Zur Diskussion um den performativen Religionsunterricht“,
Pastoral-Theologie 96 (6) (2007); Bärbel Husmann und Thoms Klie, Gestalteter Glaube: Liturgi-
sches Lernen in Schule und Gemeinde (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2005); Bernhard
Dressler, Thomas Klie und Martina Kumlehn, Unterrichtsdramaturgien: Fallstudien zur Performanz
religiöser Bildung (Stuttgart: Kohlhammer, 2012).
Kristian Fechtner und Thomas Klie (Hg.), Riskante Liturgien: Gottesdienste in der gesellschaft-
lichen Öffentlichkeit (Stuttgart: Kohlhammer, 2011).
Thomas Klie (Hg.), Performanzen des Todes: Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrneh-
mung (Stuttgart: Kohlhammer, 2008); Thomas Klie, Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas
Schlag (Hg.), Praktische Theologie der Bestattung (Berlin/München/Boston: de Gruyter, 2015),
Einleitung 3
stattungs- und Erinnerungskultur eine zentrale Rolle.Von ihnen führt der Weg zur
Beschäftigung mit der materiellen Kultur, die bei Thomas Klie den bisherigen
Schlusspunkt seines theoretischen Interesses und als Anregung zum Weiterden-
ken den Ausgangspunkt dieser Festschrift darstellt.
Der material turn meint die Zuwendung zu den Dingen, zum Stoff oder dem
Material. Nachdem er im englischen Sprachraum schon länger diskutiert wird,⁶
findet er in den letzten Jahren auch im deutschen Sprachraum vermehrt Auf-
merksamkeit der Forschenden.⁷ Dabei hat die praktisch-theologische Beschäfti-
gung mit Materialität jedoch keine lange Geschichte.⁸ Es gehört gleichsam zur
Natur der Sache, dass sich bei Dingen denkbar viele Verzweigungen und Ver-
bindungen in den Diskurslandschaften finden lassen. Der Religionsfokus lässt
gewisse Fragen zurücktreten, aber generiert neue. Wie bekommen Dinge eine
religiöse Funktion? Wie verlieren Dinge ihre religiöse Dignität? Torsten Cress
spricht davon, dass Dinge Reliquien (Sakralisierung) oder Museumsstücke (Säku-
larisierung) werden können.⁹ Eine Zusammenfassung zur Themenstellung im
Schnittfeld von materieller Kulturforschung und Praktischer Theologie bietet
Sonja Beckmayer. Sie nennt als besonderes Potenzial für die Praktische Theolo-
Thomas Klie und Ilona Nord (Hg.), Tod und Trauer im Netz: Mediale Kommunikation in der Be-
stattungskultur (Stuttgart: Kohlhammer, 2016); Thomas Klie und Sieglinde Sparre (Hg.), Erinne-
rungslandschaften: Friedhöfe als kulturelles Gedächtnis (Stuttgart: Kohlhammer, 2017); Thomas
Klie und Jakob Kühn (Hg.), Bestattung als Dienstleistung: Ökonomie des Abschieds (Stuttgart:
Kohlhammer, 2019).
David Morgan, Religion and Material Culture: The Matter of Belief (London: Taylor & Francis
Ltd., 2009); Dick Houtman und Birgit Meyer (Hg.), Things: Religion and the Question of Materiality
(New York: Fordham University Press, 2012).
Karl-Heinz Kohl, Die Macht der Dinge: Geschichte und Theorie sakraler Objekte (München: C.H.
Beck, 2003); Gisela Ecker, Claudia Breger und Susanne Scholz (Hg.), Dinge: Medien der Aneignung,
Grenzen der Verfügung (Königstein im Taunus: Ulrike Helmer Verlag, 2002); Günter Figal, Er-
scheinungsdinge: Ästhetik als Phänomenologie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2010); Hans Peter Hahn,
Materielle Kultur: Eine Einführung (Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 2007); Karl Braun, Claus-Marco
Dieterich und Angela Treiber, Materialisierung von Kultur (Würzburg: Königshausen & Neumann,
2015); Herbert Kalthoff, Materialität: Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften
(Paderborn: Brill/Fink, 2016); Hans-Peter Hahn, Dinge als Herausforderung: Kontexte, Umgangs-
weisen und Umwertungen von Objekten (Bielefeld: transcript Verlag, 2018).
Eine der ersten praktisch-theologischen Arbeiten, die den material turn in den Kulturwissen-
schaften wahrgenommen hat: Inken Mädler, Transfigurationen: Materielle Kultur in praktisch-
theologischer Perspektive (Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 2006).
Thorsten Cress, „Religiöse Dinge“, in Handbuch materielle Kultur: Bedeutungen, Konzepte,
Disziplinen, hg.v. Stefania Samida, Manfred Eggert und Hans Peter Hahn (Stuttgart: J.B. Metzler,
2014), 241– 244.
4 Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag
gie, dass dem Fachdenken neue Impulse gegeben werden, indem empirische
Zugänge inhaltlich und methodisch erweitert werden.¹⁰
Dabei ist die Grundlage des Materiellen selbst zu problematisieren. Denn nicht
alles, was der Fall ist, ist „Ding“, wenn auch alles zum Gegenstand erklärt werden
kann. Und nicht alles, was stofflich greifbar ist, ist „Zeug“, wiewohl auch bloßes
„Zeug“ bedeutsam werden kann. Religiöse Praxis hat mit alldem zu tun, auch mit
der Frage, wie Dinge sich in Symbole verwandeln. Denn Dinge, die religiöse Ver-
wendung finden, werden nicht nur gebraucht, sondern auch emotional besetzt und
gegebenenfalls genossen. Im kürzlich erschienenen und von Ursula Roth und Anne
Gilly herausgegebenen Band „Die religiöse Positionierung der Dinge“, in dem auch
der Überblick von Sonja Beckmayer zu finden ist, wird diese Verwendung als Po-
sitionierung spezifiziert.¹¹ Der material turn wird einerseits in den spatial turn hin-
eingeschoben und andererseits rückt mit dem Hinweis auf die Bewegung und
Stellung der Dinge und das Bewegt- und Hingestelltwerden durch die Dinge im
Raum auch der performative turn wieder in das Blickfeld. Was ursprünglich in der
Phänomenologie diskutiert, in der Theaterwissenschaft aufgegriffen und in Ritu-
altheorien übernommen wurde, kann ebenso mit resonanztheoretischen Überle-
gungen verknüpft, exegetisch validiert oder sakramentstheologisch verifiziert
werden, um die Positionierung der Dinge näher zu erfassen: das Stück Brot auf dem
Altar, den Weihnachtsschmuck im Kirchenraum, die Tücher auf dem Kopf, die
Engel im Rucksack oder die Kreuze am Straßenrand.
Wer sich mit vermeintlich einfachen Dingen beschäftigt, sieht sich mit dem
Paradox und der Crux phänomenologischer Ansätze konfrontiert. Die Beschrei-
bung des Einfachen und Alltäglichen bringt einen großen Theorieaufwand mit
sich. Ding, Sache, Zeug und Artefakt sind nicht dasselbe. Begriffsklärungen sind
hilfreich. Hans Peter Hahn – er nimmt an dieser Stelle Bezug auf Heidegger –
bringt das Paradox treffend auf den Punkt: „Ihre spezifische Bedeutung erhalten
die geringen Dinge, gerade weil es unmöglich ist, ihnen eine stabile Position in
der gesellschaftlichen oder kulturellen Ordnung zu geben. Es sind beiläufige
Dinge, die in vielen Situationen ohne eine explizite Rollenzuweisung auskom-
men, entweder, weil ihr Nutzen selbstverständlich erscheint, oder aber, weil ihnen
kein spezifischer Wert zuzukommen scheint.“¹²
Der material turn übt darüber hinaus ein Nachdenken, das mit der Semiotik,
von Peirce her gesprochen, auf den Widerstand der Erstheit stößt. Was kommu-
nizieren Textilien in der Liturgie?¹³ Welche Bedeutung hat die Verwandlung der
Asche eines kremierten Angehörigen in einen Diamanten?¹⁴ Wie lassen sie sich
dem Spiel als einem regelgeleiteten Handeln auf Zeit zuordnen? Die Funktion der
Dinge in der religiösen Kommunikation ist freilich nicht darauf beschränkt, nur
als Gegenstände für Handlungen zu fungieren. Die Dinge selbst „spielen“ eine
Rolle. Artefakte werden in Szene gesetzt und bestimmten Rauminszenierungen
und Atmosphären zugeordnet. Sie sind Teil liturgischer, homiletischer, seelsor-
gerlicher und bildender Prozesse und Dramaturgien. Dinge stehen für etwas,
werden zum Sprechen gebracht und initiieren Deutungsprozesse. Zur Erstheit der
Zeichen kommen nach Peirce Zweitheit und Drittheit, die die Zeichen in komplexe
unabgeschlossene Semiosen und Interpretantenbildungen einbinden. Dinge
werden in symbolische Kommunikation integriert. So führt die Performanz der
Dinge über den liturgischen Kontext hinaus auch in weitere Räume religionskul-
tureller Kommunikation und Hermeneutik hinein. Was sich heute in heterogenen
symbolischen Ordnungen tut, ist in seinen hybriden Ausformungen hoch inter-
essant, anregend, wenn auch schwierig zu erfassen.¹⁵ Woran erkennt man eine
religiöse Zeichenverwendung? Auf welche Regeln konzentriert sich das Spiel der
Zeichen und welchen Mustern folgen die Zeichen des Spiels in hybriden Religi-
onskulturen?¹⁶
Die Spur der Dinge verspricht denen, die hybride Zeichenprozesse erforschen,
auf etwas Handfestes und Widerständiges zu stoßen. Stoffliches ist härter als das
fluide Ritual und verlässlicher als das flüchtige Wort. Es ist sicher kein Zufall, dass
Dinge in der Erinnerungskultur der Kasualien eine wichtige Rolle spielen.¹⁷ Sie
haben eine Oberfläche, sind sichtbar und greifbar. Und wenn sich dem Subjekt in
der Pluralisierung religiösen Zeichengebrauchs eine ganze Reihe von neuen
Deutungsspielen eröffnet, findet es hier in der Spiegelung der Oberflächen einen
Halt. Der material turn befördert so auch die komplexen Zusammenhänge erin-
Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.), FeinStoff: Anmutungen und Logiken religiöser Textilien
(Stuttgart: Kohlhammer, 2021).
Thorsten Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler, Der Glanz des Lebens: Aschediamant und
Erinnerungskörper (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2019).
Antje Mickan, Thomas Klie und Peter A. Berger (Hg.), Räume zwischen Kunst und Religion:
Sprechende Formen und religionshybride Praxis (Bielefeld: transcript, 2019).
Peter A. Berger, Klaus Hock und Thomas Klie (Hg.), Religionshybride: Religion in posttradi-
tionalen Gesellschaften (Wiesbaden: Springer VS, 2013).
Kristian Fechtner und Thomas Klie (Hg.), Erinnerungskasualien/im Auftrag der Liturgischen
Konferenz (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2019).
6 Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag
Wir danken den Autorinnen und Autoren dieser Festschrift herzlich dafür, dass sie
sich vor dem Hintergrund des Œuvres von Thomas Klie auf dieses Wagnis ein-
gelassen haben. Auf die Folgewirkungen fachlicher Anknüpfungen an die reich-
haltigen Anregungen des von ihm materialisierten Deutungshorizontes sowie auf
die weitere, dadurch hoffentlich vielfältig inspirierte Arbeit an den Begriffen und
Dingen sind wir gespannt.
Wir danken außerdem dem Verlag de Gruyter, dass diese Festschrift in der von
Thomas Klie wesentlich mit verantworteten Reihe PThW erscheinen kann, ins-
besondere Frau Katrin Mittmann für die – wie immer – sehr freundliche und
entgegenkommende Betreuung des Bandes sowie Frau Sophie Marquardt aus
Rostock für die umsichtige und sehr sorgfältige Erstellung des Manuskriptes.
Andreas Kubik
Sorgfalt
Annäherungen an eine religionsaffine Haltung zu den Dingen
Es gab Zeiten, in denen sich der Protestantismus dezidiert als „Religion der In-
nerlichkeit“ verstand.¹ Demgegenüber könnte man Thomas Klie, wenn der Begriff
nicht anders und zumeist pejorativ belegt wäre, durchaus als einen Theologen der
Äußerlichkeit bezeichnen, hat er sich doch wie kaum ein zweiter in der
deutschsprachigen evangelischen Theologie um die Beachtung der Außenseite
der Religion verdient gemacht.² Damit war er einmal mehr seiner Zeit voraus.
Inzwischen ist der material turn auch für den Bereich der Religion ausgerufen.³ Ob
es zwar nötig ist, jedes Mal, wenn sich ein vernachlässigtes Thema zurückmeldet,
gleich einen turn auszurufen, kann sicherlich bezweifelt werden. Ebenfalls würde
sich der Protestantismus wohl keinen Gefallen tun, wollte er die Valenzen der
Innerlichkeit in den Abfalleimer theologischer Irrtümer entsorgen. Eine gewisse
Materialitätsvergessenheit aber mag man ihm gleichwohl attestieren. Beides zu-
sammen spricht vielleicht dafür, Phänomene gleichsam im Zwischenraum zwi-
schen Innerlichkeit und Äußerlichkeit bzw. die Schwelle zwischen beiden ver-
stärkt in den Blick zu nehmen.
Dazu eine persönliche Beobachtung. Im erweiterten Familienkreis kam ich
häufiger mit Menschen in Kontakt, die hingebungsvoll das Grab Nahestehender
pflegen. Zur Grabpflege habe ich persönlich – siehe „Religion der Innerlichkeit“ –
kein Verhältnis. In den vergangenen Jahren bin ich aber sehr oft quasi als ‚teil-
nehmender Beobachter‘ dabei gewesen. Für die Art, wie jene Personen jeweils die
Tätigkeit ausüben, drängte sich mir der Terminus „Sorgfalt“ gleichsam von selbst
auf. Ich kann aus eigener Anschauung berichten, dass die immense Sorgfalt,
welche der Grabpflege gewidmet wird, keineswegs mit klassischen Vollzügen
Wer den Ausdruck zuerst geprägt hat, weiß ich nicht. Er findet sich zum Beispiel bei Heinrich
Weinel zur Charakterisierung des Paulus. Eine Internet-Suche nach diesem Begriff ergibt indes
pluralisierende Ergebnisse: So können auf der Welt nicht nur der moderne Protestantismus,
sondern auch die katholische Kirche, die Schia oder der Buddhismus als „Religion der Inner-
lichkeit“ bezeichnet werden.
Zuletzt im Hinblick auf religiöse Kleidung, vgl. Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.), FeinStoff:
Anmutungen und Logiken religiöser Textilien (Stuttgart: Kohlhammer, 2021).
Vgl. z. B. Peter Bräunlein, „Thinking Religion Through Things: Reflections on the Material Turn
in the Scientific Study of Religion/s“, Method and Theory in the Study of Religion 28 (2016): 365 –
399; Uta Karstein und Thomas Schmidt-Lux (Hg.), Architekturen und Artefakte: Zur Materialität des
Religiösen (Wiesbaden: Springer VS, 2017), 3 – 22.
https://doi.org/10.1515/9783110762853-002
10 Andreas Kubik
Novalis, „Die Christenheit oder Europa“, in Schriften: Die Werke Friedrich von Hardenbergs,
Bd. 3 Das philosophische Werk, hg.v. Richard Samuel (Stuttgart: Kohlhammer, 21968), 509.
Zur Auslegung der Europa-Rede vgl. Andreas Kubik, „Restauration oder Liberalisierung?
Christentumstheoretische Aspekte in Novalis‘ ‚Die Christenheit oder Europa‘“, in Constructions of
German Romanticism, hg.v. Matthias Pirholt (Uppsala: Univ., 2011), 45 – 77; Miriam Rose, „Mit der
Sorgfalt 11
Mit welcher Heiterkeit verließ man die schönen Versammlungen in den geheimnißvollen
Kirchen, die mit ermunternden Bildern geschmückt, mit süßen Düften erfüllt, und von
heiliger erhebender Musik belebt waren. In ihnen wurden die geweihten Reste ehemaliger
gottesfürchtiger Menschen dankbar, in köstlichen Behältnissen aufbewahrt. – Und an ihnen
offenbahrte sich die göttliche Güte und Allmacht, die mächtige Wohlthätigkeit dieser
glücklichen Frommen, durch herrliche Wunder und Zeichen. […] Man sammelte mit inniger
Sorgfalt überall was diesen geliebten Seelen angehört hatte, und jeder pries sich glücklich
der eine so tröstliche Reliquie erhalten oder nur berühren konnte. Hin und wieder schien
sich die himmlische Gnade vorzüglich auf ein seltsames Bild, oder einen Grabhügel nie-
dergelassen zu haben. – Dorthin strömten aus allen Gegenden Menschen mit schönen Gaben
und brachten himmlische Gegengeschenke: Frieden der Seele und Gesundheit des Leibes,
zurück.⁶ (Hvg. A.K.)
Reformation war’s um das Christentum getan: Novalis’ Utopie der christlichen Religion“, in Luther
denken: Die Reformation im Werk Jenaer Gelehrter, hg.v. Christopher Spehr (Leipzig: Evangelische
Verlagsanstalt, 2019), 133 – 154.
Novalis, Christenheit, a.a.O., 507 f.
Als einer der wenigen hat Thomas Klie den Begriff der „Reliquie“ auch für den Protestantismus
reklamiert; vgl. Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.), Die Dinge, die bleiben: Reliquien im interdis-
ziplinären Diskurs (Bielefeld: Transcript, 2020).
Vgl. zur Poetisierung Andreas Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis: Eine ideengeschichtliche
Studie in ästhetischer und theologischer Absicht (Tübingen: Mohr Siebeck, 2006), 262– 267.
Speziell zum Aspekt des „Sammelns“ vgl. Inken Mädler, Transfigurationen: Materielle Kultur in
praktisch-theologischer Perspektive (Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus, 2006), 235 – 257.
12 Andreas Kubik
2 Annäherungen
Ich folge hierbei in beiden Fällen der digitalisierten Fassung auf https://woerterbuchnetz.de,
Lesedatum: 30.12. 2021; vom Grimmschen Wörterbuch Bd. 16, 1791– 1799; vom Adelungschen
Bd. 4, 151– 153.
Diese Abkürzung bedeutet wohl: „pluralis caret“ = der Plural fehlt; einen Plural gibt es nicht.
Adelung, a.a.O.
Zit. nach Grimm, a.a.O.
Sorgfalt 13
Es war Schleiermachers bahnbrechende Entdeckung, dass wir das, was wir „Re-
ligion“ im Allgemeinen zu nennen pflegen, stets nur an einzelnen, konkreten
Religionen ablesen können. Die Bibel wird im Folgenden als Grundtext der
christlichen Religion in Anspruch genommen. Die dabei erzielten Ergebnisse sind
freilich so gemeint, dass sie über den Bereich des Christentums hinausragen
mögen, aber es soll dennoch der Entdeckungszusammenhang nicht unterschla-
gen sein.
Die griechischen Wortbedeutungen werden hier wiedergegeben nach Walter Bauer, Grie-
chisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Li-
teratur, hg.v. Barbara Aland und Kurt Aland (Berlin/New York: de Gruyter, 61988).
Zitiert nach Martin Luther, Biblia, das ist, die gantze Heilige Schrifft Deudsch, hg.v. Stephan
Füssel (Köln: Taschen, 2002) [Original: Wittenberg: 1634].
Nach den Gebrüdern Grimm ist es so „bei Luther fehlerhaft geschrieben“ (a.a.O.)
Sorgfalt 15
Die einzige Wissenschaft, die – so viel ich sehe – sich außer der Sprachgeschichte
eingehender mit dem Begriff der „Sorgfalt“ befasst hat, ist die Jurisprudenz. Das
Recht kennt das Gebot der „Sorgfaltspflicht“ (im Englischen due diligence) und
bearbeitet die Aufgabe, diese sachbezogen und umfassend auszulegen.²³ Sieht
Die Verse sind nur im griechischen Sirachbuch überliefert; nach anderer Zählung Vers 23.
Ludwig Köhler und Walter Baumgartner (Hg.), Lexicon in veteris testamenti libros (Leiden:
Brill, 1958), 1052.
Auch der Wikipedia-Artikel „Sorgfalt“ ist derzeit nahezu vollständig an der juristischen
Problematik orientiert (online abrufbar unter de.wikipedia.org, Lesedatum:13.12. 2021).
16 Andreas Kubik
man näher hin, so stellt man allerdings fest, dass es in der Regel um eine Erör-
terung der konkreten Sorgfaltspflichten des jeweiligen Rechtsgebietes geht und
eher selten um die Frage, was „Sorgfalt“ an sich selbst zu bedeuten hat. Gleich-
wohl gibt es Ausnahmen.
Juristischer Erörterungskontext ist dabei die Frage nach Fahrlässigkeit, so-
wohl in zivilrechtlicher als auch in strafrechtlicher Hinsicht. Als Grundtext kommt
der § 276 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches in Betracht: „Fahrlässig handelt,
wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt“, wobei „Verkehr“ hier
zunächst den wirtschaftlichen Verkehr meint, sich von dort aus aber auch auf alle
möglichen Arten von rechtlich relevanten Konstellationen übertragen lässt: So ist
es in zahlreichen Berufen schließlich auch juristisch von Belang, ob die Tätigkeit
mit der „erforderlichen Sorgfalt“ durchgeführt wird, ob es sich dabei nun um eine
Herzoperation, den Einbau einer Duschwanne oder die wissenschaftliche Zitation
von Fachliteratur handelt. Bereits dem römischen Recht war diese Dimension
unter dem Stichwort der diligentia bekannt.
Weithin hat sich in der Literatur eine Unterscheidung von „innerer“ und
„äußerer“ Sorgfalt etabliert, welche dem Umstand entspricht, dass eigentlich alle
menschlichen Handlungen hinsichtlich des äußerlich Wahrnehmbaren und
hinsichtlich der zugrundeliegenden psychischen Disposition interpretierbar sind.
Ich folge hier der einschlägigen Untersuchung von Eva-Maria Fabarius:²⁴
Ein menschliches Verhalten, das in der dinglichen Welt beobachtet werden kann, wird als
sachgemäß, als kunstgerecht bewertet – jemand handelt äußerlich sorgfältig. Diese Hand-
lung beruht auf einem geistigen Vorgang – auf Aufmerksamkeit, auf der ‚inneren‘ Sorgfalt.
Verkürzt gesagt wird also unter äußerer Sorgfalt der physische Vorgang eines (juristisch
bewerteten) Verhaltens verstanden, unter innerer Sorgfalt dessen psychische Seite. (2)
Dieser Doppelung entsprechen auch – wie oben gesehen – Tendenzen „im all-
gemeinen Sprachgebrauch“ (3). Doch bereits in dieser Hinsicht sind „die Grenzen
oft unklar“ (4), und es lässt sich vermuten, dass die Unterscheidung nur zwei
Abstraktionshinsichten eines eigentlich untrennbaren Gesamtzusammenhangs
bereitstellt. Die Fragen, welche sich anschließen, bestehen demnach darin, ob
diese Unterscheidung im juristischen Sinne – also für die „Sorgfalt“ als Rechts-
begriff – überhaupt durchführbar ist und wenn ja, ob sie praktisch sinnvoll ist. In
diesem Zusammenhang erörtert Fabarius drei Positionen. Die erste hält die
Trennung für grundsätzlich möglich und operationalisierbar, weil sich Fälle
Ich folge im Weiteren den Ausführungen von Maria-Elisabeth Fabarius, Innere und äußere
Sorgfalt (Köln: Heymann, 1991). Zitate im Haupttext in diesem Abschnitt stammen aus diesem
Werk.
Sorgfalt 17
denken ließen, in denen lediglich die innere Sorgfalt verletzt sei und gleichwohl
ein „nur äußerlich sachgerechtes Verhalten“ (70) zustande komme. Die zweite
Position hält die Unterscheidung ebenfalls für durchführbar, schränkt sie aber auf
bestimmte Gebiete – speziell den „Bereich des Deliktrechts“ (73), bei dem es vor
allem um Haftungsfragen geht – ein: Man könne zwischen der äußeren Dimen-
sion einer Handlung, wie sie im Idealfall perfekt ausgeführt wird, und der inneren
Dimension, die sich nach dem subjektiven Wissen und Erkenntnisstand richtet,
unterscheiden. Bei letzterem komme es dann darauf an, inwieweit man gehalten
ist, sich selbst die ggf. verbesserte „Erkenntnismöglichkeit [zu] verschaffen“ (74).²⁵
Die dritte Position hält die Unterscheidung insgesamt für undurchführbar, da
„beide Elemente [nicht] unabhängig voneinander Funktionen übernehmen
könnten.“ (74) Es lasse sich nämlich kein Fall der Fahrlässigkeit denken, bei dem
man lediglich ‚innerlich‘ unsorgfältig gewesen sei: Etwa eine Unaufmerksamkeit
komme erst dann in Betracht, wenn damit zugleich eine „Verletzung der äußeren
Sorgfalt“ (75) einhergehe. Fabarius schließt in modifizierter Form an die dritte
Position an. Sie argumentiert, dass die Unterscheidung zwar „in logisch unan-
greifbarer Weise […] außer Zweifel“ (141) steht. Doch leugnet sie die juristische
Praktikabilität der Unterscheidung. Bei näherem Hinsehen sind nach ihrer Ana-
lyse die beiden Elemente „nur scheinbar verschieden, tatsächlich aber identisch.“
(142) Der Schein entsteht dadurch, dass zwar die Maßstäbe, an denen mögliche
Sorgfaltsverletzungen gemessen werden, unterschiedlicher Natur sind und da-
durch scheinbar die Unterscheidung von äußerer und innerer Sorgfalt nahe legen.
Es ist aber jedes Mal ein und dieselbe Sorgfalt, deren Einhaltung in Frage steht.
Dementsprechend etabliert die oben genannte Grundnorm des BGB „die Vor-
stellung eines einheitlichen […] Sorgfaltsbegriffs.“ (141). Dessen theoretische
Differenzierbarkeit in äußere und innere Sorgfalt sollte nicht verschleiern, dass
sie immer noch „gleichsam die verschiedenen Seiten der einheitlichen Medaille
‚Sorgfalt‘ dar[stellen].“ (144).
Wir können von der juristischen Sachdiskussion hier natürlich absehen.
Entscheidend ist für unseren Zusammenhang der Umstand, dass sich so etwas
wie ein innerer Zustand nur dann als „Sorgfalt“ ansprechen lässt, wenn er sich in
einem äußeren Verhalten oder Handeln verkörpert. Umgekehrt sorgt ein regel-
mäßiges, sorgfältiges Verhalten vermutlich auch für einen entsprechenden men-
talen Zustand, der gerade nicht als Begleitzustand aufgefasst werden darf, son-
dern als mentale Dimension der Sorgfalt selbst. Von außen häufig als übertrieben
Als Beispiel: Ein Automechaniker kann hiernach höchst genau und nach bester Kenntnis
handeln, aber weil er mit der neuesten Elektronik nicht vollkommen vertraut ist, dennoch Fehler
bei der Reparatur machen.
18 Andreas Kubik
Bei der Annäherung an dieses Thema sollte auch ein kultureller Bereich ins Auge
gefasst werden, der in der Wissenschaft zwar häufig keine große Rolle spielt, aber
in der Praxis vieler Menschen dafür umso mehr: die Lebensweisheit, die von
weltanschaulichen Anbietern unterschiedlichster Richtungen dargelegt wird.²⁷
Während sich gegenwärtig die lebenspraktische und spirituelle Beratungsli-
teratur vor allem im Begriff der „Achtsamkeit“ zu verstehen scheint, kann – wenn
auch eher am Rande – zugleich auch auf den Begriff der „Sorgfalt“ zurückge-
griffen werden. In eher lose verknüpften Einzelmeditationen lotet etwa der ehe-
malige Betriebswirt und spätere freie Autor Hugh-Friedrich Lorenz die weisheit-
lichen Valenzen des Begriffs der Sorgfalt aus,²⁸ wobei er sich in seiner „Gedanken-
Vgl. einleitend Claudia Öhlschläger, „Körper“, in Gedächtnis und Erinnerung: Ein interdiszi-
plinäres Handbuch, hg.v. Christian Gudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer (Stuttgart/
Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2010), 241– 245. In den größeren anthropologischen Zusammenhang
werden diese Überlegungen nunmehr eingestellt von Gregor Etzelmüller, Gottes verkörpertes
Ebenbild: Eine theologische Anthropologie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2021).
Für ein gelungenes crossover aus der theologischen Wissenschaft in diesen Bereich vgl. Peter
Bubmann und Bernhard Sill, Christliche Lebenskunst (Regensburg: Pustet, 2008).
Vgl. Hugh-Friedrich Lorenz, Sorgfältig leben, sorgfältig lieben! Die Botschaft der Möwe Jona-
than in 21 ausgewählten Stichworten: Für ein neues Denken, Fühlen und Handeln im Wasser-
mannzeitalter (Eisenach: Edition Jonathan, 32016). Zitate im Folgenden aus diesem Buch. – Der
Begriff des „Wassermannzeitalters“ verweist auf einen Unterbereich der Esoterik, das so genannte
Sorgfalt 19
New Age, vgl. dazu Christoph Bochinger, „New Age“ und moderne Religion: Religionswissen-
schaftliche Analysen (Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verl.-Haus, 21996).
Die einzige weltanschauliche Richtung, von der Lorenz sich ausdrücklich abgrenzt, ist Sci-
entology (vgl. 63).
Neben bewusstseinserweiternden Substanzen und der Erotik wird auch die „Gospelmusik“
(23) als eine Form der Induktion berauschender Erlebnisse aufgezählt.
Angeleitet von der Philosophie des „Feng-Shui“ (44).
Die Meditation zur Körperpflege wird eingeleitet mit einem versteckten Zitat aus 1Kor 6,19:
„Klingt es zu pathetisch, wenn eine alte Weisheit sagt, unser Leib sei ein ‚Tempel‘?“ (47)
20 Andreas Kubik
Nach meiner Erfahrung finden Jesus und das Christentum in esoterischen Kreisen vielfach
großen Respekt, was man umgekehrt nicht immer behaupten kann – angesichts der Tatsache,
dass auch viele Kirchenmitglieder auf esoterische Praktiken zurückgreifen vielleicht eine über-
denkenswerte Haltung.
Vgl. Claus-Dieter Osthövener, „Religionsaffinität: Erkundungen im Grenzbereich von Theo-
logie und Kulturwissenschaften“, ZThK 112 (2015): 358 – 377. Seitenzahlen in diesem Abschnitt aus
diesem Aufsatz.
Sorgfalt 21
insofern es sich in einem […] noch klärungsbedürftigen Sinne außerhalb der Sphäre des
Religiösen weiß und das auch keineswegs als Beeinträchtigung oder Nachteil empfindet. Es
ist hier nicht um das gewiss auch vorhandene Leiden an spiritueller Unerfülltheit zu tun […].
Auf der Grenze […] bewegen sich die hier interessierenden Personen vielmehr recht virtuos
und auf fruchtbare Weise. (359)
Die Religionsaffinität ist gleichsam ein Drittes, welches gegenüber Religion wie
gegenüber Nicht-Religion eigenständig bleibt, aber beides zugleich voraussetzt:
Religionslosigkeit muss als Möglichkeit existieren; sie wird sich aber genauso
wenig zu eigen gemacht wie eine eindeutige Verortung in einer bestimmten Re-
ligion, wiewohl die Affinität zugleich nicht ohne „Kontakt mit den explizit reli-
giösen Traditionen“ (367) sein kann. Insofern kann sie füglich als ein „Changieren
zwischen den Sphären“ (358) bezeichnet werden.
Wenn eine theologische Betrachtung von Phänomenen stattfindet, die sich
selbst nicht (oder zumindest nicht eindeutig) selbst im Bereich des Religiösen
verorten, tritt immer das Problem auf, inwiefern hier der religionsbezogene Zugriff
überhaupt legitim ist.³⁵ Osthövener plädiert einerseits dafür, den Begriff nur dann
zu verwenden, wenn „die beteiligten Subjekte selber ausdrücklich einen Bezug
auf die Religion herstellen“ (366), gesteht aber andererseits auch zu, dass sich die
Religionsaffinität „gleichsam zwischen dem bewussten und dem unbewussten
Ausdruck“ (370) des Bezugs auf Religion ansiedelt. In diesem Sinne ist sie nicht
nur als hermeneutischer (vgl. 371), sondern auch als „heuristischer Begriff“ (377)
anzusehen: Diese Kategorie lässt Zwischenphänomene allererst entdecken, die in
einem strikt dichotomischen Denken unbemerkt geblieben wären.
In meinen Augen ist jene Lizenz, auch unausdrückliche Bezüge auf Religion
einzubeziehen, durchaus sinnvoll. Denn die Art des Bezugs kann nicht nur ganz
unterschiedlich ausfallen, sondern der ausdrückliche Bezug setzt, wie Osthöve-
ners Beispiele zeigen, in gewisser Weise ein geradezu selbstreflexives Erfassen der
Situation von Religionsaffinität voraus, welcher das Phänomen von vornherein
darauf beschränken würde, als ein Stück ‚Bildungsreligion‘ interpretiert zu wer-
den. In diesem Sinne möchte ich abschließend versuchen, die Sorgfalt auch als
eine religionsaffine Haltung aufzufassen, die unabhängig von den (selbst‐) re-
flexiven Kapazitäten derer, die die Sorgfalt üben, als ein solches verstanden
werden kann.
In diesem Sinne wäre z. B. eine Sammlung von Steinen, die eine einsame Frau scheinbar nur
für sich selbst sorgfältig führt, inhärent darauf angelegt, dass sie eines Tages doch jemand an-
deres einmal besehen wird.
Vgl. Roderich Barth, „Dankbarkeit als religionsaffines Gefühl: Überlegungen zu dogmati-
schen Anknüpfungspunkten“, in: Erleben und Deuten: dogmatische Reflexionen im Anschluss an
Ulrich Barth: Festschrift zum 70. Geburtstag, hg.v. dems., Andreas Kubik und Arnulf v. Scheliha
(Tübingen: Mohr Siebeck, 2015), 169 – 191.
Sorgfalt 23
Ich verweise auf den englischen Sprachgebrauch, welcher das Adverb „religiously“ für be-
sonders genaue, immer wiederkehrende, festgefügte, also doch wohl auch: sorgfältige Hand-
lungen verwendet (collect religiously, follow religiously, listen to music religiously usw.).
Klaus Hock
Der Kosmos aus dem Tintenfass
„Sag: Wenn das Meer Tinte wäre für die Worte
meines Herrn, würde es noch vor ihnen zu Ende
gehen, selbst wenn wir es an Masse verdoppeln
würden.“ (Su. 18:109)
Materialität, der material turn, die Performanz der Dinge…, sinnliche Wahrneh-
mung, Ästhetik, Affekte, der emotional turn… Diese Begriffe markieren als
Stichwörter nur einen winzigen Ausschnitt des (nicht nur) religionswissen-
schaftlichen Diskurses, der sich in den letzten Jahren zunehmend den daraus
erwachsenden Fragestellungen zugewandt hat. Sie umreißen damit zugleich ein
Forschungsfeld, von dem unter anderem auch eine einschlägige Fachzeitschrift
ihren Namen ableitet: Material Religion. ¹ In der Religionswissenschaft werden
dabei sämtliche ‚traditionellen‘ wie auch neuere Teildisziplinen oder theoretische
und methodologische Ansätze bemüht, um dem (wieder)entdeckten ‚Ding‘ auf die
Spur zu kommen, und nicht nur ihm. Denn es geht um mehr als dieses Ding. Es
geht um unsere Beziehung zu ihm, wobei wir in diesem Bezugsgeschehen ganz
unterschiedlich positioniert sein können – und eben nicht einfach zugeordnet,
sondern durch das Bezugsgeschehen aktiv wie passiv, handelnd und erleidend
involviert. Und es geht um das Andere dieses Dings, einschließlich des Jenseits
seiner selbst. Aus der Perspektive des Wissenschaftsdiskurses im Allgemeinen
dreht sich die Debatte auch um die Frage der Gültigkeit (und Erschütterung!)
unserer Erkenntnisfähigkeit und ‐möglichkeit sowie deren vermeintlich souve-
ränes Subjekt und unerschütterliches Fundament – (ego) cogito, ergo sum. Somit
geht es letztlich auch um die Frage unseres Weltverständnisses und -verhältnis-
ses; und das wiederum auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Be-
zügen.
Wie nähere ich mich einem Ding, und welches eignet sich dazu, es zum
Sprechen zu bringen? Zu Letzterem: Vermutlich jedes; zu Ersterem: Vielleicht am
einfachsten durchs Erzählen, auf jeden Fall nicht, zumindest nicht nur, durchs
Beschreiben – denn da könnte das (Bezugs‐)Geschehen verloren gehen –, und am
besten im Horizont eigener Erfahrungen. Deshalb habe ich ein auf den ersten
Blick recht alltägliches Ding herausgegriffen, das allerdings durch je spezifische
Positionierungen in verschiedenen Kontexten besonders signifikante Funktiona-
lität wie auch inhaltliche Bedeutsamkeit annehmen und äußerst unterschiedlich
Material Religion: The Journal of Objects, Art and Belief, seit 2005.
https://doi.org/10.1515/9783110762853-003
26 Klaus Hock
1 „Neckermann!“
Während unserer Zeit in Nigeria haben wir eine Reihe von Gegenständen erwor-
ben und dann bei unserer Rückkehr nach Deutschland mitgenommen – manche
äußerst nützlich und schön, so etwa die aus strapazierfähigem Material gewebten
und mit Indigo gefärbten Fulani-Decken; manche, obgleich als kunstvoll orna-
mentierte Utensilien in alltäglicher Verwendung, von uns tendenziell auf ein
ansprechendes Dekor reduziert, beispielsweise verzierte Kalebassen, die bei uns
(wie bei vielen anderen Expats) zum großen Amüsement der Nigerianer:innen
eher an der Wand hingen, als dass sie in Küche und Haushalt zum Einsatz ge-
kommen wären.Viele dieser Gegenstände bezogen wir von einem Hausa-Händler,
der von Zeit zu Zeit auf unseren Compound kam, um seine Schätze anzubieten. Er
kündigte sich dann je schon von weitem an, indem er mit hohem, gekünstelten
Singsang „Neeeckermaaann“ intonierte – der Versandhandel und Reiseanbieter
war bereits ab den 1970er Jahren auch in Afrika allgemein bekannt („Neckermann
macht’s möglich“), obwohl das Unternehmen zu der Zeit, als ‚unser‘ Neckermann
seinen Kleinhandel mit diesem vermeintlichen Gütesiegel bewarb, die besten
Tage schon längst hinter sich hatte. Unter anderem erstanden wir damals einen
Der Kosmos aus dem Tintenfass 27
Selbst in vernakularen Kontexten gilt: Der geschriebene koranische Text ist – in ebenso
wörtlicher wie physischer Hinsicht – Gotteswort und sollte auch in seinem als Buch (muṣḥaf)
materialisierten Modus entsprechend vor Verschmutzung aller Art im direkten und metaphori-
schen Sinn geschützt werden. Siehe etwa Joyce Burkhalter Flueckinger, „The Agency of the Ma-
terial Taviz (Amulet) in a South Indian Healing Room“, in Islam Through Objects, hg.v. Anna
Bigelow (London u. a.: Bloomsbury, 2021), 127– 141, hier 140.
28 Klaus Hock
direkt zum Sprechen zu bringen, kann ich aus heutiger Perspektive nicht mehr
sagen. Erst als ich mich für diesen Beitrag erneut mit dem Tintenfass befassen
musste, ist mir die unvorstellbare Gewichtigkeit und Wucht dieses Objekts deut-
lich geworden, vielleicht, weil ich es diesmal einer weitergehenden Betrachtung
unterzogen habe, die über eine bloß nüchterne, unmittelbar gegenstandsbezo-
gene und auf religiöse Funktionalitätszusammenhänge fokussierte Untersuchung
hinausgeht: einer Betrachtung, die ein Stückweit den Bezug zum Gegenstand
umzukehren und damit tatsächlich das Ding zum Sprechen zu bringen versucht.
So eröffnen sich im Nachhinein ganz neue Perspektiven, nicht nur auf das Tin-
tenfass selbst, sondern auch hinsichtlich der Möglichkeiten, durch dieses Zum-
Sprechen-Bringen eine Blickumkehr vorzunehmen, die plötzlich ‚das Ganze‘
quasi aus der Sicht des fokussierten Gegenstandes aufzuschließen vermag. In-
zwischen könnte ich mir gut vorstellen, eine Seminarreihe oder Vorlesungen zu
konzipieren, die unmittelbar beim Tintenfass selbst einsetzen, das dann über ein
oder mehrere Semester hin als roter Faden dazu dient, die Welt des westafrika-
nischen Islams und seiner Frömmigkeitspraxis zu erschließen – das wäre zu-
nächst ‚das Ganze‘; und sogar noch etwas mehr.
Warum aber habe ich hier „Neckermann“ erwähnt? Aus einem banalen und
einem tieferen Grund: Ohne „Neckermann“ befände sich das Tintenfass nicht in
meinem Besitz, in gewisser Weise existierte es dann gar nicht, zumindest nicht für
mich; und „Neckermann“ steht für einen von vielen Verwendungs- und Verwer-
tungszusammenhängen, die sich in Affirmation, aber auch in Bestreitung einer
über bloße ‚Vernutzung‘ hinausgehenden Funktion und eines ‚Eigensinns‘ des
Gegenstandes konstituiert haben.
legierung und Bronze, aber natürlich auch aus Keramik⁵ oder Glas,⁶ in unserem
Fall aus hart gebranntem Ton. Letzteres ist insofern von Bedeutung, als damit
weitergehende Assoziationen mit religiösen Konnotationen aufgerufen werden:
Auch der Mensch ist aus Lehm geschaffen,⁷ wenngleich nicht so gehärtet wie
unser spezielles Tintenfass, das sich beinahe wie massives Steingut anfühlt und
deshalb eher an die in Su. 51:33 erwähnten „Steine aus Ton“ erinnert. Diese sollen
nicht weiter thematisiert verweisen werden; sie selbst und das, was sie dort re-
präsentieren, könnte jedoch als Subtone mitschwingen, wenn wir das Tintenfass
selbst sprechen lassen.⁸
Das Material, aus dem unser Tintenfass besteht, ist prima facie zwar nur tote
Materie, aber es verknüpft, generisch gesprochen, Mensch und Ding auf ganz
besondere Weise – beide sind aus demselben Stoff. Dass eine solche Feststellung
nicht vulgärmaterialistisch zu verstehen ist, bedarf keiner Erläuterung, und eine
Gleichung nach der Formel: „Tintenfass und Mensch sind aus Lehm → Mensch
und Tintenfass sind materiell identisch“ würde wohl kaum jemand unterschrei-
ben. Quasi in Echtzeit wird deshalb rationalisiert: Es gibt keine materielle, wohl
aber eine metaphorische Identität, deren Tertium Comparationis im gemeinsamen
Status als Gefertigtes besteht. So hastig sollten wir aber nicht rationalisieren,
denn eine solche Deutung würde vorschnell theologisieren, wobei nicht das
Theologisieren, sondern das Vorschnelle ein Problem darstellt. In der Tat gibt es
mehrere Zusammenhänge zwischen Lehm, Mensch und Tintenfass, die sich unter
einer ganz profan-materialistischen Perspektive nahelegen, so namentlich die
‚Kompostierbarkeit‘ von Mensch und Ding – christlichen Deutungen nicht völlig
unbekannt („Erde zu Erde, Asche zu Asche…“). Selbstverständlich ist dieser
Konnex nicht eindimensional-unmittelbar zu verstehen, sondern hat ebenfalls
eine metaphorische Dimension.
Hier soll zunächst noch das Materielle des Dings im Netzwerk anderer Dinge
im Zentrum der Betrachtung stehen, wenngleich dieses Netzwerk der Dinge sich
durchweg dynamisch gestaltet, als Interaktion zwischen den Dingen. Der Mensch
ist aus einer solchen Interaktion nicht ausgeschlossen, aber er ist, zumindest
unter der hier eingenommenen Perspektive, nicht der primäre Akteur und somit
nicht das die Dinge bewegende oder gar beherrschende Subjekt. Das Tintenfass
selbst ist in dieses Beziehungsgeflecht eher dezentral eingebunden, weil es in
einem engen Abhängigkeitsverhältnis zu anderen Dingen steht, die zum Teil von
größerer Bedeutung sind: Tinte, Schreibgerät (in islamischen Kontexten:
Schreibrohr, qalam) und Schreibfläche (Pergament, Papier etc. oder Tafel, lawḥ).
Die Signifikanz dieser Vernetzung der Dinge wird deutlich, wenn wir an einem
Beispiel aus Marokko einige basale Schritte elementarer islamischer Erziehung in
traditionellen Bildungskontexten nachzeichnen: Nach dem quasi passiven Er-
lernen der geschriebenen Buchstaben der basmala, der islamischen Anrufungs-
formel („Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers“), gestattet der Schaykh
dem Schüler nach etwa zwei Wochen, nun selbst die eröffnende Eingangssure des
Korans, die fātiḥa, zu schreiben. Zusammen mit einer Gruppe älterer Schüler wird
tags zuvor, nach dem Freitagsgebet und noch vor dem Abendgebet, in einer etwa
einstündigen Prozedur die Tinte aus karbonisierter Schafswolle und Wasser ge-
fertigt und für jeden Schüler in kleine Behälter abgefüllt, die fortan neben den
hölzernen Schreibtafeln zu ihrem persönlichen Eigentum werden. Anschließend
geht es an die Herstellung des letzten für die Initiation ins Schreiben benötigten
Objekts, des Schreibrohrs. Dieses ist von besonderer Relevanz – nicht nur für das
Schreiben von koranischen oder rechtlichen Texten auf Papier, Holz oder Leder;
auch dem Gegenstand selbst, dem Schreibrohr an und für sich, kommt heraus-
ragende Bedeutung zu. Im geschilderten Zusammenhang sind „Schreibrohre, wie
die Schreibtafeln, private und individuelle Objekte: Sie wurden niemals aus der
Hand gegeben. Nach ihrer Nutzung konnten sie als Geschenke weitergegeben
werden, stets zu speziellen Anlässen. Es kann nicht einfach jeder ein Schreibrohr
herstellen oder die von anderen nutzen.“⁹ Auch im vorliegenden Fall hat der
Shaykh höchstpersönlich die Schreibrohre für seine Schüler angefertigt. Am Ende
des Tages erhalten die Schüler mit Tafel, Tintenfass und Schreibrohr die „drei
wesentlichen Objekte, bevor sie mit dem Koranstudium beginnen können.“¹⁰
Was von anderer Seite konkret mit Blick auf die Bedeutung der Gebetskette im
westafrikanisch-islamischen Kontext konstatiert wurde, lässt sich eins zu eins auf
unser Integral aus Tafel, Tintenfass und Schreibrohr übertragen: Wir haben es
gleichermaßen zu tun mit „einer kulturell ikonischen Manifestation, einem In-
strument religiöser Praxis, einer Markierung religiöser Identität und lehrmäßiger
Zugehörigkeit, einer Verkörperung passiven Widerstands gegen die Kolonial-
herrschaft, und einem ästhetischen Schmuckstück…“ – und es ist zudem „in je-
Aomar Boum, „The Life of a Tablet“, in Islam Through Objects, hg.v. A. Bigelow, 143 – 158, hier
153; Übersetzung von mir, K.H.
Ebd.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 31
Ousman Murzik Kobo, „Tashib in West African History: Spirituality, Aesthetic, Politics, and
Identity“, in Islam Through Objects, hg.v. A. Bigelow, 81– 94, hier 93; Übersetzung von mir, K.H.
Ebd., 94.
Scott Kugle, „Caps, Heads, and Hearts“, in Islam Through Objects, hg.v. A. Bigelow, 95 – 107,
hier 95 f.
32 Klaus Hock
3 Intermezzo: Transformationen im
Wissenschaftsdiskurs
Die vorherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, von welcher Wirkmäch-
tigkeit die Dinge selbst sein können, wenn sie in ein Kommunikationsgeschehen
eintreten, an dem sie maßgeblich Anteil haben und innerhalb dessen sie wichtige
Funktionen erfüllen. Für den religionsbezogenen Wissenschaftsdiskurs ist diese
Beobachtung nicht neu. Bereits in der älteren Religionsphänomenologie wurde
Gegenständen besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Die Gründung der
Religionsgeschichtlichen Sammlung in Marburg steht nicht nur für eine wissen-
schaftshistorisch frühe Hochschätzung der materiellen Kultur seitens der Religi-
onswissenschaft. Rudolf Otto, durch sein epochales Werk „Das Heilige“ bereits zu
einiger Berühmtheit gelangt, hatte das Vorhaben ergänzend zu dem durch
Friedrich Max Müller begründeten Projekt der Sammlung von religiösen Schrift-
quellen initiiert, um religiöse Gegenstände als Zeugnisse religiöser Praxis syste-
matisch zusammenzustellen. Die Intention der bereits 1912 angedachten, aber erst
1927 realisierten Sammlungsgründung war vornehmlich didaktischer Art, denn
zunächst stand im Vordergrund, mit den zusammengetragenen Gegenständen
„die religiöse Kulturentwicklung einer trotz aller Verschiedenheit als einheitlich
gedachten, weil auf das Numinose bezogenen Religion [zu] veranschaulichen“,¹⁶
wobei Otto sich vor allem auf die religiöse Alltagspraxis konzentrierte. Doch damit
waren auch grundsätzlichere Perspektivverschiebungen in Theorie und Methode
verbunden. Entsprechend konnte Ottos Ansatz für eine geraume Zeit ebenso an
Deutungsmacht gewinnen, wie zugleich die koloniale Kontextualisierung der
Objekte und der Vorgang ihrer funktionalen Einbindung in Prozesse des Othering
Mark Soileau, „What Comes to Light When a Lamp is Lit in Bektashi Tradition“, in Islam
Through Objects, hg.v. A. Bigelow, 111– 125, insb. 114 f., 124.
Klaus Hock, „Iconoclash als Bildkonflikt zwischen Religionen – islamische Dispositive: Zur
Differenzhermeneutik des Bilderverbots“, in: Präsenz im Entzug: Ambivalenzen des Bildes, hg.v.
Philipp Stoellger und Thomas Klie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011), 393 – 419, hier: 418.
Edith Franke und Konstanze Runge, „Die Religionskindliche Sammlung der Philipps-Uni-
versität Marburg: Ein Museum zur Vielfalt der Religionen“, in Handbuch der Religionen, Bd. 52,
hg.v. Michael Klöcker und Udo Tworuschka (Bamberg: Mediengruppe Oberfranken, 2017), I – 25.5,
4.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 33
Ebd., 6.
Hierzu und zum Folgenden siehe Peter J. Bräunlein, „Material Turn“, in Dinge des Wissens. Die
Sammlungen, Museen und Gärten der Universität Göttingen, hg.v. Georg-August-Universität Göt-
tingen (Göttingen: Wallstein Verlag, 2012), 30 – 44; s.a. Ders. und Peter J. Bräunlein, „Thinking
Religion through Things: Reflections on the Material Turn in the Scientific Study of Religion\s“,
Method and Theory in the Study of Religion 28 (4/5) (2016): 365 – 399 sowie Ders., „Studying Ma-
terial Religion from a Non-Anthropocentric Perspective? Some Considerations on New Materia-
lisms“, Material Religion 15 (5) (2019): 622– 623.
Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften
(Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 52014).
P. Bräunlein, Material Turn, 34.
34 Klaus Hock
agency – den Eigenwillen und die Handlungsmacht – der Objekte in den Vor-
dergrund stellt und mit ihrem Zugang letztlich die traditionelle abendländische
Subjekt-Objekt-Trennung aufzuheben oder zumindest grundsätzlich in Frage zu
stellen beansprucht.²¹ Für die Religionswissenschaft sind die unter den Begriffen
des „Neuen Animismus“ und des ontological turn verhandelten, quasi parallel
verlaufende Entwicklungen in Ethnologie, Kulturanthropologie und benachbar-
ten Disziplinen von nicht minder grundlegender Bedeutung. Insbesondere durch
das Studium der sog. Indigenen Religionen wurden weitreichende Herausforde-
rungen thematisiert, die grundsätzliche Fragen von Hermeneutik und Epistemo-
logie sowie Epistemen und Wissenskulturen, vom Einfluss ‚westlicher‘ Ontologien
auf akademische Forschung oder auch von den Bedingungen der Konstitution von
Fachidentitäten betrafen.
Einige Stichworte, die diese Entwicklungen markieren, wurden bereits ge-
nannt, weitere könnten ergänzt werden, wie auch die dadurch ausgelöste Debatte
inzwischen äußerst verzweigt ist. Für unsere Überlegungen sind in diesem Zu-
sammenhang insbesondere folgende Aspekte von Bedeutung: das im Neuen
Animismus zentral gestellte Konzept der Relationalität menschlicher und nicht-
menschlicher Akteure und die Kritik des als dazu in Gegensatz stehend wahrge-
nommenen Konzepts des Individuums sowie die Ablehnung der Vorstellung einer
als dichotomisch interpretierten Subjekt-Objekt-Beziehung;²² das Verhältnis von
„Insider-“ und „Outsider“-Diskursen und das darin implizierte Problem „episte-
mischer Gewalt“ (Gayatri Spivak) wie auch die daraus folgende Dekonstruktion
des Mythos wissenschaftlicher Objektivität; und Themen der Normativität, die
hinsichtlich wechselseitiger Resonanzen von material turn und ontological turn
erneut die ganz grundsätzliche Frage nach dem Gültigkeits- und Wahrheitswert
von Glaubensaussagen sowie ihrem Verhältnis zu dem wissenschaftlicher Aus-
sagen über diese aufwerfen. Mit einem auch in der Religionsforschung vollzo-
genen Paradigmenwechsel weg von schriftlich reifizierten intellektuellen Syste-
men hin zu ästhetischen, sinnlichen und materiellen Dimensionen –
konzeptualisiert in den visual, material, aesthetic, body, material… turns – rückt
nicht nur die Beziehung von Religion und Ökologie bzw. Umwelt im weiteren
Sinne in den Fokus religionswissenschaftlichen Interesses, sondern insbesondere
auch die Beziehung zu den Dingen oder allgemeiner: nicht-menschlichen We-
senheiten und Objekten als Teil dieser Umwelt. Daraus ergeben sich wiederum
Siehe unter anderem Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirk-
lichkeit der Wissenschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002).
Isabel Laack, „The New Animism and Its Challenges to the Study of Religion“, Method and
Theory in the Study of Religion 32 (2020): 115 – 147, hier insb. 119 – 123, namentlich unter Bezug-
nahme auf Nurit Bird-David, Graham Harvey, Philippe Descola und Gayatri Spivak.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 35
Ebd., 134.
Ebd., 25
36 Klaus Hock
wird; es ist nicht einmal erwähnt, jedenfalls nicht als konkret semantisch fass-
bares Ding (mögliche Bezeichnungen wie dawāh/dawāya, pl. duwīy oder diwīy/
dawayāt oder miḥbara/maḥbara, pl. maḥābir finden sich im Koran nicht), son-
dern nur als metaphorisch gedeutete Größe. Entsprechend repräsentiert es bei-
nahe so etwas wie eine Leerstelle im Prozess der Vermittlung – genauer: des vi-
suellen Festhaltens – des Gotteswortes. In der islamischen Kulturgeschichte
hingegen wird auf das Tintenfass immer wieder verwiesen. So kann es innerhalb
des rechtlichen Kontextes gleichsam zum Symbol verfasster (Amts‐) Macht und
Gesetzesgewalt avancieren. Beispielsweise wird der Sekretär eines für die Auf-
rechterhaltung von Recht und Ordnung im öffentlichen Bereich zuständigen
muḥtasib in umayyadischer Zeit als mit den Insignien von Tintenfass und Papy-
rusrolle ausgestatteter Assistent vorgestellt,²⁵ wobei das Tintenfass selbst an das
Amt des muḥtasib gebunden bleibt;²⁶ oder, um ein Beispiel aus dem politischen
Islam schiitischer Prägung aufzurufen: Der Ayatollah Khomeini vermerkt in einem
seiner Traktate, in denen er die unmittelbarer Vollstreckung des Gesetzes als
Charakteristikum des islamischen Rechtswesens postuliert, es genüge, „dass sich
ein islamischer Richter, begleitet von zwei oder drei Gehilfen, mit Federhalter und
Tintenfass in eine Stadt begibt, um über jeden beliebigen Fall sein Urteil zu
sprechen“²⁷. Neben Sonnenschirm und Schwert gehörte das Tintenfass überdies
zu den Insignien politischer Macht, so beispielsweise in fatimidischem Hofzere-
moniell und ismailitischer Herrschaftstheologie, wobei in diesem Zusammenhang
den korrespondierenden Aspekten inszenierter Sichtbarkeit und geheimnisvoller
Verborgenheit besonderes Gewicht zukommt und insofern auch implizit religiöse
Dimensionen des Tintenfasses mitschwingen.²⁸ Auch unter den Abbasiden und
späteren sunnitischen Dynastien war das Tintenfass als Herrschaftssymbol ge-
bräuchlich und wie bei den Fatimiden in Ägypten entsprechend einem eigenen
Amt, dem Tintenfassträger (dawādār) zugeordnet,²⁹ das Einflüsse aus dem Iran
Ahmad Ghabin, Ḥisba: Arts and Craft in Islam (Wiesbaden: Harrassowitz, 2009), 42 f.
Ebd., 48.
Ayatollah Khomeiny, Principes politiques, philosophiques, sociaux et religieux: Extraits de trois
ouvrages majeurs de l’Ayatollah (Paris: Éd. Libres-Hallier, 1979), 25 f., zit.n. Peter Antes, Der Islam
als politischer Faktor (Hannover: Landeszentrale für politische Bildung, 2001), 16.
Jenny Rahel Oesterle, „Die Erscheinung des sakralen Imam-Kalifen von Kairo: Inszenierte
Sichtbarkeit und Verborgenheit im fatimidischen Hofzeremoniell und in der ismailitischen
Herrschaftstheologie“, Frühmittelalterliche Studien 44 (1) (2010): 175 – 186.
Ayalon, D., „Dawādār“, Encyclopaedia of Islam, Second Edition (online abrufbar unter http://
dx.doi.org/10.1163/1573-3912_islam_SIM_1740, Lesedatum: 01.12. 2021). Unter den Mamluken
avancierte das Amt sogar zu dem eines „Großkanzlers“ (dawādār kabīr) – s. Henning Sievert, Der
Herrscherwechsel im Mamlukensultanat (Berlin: Klaus Schwarz Verlag, 2003) –, verlor aber später
an Bedeutung.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 37
vermuten lässt.³⁰ In der Literatur war und ist das Tintenfass ebenfalls immer
wieder ein beliebtes Motiv und kann dabei dann selbst zu einer literarischen
Metapher werden – sowie mittels dieser Methaphorizität beispielhaft weiterver-
weisen auf die Dimension des Flüchtigen, wie es sich in Duft, Aroma, Geruch oder
Parfum ‚materialisiert‘: Der „Moschus im Tintenfass“³¹ verbindet Sinnlichkeit und
Transzendenz und führt so wiederum direkt zurück zur Quelle dieser Metaphorik,
dem Koran.³²
Auf diesem Umweg sind wir also abermals bei der Frage nach den korani-
schen Referenzen auf das Tintenfass angelangt, die es, wie oben bereits skizziert,
nicht nur als „Leerstelle“, sondern im Grunde als allem entzogen, als Absenz
markieren. Aber vielleicht liegt der Clou darin, dass es gerade durch diesen Ent-
zug mit enormer Bedeutung aufgeladen, diese selbst jedoch verdeckt wird?
Eines der großen Rätsel in der traditionellen islamischen wie der modernen
islamwissenschaftlichen Koraninterpretation ist die Frage nach der Bedeutung
der sog. „geheimnisvollen Buchstaben“, die einer Reihe von Suren, genau: 29 an
der Zahl, vorangestellt sind. Der früheste Korantext, in dem sich eine solche
Markierung findet, ist Su. 68: Nach der üblicherweise (mit Ausnahme von Sure 9)
vorangestellten Formel der basmala („Im Namen Gottes, des barmherzigen Er-
barmers!“) folgt der Buchstabe [ ﻥnūn]. Neben den vielfältigen Deutungsversu-
chen der klassischen Islamgelehrten hat insbesondere die graphische Form des
arabischen Buchstabens schon recht früh in der islamischen Koranexegese auch
solche Interpretationen inspiriert, die sich hier von der visuellen Assoziation
leiten lassen: Die bauchige Form des Buchstabens erinnert nämlich an ein Tin-
tenfass.³³ Diese gedankliche Verknüpfung wiederum ist insofern nachvollziehbar,
als die gesamte Sure mit al-qalam überschrieben ist – „Das Schreibrohr“ – und
mit einer Schwurformel einsetzt – „Beim Schreibrohr und dem, was man nie-
derschreibt!“ –, die ihrer Gattung nach an typische Spruchformen angelehnt ist,
wie sie von altarabischen, vorislamischen Sehern überliefert sind. Auch hier be-
steht also eine assoziative Verknüpfung zum Visuellen, allerdings in einem das
Alltägliche übersteigenden Modus des visuellen Wahrnehmens, des ‚Gesichtes‘.
Einige Korankommentare stellen einen Bezug zu altarabischen Erzählungen her, nach denen
die Welt auf einem mythischen Fisch ruht; s. ebd., 2562.
Jean-Louis Michon, „The Quran and Islamic Art“, in ebd., 2990 – 3001, hier 2994.
Zur Verknüpfung von nūn und Jona siehe Julia Bubenheim, Jona als Schlüssel zu Bibel und
Koran: Intertextuelle Lektüre im katholischen Religionsunterricht (Stuttgart: Kohlhammer, 2022),
142 f. und passim.
Ḥ. Naṣr u. a. (Hg), The Study Quran, 2563 sowie ebd., 2097 bzgl. raḥmān.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 39
Josef van Ess, Zwischen Ḥadīṯ und Theologie: Studien zum Entstehen prädestinatianischer
Überlieferung (Berlin u. a.: de Gruyter, 1975), 77– 79.
Naghmeh Jahan, Das Konzept des ewigen transzendenten Buches: Erscheinungsformen und
Modifikationen im Alten Orient, Judentum, Christentum und Islam (Baden-Baden: Tectum Verlag,
2020), 313 f.
Ḥ. Naṣr u. a. (Hg.), The Study Quran, 2562 f.
40 Klaus Hock
durch die davon Betroffenen selbst oder durch ihre Unterstützergruppen als
Symbol des Selbstbewusstseins bzw. der Solidarisierung.⁴¹
Auch wenn die Bedeutung der koranischen Siglen im Allgemeinen und des
der Sure 68 vorangestellten nūn im Besonderen keineswegs abschließend geklärt
ist, legt sich der Bezug zum Tintenfass und zum Walfisch ebenso nahe, wie
wahrscheinlich ist, dass die „geheimnisvollen Buchstaben“ nicht sekundär re-
daktionell hinzugefügt worden sind, sondern integraler, originärer Bestandteil
des jeweiligen Textkorpus waren.⁴² Weiterhin ist bemerkenswert, dass sie jeweils
in einem inhaltlichen Zusammenhang mit nachfolgenden Aussagen stehen, in
denen sie die koranische Offenbarung näher qualifizieren – als Buch (kitāb),Vers,
Lesung… – oder von deren „Herabsendung“ (tanzīl) sprechen. Wenn wir zudem
der erstmals von Theodor Nöldecke geäußerten Beobachtung zustimmen, „es
handele sich um eine Repräsentation des arabischen Alphabets bzw. von
Schriftlichkeit im Allgemeinen – zumal Schreiben und Geschriebenes auch an-
derswo im Koran eng mit dem Thema göttlicher Offenbarung verknüpft werden …,
[würde] die … Korrelation von einleitenden Buchstabenfolgen und sich daran
anschließenden kitāb- bzw. tanzīl-Verweisen … durch diese Assoziation von
Schriftlichkeit und göttlicher Offenbarung plausibel erklärt.“⁴³ Es ist also gar
nicht notwendig, sich auf die Ebene allegorischer Koranexegese, mystischer
Deutung oder metaphysischer Spekulation zu begeben, denn der koranische Text
selbst bildet den Hintergrund für einen solchen „ikonischen Gebrauch von Ein-
zelbuchstaben“ und legt eine Verbindung zwischen Sigle und Tintenfass nahe,
zumal auch und gerade in Su. 68 „Schrift und Geschriebenes eine emblematische
Funktion zu haben [scheinen]“.⁴⁴ Lassen wir uns entsprechend darauf ein, „das
anfängliche nūn als einen ikonischen Repräsentanten von Schriftlichkeit zu ver-
stehen“,⁴⁵ korrespondiert ihm auf der Ebene des materiellen Objekts tatsächlich
das Tintenfass. Dieses wird quasi zum Behältnis wie zur Ermöglichung der
(schriftlichen) Fixierung, genauer: Aktualisierung des Gotteswortes, denn als
‚Exekutivobjekt‘ bleibt es der Dynamik des göttlichen Wortes untergeordnet, re-
Siehe etwa Judikael Hirel, „Que signifie le symbole ﻥ, et pourquoi le partager ?“, Aleteia v.
2. Juni 2015 (online abrufbar unter https://fr.aleteia.org/2015/06/10/irak-ﻥ-nous-sommes-tous-
des-nazareens/, Lesedatum 04.12. 2021).
Hierzu und zum Folgenden siehe https://corpuscoranicum.de/kommentar/index/sure/68/
vers/1, Lesedatum: 04.12. 2021, hier Anmerkungen zu 1; diese orientieren sich vornehmlich an den
Vorarbeiten von Angelika Neuwirth, Frühmekkanische Suren: Poetische Prophetie (Berlin: Verlag
der Weltreligionen, 2011).
Online abrufbar unter https://corpuscoranicum.de/kommentar/index/sure/68/vers/1, Lese-
datum: 04.12. 2021, Anmerkungen zu 1.
Ebd.
Ebd., Kursorischer Kommentar zu 1– 16.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 41
nenz, Gott und Mensch. Jeder Einsatz des Tintenfasses beim Schreiben des Korans
macht es durch diesen performativen Akt ‚lebendig‘, wobei sich eine solche
‚Animation‘ letztlich alleine der Souveränität Gottes verdankt. Der Prozess der
Verschriftlichung des Gotteswortes entspricht so einer (Wieder‐)Inkraftsetzung,
einem (re‐)enactment des nūn in seiner ganzen Fülle, wie bereits oben skizziert.
Dies wiederum kann auf alle Lebensbereiche ausstrahlen, so auch auf die Politik,
wie ebenfalls schon erwähnt. Ähnlich, wie die Gebetskette etwa in west-
afrikanischen⁴⁸ oder die Kopfbedeckung beispielsweise in südasiatischen Kon-
texten⁴⁹ bisweilen zu materiellen Symbolen antikolonialen Widerstands zu
avancieren vermochten, so kann auch das Tintenfass durchaus als politisches
Symbol gelesen werden – nicht zuletzt in Westafrika, wo es im ikonischen En-
semble mit Schreibrohr, Koran, Holztafel, Gebetskette, Gebetsteppich und Was-
serkessel so etwas wie fromme islamische Lebensform in ihrer idealen Form
markiert. Als emblematische Herrschaftsinsigne, wenngleich in konkreten (post‐)
kolonialen Kontexten ihres tatsächlichen Verweischarakters beraubt, bewahrt es
doch die Erinnerung an die Möglichkeit weitreichend selbstbestimmter Hand-
lungsmacht.
Aber bedeutsamer als die Repräsentanz politisch-rechtlicher Autorität ist die
der religiösen agency, für die das Tintenfass nicht nur steht, sondern die es in
Kraft setzt, markiert es doch die Bedingung der Möglichkeit, dass das Gotteswort
nicht nur unmittelbar ‚in Echtzeit‘ sinnlich fassbar ist, wie bei der Rezitation (al-
qurʾān) des Koran, sondern – auf eine größere Zeitdauer hin angelegt – greifbar
bleibt. Das ‚Festhalten‘ des Gotteswortes auch im materiellen Sinne macht den
diesen Vorgang ermöglichenden Gegenstand, das Tintenfass, zu einem han-
delnden ‚Ding‘.
Die misbaḥa, auch masbaḥa, die den tasbīḥ, den Lobpreis Gottes, repräsentiert und aktiviert,
weshalb sie deshalb regional bisweilen selbst als tasbīḥ bezeichnet wird; siehe O.M. Kobo, Tashib,
82 sowie zum Folgenden ebd., 93.
S. Kugle, Caps, 104.
Der Kosmos aus dem Tintenfass 43
Von der Faszination dieser Entwürfe bin durchaus ich selbst erfasst; vgl. Klaus Hock, „Ani-
mismen: Seele als Relationsbegriff“, Berliner Theologische Zeitschrift 34 (2) (2017): 76 – 96, hier 92
und passim.
Auch in der Semiotik, wo Roland Barthes einen gewissen Kontrapunkt zu Ferdinand de
Saussure gesetzt hat, indem er unter anderem die Verflechtung der Objekte in weitere Kontexte
hervorhebt.
Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts (Berlin: Suhrkamp, 2010), 154 f.
Siehe hierzu Thomas Lemke, „Materialism without Matter: The Recurrence of Subjectivism in
Object-oriented Ontology“, Distinktion: Journal of Social Theory 18 (2) (2017): 133 – 152 sowie
44 Klaus Hock
ausführlicher entfaltet in Ders., The Government of Things: Foucault and the New Materialisms
(New York: New York University Press, 2021).
Graham Harman, Weird Realism: Lovecraft and Philosophy (Washington: Zero Books, 2012)
Das Konzept des „weird realism“, das Harman auch anderweitig entfaltet hat, ist in der Tat auf-
grund der Fixierung auf eine nur spekulativ zu erfassende hermetische Autonomie der Dinge mit
der (Selbst‐)Bezeichnung „bizarrer Realismus“, recht treffend charakterisiert.
T. Lemke, Government, 30 ff.
Hierzu und zum Folgenden siehe insb. Hans Peter Hahn, „Gibt es eine Sprache der Dinge?“
(zur Veröffentlichung vorgesehen in Berliner Theologische Zeitschrift 2022).
Der Kosmos aus dem Tintenfass 45
sitiv gewendet, entlarvend und erhellend. ‚Wir‘ bringen es zum Sprechen, und
zwar in der Vielfalt der Kontexte, in denen wir das Tintenfass und damit auch
seine Bedeutung als widerständig und ambivalent wahrnehmen. Zwischen
‚Neckermanns‘ Tintenfass und dem Tintenfass des nūn liegen Welten, und wenn
Letzteres auf das Universum des göttlichen Wortes verweist, dann Ersteres auf das
Universum kapitalistischer Verwertungslogik – aber nur dadurch, dass wir es je in
bestimmte Kontexte und Relationen einstellen und so auf die jeweiligen Univer-
sen verweisen lassen. In dieser Hinsicht können wir tatsächlich im Sinne eines
‚realistischen Materialismus‘ vom „Kosmos aus dem Tintenfass“ sprechen.
Eckart Reinmuth
Becher, Kreuz und Brot
Notizen zur ‚Performanz der Dinge‘ im 1. Korintherbrief
Das Stichwort ‚Performativität‘ verbindet mich mit Thomas Klie seit Beginn seiner
Professur an der Rostocker Theologischen Fakultät, sei es im gemeinsam ge-
gründeten Förderverein „Theophil“, sei es im Institut für Text und Kultur, das wir
2008 ins Leben gerufen haben,¹ sei es beim gemeinsamen Nachdenken in der
Vorphase des Graduiertenkollegs „Deutungsmacht“² oder in der Diskussion um
einen performativen Religionsunterricht.³ Wir haben öffentliche Lesungen ver-
schiedener Bibelübersetzungen in der Universitätsbuchhandlung abgehalten
oder uns den „heiligen Dingen“ mit der Ausstellung „sacra“ in der Universitäts-
kirche (2010) zugewandt.⁴ Ich denke gern und dankbar an diese bewegte und
inspirierende Zeit.
Gemeinsam gestaltete, erlebte und reflektierte Performativität macht es
leichter, über ihre theoretischen Aspekte im Gespräch zu bleiben. Mein Beitrag
wird das Ziel verfolgen, performative Momente von Materialität im ersten Korin-
therbrief aufzuspüren und nach ihrer Bedeutung in der Kommunikation des
Paulus mit der korinthischen Gemeinde zu fragen. Dieser Rückfrage ist das Ziel
gesetzt, die „Dinge“, auf die Paulus sich bezieht, in praktisch-theologischer und
religionspädagogischer Hinsicht so zu erschließen, dass heutiges Denken und
Fragen mit ihnen in einen produktiven Dialog treten kann.
1 Einführung
Im ersten Korintherbrief, einem der grundlegenden Texte des frühen Christen-
tums, wird die Geschichte Jesu Christi als Geschichte des Gottes Israels verstan-
https://doi.org/10.1515/9783110762853-004
48 Eckart Reinmuth
den. Auf eindrückliche Weise wird das in der Interpretation des Herrenmahls
gezeigt, die von Paulus ihrerseits als Interpretation des Kreuzestodes des aufer-
weckten Christus mit den Christusanhängern in Korinth kommuniziert wird.
Dieser Beitrag soll zeigen, wie die Dinge, die beim Abendmahl eine entscheidende
Rolle spielen – gemeint sind das Brot, der Becher mit Wein und der Kreuzestod
Christi als ihre Bezugsgröße –, in diesem Interpretationsprozess performativ
aufgeladen werden.
Auf der Suche nach einer „Performanz der Dinge“ bzw. einer „Performanz der
Materialität“⁵, mit der es deutlicher gelingt, die Bedeutung „nichtsprachliche[r]
Performativität für die Herstellung von Wirklichkeit“⁶ zu erfassen, fallen bei einer
Relektüre des ersten Korintherbriefs zunächst drei Texte ins Auge. Da ist zum
einen die Unterscheidung zwischen einem Einzelorgan wie dem Magen und dem
Körper (soma) als personaler Existenzweise, klassisch also zwischen „Bauch“ und
„Leib“, die Paulus im Zuge seiner sexualethischen Argumentation trifft (1 Kor
6,12– 20): Die sexuelle Gemeinschaft ist vom Stillen des Hungers zu unterschei-
den. Das einzelne Organ wird vergehen, es unterliegt wie alles Vergehende der
Vergänglichkeit. Dem Körper jedoch und damit dem Menschen als Person vor Gott
gilt dessen auferweckendes Handeln. Das performative Moment in dieser Passage
steckt in der abstrahierenden Rede von einem Organ, das in sexualethischer
Absicht vom Körpersein des Menschen getrennt wird. Hier lassen sich praktisch-
theologische und religionspädagogische Anschlussfragen entwickeln, die nicht
nur für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körpersein und der eigenen
Sexualität, sondern auch mit dem fraglichen Objektstatus des Körpers oder ein-
zelner Organe in Diskursen der künstlichen Intelligenz (KI) oder der Intensiv-
medizin unerwartete Aufschlüsse erbringen können.
Zum anderen hat solches Fleisch, das ursprünglich als Opferfleisch für
Gottheiten vorgesehen war, verderbliche Wirkungen, wenn es als ihnen zugehö-
riges verzehrt wird (1 Kor 8.10). Das „Götzenopferfleisch“ ist „nichts“, deshalb
kann man es genießen ohne Skrupel, denn die Gottheiten sind nichtig. Was aber
bedeutet in diesem Zusammenhang die offenbar konzedierende Feststellung,
dass es allerdings „Götter und Herren“ tatsächlich gibt (1 Kor 8,8)? Das perfor-
mative Moment ist hier in der spezifischen Frage nach der Wirklichkeit der Götter
Vgl. einführend Arnd-Michael Nohl, Pädagogik der Dinge (Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klink-
hardt, 2011); Jörg Zirfas und Leopold Klepacki, „Die Performativität der Dinge: Pädagogische
Reflexionen über Bildung und Design“, in Mensch und Ding: Die Materialität pädagogischer
Prozesse, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 25, hg.v. Arnd-Michael Nohl und Christoph Wulf
(Wiesbaden: Springer VS, 2013), 43 – 57.
Arnd-Michael Nohl und Christoph Wulf, „Die Materialität pädagogischer Prozesse zwischen
Mensch und Ding“, in Mensch und Ding, hg.v. A.-M. Nohl und Chr. Wulf, 1– 13, 4.
Becher, Kreuz und Brot 49
und ihrer Wirkmacht im zu verzehrenden Fleisch zu sehen; ihre Macht gilt als
eindeutig gebrochen, und doch gewinnen sie diese in dem Maße, wie sie ihnen
zugebilligt wird. Religionspädagogische Anschlussfragen liegen auf der Hand:
Wie halten wir es mit der Wirklichkeit solcher Mächte, denen wir Gewalt über uns
zubilligen (vgl. 10,20 f.)?
Und, um ein drittes Beispiel zu nennen, die Frage der Kopfbedeckung spielt
zu Beginn des elften Kapitels eine entscheidende Rolle. Konkret geht es um die
Frage, ob ich als Frau mit unverhülltem Kopf oder als Mann mit verhülltem Kopf
bete (1 Kor 11,4 ff). Auch an dieser Stelle spielt für die Performativität der Dinge, in
diesem Fall des Haupthaars oder der Kopfbedeckung, der Verweis auf jenseitige
Mächte die ausschlaggebende Rolle (vgl. v10). Gen 6,2 und seine Rezeptionsge-
schichte im antiken Judentum⁷ erinnern daran, dass nicht nur die „Natur“ (v14),
Anstand und Sitte (v13.15), die übergemeindliche Praxis (v16) oder das biblische
Narrativ der geschöpflichen Abfolge von Mann und Frau (v7– 9), sondern auch die
unsichtbare Präsenz der Engel (vgl. 6,3) zu den Faktoren gehört, die das Haupt-
haar bzw. die Kopfbedeckung performativ aufladen. Auch hier lohnen sich
praktisch-theologische und religionspädagogische Anschlussfragen. Denn das
eigene Aussehen, das Design meines Auftretens, meiner Kleidung, meiner Kör-
perlichkeit, hat für meine figurierte Identität⁸ entscheidende Bedeutung und ist
nicht lediglich eine Sache funktioneller Sachdienlichkeit. Überdies können ent-
sprechende Reflexionsgänge mit Schülerinnen und Schülern intratextuell in Re-
lation zu der Aussage in v11 gebracht werden, mit der die additive Argumentation
des Passus überboten wird: In der Beziehung zur Geschichte Jesu Christi werden
all diese Hinsichten, also eben auch die Performativität der Designs der eigenen
Person, überholt, denn in dieser Beziehung gilt die soziale, sexualethische und
existentielle Aufeinander-Gewiesenheit der Geschlechter und sexuellen Orien-
tierungen.
Im ersten Korintherbrief liegt die Performanz der Materialität, sei es des
Magens oder der körperlichen wie personalen Dimension der Sexualität, einer
Vgl. z. B. äthHen 6 f.; 19,1; Jub 4,21 f.; 5,1; syrBar 56,10 – 12; TestRub 5.
Vgl. dazu Rainer Leschke, „Die Figur als mediale Form“, in Formen der Figur: Figurenkonzepte in
Kü nsten und Medien, hg.v. Rainer Leschke und Henriette Heidbrink (Konstanz: UVK, 2010),
29 – 49; Philipp Stoellger, „Anthropologie der Figuration: Konfigurationen von Mensch und Me-
dium zwischen De- und Transformation“, in Figurationen des Menschen: Studien zur Medienan-
thropologie, hg.v. Philipp Stoellger (Würzburg: Königshausen und Neumann, 2019), 251– 299;
Eckart Reinmuth, „Macht und Ohnmacht: Zur Performativität ethischer Kommunikation im Ga-
laterbrief“, in Paulus und seine Gemeinden: Die Wechselwirkung zwischen Idealbildern und Rea-
litäten in den authentischen Paulusbriefen, ABG 66, hg.v. Felix John und Christian Wetz (Leipzig:
Evangelische Verlagsanstalt, 2021), 173 – 191.
50 Eckart Reinmuth
Mahlzeit oder des Verzichts auf diese, einer Kopfbedeckung oder des Haupthaars
sinnfällig vor Augen. Paulus bietet in diesen drei Fällen einiges an argumentati-
vem Gewicht auf, um seine Auffassungen zu untermauern. Die Frage der Ge-
wichtung der Argumente ist verwirrend und widersprüchlich. Mit Blick auf die
„Performanz der Materialität“ ergeben sich vielfältige Anknüpfungspunkte, die
die uns fremde antike Welt des Paulus und ihre Enzyklopädie so erhellen können,
dass dialogische Beziehungen zu seinen Texten befördert werden können.
Überdies ist die mediale Funktion der Dinge zu beachten. Sie gilt nicht nur mit
Blick auf das Brot oder den Becher, die im Zusammenhang des Herrenmahls die
entscheidende Rolle spielen (s.u.), sondern auch für jedes der drei genannten
Beispiele. Sie illustrieren den medialen Charakter der Dinge, deren Diskurse
konstitutiv für die Beziehungen in der Gemeinde und des Autors Paulus mit der
Adressatengemeinde sind.⁹
Vor diesem diskursiven Hintergrund ist nun mit Blick auf den ersten Korin-
therbrief zu fragen, wieso der Gegenstand Stauros „entleert“ werden kann, wenn
es sich doch lediglich um ein Hinrichtungsinstrument handelt (1 Kor 1,17).¹⁰ Wieso
können Becher und Brot die Gemeinschaft „sein“, als die die das Herrenmahl
feiernde Gemeinde sich als „ein Leib“ vergegenständlicht sehen darf (1 Kor 10,16)?
Diese Gemeinde darf sich als „ein Leib“ begreifen, weil sie in der Perspektive des
ersten Korintherbriefes einzig durch das erwählende Schöpferhandeln Gottes
konstituiert wird, wie es sich in der Geschichte Jesu Christi realisiert (1 Kor
1,26 – 31). Hier stoßen wir auf gemeindliche Subjektwerdungsprozesse,¹¹ die im
Zusammenspiel mit der performativen Gegenständlichkeit von Becher und Brot
Zirfas und Klepacki stellen grundsätzlich fest: „Dinge […] sind Medien, da sie Beziehungen
stiften zwischen dem Menschen und der Welt, zwischen dem Einzelnen und den Mitmenschen
und zwischen sich und sich selbst.“ (J. Zirfas und L. Klepacki, Performativität, 52).
Der griechische Ausdruck stauros ist – ähnlich wie die lateinische crux, ein „Marterholz zum
anpfählen, hängen, spießen oder kreuzigen“ (s. Karl-Ernst Georges, Ausführliches Lateinisch-
Deutsches Handwörterbuch [Hannover: Hahnsche Buchhandlung, 82010], s.v.) – zunächst eine
neutrale Bezeichnung für einen aufrecht stehenden Pfahl, der als Pfahl zum Aufspießen oder
auch als Palisadenpfahl verwendet werden kann (vgl. Johann Georg Wilhelm Pape, Griechisch-
deutsches Wörterbuch, Bd. II, [Braunschweig: Vieweg & Sohn, 61914] [Neudruck Graz: Akademi-
sche Druck- und Verl.-Anstalt, 1954], s.v.; Hermann Menge und Otto Gü thling, Langenscheidts
Großwörterbuch Altgriechisch: Unter Berü cksichtigung der Etymologie (Berlin u. a.: Langenscheidt,
20
2001), s.v.
Vgl. dazu Eckart Reinmuth, „Subjekt werden: Zur Konstruktion narrativer Identität bei Paulus,
Johannes und Matthäus“, in ders., Neues Testament, Theologie und Gesellschaft: Hermeneutische
und diskurstheoretische Reflexionen (Stuttgart: Kohlhammer, 2012), 331– 358. Zur Bedeutung
„konjunktiver Transaktionsräume“ für Sozialisations- und Bildungsprozesse vgl. A.-M. Nohl,
Pädagogik, 176 ff.199 ff.
Becher, Kreuz und Brot 51
Dabei spielt die Relation zwischen der körperlich-materialen Realität der angesprochenen
Gemeinde und ihrer imaginären Verfasstheit (vgl. dazu grundlegend Cornelius Castoriades, Ge-
sellschaft als imaginäre Institution: Entwurf einer politischen Philosophie, stw 867 [Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1990] [1984; orig. L’Institution imaginaire de la société, Paris 1975]) die entscheidende
Rolle. Zirfas und Klepacki weisen zu Recht auf das komplexe Relationsverhältnis hin, in dem
„Sinnlichkeit, Reflexivität und Dinge“ stehen und den „Aufbau des selbstbezogenen Verstehens,
Strukturierens und Handelns“ ermöglichen, J. Zirfas und L. Klepacki, Performativität, 47. Zu den
sozialen Komponenten antiker christlicher Glaubenskommunikation vgl. Michael C. McCarthy,
„Modalities of Belief in Ancient Christian Debate“, JECS 17 (4) (2009): 605 – 634.
Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 11,17 – 14,40), EKK VII/3 (Zürich/
Neukirchen-Vluyn: Benziger und Neukirchener Verlagsgesellschaft, 1999), 22.
Vgl. zu dieser Paraphrase und zum Folgenden Eckart Reinmuth, „Brot-Brechen und Körper-
Gemeinschaft: Herrenmahl und Gemeinde im ersten Korintherbrief“, ZNT 27 (2011): 46 – 50.
52 Eckart Reinmuth
Brotes. Das Brechen des Brotes versinnbildlicht die gewaltsame und qualvolle
Tötung Jesu. „Mein Leib“ bezieht sich auf den konkreten Körper Jesu, der aus-
geliefert und zerstört wird. Die Übersetzung soma durch „Leib“ lässt kaum
deutlich werden, dass es konkret um einen in den Foltertod gegebenen Körper
geht. Die vergegenwärtigende Erinnerung,¹⁵ von der am Ende des Verses als Ziel
des wiederholenden Handelns der Gemeinde die Rede ist, bezieht sich auf diesen
Erzählinhalt und damit auf den Gesamtkontext der Jesus-Christus-Geschichte.¹⁶
Das Abendmahl vergegenwärtigt den Tod Jesu in den Deuteworten zu Brot
und Wein, die als narrative Abbreviaturen, als zusammenfassende Formulierun-
gen von Erzählkomplexen,¹⁷ für das Ganze der Jesus-Christus-Geschichte stehen.
Die Gemeinschaft der zum Mahl versammelten Gemeinde wird exklusiv von
dorther begründet.
Sieht man in der sozial kommunizierten, „objektiv anerkannte[n] Realität das
Resultat stä ndiger Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Artikula-
tionen,“¹⁸ dann kann man die die Performativität von Becher, Kreuz und Brot
konstituierende Narrativität in ihrer Widersprüchlichkeit herausarbeiten: Der
Vernichtung, dem Vergossen- und Zerbrochenwerden steht der lebendige und
Leben verheißende Christus gegenüber. Die Präsenz des am Kreuz Getöteten im
Mahl bedeutet Rettung und Leben für die Glaubenden. Es ist dieser Antagonis-
mus, der für die Stiftung des kommunizierten Sinns und mit ihr der geglaubten
Identität von Becher, Kreuz und Brot konstitutiv ist.¹⁹
Paulus deutet das Abendmahl als wiederholende Vergegenwärtigung der
performativen Zeichenhandlung Jesu. Das „ihr verlautbart“ (kataggellete) in v26
ist ebenfalls performativ zu verstehen: Für Paulus geht es um die iterative Rea-
lisierung dessen, was die ursprüngliche Zeichenhandlung bedeutete. Dass der
„Tod des Herrn“ (thanatos tou kyriou) zur Darstellung kommt, heißt nicht, dass
Vgl. zu dieser Wendung Jens Schröter, Das Abendmahl: Frühchristliche Deutungen und Impulse
für die Gegenwart, SBS 210 (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2006), 35 Anm. 50.
Vgl. Eckart Reinmuth, „Neutestamentliche Wissenschaft – das Politische“ (online abrufbar
unter https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/200951/, Lesedatum: 13.10. 2021)
Eckart Reinmuth, „Allegorese und Intertextualität: Narrative Abbreviaturen der Adam-Ge-
schichte bei Paulus (Röm 1,18 – 28)“, in Die Bibel im Dialog der Schriften: Konzepte intertextueller
Bibellektü re, NET 10, hg.v. Stefan Alkier und Richard B. Hays (Tü bingen: Narr, 2005), 57– 69.
Joscha Wullweber, „Konturen eines politischen Analyserahmens – Hegemonie, Diskurs und
Antagonismus“, in Diskurs und Hegemonie: Gesellschaftskritische Perspektiven, hg.v. Iris Dzudzek,
Caren Kunze und Joscha Wullweber (Bielefeld: Transcript, 2012), 29 – 58, 40.
Vgl. Eckart Reinmuth, „Positionen im Konflikt: Neutestamentliche Antagonismen in neuer
Perspektive“, in Antagonismen in neutestamentlichen Schriften: Studien zur Neuformulierung der
„Gegnerfrage“ jenseits des Historismus, Beyond Historicism – New Testament Studies Today 1,
hg.v. Stefan Alkier (Paderborn et al.: Brill und Schöningh, 2021), 45 – 70.
Becher, Kreuz und Brot 53
der Tod des Herrn sich in einem erneuten Opfer ereignet, sondern dass seine
Bedeutung sich im körperlichen Vollzug des Abendmahls realisiert.
Die Drastik der expliziten Körperlichkeit wird im Kontext der hier implizierten
Gottesgeschichte herausgestellt und ist ohne diese nicht verständlich. Beide
‚Geschichten‘ sind nicht in eine immanente gegenüber einer transzendenten zu
abstrahieren. Paulus geht es um das Verständnis der Lebens-Geschichte des Ge-
kreuzigten als Geschichte Gottes. Es geht ihm darum, im Gekreuzigten Gott zu
erkennen.
So, wie das Brechen des Brotes den gewaltsamen Tod Jesu symbolisiert, ist
auch der Becher Sinnbild für die sich an Jesus auswirkende Todesgewalt (11,25).
Auch hier geht es mit dem ‚Blut‘ um den gewaltsamen Tod Jesu; vgl. Röm 3,25; 5,9.
Diese beiden Verweisstellen bestätigen, dass die sich an Jesus stellvertretend
auswirkende Todesgewalt die Glaubenden nicht mehr trifft. Ihnen gilt vielmehr
die Einladung zu dem neuen Bundesschluss Gottes, der sich für sie im Gemein-
schaftsmahl versinnbildlicht.
Alle bisherigen narrativen Wendungen, die sich auf den Kontext der Passi-
onsgeschichte bezogen, werden hier auf den „Tod des Herrn“ fokussiert und mit
dieser komplexen Abbreviatur zusammengefasst. Dabei ist eine ähnliche Vor-
aussetzung zu berücksichtigen, wie sie im Übergang von 1,17 zu 1,18 sichtbar wird:
Mit dem „Kreuz Christi“, das sinnentleert werden kann, ist seine Bedeutung, das
„Wort vom Kreuz“, gemeint. In gleicher Weise ist mit dem „Tod des Herrn“ die
Bedeutung gemeint, die er im Licht des auferweckenden Handelns Gottes erhalten
hat.
Im nachlaufenden Kontext sprechen noch einmal v27.29 in aller Schärfe vom
zum Tode geschundenen Körper des Herrn. v27 wiederholt mit ‚Blut‘ und ‚Körper‘
die beiden bereits verwendeten narrativen Abbreviaturen. Sie verweisen auf den
Maßstab, den die Feier des Herrenmahls an der Passion des Kyrios nehmen soll.
Eine ‚unwürdige‘ Teilnahme, die sich konkret in der praktischen Nichtaufhebung
des sozialen Gefälles in der Gemeinde äußert (vgl. vv17– 22), käme in paulinischer
Perspektive dem Handeln der Feinde Gottes in der Passionsgeschichte gleich.
Paulus macht damit den strengen Bezug geltend, den er zwischen dem Leben
vermittelnden Herrenmahl und dem Tod Jesu Christi sieht. In dieser Perspektive
kommt alles darauf an, die Gestalt des Mahls vom Bezug auf seinen in den Tod
gegebenen Körper bestimmt sein zu lassen (v29).
Insofern geht es mit dem ‚Unterscheiden des Leibes‘ (diakrinein to soma 11,29)
nicht um eine richtige Beurteilung bzw. angemessene Wahrnehmung der Mahl-
elemente, sondern um das Identifizieren der alles überwindenden Lebensmacht
Gottes am gefolterten, dem Tod ausgelieferten Körper Christi. Diese Lebensmacht
Gottes ist zugleich richtende Macht (vgl. nur 1,18; 5,13), die sich auch an denen
auswirkt, die zu eigenem ‚Richten‘ sich selbst gegenüber nicht bereit sind (11,31 f).
54 Eckart Reinmuth
Die einfachen, alltäglichen Gegenstände – das Brot, der Wein – sind die
materialen Bezugspunkte dessen, was in der Kommunikation des Herrenmahls
geschieht. Sie stehen dafür, dass es hier nicht um „bloße Worte“ geht, sondern für
das, was sich ereignet und die neue Wirklichkeit konstituiert. Sie stellen zugleich
eine materiale Brücke her zu dem, was geschehen ist. Sie sind in diesem Sinne
unersetzlich.²⁰
3 Abjektion
Fü r Paulus ist entscheidend, dass Jesus von Nazareth, der ‚Herr der Herrlichkeit‘ (1
Kor 2,8), dem die Gemeinde ihre Praxis des Gemeinschaftsmahls verdankt, zu
Tode gefoltert wurde, und dass es dieser Tod ist, der im gemeinsamen Mahl ver-
gegenwärtigt wird. Paulus betont diesen Umstand, indem er im Zusammenhang
des Herrenmahls nicht nur von Christi Tod (vgl. 1 Kor 11,26), sondern auch von
seinem Blut (vgl. 1 Kor 10,16; 11,25.27) oder Körper (10,16; 11,24.27.29) spricht.
Ein Gekreuzigter ist ein von Gott Verfluchter (Gal 3,13). Er ist in der Perspektive
des kulturellen Wissens, das Paulus mit seinen Adressaten teilt, ein von der Ge-
sellschaft Verworfener, Ausgestoßener, Nichtexistenter. Die Kreuzesstrafe wurde
als mors turpissima, als schändlichster, schimpflichster, hässlichster Tod, als
summum supplicium, als die höchste, kaum zu überbietende Strafe verstanden,
die als äußerste Schändung eines Menschen verstanden wurde. Allein von ihr zu
reden, verbot sich in bestimmten Kreisen von selbst. Es ist deshalb bezeichnend,
dass Paulus am Anfang des ersten Korintherbriefs das „Wort vom Kreuz“, als eine
Vgl. Luthers Beharren auf dem „hoc est“. Mit einem „hoc significat“ wäre die Substituier-
barkeit dessen, was da etwas darstellen soll, unterstellt. Die lutherische Tradition hat mit ihrem
Festhalten an dem hoc est den Umstand betont, dass in der reinen Materialität des Vollzugs das
Gleichnis sich verwirklicht, ohne dass es gedeutet, in seiner Bedeutung befragt, erklärt, erläutert
werden muss. Franz Rosenzweig (1886 – 1928) stellte 1921 in seinem „Stern der Erlösung“ (Suhr-
kamp, 1988) fest: „Das Gleichnis der Liebe geht als Gleichnis durch die ganze Offenbarung hin-
durch. Es ist das immer wiederkehrende Gleichnis bei den Propheten. Aber es soll eben mehr sein
als Gleichnis. Und das ist es erst, wenn es ohne ein ‚das bedeutet‘, ohne Hinweis also auf das,
dessen Gleichnis es sein soll, auftritt.“ (a.a.O. 221 f.). In der gleichen Zeit, im Herbst 1922, entstand
Franz Kafkas denkwürdiger Text „Von den Gleichnissen“, der in eine vergleichbare Richtung zielt
(veröffentlicht in Franz Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, hg.v. Max Brod und Hans Joa-
chim Schoeps [Berlin: Kiepenheuer, 1931]. Zur Interpretation dieses Textes vgl. Sabine I. Gölz,
„Kafka und die Parabel / das Parabolische: Gibs auf! Von den Gleichnissen und Der Jäger Grac-
chus“, in Kafka-Handbuch, hg.v. Bettina von Jagow und Oliver Jahraus (Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht, 2008), 239 – 249; Oliver Jahraus, „Sich selbst interpretierende Texte: Franz Kafkas
‚Von den Gleichnissen‘“, Poetica 26 (1994): 385 – 408.
Becher, Kreuz und Brot 55
abstoßende und dreiste oder lächerliche Dummheit bezeichnet (moria 1 Kor 1,18).
Es ist ein skandalon, dessen öffentliche Proklamation Verfolgung provoziert (Gal
5,11; 6,12). Stand im Zentrum des frühen Christentums die Geschichte Jesu Christi,
so war es gerade seine Todesart, ein Sklaventod²¹ mit einer eindeutigen politi-
schen Symbolik,²² der diese junge religiöse Bewegung verdächtig machte.²³ Der
sogenannte Philipperhymnus spricht betont von Jesu „Tod am Kreuz“, nachdem
er den Weg des Gottgleichen bis zur Existenz eines Sklaven skizziert hat (Phil
2,7 f.). Beides gehört in sozialhistorischer Hinsicht und mit Blick auf das soziale
wie politische Imaginäre antiker Gesellschaften zusammen. Christus als der, der
Gott gleich war (Phil 2,6), ist indessen in seiner Sklavenexistenz als Mensch er-
kennbar, wie Phil 2,7b in doppelter Weise unterstreicht (er „ward den Menschen
gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt“).
Diese wenigen Beobachtungen sprechen dafür, dass die in antiken Kontexten
kommunizierte Performativität des Gegenstands „Kreuz“ (stauros) nicht lediglich
auf der physischen Grausamkeit des Kreuzestodes beruht. Um den imaginären Ort
in der politischen Symbolik zu benennen, den die antike römische Gesellschaft
der Praxis des Kreuzigens zugewiesen hat, verweise ich auf den von Julia Kristeva
entwickelten Begriff des Abjekts. Kristeva brachte diesen Begriff 1980 in ihrem
Essai sur l’abjection ins Spiel.²⁴ In ursprünglich subjekttheoretischer Hinsicht
Zur Kreuzigung als servile supplicium vgl. Martin Hengel, „Mors turpissima crucis: Die Kreu-
zigung in der antiken Welt und die ‚Torheit‘ des ‚Wortes vom Kreuz‘“, in Rechtfertigung: FS Ernst
Käsemann, hg.v. Johannes Friedrich, Wolfgang Pöhlmann und Peter Stuhlmacher (Tübingen und
Göttingen: Mohr Siebeck und Vandenhoeck & Ruprecht, 1976), 125 – 184,156 – 164; Heinz-Wolfgang
Kuhn, „Die Kreuzesstrafe während der frühen Kaiserzeit: Ihre Wirklichkeit und Wertung in der
Umwelt des Urchristentums“, in ANRW II: Principat 25/1, hg.v. Hildegard Temporini und Wolfgang
Haase (Berlin/New York: de Gruyter, 1982) 648 – 793, 719 – 723; Martin Hengel, Crucifixion in the
Ancient World and the Folly of the Message of the Cross (Philadelphia: Fortress Press, 51989), 51– 63.
Vgl. dazu Eckart Reinmuth, „Das Bild Gottes als Politikum: Die Metapher der imago Dei im
frühen Christentum“, in Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes, HUTh 58, hg.v. Philipp
Stoellger und Thomas Klie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011), 257– 274.
Christian Strecker, „‚Ich schäme mich des Evangeliums nicht …‘ Ehre, Scham und Schuld in
der kulturwissenschaftlichen und neutestamentlichen Forschung“, in Die verborgene Macht der
Scham: Ehre, Scham und Schuld im alten Israel, in seinem Umfeld und in der gegenwärtigen Le-
benswelt, BThSt 173, hg.v. Alexandra Grund-Wittenberg und Ruth Poser (Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht, 2019), 183 – 220, verweist in diesem Zusammenhang auf gegenwärtige Debatten um
Scham- vs. Schuldkulturen mit Blick auf die antike mediterrane Kultur (198 ff). Zur Bezeichnung
der Kreuzesstrafe als Schande im Hebräerbrief vgl. Eckart Reinmuth, „Performativität und Gewalt
im Hebräerbrief“, in Deutungsmacht: Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten,
HUTh 63, hg.v. Philipp Stoellger (Tübingen: Mohr Siebeck, 2014), 187– 204.
Julia Kristeva, Pouvoirs de l’horreur: Essai sur l’abjection (Paris: Seuil, 21983); dies., Powers of
horror: An essay on abjection (New York: Columbia University Press, 1982).
56 Eckart Reinmuth
beschreibt der Begriff des Abjekts, abgeleitet von lat. abicere (‚wegwerfen‘ oder
‚fallen lassen‘), „die Relation zwischen dem Subjekt und allem, was seinen Wi-
derwillen oder Ekel hervorruft oder es mit seinen Ängsten konfrontiert.“²⁵
Das Abjekt ist in dieser tiefenpsychologischen Perspektive weder Subjekt
noch Objekt. Das Abjekt gilt vielmehr als „das, was jegliche Grenzziehung un-
möglich zu machen droht. Vor allem, weil es dem Subjekt versagt, was ihm Ob-
jekte gewöhnlich liefern: die Möglichkeit, sich mit ihrer Hilfe durch Abgrenzung
oder Aneignung zu definieren. Während das Subjekt den Objekten mit Begehren
begegnet, ist seine Haltung zu den Abjekten durch Ausschließung bestimmt.
Trotzdem kann das Abjekt sich in Objekten verdichten.“²⁶
Im Gefolge Kristevas hat ein Ablösungsprozess vom ursprünglich tiefenpsy-
chologisch motivierten Modell eingesetzt, der die Aufmerksamkeit vom mütter-
lichen Körper und seiner Bedeutung für die Subjektwerdung auf das Abjekt als
subjekt- und gesellschafts-konstitutives Außen richtet, das durch Abjektivie-
rungsprozesse ständig hervorgebracht wird (Judith Butler). In den kultur- und
gesellschaftstheoretischen Diskursen geht es zunehmend darum, das Abjekt bzw.
entsprechende Abjektivierungsprozesse als sozialpsychologische Phänomene zu
begreifen. Gesellschaften verwerfen im Interesse ihrer Stabilität kollektiv sie ge-
fährdende Wirklichkeiten, Phantasien, Verhaltensweisen.²⁷ Das soziale Abjekt
wird zu dem in Gesellschaften radikal Ausgeschlossenen und zugleich als Aus-
geschlossenes in ihnen Präsenten. Seine Ausgrenzung bzw. Verwerfung, die ste-
tigen Abjektionsprozesse also, gelingen nicht vollständig. Vielmehr bricht das
Abjekte immer wieder in die bestehende Ordnung ein und macht sich in Reak-
tionen der Abwehr, des Ekels oder des Abscheus bemerkbar.
Das Kreuz war ein Abjektionsinstrument der antiken römischen Gesellschaft.
Es diente dazu, gerade solche Vergehen, die die kulturell, politisch und sozial
konstruierte Wirklichkeit gefährdeten, unterminierten oder in Frage stellten, auf
Sylvia Mieszkowski, „Subjekt, Objekt, Abjekt“, in Handbuch Literatur und Materielle Kultur,
hg.v. Susanne Scholz und Ulrike Vedder (Berlin/Boston: de Gruyter, 2018), 99 – 107, 104.
Zum Begriff des Ekels vgl. Winfried Menninghaus, Ekel: Theorie und Geschichte einer starken
Empfindung (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999). Das Schlusskapitel des Buches ist dem Stichwort
Abjekt gewidmet und enthält eine kritische Auseinandersetzung mit Kristevas Entwurf (516 – 567).
S. Mieszkowski, Subjekt, 104 f.
Mit Martina Biebert und Michael Schetsche lässt sich feststellen: Das Konzept der Abjektion
bietet eine Möglichkeit, „die Entstehung von schwerwiegenden Wirklichkeitskrisen, welche die
Wissensordnung als Ganzes oder doch zumindest einige ihrer zentralen Bestandteile infrage
stellen wü rden, zu vermeiden und damit die Stabilität der Gesellschaftsordnung sicherzustellen.“
(Martina F. Biebert und Michael T. Schetsche, „Theorie kultureller Abjekte: Zum gesellschaftlichen
Umgang mit dauerhaft unintegrierbarem Wissen“, BEHEMOTH: A Journal on Civilisation 9 [2016]:
97– 123, 116).
Becher, Kreuz und Brot 57
sinnfällige Weise gleichsam aus der Welt zu schaffen.²⁸ Wenn permanente Ver-
werfungsprozesse zur Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse gehören, be-
steht ein wesentlicher Beitrag neutestamentlicher Theologie mit Blick auf das
Politische darin, die gesellschaftliche Wahrnehmung des Abjektiven zu unter-
stützen sowie kulturell, gesellschaftlich oder politisch Verworfenes zu identifi-
zieren und sichtbar zu machen. Damit sind erhebliche Konsequenzen für die
theologische Wahrnehmung des Politischen verbunden.
Eine sozialpsychologische Perspektive, die die Kreuzesstrafe als antikes Ab-
jektionsinstrument versteht, lässt den Zusammenhang mit dem Atheismusvor-
wurf gegen die Christen²⁹ deutlicher werden. Sie wurden als die sich selbst aus der
Gesellschaft Ausschließenden und von ihr Ausgeschlossenen, als zu Recht Aus-
gestoßene im Dienste der kulturellen Sicherung der hegemonialen Ordnung der
Welt und der sozialen Wirklichkeit wahrgenommen.³⁰
Antike Gesellschaften wie die römische der Kaiserzeit definierten sich durch
Ausgrenzung des Fremden. So beruhte etwa die Entstehung und Begrü ndung der
antiken Sklaverei auf der Ausgrenzung der Nichtgriechen, der Barbaren. Die
Modelle von Universalität, die in der hellenistisch-römischen Antike entwickelt
wurden, basierten auf einer politischen Anthropologie, die Menschsein so defi-
nierte, dass gesellschaftliche Identitäten durch Grenzziehungen entwickelt wer-
Vgl. Joel Marcus, „Crucifixion as parodic exaltation“, JBL 125 (2006): 73 – 87. Marcus weist
nach, „that crucifixion was widely understood as parodic enthronement in the ancient world.“
(86). Wichtige Aspekte zur sozialen Symbolik der Kreuzesstrafe einschließlich ihrer Beziehungen
zur antiken Komik hat Laurence Welburn herausgearbeitet: Paul, the fool of Christ: a study of 1
Corinthians 1 – 4 in the comic-philosophic tradition (London: A&C Black, 2005), 129 – 146.
Vgl. zu diesem Vorwurf Eckart Reinmuth, Paulus. Gott neu denken (Leipzig: Evangelische
Verlagsanstalt, 22018), 154 ff.; Wilhelm Nestle, Art. „Atheismus“, in RAC I, 1950, 866 – 870, 869 f.;
Werner Schäfke, Frühchristlicher Widerstand, ANRW II 23.1 (Berlin: de Gruyter, 1979), 460 – 723,
627– 630; Adolf von Harnack, Der Vorwurf des Atheismus in den drei ersten Jahrhunderten, TU 28
(Leipzig: Hinrichs, 1905).
Vor genau 50 Jahren erschien Jürgen Moltmanns grundlegende Studie Der gekreuzigte Gott
(München: Kreuz-Verlag, 1972). Moltmann verwies damals eindringlich unter der Kapitelüber-
schrift „Der Widerstand des Kreuzes gegen seine Deutungen“ (34– 44) auf den Zusammenhang
zwischen dem scheußlichen Sklaventod der Kreuzigung, den Jesus gestorben war, und der
„Ausstoßung aus der Gesellschaft“ (36), die denen galt, die in diesem Gekreuzigten den Gott
Israels erkannten (35 ff.). Stefan Alkier hat eindringlich auf die Bedeutung der Materialität des
Kreuzes für den christlichen Glauben hingewiesen: „Das hölzerne Kreuz ist der historische
Haftpunkt christlichen Glaubens, der ihn davor bewahrt, zu einem intellektuellen Gedankenspiel
zu verblassen. Vor der historischen Realität dieser Hinrichtung […] haben alle mythischen,
symbolischen, konstruktivistischen Verflüchtigungen zu schweigen.“ (Stefan Alkier, „Das Kreuz
ist keine Metapher: Hermeneutische, politische und theologische Verpflichtungen der Jesus-
Christus-Geschichte“, in Wissenschaft, hg.v. S. Alkier und Chr. Böttrich, 15 – 34, 18).
58 Eckart Reinmuth
den konnten. Sie wurden mit höchsten Autorisierungen legitimiert, die die Defi-
nition des Anderen, des Fremden, des Nichtmenschen sicherten. Im Prozess des
Ausgrenzens de-finiert sich die ausgrenzende Gruppe; sie bestimmt ihre Grenzen
im Gegenü ber zu anderen Menschen und anderen Welten. Das kann zur unter-
schiedlichen Zuschreibung von Werten fü hren, bei denen die eigene Überlegen-
heit konstruiert wird; ihr steht die Abwertung der anderen gegenü ber. Gerade
diejenigen Werte werden den Ausgegrenzten abgesprochen, auf die man selbst
stolz ist.
Die Geschichte Jesu Christi setzte die Geschichte des Gottes Israels fort und
brach sie zugleich. Ihre Kraft unterschied sich radikal von der imperialen Gewalt,
die auf der politischen Anthropologie der Ausgrenzung basierte. Ihre Adressaten
waren von Beginn an die Ausgegrenzten (vgl. 1 Kor 1,26 ff.), und ihr Inhalt war der
Gott, der durch seine Zuwendung selbst zum Ausgegrenzten wurde (vgl. z. B. Hebr
13,11– 13).³¹
Die begriffliche Rede von einer „Performanz der Dinge“ ist offenkundig an-
fällig für ein magisches oder fetischisierendes Missverständnis.³² Deshalb ist die
narrativ kommunizierte Symbolik eines antiken sozialen Abjektionsmittels wie
der Kreuzesstrafe zu berücksichtigen, die der Autor mit den Adressaten teilt.³³
Paulus geht es um diese Symbolik. Denn das Abscheulichste, was das gesell-
schaftliche und politische Imaginäre der römischen Antike kennt, wird zum Ort
der Gottesgeschichte. Das ist der Kern der Performativität des „Kreuzes“ – nicht
der Performanz eines Hinrichtungspfahles (s.o. Anm. 10), sondern der an diesem
Ort sich ereignenden Geschichte.
In religionspädagogischer Hinsicht kann es gewinnbringend sein, neutesta-
mentliche Kennzeichnungen der Kreuzesstrafe und der Kreuzigung Jesu zusam-
menzustellen, ihren Spannungsreichtum herauszuarbeiten und sie mit weiteren
antiken Bewertungen und Zeugnissen zu kontextualisieren. Die Frage, warum der
Iris Därmann stellt treffend fest, es gebe ein „Außerhalb der Polis“, das nur für „Götter, Tiere
oder Sklaven vorgesehen“ sei; vgl. dies., Figuren des Politischen, stw 1911 (Berlin: Suhrkamp,
2
2018), 11. Vgl. dazu Hebr 13,13 („Lasst uns hinausgehen aus dem Lager und seine [sc. Jesu]
Schmach tragen“). Es geht um die Hinrichtung des Christus. Sie geschah vor den Toren der Stadt
(vgl. v12); dazu Eckart Reinmuth, „Der Dritte: Eine sozialphilosophische Perspektive auf den
Hebräerbrief“, ZNT 29 (2012): 57– 68. Der Wechsel von ‚Lager‘ (Lev 16,27LXX) zu ‚Tor‘ enthält
offenbar einen Hinweis auf die Passion Jesu (vgl. ähnlich Hans-Friedrich Weiß, Der Brief an die
Hebräer, KEK XIII [Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991], 734); vgl. Mk 15,20//Mt 27,32 f; Joh
19,20 (ein Ort, nahe bei der Stadt). Vgl. die Ortsangabe „außerhalb des Weinbergs“ im Gleichnis
von den bösen Weingärtnern (Mt 21,39//Lk 20,15). Stephanus wurde nach Act 7,58 entsprechend
außerhalb der Stadt gesteinigt.
Vgl. dazu die einleitenden Überlegungen bei J. Zirfas und L. Klepacki, Performativität, 44.
Vgl. zu den Voraussetzungen der vorliegenden Überlegungen E. Reinmuth, Bild, 257– 274.
Becher, Kreuz und Brot 59
stauros Christi (1 Kor 1,17) bzw. das „Wort vom Kreuz“ (v18) als Gottes Kraft be-
zeichnet werden kann, wird auf diese Weise geschärft und nicht nur intellektuell,
sondern auch emotional erfahrbar.
4 Fazit
Es sind stets unsere Narrative, die den Dingen ihre eigentümliche Performanz
verleihen. In der Perspektive einer Performanz des Materiellen ist den Dingen nur
in einem abgeleiteten, uneigentlichen Sinn ein performatives Moment zuzu-
schreiben. In der eucharistischen Praxis ist eine magische Aufladung der Dinge zu
vermeiden.³⁴ Das gilt auch hinsichtlich einer einst weit verbreiteten Auslegung der
paulinischen Warnung, das Abendmahl nicht unwürdig zu sich zu nehmen (1 Kor
11,27– 30; s. dazu o.).³⁵ Eine missverstandene „Performanz der Dinge“ kann dazu
führen, dass die „Elemente“ und nicht die narrativ kommunizierte Handlung im
Mittelpunkt stehen.³⁶
Dinge können durchaus „so etwas wie eine narrative Eigenlogik entfalten“;³⁷
jedoch lässt sich von einer „Performanz der Dinge“ nur sprechen, wenn von
Vgl. die Diskussion bei Hartmut Böhme, „Agency, Performativität und Magie der Dinge“, in
Beseelte Dinge: Design aus Perspektive des Animismus, hg.v. Judith Dörrenbächer und Kerstin
Plüm (Bielefeld: Transcript, 2016), 25 – 49 sowie speziell den Hinweis auf die Performanz der
Waren im Anschluss an Karl Marx (a.a.O. 31), sowie Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, Berei-
cherung: eine Kritik der Ware, stw 2304 (Berlin: Suhrkamp, 2019). Beide Autoren zeigen ein-
drucksvoll die narrative Aufladung der Warenwelt und die Performativität der Wertschöpfungs-
prozesse (vgl. speziell a.a.O. 145 – 201).
Vgl. aktuell z. B. Detlef Löhde, „Jesu Abendmahl: Der Mensch braucht Brot zum Leben“
(online abrufbar unter https://www.biblisch-lutherisch.de/glaubenskurs-bibl-begriffe/glaubens
kurs-immanuel/jesu-abendmahl/, Lesedatum: 20.08. 2021): „Wer zum Abendmahl kommt und
nicht an Jesus glaubt und auch meint, beim Essen und Trinken handele es sich nur um ganz
normales irdisches Brot und Wein und es bewirke nichts, es sei nicht heilig, sei kein Sakrament,
dem wird es zum Straf-Gericht Gottes (1. Korinther 11, 29).“
In der Sendung „Im Anfang war das Wort“ auf NDR Info kam am Sa., 21.08. 2021, ein ka-
tholischer Militärgeistlicher zu Wort, der von seinem Einsatz in Afghanistan berichtete, bei der ihn
vor einer gefährlichen Patrouille zwei Kameraden um einen Rosenkranz gebeten hätten. Sie
hätten sich als „nicht gläubig“ bezeichnet und auf seine erstaunte Gegenfrage sinngemäß ge-
antwortet, dass sie den Rosenkranz als eine Art Talismann betrachten würden.
Ich erinnere an die berühmte Formulierung aus der Aeneis, wo von den lacrimae rerum die
Rede ist (Vergil, Aeneis 1,462). Aber die lacrimae rerum sind nicht die Tränen, die die Dinge
weinen. Es ist der kriegserfahrene Aeneas, der unter Tränen über die leidgesättigte Welt spricht
(1,459 ff).
Vgl. Dorothee Kimmich, „Dinge in Texten“, in Handbuch Literatur und Materielle Kultur, hg.v.
Susanne Scholz und Ulrike Vedder (Berlin/Boston: de Gruyter, 2018), 21– 28, 24.
60 Eckart Reinmuth
Die Dinge verweisen […] nicht einfach auf eine unabhängig von ihnen existierende Macht,
sondern sie tragen selbst dazu bei, dass soziale Machtstrukturen, Ranghierarchien, Ge-
schlechterrollen usw. erzeugt und stabil gehalten werden. Dadurch, dass sie in Kommuni-
kationszusammenhängen zwischen Menschen zur Geltung gebracht werden, kommt den
Dingen eine ‚soziale Magie‘ zu. Aufgrund ihres gegenständlichen, buchstäblich greifbaren
und sinnfälligen Charakters befördern sie den Glauben an die Objektivität und Unverfüg-
barkeit bestehender Machtverhältnisse.⁴¹
Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Art. „Macht und Dinge“, in Handbuch materielle Kultur: Be-
deutungen, Konzepte, Disziplinen, hg.v. Stefanie Samida et al. (Stuttgart und Weimar: Metzler,
2014), 85 – 88, 85 f.: „Ebenso wie sich instrumentelle und symbolische Dimensionen im
menschlichen Handeln immer miteinander mischen, lassen sich auch Gebrauchswert und
Symbolwert von Dingen kaum voneinander trennen. Durch den Kontext ihres Gebrauchs werden
die Dinge laufend mit Bedeutung aufgeladen und dabei wird umgekehrt ihre Bedeutung ver-
dinglicht und auf Dauer gestellt.“
Vgl. z. B. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthro-
pologie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998); ders., Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur
Wirklichkeit der Wissenschaft (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000); ders., Eine neue Soziologie für
eine neue Gesellschaft (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007). Vgl. dazu A.-M. Nohl, Pädagogik, a.a.O.
34– 42.
Ich verweise exemplarisch auf Bedeutung der „Coups“ der nordamerikanischen Crows in
ihren Auseinandersetzungen mit den Sioux und mit der amerikanischen Kavallerie; vgl. die
plastischen Schilderungen und Reflexionen in Jonathan Lear, Radikale Hoffnung: Ethik im An-
gesicht kultureller Zerstörung (Berlin: Suhrkamp, 2020), 32– 64.
B. Stollberg-Rilinger, Macht, 86 f.
Becher, Kreuz und Brot 61
In der Tat konstituiert sich „die symbolische Macht der Dinge“ dadurch, „dass
Menschen ihnen symbolische, womöglich magisch-sakrale Wirkmacht zuschrei-
ben“.⁴²
Wird mit der „Performanz der Dinge“ ihre soziale Konstitution übersehen
oder unkenntlich gemacht, so wird die individualitätsfixierte Selbstreduktion
gegenwärtiger theologischer Tendenzen und kirchlicher öffentlicher Rede weiter
verstärkt statt überwunden.⁴³ Die „Performanz der Dinge“ verdankt sich den ih-
nen Macht verleihenden Menschen. Dinge, denen Macht verliehen wird, erhalten
einen geborgten Subjektstatus. Die oben gestellten praktisch-theologischen und
religionspädagogischen Anschlussfragen sind gut geeignet, Passagen des ersten
Korintherbriefs mit Blick auf diese komplexe Problematik zu diskutieren.⁴⁴ Mit ihr
sind aktuelle gesellschaftlich-politische und anthropologische Fragen berührt,
die sich exemplarisch mit Blick auf anthropozentrische Projektionen im Diskurs
um künstliche Intelligenz (KI) stellen. In theologischer Perspektive ist die Sub-
jektivität menschlichen Handelns zu reflektieren, die damit anstehende Diffe-
renzierung konstruktiv weiterzuführen und unsere Verantwortung für die Per-
formanz der Materialität zu stärken.
Ebd. 87 f. Vgl. zur Diskussion dieser Problematik auch J. Zirfas und L. Klepacki, Performati-
vität, 50 ff.
Rolf Schieder hat mit Blick auf den soziologischen Rechtfertigungsbegriff des französischen
Soziologen Luc Boltanski zu Recht auf „die geradezu fahrlässig individualistische Struktur“ eines
theologischen Rechtfertigungsbegriffs hingewiesen und gefragt, ob „die soziale Dimension von
Rechtfertigungsprozessen nicht intensiver bedacht werden müsste. Die Theologie kann dem
Vorwurf der Verharmlosung sozialer Verhältnisse und einer romantischen Verkennung der Rea-
litäten nur entkommen, wenn sie zeigen kann, dass ihr Rechtfertigungsverständnis dem sozio-
logischen nicht bloss abstrakt widerspricht, sondern dass das Theologische eine Dimension des
Sozialen eröffnet, die dessen Beschreibung präzisiert und seine Kritik ermöglicht.“ (Rolf Schieder,
„Die Dynamik von Rechtfertigungsdiskursen: Ein theologischer Versuch über Luc Boltanskis
Soziologie der Moral“, in Sphärendynamik I. Zur Analyse postsäkularer Gesellschaften, hg.v. Georg
Pfleiderer und Alexander Heit [Zürich: Nomos, 2011], 159 – 234, 172).
Diese Aufgabe gilt auch in theologischer Hinsicht, also für die Frage, wie von Gott in den
gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontexten in globaler Perspektive zu reden ist. Angesichts der
Gefahr, dass die Karriere einer „Performanz der Dinge“ die traditionell „theistische“ Gottesrede
weiter konservieren und befestigen könnte, erinnere ich erneut an Jürgen Moltmann, Der ge-
kreuzigte Gott (s.o. Anm. 30). Jürgen Moltmann, dessen Buch den Untertitel „Das Kreuz Christi als
Grund und Kritik christlicher Theologie“ trug, stellte fest, „dass der christliche Glaube dem
theistischen Gottesbegriff in seinen philosophischen, politischen und moralischen Spielarten
entgegensteht.“ (a.a.O. 202). Er forderte deshalb, „den Gott des Kreuzes mit allen Konsequenzen
nicht nur im theologischen Bereich, sondern auch im Bereich der Sozialität und der Personalität
des Menschen, im Bereich der Gesellschaft und der Politik und endlich im Bereich der Kosmologie
zu denken.“ (ebd.)
Silke Leonhard
Klarer die Glocken (nie) klingen
Zur Performanz und Resonanz von Glockenklang aus
religionspädagogischer Perspektive
1 Biografische Glockensignaturen
„Wenn die Glocken läuten in den Klöstern, denn is Östern“, so sagt ein alter
Spruch.
Glocken: In Loccum durchtönen sie nicht nur das Kloster und den Campus,
sondern den ganzen Ort. Zum Gottesdienst, vor allem an Sonntagen, läuten
mehrere Glocken. In dem alten Zisterzienserkloster wird seit fast 860 Jahren die
Tradition der Hora im wahrsten Sinne des Wortes eingeläutet: Jeden Abend um
18.00 Uhr läutet eine Glocke auf dem Ton Es – einige Minuten, beständig, wie-
derkehrend. Jeden Abend werde ich auch an meinem Schreibtisch „auf der an-
deren Seite der Fulde“ daran erinnert, dass jetzt Menschen für eine Viertelstunde
diesen Kirchenraum bewohnen, beten, singen. Manchmal läutet dieselbe Glocke
zur Trauerfeier und Beerdigung auf dem Friedhof.
Glocken rahmen auch die Zeit zuhause in meinem Wohnviertel: Wenn abends
um 18.00 Uhr nebenan die Kirchenglocken zu schlagen beginnen, öffne ich die
Fenster und lasse mich mit hineinnehmen in das Abendgeläut. Innehalten vor
dem letzten Tagesviertel, den Tag bis hierher Revue passieren lassen, mich mit
allen anderen in Hoffnung verbinden, das Miteinander der Hoffnungsklänge in
der Welt gemeinsam in Rhythmus und Ritual finden. So klingt und schwingt
Segen.
Dass Glockengeläut das Leben markiert und unterbricht, war schon immer so.
Klingen und Wirken der Kirchenglocken vehement aus einem lebendig-kontex-
tuellen Off heraus die gefühlte Endlosigkeit digitaler Konferenzen unterbrechen,
deren Häufung seit Corona zuweilen eine kaugummiartige zeitliche Dehnung
annimmt, so dass ich sie als durch und durch heilsam erlebe.
Einmal im Jahr ist es für mehr als zwei Tage still. Von Gründonnerstag bis an
die Schwelle von Ostern läuten in vielen Kirchen und Gemeinden die Glocken
nicht – eine Zeit der karfreitäglichen Ruhe und Trauer wird dort als Stille ver-
nehmbar, wo sonst Glockengeläut tönt. Eine Zeit des längeren Nachdenkens, des
An- und Aushaltens im Moratorium des Todes.
https://doi.org/10.1515/9783110762853-005
64 Silke Leonhard
2 Religionskulturelle Streifzüge
Wovon erzählt die Glocke, historisch gesehen? Die Religionsgeschichte der Glocke
ist eine Kulturgeschichte, die in verschiedene gesellschaftliche Bereiche hinein-
reicht.
Da sie in Exodus und in Sirach nur sparsam auf biblische Quellen zeigt, ist ihr
Upcoming erst einige Jahrhunderte später zu verzeichnen. Als Gebimmel am
Obergewand des Hohepriesters symbolisieren neben den Granatäpfeln zwölf
Glöckchen Stämme und Zeiten. In der nachträglichen Deutung werden Verweise
auf Apostel gesehen.
Nach der anfänglichen Ablehnung der Glocken im frühen Christentum mar-
kierten die Klöster – zunächst koptische Köster, dann karolingische – mit den
Klarer die Glocken (nie) klingen 65
Glocken und ihren Schlägen eine Lebensordnung zwischen ora et labora. ¹ Sie
läuteten für die Zeiten des Gebetes und des Gottesdienstes. Damit war eine Aus-
strahlung und Verbindung zwischen profanem und sakralem Raum, zwischen
Menschenzeit und Gotteszeit in das Leben gegeben, denn die Lebenszeit ordnete
sich in Gebet, Arbeit und Muße bzw. Freizeit. Mit den Glocken wurden Gedanken
zu Leben und Tod, Übergängen, Zeit und Ewigkeit hörbar erinnert. Als Glocke der
Verkündigung des Evangeliums nahm sie seitdem all das auch auf: mit Lebens-
erfahrungen von Flucht, Migration und Heimat, Leben und Tod, Krieg und Frie-
den.
Durch gewohnheitsmäßige Rhythmen, Rituale und Regeln wird man hell-
höriger, wenn die Glocke fehlt und ihr Ton nicht erklingt. Fundamental waren
Demontage, Formbruch und gar die quasi tödliche Transformation, als in
Kriegszeiten Glocken aus Bronze eingeschmolzen und zu Kriegsmitteln verbaut
wurden² – ein Schicksal, das sie im 19. Jahrhundert mit Orgelpfeifen aus weichem
Metall wie Zinn teilten.³ Im Ersten wie auch im Zweiten Weltkrieg wurden im
Rahmen von Metallsammlungen reichsweit Kirchenglocken erfasst und syste-
matisch eingeschmolzen. Im Ersten Weltkrieg blieben von der durch das König-
liche Kriegsministerium und unter Strafandrohung vorgenommenen Enteignung
nur Glocken für Signalzwecke des Eisenbahn-, Straßenbahn- und Schifffahrts-
Verkehrs sowie der Feuerwehren ausgenommen. Im Zweiten Weltkrieg ging die
Enteignung vor allem vom Reichskonzern Hermann Göring aus. Interessanter-
weise gab es einen sogenannten Glockenfriedhof in Hamburg, auf dem die beiden
Materialkomponenten Kupfer und Zinn getrennt wurden. Ca. 90.000 Glocken
wurden im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten beschlagnahmt; etwa
Joachim Wanke, „Die Glocke in Religion und Gesellschaft“, in Glocken in Geschichte und Ge-
genwart, Bd. 2, hg.v. Beratungsausschuss für das deutsche Glockenwesen (Karlsruhe: Badenia-
Verlag, 1997), 13.
„Am 1. März 1917 erschien eine amtliche Bekanntmachung, die Einzelheiten zu Beschlag-
nahmung, Bestandserhebung und Enteignung sowie zur freiwilligen Ablieferung von Glocken aus
Bronze enthielt. Auf Ersuchen des Königlichen Kriegsministeriums und unter Strafandrohung
wurden alle Besitzer von Bronzeglocken enteignet – davon ausgenommen wurden Glocken für
Signalzwecke des Eisenbahn-, Straßenbahn- und Schifffahrts-Verkehrs sowie der Feuerwehren.
Im Laufe des Jahres 1917 wurde begonnen, auch alle Glocken von Kirchen zu erfassen und nach
ihrem historischen Wert zu kategorisieren.“ (ausführlich bei Wikipedia, online abrufbar unter
https://de.wikipedia.org/).
Vgl. Alfred Reichling und Matthias Reichling, Die Requirierung der Orgel-Prospektpfeifen in
Deutschland während des Ersten Weltkriegs, Acta Organologica 36 (Kassel: Merseburger, 2019),
221– 400. Entschädigt wurde weder während noch nach dem Krieg weder für die beschlag-
nahmten noch für die faktisch eingeschmolzenen Glocken. Manchmal war es den Kirchenge-
meinden möglich, noch nicht verwertete Glocken später wieder zurückzuführen.
66 Silke Leonhard
15.000 waren bei Kriegsende noch nicht eingeschmolzen und konnten nach
aufwändigen Identifizierungen weitestgehend wieder an ihre ursprünglichen Orte
zurückkehren – dies nach einer Qualitätsklassifizierung.⁴ Für die Vernichtung von
kulturellen Gütern erfolgte keinerlei Entschädigung. Ein Herz aus Stahl; es waren
die Stahlglocken, die aufgrund ihrer harten Materialität Glück hatten und am
Leben erhalten blieben.
Gesellschaftlich kamen und kommen Glocken in kirchlichen und politischen
Brisanzsituationen zum Einsatz: Verkündigungen von Freiheit, von neuem Jahr,
von Trauer – die Ambivalenz bleibt. Jede Menge Glockenbrauchtum schafft
Schellen und Übertragungen von religiösen in säkulare gesellschaftliche Bereiche
– sei es die Morgenglocke, die den Tag angekündigt und bis zur Abendglocke
offenes Feuer erlaubt hat; sei es die Schiffsglocke, welche die Rhythmen der
Wachen angibt in einem ganz anderen Rhythmus als Kirchenglocken. Versamm-
lungsglocken rufen zur Pflicht, in unterschiedlichen Vergemeinschaftungsformen
zusammenzukommen. Mit ihren kulturellen Kontexten verbinden sich funktio-
nale Aspekte, die von ermahnenden über apotropäische Ziele reichen; vor allem
zeigt Geläut auch Gefahr an.
Liturgiegeschichtlich ist wissenswert, dass bereits in altchristlichen
Mönchsgemeinden die Glocke als Rufzeichen zu Gebet und Gottesdienst in Gang
gesetzt wurde; hier wurde Schallwerk eingesetzt. Nach Deutschland kam sie
durch iro-schottische Missionare im 8. Jahrhundert; seit dem Mittelalter ist sie
damit auch sakrales Instrument⁵. Glocken wurden und werden seitdem im
wahrsten Sinne des Wortes gewichtiger, indem sie liturgisch in den Pfarrkirchen,
insbesondere beim Gebet, eingesetzt werden. Seit dem Mittelalter zeigt also die
Betglocke, die oft zu hören ist, in der regelmäßigen Hora (in Loccum täglich
abends ab 18.00 Uhr) vor allem den nicht am Gottesdienst Beteiligten, mit ihrem
Geläut an, dass nun gebetet wird. Zusammen mit einer Intensivierung durch die
kultische Verwendung sind Glocken Sache der Kirchen geworden; die Glocke
gehört zur Wiederorientierung der Kirche auf theologische Grundlagen von Li-
turgik und Kirchenmusik. Die geistlich-liturgische Bestimmung hat sich nicht
nennenswert verändert, was auch daran zu erkennen ist, dass z. B. anscheinend
keine gravierenden Rechtskonstruktionen in der Landeskirche Hannovers nötig
Einkassierte Glocken wurden in vier Kategorien qualifiziert: Neuere, etwa von Mitte des
19. Jahrhunderts an hergestellten A-Glocken wurden sofort nach Anlieferung eingeschmolzen. Sie
konnten nur in Ausnahmefällen zurückgeführt werden. Ältere Glocken wurden je nach künstle-
rischem Wert als B- bzw. C-Glocken qualifiziert und bilden das Gros der nach Kriegsende noch
vorhandenen und zurückgeführten Glocken aus. Ältere D-Glocken mit höherem künstlerischen
Wert durften häufig auf den Türmen bleiben.
Vgl. J. Wanke, Glocke in Geschichte und Gesellschaft, 22.
Klarer die Glocken (nie) klingen 67
wurden, was die Performanz und Resonanz des Läutens angeht. Denn die Läu-
teordnung wäre zwar quasi mit 65 Jahren pensioniert, ist aber keinesfalls abgelöst
oder überarbeitet, von daher noch in Kraft bzw. im Dienst.⁶
Staatskirchenrechtlich gehört die Glockennutzung zum verfassungsrechtli-
chen Rahmen der kirchlichen Selbstverwaltung, der seit der Weimarer Reichs-
verfassung zu einer Angelegenheit der Kirchen wird. Damit ist Geläut seit dem
Inkrafttreten des Grundgesetzes im Sinne der positiven Religionsfreiheit (Art 4
GG) religionsverfassungsrechtlich geschützt. Dieser Zusammenhang bringt mit
sich, dass ein zivilrechtlicher Umgang mit „Technischen Anleitungen gegen
Lärm“ z. B. nicht möglich ist; liturgisches Glockengeläut unterliegt der Verwal-
tungsgerichtsbarkeit, bei „Profangeläut“ ist Zivilgerichtsbarkeit zuständig. In
nachbarrechtlichen Fragen und Konflikten hinsichtlich des Maßes von Geläut
obliegt den juristischen Entscheidungen ein Abwägen zwischen verfassungs-
rechtlichem Gewähren und Zumutbarkeitsentscheidungen. Meist fahren Kir-
chengemeinden das Geläut zurück, ohne es angesichts der Religionsfreiheit ab-
zuschaffen.
Im Kreis Nienburg wurde im Dorf Schweringen eine „Nazi-Glocke“ nach
vielen konflikthaften Begegnungen, nach dem nächtlichen Ausfräsen des Ha-
kenkreuzes durch Unbekannte, nach Beratungsprozessen in und mit Kirche und
Kirchenvorstand schließlich im Einvernehmen entwidmet und mittels einer
Ausschreibung zur Neugestaltung künstlerisch verändert. Ihre Nutzung wurde
dennoch nicht aufgegeben.⁷ Ein Mahnmal vor der Schweringer Kirche im Sinne
eines Negativabdrucks erinnert als „Hörmal“ an die alte Form; die Glocke erklingt
im ästhetisch anderen Gewand und mit biblischem statt nationalsozialistischem
Wort nach einer Wiedereinweihung in der Gemeinde neu weiter.⁸ Glocken und
zumal Kirchenglocken können gesellschaftlich und im Sozialraum dennoch zum
Skandalon werden, es handelt sich also keinesfalls um ein überkommenes In-
strument, vielmehr „schwingen“ etliche Konnotationen „mit“.
3 Musikphänomenologische Wahrnehmungen
materieller Religionskultur
Süßer die Glocken nie klingen; Kling, Glöckchen, klingelingeling: Mit sinnlichen
Adjektiven oder lautmalerisch wird angedeutet, wie das Sprechen der Glocken
erklingt und nachhallt. Was an Glöckchen süß klingt, ist an metallschweren
Glocken gewichtig. Wie nähert man sich nun der musikalisch-kulturellen Er-
scheinungsform bzw. den in der Pluralität unterschiedlichen Erscheinungsformen
von Glocken? Zur Wahrnehmung und Erfassung ihrer Beschaffenheit helfen
musikwissenschaftliche Kriterien, die es leichter machen, die Resonanz auszu-
machen, welche durch sie in Gang kommt.⁹ Dazu zählt u. a., dass ihre Tonhöhen
dem menschlichen Gehör und Aufnahmevermögen entsprechen, die Lautstärken
tendenziell eher als angemessen wahrgenommen werden (bei üblicher räumli-
cher Nähe bzw. Distanz). Ihre Klang(farben)vielfalt aufgrund der zahlreichen
Material-, Herstellungs- und Anschlagmöglichkeiten wird auch musik- und kul-
turwissenschaftlich bedacht und bearbeitet.
Das In-Gang-Bringen jeder Glocke geschieht durch deren Klöppel im Innen-
raum der Glocke, indem sie an die Außenwände schlagen, oder als (z. B. Stun-
den‐)Schlag mit dem Hammer von außen. Aus dieser Bewegung ergibt sich der
Klang, der in der eigenklanglichen Performanz bedingte Variationen zulässt
zwischen Vorsicht und Vehemenz, aber in einer einzelnen Glocke nur wenig
Unterschiede in der tonalen Gestimmtheit. Dass eine Glocke durch ihr Material
und ihren Guss in ihrer Obertonhaltigkeit gefärbt ist, ergibt sich bereits bei der
Herstellung, mit der Klänge erzeugt, intoniert und damit performiert werden
können.
Performanz ist hier die Klangaufführung eines Tons bzw. genauer gesagt eines
Tongemischs in der und durch die Glocke; Resonanz ist hier substantialiter das
Phänomen, dass die Hörenden bzw. die Umgebung von Glocken beim Erklingen
ins Mitschwingen oder Mittönen kommen. Musikwissenschaftlich lassen sich
Kategorien verweisen, an denen sich Performanz und Resonanz konturieren: In-
strumentenkundliche Zu- und Einordnung, Bezeichnung, Gestalt, Maß und Ge-
wicht, materiale Entstehung mit Guss und Gussmaterial klassifizieren sie. Ihre
Wirkung entfaltet sie in Klang, Gebrauch und Geläut, Namen, Inschriften und
Schmuck.¹⁰ Prägend für das Erklingen wie für den Klang sind dabei diese Merk-
male als Insignien einer Form. Ihre Formvielfalt ändert nichts daran, dass es
Idealtypen gibt, die anderes prägen: Eine Glockenform zeigt eine Wölbung mit
Öffnung an dem einen Ende eines an sich geschwungenen Körpers, während das
andere geschlossen ist. Aus dem Innenleben ragt ein Klöppel heraus, der unter-
schiedlich angebracht wird.¹¹
Die Glocke „spricht“ hier also in vielerlei Gestalt, wobei ihr Klang sicherlich
ihr Resonanzmedium darstellt und die elementarste, weil originäre der Wirkun-
gen erzielt. Deren Intonierung und Stimmung sind auch Bedingungsfaktoren für
die je spezifische Ästhetik des Glockenspiels und Glockenklangs.
Ein besonderes Spiel erzeugt das Instrument, das mehrere Glocken umfasst:
das Carillon mit ca. 25 bis 40 Glocken als Instrument, das aus dem 17. Jahrhundert
stammt und insbesondere in den Niederlanden oft Gestalt und Anklang gefunden
hat. Spielbar ist es über eine Klaviatur und ein Pedal – im Pedal ähnelt es dem
Orgelspiel; die hölzerne Klaviatur wird allerdings nicht einzelnen Fingern ge-
spielt, sondern mit den Handballen. An Markt-, Fest- und Gedenktagen erklingt es
und ermöglicht ein freieres Spiel alter und neuer Klänge und Melodien, weil seine
Performanz von aktiven Spielerinnen und Spielern (und deren Können) ab-
hängt.¹²
Christhard Mahrenholz, Art. „Glocken, Abendland“, in Die Musik in Geschichte und Gegen-
wart: Allgemeine Enzyklopädie der Musik (Kassel/Basel: Bärenreiter, 1956, abgedruckt in Mün-
chen: dtv 1989).
Details siehe didaktisch z. B. in: Margarete Luise Göcke-Seischab und Jörg Ohlemacher, Kir-
chen erkunden, Kirchen erschließen: Ein Handbuch (Kaufmann: Lahr, 1998), 147– 149.
Vgl. Piet Visser, Art. „Glockenspiel“, Übers. Hans Albrecht, in Die Musik in Geschichte und
Gegenwart: Allgemeine Enzyklopädie der Musik (Kassel/Basel: Bärenreiter,1989), 293 – 295. In
Hahnenklee bei Clausthal im Harz z. B. ist das Carillon im Turm der Stabkirche vgl. auch https://
www.ndr.de/ndr1niedersachsen/Das-Carillon-in-der-Stabkirche-Hahnenklee,audio831446.html.
70 Silke Leonhard
siert, welche Bildung, welches Wissen in der Begegnung mit den bereits ge-
schaffenen Dingen und seiner Materialität in Gang gesetzt wird. Für den kulti-
schen und kulturellen Umgang mit Religion heißt dies bei Ernstnehmen dieser
Paradigmenverschiebung: Die Zeichenhaftigkeit, das Spiel, das Deuten, Inter-
pretieren, aber auch Performanz und Performativität, kurzum: die Darstellungs-,
Mitteilungs- und Wirkungskraft bekommen einen elementaren Bezug zu materi-
eller, ja körperlicher Beschaffenheit von Religion. Damit eröffnen sich Perspek-
tiven für Verknüpfungen funktionaler Perspektiven von Religion mit substanzia-
len Aspekten. Praktisch-theologisch stellt sich die Frage, wie religiöse Praxis hier
zum Zuge kommt, ohne der Gefahr traditionalistischer Verabsolutierung sub-
stanzieller Religion einerseits oder einer bagatellisierenden religiösen Fetischi-
sierung alles Materiellen andererseits zu erliegen.¹³ Daher ist die phänomenolo-
gische Perspektive von Religion zur Erschließung der Wirklichkeit auch hier
weiterhin klug, in der Ding und Erscheinung nicht voneinander gelöst werden
und in der damit zugleich die Funktions- wie Wirkungsperspektive dieses Zu-
sammenhangs ins Visier kommt. Sie fragt in nicht-naturalistischer Weise zurück
auf die leib-, raum-, zeit- und lebensweltlichen Grundierungen der Wahrnehmung
und des Umgangs mit Religion und stellt dabei Religion in ein Gegenüber zu den
Betrachtenden – als Religion.
Re-sonare meint den Widerhall, das Er-Tönen. Dass der Resonanzgedanke
von Hartmut Rosa als Zuschauerperspektive auf Religion ins Spiel kommt, ver-
wundert sicherlich nicht aufgrund der substanziellen Nähe von Glocke, Musik,
Klang und Resonanz. Gegenstand und die entsprechende Metapher „Resonanz“
als Grundlage der theoretischen Beschreibung durch Hartmut Rosa kommen aus
dem gleichen Feld. Zugleich gilt es, sich dabei gegen angesprochene Vorurteile
und Missverständnisse zu wappnen¹⁴: Resonanztheorie geht nicht in Religion auf,
aber sie ist eine der Soziologie entliehene material- und form- wie erfahrungs-
bezogene Sprache, die als Weltbeziehungstheorie religiösen und theologischen
Gedanken sehr nahekommt, manches reformuliert und Aufmerksamkeiten neu
schärft. Es geht bei der Frage nach den Beziehungen von Mensch, Gott und Welt
Siehe Ursula Roth und Anne Gilly (Hg.), Die religiöse Positionierung der Dinge: Zur Materialität
und Performativität religiöser Praxis (Stuttgart: Kohlhammer, 2021); hier auch bes. Sonja Beck-
mayer, „Materielle Kulturforschung und Praktische Theologie“, in Die religiöse Positionierung der
Dinge, hg.v. dies., 37– 46. Zu den ersten Forschungen gehört Inken Mädler, Transfigurationen:
Materielle Kultur in praktisch-theologischer Perspektive (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus,
2006).
Vgl. dazu Silke Leonhard und Barbara Hanusa (Hg.), Kompetenz, Performanz, Resonanz:
Konzeptionelle Perspektiven zu Religionsdidaktik im Streitgespräch, Loccumer Perspektiven 5
(Rehburg-Loccum: Religionspädagogisches Institut Loccum, 2021).
Klarer die Glocken (nie) klingen 71
Vgl. Christoph Bizer, Art. „Liturgie“, in Lexikon der Religionspädagogik, Bd. 2, 1269 – 1272. Hier:
1269.
Christoph Bizer und Hartmut Rupp, Kleiner Kirchenführer: Mit der Bibel durch das Haus Gottes
(Stuttgart: Calwer und Deutsche Bibelgesellschaft, 2009).
Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit (Berlin: Suhrkamp, 2020), 37– 47.
Vgl. Jürgen Oelkers, „Die Historizität pädagogischer Gegenstände“, Zeitschrift für Pädagogik
58 (2012): 32– 49, 32.
Vgl. Gerd Theißen, „Religion ist Sensibilität für Resonanz und Absurdität der Wirklichkeit“, in
Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand?, hg.v. dems.
(München: Kaiser, 1978), 49; es geht um die „Resonanz der Gesamtwirklichkeit im Menschen, die
sich intentional auf ihren Ursprung bezieht“; vgl. auch Gerd Theißen, Resonanztheologie: Beiträge
zu einer polyphonen Bibelhermeneutik (Münster: LIT, 2020).
Vgl. Martin Laube, „Wenn Soziologie religiös wird: Theologische Überlegungen zur Reso-
nanztheorie Hartmut Rosas“, in Kompetenz, Performanz, Resonanz, hg.v. S. Leonhard und B.
Hanusa, 43 – 65 sowie ders., „Eine bessere Welt ist möglich: Theologische Überlegungen zur Re-
sonanztheorie Hartmut Rosas“, Pastoraltheologie 107 (9) (2018): 356– 370.
72 Silke Leonhard
Wenn auch Gefahr für die Feuerwehr zuweilen gesellschaftlich abgelöst ist durch die Sirene,
verbinden sich doch damit etliche biografiebezogene Lebensanlässe, in denen nicht nur diese
existenziellen Situs als Situationen religiös begangen werden.
Online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=SJpjZPYJa3w, Lesedatum: 15.01.
2022.
Klarer die Glocken (nie) klingen 73
Stefan Altmeyer, „Das ist ja ein Ding! Über das religiöse Lernen und das Mehr der Dinge“,
Katechetische Blätter 6 (2017): 404– 407, 404.
Vgl. Hartmut Rosa und Wolfgang Endres, Resonanz im Klassenzimmer (Weinheim/Basel:
Beltz, 2016), 33.
Klarer die Glocken (nie) klingen 75
1 Prolog
Eine Schweizer Firma namens „Algordanza“ verspricht trauernden Kunden, aus
der Asche oder den Haaren ihrer verstorbenen Angehörigen ein „Symbol der
Liebe, Verbundenheit und Wertschätzung“¹ zu fabrizieren. Algordanza hat sich
auf die Herstellung von synthetischen Diamanten spezialisiert. Dazu brauchen
die Experten mindestens 500 g Kremationsasche oder 5 g Haare. Daraus wird der
verbliebene Kohlenstoff extrahiert, in Grafit umgewandelt und unter enormem
Druck zum Diamanten geformt. Geworben wird für das Produkt mit dem Argu-
ment, der Erinnerungsdiamant sei „im Vergleich zu traditionellen Bestattungs-
arten ein ganz persönlicher Ort der Trauer, Erinnerung und der Freude“². Wer sich
für ein solches Miniaturgrab entschließe, besitze ein „unvergängliches und dis-
kretes Erbstück über Generationen hinweg“.
Sein Entzücken war ihm anzusehen, als Thomas Klie im Rahmen einer Wei-
terbildung zu neuen Bestattungsriten den Pfarrpersonen Bilder von den glatt
geschliffenen Artefakten zeigte.Was für ein schillerndes Ding! Der Diamant ist ein
kurioses, stein- und beinhartes Symbol für die Privatisierung der Bestattung. Die
Forschung zeigte, wie wichtig die Gegenstände sind, die Trauernde ins Grab legen,
welche große Bedeutung der Umgang mit der Asche der Verstorbenen, der Ort der
Bestattung oder die Fotos der Hinterbliebenen haben. Die Säkularisierung sa-
kraler Gesten und religiöser Riten manifestiert sich in einer materialen Erinne-
rungskultur, die – im Fall des reinen Diamanten dank der industriell gefertigten
Transsubstantiation – eine dingfeste Quasiewigkeit verheißt.
Ausgerechnet eine Schweizer Firma liefert den materiellen Ersatz für das
spirituelle Gedächtnis. Ich fühle mich herausgefordert. Schließlich sind die Re-
formierten vor fünfhundert Jahren mit einer anderen Mission gestartet: gegen eine
materialisierte Religiosität, die sich auf Dinge verlässt, für die Freiheit des Glau-
bens, die auf die Worte des ewigen Lebens vertraut! Natürlich könnte auch der
reformierte Theologe die Losung des alten Fritz beherzigen, wonach jeder nach
https://doi.org/10.1515/9783110762853-006
78 Ralph Kunz
seiner Fasson selig werden darf. Weiß doch auch er, dass es bei der Bestattung um
Dinge geht, die alle unbedingt angehen, aber die Idee, dafür eine Form der Be-
stattung bereitzustellen, nicht mehr aufgeht. Ihm ist auch bewusst, dass er ein
Kraftfeld betritt, das durch Tod und Liebe existenziell bedeutsam, aber Religion,
die dafür Räume der Begehung aufschließt, in der Postmoderne flüssiger und
flüchtiger, bunter, individueller und wilder geworden ist. Also muss jede autori-
täre Regung, die in diesem sensiblen Feld mit ‚richtig‘ und ‚falsch‘ oder ‚rein‘ und
‚unrein‘ hantieren will, ins Leere laufen.
Thomas Klie sagt es knapp und bündig so: „Die Beziehung zum Tod und
seinen Folgen wird wählbar.“³ In seinem Buch „Performanzen des Todes“ typo-
logisiert er die Formenfülle im Bereich des Bestattungswesens hinsichtlich der
jeweils zugrunde liegenden Motivation und postuliert, dass sich parallel zur
klassischen kirchlichen Erdbestattung drei übergeordnete Handlungslogiken
herausgebildet hätten: ein naturreligiös-ökologischer Code, ein ästhetisch-perfor-
mativer Code und ein anonymisierend-altruistischer Code. Während beim ersten
Code das Verschwinden im ökologischen Kreislauf und beim dritten Code die
Entlastung durch Vergessen angestrebt werde, finde sich im ästhetisch-perfor-
mativen Code eine neue Wertschätzung des nachtodlichen Körpers. Dies zeige sich
besonders deutlich bei aus Kremationsasche gefertigten Diamanten. Man könne
in diesem Code eine dauerpräsente Nekrophilie, ja eine Todesversessenheit als
postmortales Pendant zur Lebensversessenheit sehen.⁴
Darüber, wie hilfreich die damit gegebenen Verhärtungen für die Trauernden
sind, ist noch nichts gesagt.⁵ Der Verzicht auf die autoritäre Geste, die Menschen
vorschreibt, was gute Religion ist und Menschen abschreibt, die religiös eigene
Wege gehen, bedeutet indes nicht, sich auf eine unkritische Position des for-
schenden Beschreibens zurückzuziehen.⁶
Natürlich wiegt ein Diamant aus 500 g Kremationsasche nicht sonderlich
schwer. Ich sehe ihn eher als Stein des Anstoßes, um über das Zeichending
Thomas Klie, Performanzen des Todes: Neue Bestattungskultur und kirchliche Wahrnehmung
(Stuttgart: Kohlhammer, 2008), 7.
Th. Klie, Performanzen des Todes, 9.
Näheres dazu vgl. in Thorsten Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler: Der Glanz des Le-
bens: Aschediamant und Erinnerungskörper (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020).
Thomas Klie nimmt kein Blatt vor den Mund. „Man möchte seine Toten nicht hergeben, son-
dern behalten. Die sehr privaten Trauerfeiern, bei denen freiwillig auf Öffentlichkeit verzichtet
wird, sind aber auch ein Akt der Beraubung. Ich verweigere als organisierender Angehöriger
anderen die Möglichkeit des Abschiednehmens.“ Vgl. Evelyn Finger im Interview mit Thomas
Klie, „Ohne Trauerrituale geht es nicht“, Die Zeit 16 (2021) (online abrufbar unter https://www.
zeit.de/2021/16/thomas-klie-trauer-abschied-tod-gott-erloesung, Lesedatum: 07.12. 2021).
Streitsache Salböl 79
nachzudenken⁷, das in der Theologie als „Sakrament“ codiert wird. Damit betrete
ich ein Feld von Fallstricken, denen ich kaum ausweichen kann. Ich werde stol-
pern. Aber dafür gibt es ja Festschriften! Sie bieten die Gelegenheit, in riskante
Diskurszonen aufzubrechen und ein paar ungesicherte Sprünge zu wagen. In
einem ersten Sprung geht es zum Zeichen, das eigentlich ein heiliges Ding ist und
Sakrament heißt. Anlauf nehme ich bei Huldrych Zwingli und landen will ich bei
einer lebensphänomenologisch fundierten Sakramentenlehre, die ein wenig mehr
Verständnis zeigt für den ästhetisch-performativen Code des Zeichenhandelns.
Ein zweiter Salto macht die Verbindung zu einer biblischen Geschichte (Mk
14,3 – 9), in der eine Zeichenhandlung auf dem Kraftfeld von Liebe und Tode im
Zentrum steht. Im Haus des Simon platzt eine namenlose Frau in eine Männer-
gesellschaft, salbt Jesus mit einem Luxusprodukt, das durchaus einem Diamanten
vergleichbar ist und macht eine Szene. Ihre Tat hat einige der Anwesenden
nachhaltig irritiert und mich inspiriert, nachzuhaken, was da in Erscheinung tritt.
Der dritte Sprung führt zurück auf Feld eins und fragt noch einmal nach dem
Sakrament und der Krise des Sakramentalen.
[…] Siebtens glaube, ja weiß ich, dass alle Sakramente so weit davon entfernt sind, die Gnade
zu verleihen, dass sie diese nicht einmal herbeibringen oder verwalten. […] Wie die Gnade
nämlich vom göttlichen Geist bewirkt oder geschenkt wird – ich benütze das Wort aber im
lateinischen Sinn, indem ich nämlich den Ausdruck ‚Gnade‘ für Vergebung, Nachsicht und
freie Wohltat verwende –, so fällt dieses Geschenk allein dem Geist zu. Der Geist braucht aber
keinen Führer und kein Transportmittel. Er selbst ist nämlich Kraft und Träger, durch den
alles gebracht wird, er hat nicht nötig, selber gebracht zu werden. Wir lesen in den heiligen
Schriften nie, dass Sichtbares, was die Sakramente ja sind, den Geist mit Sicherheit mit sich
Die Maße des Diamanten auf dem Titelblatt von T. Benkel et al., Glanz des Lebens: 15,5 × 23 ×
1,7 cm, Gewicht: 0,408 kg.
80 Ralph Kunz
bringen würde.Vielmehr war, wenn Sichtbares je mit dem Geist verbunden war, der Geist der
Träger, nicht das Sichtbare.⁸
Natürlich hat Zwingli Recht! Heilige Dinge sind Zeichen für den Geist und dieser
allein entfaltet als schöpferische Kraft und göttlicher Beweggrund eine Wirkung,
die durch das Zeichen hindurchgeht, aber nicht im Zeichen aufgeht.⁹ Folglich ist
die Behauptung, ein Ding sei der „Träger“ für die Wirkung des Geistes ein Unding.
So weit so klar, doch Zwinglis Argumentation hat einen eklatanten Schwach-
punkt.
Zwingli will die Freiheit Gottes verteidigen und verpasst eine entscheidende
zeichentheoretische Pointe. Es gibt keinen zeichenfreien Geist. Denn auch als
reine Wirkung gedacht hinterlässt der Geist als Gedankending eine Zeichenspur.
Zwingli sieht diese Spur nicht, weil er eine Dichotomie von Geist und Materie
behauptet, die sowohl Körper und Seele als auch Gott und Mensch auseinan-
derhält und auftrennt. Argumentiert wird mit einer Semiotik, die den Abusus der
Zeichen verhüten will, aber den rechten Usus nicht begründen kann. Für einen
begründeten Zeichengebrauch müsste der Reformator sowohl theologisch wie
auch zeichentheoretisch radikaler denken. Wenn er die spiritualistischen Prä-
missen seiner Sakramententheologie hinterfragen würde, sähe er klarer, dass der
Geist durch das Wort an Zeichen gebunden ist und dass es – zumindest für die-
jenigen, die miteinander kommunizieren – keinen Geist geben kann, der sich
ohne Zeichensinn mitteilt. Dasselbe gilt auch für den Umkehrschluss. Sinn ohne
Zeichen ist Unsinn. Gegen Zwingli gesagt braucht der Geist also ein semiotisches
Vehikel, um wirken zu können.
Der verkürzte Symbolbegriff von Zwingli hat seine Basis in der Signifika-
tionshermeneutik Augustins und kann sich auf dieselbe Formel berufen, auf die
auch Luther und Melanchthon zurückgegriffen haben. Dass das Wort zum Ele-
ment kommen muss, ist unbestritten, strittig bleibt, wie man das Ineinander von
Ding und Deutung verstehen soll.¹⁰
Huldrych Zwingli, „Rechenschaft über den Glauben“, in Zwingli Schriften, Bd. IV, hg.v. Thomas
Brunnschweiler und Samuel Lutz (Zürich: TVZ, 1995), 113.
Unter „Sakrament“ versteht Augustin „jeden sinnlich wahrnehmbaren Sachverhalt, dessen
Sinn sich nicht darin erschöpft, das zu sein, als was er sich unmittelbar gibt, sondern der darüber
hinaus auf eine geistige […] Wirklichkeit hinweist.“ In der Übersetzung von Josef Finkenzeller, Die
Lehre von den Sakramenten im Allgemeinen: Von der Schrift bis zur Scholastik, Handbuch der
Dogmengeschichte, Sakramente – Eschatologie 4 (Freiburg im Breisgau: Herder, 1980), 39.
Augustin, Tract. In Ioann. 80, 3; CChr 36, 529, 5 f.: accedit verbum ad elementum, et fit sacra-
mentum.
Streitsache Salböl 81
So lautet die Formulierung des Shorter Westminster Catechism: „What is the chief end of man?
Man’s chief end is to glorify God 1, and to enjoy Him for ever.“
Bei Augustin in der doctrina christiana I,22 ff. und I, 3,3.
82 Ralph Kunz
Dingen, wie so gut er’s mit mir mein.“¹³ In dieser Unterscheidung werden die
Dinge als Gaben gesehen, als Güter, die dem „Brunn der Gnade“ entspringen.
„Was sind wir doch? Was haben wir / auf dieser ganzen Erd, / das uns, o Vater,
nicht von dir / allein gegeben wird?“¹⁴
Die Rückbesinnung auf den Quellgrund hinter die Güter ist erbaulich, doch
der Absprung über die Dinge zum Ursprung immer auch riskant. Wie steht es um
die Dankbarkeit bei Knappheit? Was geschieht mit der schlechthinnigen Abhän-
gigkeit im materiellen Überfluss? Armut wie Reichtum können einen quasireli-
giösen Sog entfalten. Dass Güter nicht ewig währen, macht sie kostbar. Die ver-
lorene Gesundheit, die zerbrochene Ehe oder der verfehlte Beruf lassen nach
einem höchsten Gut Ausschau halten, das uns „zeitlich und ewig gesund“¹⁵ hält.
Was sind heilige Dinge? Den Reformierten schaudert’s. Schon der Begriff ist
ein Sakrileg – es sei denn, man nimmt nicht alle Dinge, sondern bestimmte Güter
in den Blick, gewissermaßen diejenigen, die dazu bestimmt sind, den „Brunn der
Gnade“, der auch „Ursprung aller Ding“ ist, neu zu sehen und damit den Abfluss
der religiösen Energie wieder zurückzulenken, um die Gläubigen dorthin zu
bringen, wo selbst im Leid noch Freude gefunden werden kann. Es ist das be-
sondere Mahl, das die Dankbarkeit zur Eucharistie steigert, das besondere Bad,
das alle Unreinheit wegwäscht. Mit anderen Worten: Das heilige Ding ist ein
Zeichen, das transparent ist für den Ursprung aller Güter und das unsichtbare
Leben in Erscheinung treten lässt, das sich als höchstes Gut dem Menschen zu-
wendet. Daran erinnern die biblischen Erzählungen und dazu dient die Tradition
der Formen, in denen das Zeichen aufgeführt wird. In usu sind heilige Dinge ein
ausgezeichnetes Mittel, um zum Genuss Gottes zu kommen.¹⁶
Vom Dank für alle Dinge zum Lobpreis des Schöpfers ist es ein fliegender
Wechsel. Wie kommt Gott durch das Ding zum Menschen? Der reformationsge-
schichtlich gebildete Protestant weiß um die Dispute, die darüber geführt wurden.
Die Streitereien drehten sich u. a. um das rechte Verständnis der Präsenz Christi,
der Konsens, der sich später bildete, lag schon damals in der Luft. Der Geist weht,
wo er will, aber er weht – und der Ritus erzeugt den Wind, aber bleibt ubi et
quando visum deo unverfügbar. Im Ritus wird der Geist Gottes vertrauensvoll
angerufen, weil Gott verheißt, dass er denen antworten will, die ihn anrufen
wollen. Die Gemeinde darf sich auf das Wirken Gottes verlassen, weil Gott es
„Sollt ich meinem Gott nicht singen“, RG 723,1. Zitiert aus dem Reformierten Gesangbuch der
evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz (Basel/Zürich: TVZ, 1998).
„Ich singe Dir mit Herz und Mund“, zitiert aus RG 723,3.
„Die güldne Sonne“, zitiert aus RG 571,8.
Artikel XIII der CA, in Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche: Vollstän-
dige Neuedition (BSLK), hg.v. Irene Dingel (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014).
Streitsache Salböl 83
versprochen hat. Wird das Sichtbare in usu geheiligt, sind heilige Dinge im streng
liturgietheologischen Sinne eine actio, die sich auf Gottes Wort verlässt.¹⁷ Sa-
kramente, so könnte man es in Anlehnung an ein Bonmot von Kurt Marti sagen,
sind Tätigkeitswörter, ein heiliges Tun mit Dingen, ein Zeichenhandeln, das ex
opere operatio in menschlich-göttlicher Kooperation bewirkt, was es darstellt.
Wie viele Zeichenhandlungen es sind, die Sakramente genannt werden, ob
sieben oder nur zwei, ist ein weiterer Streitpunkt. Es gibt darüber keinen öku-
menischen Konsens. Im Protestantismus hat man sich jedenfalls auf die Regel
geeinigt, dass Taufe und Abendmahl als die zwei sakramentalen Handlungen
gelten, die „von Christus“ eingesetzt sind. Wenn man das Mandatskriterium ex-
klusiv interpretiert, ist es aber zu eng gedacht. Mit der Kategorie der Sakramen-
talien kann die Fixierung auf Taufe und Abendmahl geweitet werden. Entschei-
dend ist, diese Weitung zwischen Taufe und Abendmahl aufzuspannen. In diesem
theologisch bestimmten Spielraum gehört denn auch der fruchtbare Dialog mit
performativ-ästhetisch codierten Zeichenhandlungen, die man den Kasualien
zurechnen kann. Darauf komme ich später (3.) noch einmal zurück.
When Jesus Christ, the Word, came among the reading and remembrance of scriptures,
among washings and meal rituals which hoped for God, the ‚sacraments‘ and the patterns
of Christian worship were made. Jesus Christ, his death and resurrection and the faith
which is through him, juxtaposed to these pre-existent rituals, is the institution and conse-
cration of Sacraments. He was baptized; he read the scriptures; he ate with sinners. His
death was a baptism and the meaning of Baptisms. Risen, he opens to us all the scriptures.
He is known as risen in the bread. His death was a cup which he gives us to drink. The pat-
terns of the liturgy root in Jesus Christ.¹⁸
Mit der Verortung des sakramentalen Ursprungs in Jesus Christus zielt Lathrops
Liturgietheologie auf eine Lösung des sakramententheologischen Zwists, für die
Karl Barth die Spur gelegt hat. Er fragte in KD IV/2 an, ob die Kirche gut daran
getan habe, „besondere ‚Sakramente‘ bzw. ein besonderes sakramentales Ge-
schehen und Sein neben das eine, das in Jesus Christus geschah und ist“¹⁹ zu
stellen. Sein Ansatz, Jesus Christus als das eine und die Einheit begründende
Sakrament der Kirche zu verstehen, ist sowohl bibeltheologisch als auch dog-
matisch solide.
Die Unterscheidungsaufgabe der Theologie ist mit dieser Rückbesinnung auf
den Ursprung allerdings noch nicht erledigt.²⁰ Sie bleibt, wo sie praktisch und
nicht nur dogmatisch begriffen wird, ein virulent riskantes Geschäft, weil der
christlich bestimmte Ritus und das religiös beliebige Ritual ineinander überge-
hen. In den Mischzonen der gelebten Religion stiftet die Spur zum Ursprung
Orientierung, für das Überspringen der garstigen Gräben sind aber weitere Spuren
belangvoll.²¹
Gordon Lathrop, “Holy Things: Foundations for Liturgical Theology”, Institute of Liturgical
Studies: Occasional Papers (1991) (online abrufbar unter https://scholar.valpor.edu/ils_papers/
57, Lesedatum: 11.12. 2021).
K. Barth, KD IV/2, 59.
Zur ideologischen Überfrachtung der Rückbesinnung siehe Gemeinschaft.
Hilfreich dazu ist die Unterscheidung von Thomas Klie, „Vom Ritual zum Ritus: Ritologische
Schneisen im liturgischen Dickicht“, BThZ 26 (2009): 96 – 107. G. Lathrop, Holy Things, argu-
mentiert ähnlich, wenn er auf Ronald Grimes’ Unterscheidung zwischen ‚liturgy‘ und ‚ceremony‘
rekurriert. „Both liturgy and ceremony are necessary rituals in human life. But, unlike liturgy,
ceremony expresses a value unambiguously, without any expression of its contrary. But the
Christian liturgy embraces contraries: life and death, thanksgiving and beseeching, this com-
munity and the wide world, the order expressed here and the disorder and chaos we call by name,
the strength of these signs and the insignificance of ritual, one text next to another text which is in
a very different voice. In Christian use this ambiguity is not simply a general devotion to contrary
principles as a way to truth. For the Christian, in fact, the balance is in favor of life and than-
ksgiving and the hope for order, but only in such a way that all things are remembered, all sorrows
comforted, all wounds assuaged. The mystery of God is the mystery of life conjoined with death for
the sake of life.“
Streitsache Salböl 85
Halten wir fest: Wir handeln theologisch von heiligen Dingen, wenn von einer
sakramental bestimmten Weise des Zeichengebrauchs in der Liturgie die Rede ist.
Der Ritus ist auch ein Ritual und Liturgen sind auch „Ritualisten“. Sie sehen und
verstehen sich selbst als Teil einer Aufführung.²² Was wir anhand der Dinge be-
obachtet haben, lässt sich auch auf der Handlungsebene durchspielen. Die reine
Lehre lässt sich nicht durchhalten. Dennoch ist die Frage berechtigt: Wann kippt
ein heiliger Brauch in unheiligen Missbrauch? Oder die Frage ein wenig variiert:
Wann ist ein überlieferter Ritus religiös unbrauchbar geworden?
Das reformierte Unbehagen gegenüber dem unheiligen Theater, das den ri-
goros spiritualistischen Kurs der Sakramententheologie begleitet, ist historisch
begründet. Der Missbrauch der Messe war ein Geschäftsmodell, das auf Angst
basierte, aber gleichwohl religiöse Energien zu mobilisieren vermochte. Was die
Reformatoren Aberglauben nannten, funktionierte, weil ein religiöser Aberwitz
darin zum Vorschein kam. Vergängliches kann in Ewiges verwandelt werden. Das
Versprechen fusst auf der untergründigen Überzeugung einer wirksamen Analo-
gie der Ähnlichkeit. Die Regel similia similibus curantur – volkstümlich abgekürzt
Simsalabim – galt besonders für „Dinge“ wie Kerzen, Weihwasser und Hostien,
die als Requisiten der heiligen Show dienten. Was religiös verwendet wurde, be-
kam durch den Ritus eine Aufladung, Materie wurde durch Weihehandlungen
wirksam. Im Zentrum der Kritik war das Wandlungsgebet des Priesters. Das ge-
flüsterte „hoc est corpus meum“, das volkstümlich abgekürzt zum Hokuspokus
mutierte, hatte den Zweck, die religiöse Energie einer Hostie fassbar und ein-
setzbar zu machen – beispielsweise in einer Messe für die Toten, bei denen man
nie ganz sicher sein konnte, wie lange sie im Purgatorium bis zur endgültigen
Läuterung ausharren müssen. Was gäbe man nicht alles für die Gewissheit, dass
die Liebsten, die nicht immer so lieb waren, im Licht der göttlichen Liebe landen?
Vor allem, wenn man bedenkt, dass man dermaleinst selbst dorthin kommt. Man
gäbe gewiss viele Güter für ein Gut dieser Versicherung!
Und wie verhält es sich diesbezüglich mit dem Diamanten?
Ich habe keine Aktien bei Algordanza und denke nicht daran, ein Plädoyer für
Diamanten-Bestattungen zu halten. Mein Interesse geht vielmehr zu einer
Wahrnehmung der Dinge, der daran gelegen ist, den religionskritischen Auftrag
der Theologie ernst zu nehmen und gleichzeitig der spirituellen Suchbewegung,
die sich auch in den obskuren Verformungen der Gegenwartsreligiosität verbirgt,
nachzuspüren. Für eine Vermittlung braucht es zuerst eine Weitung dessen, was
die Protestanten Sakrament nennen.²⁴ Von einer Engführung war die Rede. Angst
kommt von Enge. Warum braucht es eine Weitung? Und wer tritt für sie ein? Um
eine theologisch verantwortete Weitung des Spielraums in angemessener Weise
zu diskutieren, bietet dieser Beitrag zu wenig Platz. Ich will wenigstens eine in-
Eberhard Jüngel, „Das Sakrament – was ist das?“, Evangelische Theologie 26 (1966): 320 – 336,
335.
Zu den Vorbehalten gegenüber dem Begriff vgl. Eberhard Jüngel, „Die Kirche als Sakrament“,
ZThK 80 (1983): 432– 457, hier: 437.
Streitsache Salböl 87
Interessant dazu der Ansatz von Louise-Marie Chauvet, Symbol und Sakrament: Eine sakra-
mentale Relecture der christlichen Existenz, Theologie der Liturgie 8 (Regensburg: Verlag Friedrich
Pustet, 2015). Vgl. dazu Martin Stuflesser (Hg.), Fundamentaltheologie des Sakramentalen: Eine
Auseinandersetzung mit Louis-Marie Chauvets ‚Symbol und Sakrament‘, Theologie der Liturgie 9
(Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 2015).
So Gunther Wenz, Einführung in die evangelische Sakramentenlehre (Darmstadt: WBG, 1988),
41.
Marcus Held, „Sakrament als ein In-Erscheinung-Treten der Gabe des Lebens“, in: NZSTh 63
(1) (2021): 35 – 65.
Vgl. Michel Henry, Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens (Freiburg: Verlag Karl Alber, 2019);
ders., „Phänomenologie des Lebens“, in Affekt und Subjektivität: Lebensphänomenologische
Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, hg.v. dems. (Freiburg: Verlag Karl Alber,
2005), 13 – 32.
M. Held, Sakrament als ein In-Erscheinung-Treten, 59.
88 Ralph Kunz
sich in seinem Lebensvollzug als Gabe des Lebens gibt, erschließt sich im Sa-
krament Gottes Lebendigkeit für uns. In der lebensphänomenologischen Per-
spektive stehen die schöpfungstheologischen und soteriologischen Aspekte nicht
nebeneinander, sondern geraten untereinander.³⁰
Die lebensphänomenologische Perspektive leitet dazu an, die Gabe des In-
Erscheinung-Tretens als Leben für uns zu deuten, d. h. als ein Leben, das sich in
seinem unverfügbaren Selbstvollzug als Gnade erschließt. Sakramente sind die
Gabe des In-Erscheinung-Tretens des Lebens in der göttlichen Verlebendigung des
Lebens der Menschen und der Kirche, wie sie durch die Gabe des Lebens in
Christus möglich bzw. in Erscheinung tritt.
Ebd., 61 f.: „Sakramente sind das Zugleich des darstellenden Handelns des In-Erscheinung-
tretenden Lebens, welches in Christus Fleisch wurde, also die phänomenologische Materialität in
der Welt in Erscheinung treten könnte. Die Sakramente als transzendentale Affektivität des Le-
bens sprechen das absolute Leben in das Leben der Lebendigen hinein, in der die Selbstaffektion
des Lebens zu unserer Sprache bzw. mir zur Sprache wird.“
Streitsache Salböl 89
4 Salbung Christi
Matthäus hält sich an die markinische Version und wurde in dieser Synopse nicht berück-
sichtigt.
So z. B. Martin Karrer, Der Gesalbte: Die Grundlagen des Christustitels (Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht, 1990).
Vgl. dazu Christa Mulack, Jesus – der Gesalbte der Frauen: Weiblichkeit als Grundlage christ-
licher Ethik (Stuttgart: Kreuz Verlag, 1987), bes. 104 ff.
Wolfgang W. Müller, „Die Salbung Christi – ein Stück vergessener Christologie?“, Freiburger
Zeitschrift für Philosophie und Theologie 43 (1996): 420 – 435, 420.
90 Ralph Kunz
eine Verbindung zum Alten Testament. Zentral ist die Prophezeiung des gerechten
Königs, der als Friedefürst auftreten wird und auf dem der Geist JHWHs ruht (Jes
11,1 ff). Im Neuen Testament wird die Salbung symbolisch als Taufe mit dem
Heiligen Geist verstanden und in Verbindung mit der Taufe am Jordan, der Auf-
erstehung, der Himmelfahrt und der Geistausgießung an Pfingsten gebracht.
Zentral ist die Taufperikope (Mk 1,9 – 11), die auf Ps 2,7 zurückgreift.
Müller hält sich bei seiner Spurensuche nach dem Ereignis nicht lange in
Bethanien auf. Es ist einerseits sicher richtig, die Salbung Jesu in diesem größeren
bibeltheologischen Komplex zu erörtern und das Thema der Salbung Jesu nicht
auf diesen einen historisch feststellbaren Akt festzulegen. Andererseits geht mehr
als nur der materiale Kern der Geschichte verloren, wenn die Verhandlung der
Christologie an die Handlung an Jesus übergeht. Es fehlt das Sinnliche und der
Widerstand der Reibung, den die drei Erzählungen erzeugen.
Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK 2: Mk 8,27– 16,20 (Neukirchen-Vluyn:
Neukirchener, 1979), 222.
Andreas Bedenbender, „Der Epilog des Markusevangeliums – revisited“, TuK 81/82 (1999):
28 – 64, 32. Bethanien ist der Rückzugsort von Jesus und den Seinen. Es ist wörtlich das Ar-
menhaus (hebr. beth Ani).
Umstritten ist die Deutung von Joachim Jeremias, wonach die Kritiker nicht begriffen hätten,
dass die Frau ein Liebeswerk vollbringe. Joachim Jeremias, „Mk 14,9“, ZNW 44 (1952/53): 103 – 107.
Vgl. dazu J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, 224.
Ebd., 224.
Streitsache Salböl 91
Kerstin Schiffner, „Salbung mit ‚Hosanna‘ im Ohr, Mk 14, 3 – 9“, GPM 71 (2017): 191– 197, 195.
Das Alabastron (ἀλάβαστρον), eine ägyptische Erfindung, war ein birnenförmiges, in der
Regel schlankes Gefäß in Form eines Fläschchens ohne Fuß und Henkel mit abgerundetem Bo-
den. Manchmal verfügte es über zwei oder mehr Ösen, an denen es mit Hilfe von Fäden befestigt
werden konnte. Alabastra wurden zur Aufbewahrung von Ölen, Salben, Duftstoffen und kost-
baren, aromatischen Essenzen verwendet und hauptsächlich von Frauen genutzt. Vgl. Günther
Hölbl, Beziehungen der ägyptischen Kultur zu Altitalien, 1. Teil (Leiden: Verlag Brill Deutschland
GmbH, 1979), 240 – 253.
Narde ist eine Pflanze, die in den Bergen Indiens geerntet wurde. Das Extrakt aus den Wurzeln
galt als Luxusgut schlechthin.
92 Ralph Kunz
gen.⁴² Die Erwähnung der Zerstörung des Tempels in der Endzeitrede (Mk 13,2)
spricht ebenfalls dafür, dass an diesen Zusammenhang gedacht sein könnte. Ist
nicht der Tempel wie ein Gefäß und eine Hülle für das kostbare Leben Gottes?
Auch an das Abendmahl und das Leibwort (Mk 14,22) könnte man denken.⁴³ Es
muss etwas zerbrechen, damit das Leben wieder in Erscheinung treten kann. Der
stärkste Beleg, dass die Salbung Liebe und Tod verbindet, ist die Deutung, die
Jesus vornimmt. Er erkennt in der Tat der Frau das Prophetische, er liest ihr
Zeichen und deutet es um. Das Bild kippt: Von der Liebe, die alles vereint, zum
Tod, der alles zerbricht, von der Salbung des Königs, der ewig herrscht, zur Sal-
bung eines Menschen, der dem Tod geweiht ist. Ohne Verlustschmerz wäre die
Liebe nicht tief, ohne Geschmack der Liebe der Tod nur heroisch. Das Bild muss
kippen. Dazu braucht es das Öl und einen Menschen, der salbt und Jesus, der sich
die Handlung gefallen lässt. Es braucht die Geschichte, die das zeichenhafte
Handeln der Frau erinnert und den verborgenen Sinn in ihrem unsinnigen Han-
deln deutet. Dass sie das Gefäß zerstört (Signal des Todes), um ihn wie einen
König (Signal der Liebe) zu salben, widerspiegelt seine Hingabe (Signal der Liebe)
am Kreuz (Signal des Todes). Liebe geht übers Kreuz: Dass er mit einem feierli-
chen Amen dazu aufruft, ihrer zu gedenken, ist sein Echo auf ihre Zeichenhand-
lung, die wiederum auf seine Zeichenhandlung vorauszeigt – eine Zeichenhand-
lung, die wir tun, um seiner zu gedenken.
Einen interessanten Gedanken dazu äußert Kerstin Schiffner in einer Pre-
digtmeditation zu Mk 14,3 – 9. Sie sieht die Szene der Salbung eingerahmt von
Bildern zweifelnd-verzweifelter Suchbewegungen. Symptomatisch ist ein Vorwurf
der Jünger an den Meister, der sich zum Beten zurückzog. „Alle suchen dich!“ (Mk
1,37) Und am Ende werden die Leser (und die Frauen) am leeren Grab zurück-
gewiesen: „Ihr sucht Jesus […] – er ist nicht hier.“ (Mk 16,6):
Alle suchen Jesus, den Nazarener, den Gesalbten, Gottes Sohn – und finden ihn in dem, was
von ihm erzählt wird und was er sagt, noch einmal kurzgefasst: in der guten Botschaft Jesu
Christi (euangelion Jesou Christou, Mk 1,1). Das ist präsentische Suche als ewige Suche, wenn
und weil das Präsens die Zeitform der Ewigkeit ist – ganz anders als das ‚ewige‘ Suchen, ihn
Etwas weiter hergeholt ist die Analogie zu Röm 9,19 – 21. Paulus nimmt Bezug auf Jeremias
Töpfer-Gleichnis. Der Töpfer entscheidet, welche Gefäße er weiterverwenden und welche er
zertrümmern will.
Dass das Wort Alabastron in der Septuaginta nur ein einziges Mal vorkommt und dort (2. Kön
21,13) auch im Kontext eines Gerichtsworts, das den Untergang Jerusalems ankündigt, kann als
weiterer Beleg dienen. Vgl. dazu Andreas Bedenbender, „Echos, Spiegelbilder, Rätseltexte: Be-
obachtungen zur Komposition des Markusevangeliums“, 3. Teil, TuK 77/78 (1998): 25.
Streitsache Salböl 93
zu töten, greifen, umzubringen, überliefern, zum Tode zu verurteilen. Objekt der Suchbe-
wegung ist ‚dieser Jesus‘ – nicht zerstörerisches Handeln.⁴⁴
Aber Jesus entzieht sich. Niemand wird seiner habhaft. Von einigen lässt er sich
finden. Sie, die Namenlose, sucht ihn auf und salbt ihn. Sie findet ihn, weil er sich
finden lässt.Wie tritt er für uns in Erscheinung? Als Wohlgeruch Christi, der in der
Luft hängt!
Im dritten Evangelium hat die Geschichte von der Frau, die Jesus salben wollte,
eine prominente Stellung. Sie handelt von einer Kontroverse um eine exempla-
risch, ‚große‘ Sünderin, die mit Attributen einer Dirne ausgestattet wird. Es fragt
sich, ob die lukanische Version eine andere Begebenheit widerspiegelt. Erstens
spielt sie in Galiläa in der Anfangszeit des Wirkens Jesu und zweitens ist es der
Gastgeber, der irritiert ist. Nachdenklich macht ihn, der zunächst einfach „der
Pharisäer“ ist, nicht die Verschwendung eines Luxusprodukts (in dieser Ge-
schichte geht es nur um Myrrhe), sondern die Tatsache, dass sich sein Gast von
einer stadtbekannten Sünderin „anfassen“ lässt und sich nicht wehrt. (Lk 7,39)
Von seiner Irritation wissen wir Leser durch den erzählerischen Trick des inneren
Monologs, den Lukas öfters anwendet. Den Lesern ist auch der eigentliche Anlass
der Einladung bekannt: Der Gastgeber wollte prüfen, ob am Gerede über den
angeblichen Propheten etwas dran sei. Und jetzt dämmert es ihm. „Jesus geht
jedes prophetische Gespür ab.⁴⁵ Und von Anstand hält er auch nicht viel. Dabei ist
es doch offensichtlich, wer diese Frau ist!“ Jesus kann die Gedanken des Phari-
säers lesen und nutzt die Gelegenheit, zu kontern, indem er ihm ein Gleichnis
erzählt, das von großen und kleinen Schuldnern handelt. Erst jetzt nennt er Si-
mon bei seinem Namen. Und erst nach der Parabel wendet Jesus – immer noch mit
Simon redend – sich der Frau zu. Simon bekommt einen Denkzettel, die Frau eine
Absolution und die Zuschauer fragen sich, wer Jesus ist.
In der kunstvoll komponierten Erzählung geht einiges nicht auf. Die Frau
„wäscht“ die Füße mit ihren Tränen. Das „setzt einen Tränenstrom voraus, der nur
in Romanen vorkommt – und nicht in guten“.⁴⁶ Und „dass ausgerechnet ein auf
Reinheit bedachter Pharisäer seinem Gast kein Wasser für die Fußwaschung ge-
geben haben soll, ist völlig unwahrscheinlich, und vom Salben gilt: Einem Gast
Gelegenheit zu bieten, sich zu salben, oder ihm durch einen Sklaven die Füße
salben zu lassen, galt als Anstandspflicht.“⁴⁷ Man kann aufgrund der vielen
Ungereimtheiten davon ausgehen, dass Lukas tatsächlich eine andere Begeben-
heit schildert und das Salbungsmotiv aus der Bethanienerzählung zugewandert
ist.⁴⁸ Die Vermengung der Geschichten führte dazu, dass die Namenlose in
Bethanien mit der Sünderin identifiziert wurde. In der Auslegung der Kirchenväter
gesellte sich die in Lk 8,2 genannte Maria von Magdala dazu. Die Überblendung
der verschiedenen Frauengeschichten im Gedächtnis der Männer, hat die indivi-
duellen Geschichten und Gesichter verschwimmen lassen⁴⁹ – ein Umstand, der in
der feministischen Exegese reflektiert und kontrovers diskutiert worden ist.
Die lukanische Neuerzählung hat einerseits zur Unschärfe der Überlieferung
der Salbungsgeschichte beigetragen. Andererseits wird mit der narrativen Ein-
bettung des dritten Evangelisten die Figur der Frau zu einem wiedererkennbaren
Typus. Sie spielt die Rolle der bekehrten Sünderin, die aufgrund ihrer erotisch
(miss)verständlichen Aktionen als Dirne erkannt wird. Der eigentliche Skandal
der Jesusgeschichte, so könnte man mit Blick auf die Bethanienerzählung rück-
blickend sagen, ist die Gemeinschaft Jesu mit den Sündern. Und der zentrale
Konfliktpunkt ist die Verletzung der Reinheitsgebote durch Berührung. Lukas geht
es, so Reinhard von Bendemann, „um eine antithetische Gegenüberstellung
zweier Modelle von communitas.“⁵⁰
Ernst Haenchen, Der Weg Jesu: Eine Erklärung des Markus-Evangeliums und der kanonischen
Parallelen (Berlin/Boston: de Gruyter, 2019), bes. 462– 471, 471.
Ebd.
Vgl. Reinhard von Bendemann, „Liebe und Sündenvergebung: Eine narrativ-traditionsge-
schichtliche Analyse von Lk 7,36 – 50“, Biblische Zeitschrift 44 (2) (2000): 161– 182, 181: „Lukas
nutzt verschiedene Quellen (Mk 14,3 – 9) bzw. Traditionen (Lk 7,41 f.47de) zur Inszenierung einer
Neuerzählung, die er im Aufriß seines Evangeliums – in Korrespondenz zur exemplarischen
Berufung des ersten Jüngers in Lk 5,1– 11 – an prominentem Ort präsentiert.“
Katharina Wiefel-Jenner, „Mk 14,3 – 9, 17.04. 2011, Palmsonntag: ‚Die Namenlose und die
Liebe‘“, GPM 85 (2010): 192– 198, 193 fragt: „Ob die namenlose Frau über die Jahrhunderte hinweg
nicht für würdig genug befunden wurde, um in der Passionserinnerung einen prominenteren
Platz zu bekommen? Gern wurde sie mit der stadtbekannten Sünderin von Lk 7,36 – 50 identifi-
ziert, die doch Jesu Füße – und nicht seinen Kopf – gesalbt hatte. Hat womöglich deren
‚schlechter Ruf‘, der ihr trotz der Rehabilitation durch Jesus weiterhin anhaftet, verhindert, dass
der Namenlosen die Ehre der gottesdienstlichen Aufmerksamkeit gewährt wurde?“
R. von Bendemann, Liebe und Sündenvergebung, 182: „Diese Antithese aber erschließt sich
nicht allein auf dem Hintergrund antiker Konventionen der Gastfreundschaft, wie dies die bis-
herige Forschung in großer Einhelligkeit voraussetzt. Vielmehr zeigte sich, dass Lukas in der
Streitsache Salböl 95
Diesbezüglich ist die Geschichte messerscharf. Lukas zeichnet das Bild einer
von Dankbarkeit überfließenden und überschwänglichen Liebe, die das sittliche
und religiöse Regelwerk einer Gemeinschaft sprengt und etwas Neues einfordert.
Was bei Markus das Alabastron ist, wird bei Lukas der geschlossene Kreis der
exklusiven Religion. Ein erster Hauch von Pfingsten ist in der Luft. Wer den Geist
nicht hat, missversteht allerdings die Gesten. Anstatt das Haupt zu salben, ver-
harrt die Frau in der Pose der Sklavin und ehrt die Füße. „Aber was objektiv
weniger ist, und auch ganz unschicklich, ist subjektiv ein Mehr: Zeichen einer
Liebe, die im Zerbrechen aller Formen zeichenhaft wird.“⁵¹
Die Liebe schert sich einen Dreck um jene Reinheit, die lieblos wird, weil sie
jede Berührung zur Sünde erklärt oder irrigerweise meint, in ihr eine Ablenkung
von der Gottesliebe zu erkennen. Als ob es nur darum ginge, seine Pflicht und
Schuldigkeit zu tun! Darin liegt die Pointe der Parabel, die Jesus dem Simon er-
zählt. Liebe und Vergebung stehen in einer Wechselwirkung.Wer viel liebt, erfährt
viel Vergebung, wer viel vergibt, bekommt es mit der großen Liebe zu tun. Das ist
die neue Lehre.
Jesus lässt seine Worte nicht einfach so stehen, wie er auch die Frau nicht
einfach stehen lässt. Er hat schon dadurch, dass er sich ihre Salbung hat gefallen
lassen, gezeigt, was er von ihr hält. Jetzt spricht er es auch aus. Es soll allen, die
ein Herz haben, unter die Haut gehen. Es ist nicht so einfach dahingesagt. Ihr sind
ihre Sünden vergeben. Sie ist eine Tochter Gottes, die in Frieden gehen kann.
„Was zeichenhaft schon ‚gesagt‘ war, wird jetzt Wort. Das ‚Wort tritt zum
Element‘ und das ‚sakramentale‘ Geschehnis ist vollendet […] Die Entlassung mit
dem Friedensgruß bekommt nach einer derartig zugesprochenen Vergebung dann
den Sinn der altchristlichen Pax.“⁵²
Könnte denn die Geschichte, wenn sie tatsächlich auf das „Sakrament“ der
Buße abzielt, auch ohne das Element der Salbung funktionieren? Sie tritt bei
Lukas tatsächlich in den Hintergrund. Ich denke aber, dass das Alabastron mit der
Myrrhe wichtig ist. Bei Lukas steht die Salbe für Zuwendung und Herzlichkeit. Es
ist ein Medium und Mittel, um Zuneigung zu signalisieren, füreinander zu sorgen,
Neukodierung des Verhaltens der Frau in Lk 7,44– 46 gezielt auf ein innovatives Niveau von
Sprachkompetenz rekurriert. Lukas kann die Figur der Frau christlich reinterpretieren und die
konkrete erzählte Begebenheit so für seine Leser aktualisieren. Die gyne wird zum Typus der
Bekehrten, deren Tun als ‚Lieben‘ qualifizierbar ist und insofern zum Grund und Ausdruck ihrer
(geschehenen) Entschuldung/Sündenvergebung.“
H. Schürmann, Das Lukasevangelium, 433.
Ebd., 439.
96 Ralph Kunz
etwas Gutes zu gönnen und in dieser Geschichte der Ausdruck dessen, was man
als die lukanische „Gegenwartssoteriologie“⁵³ bezeichnen kann.
Aufschlussreich sind die Veränderungen, die der vierte Evangelist gegenüber den
synoptischen Vorlagen vornimmt. Johannes verschiebt die Szene vom Haus Si-
mons ins Haus des Geschwistertrios Lazarus, Martha und Maria. Letztere ist es, die
als Salbende auftritt. Jetzt ist ihre Stunde gekommen. Sie verwendet ein römisches
Pfund des teuren Öls, eine unsinnig große Menge, salbt damit wie die Frau in Lk 7
die Füße und nicht das Haupt, wischt aber das Öl und nicht Tränen mit ihrem
Haar ab. Sinnvoll ist das nicht, aber ein Beleg, dass Johannes sowohl die mar-
kinische als auch die lukanische Variante der Geschichte kannte.⁵⁴
Hartwig Thyen geht davon aus, dass das intertextuelle Spiel mit den vor-
handenen Erzählungen damit rechnet, dass die Prätexte stets mitgelesen werden
wollen. Der neue Text wird zwischen die beiden alten gestellt.
Dass Johannes anstelle des Gefäßes (Alabastron) die Menge nennt, hat mit
seiner Vorliebe für Zahlensymbolik zu tun, dient ihm aber auch dazu, die Ver-
schwendung anschaulich zu machen.⁵⁵ Außerdem korrespondiert das Motiv der
Überfülle mit der Mengenangabe in der späteren Salbung des Leichnams Jesu
durch Nikodemus nach Joh 19,39 – 42. Einige Ausleger deuten die ungeheure
Menge Salböl, mit dem er gemeinsam mit Josef von Arimathäa den toten Jesus
salbt, als ironischen Hinweis des Evangelisten auf die natürliche Begriffsstut-
zigkeit des Pharisäers.⁵⁶
Interessant ist die Verschiebung des Konfliktes, der sich bei Lukas zwischen
Pharisäer und Jesus zeigt. Bei Johannes ist es Judas, der opponiert und nicht wie
bei Markus „einige“, die sich empören. Aus einem bei Mk nur angedeuteten Ge-
gensatz zwischen der Frau und ihren ungenannten Tadlern sei hier der Schwarz-
Weiß-Kontrast geworden, zwischen der Frau, die das kostbare Gut dahingibt,
„weil sie nur an Jesus denkt, und Judas, der diese Hingabe nicht versteht, weil er
nur an sich denkt.“⁵⁷
„Ist Judas der Mensch, der Jesus verfehlt, so begegnet in Maria der Mensch,
der Jesus liebt und versteht. Sie stellt ihre Liebe, die das Berechnen hinter sich
lässt, in der überreichen Salbung dar, und diese Liebe – ob sie es weiß oder nicht
– lässt sich davon steuern, daß in der Totensalbung sich die Königssalbung er-
eignet.“⁵⁸
Wie bei Lukas sehen wir auch bei Johannes eine Typisierung. Wozu sie dient,
erschließt sich, wenn man das erzählerische Gegenstück zur ungewöhnlich lu-
xuriösen Waschung der Füße der Maria in den Blick nimmt: die Waschung der
Füße der Jünger durch ihren Meister.Wenn sich in der Fußwaschung der Maria die
Liebe der ergebenen Magd zu ihrem Herrn zeigt, zeigt sich in der Fußwaschung
des Meisters eine spektakuläre Umkehrung der Hierarchie. Auch hier muss das
synoptisch überlieferte Jesuswort mitgelesen werden.⁵⁹ Es ist Jesus, der kniet, sich
erniedrigt und den verachtenswerten Sklavendienst verrichtet, zu dem kein jü-
discher Sklave gezwungen werden durfte. Man könnte das leicht missverstehen –
und es ist missverstanden worden in der Christentumsgeschichte. Darum ist es
wichtig, die Umkehrung nicht zu verkehren: Wenn Schüler ihrem Meister die Füße
waschen, drücken sie damit ihre Ehrerbietung aus. Wenn der Meister seinen
Jüngern die Füße wäscht, tut er genau dies! Dazu passt, dass dieselbe Handlung
auch die Liebe zwischen zwei freien Personen darstellen konnte.⁶⁰
Die Fußwaschung, die Kp. 13 einleitet, ist also die Zeichenhandlung Jesu, die
auf die Zeichenhandlung der Maria antwortet. Sie mündet in das Gebot: „Daran
wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe unterein-
ander habt.“ (Joh 13,35) Seine Zeichenhandlung ist Veranschaulichung und An-
lass zur Weisung, dass die Jünger untereinander und aneinander tun, was der Herr
seinen Jüngern getan hat. Dass er sie später Freunde und nicht mehr Knechte
nennt (Joh 15,15 – 17), unterstreicht den Statuswechsel. Interessant ist, wie
kunstvoll Johannes das intertextuelle Spiel für den Petrus-Jesus-Dialog nutzt.
Wenn Nikodemus den Part der natürlichen Begriffsstutzigkeit spielt, kommt Si-
E. Haenchen, Der Weg Jesu, 468. Allerdings scheint V. 6, in dem das moralische Urteil über
Judas gesprochen wird, ein späterer Einschub zu sein.Vgl. dazu C. Dietzfelbinger, Das Evangelium
nach Johannes, 379.
C. Dietzfelbinger, ebd., 383.
„Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen
(diakonein) …“ (Mk 10,45).
Jörg Augenstein, Das Liebesgebot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen, BWANT
134 (Stuttgart: Kohlhammer, 1993), 31.
98 Ralph Kunz
mon Petrus die Rolle des geistlichen Stolperers zu. Seine Verwirrung und Verir-
rung zeigt sich im Evangelium bis zum Schluss wie ein roter Faden und lässt Jesus
am Ende zurückfragen: „Liebst Du mich?“ (Joh 21,15 – 17) Die Szene ist ein Echo
des Redegangs, der auf die Fußwaschung folgt und bringt zugleich die Differenz
zwischen der Markus- und Lukasüberlieferung ins Spiel. „Da sprach Petrus zu
ihm: Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen! Jesus antwortete ihm: Wenn
ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir. Spricht zu ihm Simon Petrus:
Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt! Spricht Jesus
zu ihm: Wer gewaschen ist, bedarf nichts, als dass ihm die Füße gewaschen
werden; er ist vielmehr ganz rein.“ (Joh 13,8 – 10)
Die Verschiebungen, die Johannes gegenüber den Prätexten vorgenommen
hat, eröffnen neue Interpretationsspielräume. Liest man die Fußwaschung der
Maria als Initialereignis und die Fußwaschung der Jünger durch den Meister als
Fortsetzung, bekommt das Evangelium, das zum Gedächtnis der Namenlosen
verkündet wird (Mk 14,9) eine noch explizitere sakramentale Bedeutung. Er wie-
derholt, was sie an ihm getan hat, an seinen Jüngern, um diese wiederum auf-
zufordern, es ihm gleichzutun: „Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit
Recht, denn ich bin’s auch. Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße
gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Denn
ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr und
der Gesandte nicht größer als der, der ihn gesandt hat. Wenn ihr dies wisst – selig
seid ihr, wenn ihr’s tut.“ (Joh 13,13 – 17)
Springen wir zurück zum vermuteten Ursprung der Story und seiner sakramen-
talen Dimension, die in der Fortschreibung in den Text hineingeschrieben wurde:
Das Anstößige der persönlichen Geschichte ist der Anlass, dem Ding nachzu-
sinnen, das im kleinen Drama so viel ausgelöst hat. Das Pièce de Résistance geht
durch ihre Hände und findet das Haupt (oder die Füße) Jesu.Was durch sie an ihm
geschieht, geht unter die Haut – weil Haut und Haut sich berühren: freund-
schaftlich, zärtlich, pflegend und weil die Handlung einen Überschuss an Be-
deutung erzeugt, etwas, das wir „symbolisch“ nennen.
Und unversehens hat das Episodische eine epochale Bedeutung, weil eine
unbedeutende Frau ihre Liebe nicht unter Kontrolle brachte. War es die Narden-
salbe, die sie auf die Idee brachte, dem Retter ihrer Seele ihre Liebe zu zeigen?
Eugen Drewermann deutet die Szene in diese Richtung: „In gewissem Sinne ist
diese kleine Erzählung von der Salbung Jesu in Bethanien am Anfang der Pas-
Streitsache Salböl 99
sionsgeschichte eine der mutigsten Antworten auf die ewige Frage nach dem
unübersehbaren Meer von Leid und Zerstörung in der Welt […], auf der einen Seite
die sanften Hände einer Frau, die streicheln, pflegen und zärtlich sein möchten;
auf der anderen Seite die rohe Gewalt und Zerstörung.“⁶¹
Mir ist das Drewermannsche Evangelium eine Spur zu pathetisch. In der
Sache hat er aber Recht. Es ist entlarvend, wie „einige“ auf die Frau reagierten und
es ist bezeichnend, dass sich Jesus schützend vor sie stellt. Ist es doch ein Spie-
gelbild seines Geschicks. Heißt es nicht im Evangelium, dass er wie ein Heiland
handelte? Auch seine Liebestat wurde mit Schnauben quittiert. Sie sehen nicht,
wen sie vor sich haben, sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23,34). Im Markus-
evangelium werden die unheimlichen (und zuweilen fromm ummantelten) Me-
chanismen der Zerstörungswut offenbar: damit die scheinbar Siegreichen be-
schämt und die scheinbaren Verlierer gewürdigt werden. Es ist die messianische
Strategie, das bestehende Bild kippen zu lassen und Umkehr und Heilung zu
ermöglichen.⁶²
Die feministische Exegese sieht die Frauen in diesem Machtspiel als Pro-
phetinnen.⁶³ Man kann auch die Namenlose in der Bethanienerzählung in dieser
Rolle sehen.⁶⁴ Für eine solche Sichtweise eignet sich m. E. eher die johanneische
Interpretation der Geschichte.⁶⁵ Sowohl zu Maria als auch zu Martha passt diese
Rollenbesetzung besser. Denn im Markusevangelium bringt nicht die Handelnde,
sondern der Behandelte die gefährliche Deutung ins Spiel. Jesus interpretiert die
Handlung neu und macht klar, dass die Liebestat der Frau mehr ist, als ihr selbst
und ihren Tadlern bewusst ist. Allerdings ist es ihre Handlung, die ihn dazu
Eugen Drewermann, Das Markusevangelium: Zweiter Teil: Bilder von Erlösung (Olten: Walter-
Verlag, 1988), 412, 419.
A. Bedenbender, Echos, Spiegelbilder, Rätseltexte, 26: „Aus dem Mk-Evangelium spricht keine
politische Strategie zur Überwindung des Imperiums, dafür entlarvt es seine Wirkungsweise. Und
seine illusionslose Art, die Welt zu betrachten, ermöglicht auch ein neues Verhältnis zur Praxis. In
höchster Prägnanz wird die Praxisorientierung des Mk-Ev ausgedrückt durch das ‚irrationale‘
Verhalten der Frau und durch die Position, die Jesus dazu einnimmt.“
Zum Frauenbild im lukanischen Doppelwerk: Vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Zu ihrem
Gedächtnis … Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge (München:
Kaiser, 1988), 172– 177; Luise Schottroff, „Die große Liebende und der Pharisäer Simon (Lukas
7,36– 50)“, in Befreiungserfahrungen: Studien zur Sozialgeschichte des Neuen Testaments, TB 82,
hg.v. dies. (München: Kaiser, 1990), 310 – 323.
Siegfried Eckert, „Palmarum – 9.4. 2017“, Homiletische Monatshefte 92 (2017): 263 – 267, 265:
„Petrus bekannte sich mit Worten zu Jesus als dem Messias. Diese Unbekannte tut Gleiches mit Öl
in der Zeichensprache einer Prophetin.“
Monika Fander, „Das Evangelium nach Markus“, in Kompendium Feministische Bibelausle-
gung, hg.v. Luise Schottroff und Marie-Theres Wacker (Gütersloh: Chr. Kaiser, 1998), 499 – 512,
508 f.
100 Ralph Kunz
animiert, sich als Gesalbten zu bekennen. Dass sein Ende naht, ahnt er; dass der
Menschensohn leiden muss, ist Teil seiner Botschaft. Für Markus ist die Passion
Jesu der Anfang einer Christologie, die er nur narrativ und nicht „dogmatisch“
ausführt.
Dogmengeschichtlich wurde, wie oben vermerkt, die Salbung aus der Jesus-
geschichte in die Christologie verschoben. Nicht die Frau mit dem Öl, sondern der
himmlische Vater salbt seinen Sohn. Aus Narde wird Geist. Die Frau geht ver-
gessen, wenn Irenäus von Lyon schreibt: „Denn der Name Christus bedeutet den,
der salbt und der gesalbt worden ist, und die Salbung selbst, in der er gesalbt
wurde. Es salbte aber der Vater, gesalbt wurde der Sohn in dem Geiste, der die
Salbung ist, gemäß dem Worte des Jesaja, der da spricht: Denn damit weist er hin
auf den Vater, der salbt, den Sohn, der gesalbt wurde und den Geist, welcher die
Salbung ist.“⁶⁶
Für diese innertrinitarische Salbung braucht es keine Salbe. Es klingt zwar
salbungsvoll, aber es fließt kein Tröpfchen Öl. Es fehlt das Ding. Die geruchs- und
berührungsfrei konstruierte Salbung exkarniert das Initialereignis und macht
vergessen, was der irdische Jesus der Namenlosen versprochen hat. „Wahrlich,
ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch
das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat.“ (Mk 14,9)
1966 sprach Joseph Ratzinger von einer „Krise des Sakramentalen, […] wie sie im
Inneren des Christentums in dieser Härte und Zuspitzung bisher kaum bestanden
haben dürfte“.⁶⁷ Im Fokus der Kritik stand das säkulare Zeitalter: „Wo die Welt als
Materie und Materie als Material angesehen wird, bleibt fürs erste kein Raum
mehr frei für jene symbolische Transparenz der Wirklichkeit auf das Ewige hin,
auf der das sakramentale Prinzip beruht.“⁶⁸
Die Salbung Jesu als Ereignis bedacht, zeitigt in seiner geschichtlichen Sendung wie in
seinem irdischen Geschick die absolute Erfüllung der Selbsttranszendenz jeder geistigen
Kreatur, die in Gott zu ihrem Ziel kommt. Die Salbung als ein ‚Stück vergessener Christologie‘
schlägt von der Sache her Brücken zu Themen der Anthropologie, Ekklesiologie und Sa-
Das Stichwort der „Symbolunfähigkeit“ wurde sowohl in der Liturgik als auch in der Religi-
onspädagogik eingehend diskutiert. Vgl. zur Liturgik Luca Baschera und Ralph Kunz, „Der Got-
tesdienst der Kirche im Widerspiel von formativem und expressivem Handeln“, in Gemeinsames
Gebet: Form und Wirkung des Gottesdienstes, hg.v. Luca Baschera, Angela Berlis und Ralph Kunz
(Zürich: TVZ, 2014), 299 und Annegret Südland, Der Heilige Geist im Religionsunterricht: Empiri-
sche, exegetische, systematische und religionspädagogische Untersuchungen als Anregung für die
Bildung von Religionslehrkräften (Kassel: university press GmbH, 2019), 399.
Mit „Berührung“ ist eine positiv qualifizierte inkludierende Nähe gemeint – und nicht ein
„Anfassen“. Es sind immer wertende Unterscheidungen, die wir für jeden Sinn machen. Wir
wollen gesehen, aber nicht begafft, angehört, aber nicht belauscht werden. Was das meint, wird
von Miroslav Volf in seiner Phänomenologie der Umarmung eindrücklich demonstriert. Vgl.
Miroslav Volf, Von der Ausgrenzung zur Umarmung: Versöhnendes Handeln als Ausdruck christli-
cher Identität (Marburg: Francke-Buch GmbH, 2012), 181– 192.
102 Ralph Kunz
kramentenlehre […]. Das Ereignis der Salbung im Leben Jesu erinnert den Christen daran,
daß Gott ‚alles in allem sein wird‘ (1. Kor 15,28). Die Teilnahme an der Salbung Christi
existential gedacht, ruft dem einzelnen Glaubenden seine letzte Bestimmung in Erinnerung:
im Hl. Geist Sohn, Tochter des dreieinen Gottes zu sein. Die Salbung meint damit das freie
und gnadenhafte Angebot Gottes an den Glaubenden, im Hl. Geist Anteil an der Liebe des
dreieinen Gottes zu erhalten.⁷¹
Für Müller ist die Salbung Jesu zentral. Allerdings fragt sich, ob die existential
gedachte Teilnahme ohne rituell erfahrene Teilhabe nicht ganz und gar abstrakt
bleibt. Kann Salbung berührungsfrei erlebt werden? Wie komme ich dazu, dieses
„freie und gnadenhafte Angebot Gottes“ wahrzunehmen, wenn es kein rituelles
Angebot dafür gibt? Wie kommt das Zeichen ins Herz, wenn es mich nicht berührt?
Die Klage ist nicht neu und es gibt zuhauf Vorschläge, wie die Kirche leib-
freundlicher gestaltet werden kann. Auch das Schnauben der Bedenkenträger ist
nicht zu überhören! Natürlich ist naiv, wer meint, es könne die sakramentale Krise
mit ein paar Segnungs- und Salbungsgottesdiensten überwunden werden – ein-
mal ganz abgesehen davon, dass es gute Gründe gibt, die stündige Feier am
Sonntagmorgen nicht zu überfrachten und zwanghaft ganzheitlich aufzuladen.⁷²
Das alles bedacht und gesagt, meine ich dennoch, dass der Wunsch nach leib-
freundlichen Riten seine Berechtigung hat, weiß aber auch, dass kybernetische
Weisheit gefragt ist, um vom Wünschbaren zum Machbaren zu kommen. Es fragt
sich nur, wie hilfreich eine Lehre ist, die das Sakramentale zwar als konstitutiv für
die Kirche bedenkt, aber keine Antwort darauf hat, was es mit der Materialität der
Zeichen auf sich hat. Wer das Gedächtnis der Frau, die Jesus gesalbt hat, ehren
will, fragt darum nicht nur, was Sakramente für die Kirche bedeuten, sondern
besser auch, wie sie für die Gläubigen wieder bedeutsam werden – im Wissen,
dass beide Fragen nicht unabhängig voneinander beantwortet werden können.
Die Frage, was das Sakrament bedeutet, ist nicht vom Tisch und die evan-
gelische Antwort, die Eberhard Jüngel darauf gegeben hat, halte ich immer noch
für relevant. Im Anschluss an Karl Barths christologische Fundierung des Sa-
kramentenbegriffs hält Jüngel thetisch fest, dass sich die Kirche in den beiden
Feiern des einen Sakraments selbst verstehe: im Hinblick auf ihre Herkunft in der
Feier der Taufe und im Hinblick auf ihre Zukunft in der Feier des Abendmahls.
20. Die Kirche glaubt an ihre Herkunft, indem sie in der Taufe das eine Sakrament Jesus
Christus als das ex opere operato wirksame Sakrament des Aufbruchs feiert.
21. Die Kirche hofft auf ihre Zukunft, indem sie im Abendmahl das eine Sakrament Jesus
Christus als das ex opere operato wirksame Sakrament der Wegzehrung feiert.
22. In den beiden Feiern des einen Sakraments gibt die Kirche sich selbst und der Welt zu
verstehen, daß sie nicht mit der Zeit geht und nicht mit den Wölfen heult, sondern in einer
schon beendeten Zeit ihrem Herrn als ihrem gnädigen Ende entgegengeht.⁷³
Was in dieser Bestimmung auffällt: Zwischen dem Sakrament des Aufbruchs und
dem Sakrament der Wegzehrung erscheint ein ritueller Leerraum, der zwar
theologisch bestimmt wird, aber sakramental unterbestimmt bleibt.
23. Indem die Kirche in einer schon beendeten Zeit an ihre Herkunft glaubt und auf ihre
Zukunft hofft, versteht sie die ihr gegebene Zeit als Zeit zur Liebe.
24. Glaube, Hoffnung und Liebe sind als die durch das Wort Gottes ermöglichten Wesensakte
der Kirche in der Welt unverständlich; aber sie werden als Wesensakte der Kirche in den
beiden Feiern des einen Sakraments selbstverständlich.
5.3 Fazit
Was tut die Kirche in der ihr „gegebenen Zeit zur Liebe“? Man könnte an die
Diakonie denken, an Seelsorge und Pflege. Brauchen wir dazu ein drittes Sakra-
ment?
Wenn die Liebe ein Wesensakt der Kirche ist, dann muss sie auch in der
Gestalt konkreter Zeichenhandlungen in Erscheinung treten. Mit Reinhard Hem-
pelmann bin ich der Überzeugung, „daß die Sakramente in Sonderheit als Ort der
Erfahrung des Heils und als wirksame Zeichen der heilvollen Nähe Gottes gelten
können, hat seinen Grund auch darin, daß sich Gottes Heil in ihnen sinnenhaft
und leiblich mitteilt und konkretisiert.“⁷⁴ In der von Marcus Held vorgeschlagenen
lebensphänomenologischen Perspektive sehe ich die Möglichkeit, die christolo-
gische Grundgrammatik der Sakramente zu vertiefen und zugleich zu erweitern.
Es gilt neben dem „heiligen Bad“ und dem „heiligen Essen“ die „heilige Berüh-
rung“ als dritten Erfahrungsraum zu erschließen.⁷⁵
Das Sakrament der Salbung schenkt der Gemeinschaft, die aus der Taufe
erwachsen ist und auf das letzte Mahl zugeht, berührende Momente. Der Raum
der „Gegenwart in der Liebe“ ist aufgespannt zwischen der Herkunft im Glauben
und der Zukunft in der Hoffnung.
Das Mandat Christi dazu haben wir. In der Fußwaschung wendet sich Jesus
jedem seiner Jünger persönlich zu. Dieser Dienst ist es, der ihn als wahren Herrn
auszeichnet. Die Gemeinschaft, die durch das Bad im Akt der Taufe realisiert wird,
ist die Gemeinschaft mit Christus, der in den Seinen wohnt. Die Gemeinschaft, die
durch die Berührung im Akt der Salbung/Fußwaschung reaktualisiert wird, ist die
Gemeinschaft der Freunde, die einander lieben, wie Jesus die Seinen liebt.⁷⁶ Sie
können ihn nicht festhalten und sie haben nichts von ihm, was sich in einen
Diamanten verwandeln lässt, nur sein Wort: „Wenn ihr dies wisst – selig seid ihr,
wenn ihr’s tut.“ (Joh 13,17)
6 Epilog
In meiner Heimatstadt Winterthur wurde vor ein paar Jahren ein neues Atelier
eröffnet. Es bot Perlenschmuck an, das aus Muttermilch gewonnen wird. Das
Geschäft lief so gut, dass die Palette der Produkte erweitert werden konnte. Neu
wird Gedenkschmuck aus Material hergestellt, das aus der Medizintechnik
stammt. Seit einiger Zeit werden auch Eheringe aus Haar oder Kremationsasche
angeboten – keine teuren Diamanten, sondern günstiger Schmuck. Manche
Kundinnen und Kunden bringen auch Federn von ihrem Lieblingshuhn. Men-
schen wünschten sich in Zeiten der Trauer etwas Greifbares, erzählt die Ge-
schäftsinhaberin. Es sei berührend, schön und manchmal auch etwas traurig,
wenn die Kunden ihre Geschichte erzählen.⁷⁷
Was tritt da in Erscheinung? Dass das Geschäft mit dem greifbaren Gedenk-
stein offensichtlich einem Bedürfnis entspricht. „Algordanza“ hat Konkurrenz
bekommen. Soll die Kirche ins Geschäft einsteigen? Nein, soll sie nicht, aber den
Menschen entgegenkommen und gleichzeitig dem „Trend zur Privatisierung und
Intimisierung“ mit besseren Alternativen, die das Herz berühren, etwas Hand-
festes entgegensetzen.
Paula Stähler
Lebendiges Licht
Von Kerzen in Kirchen, daheim und im virtuellen Raum
https://doi.org/10.1515/9783110762853-007
108 Paula Stähler
Die vom Wort ausgehende Reformation der Kirche legte den Akzent auf die Lehre – evan-
gelium pure docetur – und die der Stiftung Christi entsprechende Sakramentsverwaltung –
recte administrantur sacramenta (CA VII). Den äußeren Zeremonien stand sie ambivalent
gegenüber. Durch die spätmittelalterliche Verselbständigung von Riten und Gebräuchen
gegenüber der Christusmitte schien Kritik unabwendbar. Andererseits behielt man vielerorts
die traditionellen Zeremonien der Messe weitgehend bei […]. Sie wurden in christlicher
Freiheit gesichtet, z. B. von Luther in seiner DM 1526: ‚Da lassen wyr die Messegewand / altar
/ liechter noch bleyben / bis sie alle werden / odder uns gefellet zu endern› (WA 19,80).²
Ein Blick auf das Taufbüchlein Martin Luthers zeigt exemplarisch, dass ein ‚Licht-
Ritus›, bei welchem der Priester eine brennende Kerze mit einem Begleitwort an
den Täufling überreicht, in der Fassung von 1523 noch enthalten ist, sich in der
zweiten Fassung von 1526 jedoch nicht mehr findet.³
In der Folge wurde in lutherischer Tradition auch nach dieser Grundhaltung
verfahren: Liturgische Gegenstände wurden aus dem Gebrauch genommen, ihre
Natürlich war der Gebrauch von Kerzen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Kirchen insofern
selbstverständlich als sie eines der wichtigsten Beleuchtungsmittel waren, bevor sich Kerosin-
lampen und schließlich elektrisches Licht durchsetzten. Es ist somit zwischen der Verwendung
als Beleuchtungsmittel einerseits und dem liturgischen Gebrauch andererseits zu unterscheiden.
Hier beschäftigt die Frage nach dem Gebrauch von Kerzen als religiöse Zeichen, welche in Rituale
eingebunden sind und in dieser Funktion über ihre primäre Funktion als Lichtquellen hinaus-
gehen.
Ottfried Jordahn, „Das Zeremoniale“, in Handbuch der Liturgik: Liturgiewissenschaft in Theo-
logie und Praxis der Kirche, hg.v. Hans-Christoph Schmidt-Lauber, Michael Meyer-Blanck und
Karl-Heinrich Bieritz (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 32003), Hervorhebung im Original.
Vgl. August Jilek, „Die Taufe“, in Handbuch der Liturgik: Liturgiewissenschaft in Theologie und
Praxis der Kirche, hg.v. Hans-Christoph Schmidt-Lauber und Karl-Heinrich Bieritz (Göttingen:
Vandenhoeck und Ruprecht, 1995), 294– 332.
Lebendiges Licht 109
Thomas Klie, Fremde Heimat Liturgie: Ästhetik gottesdienstlicher Stücke, Praktische Theologie
heute 104 (Stuttgart: Kohlhammer, 2010), 14.
Vgl. zu den liturgischen Bewegungen: Karl-Heinrich Bieritz, Liturgik (Berlin/New York: de
Gruyter, 2004), 336 ff. Vgl. zum Thema „Frauenliturgien“ und „Frauenrituale“ als Inspirations-
quelle für vielfältig ansprechend gestaltete Rituale (wie Salbungen, Handauflegen, Hausseg-
nungen etc.) die Hinweise in Ebd., 681 ff sowie in Wolfgang Steck, Praktische Theologie: Horizonte
der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt, Bd. 1
(Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 2000), 321 ff.
Ralph Kunz, Gottesdienst evangelisch reformiert: Liturgik und Liturgie in der Kirche Zwinglis,
Zürcher Beiträge zu Religion und Philosophie 10 (Zürich: Pano Verlag, 2006), 118.
110 Paula Stähler
Mit den Bildern verschwanden die Reliquien, die Orgeln verstummten, Wetter- und Sterbe-
läuten wurden abgeschafft, die letzte Ölung nicht mehr erteilt, Salz und Kerzen nicht mehr
geweiht, priesterliche Gewänder für Taufe und Trauung nicht mehr verwendet. Aus der
Diskussion um die Bilder wird ersichtlich, dass es sich bei den ‚Bildern‘ nicht nur um Dar-
stellungen der Gottheit und der Heiligen auf Altarbildern, Fresken, Grabsteinen und Relie-
fen, in Form von Statuen, Kreuzen, Kruzifixen und Rosenkränzen u. ä. mehr handelt, son-
dern auch die Gesten und kultischen Handlungen wie das Bekreuzigen und Küssen, der
Gebrauch von Weihwasser und Opferkerzen, das Rosenkranzgebet, die Durchführung von
Wallfahrten und Prozessionen gemeint sind.⁷
Ob bewusst verbannt oder allmählich aus dem Gebrauch gekommen – für die
evangelische Praxis ging mit den Kerzen ein weiterer Baustein der liturgisch
vielfältigen und viel-sinnigen religiösen Ausdrucksformen verloren.
Heute treffen sich lutherische wie reformierte Tradition wieder in der Er-
kenntnis, dass das Wort Gottes nicht allein verbal Ausdruck findet und wirksam
wird, sondern in vielfältiger Weise. Wort Gottes braucht eine „Neucodierung des
konfessionellen Codes“⁸, um seinen Ausdruck zusätzlich zur Verbalsprache auch
in Musik und Körper, in nichtverbalen Vollzügen, in Raum und Gestik, in rituellen
Handlungen finden zu können. Nicht nur im lutherischen Verständnis gilt: „Das
[…] ‚Wort‘ ist nicht nur homiletisch hörbar, sondern auch liturgisch ansehnlich
und eucharistisch geschmackvoll. In Liturgie und Sakrament kommt eben kein
anderes Evangelium als in der Predigt zu Wort, wohl aber anders.“⁹
In diesem Sinne entsprechen „[l]iturgische Handlungen […] dem Wort von
Christus, wenn sie das Heilshandeln Gottes an seinem Volk und dessen lobprei-
sende Antwort in zeichenhafter Konzentration vergegenwärtigen, darstellen und
erlebbar machen.“¹⁰ Vor diesem Hintergrund ist danach zu fragen, in welcher Art
und Weise Kerzen im religiösen Gebrauch etwas vom Heilshandeln Gottes er-
fahrbar machen können. Zu beobachten ist, dass sie in evangelischen Kirchen
inzwischen wieder vermehrt ihren Ort suchen. Für die reformierte Kirche zählt
Stückelberger exemplarisch auf: „Begonnen hat es mit Kerzen auf dem Abend-
mahlstisch. Dann tauchten die Osterkerze und Taufkerzen auf. Schliesslich wurde
das Kerzenanzünden in die Fürbitte integriert. Aber auch bei Abdankungen und
Erinnerungsfeiern sind Kerzenrituale beliebt.“¹¹ Ähnliche Ausweitungen des Ge-
brauchs lassen sich auch für lutherische Kirchen beobachten.
Ebd., 123.
Ebd., 210. Hervorhebung im Original.
Th. Klie, Fremde Heimat, S. 14. Hervorhebung im Original.
O. Jordahn, Zeremoniale, 437.
Johannes Stückelberger, „Kerzen, Weihrauch, Messgeklingel“, Magazin Bildungkirche 4
(2016): 9 – 10.
Lebendiges Licht 111
2 Empirisches Schlaglicht
Eine nicht-repräsentative Umfrage unter evangelischen Kirchenmitgliedern in der
reformierten Kirche in der Schweiz und in der evangelisch-lutherischen sowie
unierten Kirche in Deutschland wirft ein interessantes Schlaglicht auf die aktuelle
religiöse Praxis des Kerzenanzündens unter evangelischen Christ*innen. Zum
einen wurde nach dem Gebrauch von Kerzen im Kontext religiöser Handlungen
gefragt, zum anderen nach möglichen Veränderungen im Zusammenhang mit der
Corona-Pandemie.
Für die reformierten Befragten zeigt sich deutlich, dass das Anzünden von
Kerzen erst in jüngerer Vergangenheit zu ihrer religiösen Praxis zählt und
hauptsächlich durch die römisch-katholische, mitunter auch durch die orthodoxe
Praxis angeregt wurde. In den letzten rund dreissig Jahren entstanden dabei
immer wieder Begegnungs- und Berührungspunkte, durch ökumenische Feiern,
v. a. aber durch den Besuch katholischer oder orthodoxer Kirchen auf Reisen.
Mehrere Befragte gaben an, eher in ‚fremden‘ Kirchen oder auf Reisen eine Kerze
anzuzünden denn in der eigenen Kirche am Heimatort, obwohl es auch dort je-
weils seit einigen Jahren Tische mit Fürbitt-Kerzen gäbe und die Möglichkeit,
diese während der tagsüber offenen Kirchen anzuzünden.
Beim Blick auf die inhaltliche Füllung des Kerzenrituals wurde die Differenz
zwischen dem ‚normalen‘ Anzünden einer Kerze und dem Kerzenritual explizit
hervorgehoben. „Es ist anders, wenn ich daheim eine Kerze anzünde“, begründete
eine Gläubige, warum sie eine Andachtskerze nicht zu Hause, sondern jeweils in
einer Kirche anzünde. Verschiedene ‚Funktionen‘ wurden den Kerzen von den
Gesprächspartner*innen zugewiesen. Dabei stellten sie z.T. die Kerze als Gegen-
stand selbst ins Zentrum und bemerkten, dass sie bspw. mit ihrem Licht „die
Gedanken bündeln“ könne. Die Motive der Konzentration, der Ruhe und des
Gedenkens spielten in den Aussagen eine grosse Rolle.
112 Paula Stähler
Darüber hinaus wird das Licht als etwas Symbolisches gedeutet. Das Licht der
Kerze stehe „für das Licht des Lebens“, sagte ein Gesprächspartner. Auch eine
weitere Person stellte diese Verbindung her: „Die Kerze ist wie das Leben – erst
voll und groß, dann wird es immer weniger und immer kleiner.“ Die Kerzen, die
diese Gläubige in der Kirche anzündet, deutet sie zugleich in ihrem Lebenskontext
als deutlich über 80-Jährige.
Immer wieder genannt wurde zudem, dass die Kerzen zum Gedenken an
Verstorbene entzündet würden. Mehrfach nannten besonders sehr alte Ge-
sprächspartner*innen hier die Eltern als Bezugspersonen; auch des verstorbenen
Ehepartners wurde mit dem Anzünden von Kerzen gedacht. Eine regelmäßige
Kirchgängerin unter den Befragten weitete den Blick von den eigenen Verwandten
auf die Gemeinschaft der Kirchgemeinde, die sie mit dem Anzünden der Kerze in
den Blick nähme: „Ich zünde immer zwei Kerzen an: eine für meine Eltern und
eine zweite für jemanden, der gerade nicht da ist, der krank ist zum Beispiel;
jemanden von uns aus der Gemeinde.“
Thematisiert wurde in der Umfrage auch, ob sich die Praxis der Befragten im
Zusammenhang mit den aktuellen Verordnungen zur Eindämmung der Corona-
Pandemie geändert habe. Hier konnte festgestellt werden, dass Kirchgemeinden
vermehrt die Möglichkeit schufen, in den tagsüber geöffneten Kirchen Kerzen für
die Fürbitte anzuzünden. Allerdings zeigte sich hier die fehlende Praxis, die zu
Unsicherheit führte: eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Küsterei einer nord-
deutschen Gemeinde berichtete etwa von den Diskussionen, die in ihrer Ge-
meinde sowohl um die Art des Kerzentisches (‚normaler‘ Tisch mit Sandschalen
oder spezieller Fürbittleuchter, etwa in Form einer Weltkugel?), um die zu ver-
wendenden Kerzen (Teelichter oder Opferkerzen?) als auch um den Standort in-
nerhalb des Kirchenraumes (Eingangsbereich, Seitenschiff oder Altarraum?)
entstanden.
Auf die Frage nach einer veränderten Praxis durch die Corona-Gesetzgebung
wurden von älteren Gemeindegliedern nur wenige Veränderungen berichtet. Hin
und wieder habe jemand eine Kerze angezündet, wenn ein besonderer Gottes-
dienst im Fernsehen übertragen worden sei. Mehrheitlich wurde jedoch die be-
währte Praxis beibehalten: jemand zündet zu Hause eine Kerze an beim Wort zum
Sonntag, jemand anderes zum täglichen Bibellesen; die meisten zündeten nach
wie vor Kerzen für die Andacht nur in der Kirche an.
Anderes berichteten jüngere Befragte. Hier wurden mit den Pandemie-Be-
schränkungen z.T. erstmals Gottesdienste in der Übertragung in Fernsehen oder
Internet angeschaut und auch andere Angebote der Kirchengemeinden, wie Bi-
belgespräche oder begleitete Fastenaktionen in der Passionszeit vor Ostern, in
digitaler Form genutzt. In vielen Fällen wurden dabei, besonders wenn es sich um
bidirektionale Formate handelte, bei denen alle Teilnehmer*innen ihre Kamera
Lebendiges Licht 113
Während seit März 2020 Gottesdienste nicht mit der versammelten Gemeinde vor
Ort stattfinden konnten, wurden vielerorts die evangelischen Kirchen zur indivi-
duellen Andacht geöffnet und in diesem Zusammenhang auch Möglichkeiten zum
Anzünden von Kerzen geschaffen. Während die Versammlungsmöglichkeiten
eingeschränkt wurden, waren zu keinem Zeitpunkt während der Pandemie die
Kirchgebäude selbst geschlossen. Bawidamann, Peter und Walthert weisen dar-
auf hin, dass in der Schweiz in den Anordnungen der Bundesbehörden explizit
erwähnt wurde, Kirchen dürften in ihren Öffnungszeiten beschränkt, nicht jedoch
geschlossen werden.¹³
Die Kirchen waren herausgefordert, ein klar religiöses und zugleich allgemein
zugängliches Ritual der individuellen Religionsausübung in ihren Räumen zu
Eine Befragte berichtete bspw. von einer „Take-Away-Tüte“, die im Vorfeld des online-Got-
tesdienstes in der örtlichen Kirchgemeinde abgeholt werden konnte. Enthalten waren eine Kerze
sowie Streichhölzer, ein Liedblatt, Material und eine Bastelanleitung für Kinder zum Thema der
Predigt sowie einige Lebensmittel für den anschließend gemeinsam virtuell stattfindenden Kir-
chenkaffee. Zum Beginn der Liturgie wurden alle Teilnehmer*innen aufgefordert, die mitgege-
benen Kerzen anzuzünden.
Loic Bawidamann, Laura Peter und Rafael Walthert, Corona und Religion: Modifikation reli-
giöser Rituale im Rahmen der ausserordentlichen Lage (2020), 1 (publiziert und online abrufbar
unter https://www.religionswissenschaft.uzh.ch/static/Corona_Religion.pdf, Lesedatum: 22.12.
2021).
114 Paula Stähler
Nicht nur in der offenen Kirche wurden neue Formen erprobt. Zwar ist das (Mit‐)
Feiern von Gottesdiensten über den Bildschirm nicht neu. Gerade viele ältere
Menschen sehen Woche für Woche oder immer wieder einmal den Rundfunk-
Gottesdienst im Fernsehen oder hören ihn im Radio am Sonntag Morgen.
Im Kontext der vollständigen Verlagerung von Gottesdiensten in elektronische
Medien wie Fernsehen und Internet schien es kirchlichen Akteur*innen jedoch
notwendig, für das Mitfeiern von Gottesdiensten oder das Teilnehmen an anderen
religiösen Veranstaltungen eine Art Gebrauchsanweisung zu geben.
Häufig gehörte hier eine Kerze zur Grundausstattung. Empfohlen wurde, zum
Beginn eines Gottesdienstes oder einer bewusst religiös gestalteten Zeit, eine
Kerze anzuzünden und damit den Raum vor dem Bildschirm als besonderen Ort
und die nun begonnene Zeit als besonderen Abschnitt zu kennzeichnen.¹⁴ Wie
eine Teilnehmerin der Befragung berichtete, war auch in der Gottesdienst-To-Go-
Tüte ihrer Kirchgemeinde eine Kerze enthalten, die von allen Teilnehmer*innen
zu Beginn des Gottesdienstes angezündet wurde.¹⁵
Vgl. z. B. die Anregungen auf der Seite der ELKB in diesem Zusammenhang unter https://coro
na.bayern-evangelisch.de, Lesedatum: 22.12. 2021; vgl. auch die digitale Initiative brot & liebe, die
sich zu online-Abendmahlsgottesdiensten trifft, wobei auch hier eine Kerze zur Grundausstattung
gehört: Online abrufbar unter https://brot-liebe.net/#termine, Lesedatum: 22.12. 2021. Auch die
von der EKD vorgeschlagene Hausandacht zu Weihnachten 2021 beginnt mit dem Anzünden einer
Kerze: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/DBK_FLY_Gott_bei_Euch_2021_A4_Web.pdf, Lese-
datum: 22.12. 2021.
In Abhängigkeit von der Gottesdienstform werden mitunter zusätzliche Utensilien benötigt
wie bspw. Brot und Saft oder Wein bei einem digital gefeierten Abendmahlsgottesdienst.
Lebendiges Licht 115
Der Brauch, eine brennende Kerze ins Fenster zu stellen, war bereits zuvor aus verschiedenen
Kontexten bekannt und kann dabei mit unterschiedlichen Inhalten verknüpft sein. So rufen etwa
verschiedene Institutionen und Vereine seit den 1990er Jahren dazu auf, Anfang Dezember mit
Kerzen im Fenster an früh verstorbene Kinder zu erinnern. Erwähnenswert ist auch der seit dem
Mauerbau 1961 vom Kuratorium „Unteilbares Deutschland“ angeregte – nicht religiös begründete
– Brauch, zur Weihnachtszeit eine Kerze ‚für die Brüder und Schwestern im Osten‘ ins Fenster zu
stellen und damit die Verbindung zu den Menschen auf der anderen Seite der innerdeutschen
Grenze auszudrücken. Neben den von Privatpersonen ins Fenster gestellten Kerzen wurden dar-
über hinaus Spenden gesammelt, um lichtergeschmückte Weihnachtsbäume an der Mauer auf-
zustellen und mit ihnen eine Botschaft in die DDR zu senden (Aktion ‚Licht über Mauer und
Stacheldraht‘). Vgl. https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/188966/
deutschland-zusammenhalten-wilhelm-wolfgang-schuetz-und-sein-unteilbares-deutschland,
Lesedatum: 22.12. 2021.
Vgl. https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Frank-Walter-Steinmeier/
2021/01/210120-Aufruf-Lichtfenster.html, Lesedatum: 22.12. 2021.
Vgl. https://www.ekd.de/aktion-lichtfenster-62441.htm, Lesedatum: 22.12. 2021.
L. Bawidamann et al., Corona und Religion, 7.
116 Paula Stähler
beschränkungen gerade neu erprobt werden musste. Die Kerzen wurden dabei
zum eigentlichen Gegenstand, welcher das Ritual tragen und die verbindende
Gemeinschaft durch das Ritual symbolisieren sollte.
In der Osterzeit 2021, also nach einem guten Jahr Pandemie-Erleben, erfolgte
durch die Schweizer Kirchen ein erneuter Aufruf zum Kerzenanzünden, allerdings
nun nicht mehr in Form eines Gegenstandes im eigenen Zuhause, sondern auf
einer Website im Internet. Eine breite Allianz aus EKS, SBK, Christkatholischer
Kirche, Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Schweiz (AGCK) u. a. rief
zur Aktion Lichtschenken.ch auf. Hier konnten in einem Zeitraum von knapp zwei
Monaten virtuell Kerzen angezündet werden, die nach den Kategorien ‚Licht des
Dankes‘, ‚Licht des Gedenkens‘, ‚Licht der Verbundenheit‘ und ‚Licht der Hoff-
nung‘ eingeteilt waren und nach dem Entzünden als farbiger Punkt auf einer
Karte der Schweiz erschienen. Auch hier gab es eine Verbindung zu politischen
Akteuren; der damalige Schweizer Bundespräsident Guy Parmelin eröffnete die
Aktion durch das Entzünden der ersten Kerze und den ersten Eintrag einer
‚Lichterbotschaft‘.
In den heute noch verfügbaren Einträgen, die zum Anzünden der virtuellen
Kerzen gepostet werden konnten, zeigt sich dann auch eine Mischung von guten
Wünschen oder Gedenken im weiteren Sinne und expliziten Gebeten im engeren
Sinne in einem Verhältnis von etwa zwei zu eins.²⁰
Bemerkenswert ist dabei, dass hier der Schritt vom realen Gegenstand ins
Digitale stattfindet. Während die Kerzen als Artefakte einerseits in die evangeli-
sche religiöse Praxis zurückfinden, werden sie andererseits im zweiten Pandemie-
Jahr ökumenisch (zusätzlich) in den virtuellen Raum verschoben. Hier ist von
einer Differenz zwischen verschiedenen Generationen auszugehen, wobei dies zu
untersuchen wäre. Die Aussagen in der Befragung deuten jedoch darauf hin, dass
für ältere und hochaltrige Personen gerade die Verwendung echter Kerzen im
Vordergrund steht. So betonten diejenigen, die in Alters- oder Pflegeeinrichtun-
gen wohnten, wie sehr sie den Gebrauch echter Kerzen in Andachten und Got-
tesdiensten schätzten, da diese in den eigenen Zimmern und Wohnungen ver-
Die Internetseite ist weiterhin abrufbar, allerdings können keine neuen Lichter mehr ‚ange-
zündet‘ werden. Einige der geposteten Beiträge sind zudem noch sichtbar, ca. 1/3 davon wählt die
Anrede „Gott“ (davon zweimal „Christus“ sowie einmal „Allah“) als Adressat und kennzeichnet
den Beitrag so explizit als Gebet. Vgl. https://lichtschenken.ch/LichtSchenken@Message.html/
130948956, Lesedatum: 22.12. 2021.
Lebendiges Licht 117
boten seien. Auch machten sie deutlich, dass elektrische Kerzen kein adäquater
Ersatz seien, da besonders das ‚Lebendige‘ der Kerzenflamme für sie zur Andacht
gehöre.
Ob sich dies auch für jüngere Personen in ihrer religiösen Praxis bestätigen
liesse, bliebe zu fragen.
Entfaltet die Kerze als Ding selbst eine besondere Wirkung und kann damit
religiöse Empfindungen ausdrücken oder gar hervorrufen bzw. fördern oder steht
sie vielmehr zeichenhaft für die Andacht und wäre damit durch andere, auch
virtuelle Zeichen, vollständig oder zumindest weitgehend zu substituieren?
Anzunehmen ist, wenn man Brumme in seiner sehr plausiblen Argumenta-
tion über das Digitale folgt, dass die virtuell angezündete Kerze insofern einen
qualitativen Unterschied zur ‚echten‘ hat, als ihr das „[U]nbestimmte,
[U]nscharfe“²¹ fehlt, welches nicht-digitale Lebenszusammenhänge und Deu-
tungsvorgänge bestimmt.²² Die (soziale) Wirksamkeit mag sich nicht darin un-
terscheiden, ob eine Kerze in der Kirche oder im Chat angezündet wurde,²³ die
Frage nach der Unbestimmtheit des religiösen Gegenstandes ist gleichwohl zu
bedenken: Während die Kerze in der Kirche durch einen starken Luftzug ausge-
löscht werden kann – die Lebendigkeit ihrer Flamme ist wie jedes Leben gefährdet
–, brennt die virtuelle Kerze bis zum Erlöschen der Domain. Hier könnte somit von
einer Überlagerung der Unverfügbarkeit des religiösen Gehalts mit der in diesem
Fall nur bedingten Verfügbarkeit des religiösen Gegenstandes gesprochen wer-
den.
In die Überlegungen zum Verhältnis von realer und digitaler Kerze ist auch
die Frage der inhaltlichen Bestimmtheit einzubeziehen. In der hier in den Blick
genommenen Aktion waren die digitalen Kerzen bereits inhaltlich vorbestimmt;
sie sollten Dank, Gedenken, Hoffnung oder Verbundheit ausdrücken. Die in Kir-
Robert Brumme, Zur Entfaltung des „Digitalen“ in der Welt: Strukturen, Logik und Entwicklung
(Weinheim: Beltz Juventa, 2020), 86. Hervorhebung im Original.
Während Brumme deutlich macht, dass die Unterscheidung von „real“ und „virtuell“,
„analog“ und „digital“ etc. Implikationen mitführe, die dem Verständnis der Phänomene eher
hinderlich sei und keine haltbaren Differenzen zur Definition digitaler und nicht-digitaler Le-
bensvollzüge bereithalte, bietet er als zentrale Differenzierung die Kategorien von Bestimmtheit
und Unschärfe und in der Folge Gegensatzpaare wie Berechenbarkeit und Erfahrung, Rechnen
und Werten bzw. Technik und Lebendiges an. Vgl. Ebd, 81 ff.
Vgl. Eintrag der Teilnehmerin „Trudi“ auf Lichtschenken.ch: „Wie schön, dass ich Dir auf
diesem Weg ein Kerzenlicht schenken kann, wenn es auf praktische Art nicht geht.“ (Online
abrufbar unter https://lichtschenken.ch/LichtSchenken@Message.html/130910353, Lesedatum:
22.12. 2021). Das Anzünden der Kerze soll hier somit nicht nur eine religiöse Funktion erfüllen,
sondern auch eine soziale, indem die Kerze für eine andere Person angezündet und diese darüber
in Kenntnis gesetzt wird.
118 Paula Stähler
Das Wort Gottes als solches und der Mensch mit allen seine leib-seelische Einheit
umfassenden Aspekten machen, wie Jordahn beschreibt, vielfältige religiöse
Handlungen als Ausdrucksformen des Glaubens nötig. Diese mögen sich in kul-
turellen Kontexten immer wieder verändern; in Notsituationen tun sie dies umso
mehr.
Aus dem Beobachteten lassen sich einige Folgerungen und so manche Fragen
ableiten.
Während in den letzten Jahrzehnten dem Bedürfnis nach rituellen Hand-
lungen und materialisierter Ausübung des Glaubens durch die langsame Wie-
deraufnahme entsprechender Zeichenhandlungen in liturgische Kontexte Rech-
nung getragen wurde, stellte die Corona-Pandemie eine solch ungewöhnliche
Situation dar, dass hier die Veränderungen beschleunigt in einem extrem kurzen
Zeitraum stattfanden. Innerhalb weniger Tage und Wochen wurden in evangeli-
schen Kirchen Möglichkeiten geschaffen, Fürbittkerzen anzuzünden und im Zu-
sammenhang mit digitalen Formaten wurden Kerzen ein essentieller Baustein der
Gemeinschaftsstiftung.
Sowohl in der individuellen Praxis als auch im liturgischen Gebrauch zeigt
sich allerdings eine evangelische Ungeübtheit im Umgang mit Kerzen als reli-
giösen Gegenständen. Wie werden Kerzentische oder -leuchter evangelisch in-
szeniert ohne allzu große Irritation bei den Besucher*innen des Kirchenraums
auszulösen? Wie werden Kerzenrituale liturgisch eingebunden? In der Praxis lässt
sich eine große Varianz und mitunter Unsicherheit in den Inszenierungen etwa
beim Entzünden von Osterkerzen (Am Osterfeuer oder mit dem Streichholz? Vor
oder in der Kirche? Mit anschließender Prozession?), beim Anzünden der Kerzen
am Adventskranz (vor oder liturgisch eingebunden in den Gottesdienst?) oder
auch beim Umgang mit der Taufkerze in einem Taufgottesdienst (Halten Eltern
oder Paten die Kerze nach der Taufe brennend in der Hand? Was passiert, wenn
sie ausgeht oder jemand sie direkt nach der Taufe auspustet? Usw.) beobachten.
Liturgische Handbücher bieten hier noch wenig Praxisanleitung.
Auffällig war im Kontext der Corona-Verordnungen die hervorgehobene Rolle,
die Kerzen in den Anleitungen für eine religiöse Praxis zu Hause einnahmen. Als
ökumenisch verbreitetes und gemeinsam tragbares Zeichen der Andacht ist die
Kerze dabei besonders ins Zentrum gestellt worden. Sie bietet insofern in ihrer
Deutungsoffenheit grosses Potential als (zivil)religiöses Symbol und als Gegen-
stand ritueller Handlungen. Umso relevanter ist die Frage ihrer inhaltlichen Be-
stimmung. Deutungsoffenheit und Beliebigkeit liegen dabei nah beieinander und
Kerzen als religiöse Ausdruckszeichen bedürfen insofern eines sinngebenden
Deutungsrahmens.
Interessant wird künftig weiterhin im Besonderen die Verhältnisbestimmung
von digitaler und analoger Glaubenspraxis sowie ihrer hybriden Übergangsbe-
reiche sein. Werden gerade in Zeiten sich rasant durchsetzender Digitalisierung,
der online-Meetings und -Gottesdienste, des Homeoffice und des Rückgangs an
persönlich-physischen Kontakten die Gegenstände einer ‚handgreiflichen‘ Glau-
benspraxis wieder an Bedeutung gewinnen? Werden ‚echte‘ Kerzen als Ausdruck
des Glaubens auch im evangelischen Kontext dauerhaft einen Ort erhalten und
liturgisch gar deutlich aufgewertet? Und wie wird sich das Verhältnis von ‚echten‘
und virtuellen Kerzen entwickeln; werden sie sich ergänzen oder wird sich eine
Form gegenüber der anderen durchsetzen? Wenn die Notsituation mutige Neu-
schöpfungen und Veränderungen mit sich bringt, die der Handlungsdimension
religiöser Praxis weiteren Raum öffnen, so ist dies der Vielgestaltigkeit des Wortes
zuträglich.
Michael Meyer-Blanck
Mehr als Holz und Stein
Die Kanzel als locus principalis evangelischer Liturgie und
evangelischen Kirchenbaus
Zu der breiten Diskussion der letzten Jahrzehnte s. Peter Beier, „Über die Schwierigkeiten der
Protestanten, mit Räumen umzugehen“, in Raum und Ritual: Kirchbau und Gottesdienst in theo-
logischer und ästhetischer Sicht, hg.v. Rainer Bürgel (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995),
39 – 45 sowie Franz-Heinrich Beyer, Geheiligte Räume: Theologie, Geschichte und Symbolik des
Kirchengebäudes (Darmstadt: WBG, 2008) und Michael Meyer-Blanck, „Der Kirchenraum als Ort
der Gottesbegegnung: Eine evangelische Perspektive“, in Gott begegnen an heiligen Orten, hg.v.
Stefan Kopp (Freiburg: Herder, 2018), 159 – 174.
https://doi.org/10.1515/9783110762853-008
122 Michael Meyer-Blanck
Wort des Evangeliums gehört werden kann. Extra usum und post usum ist die
Kanzel ein architektonisches Ausstattungsdetail bzw. lediglich zu recycelnder
Stein. Zum anderen reagierten die Loccumer Gemeindeglieder jedoch nach dem
Prinzip, dass das performative Handeln so etwas wie zeichenhafte und mentale
Gebrauchsspuren² hinterlässt. Gotteserfahrung und Gebet sind zwar unabhängig
von bestimmten Gegenständen, aber sie heften sich doch daran – man denke nur
an eigene Kreuze, Rosenkränze, Gesang- und Gebetbücher. Man verbindet sie mit
den eigenen Gebetserinnerungen und befleißigt sich darum im Umgang mit ihnen
einer besonderen Sorgfalt.
Der geschilderte Loccumer Konflikt erschließt sich damit als das Aufeinan-
dertreffen der beiden Prinzipien, der Profanität außerhalb des Gebrauches ei-
nerseits und der allmählichen und bleibenden Heiligung durch den Gebrauch
andererseits. Ein Buch kann zum Zeichen der tragenden Glaubenserfahrung
werden und eine mäßig gelungene steinerne Kanzel zum Ort des vernommenen
Gotteswortes. Das Material tut’s freilich nicht, aber das Material hat die Fähigkeit,
zur Materialisierung des Immateriellen zu dienen. Glaube entsteht aus der ge-
teilten Glaubenserfahrung und diese bedient sich bestimmter Zeichen, die dann
ihrerseits zu Trägern der Glaubenserfahrung werden können. Die gesamte
christliche Kirche hat ihrem Wesen nach vor allem performativen Charakter.Wenn
dieses Wort auch nicht zum Sprachschatz der Reformatoren gehörte, ist dieser
Grundsatz jedoch für Luther klar bestimmend. In einer Weihnachtspredigt for-
mulierte er als performativen ekklesiologischen Grundsatz: „Nun ist die Kirche
nicht Holz oder Stein, sondern der Haufen christgläubiger Leute; zu der muss man
sich halten und sehen, wie die glauben, leben und lehren, die haben Christum
gewiss bei sich […].“³
Dieses Grundverständnis soll im Folgenden im Sinne des zu ehrenden Jubilars
im Hinblick auf die Kanzel als gottesdienstlichen Ort beleuchtet werden. Wie im
Protestantismus alle Versuche gescheitert sind, die Bedeutung der Predigt zu-
gunsten der Liturgie zurückzunehmen (und jene als die „institutionalisierte Be-
langlosigkeit“ zu diffamieren), so ist auch die Praxis, die Kanzel als – innerhalb
der Gemeinde erhöhten – Predigtort zugunsten des Lesepultes zu relativieren, als
liturgisch kontraproduktiv einzuschätzen. Die Kanzel ist selbstverständlich nicht
letztlich entscheidend für das Gelingen der Darstellung und Mitteilung des
evangelischen Glaubens. Aber da sich auf ihr die Aktualität des Wortes materia-
lisiert, ist sie auch nicht belanglos. Die Kanzel ist mehr als Holz und Stein. Sie ist
ein hervorgehobener Ort der Mitteilung und Darstellung des Evangeliums.
Vor allem muss die Rede einer einzelnen Person im Gottesdienst als dem evan-
gelischen Glaubensverständnis zutiefst angemessen betrachtet werden. Die Pre-
124 Michael Meyer-Blanck
digt steht für die unvertretbare Subjektivität der einzelnen glaubenden Person. Im
Glauben ist man nicht allein, aber man ist doch unvertretbar. Was für den einen
gilt, muss nicht für die andere gelten (Lk 17,34 f.). In der Glaubenserfahrung kann
keiner für den anderen sprechen. Wir leben in der Gemeinschaft und machen
unsere Erfahrungen durch diese Gemeinschaft. Doch der Glaube führt in ein di-
rektes Gegenüber des einzelnen Menschen mit Gott. Weil keiner für den anderen
sterben wird, „sondern ein jeglicher in eigener Person für sich mit dem Tode
kämpfen“ wird, darum gilt: „ich würd denn nit bey dir sein / noch du bey mir“.⁴
Die Wahrheit des Evangeliums ist nicht subjektiv, aber sie kann nicht anders als
am Ort der Subjektivität rekonstruiert und realisiert werden. Die Predigt und
speziell die Kanzel markieren die Dialektik des Glaubens zwischen Sozialität und
Subjektivität. Aus dem gemeinsamen Singen, Hören und Beten der Liturgie tritt
eine einzelne Person hervor und zeigt die Tradition des jeweiligen Sonn- oder
Festtages auf dem Wege der aktuellen und persönlichen Aneignung.
Bisweilen ist von katholischer Seite geltend gemacht worden, dass die Predigt
die Liturgie (schmerzlich) unterbreche, ja zerreiße.⁵ Aus evangelischer Sicht ist
dazu zu bemerken: Ja, das stimmt und das ist gut so, weil das der Art und Weise
des Glaubens entspricht. Aus der im Namen Jesu versammelten Gemeinde wird
eine Person hervorgehoben, die mit ihrem – stellvertretenden, nicht privaten –
Ich⁶ zeigt, was der evangelische Glaube an diesem Ort, in dieser Situation und
anhand der heutigen Perikopen sein könnte. Der Glaube der Gemeinde kommt zu
sich selbst, indem er in seiner exemplarischen Subjektivität durchschaubar wird
und indem die Liturgie aus ihrer performativen in die reflexive Gestalt wechselt.
Das Hören, Singen und Beten wird unterbrochen durch den Modus, in dem die
religiösen Bedingungen und Möglichkeiten ihres Vollzuges transparent werden.
Die Kanzel als ein „Prinzipalstück“ im evangelischen Kirchenraum ist ein
prominentes Zeichen dieses Gottesdienstverständnisses. Wenn die Kanzel erhöht
im Raum steht, dient das nicht nur der besseren Sichtbarkeit der predigenden
Person, sondern auch der Bedeutung der Predigt für den Glauben. In der Kanzel
materialisiert sich die Einsicht, dass die Predigt aus der Mitte der Gemeinde
heraus entsteht und ihr gleichwohl gegenübersteht. Die Kanzel symbolisiert die
liturgische Gestalt evangelischer Subjektivität, die aber nicht individualistisch
Anfang der 1. Invokavitpredigt Martin Luthers vom März 1522, WA 10, III, 1 = BoA 7, 363.
Martin Mosebach, Häresie der Formlosigkeit: Die römische Liturgie und ihr Feind (München:
Hanser, 2012), 45 f.
Manfred Josuttis, „Der Prediger in der Predigt: Sündiger Mensch oder mündiger Zeuge?“ In
Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion: Grundprobleme der Praktischen Theologie,
hg.v. dems. (München: Verlag, 41988), 70 – 94.
Mehr als Holz und Stein 125
enggeführt werden darf. Die Subjektivität der predigenden Person zielt auf Ver-
ständigung. Die Predigt ist ein rhetorischer Fall.⁷
Die Kanzel ist keineswegs der Ort, an dem das Amt über die Gemeinde trium-
phieren, wo rhetorische Virtuosität beeindrucken oder die pfarrherrliche Autorität
fröhliche Urständ feiern sollte. Die Erhöhung der Kanzel ist das Symbol des er-
höhten Bewusstseins glaubender Subjektivität, die ihrerseits in ihrer gemein-
dlichen Signatur zu denken ist. Die erhöhte Kanzel ist dagegen nicht der Ausdruck
besonderer Ehre für Amt und Person. Die Skepsis gegenüber der Kanzelrede und
gegenüber der Kanzel als Ort der gottesdienstlichen Rede war aus dem richtigen
Bestreben entstanden, solche Verirrungen zu vermeiden. Dennoch setzt auch der
Missbrauch den sinnvollen Gebrauch nicht außer Kraft – abusus non tollit usum.
Die Hervorhebung von Kanzel und Predigt impliziert gerade nicht ihre Überhö-
hung, sondern die Einsicht in ihre dienende Funktion. Die Kanzelrede entsteht
aus der Verbindung mit der Gemeinde und sucht nach neuem Einverständnis. Die
Predigt ist immer „Homilia“, eine Unterredung unter Freunden. Das gilt erst recht,
wenn das Gesetz gepredigt wird oder scharfe prophetische Mahnungen ausge-
sprochen werden. Nur zu Freunden lässt sich offen, ohne jegliche Beschönigung
reden. Gerade dann, wenn die Lage ernst ist, darf nicht „von oben herab“ geredet
werden. Das würde die Zuhörenden eher verschließen. Die Gesetzes- und Ge-
richtspredigt muss in besonderer Weise um Einsicht werben, um nicht zum blo-
ßen Getöse zu werden.
Jede Predigt ist eine Homilia, die um die Aufmerksamkeit des Publikums
ringen muss. Das trifft auch auf die Festpredigt bei einem besonders schönen
Anlass zu. Wenn man nur das zum Ausdruck bringt, was am Tage liegt, betrügt
man die Hörerschaft um die Gelegenheit, eine neue Einsicht zu gewinnen. Von
daher birgt gerade die Festpredigt – z. B. bei einer Hochzeit oder an Weihnachten
– besondere Klippen. Sie kann zum bedeutungslosen semantischen Rauschen
werden und so die tieferen Bedürfnisse der Hörerschaft verfehlen. Allzu leicht
kann sie sich in festlichen Redundanzen erschöpfen und so „über die Köpfe
hinweg“ gehen. An dieser Stelle liegt der eigentliche Grund für die scharfe Kritik
Eduard Thurneysen, „Predigt als Zeugnis von Gott“, in Predigt: Texte zum Verständnis und zur
Praxis der Predigt in der Neuzeit, ThB 80, hg.v. Friedrich Wintzer (München: Kaiser, 1989), 117– 121
formulierte den treffenden Grundsatz, die Predigt solle den Menschen „über sich selber hin-
ausführen“ (118). Thurneysens erstmals vor genau 100 Jahren [1921] gedruckter Text geht aller-
dings völlig fehl in der Zurückweisung der rhetorischen Aufgabe: „Die Predigt ist nicht der Ort, wo
um das Verständnis des Menschen, sondern wo um das Verständnis Gottes gerungen wird.“ (117)
Dieser Satz macht eine fatale Alternative auf. Theologisch und rhetorisch richtig muss der Satz
lauten: Die Predigt ist der Ort, wo um den Gott verstehenden Menschen gerungen wird. Das
rhetorische Handeln des Kanzelredners richtet sich nicht auf Gott, sondern auf den Menschen
coram Deo.
Mehr als Holz und Stein 127
des Betens eröffnet. Auf eine Formel gebracht: Die Kanzel ist der Ort der reflexiven
Gestalt des Sursum corda, der anabatischen Einübung des Herzens.
Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche
im Zusammenhang dargestellt, hg.v. Wolfgang E. Müller (Waltrop: Spenner, 1998), 510, dort ge-
sperrt.
Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen
Kirche im Zusammenhang dargestellt, hg.v. Jacob Frerichs (Berlin/New York: de Gruyter, 1983),
49 f.; 65 [Reprint von 1850].
Mehr als Holz und Stein 129
Martin Luther, Predigt vom 5.10.1544 über Lukas 14,1– 6, WA 49, 588 – 604, Text nach:
Martin Luther, Luther deutsch: die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart,
Predigten 8, hg.v. Kurt Aland (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1965), 440 – 444, 442.
In den Resolutiones zur Leipziger Disputation von 1519 nahm Luther Bezug auf 1 Kor 4,15 und
formulierte: „Ecclesia enim creatura est Euangelii, […] ait Paulus: per Euangelium ego vos genui“
(WA 2,430,6 – 8).
130 Michael Meyer-Blanck
Gemeinde und kann von überall im Kirchenraum bestens gesehen werden, selbst
von den seitlichen Emporen vorne bei gefüllter Kirche. Die Wand hinter der Kanzel
reflektiert den Schall, so dass Hören und Blickkontakt zugleich gefördert werden.
Auch der theologische Zeichencharakter des Kanzelaltars ist von protestan-
tischer Schlüssigkeit. Die Zentralstellung der Predigt und der glaubenden Sub-
jektivität wird hervorgehoben. Die Predigt ruht auf dem Fundament des Altars,
also auf dem Ort des Gebets und des Bibelwortes (seit der Preußischen Agende
Friedrich Wilhelms III. von 1822 hat „die große Bibel“ in der Mitte des Altars vor
dem Kruzifix zu liegen).¹⁷ Die Zusammengehörigkeit von Wort und Sakrament ist
deutlich zu erkennen. Die Predigt wird unterfangen von der sich anschließenden
Feier des Mahles.
Allerdings kann die Symbolik des Kanzelaltars auch ganz anders gelesen
werden, so dass dieser als Ausdruck der Hierarchie zwischen Pfarramt und Ge-
meinde und damit als Zeichen einer autoritären und unevangelischen Konzeption
interpretiert wird. In dieser Lesart wird die Predigt zur autoritativen Belehrung der
Gemeinde, denn die Pfarrperson steht über der Gemeinde und über dem Altar, ja
sogar über dem Kruzifix. Der Prediger ist der „Religions-Lehrer“, wie es in zahl-
reichen Quellen aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts heißt. Die bedeutendste
Gabe ist nicht mehr der Leib Christi in der Mahlfeier der Glaubenden, sondern die
moralische Belehrung aus dem Mund des Pfarrers. Die Predigt wird zum sacra-
mentum audibile.
Welche von beiden Lesarten des Kanzelaltars die Praxis bestimmt, hängt
selbstverständlich von den beteiligten Personen (in der Gemeinde und auf der
Kanzel) ab. Aber es liegt auf der Hand, dass die kritische Sichtweise dann do-
miniert, wenn die Kanzelrede ohnehin kritisch gesehen wird, wie das in der
„antiautoritär“ geprägten Zeit um 1970 der Fall war, als die „Einwegkommuni-
kation“ Predigt unter dem Generalverdacht der „Manipulation“ stand.¹⁸ Aber auch
schon ein Jahrhundert vorher hatte man im Zuge der Wiederentdeckung der Li-
turgie das Konzept des Kanzelaltars kritisch gesehen.
Vorwort zur Preußischen Agende von 1822, in: Wolfgang Herbst (Hg.), Evangelischer Gottes-
dienst: Quellen zu seiner Geschichte (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21992), 170, 171.
Johannes Greifenstein, 1968 und die Praktische Theologie: Wissenschaftstheoretische Per-
spektiven auf Funktion, Gegenstand und Methode einer Praxistheorie (Tübingen: Mohr Siebeck,
2017) sowie Michael Meyer-Blanck, „Vom Mysterium zum Forum: Wandlungen in Verständnis und
Praxis des Gottesdienstes um das Jahr 1968“, in Praxisrelevanz und Theoriefähigkeit: Transfor-
mationen der Praktischen Theologie um 1968, PThGG 27, hg.v. Johannes Greifenstein (Tübingen:
Mohr Siebeck, 2018), 107– 120.
132 Michael Meyer-Blanck
Vom 30. Mai bis 5. Juni 1861 tagte die evangelische Kirchenkonferenz in Eisenach¹⁹
und beschloss Grundsätze für den künftigen Kirchenbau. Es war die Zeit eines
bisher nicht gekannten Städtewachstums und damit eine Epoche zahlreicher
Kirchenneubauten (man denke nur an Berlin, dessen Einwohnerzahl sich zwi-
schen 1825 und 1880 von 220.000 auf 1,22 Millionen verfünffachte). Das „Eisen-
acher Regulativ“ für den Kirchenbau aus dem Jahr 1861 sollte den Baustil einer
ganzen Epoche im Stile der Neogotik beeinflussen. Es orientierte sich an den
mittelalterlichen Kirchen und vollzog damit eine deutliche Abkehr von der auf-
klärerischen Architektur mit dem Kanzelaltar.
Das Regulativ von 1861 bestimmte, die Kanzel dürfe „weder vor noch hinter
oder über dem Altar, noch überhaupt im Chore stehen“; ihr angemessener Platz
sei darum an einem Pfeiler zwischen Chor und Kirchenschiff.²⁰ Diese Bestimmung
entsprach den hochmittelalterlichen Kirchbauten, wie sie mit den großen Ka-
thedralen, etwa in Freiburg oder Straßburg, gegeben ist.
Doch bereits 30 Jahre später gab es wiederum entgegengesetzte Bestrebun-
gen. Im Zusammenhang des Baues der dritten Wiesbadener Kirche, der heutigen
Ringkirche (bzw. Reformationskirche, errichtet 1892– 1894), wurden vier Leitsätze
formuliert, die in der „Deutschen Bauzeitung“ 1891 veröffentlicht und seitdem
über den konkreten Anlass hinaus als „Wiesbadener Programm für den Kir-
chenbau“ bekannt wurden. Der vierte Leitsatz bestimmte, die Kanzel als „derje-
nige Ort, an welchem Christus als geistige [sic] Speise der Gemeinde dargeboten“
werde, sei „mindestens als dem Altar gleichwertig zu behandeln.“ Die Kanzel
solle hinter dem Altar stehen und mit der Orgel- und Sängerbühne „organisch
verbunden werden“.²¹ So entstand eine neoromanische Kirche mit einer Art von
Auditorium, das sich wie ein Hörsaal auf den Kanzelaltar und die Orgel hin
ausrichtet.²² Damit war die Kanzel erneut zum Prinzipalort geworden.
Die „Konferenz deutscher evangelischer Kirchenregierungen“ tagte seit 1853 alle zwei Jahre in
der Woche nach Trinitatis in Eisenach. Von nachhaltiger gottesdienstlicher Bedeutung war auch
die in Eisenach 1896 beschlossene Perikopenrevision: Perikopenbuch, hg. im Auftrage der Deut-
schen evangelischen Kirchen-Konferenz (Stuttgart: Grüninger, 1897).
W. Herbst, Evangelischer Gottesdienst (s.o. Anm. 17), 209 – 213 („Eisenacher Regulativ für den
evangelischen Kirchenbau“ 1861 und „Wiesbadener Programm für den Kirchenbau“ 1891); Zitat
211.
W. Herbst, Evangelischer Gottesdienst (s.o. Anm. 17), 213.
S. den Grundriss der Wiesbadener Ringkirche in: Rainer Volp, Liturgik: Die Kunst, Gott zu
feiern Bd. 1, Einführung und Geschichte (Gütersloh: Mohn, 1992), 387.
Mehr als Holz und Stein 133
Vgl. zuletzt Ursula Roth und Anne Gilly (Hg.), Die religiöse Positionierung der Dinge: Zur Ma-
terialität und Performativität religiöser Praxis (Stuttgart: Kohlhammer, 2021).
Vgl. zuletzt Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.), FeinStoff: Anmutungen und Logiken religiöser
Textilien (Stuttgart: Kohlhammer, 2021).
Vgl. vielleicht zuerst Günter Breitenbach, Gemeinde leiten: Eine praktisch-theologische Kyber-
netik (Stuttgart: Kohlhammer, 1994).
Vgl.VELKD und UEK (Hg.), Berufung, Einführung, Verabschiedung: Agende für evang.-lutherische
Kirchen und Gemeinden, Bd. IV, Teilband 1, zugleich Agende für die Union Evangelischer Kirchen in
der EKD, Bd. 6 (Bielefeld: Verlagsgemeinschaft Evangelisches Gottesdienstbuch, 2012).
https://doi.org/10.1515/9783110762853-009
136 Jan Hermelink
Aktuelle Ausgabe: Evang. Brüder-Unität (Hg.), Die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine für
das Jahr 2022, 292. Ausgabe (Lörrach/Basel: Friedrich Reinhardt, 2021).
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation 137
verbunden hat.⁶ Aus den zahlreichen überlieferten Berichten lassen sich ideal-
typisch drei Grundformen entnehmen.
Den Begriff der Praktiken nutze ich im Horizont der soziologischen Praxistheorie, vgl. Andreas
Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive“,
Zeitschrift für Soziologie 32 (2003): 282– 301; Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken: Konzep-
tionelle Studien und empirische Analysen (Berlin: Suhrkamp, 2012). – Zur praktisch-theologischen
Rezeption vgl. Julia Koll, „Zu den Praktiken selbst! Der Practice Turn und seine Erträge für die
Praktische Theologie“, Pastoraltheologie 108 (2019): 66 – 82. Elementar für diesen Zugang sind
eine mentalitäts- und intentionsskeptische Perspektive sowie die Aufmerksamkeit auf die Kör-
perlichkeit, die Öffentlichkeit und die Materialität des sozialen Handelns.
Vgl. zum Folgenden Peter Zimmerling, Die Losungen: Eine Erfolgsgeschichte durch die Jahr-
hunderte (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014), 16 ff, 28 ff; Heinz Renkewitz, Die Losungen:
Entstehung und Geschichte eines Andachtsbuches (Hamburg: Wittig, 21967).
Vgl. P. Zimmerling, Losungen, 134 f.
Vgl. zum Folgenden auch Jörg Neijenhuis, Art. „Losungen“, in RGG4, Bd. 5 (2002), 519 f.
138 Jan Hermelink
(2) Häusliche Andacht. Sehr bald wurden die Losungen zum festen Bestandteil
des Herrnhuter liturgischen Lebens.¹⁰ Bei der täglichen Morgenandacht wurde
(und wird) die Losung durch einen Bruder ausgelegt; die abendliche Singstunde
besteht aus zahlreichen Liedstrophen, deren inhaltlicher Zusammenhang durch
die Losungstexte hergestellt wird. Auch in den weiteren Brüdergemeinen, die in
Deutschland wie international entstanden, ist die tägliche Andacht der jeweiligen
Hausgemeinschaften oder ‚Banden‘ um die Losung zentriert.
Seither wird auch das religiöse Leben in vielen anderen evangelischen Ge-
meinschaften durch die jeweiligen Losungstexte geprägt. Im 19. Jhdt. sind es vor
allem erweckte Kreise, deren Andachtskultur sich am Losungsbüchlein orientiert.
Exemplarisch sei auf die täglichen Andachten in vielen Diakonissenhäusern und
diakonischen Bruderschaften hingewiesen; auch das liturgische Leben in Joh.
Chr. Blumhardts Kur- und Seelsorgezentrum in Bad Boll war ganz durch die Lo-
sungen geprägt.¹¹ Im 20. Jhdt. hat sich die liturgische Verwendung der Losungen
aus diesem engeren Frömmigkeitskontext gelöst, und zwar vor allem durch die
‚Rüstzeiten‘ und weitere Andachtsformate der Bekennenden Kirche.¹² Hier wur-
den die kurzen Texte immer wieder als ‚vollmächtige‘ Deutung von konkreten
Situationen äußerer und innerer Bedrohung wahrgenommen – eine Erfahrung,
die sich in den Friedensgebeten der DDR-Kirchen 1988/1989 mannigfach wie-
derholte.¹³
Die zunehmende Orientierung der protestantischen Andachtspraxis an den
Losungen hat ihren Anhalt u. a. darin, dass diese selbst seit dem 19. Jhdt. als li-
turgische Form in nuce gedruckt werden, nämlich in der Abfolge zweier aufein-
ander bezogener biblischer Texte, ergänzt durch zwei (später einen) Choral- oder
Gebetsvers(e).¹⁴
(3) Individuelle biblische Meditation. Bereits die Herrnhuter Geschwister des 18.
Jhdts. nutzten die Losungen auch und gerade dort, wo sie – auf Reisen oder in der
Mission – keine tägliche Andachtsgemeinschaft erfuhren. Die Lektüre der Lo-
sungen galt ihnen als unmittelbare Begegnung mit dem Worte Gottes, als le-
bendige Anrede durch Christus selbst.¹⁵ Und zugleich vermittelte der tägliche
Gebrauch des Losungsbüchleins die Erfahrung einer inneren Verbundenheit mit
den Geschwistern, die zur gleichen Zeit die gleichen Texte lasen.
Diese individuell-religiöse Verwendung des Losungsbüchleins hat sich im 19.
Jhdt. rasch verbreitet; davon zeugen zahlreiche Äußerungen v. a. aus religiös en-
gagierten sowie aus politisch führenden Kreisen.¹⁶ Die regelmäßige Lektüre der
Losungstexte eröffnete eine religiöse Deutung der jeweiligen persönlichen Si-
tuation – und zwar insbesondere dann, wenn die Einzelnen den Text als direkte,
ihnen jetzt und hier geltende Anrede Gottes verstanden.
Die Differenz zwischen einer gemeinsam-liturgischen und einer individuell-
meditativen Nutzungspraxis der Losungen lässt sich in den einschlägigen Äu-
ßerungen D. Bonhoeffers besonders gut erkennen.¹⁷ In seiner Reflexion der Er-
fahrungen im Predigerseminar und Bruderhaus Finkenwalde (1935 – 1937), die er
als exemplarisch für ein christliches „Gemeinsames Leben“ verstand, wird ei-
nerseits ein Gebrauch der Losungen als Schriftlesung in der gemeinsamen Mor-
genandacht harsch kritisiert, weil damit das „Ganze“ der Bibel „in der Unend-
lichkeit ihrer inneren Beziehungen“ und als „Gottes Offenbarungswort … für alle
Zeiten“ reduziert werde auf zufällig-situative „Spruch- und Lebensweisheit“.¹⁸
Andererseits empfiehlt Bonhoeffer für die individuelle Schriftbetrachtung, für die
der Christ ebenfalls eine feste Zeit zu reservieren hat, die Konzentration auf einen
ganz kurzen Text, der „uns ganz persönlich für den heutigen Tag und für unsern
Christenstand etwas zu sagen“ haben wird.¹⁹ Hier soll die Herrnhuter Losung nun
durchaus genutzt werden – zumal dann, wenn auf diese Weise auch die innere
Verbundenheit mit anderen Christ*innen zu einer tröstlichen Erfahrung wird.²⁰
Für die individuell-betrachtende Nutzung des Losungsbüchleins sind zwei
weitere Aspekte bedeutsam. Einerseits fällt – auch bei Bonhoeffer – auf, wie diese
Praxis besonders in Zeiten äußerer oder innerer Bedrohung an Intensität gewinnt.
Das können Situationen des persönlichen Misserfolgs, der Verfolgung oder der
Lebensgefahr während des Krieges sein.²¹ Hier wird die regelmäßige Lektüre der
Losungen als entlastender Distanzgewinn und insbesondere als eine persönliche
Vergewisserung, als tröstliche, weil unmittelbare Zusage erlebt.²²
Zum anderen gehört zu dieser individuellen Nutzungspraxis die ausdrückli-
che Artikulation der dabei gemachten Erfahrungen gegenüber anderen – sei es in
freundschaftlichem Austausch oder in einer religiösen Gruppe, sei es in mehr oder
weniger öffentlichen Zeugnissen. Gerade das Wissen, dass auch Andere das
Losungsbuch als Medium der persönlichen Andacht nutzen, ermöglicht die –
wiederum vergewissernde – Verständigung untereinander. M.a.W., auch der
scheinbar ganz individuelle, einsame Umgang mit dem Losungsbüchlein ist doch
eine eminent soziale Praxis.
Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben (1937), DBW 5 (München: Chr. Kaiser, 1987), 43 – 45.
Ebd., 70.
Vgl. ebd., 149 (Nachwort der Herausgeber).
Vgl. die Beispiele bei H. Renkewitz, Losungen, 73 ff.
Vgl. P. Zimmerling, Losungen, 156 f („Atemhilfe“).
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation 141
terialität dieses konkreten Dinges zu,²³ so drängt sich zum einen die klassische
(nicht späte) Modernität dieses Artefaktes auf und zum anderen seine Verwei-
sungsbezüge auf zwei spezifische Religionspraktiken.
(1) Das Losungsbüchlein erscheint im Vergleich mit anderen Büchern klein und
eher unscheinbar, was Farbe, Typographie und Qualität von Einband und Papier
angeht. Offenbar wird bewusst auf eine ‚ästhetische‘, aufwändigere Gestaltung
verzichtet. Als einzige bildliche Darstellung findet sich eine siegelartige Darstel-
lung des Christuslammes mit Kreuzesfahne auf dem Titel, als Vorsatzblatt und als
Signet auf dem Buchrücken.
Die betont unauffällige, auf nahezu jede Stilisierung verzichtende Gestalt
setzt sich im Inneren fort. Jede Seite des kalendarischen Corpus ist – unter einem
Kolumnentitel aus Monatsnamen und Seitenzahl – dreispaltig gegliedert: außen
Wochentag und Tagesdatum, innen Nachweise der Bibel- bzw. Gesangbuchverse,
in der Mitte die biblischen Sprüche in Fettdruck und ein Gebets- oder Liedvers –
alle Texte jedoch nicht versweise, sondern im einfachen Blocksatz. Darunter für
jeden Tag weitere biblische Verweise nach zwei Lesereihen der EKD bzw. einer
ökumenischen Arbeitsgruppe.
Die typographische Gestalt erinnert mich an statistische Tabellen, die ein
Maximum an Information mit einem Minimum an ‚Verzierung‘ verbinden. Die
entsprechenden Informationen lassen sich daher rest- und mühelos digitalisie-
ren, sei es in Morsezeichen, per Twitter oder Mail bzw. mit allen möglichen Apps.²⁴
Diese schmucklos-rationale, wohlorganisierte Modernität verbindet das Lo-
sungsbüchlein mit einem klassischen Tageskalender; darauf weist auch das For-
mat des Buches. Es ist erkennbar auf eine Nutzungsroutine ausgerichtet, die den
Tagesablauf ähnlich strukturiert wie die morgendliche Zeitungslektüre oder der
Frühsport. Dazu passt weiterhin, dass die Losungen auch als „Schreibausgabe“
angeboten (und d. h. offenbar nachgefragt) werden, um Notizen zur persönlichen
Reflexion und/oder Selbstorganisation zu ermöglichen.²⁵
Die schlichte und handliche Form des Losungsbüchleins verweist weiterhin
auf seine Mobilität – es lässt sich, wie ein Notizbuch, leicht in Hand- oder Ak-
Mir liegt die ‚einfache‘ Ausgabe der Losungen für 2022 vor (s.o. Anm. 5). Dazu gibt es einige
Varianten, die bestimmte Nutzungsaspekte der Standardausgabe akzentuieren; dazu vgl. https://
www.losungen.de/die-losungen/ausgaben/, Lesedatum: 05.01. 2021, und die folgenden Ausfüh-
rungen.
Vgl. https://www.losungen.de/digital/.
Vgl. die analogen Hinweise zu einem „organisierende[n] Gebrauch“ des Bibelbuches bei Sonja
Beckmayer, Die Bibel als Buch: Eine artefaktorientierte Untersuchung zu Gebrauch und Bedeutung
der Bibel als Gegenstand, Praktische Theologie heute 154 (Stuttgart: Kohlhammer, 2018), 342 f.
142 Jan Hermelink
tentasche verstauen und hat auch bei Fernreisen kein hinderliches Gewicht. Auf
eine potenziell hohe Mobilität des nutzenden Individuums verweisen zudem die
Angaben zu nationalen Institutionen der Brüdergemeine sowie zur „Unitätsge-
betswacht“, die im zwei- oder dreiwöchentlichen Rhythmus auf alle Provinzen der
Brüder-Unität (und damit fast alle Weltteile) Bezug nimmt.²⁶
Zur dezidierten Modernität des Losungsbüchleins gehören schließlich zwei
weitere Markierungen, nämlich zum einen die Betonung der eigenen Geschichte,
wenn auf dem Cover die „292. Ausgabe“ vermerkt wird und es auf der Rückseite
heißt: „Die Losungen erscheinen jedes Jahr seit 1731, ohne Unterbrechungen“.²⁷
Zum anderen ist das Losungsbüchlein deutlich auf einen individuellen Gebrauch
ausgerichtet, was die Einbindung des Buches in persönliche Beziehungen ein-
schließt. Darauf verweist das Angebot einer „Geschenkausgabe“ mit künstlerisch
gestaltetem Einband; darauf verweist auch der aus der jüngeren Geschichte
überlieferte Brauch, sich das Büchlein unter engen Freunden zu Weihnachten zu
schenken.²⁸
Schließlich sei die Kehrseite dieser klaren Ausrichtung auf eine individuelle
Nutzungspraxis genannt: Die Materialität des Losungsbüchlein weist selbst in
keiner Weise auf einen Gebrauch in häuslichen oder anderen Andachten hin. In
liturgischer Hinsicht wird lediglich auf das textliche Proprium der jeweiligen
Sonntags-, also Gemeindegottesdienste und einiger Feste verwiesen. Für eine
solenne gottesdienstliche Nutzung ist das Büchlein erkennbar nicht ausgelegt; es
gibt auch keine Sonderausgabe als liturgisches Lektionar o. ä.
(2) Die moderne, ebenso rationale wie individuelle Materialität des Losungs-
büchleins verweist jedoch sehr deutlich auf zwei andere religiöse Praktiken. Zu-
nächst zielt das Büchlein auf das regelmäßige, tägliche Bibelstudium. Dieses wird
zunächst durch die – per Fettdruck hervorgehobenen – beiden Bibelverse reali-
siert; dazu kommen die Verweise auf weitere Texte aus zwei Reihen zur täglichen
Bibellektüre, einerseits thematisch, andererseits fortlaufend geordnet.²⁹ Auf eine
Ebd. Vgl. auch den Hinweis auf „Themen für das tägliche Gebet“, a.a.O., 7.
Vgl. die Website einer württembergischen Kirchengemeinde, Ende Dezember 2021: „Auch für
das Jahr 2022 erhalten Sie bei Frau […] oder Frau […] folgende Kalender: Konstanzer Großdruck-
Kalender – Neukircher Kalender – Losungsbüchlein (auch Großdruck). Ein schönes Geschenk für
Geburtstage im zu Ende gehenden Jahr oder für Weihnachten!“ (Online abrufbar unter https://
www.bitz-evangelisch.de/aktuelles-wochentermine/aktuelleswochentermine/, Lesedatum:
05.01. 2021).
Brüder-Unität (Hg.), Losungen 2022, 150. Zu einzelnen Tagen wird auf prägende Ereignisse der
Herrnhuter Geschichte verwiesen, etwa „21. August 1732: Aussendung der ersten Missionare aus
Herrnhut“ (ebd., 99).
144 Jan Hermelink
(1) Ein konsensfähiges Bild von ‚evangelischer Kirche‘. Mit dem Losungsbüchlein
(sei es gedruckt oder per App präsent) wird das jeweilige kirchenleitende Han-
deln, das stets durch vielfältige Differenzen der Bildung, der Frömmigkeit, der
Professionalität, der kirchlich-theologischen Positionalität und nicht zuletzt
persönlicher Interessen bestimmt ist, zunächst auf einige konsensfähige Aspekte
dessen verwiesen, was die evangelische Kirche in besonderer Weise ausmacht. Zu
diesem ekklesiologisch-normativen Konsens gehört zunächst der deutliche Bezug
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation 145
allen kirchlichen Handelns auf die Bibel. Durch die Nutzung des Losungsbüch-
leins werden jedenfalls drei Aspekte hervorgehoben. Zum Einen erscheint das
biblische Wort hier als unmittelbare, geradezu autoritative Anrede; es wird weder
durch kirchliche Tradition noch durch theologische Reflexion relativiert. Zum
Zweiten ruft die Losungslesung die hohe Bedeutung kurzer Sprüche in der
evangelischen Kirche auf,³³ wie sie besonders bei Kasualsprüchen und -predigten,
aber auch im Rekurs kirchlich-offizieller Texte auf ‚dicta probantia‘ erkennbar
wird. Und zum Dritten präsentiert das Losungsbüchlein die Bibel stets als inter-
nen Dialog, in dem sich Sprüche aus beiden Testamenten entsprechen, variieren,
überbieten, auch wechselseitig relativieren.
Das Losungsbüchlein lässt die konkrete kirchliche Organisation, in deren
Leitung es genutzt wird, sodann als Teil eines weltweiten, vielfältigen evangeli-
schen Christentums erscheinen. Die meisten konkret Beteiligten wissen, dass
dieses Büchlein in ganz unterschiedlichen Konfessionen gebraucht wird; nicht
selten wird diese ökumenische Internationalität, wie sie das Losungsbüchlein
selbst hervorhebt,³⁴ in der kybernetischen Andacht ausdrücklich benannt.
Die kybernetisch-liturgische Nutzung der Losungen kann schließlich als eine
Praxis des allgemeinen Priestertums aller Getauften wahrgenommen werden. Mit
dem Gebrauch eines Büchleins, das Bibellektüre und Gebet in elementarer, na-
hezu voraussetzungsloser Form ermöglicht, verzichtet die jeweilige Leitungsper-
son demonstrativ auf jede Inanspruchnahme hierarchischer oder theologisch-
professioneller Autorität; sie vollzieht – auch dort, wo sie die Losung kurz kom-
mentiert – eine religiöse Praxis, die jeder Christin, jedem Christen ebenso möglich
ist.
Meist wohl ungewollt wird diese Differenz zwischen aktueller und regelmä-
ßiger Nutzung des Losungsbüchleins dort aufgerufen, wo die Leitungsperson zu
Beginn der Zitation darauf verweist, dass viele Anwesende die nun folgenden
Texte ja wahrscheinlich ‚schon heute morgen‘ wahrgenommen und sich vielleicht
auch schon Gedanken zu ihrem aktuellen Bezug gemacht hätten. Diejenigen, für
die diese Annahme nicht gilt (z. B. der Verfasser des vorliegenden Textes), erleben
sich dann plötzlich am Rande, wenn nicht sogar außerhalb der kirchlichen Ge-
meinschaft, die hier imaginiert wird.
Mit dem (mindestens impliziten) Rekurs auf die tägliche Übung von Bibel-
lektüre und Gebet wird das jeweilige Leitungsgremium, die Arbeits- oder Prü-
fungsgruppe also zu einer besonderen, ausgesonderten, ja auserwählten kirchli-
chen Gruppe – eine ecclesiola in ecclesia. Anders gesagt: Mittels des Gebrauchs
des Losungsbüchleins setzen sich die Beteiligten praktisch, szenisch von der
breiten, ‚volkskirchlichen‘ Frömmigkeit ab, die sie zugleich zu organisieren be-
anspruchen.
Wie ist die religiöse Gemeinschaftlichkeit, die die liturgisch-kybernetische
Nutzung des Losungsbüchleins in Szene setzt, genauer zu charakterisieren?
Verbindet man die syntaktisch-materiale Struktur dieses Artefakts, nämlich die
kalendarische Anordnung kurzer biblischer Texte und Gebete, mit seinen histo-
risch dominierenden Nutzungspraktiken (s.o. 2), so zeichnet sich das Bild einer
engen, durch persönliche Vertrautheit konstituierten Gemeinschaft ab, in der die
regelmäßige Losungslektüre selbstverständlich ist und immer wieder auch zum
Gegenstand des Gesprächs wird – und zwar gerade dort, wo die kurzen Texte als
direkte Anrede erfahren wurden: als Zuspruch in persönlicher Bedrängnis, als
Orientierung angesichts schwerer Entscheidungen, als Vergewisserung in reli-
giösen Zweifeln.³⁵ Etwas zugespitzt: Mit der Nutzung des Losungsbüchleins wird
das Bild einer kleinen, immer wieder von außen und innen gefährdeten, aber von
Christus selbst geleiteten Gemeinschaft aufgerufen.
(3) Allein Jesus Christus leitet die Kirche. In der Bekennenden Kirche bildete sich
in Reaktion auf die Auseinandersetzungen mit den Deutschen Christen und auch
in Reaktion auf zunehmend unversöhnliche theologische und religiöse Positionen
die Vorstellung aus, die Kirche werde im Wesentlichen nicht durch Synoden,
Kirchenämter oder Bischöfe geleitet, sondern durch Jesus Christus selbst: „Die
christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und
Sakrament als der Herr gegenwärtig handelt. […] Wir verwerfen die falsche Lehre,
als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft oder ihrer Ordnung ihrem Belieben
Vgl. mit vielen Beispielen H. Renkewitz, Losungen, 73 – 96; P. Zimmerling, Losungen, 32– 53.
Das Losungsbüchlein zwischen Religion und Organisation 147
pekte dieses Handelns abblendet – und damit einer religiösen oder theologischen
Deutung gerade entzieht.
blische Spruchweisheit mit Bezug auf die konkrete Situation auswählen – statt
sich die ‚Losung‘ allein durch das aktuelle Datum vorgeben zu lassen.
Mit der Nutzung des Losungsbüchleins nimmt sich die Leitungsperson pro-
grammatisch zurück. Sie ordnet sich ein in das Priestertum aller Getauften, die die
Heilige Schrift selbständig lesen und auf die eigene Situation beziehen können,
ganz ohne priesterliche Vermittlung. Und die leitenden Geistlichen unterwerfen
sich mit der Nutzung jenes Artefakts dessen kalendarisch-rationaler Materialität,
die das jeweilige biblische Motto situationsinvariant, gleichförmig und leicht
verständlich vorgibt. Man kann die kybernetische Nutzung der Losungen also als
symbolischen Verzicht auf jede Art theologischer oder religiöser Vermittlung
verstehen, als Inszenierung einer Leitung der Kirche allein und unmittelbar durch
das Wort Gottes (s.o. 4 (3)). Realistischer scheint mir jedoch die Lesart, derzufolge
die hier betrachtete kybernetische Materialität – sicher ungewollt – im Grunde
den Sieg der organisatorischen Rationalität über den Eigensinn des Religiösen,
auch der religiösen Persönlichkeit markiert. Insofern mag der Jubilar, der sich
gegenüber der kirchlichen Organisation praktisch wie theoretisch stets eher
skeptisch gezeigt hat, sich durch diesen kleinen Versuch zur kybernetischen
Materialität einmal mehr bestätigt sehen.
Jakob Kühn
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der
Dinge
Die Kasualrede und ihre Bezüge zu den Dingen
1 Einleitung
Die Kasualrede ist, wie die Sonntagspredigt auch, zuallererst ein mündliches
Phänomen, das sich über das Merkmal der „Dialogizität“¹ ausweist. Der dingliche
Kontext ist nicht nur an den Predigtvollzug gebunden: Auch, wenn Kanzel oder
Rednerpult, Antependien, Mikrophon und Beleuchtung, Ringmappe und Manu-
skript u.v.m. besonders in Augenschein treten, sind Produktions- und Rezepti-
onsbedingungen ebenfalls dinglich kontextualisiert.² Der Dingbezug der Rede, so
wie er im Folgenden in den Blick geraten soll, äußert sich explizit und – ver-
mutlich deutlich häufiger – implizit darin, dass mit Gegenständen in Kasualvor-
gesprächen Erinnerungen und Geschichten aus dem Leben hervorgebracht und
homiletisch konfiguriert werden. Darüber hinaus ist der Dingbezug der Rede je-
doch auch darin zu suchen, wie homiletische Konfigurationen auf den Ritus und
somit auf dessen Dingkontext Bezug nehmen. Dabei handelt es sich um diejeni-
gen Dinge, die für eine gottesdienstliche Inszenierung immer wieder in Gebrauch
genommen werden: Taufstein, Kanzel, Bestuhlung u.v.m. Sie sind in der Regel im
Kirchenraum vorhanden. Die Dinge, die bleiben sind jedoch auch solche, die
insbesondere bei kasuellen Anlässen in den privaten Kontext überführt werden:
Fotografien und Videomitschnitte, Gegenstände, die eng mit dem rituellen Ge-
schehen verbunden sind wie Taufkerze, Trauringe oder Urkunden.
Sie alle haben Anteil an der Performanz einer Kasualie. In dem Maße, wie die
Dinge in einem liturgischen Inszenierungsgeschehen „mitspielen“, und in dem
Maße, wie die Dinge in einer Rede „mitsprechen“, sind sie in ihrer dinghaften
Vgl. dazu Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik (Tübingen: Narr Francke Attempto
Verlag, 32020), 243: „Dialogizität ist zunächst eine inhaltliche Dimension der Predigt. Sie steht für
die Einbeziehung der Hörersituation im Sinne einer Auseinandersetzung mit der Lebenswirk-
lichkeit der Zeitgenossen.“
Zu denken wäre an Schreibtisch, Papier und Stift, Computer, Bibelbuch u.v.m. Die Begriffe
‚Ding‘ und ‚Gegenstand‘ werden im Folgenden synonym verwendet. Vgl. dazu Hans Peter Hahn,
Materielle Kultur: Eine Einführung (Berlin: Reimer, 22014), 20.
https://doi.org/10.1515/9783110762853-010
152 Jakob Kühn
scher Perspektive ist mit der (Ver‐)Kleidung die Schnittstelle von Person und Rolle
markiert: „Sie schützt den Verkleideten vor der alltagspragmatischen ‚Tyrannei
der Intimität‘ (Sennet) und gewährleistet eine synästhetisch erweiterte Rollen-
wahrnehmung.“⁸ Während liturgische Kleidung als „(Über‐)Kleidung […] gewis-
sermaßen als dritte Haut […] [den Körper] in anderer Weise und in anderer
Funktion“⁹ zeigt, kommuniziert Kleidung bzw. Mode im Allgemeinen als zweite
Haut.¹⁰ Gerade bei Kasualien zeigt sich, dass die Kleiderfrage nicht an der Un-
terscheidung von Akteur*innen und Zuschauer*innen abzugrenzen ist. Auch
Kasualbegehrende kleiden sich in der Regel ihren Rollen entsprechend üblich
und angemessen ein: Der Täufling trägt ein Taufkleid, die Braut ein Brautkleid,
die Kasualgemeinde trägt Festtagskleidung.¹¹ Die vestimentäre Praxis ist insofern
im Spiel, wie Kleidungsgegenstände zur Rollenausbildung aller Beteiligten bei-
tragen: „Ihre materiale Ausgestaltung erfährt die Rollenfigur erst im Spielverlauf,
in dem die Person sie situationsadäquat aktualisiert und damit die Kommuni-
kation je individuell Gestalt und Dynamik verleiht.“¹²
Diese spezifische nonverbale Spielfunktion, wie sie den Kleidungsstücken
zukommt, ist jedoch – so die These – auf die Gegenstände einer Inszenierung
auszuweiten. Denn auch sie bilden durch ihre Ingebrauchnahme die Rollenfigur
und damit ihre Kenntlichkeit im liturgischen Geschehen mit aus.
Dies betrifft die raumergreifenden, oft unverrückbaren liturgischen Einrich-
tungsgegenstände, die aktiv bespielt werden, wie bspw. der Altar oder die Kanzel.
Sie wirken auch auf die Inszenierung ein: Die Dinge auf der (gesellschaftlichen)
Bühne „[…] mögen nicht die Hauptdarsteller sein, aber Dinge sind Akteure, und
sei es als Komparsen. Souffleure, Handlungsstützen, Impulsgeber oder auch ‚nur‘
als Requisiten. […] Uns als Gegenpart nötigen sie dabei andere Rollen zu spielen
auf, oder sie ermöglichen sie uns. Wie etwa das Rednerpult, das seine Rolle spielt
zwischen dem Menschen, der einer Rede hält, und seinem Publikum und das
beiden ihre Rolle zuweist, andeutet, erleichtert.“¹³ Aber auch mobilere und aus-
Thomas Klie, Zeichen und Spiel: Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pasto-
raltheologie, Praktische Theologie und Kultur 11 (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2003), 150.
Kristian Fechtner und Thomas Klie, „Evangelische Textilien: Programmatische Überlegungen“,
in FeinStoff: Anmutungen und Logiken religiöser Textilien, hg.v. Thomas Klie und Jakob Kühn
(Stuttgart: Kohlhammer, 2020), 7– 22.
Vgl. Rainer Wenrich, „Die zweite Haut spricht: Vestimentäre Kommunikation in Theorie und
Praxis“, in FeinStoff, hg.v. Th. Klie und J. Kühn, 23 – 38.
Vgl. Kristian Fechtner, „Sich kleiden: Praktisch-theologischer Erkundungen zur vestimentä-
ren Praxis in der Kirche“, in FeinStoff, hg.v. Th. Klie und J. Kühn, 71– 86.
Th. Klie, Zeichen und Spiel, 152.
Gustav Roßler, „Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft: Eine Skizze“, in Kasualdinge: An-
mutung und Logik kirchlicher Gegenstände, hg.v. Thomas Klie und Jakob Kühn (Stuttgart: Kohl-
154 Jakob Kühn
tauschbare Dinge, die zur Hand gehen, wie das Bibel- oder Gesangbuch oder das
Abendmahlsgeschirr, zeigen Rollen und ihre Funktionen mit an. Bei Kasualien
werden darüber hinaus Kasualdinge prägend, die eng mit dem rituellen Kernge-
schehen und dessen Handlungsvollzügen verbunden sind: Taufstein und Tauf-
wasser, Trauringe, besondere Bestuhlung, Kniebänke, Kerzen, Öl, Urkunden, Sarg
bzw. Urne, Schmuck.¹⁴ Mit dem „Spiel-zeug“ wird die Rollenfunktion im Rahmen
einer Inszenierung – im Zusammenhang mit der Kleidung – kenntlich bzw.
kenntlich gemacht.¹⁵ Denn in der Weise, wie die Dingwelt in Gebrauch genommen
wird, bilden sie eine Inszenierung und ihre liturgischen Handlungsvollzüge mit
aus und prägen die Rollenwahrnehmung beteiligter Personen. In diesem Sinne
„spielen“ die Dinge mit.
Die praktisch-theologische Wahrnehmung der materiellen Dingkultur erhält
in liturgischer Hinsicht somit auch darin ihren Mehrwert, dass die Vielzahl der
Dinge in ihrer konstitutiven Bedeutung für die Inszenierung – insbesondere für
rollentheoretische Überlegungen – in ihrer gesamten Breite in den Blick kommt.¹⁶
Zur spezifischen Eigenart der liturgischen Dingwelt gehört es, dass sie nicht
auf die Performanz einer Inszenierung begrenzt ist. Vielmehr sind die Dinge vor
und nach der Aufführung in ihrer materiellen Beschaffenheit zugegen und in ihrer
funktionalen Ausrichtung vorbestimmt. Das Chorgestühl verharrt in der Apsis,
das Abendmahlsgeschirr wird in der Sakristei aufbewahrt. Während die Dinge als
Kontinuitäten zu Tage treten, erscheint die Ingebrauchnahme als ein durchaus
flüchtiges Geschehen. Das Taufwasser benetzt den Täufling, das Salböl wird
aufgetragen, das Brautkleid wird nur einmal angezogen.¹⁷ In dem Maße wie die
liturgische Dingwelt Anteil an einer Inszenierung hat, ist sie in ein Spannungs-
hammer, 2022) [im Erscheinen]. Zu beachten ist, dass Roßler das Mitspielen der Dinge im Rahmen
seines fünfgliedrigen Agency-Schemas dem Bereich der agency 2 (Akteurhaftigkeit) zuordnet,
jedoch hinsichtlich der agency 1 öffnet. Insofern ist hier die Wirkmächtigkeit durch die Inge-
brauchnahme der beteiligten Personen betont.
Vgl. Th. Klie und J. Kühn (Hg.), Kasualdinge [im Erscheinen].
Vgl. dazu Th. Klie, Zeichen und Spiel, 151, der festhält: „Kenntlichkeit eröffnet Distanzie-
rungsspielräume und stiftet rollenkonforme Evidenzen.“
Vgl. dazu den Beitrag von Anne Gilly, „Ambiguität als kirchliche Positionierungspraxis: Be-
obachtungen zu zwei Dingen in einer Adventsandacht“, in Positionierung der Dinge, hg.v. U. Roth
und A. Gilly, 104– 116. Am Beispiel eines innovativen Andachtsformates zeigt sie auf, inwiefern
„Gegenstände, insbesondere der Stern, zur Projektionsfläche einer ganzen Bandbreite unter-
schiedlicher, mehr oder minder stark (christlich‐)religiös konturierter Deutungen werden.“ (vgl.
ebd., 114).
Gleichwohl zeigt sich am Phänomen wie „trash the dress“, dass Folgehandlungen nicht
ausgeschlossen sind.
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der Dinge 155
Thomas Klie und Jakob Kühn (Hg.), Die Dinge, die bleiben: Reliquien im interdisziplinären
Diskurs (Bielefeld: Transcript, 2020), 12.
Abseits liturgischer Vollzüge können sie in ihrer Gesamtheit durchaus als eine heterogene
Zusammenstellung von Dingen, d. h. als eine Objektassemblage gelesen werden.
Kristian Fechtner, „Liturgik“, in Praktische Theologie: Ein Lehrbuch, hg.v. Kristian Fechtner,
Jan Hermelink, Martina Kumlehn und Ulrike Wagner-Rau (Stuttgart: Kohlhammer, 2017), 148. Das
Kriterium der Wiederholbarkeit ist also im Intentionalen des rituellen Geschehens und weniger im
Identischen des Handlungsablaufs zu suchen (vgl. dazu Andreas Odenthal, Rituelle Erfahrung:
Praktisch-theologische Konturen des christlichen Gottesdienstes [Stuttgart: Kohlhammer, 2019],
20).
So konstatiert Hahn: „Scheinbar eindeutige Positionierungen von Dingen mögen einer wis-
senschaftlichen Logik der ‚Momentaufnahme‘ entsprechen. Sie stehen jedoch im Widerspruch zu
unzähligen alltäglichen Erfahrungen im Umgang mit Dingen und zu ihrer Bewertung.“ (Hans
Peter Hahn, „Der Eigensinn der Dinge: Warum sich Objekte in bestimmten Momenten anders
verhalten, als sie es sollten“, helden. heroes. héros. 4 [2016]: 9 – 15, hier 12, Sp. 1).
Ebd. 12, Sp. 2.
Vgl. ebd.
156 Jakob Kühn
langlebigen Dingen eine Wandelbarkeit zu eigen ist, die auf den ersten Blick
abständig zu sein scheint.
Zum anderen zeigt sich aber auch, dass die Einwände und Hinweise arte-
faktorientierter Überlegungen nur bedingt auf die liturgischen Ingebrauchnah-
men von Dingen anzulegen sind. Denn die Ingebrauchnahme von Dingen im
Rahmen liturgischen Handelns ist in der Regel nicht spontan, sondern in be-
sonderer Weise geprägt. Damit das gottesdienstliche bzw. kasuelle Stück aufge-
führt werden kann, damit „im Medium menschlicher Mitteilung und Darstel-
lung“²⁹ sich ein Gottesdienst ereignen kann, müssen nicht nur die Rollen verteilt,
sondern auch die (Spiel‐)Regeln bekannt sein. Denn auch die Dinge spielen mit,
insofern wie die ihnen zugewiesenen Funktionsweisen erfüllt und Bedeutungs-
zuschreibungen erschlossen werden müssen. Für das Verhältnis von Rede und
Ritus, welches im Folgenden aufgenommen wird, ist dies von Bedeutung.
Sich in dem für die Öffentlichkeit der kirchlichen Kasualpraxis konstitutiven lebens- und
familiengeschichtlichen Erfahrungshorizont zu bewähren, heißt, Akte biographischer
Identitätskonstruktion zu erbringen. D. h. es geht um den Entwurf von Szenen der Erinne-
rung und um die Imagination von Erwartungen, mit denen Menschen sich im Jetzt der ri-
tuellen Begehung identifizieren können, die sie sich als den sinnhaften Entwurf ihres ei-
genen Lebens aneignen können. Um solche Identitätskonzeptionen geht es angesichts
lebenszyklischer Erfahrungen von Differenz und Distanz, von Übergängen in neu zu kon-
zipierenden Sozialbeziehungen, in abschiedlichen Trennungserfahrungen. Obwohl leben-
zyklisch erwartbar, wollen solche Erfahrungen lebensgeschichtlich verarbeitet sein. Sie
verlangen jeweils die Neukonstruktion der eigenen Biographie.³¹
Vgl. Paul Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, Übers. Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho
und Markus Sedlaczek (München: Wilhelm Fink Verlag, 2004), 210.
Ebd., 211.
Ebd.
Tattoos kommen zwischen erster und zweiter Haut, gewissermaßen auf einer „Zwischen-
bühne“ in den Blick, die zwischen Leiblichkeit und Dinghaftigkeit oszillieren (vgl. in religions-
psychologischer Perspektive Matthias Marks, Religionspsychologie, Kompendien Praktische
Theologie 1 [Stuttgart: Kohlhammer, 2018], 146 – 159, bes. 154 und 156 f.). Matthias Marks hält im
Rückgriff auf Udo Feist dazu fest, dass sie als Ausdruck des Wunsches nach „Gültigkeit und
Festhalten“, als „Spuren, die überdauern – für zumindest eine persönliche Ewigkeit“ gelesen
werden (vgl. dazu Udo Feist, Etwas, das bleibt. Wie viel Religion steckt in Tattoos? MS. WDR 3,
Lebenszeichen, Sendung vom 01.11. 2016).
Paul Ricoeur, Die erzählte Zeit, Bd. 3., Zeit und Erzählung, Übers. Andreas Knop (München:
Wilhelm Fink Verlag, 1991), 181 (Hervorhebungen im Original).
Ebd., 191 (Hervorhebungen im Original).
160 Jakob Kühn
materieller Abdruck führt – und es ist durchaus an die Spur eines Tieres zu
denken – zu einer vergangenen Gegenwart.⁴¹ Der Zusammenhang von geformter
Materialität und rekonstruierter Geschichte ist für Ricoeur vor dem Hintergrund
von Erinnern und Vergessen, von Erzählung und Zeit von besonderer Bedeutung:
Das Markieren nämlich setzt eine Materie voraus, die härter und dauerhafter ist als die
vorübergehende Tätigkeit des Menschen: Vor allem deshalb, weil die Menschen den Stein,
den Knochen, gebrannte Tontäfelchen, den Papyrus, das Papier, das Tonband, die Diskette
bearbeitet haben, ihnen ihr Schaffen anvertraut haben, überleben ihre Werke ihren Schaf-
fensprozeß; die Menschen gehen vorüber, die Werke bleiben. Dieser dinghafte Charakter
jedoch ist wichtig für unsere Untersuchung: er begründet zwischen markierendem und
markiertem Etwas ein Verhältnis von Ursache und Wirkung. Folglich vereinigt die Spur eine
Signifikanzbeziehung, die sich leichter an dem Gedanken eines Spuren hinterlassenden
Vorübergehens ablesen läßt mit einer Kausalitätsbeziehung, die sich aus der Dinglichkeit der
Markierung ergibt. Die Spur ist Zeichen und Wirkung in eins.⁴²
Zentral für die hier verfolgte Fragestellung ist die sich durch die materielle Mar-
kierung ergebene Beständigkeit der Spur. Der Abdruck, die materielle Gebun-
denheit, scheint die Möglichkeit des Rekonstruierens und Erinnerns an ein
flüchtiges Geschehen nicht nur zu ermöglichen, sondern auch zu erhalten. Die
Spur schöpft die Signifikanzbeziehung dahingehend aus, dass sie dem unvor-
hergesehenen Auftauchen von Erinnerungen etwas hinzufügt.⁴³ Sie erhöht zum
einen die Wahrscheinlichkeit des Wiedererinnerns von Geschehnissen aus der
Vergangenheit. Wenn diese jedoch nicht mehr erinnert werden können, fungiert
die Spur zum anderen als letzter Haftpunkt einer vergangenen (Lebens‐)Ge-
schichte. Sie zeigt an, um was das mühsame Erinnern und Rekonstruieren ringt,
wenn zwar um ein zu Erinnerndes gewusst wird, dieses jedoch nicht mehr erin-
nert werden kann. Und selbst wenn sie dieses Abwesende nicht mehr hervor-
bringen kann, bleibt sie Zeugnis einer vergangenen Gegenwart. In dem Maße wie
Erinnerungsstücke als Zeugnisse – d. h. in einer verifizierenden Funktion – in
Anspruch genommen werden, „haften“ sie für eine schon längst vergangene
Gegenwart, die erinnert werden kann.
„Die Spur zeigt somit hier, im Raum, und jetzt, in der Gegenwart, das Vorübergegangensein
lebendiger Wesen an; sie weist die Jagd, der Suche, der Untersuchung und Forschung die Rich-
tung. All dies jedoch ist die Geschichte. Wenn man sie eine Erkenntnis durch Spuren nennt,
appelliert man in letzter Instanz an die Signifikanz einer vollendeten Vergangenheit, die
gleichwohl erhalten bleibt in ihren Überresten und Spuren.“ (Ebd., 192 (Hervorhebungen im
Original)).
Ebd., 193.
Vgl. P. Ricoeur, Gedächtnis, 55 ff.
Vom „Mitspielen“ und „Mitsprechen“ der Dinge 161
Der Dingbezug der Kasualrede ist nicht allein auf das ihr vorausliegende Kasu-
alvorgespräch zu entfalten. So sehr wie die Rede von einem Erfahrungsraum
Element die Grunddimension des gesamten Gottesdienstes bleibt. Die Liturgie als Mitteilung und
als Darstellung eröffnet und begrenzt die Interpretationsmöglichkeiten.“ (Ebd., 13).
Exemplarisch die Thematisierung und Deutung des Taufsteins: Liebe Gemeinde, was ist ein
lebendiger Stein? Das ist doch ein Widerspruch in sich, wovon da eben in diesem Bibelabschnitt
die Rede war: „Kommt her zu Jesus! Er ist der lebendige Stein“, „Lasst euch auch selbst als le-
bendige Steine zur Gemeinde aufbauen“ – was soll das heißen? Wie kann ein Stein lebendig sein?
Das möchte ich am Beispiel unseres Taufsteins erläutern. Denn der Großvater von zweien unserer
heutigen Täuflinge hat den Taufstein in unserer Thomaskirche selbst angefertigt. Es war sein
Meisterstück als Steinmetz. Er ist heute unter uns und könnte uns Geschichten dazu erzählen –
z. B. dass der Oberkirchenrat zunächst dagegen war, weil der Taufstein angeblich die Kirche zu
sehr dominiere. Aber schließlich ging es dann doch. Und natürlich ist es etwas Besonderes, wenn
der Großvater erlebt, wie zwei seiner Enkel an dem Taufstein getauft werden, den er selbst her-
gestellt hat. So kann man auch zu einem vermeintlich toten Stein eine emotionale Beziehung
haben. […]. In gewissem Sinn lebendig wird der Taufstein dadurch, dass lebendige Menschen an
ihm getauft werden wie heute Morgen.“ Aus einer Predigt „Kommt zu Jesus, dem lebendigen
Stein“ aus der Thomasgemeinde Rastatt mit unbekanntem Verfasser. (Online abrufbar unter
https://thomasgemeinde-rastatt.de/wp-content/uploads/2020/07/Predigt-%E2%80%9EKommt-
zu-Jesus-dem-lebendigen-Stein%E2%80%9C-.pdf, Lesedatum: 15.11. 2021).
Exemplarisch die Thematisierung und Deutung des Taufkleides: „Dieses weiße Kleid, dessen
Farbe die Unschuld ist, darf Ihre Tochter tragen. Davon wird sie profitieren. Übrigens habe ich
zwei der Jungen auf dem Fußballplatz vor einigen Jahren auch im Taufkleid gesehen. Wie in Ihrer
Familie hatte deren Großmutter die Namen in die weiße Seide eines Taufkleides einsticken lassen.
Das Weiß des Trikots, Entschuldigung, der Taufkleides, stand für ihre Unschuld. Und der Ruhm,
den Jesu erworben hat, schenkte ihnen schon die Unsterblichkeit. Und es war oft wie bei der
Taufe: Das Wasser wäscht so manchen Schmutz und, seit dem das Fußballfieber in diesem Jahr
ausgebrochen ist, auch viel Schweiß von der Haut. Eigentlich möchte ich meine alten Klamotten
auch neben das Tor werfen und auf dem Platz laufen. Ein Trikot will ich gerne überstreifen.
Schneller laufen, leichtfüßig spielen, hoffnungsvoller leben und von der Unsterblichkeit wirklich
was spüren! Es wird auf dem Trikot ein Name zu lesen sein, der an Gott erinnert. Es wird der
Schriftzug Christi sein und unser Name mit dabei. Heute ist es der Name Ihrer Tochter. Die wird
nun getauft. Amen.“ Aus einer Taufpredigt über 1. Korinther 15,50 – 58 von Propst Henning Keine
vom 17.04. 2006 (Ostermontag) im Meldorfer Dom. (Online abrufbar unter https://www.predigt
preis.de/predigtdatenbank/predigt/article/taufpredigt-ueber-1-korinther-1550-58.html, Leseda-
tum: 15.11. 2021).
Exemplarisch die Thematisierung und Deutung der Eheringe: „Ehe bedeutet das Leben zu
teilen, uns selbst mitzuteilen, uns einander zu schenken mit all unseren Facetten. Dies kommt
auch in dem Symbol für die Ehe zum Ausdruck, das ihr „Hochzeitsheftchen“ ziert: Die ineinander
fassenden Ringe. Vor allem in der Tatsache, dass die Ringe in dieser Form eine Schnittmenge
164 Jakob Kühn
die Asche bzw. der Sarg und der Leichnam, und – bei klassischen Bestattungs-
formen – das Grab und der Erdwurf.⁵⁷
In der Weise, wie die Kasualrede, die sich auf dieses Geschehen bezieht und
ihre Deutungen und Verstehensbemühungen auch an und mit den Dingen ex-
pliziert, entwirft sie eine Vorstellung einer Zukunft, die sich zwar realiter erst
einstellen muss, jedoch in der Rede vor einer Vergangenheit entfaltet und als
Vorschlag zu einer möglichen Welt präsent ist. Konstituieren Performanzen zu
ihren Gelingenheitsbedingungen Wirklichkeit und geht in diesem Sinne mit dem
rituellen Geschehen einher, dass eine Person getauft, ordiniert, bestattet bzw.
getraut ist, dann zeigt sich an und mit den Kasualdingen, dass ein Geschehen
vollzogen wird bzw. eine Wirklichkeit sich einstellt. In diesem Sinne sprechen
auch die Kasualdinge durch die homiletischen Bezugnahmen in der Rede mit, wie
sich mit ihnen eine gewünschte, erhoffte oder geglaubte Zukunft anzeigt. Und in
einer zukünftigen Gegenwart bezeugen sie diese Wünsche und Hoffnungen aus
einer Vergangenheit, die – möglicherweise – gerade gegenwärtig sind.
bilden – ein Zeichen für geteiltes Leben, für gemeinsames Verschmelzen. Manchmal mag diese
Schnittmenge groß sein und wachsen, mitunter auch schrumpfen, doch wird immer eine
Schnittmenge, eine Gemeinsamkeit bestehen. Ohne diese Schnittmenge keine Ehe, keine Ge-
meinschaft, keine Liebe.“ Aus einer Traupredigt über Johannes 6,1– 13 von Pfarrer Dr. André
Golob (ak) vom 24.06. 2017 in der Alt-Katholischen Pfarrgemeinde Rosenheim. (Online abrufbar
unter https://www.predigtpreis.de/nc/predigtdatenbank/predigt/article/traupredigt-ueber-joh-
61-13.html, Lesedatum: 15.11. 2021).
„Wir finden uns an Särgen und Gräbern konfrontiert mit einer Welt, in der der Tod das Sagen
hat. Unausweichlich ist der Tod. Für alle. Wir müssen seine Herrschaft anerkennen, der uns
auseinanderreißt und uns solche Schmerzen zufügt.“ Aus einer Predigt über Lukas 7, 11– 17 von
Pfarrer a.D. Ernst-Friedrich Jochum (ev.) vom 16.11. 2013 in der Namen-Jesu-Kirche in Bonn im
Rahmen eines Gedenkgottesdienstes für Menschen, die auf Veranlassung der Stadt Bonn ohne
Trauerfeier beerdigt wurden. (Online abrufbar unter https://www.predigtpreis.de/predigtdaten
bank/predigt/article/predigt-ueber-lukas-7-11-17.html, Lesedatum: 15.11. 2021).
Kristian Fechtner
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern
Erkundungen zur Gegenständlichkeit der Zeit
1 Einstimmung: Kalenderdinge
Mist, jetzt hat Caro nur einen Kugelschreiber zur Hand und muss den verabredeten
Termin eintragen. Sonst schreibt sie immer mit dem Bleistift in ihren Kalender. Dann
ist es verbindlich notiert, aber eben nicht fix; es kann sich ja noch etwas ändern.
Bleistifteintragungen sind nicht nur praktisch, es schwingt auch ein Zukunftsgefühl
mit: Wer weiß, was wird. Wohl ist ihr nicht, als sie notgedrungen den Termin mit dem
Kuli notiert. Fühlt sich falsch an, so definitiv. Dafür nimmt sie es mit ihrem Ad-
ventskalender nicht so genau; da macht sie auch schon mal das nächste und
übernächste Türchen auf, bevor sie am Wochenende unterwegs ist. Und sie blättert
auch gerne mal voraus im Adventskalender mit den Geschichten, bis sie auf etwas
stößt, was sie anspricht. Robert macht das ganz kirre, wenn er es mitbekommt. Das
geht gar nicht. Er erinnert sich: Als Kind hat er einmal bereits in den ersten De-
zembertagen die Schokolade aus den hohen Zahlen rausgegessen, auch die 24.
Heimlich von hinten, die Rückseite aufgebogen. Die Eltern haben nur die Augen
verdreht, aber er hat noch heute das Gefühl, dass es ihm irgendwie nicht gut be-
kommen ist. Fühlte sich nicht recht an, man kann doch die Zeit nicht hintergehen.
Und nun liegt vor Caro und Robert der Geburtstagskalender der beiden, der sonst
links neben dem Kühlschrank hängt. Muss mal aktualisiert werden. Über die neuen
Einträge sind sie sich rasch einig; die Freundin des Sohnes wird eingetragen, ist ja
was Festes. Aber was ist mit Austragungen, kann man auch jemanden streichen?
Rita, die Schwester seiner Mutter, ist schon mehr als drei Jahre tot. Robert, er war ihr
Patenkind, schüttelt den Kopf. Und was ist mit Isa, ehemals Caros beste Freundin,
mit der sie nach einem heftigen Streit den Kontakt abgebrochen hat?
https://doi.org/10.1515/9783110762853-011
166 Kristian Fechtner
sie sind selbst aber kulturelle Konstruktionen ¹, insofern sie Zeit(en) in je unter-
schiedlicher Weise bestimmen: als Werktag und Sonntag; als Pfingstmontag und
Muttertag; als Monatsanfang und Jahresende und so fort. Kalender legen die Modi
der Zeit fest: das Heute der Gegenwart durch das Tagesdatum auf dem Kalen-
derblatt oder durch das zu öffnende Türchen des Adventskalenders; das Morgen
und zukünftige Zeit durch die noch ausstehenden, aber bereits eingetragenen
Verabredungen und erwartbaren Ereignisse; das Gestern als vergangene Zeit, die
nun nicht mehr präsent ist, weil das Kalenderblatt an der Wand nach hinten
geklappt wurde.
Kalender bilden Zeit(en) aber nicht nur ab, sie konstruieren und deuten die
Wirklichkeit der Zeit; sie modellieren damit Zeiterfahrungen. Selbstverständlich
fängt das Jahr am 1. Januar an, aber „natürlich“ ist dieser Jahresbeginn nicht,
sondern historisches Erbe römischer Amtseinführungen und eine geschichtliche
Festlegung durch den Julianischen Kalender. Wenn es nach Martin Luther ge-
gangen wäre, dann begönne das Jahr an Weihnachten: „Wir Christen fangen
unsern neuen Jahrestag an am heiligen Christtage“, den Neujahrstag hingegen,
„so wir von den Römern haben, lassen wir itzt fahren“.² Im Kalender, der im Zuge
der Französischen Revolution eingeführt wurde und nur wenige Jahre Bestand
hatte, wurde der Jahresanfang hingegen bewusst auf den 22. September gelegt als
demjenigen Tag, an dem die Republik ausgerufen worden war. Kalender sind
demnach auch Instrumente von symbolpolitischen Auseinandersetzungen und
Medien religiöser wie weltanschaulicher Perspektivierungen.³ So ist als christlich
bestimmter Jahres(fest)kreis das Kirchenjahr ein eigenständiger Kalender mit ei-
nem eigenen Rhythmus, der in seine religiöse Textur unterschiedliche Aspekte
(z. B. astronomische, agrarische oder kulturelle Bezüge) integriert und mit dem
Kalender des bürgerlichen Jahres (etwa durch seine Zählweise) verwoben ist.⁴
Dabei bilden die „großen“, übergreifenden Kalender längst nicht das Ganze un-
serer gegenwärtigen Zeitorientierungen ab, Zeitgenossinnen und Zeitgenossen
sind heute lebensweltlich notorische Zeiten-Wechsler, die sich zwischen unter-
Vgl. z. B. Anthony Aveni, Rhythmen des Lebens: Eine Kulturgeschichte der Zeit (Stuttgart: Klett-
Cotta, 1991); Jörg Rüpke, Zeit und Fest: Eine Kulturgeschichte des Kalenders (München: Beck,
2006).
Martin Luther, WA 34, I, 1. Vgl. dementsprechend die letzte Strophe seines Weihnachtsliedes
„Vom Himmel hoch“ (EG 24): „… Des freuet sich der Engel Schar und singet uns solch neues Jahr“.
Vgl. zu Kalendern als symbolischen Zeitordnungen Kristian Fechtner, Schwellenzeit: Erkun-
dungen zur kulturellen und gottesdienstlichen Praxis des Jahreswechsels (Gütersloh: Kaiser/Gü-
tersloher Verlagshaus, 2001), 113 ff.
Vgl. dazu insgesamt Kristian Fechtner, Im Rhythmus des Kirchenjahres: Vom Sinn der Feste und
Zeiten (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2007).
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern 167
Hier münden, dies soll im folgenden Abschnitt ausgeführt werden, die Überlegungen in ein
spezifisches Interesse von Thomas Klie, der ausdrücklich nach der „Macht der dinglichen Ak-
teure“ fragt. Vgl. Thomas Klie, „Kasualdinge: Wenn die Sachen mithandeln“, in Volkskirche in
postsäkularer Zeit: Erkundungsgänge und theologische Perspektiven, hg.v. Sonja Beckmayer und
Christian Mulia (Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2021), 179 – 188, 187 f.
Vgl. Marco Heiles, „Die Entstehung des modernen Kalenders: Zur ungeschriebenen Medien‐
und Literaturgeschichte der deutschsprachigen Kalender von den Anfängen bis um 1600“, Mit-
telalter: Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte 2 (2019): 208 – 225 (online abrufbar
unter https://mittelalter.hypotheses.org/22042, Lesedatum: 29.07. 2021).
Ebd.
168 Kristian Fechtner
Fürsten, aber auch Geburtstage von Gelehrten“⁸; zusammen bildeten sie eine Art
evangelisch gestimmten Kalenderkosmos. Die in hoher Auflage gedruckten
„Volkskalender“ waren im 17. und 18. Jahrhundert bevorzugte Lesematerialien
breiterer Volksschichten, sofern sie – der Alphabetisierungsanteil wuchs suk-
zessive – lesen konnten. Im Kontext aufklärerischer Anliegen wurden die Ka-
lender auch als pädagogische Medien genutzt, um ‚abergläubische‘ Vorstellungen
innerhalb der Volkskultur zurückzudrängen. Dies gelang mal mehr, zumeist aber
weniger: Die „‘vernünftigen‘ Kalender fanden nämlich in vielen Regionen nur
schwer breitere Resonanz“.⁹ Als Massenmedium enthielten die Volkskalender
neben religiös Erbaulichem und Lebensweisheiten sowie medizinischen, meteo-
rologischen und agrarischen Angaben auch unterhaltsame Erzählungen über
„merkwürdige Begebenheiten“, die eine eigene Gattung von „Kalendergeschich-
ten“ bildeten. Diese avancierten im 19. Jahrhundert – etwa bei Johann Peter Hebel
oder Jeremias Gotthelf – zu einer eigenen literarischen Kunstform. In dieser Weise
fungierten die Kalender mit ihrer Ordnung von Tagen, Wochen und Monaten im
Jahresrund zugleich als literarische Container für sehr unterschiedliche Textsor-
ten und Bildprogramme, sie waren eine „Kompilation zahlreicher Text‐ und
Bildelemente“.¹⁰
Die Kalender, die seit der frühen Neuzeit produziert wurden, waren aber nicht
nur Druckerzeugnisse, sondern bereits seit Mitte der 16. Jahrhunderts auch ein
Schreibmedium. Die Nutzer und später auch Nutzerinnen trugen persönliche
Randnotizen in die Kalender ein; eine Praxis, die von den Kalendermachern
aufgenommen wurde, die fortan Leerflächen auf den Kalenderblättern für Ein-
tragungen derjenigen vorsahen, die sie verwendeten. So wurden familienge-
schichtliche Ereignisse wie Geburt oder Taufe ebenso wie besondere Haushalts-
ausgaben, Heilbehandlungen von Krankheiten oder Begebenheiten im
Gemeinwesen festgehalten.¹¹ Die „Schreibkalender“ mit ihren vorgegebenen ka-
lendarischen Rubriken und ihren handschriftlichen Eintragungen stellten eine
sinnstiftende „Einordnung des Jahres und damit auch der persönlichen Notizen in
verschiedene ‘offizielle′ Ordnungen des religiösen wie weltlichen Lebens“¹² dar;
Harald Tersch, Schreibkalender und Schreibkultur: Zur Rezeptionsgeschichte eines frühen Mas-
senmediums (Graz/Feldkirch: Neugebauer, 2008), 40.
A.a.O., 95.
A.a.O., 26.
Neben den gedruckten Kalendern mit ihrer vorgegebenen zeitlichen Anordnung werden auch
Haushaltsbücher geführt oder Familienchroniken in freier Form verfasst, die – indem chronolo-
gisch Ausgaben oder Ereignisse festgehalten werden – durch die zeitliche Abfolge der Eintra-
gungen selbst eine kalendarische Logik erhalten.
Ebd.
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern 169
mit ihnen gliederte sich die eigene Familiengeschichte in den Gang des Zeiten-
laufes und dessen übergreifender sozialer Ordnung ein. Kalender sind in dieser
Weise Formen der Vergemeinschaftung, in ihnen strukturiert und ordnet sich das
Leben.
Vgl. Christa Pieske, Das ABC des Luxuspapiers: Herstellung, Verarbeitung und Gebrauch 1860 –
1930 (Berlin: Reimer, 1984), 151.
Eine klassische Gattung sind christliche Kalender mit Bibelversen als Tageslosungen. Es gab
beispielsweise aber in den 1920er Jahren auch einen verbreiteten „Arbeiterkalender“ als „roten
Abreißkalender“ mit entsprechend proletarischem Bildprogramm und revolutionären Losungen.
Vgl. Wolfgang Hesse, „Der rote Abreißkalender: Geschichts-Bilder als Wandschmuck“, Fotoge-
schichte 144 (2017). Heute finden sich Abreißkalender mit sprichwörtlichen „Kalendersprüchen“
sehr unterschiedlicher Provenienz und Ausrichtung.
170 Kristian Fechtner
praxis fest: Jeden Tag gilt es, ein Blatt zu entfernen. In dieser Weise hat er
Handlungs-, Wirkungs- und Deutungsmacht¹⁵ im Umgang mit der Zeit: Er fokus-
siert den Betrachter auf den gegenwärtigen Tag, die Jetztzeit. Alle zukünftigen
Tage sind im Papierblock verborgen, man kann sie zwar aufblättern, aber der
jeweils heutige Tag fungiert als ‚Deckblatt‘. Tag für Tag wird dann das Kalen-
derblatt des nunmehr vergangenen Tages aus dem Kalender entfernt, wobei die
Perforation des Papierblattes dies bereits vorsieht. Das Jahr wächst in seinem
Jahreslauf nicht an, indem es sich mit Ereignissen und Begebenheiten anfüllt,
sondern die Zeit wird Blatt für Blatt zusehends weniger; der Abreißkalender mit
seinem täglich kleiner werdenden Papierblock deutet Zeit als schwindende Zeit,
mithin als Frist. Die alltägliche Routine, ein Kalenderblatt abzureißen, wird damit
zu einem sinnenfälligen Ritual im Umgang mit der Zeit: Gestern ist vorbei, das
Blatt landet im Papiercontainer und verschwindet.
Zum modernen Alltagsleben gehören Termin‐ bzw. Notizkalender, die in Ge-
stalt von Taschenkalendern bei sich getragen werden können. Anders als die
stationären Wandkalender als Gestaltungselemente von Räumen sind diese
handlichen Kalender mobile Begleiter im Privat‐ und Geschäftsleben. Sie stehen
in der Tradition der Schreibkalender, insofern sie für den Gebrauch konzipiert
sind, Eintragungen in ihnen vorzunehmen. Sie enthalten Rubriken, um Termine
festzuhalten, und kleinere Freiflächen für weitere Notizen. Allerdings steht –
anders als bei den älteren Schreibkalendern – die Gattung der Taschenkalender
unter dem Vorzeichen einer restriktiven ‚Ökonomie des Platzsparens‘, sie geben
kaum Raum zur Selbstthematisierung. Damit verändern sie zugleich den Blick auf
die Zeit und die Umgangsweise mit ihr, die sich in dem manifestiert, was in sie
eingetragen wird: Die Nutzerinnen „protokollieren“ eben nicht mehr die „eigene
Vergangenheit“, sondern sie notieren künftige Termine, um „Zukunft zu organi-
sieren“.¹⁶ In der Verknüpfung von Daten des beruflichen und des privaten Lebens
fungieren die Taschenkalender nicht nur als Ordnungs‐ und Koordinationsin-
strumente, sondern auch als To-Do-Listen: Sie sind Medien der Verabredung und
der Selbstverpflichtung, etwas zu tun oder zu erledigen, sich an einem Ort ein-
zufinden oder mit anderen etwas zu regeln. Zukünftige Zeit wird hier im Modus
des Planens als Tätigkeitszeit fokussiert; entsprechend erscheinen die wenigen
Ich lehne mich bei meinen Überlegungen lose an das von Gustav Roßler entfaltete Konzept
von „agency“ an.Vgl. Gustav Roßler, Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft: Sozialität – Kognition
– Netzwerke (Bielefeld: Transcript, 2016), 84 ff. Vgl. zum Begriff der „Deutungsmacht“, der hier
ohne theoretische Tiefenschärfe verwendet wird, die konzeptionellen und analytischen Beiträge
in Philipp Stoellger (Hg.), Deutungsmacht: Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten
(Tübingen: Mohr Siebeck, 2014).
H. Tersch, Schreibkalender und Schreibkultur (Anm. 8), 97.
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern 171
Für die englische Bezeichnung existiert noch kein deutscher Ausdruck; sie leitet sich von
bullet points: Gliederungspunkte ab. Den Hinweis auf diese neue Kalenderpraxis verdanke ich
Sonja Beckmayer.
172 Kristian Fechtner
und Wissensbestände für die Ausübung des Pfarramtes vor Ort zur Verfügung. So
umfasste etwa der „Amtskalender für evangelisch-lutherische Geistliche im Kö-
nigreich Sachsen“¹⁸ für das Jahr 1894 insgesamt 218 Druckseiten: Er enthielt nicht
nur ein Tageskalendarium mit Gedenktagen und sonntäglichen Predigtperikopen,
sondern auch eine Übersicht über „feststehende Amtsgeschäfte“ (im Blick auf
verpflichtende Kirchenkollekten, Treffen kirchlicher Vereine, kirchliche Verwal-
tungsanforderungen etc.), Rubriken zu „ausgeliehenen Büchern“, zu „besu-
chenden Gemeindegliedern“ und zu den einzelnen „Amtshandlungen“ sowie eine
Preisliste für „kirchliche Formulare“ und eine „Publikationsliste sächsischer
Theologen“ und mündete in eine Kirchenchronik der beiden vorangegangenen
Jahre, in der hervorgehobene Ereignisse in der Kirche und in den Gemeinden (wie
Amtswechsel, Gottesdienstbesuch zu Weihnachten oder Baumaßnahmen) ver-
zeichnet waren.
Im Grundriss ist der alte Amtskalender für Geistliche den heutigen Pfarr-
amtskalendern sehr ähnlich, auch wenn diese keine vorangestellte „Fürstentafel“
und keine angefügte Kirchenchronik mehr enthalten. Sie folgen der gleichen
Logik. Auch sie sind Planungshilfen für Gottesdienste, Kasualien und Unterricht
und bieten Platz für Termineintragungen im Stundentakt jedes Kalendertages.
Indem sie wesentliche Daten und Adressen zusammenstellen, die für die pfarr-
amtliche Tätigkeit von Belang sein können, entlasten sie die einzelnen von ei-
gener Recherche. Als Gattung dokumentieren und instruieren die Pfarramtska-
lender den Pfarrberuf in der Moderne als eine Tätigkeit im Modus des
Organisierens, durch den die pastoralen Kernaufgaben selbst und damit auch das
Amt als Beruf geprägt sind. Dabei geht es weniger um eine häufig beklagte Zu-
nahme an Verwaltungstätigkeiten, sondern darum, dass zur (gottesdienstlichen,
unterrichtlichen, seelsorglichen) Praxis von Pfarrerinnen und Pfarrern wesentlich
dazu gehört, diese zu planen, anzubieten, zu koordinieren, abzustimmen und
jeweils zeitgenau und angemessen zu gestalten.¹⁹ Kurzum: Pfarramtskalender
lassen sich pastoraltheologisch lesen; sie sind – mit Thomas Klie gesprochen –
gleichsam „Feinjustierungen zu Habitus, Gebaren und professionstypischen
Werthaltungen“²⁰, die Pfarrerinnen und Pfarrern zugeschrieben werden. Die
Dinge sagen, was es mit dem Pfarramt auf sich hat und wie es ausgeübt wird (oder
ausgeübt werden soll).
Vgl. auch zum Folgenden Esther Gajek, „Türchen auf! Zur Geschichte des Adventskalenders“,
in Dem Licht entgegen: Winterbräuche zwischen Erntedank und Maria Lichtmess, hg.v. Alois Döring
u. a. (Köln: Greven-Verl., 2010), 179 – 193.
Vgl. a.a.O, 179.
Thomas Mann, Die Buddenbrooks:Verfall einer Familie (1901) (Frankfurt: S. Fischer, 1997), 528.
Die Geschichte des Christkind-Motivs ist verschlungen; vermutlich existierte es schon im
15. Jahrhundert, wurde mit Martin Luther ikonographisch auf evangelischer Seite prägend, bevor
es im 19. Jahrhundert auch in das katholische Weihnachtsbrauchtum einwanderte. Vgl. Matthias
Morgenroth, Weihnachts-Christentum: Moderner Religiosität auf der Spur (Gütersloh: Kaiser/Gü-
tersloher Verl.-Haus, 2002), 200 ff.; Thomas Ludewig (Hg.), Christkind, Weihnachtsmann & Co.
Kulturgeschichtliches zu den weihnachtlichen Gabenbringern (Neuss: Clemens Sels Museum,
2007).
174 Kristian Fechtner
stanzten, nummerierten „Türchen“ durch, hinter denen, wenn sie geöffnet wer-
den, ein Bild sichtbar wird und/oder seit den 1920er Jahren auch ein Stück
Schokolade herausnehmbar ist. Die Bildprogramme der Adventskalender reichen
von christlicher Weihnachtssymbolik (mit Krippe, Engeln, Stern, Christkind etc.)
bis hin zu weltlichen Motiven (z. B. Naturembleme, stilisierte Kindergeschenke);
nicht selten mischen sich beide Stränge und bilden ein Ensemble moderner
Weihnachtsikonographie, das zwischen christlicher Tradition und weihnachtli-
chen Retrobildern changiert. Fast durchweg sind die Deckblätter der Adventska-
lender mit ihren Fachwerkhäusern und verschneiten Winterlandschaften idylli-
sierende Bildwelten und bilden das Substrat einer modernen Gefühlsreligiosität,
die sich auch aus anderen Quellen – man denke an die Weihnachtsmärkte²⁵ oder
die Ausgestaltung der Wohnungen – speist. Heute gesellen sich zu den kom-
merziellen Adventskalendern weitere Spielarten, beispielsweise: selbstgestaltete
Adventskalender, die persönlich adressiert werden; „Lebendige Adventskalen-
der“, bei denen an offenen Fenstern kleine Szenen für die Nachbarschaft arran-
giert werden; der „Andere Advent“²⁶, ein in seiner Bildsprache und mit literarisch-
religiösen Texten anspruchsvoll gestalteter Kalender, der bewusst christlich-spi-
rituelle Akzente setzt. Die neuen Formen transponieren das Prinzip des ge-
wöhnlichen Adventskalenders, indem sie ihn individualisieren, ästhetisieren und
ihn als Kommunikationsmedium inszenieren.
Dabei steht der Adventskalender für eine spezifische Logik im Umgang mit
der Zeit, er vergegenständlicht Zeitbewusstsein in einer besonderen Art und
Weise. Dies gilt in dreifacher Hinsicht:
Erstens wird – darin liegt so etwas wie die „Deutungsmacht“ des Advents-
kalenders – in ihm greifbar, dass die Adventszeit in der Moderne kulturell und
auch religiös immer stärker als Vorweihnachtszeit verstanden wird; die Dezem-
berwochen sind im Vorgriff auf Weihnachten (durch Aufnahme von dessen
Symbolik, durch den Vorgeschmack der Schokolade als Gabe en miniature, durch
eine vorfreudige Gestimmtheit) zu dessen erweiterter Spielfläche geworden.
Spätestens ab dem 1. Dezember und mit dem ersten geöffneten Adventstürchen
„weihnachtet es sehr“. Die moderne Adventszeit wird nicht als Kontrastzeit,
sondern als sich steigerndes weihnachtliches Festivitätsgefühl konzipiert und
erlebt. In theologischer Perspektive gesprochen, verblasst damit die traditionelle
eschatologische Prägung des Adventlichen mit seinen Motiven der Buße in Er-
Vgl. Martin Kumlehn, „Weihnachtsmärkte: Ewigkeitsglanz in grauer Zeit als Inszenierung der
Sehnsucht“, in Valentin, Halloween & Co. Zivilreligiöse Feste in der Gemeindepraxis, hg.v. Thomas
Klie (Leipzig: EVA, 2006), 207– 223.
Vgl. dazu die Studie von Annika Happe, Auf der Suche nach dem „Anderen Advent“?! Gelebte
Religiosität im Weihnachtsfestkreis (Leipzig: EVA, 2015).
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern 175
wartung der Wiederkunft Christi. Leitmotivisch tritt in den Vordergrund, dass das
Christfest mit seinem adventlichen Vorspann – gleichsam protologisch – als er-
innerter Anfang gedeutet wird, mit dem Motiv der Geburt verknüpfen sich Themen
wie Herkunft und Lebensvertrautheit.
Zweitens besteht die „Handlungsmacht“, mithin der gegenständliche Hand-
lungsappell eines traditionellen Adventskalenders, darin, dass er – in einem ge-
wiss sehr schlichten und konventionalisierten Sinne – seinen Gebrauch festlegt:
Jeden Tag ein Türchen aufmachen. In dieser Praxis wird Zeit in der sinnenfälligen
Erfahrung erlebt, dass in der Abfolge der Tage bislang Verborgenes und Unzu-
gängliches geöffnet wird und sich nunmehr offen darbietet.²⁷ Diese Form der
Zeitpraxis korrespondiert mit dem modernen Brauch des Adventskranzes, der im
Grunde auch eine spezifische Form des Kalenders darstellt.²⁸ Dass Sonntag für
Sonntag eine weitere Kerze entzündet wird, entspricht der Logik eines Advents-
kalenders.²⁹ Geöffnete Türen und entzündete Lichter qualifizieren symbolisch Zeit
als Erfahrung je besonderer Zeit(en); sie tun dies im Medium des Kalenders si-
gnifikant: Advent/Weihnachten ist diejenige Zeit, in der es „draußen“ dunkler
wird und die natürlichen Gegebenheiten beschränkter und enger werden, im
„Inneren“ jedoch öffnet sich mehr und mehr etwas und es wird heller. In dieser
Weise wahrgenommen, manifestiert sich im Adventskalender eine implizite
theologia popularis, eine „Spielart des Religiösen, der die vordergründigen
Wirklichkeiten nicht ausreichen“³⁰.
Drittens schließlich, und darin kann man so etwas wie seine „Wirkungs-
macht“ sehen, erzeugt der Adventskalender im Gebrauch eine besondere Haltung
in der Zeit und im Blick auf die Zeit. Als Vorweihnachtszeit ist der Advent für sich
gesehen eine Zeit des Wartens, in welcher der Adventskalender die pädagogische
Funktion übernimmt, sich selbst zu beherrschen, um abwarten zu können. Dies
wird insbesondere dann deutlich, wenn die Disziplinierungsregel, kein Türchen
vorzeitig zu öffnen, verletzt oder ignoriert wird – Robert etwa macht es ganz un-
ruhig, wenn Cora so nonchalant darüber hinweggeht. Die erzieherische Wir-
kungsabsicht ist aber nur die eine Seite. In existentieller Hinsicht nämlich
transformiert der Adventskalender die Empfindung des Wartens in Erwartung,
oder vorsichtiger gesprochen: er versinnbildlicht diese Anverwandlung. Während
Warten eine Geduldsprobe ist, die äußerlich veranlasst ist und die darauf aus ist,
dass eine Zeitspanne lediglich vorübergeht, bringt der Gebrauch vorweihnacht-
licher Kalender eine adventliche Haltung des „In-Erwartung-Seins“ hervor. Der
Adventskalender ist in seiner Gestaltungslogik mehr als Zeitvertreib; vielmehr
bringt er das, was in der Jetztzeit durch das Öffnen einer Tür, durch das Entzünden
eines Lichtes, getan wird und geschieht, inhaltlich mit dem in Verbindung, was
noch aussteht. In religiöser Diktion gesprochen: In der Erwartung wird die Ge-
genwart zur Vorausschau (Tür) und zum Vorschein (Licht) dessen, was erwartet
und gewollt, verlangt und – im Symbol der Geburt des göttlichen Kindes – ver-
heißen ist. Man kann den Adventskalender durchaus auch so lesen, dass er eine
Tiefengrammatik und eine Pragmatik besitzt, durch die ihm ein christlich inter-
pretierbares Zeitbewusstsein eingestiftet ist: Zeit gewinnt ihren Sinn teleologisch,
sie ist – im linear-zyklischen Sinne des Kirchenjahres – wiederkehrende und
zielgerichtete Zeit: Da kommt (noch) was.
Man kann die Rede von der Deutungs-, Handlungs‐ und Wirkungsmacht in
diesem Zusammenhang für überzogen halten. Gewiss, der Adventskalender ist mit
seiner gemeinhin weltlichen Kitsch-Textur und seiner Gestaltungs‐ und Verwen-
dungstrivialität ein kommerzielles Produkt. Aber er gehört zu den Dingen, die
auch über eine explizit christlich-religiöse Gesinnung hinaus als alltagsweltliches
Substrat einer spätmodernen Religiosität gelten können. Als Ausstattungsge-
genstände und durch ihren Gebrauch machen Adventskalender die letzten Wo-
chen eines Jahres zu einer eigen bestimmten Zeit und erzeugen für Zeitgenos-
sinnen und Zeitgenossen ein spezifisches (Vor‐)Festivitätsempfinden. Wie alle
anderen Kalender vergegenständlichen und versinnbildlichen sie Zeit. Dies tun –
so hat der Rundgang ergeben – Heiligenkalender und protestantische Historien-
kalender, Volks‐ und Schreibkalender, Abreiß‐ und Taschenkalender, Bullet
Journals, Pfarramts‐ und Adventskalender auf unterschiedliche Weise. Sie haben
einen je eigenen Sitz im beruflichen, kirchlichen, familiären oder individuellen
Leben und folgen verschiedenen Logiken, in denen sich die pragmatische Nut-
zung des Kalenders und eine symbolische Deutung der Zeit miteinander ver-
knüpfen. Dabei gehören Kalender zur religiösen wie zur säkularen Praxis der
Gegenwart – dass beides in den verschiedenen Gattungen kaum trennscharf zu
Von Taschen-, Wand‐ und Adventskalendern 177
scheiden ist und ineinander liegt, gehört nicht nur zu ihrer Geschichte, sondern
ist womöglich auch ein Signum heute gelebter Religion.
Vgl. Anne Brannys, Eine Enzyklopädie des Zarten (Frankfurt a. M.: Frankfurter Verlagsanstalt,
2017), 7– 10.
A.a.O., 10.
Vgl. ebd.
https://doi.org/10.1515/9783110762853-012
180 Ulrike Wagner-Rau
Wärme überhaupt, sondern auf die eines bestimmten Menschen, der zuvor auf
diesem Polster gesessen hat, aber aktuell nicht mehr dort zu finden ist. Vor einer
Pariser Telefonzelle füllte dieselbe Künstlerin die leichten Vertiefungen im As-
phalt, die durch die Füße der vor der Zelle Wartenden entstanden sind, mit
Wasser aus und macht diese so indirekt sichtbar. „After you“ (2012) nannte sie
dieses Objekt, das durch die beständige Verdunstung des Wassers ein zusätzliches
Moment der Flüchtigkeit mit dem Zeichen vormals Anwesender verbindet.
Auf dem Appellplatz im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald haben
die beiden Künstler Horst Hoheisel und Andreas Knitz mit ihrem „Denkmal an ein
Denkmal“ eine verstörende Spur der Erinnerung an die dort gequälten und er-
mordeten Menschen gelegt.⁴ Die Metallplatte, in die die Nationalitäten der Opfer
eingraviert sind, wird kontinuierlich auf 37 Grad Celsius, die Temperatur des
menschlichen Körpers, erwärmt.Wer sie berührt, erfährt es ganz handgreiflich: Es
war nicht einfach eine Menge ungenannter Menschen aus vielen Nationen, son-
dern hier standen einmal lebende Individuen aus Fleisch und Blut, die um ihr
Leben gebracht wurden. Am 25.1. 2020 sendete der Deutschlandfunk eine „Eine
Lange Nacht über die Habseligkeiten von Auschwitz“.⁵ In der Sendung ging es um
die Tausenden von Gegenständen, die von den ermordeten Menschen auf dem
Gelände zurückblieben und als Zeugnisse des Geschehens aufwändig konserviert
werden.
Die Beispiele zeigen eine Bandbreite von Phänomenen, durch die sich Absenz
materialisiert: Unspektakuläre Erfahrungen des Alltags werden lesbar als Zeichen
der vergehenden Zeit. Sie evozieren Erinnerungen an verlorene oder unterbro-
chene Verbindungen oder vergangene Szenen. Sie geben dem Gedenken an kaum
vorstellbare Verbrechen eine sinnliche Evidenz und damit eine Unterbrechung der
Tendenz zur gefühlsfernen Abstraktion der einzelnen Schicksale in der unvor-
stellbar großen Menge der Opfer.
Die materiellen Zeichen der Absenz verweisen auf Menschen und Ereignisse,
die im gegenwärtigen Raum nicht mehr zu finden sind. Damit erinnern sie selbst
an das ununterbrochene Fortlaufen der Zeit und damit an die Vergänglichkeit
jedes Momentes und jeder Begegnung.
Der Verweis auf Vergangenes entsteht freilich nicht durch das Artefakt an
sich, sondern im Prozess einer Signifikation: Die sinnliche Wahrnehmung der
Materialität verbindet sich mit einer Szene und damit mit einem spezifischen
Deutungszusammenhang. Dass etwas oder jemand fehlt, kann nur wahrnehmen,
wer gewusst hat, dass zuvor jemand oder etwas dagewesen ist. „Die Gegenstände
erinnern zumeist – wenn sie durch ihre Eignerinnen zum Sprechen gebracht
werden – an ein szenisches Geschehen in seiner ganzen Komplexität, einen dicht
gewebten Sinnzusammenhang um einen Ort, eine Zeit, eine Situation oder eine
Person herum […].“⁶ So Inken Mädler in einer empirischen Studie über den Um-
gang von Frauen mit Gegenständen, an denen ihr Herz hängt. Was einmal erlebt
worden ist und sich als bedeutungsvoll eingeprägt hat, kann durch Materielles
präsent gesetzt werden, und zwar, ohne dass man sich dies im Einzelnen bewusst
machen muss.
Das Stichwort des Szenischen, das Mädler verwendet, verweist auf Alfred
Lorenzers Konzept des szenischen Erlebens. Die menschliche Persönlichkeit wird
von Anfang an durch soziale Praktiken geprägt. Die frühen Interaktionen ver-
dichten sich in emotional hoch besetzten Szenen, die in den frühen Lebensjahren
verinnerlicht werden. Sie stellen ganz persönliche, unverwechselbare Erfahrun-
gen dar, die zugleich eingebunden sind in einen spezifischen gesellschaftlichen
und kulturellen Kontext. Wenn die Erinnerung an sie getriggert wird, erwachen
diese Szenen der Vergangenheit zu neuem Leben und prägen damit die Erwar-
tungen, die das gegenwärtige Erleben und Verhalten beeinflussen. Die frühen
Szenen finden zwar im Laufe der Entwicklung eine sprachliche Symbolisierung,
man kann davon erzählen. Aber sie sind – so Lorenzer – im Erleben prinzipiell
umfassender und vieldeutiger als sprachliche Ausdrucksformen: „Das Wechsel-
spiel, aus dem Erinnerungsspuren (Interaktionsformen) hervorgehen, ist ja nichts
anderes als ein Austausch von Gesten, Körperbewegung, sozial geformten, sozial
relevanten Körpervorgängen; es ist ‚Praxis‘. Jede Interaktionsform ist Teil dieser
Praxis und daher weiter, umfassender als die Sprache.“⁷
Wenn uns also vergangene Erlebnisse durch die Begegnung mit Gegenstän-
den, Räumen, Ritualen, Körperempfindungen präsent wird, sind zwei Szenen
daran beteiligt, die sich wechselseitig interpretieren: Eine gegenwärtige Praxis
verbindet sich mit einer vergangenen. Möglicherweise wird diese Verbindung
bewusst und kann in Sprache gefasst werden: Man erzählt davon, was geschehen
ist und wie sich Vergangenheit und Gegenwart berühren. Aber der Vorgang geht in
der sprachlichen Symbolisierung nicht auf; denn diese kann das unmittelbare
Erleben nicht einholen. So wird es auch gesehen in der Theorie der sozialen
Praktiken. Sie fokussiert darauf, dass Bedeutung nicht allein durch Sprache und
Texte entsteht, sondern bereits im Vollzug der Praktiken selbst.⁸ Schon die Be-
gegnung mit Materiellem, die Spuren der Erinnerung wachruft, kreiert so etwas
wie ein praktisches Verstehen, das die Wirklichkeit auf seine Weise erschließt.
In vielen Bereichen des Alltagslebens begegnen uns Absenz und damit Ver-
gänglichkeit in materiellen Repräsentationen: Die Teller in der Spülmaschine sind
Zeugen der vergangenen Mahlzeit, die losen Fädchen am Mantel hielten einmal
einen Knopf, der helle Fleck an der Wand war einst von einem Bild bedeckt.
Vergangenes bleibt nicht zuletzt durch materielle Reste spürbar.
Vgl. Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoreti-
sche Perspektive“, Zeitschrift für Soziologie 32 (2003): 282– 301.
Einen Beitrag zu diesem Thema leistet eine empirische Studie des hier zu Ehrenden: Thorsten
Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler, Der Glanz des Lebens: Aschediamant und Erinne-
rungskörper (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019).
Ehrhard Weiher, „Symbolische Kommunikation in Seelsorge und Spiritual Care“, in Bilder als
Vertrauensbrücken: Die Symbolsprache Sterbender verstehen, hg.v. Simon Peng-Keller (Berlin/
Boston: de Gruyter, 2017), 17– 34, 26.
Ein Abdruck im Sitzkissen 183
Manuel Stetter, „Die Sozialität der Trauer: Erfahrungen des Verlusts in Zeiten der Pandemie“,
WzM 73 (2021): 390 – 402.
Vgl. Dorothea Mecking, Die Toten sitzen mit am Tisch: Verlusterfahrungen von verwaisten Eltern
und ihr Umgang mit dieser Lebenskrise (Göttingen: Lit, 2016).
Vgl. a.a.O., 151.
Ebd.
184 Ulrike Wagner-Rau
gerechnet haben. Möglicherweise ist es für die Trauernden schmerzhaft, wenn ein
anderer Mensch die Verstorbene gewissermaßen von ihrem Platz verdrängt.
Eventuell fühlen sie sich verletzt durch diesen Vorgang. Möglich ist es aber auch,
dass sich mit einer solchen Handlung Momente einer Selbstverständlichkeit der
neuen Lebenssituation konstituieren. Schmerz oder Schuldgefühle, die den
Hinterbliebenen selbst den Umgang mit dem Stuhl erschweren, können dadurch
erträglicher werden. Vielleicht merken die Trauernden im Laufe der Zeit, dass der
Stuhl sich allmählich weniger zwingend mit dem Verlust der Tochter verbindet, er
immer mehr in seine funktionale Bedeutung als Möbelstück zurückgleitet.
In vieler Hinsicht spielt das Umgehen mit Gegenständen eine Rolle im Trau-
erprozess.Wenn die Kleidung der Verstorbenen ausgeräumt und weggegeben, das
Ehebett in ein Einzelbett verwandelt, das ganze Zimmer umgestaltet wird, wenn
die Wohnung leer geräumt, das Haus verkauft werden muss – oder eben dies alles
nicht geschieht, sondern die materielle Umgebung der Toten bewahrt und mu-
sealisiert wird: Beides macht etwas mit den trauernden Menschen, ist nicht ein-
fach Ausdruck ihres psychischen Zustandes, sondern erzeugt und prägt diesen
mit. Sie gehen nicht nur mit Gegenständen und Räumen um, sondern – in Ver-
bindung mit diesen – indirekt mit den Verstorbenen selbst und mit Szenen der
Vergangenheit, die über Artefakte und Räume zugleich ab- und anwesend sind.
Dabei fällt auf, wie unterschiedlich das Umgehen mit der sinnlich erfahrbaren
Repräsentanz der Toten ist: Manche Trauernden meiden lange die Berührung mit
allem, was spürbar die Toten gegenwärtig sein lässt. Sie umgehen die Räume und
Landschaften, in denen sie früher gemeinsam mit den Verlorenen unterwegs
waren. Sie wollen nichts sehen oder berühren, was sie an die Verstorbenen er-
innert – schon gar nicht den Leichnam selbst, der den Tod ganz unmittelbar
kenntlich macht. Andere wieder verhalten sich ganz gegensätzlich, suchen
handgreifliche Berührungspunkte mit den Verstorbenen und gehen – vermittelt
über Gegenstände, Räume, Körperempfindungen – mit der Repräsentanz der
Abwesenden um. Man muss diese unterschiedlichen Handlungsweisen nicht
bewerten.¹⁵ Sie sind individuell dem angepasst, was die Einzelnen für sich als
passend und erträglich imaginieren. Man wird aber wohl sagen dürfen, dass es
einer Stillstellung des Lebens gleichkäme, wenn die eine wie die andere Haltung
sich in einem statischen Zustand verfestigte und damit eine Zwangsstruktur an-
nähme, die dem Prozesscharakter der Trauer widerstrebt. Denn damit würde das
spielerische Tun, in dem die notwendige Umgestaltung des Lebens und seiner
Insgesamt betont die Trauertheorie die Individualität des Trauerprozesses, die sich durch
Phasenmodelle nicht adäquat einfangen lasse und der auch Aufgabenmodelle nur begrenzt ge-
recht werden können. Vgl. Kerstin Lammer, Den Tod begreifen: Neue Wege in der Trauerbegleitung
(Göttingen: Neukirchener Theologie, 62013).
Ein Abdruck im Sitzkissen 185
als ob die Toten überall auf der Welt in der Fotografie ein etwas unheimliches Medium ge-
funden haben, das sie als tot darstellt und gleichzeitig ihre Wiederauferstehung feiert.¹⁶
Heike Behrend, Menschwerdung eines Affen: Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung
(Berlin: Matthes & Seitz, 2020), 245.
Roland Barthes, Die helle Kammer (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985), 92.
A.a.O., 126.
Susan Sontag, „In Platos Höhle“, in Über Fotografie, hg.v. dies (Frankfurt a. M.: Fischer-Ta-
schenbuch-Verl., 1995), 9 – 30, 10.
A.a.O., 22.
Ein Abdruck im Sitzkissen 187
A.a.O.,14 f.
A.a.O., 22.
A.a.O., 20.
A.a.O., 21.
Vgl. Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, Ullstein Buch 318 (Frankfurt/Berlin/Wien:
Ullstein, 1975), 75.
D. Mecking, Die Toten sitzen mit am Tisch, 168.
188 Ulrike Wagner-Rau
Vgl. https://www.evangelisch.de/inhalte/121136/21-04-2015/holzengel-vom-trauergottes
dienst-fuer-flugzeugabsturz-opfer-koeln-koennen-jetzt-bestellt-werden, Lesedatum:13.10. 2021.
Vgl. Ulrike Wagner-Rau, „Angedeuteter Glaube: Kerzen im Kirchenraum“, in Das Christentum
hat ein Darstellungsproblem, hg.v. Tobias Braune-Krickau, Katharina Scholl und Peter Schüz
(Freiburg i.Br.: Herder, 2016), 207– 215.
Ein Abdruck im Sitzkissen 189
Kleinkind die abwesende Elternfigur repräsentieren.²⁹ Das Objekt steht für, aber
ist nicht die geliebte Person. Es vermittelt zwischen dem Wunsch, nicht allein zu
sein und der beängstigenden Realität der Abwesenheit der Eltern. Ähnlich, so
Winnicott, finden auch Erwachsene in vielfältigen kulturellen Manifestationen
Halt und Beruhigung ihrer Ängste, die aus der Differenz zwischen inneren Be-
dürfnissen und den Gegebenheiten der äußeren Realität erwachsen. Im kultu-
rellen Spiel erfinden Menschen – und finden sie zugleich vor – soziale Über-
gangspraktiken, die das Ertragen von Kontingenz ermöglichen. In ihrem
Zusammenhang spielen Artefakte, Körper, Räume eine wesentliche Rolle, die
durch den wissenschaftlichen Diskurs über Materialität neue Bedeutsamkeit er-
halten.
In den öffentlichen Trauergottesdiensten aus Anlass von Katastrophen findet
die materielle Dimension entsprechende Aufmerksamkeit.³⁰ Wichtig sind zum
Beispiel die Kerzen, die für die Toten aufgestellt werden: Zeichen ihrer Abwe-
senheit ebenso wie einer religionsübergreifenden Hoffnung auf ihre Fortexistenz
„im Licht“. Das in den letzten Jahrzehnten auch in der protestantischen Prakti-
schen Theologie und kirchlichen Praxis gewachsene Interesse für die ästhetische
Dimension liturgischen Handelns und die Vielfalt gottesdienstlicher Sprachen³¹
rückt die Bedeutung der Materialität neu in den Blick. In den Gottesdiensten am
Toten- bzw. Ewigkeitssonntag wird das Verlesen der Namen der Verstorbenen in
den meisten Gemeinden mit dem Anzünden einer Kerze begleitet. Diese Praxis
wird auch zunehmend individuell an den Gräbern vollzogen, und zwar nicht nur
in katholisch geprägten Gegenden und nicht nur im November, sondern auch an
anderen Tagen, z. B. am Heiligen Abend. Ebenso findet sich bei vielen Trauer-
feiern eine Tendenz zur Ausweitung von Praktiken, die zu einem Tun der Trauer
einladen. Auch hier werden Kerzen entzündet oder Blumen gebracht. Zuweilen
versammeln sich die Trauernden um den Sarg oder berühren ihn zum Abschied.
Im monatlichen Totengedenken im Erfurter Dom, das von Weihbischof Reinhard
Hauke entwickelt wurde, besteht die Möglichkeit, den Namen der Verstorbenen in
ein „kostbares Buch“ einzuschreiben. „Beim Lesen des Namens wird der Mensch
in den Gedanken lebendig.“ So heißt es auf der entsprechenden Homepage.³²
Ebenso wird man sagen können: Bereits im Schreiben des Namens ist der oder die
Tote repräsentiert. Eingetragen ins „kostbare Buch“ erhält der Name noch einmal
eine besondere Dignität, wird etwas von der Bewahrung der Toten, deren Namen
ins „Buch des Lebens“ eingeschrieben sind, greifbar.³³
Diese kirchlichen liturgischen Vollzüge haben in vielen Fällen ein Pendant im
privaten Raum. Auch dort stellen die Trauernden Kerzen und Blumen auf, be-
rühren hinterlassene Gegenstände, nennen, schreiben und lesen den Namen der
Verstorbenen im sozialen Austausch mit anderen, nicht zuletzt wenn sie Konten
und Verträge auflösen und insgesamt vollziehen, was in einem Trauerfall zu re-
geln ist. Alltägliches und gottesdienstliches Handeln haben im Tun der Trauer
vielfältige Berührungspunkte, gehen in mancher Hinsicht ineinander über.
Eine geschärfte Aufmerksamkeit für die materiellen Spuren der Absenz
scheinen mir im Blick auf Trauerprozesse erhellend zu sein zu sein. Denn diese
Spuren führen in den Zwischenraum von An- und Abwesenheit, in dem konkre-
tistische Antworten auf die Frage nach dem Verbleib der Toten keinen Bestand
haben. Weder sind die Verlorenen völlig verschwunden, noch sind sie da. In
diesem Spannungsfeld lebt das Spiel mit Handlungsformen und Vorstellungs-
welten, die Überzeugungskraft aus ihrer Deutungsoffenheit gewinnen. Man tut
etwas, aber kann nicht genau bestimmen, was eigentlich der reale Kern davon ist.
Etwas Ort- und Zeitloses wird in einer Handlung berührt, aber lässt sich nicht
festhalten. Es wird eine Dimension greifbar, die Tote und Lebende zusammenhält,
aber sie zeigt sich als Abwesenheit, als Leerstelle.
„Er ist nicht hier.“ Auch die christliche Hoffnung beginnt mit einer materi-
ellen Spur der Absenz. Das Grab ist leer, der Leichnam verschwunden. Erst später
kommen die Begegnungen mit dem Auferstandenen, die aber etwas Flüchtiges
behalten, sich nicht festhalten lassen. Der Auferstandene erscheint und ent-
schwindet durch die verschlossenen Türen. Das Brot wird geteilt und gegessen,
aber dann sind die Jünger wieder allein. Die kleinen Szenen konstellieren sich
und lösen sich wieder auf. Sie werden weitererzählt, das ist wichtig, aber das
Erleben selbst wird damit nicht eingeholt.
Das Umgehen mit den materiellen Spuren der Absenz umkreist eine Wirk-
lichkeit, auf die wir unmittelbar keinen Zugriff haben. Diese Spuren wahrzu-
nehmen und sich auf sie einzulassen, verweist auf die Toten ebenso wie auf Gott.
Sie rufen in der Praxis selbst auf, was sprachlich letztlich nicht zu fassen ist. Sie
lassen die Gestorbenen auf ihre Weise lebendig sein, ohne zu leugnen, dass sie
entschwunden sind. Sie machen den Schmerz körperlich spürbar und auch den
Halt und die Hoffnung, die im Prozess der Trauer schließlich den Schmerz be-
grenzen und über ihn hinausführen.
Antje Mickan
Stein und Raum
Ein funerales Kommunikations- und Erinnerungsmedium im
Gebrauch
1 Intro
Bis vor kurzem hatte ich ihn nur mal im Vorübergehen betrachtet und mir gar
nicht vorstellen können, wie sich die Beziehung noch gestalten würde. Nun rede
ich ihn im Geiste schon mit „Joachim“ und „du“ an. Alles begann damit, dass ein
in der Familie weitergegebenes Buch mit erbaulichen Schriften bei mir zu Hause
ankam.¹ Ich schlug es auf und erblickte auf der zweiten Seite, am unteren Rand
einer aufwendigen Kupferstich-Illustration von Johann Georg Bäck² das Porträt
eines mir bekannt vorkommenden Herrn mit modischem Erscheinungsbild wie
aus einem Mantel-und-Degen-Film: Joachim Lütkemann (1608 – 1655), General-
superintendent zu Wolfenbüttel und, wie sich leicht in Erfahrung bringen ließ,
nicht nur ehemals Theologie-Professor der Rostocker Universität, sondern später
auch Abt des Klosters Riddagshausen.³
Es handelt sich um den 1669 erstmals erschienenen Band: Heinrich Müller und Joachim Lüt-
kemann, D. Heinrici Müllers, Theolog. Profess. Senior. und Superintend. zu Rostock, Evangelischer
Hertzens-Spiegel. Oder: Geistreiche Erklärung und Betrachtung der Son- und Fest-täglichen Evan-
gelien, wie auch beygefügten Passions-Predigten, und D. Joachimi Lütkemanns, Superint. Generaliss
zu Wolfenbüttel, Apostolische Aufmunterung zum lebendigen Glauben in Christo Jesu, nach dem Sin
und Anleitung der gewöhnlichen Son- und Fest-täglichen Episteln, nebst einer Vorrede, welche der
sel. D. Martin Luther ehemals vor seine Kirchen-Postil gemachet, und billig von allen, welche Er-
klärungen der Evangelischen Texte mit Nutzen betrachten wollen, sol gelesen werden (Lüneburg:
1790). – H. Müller (1631– 1675) war ein Schüler J. Lütkemanns (s.u., FN 3), Pastor an der Rostocker
St. Marien-Kirche und Theologie-Professor an der Rostocker Universität. Vgl. Christian Deuper,
Theologe, Erbauungsschriftsteller, Hofprediger: Joachim Lütkemann in Rostock und Wolfenbüttel
(Wiesbaden: Harrassowitz, 2013), 127.
Der doppelseitige Kupfertitel des Bandes trägt die Signatur „I. G. Bäck Sculp: Braunsch.: 1721“.
Zum auch unter dem Namen „Beck“ bekannten Künstler vgl. Ludwig Ferdinand Spehr, „Beck,
Johann Georg“, Allgemeine Deutsche Biographie 2 (1875): 215 (online abrufbar unter https://www.
deutsche-biographie.de/pnd122090292.html#adbcontent, Lesedatum: 12.11. 2021).
J. Lütkemann wurde am 15.12.1608 in Demmin/Pommern als Sohn eines Apothekers und
Bürgermeisters geboren. Er studierte in Greifswald und Straßburg, 1639 erfolgte seine Wahl zum
Diakon von St. Jacobi zu Rostock. Ein Jahr später, nach dem Tod von Zacharias Deutsch, erhob
https://doi.org/10.1515/9783110762853-013
194 Antje Mickan
man ihn dort ins Amt des Archediakons und er heirate die Witwe seines Vorgängers. Ab 1643
unterrichtete Lütkemann an der Rostocker Universität Physik und Metaphysik, ab 1646, nachdem
er in Greifswald das theologische Licentiat erworben hatte, auch Theologie. Er wurde Rektor der
Universität und erlangte 1647 in Greifswald den theologischen Doktorgrad. 1649 erhielt eine von
ihm in einer Disputation vertretene christologische Lehraussage die Zensur. Lütkemann ließ sie
dennoch drucken, musste das Land verlassen und erhielt einen Ruf nach Wolfenbüttel. Ab 1651
war er auch Abt von Riddagshausen. Neuordnung nach Ende des Dreißigjährigen Krieges war sein
hauptsächliches Tätigkeitsfeld. Er erarbeitete eine Katechismuslehre, beteiligte sich an der Ver-
fassung einer neuen Schulordnung und Kirchenordnung und blieb ein regentenkritischer Pre-
diger. Lütkemann starb am 18.10.1655. Vgl. überblickend Jill Bepler, „Lütkemann, Joachim“, in
Braunschweigisches Biographisches Lexikon. 8. bis 18. Jahrhundert, hg.v. Rüdiger Jarck u. a.
(Braunschweig: Appelhans, 2006), 465 f.; mit ausführlicher Darstellung des Rostocker Disputs vgl.
Johann Bernhard Krey, Andenken an die hiesigen Gelehrten aus den letzten drei Jahrhunderten:
Zweites Stück: In welchem weiter ausgeführt sind die Lebensumstände von J. Slüter. J. Oldendorp: A.
Burenius. J. Caselius. N. Chyträus. Jac. Bording der Jüng. J. Quinstorp der Aelt. J. Tarnow. J. Lütke-
mann. Th. Großgebauer. H. Müller. J. Fecht (Rostock: 1813), 46 – 50; zum Grab vgl. Tilmann Schmidt,
„Joachim Lütkemann: Geistlicher Berater des Herzogs August des Jüngeren von Braunschweig-
Wolfenbüttel: Seine Grabstätte in Riddagshausen“, Braunschweigische Heimat 62 (2) (1976): 56 – 58
sowie ausführlich Ch. Deuper, Theologe, 31– 117.
Für ihre kundige, umfangreiche Auskunft sei an dieser Stelle Griseldis Knisch, Leiterin des
Zisterziensermuseums Riddagshausen, gedankt.
Neben J. Lütkemanns o.g. Apostolischer Aufmunterung ist von Einfluss gewesen besonders
Joachim Lütkemann, Der Vorschmack göttlicher güte durch Gottes gnade, von Joachimo Lütkemann
vorgetragen (Wolfenbüttel: 1653). – Im Katalog der Rostocker Universitätsbibliothek werden aktual
etliche Werke Lütkemanns als Ablichtungen lizenzfrei digital zur Verfügung gestellt. – Zu Lüt-
kemanns Bedeutung für das evangelische Kirchenlied vgl. Ch. Deuper, Theologe, 134– 139, 144–
154.
Stein und Raum 195
platten-Schriftgravur habe ich mich noch nicht bemühen können,⁶ denn wenn ich
dort bin, hänge ich am steinernen Bild, schaue mir die verwitterte Nase an, seine
hier ernsten Gesichtszüge, die Hände mit ihrer Haltung, die Schleifen-Schuhe mit
Absätzen. Ist gerade keiner da, beginne ich ein Gespräch über den schönen
Garten, zu dem Joachims Fenster gerichtet ist, über seine Ehefrau, wo die wohl
begraben liegen mag,⁷ über die Rostocker Fakultät und den Wolfenbütteler Her-
zog August den Jüngeren, der ihn dankenswerterweise hierher berief, wenig bevor
man ihm in Mecklenburg wegen theologischer Lehraussagen einen Landesver-
weis erteilte:⁸ Joachim Lütkemann vertrat die Ansicht, dass Christus während
seiner drei Tage im Grab kein wahrer Mensch war, denn im Tode trennten sich Leib
und Seele, so dass ein Leichnam kein Mensch sei. Dies gelte auch für den
wahrhaft toten Christus zwischen Kreuzigung und Auferstehung.⁹ Was hätte
dieser Professor und Abt zu Lebzeiten nur davon gehalten, dass über dreieinhalb
Jahrhunderte nach seinem Tod einmal jemand zu seinem Bildnis redete, als wäre
er da? Also lassen wir das Spiel¹⁰ und untersuchen theoretisch, wie es dazu
kommen konnte und ob sich daraus etwas über Funktionsweisen und Sinn von
Grabsteinen erschließen lässt. Zwar ist unter den Grabsteinen die Platte mit le-
bensgroßem Halb-Relief einer verstorbenen Person eindeutig eine besondere,
heute unübliche Ausführung, die auch in früheren Zeiten nur für Wenige infrage
kam.¹¹ Doch gerade an einem derart reichhaltig ausgestatteten Exemplar mit der
Eine Wiedergabe der Inschrift findet sich bei T. Schmidt, „Lütkemann“, 56: „Joachimus Lut-
kemann, theol. doctor, ecclesiarum in ducatu Guelphico superintendens generalissimus, abbas
coenobii Riddageshusani, vir eruditione insignis, candore plenus, zelo admirabilis, natus Dem-
min Pomer. MDCVIII d. XV. decembr., publice voce et scriptis docuit annos XVI, exacto nondum
XLVII vitae anno relictaque optima coniuge et liberis VI superstitibus defunctus MDCLV d. XVI.
octobr. Ossa et sineres tegit h(oc) m(onumentum), quod Dorothea Lewezowen marito dulcissimo
p(osuit).“
„Dorothea Lütkemann geht 1665 nach Rostock zurück, wo sie am 8. Februar 1666 verstirbt.
Heinrich Rudolph Redecker d.Ä. (1625 – 1680) hält im Namen der Universität eine Trauerrede auf
die Witwe des einstigen Kollegen.“ Ch. Deuper, Theologe, 57.
Vgl. J. Bepler, Lütkemann, 466.
Zu den Rostocker christologischen Streitigkeiten und Lütkemanns theologischer Position vgl.
Ch. Deuper, Theologe, 75 – 112, ferner J.B. Krey, Andenken, 47– 49.
Zu einer spieltheoretischen Perspektive auf Möglichkeiten friedhöflicher Praxis vgl. Antje
Mickan, „Deutungsspiel und Sinnsorge im sepulkralen Zeichenraum: Der Friedhof als Identität
signifizierender Ort und Bezugsraum von Seelsorge“, Zeitschrift für Sepulkralkultur: Friedhof und
Denkmal 60 (2/3) (2015): 41– 44.
Zur mittelalterlichen Bestattung in Kirchen vgl. Barbara Happe, Der Tod gehört mir: Die Vielfalt
der heutigen Bestattungskultur und ihre Ursprünge (Berlin: Reimer, 2012), 17– 31. Zur Bestattung in
protestantischen Kirchen bis ins 19. Jahrhundert mit exemplarischer Untersuchung der Rostocker
Marienkirche vgl. Kristin Skottki, Denn die Toten sind unvergessen: Zu den Grabmälern der Ma-
196 Antje Mickan
Abb. 1: Porträt von J. Lütkemann, Ausschnitt aus Kupfertitel von I.G. Bäck (Braunschweig:
1721), in: H. Müller u. J. Lütkemann, Herztens-Spiegel u. Aufmunterung
rienkirche in Rostock (Rostock: Universität Rostock, 2010). Zur plastischen Gestaltung vgl. Sylvina
Zander, „Das figürliche Grabmal vom Barock bis zum Zweiten Weltkrieg“, in Grabkultur in
Deutschland, hg.v. Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Museum für Sepulkralkultur
(Berlin: Reimer, 2009), 67– 93, hier 68 – 71.
Wenn es um Fragen der Artefaktanalyse geht, folgt dieser Beitrag soweit möglich Manfred
Lueger und Ulrike Froschauer, Artefaktanalyse: Grundlagen und Verfahren (Wiesbaden: Springer
VS, 2018). Eine gehaltvollen Forschungsüberblick zum (religions‐)soziologischen Materialitäts-
diskus bieten Uta Karstein und Thomas Schmidt-Lux, „Die materiale Seite des Religiösen: So-
ziologische Perspektiven und Ausblicke,“ in Architekturen und Artefakte: Zur Materialität des
Religiösen, hg.v. dies. (Wiesbaden: Springer VS, 2017), 3 – 22.
Stein und Raum 197
jektiven Perspektive¹³ von diesem Artefakt ausgehen, sowie danach, welche Ge-
brauchsbedingungen und Sinngebungen durch den Grabort vorstrukturiert wer-
den.
Die Einhaltung eines reflexiven Abstands, Selbstbeobachtung und Begründung der gebilde-
ten Hypothesen sind die hierzu eingesetzten Mittel. Dass ein deutliches Maß an Subjektivität
dennoch bleibt, sei angemerkt. Zu dieser Problematik qualitativer Sozialforschung vgl. z. B. Aglaja
Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung: Ein Arbeitsbuch (München:
Oldenbourg Verlag, 42014), 26 – 28.
Stein und Raum 199
Vgl. Torsten Cress, Sakrotope: Studien zur materiellen Dimension religiöser Praktiken (Bielefeld:
Transcript, 2019).
Vgl. Matthias D. Wüthrich, Raum Gottes: Ein systematisch-theologischer Versuch, Raum zu
denken (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015), 76, 84, 439. Zum relational gedachten Raum
in Abgrenzung zu Raumvorstellungen, die einem Container-Modell folgen vgl. Ebd., 34– 36, 45 f.
sowie zu einer Abgrenzung absolutistischer und relativistischer Raumvorstellungen voneinander
vgl. Martina Löw, Raumsoziologie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001), 24– 35.
Spacing und Syntheseleistung sind die von M. Löw herausgearbeiteten, zu differenzierenden
raumkonstitutiven Prozesse einerseits der (An)Ordnung, andererseits der subjektiven Wahrneh-
mung, Deutung, Konstruktion, vgl. M. Löw, Raumsoziologie, 158 – 161.
200 Antje Mickan
die Raumsynthese der Akteurin als ausschlaggebend für ihr Praktizieren. Mit dem
Buch und Porträt, der Grabstelle, deren Umgebung und dem Spazierweg dorthin
als wesentlichen Elementen synthetisiert sie einen Raum, der insgesamt für einen
spezifischen Erzählzusammenhang steht und in dem sie agieren kann. Speziell
seit der erfolgreichen Grabpatten-Wiederentdeckung ist dieser Raum mit positiven
Emotionen verbunden, welche die Erinnerungen färben. Durch die vorgenom-
mene Verknüpfung bilden die Raumeinrichtungselemente in der Wahrnehmung
der Akteurin Erinnerungsmedien füreinander. Das Sehen des Buches mit Lütke-
manns „Aufmunterungen“ zu Hause auf dem Tisch löst also ein mentales Bild der
Grabstelle aus, die über einen schönen Spazierweg leicht zu erreichen ist. Die
wiederum hat durch ihre originale Relation zu Lütkemann in diesem Raum eine
herausragende Bedeutung und soll nun näher vorgestellt werden.
Das linke ist ein Abtswappen, das rechte ein persönliches Wappen.Vgl. Ch. Deuper, Theologe,
57.
Es handelt sich um das Grab von Abt Johann Schoppensius (Schoppe). Die Identität der be-
statteten Person des linken Grabes in der Kapelle ist der Verfasserin aktual nicht bekannt.
Zur Geschichte der Klosterkirche vgl. Hans Pfeifer, Das Kloster Riddagshausen bei Braun-
schweig (Wolfenbüttel: 1896), 5 – 26 (online abrufbar unter https://doi.org/10.24355/dbbs.084-
200806270200-0, Lesedatum: 26.10. 2021), ferner Ev.-luth. Kirchengemeinde Riddagshausen-
Gliesmarode: „Geschichte“ (online abrufbar unter https://www.klosterkirche-riddagshausen.de/
geschichte, Lesedatum: 26.10. 2021), zur Baugeschichte vgl. Harmen H. Thies, „Die Zisterzienser-
Klosterkirche Riddagshausen: Zu Einzelheiten ihres Aufbaus“, in Jahrbuch 2016: Sonderdruck,
hg.v. Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft (Braunschweig: J.Cramer Verlag, 2017),
115 – 137 (online abrufbar unter https://publikationsserver.tu-braunschweig.de/servlets/MCRFile
NodeServlet/dbbs_derivate_00043745/13bThies_Zisterzienser-Klosterkirche-Riddagshausen.pdf,
Lesedatum: 26.10. 2021).
Ein Zisterziensermuseum befindet sich heute im ehemaligen Torhaus des Klostergeländes.
Vgl. Riddagshausen: Naturschutz und Bürgerschaft e.V.: „Zisterziensermuseum“ (online abrufbar
unter https://www.riddagshausen.net/riddagshausen/sehensw%C3%BCrdigkeiten/zisterzienser
museum/, Lesedatum: 16.11. 2021).
Die Kirche ist als Ort für Taufen und Trauungen sehr beliebt und es finden sich auf der Website
zur Klosterkirche Riddagshausen eigens dafür Informationssparten. Vgl. Ev.-luth. Kirchenge-
meinde Riddagshausen-Gliesmarode, „Home“ (online abrufbar unter https://www.klosterkirche-
riddagshausen.de/home, Lesedatum: 26.10. 2021).
202 Antje Mickan
Obst- und Gemüseanbau umgeben, der im Osten von der alten Klostermauer be-
grenzt ist und zum Verweilen einlädt. Die Artefakte, die an diesem Ort begegnen,
zeugen von verschiedenen Jahrhunderten und sind zugleich Teil einer aktiv ge-
stalteten (Religions)Kultur der Gegenwart, deren Horizont durch sie gleichsam
eine material-greifbare Erweiterung in Richtung Vergangenheit erfährt.²⁶ Bei ei-
nem Rundgang durch die Kirche zeigt sich so auch Lütkemanns Grabmal als
Verkörperung der über Jahrhunderte fortgesetzten Bedeutung des Ortes und der
hier situierten religionskulturellen Praxis. Seine Gestalt ist im Hier und Jetzt zu
erfahren.²⁷ Sie vermittelt den Eindruck eines gelehrten protestantischen Geistli-
chen mit Macht über das Geschehen in der zum Ort gehörenden Gemeinschaft,²⁸
hebt sich in ihrer Randlage dezent aus dem Ensemble der inneren Kirchenar-
chitektur hervor und steht dabei zur dieser doch in gewisser Spannung. Denn die
Form des Gemäuers folgt Leitgedanken der Zisterzienser sowie einem Bedarf
mönchischer Praktiken,²⁹ die durch das aus dem Boden hervorgehobene Artefakt
gestört wäre.³⁰ Der reformatorische Traditionsbruch und die Machtübernahme
evangelischer Theologie spiegeln sich also auch in diesem Kirchengrab wider.³¹
Andererseits werden die Kapellen im östlichen Chorumgang heute durch den 1735
gestifteten Hochaltar³² vom Kirchenhauptschiff großflächig abgeschirmt, so dass
auch die Grabplatte Lütkemanns in einen Schattenbereich geraten ist, dessen
vorübergehende Nutzung als Abstellraum immerhin Plausibilität besitzt. Dagegen
war der aus Elmkalkstein gefertigte Taufstein im westlichen Hauptschiff der Kir-
che mit seinem reich verzierten Gitter und Baldachin aus Lindenholz ebenso wie
Die Klosterkirche wurde entsprechend in den Pool der sogenannten ZeitOrte aufgenommen.
Vgl. TourismusRegion BraunschweigerLAND e.V.: „Klosterkirche u. Zisterziensermuseum Rid-
dagshausen“ (online abrufbar unter https://zeitorte.de/entdecken/mittelalter-renaissance/kloster
kirche-u-zisterziensermuseum-riddagshausen/, Lesedatum: 16.11. 2021).
Zur Bedeutung der Präsenz des Ausdrucks bei bildlichen Erinnerungsmedien vgl. Antje
Mickan: „Sterblichkeit und Lebensfluss“, in Wunderkammern des Lebens: Das Kolumbarium DIE
EICHE wird zum Erinnerungsort für eine neue Abschiedskultur, hg.v. Michael Angern und Thomas
Klie (Lübeck: 2020), 52– 61, hier 57 f.
Nachweislich hat Lütkemann an der Reorganisation des Kirchenwesens nach Ende des
Dreißigjährigen Krieges teilgehabt (vgl. Ch. Deuper, Theologe, 239 – 314), was indirekt eine Er-
möglichungsbedingung auch der Evangelischen Kirche von heute darstellt.
Die Kapellen dienten den Mönchen als Rückzugsorten, an denen sie nach dem Gottesdienst
ihren Oberkörper entblößen und eine Selbstgeißelung vornehmen konnten. Vgl. H. Pfeifer,
Klosterkirche, 41.
Zu architektonischen Leitlinien vgl. H.H. Thies, Zisterzienser-Klosterkirche.
Gleiches gilt für die Grabplatte von Abt Petrus Wiendruwe (Weintraube) in der benachbarten
Kapelle. – Das Kloster wurde unter Abt Lorbeer 1568 evangelisch und nach dem Dreißigjährigen
Krieg säkularisiert. Vgl. H. Pfeifer, Klosterkirche, 19 f., 25.
Vgl. Ebd., 60.
Stein und Raum 203
die kunstvolle Kanzel, deren Fuß die Figur des Mose mit Gesetzestafeln bildet und
dessen Schalldeckel der auferstandene Christus krönt, schon zu Lütkemanns
Lebzeiten Teil der Kircheneinrichtung.³³ Er wird diese Artefakte also mit großer
Sicherheit in Gebrauch genommen haben. Beispielsweise im Zusammenhang mit
einer Kirchenführung bzw. kirchenpädagogischen Arbeit könnte auch auf diesen
Umstand hingewiesen und so den Raumsynthesen der Besucherinnen und Be-
sucher eine weitere Möglichkeit hinzugefügt werden.
Fragt man sich, welche Wirklichkeit durch die Grabplastik an diesem Ort zur
Aufführung kommt, so tritt zuerst der Abt selbst auf die imaginierte Bühne, tut
dies allerdings in Liegeposition. Es scheint, dass er sich in der Kapelle zur Ruhe
begeben hat und nun – zusammen mit den in seiner Nähe bestatteten Kollegen –
mit etwas Abstand Anteil am Geschehen an seiner ehemaligen Wirkungsstätte
nimmt. Doch, gerade wenn die Morgensonne durch das Kapellenfenster auf das
steinerne Haupt fällt, spannt sich zeichenhaft eine Relation zwischen himmli-
schem und irdischem Sein auf und aktiviert bei der Betrachtung Überlegungen
zur transzendenten Existenz des Abgebildeten bei Gott. Die Grabplatte erscheint
dann stärker als ein Erinnerungsmedium, das durch seine Inschrift eindeutig auf
eine verstorbene Person verweist. Die aber ist für die Betrachterin eben stärker
bildlich und mit Gesichtszügen präsent, erscheint also als ein „Ich“, das die
korrespondierende Anrede mit „du“ provoziert.³⁴ Das Artefakt überliefert uns
heutigen Menschen eine Mitteilung – auch wenn uns keine besonderen religi-
onskulturellen Codes etwa über Kleidung, Wappen oder Bedeutung der Inschrift
bekannt sein sollten – wenigstens der schlichten Art wie: „Ich war da, wo du jetzt
bist. Bedenke deine Sterblichkeit.“ Im Grabzeichen kommen Vergangenheit und
Präsenz zusammen zum Ausdruck. Die Altersspuren am Artefakt können eine
reflexive Distanz bei der Wahrnehmung verstärken. Neben dadurch hervorgeru-
fenen Fragen zum Umgang mit diesem historischen Zeugnis – zum Beispiel da-
nach, ob Anfassen erlaubt ist – geben sie Anlass zu einem vergleichenden
Nachdenken über die Welt des Ichs „Joachim Lütkemann“ in einer durch den
Dreißigjährigen Krieg geprägten Zeit und der gegenwärtigen Wirklichkeit. Au-
ßerdem zeigt sich die Bedeutung der Grabplatte als ein Bindeglied zwischen den
Zeiten und Welten, das in christlicher, durch den Ort repräsentierter Deutung auf
die Gemeinschaft von Lebenden und Toten hinweist.
Was bei der Betrachtung der Grabplatte im Einzelfall tatsächlich anspricht, ist
wie jede Raumsynthese und jedes Aufführungserlebnis von den subjektiven Er-
innerungen, Sichtweisen und Prägungen abhängig.³⁵ Wer etwa eine Aversion
gegen Amtsträger besitzt wird sich beim Erblicken des steinernen Talars vielleicht
gleich wieder abwenden und das Bildnis so nicht zur Sprache kommen lassen.
Ganz anders könnte das mit einer Vielzahl von Knöpfen dargestellte Untergewand
bei an Pastoralmode Interessierten eine faszinierende Wirkung hervorrufen.³⁶ Die
Akteurin des obigen Fallbeispiels bringt nun bereits ein Ensemble an Gedanken,
Erinnerungen und Fragen mit Anschluss zu einer Bedeutungseinheit „Joachim
Lütkemann“ mit zum Grabmal. Hier zeigt sich die von Thorsten Benkel heraus-
gearbeitete Funktion des Grabes als zweitem Körper der Verstorbenen in ganz
eigener Darstellung.³⁷ Die Grabplatte mit Lütkemanns plastischer Gestalt wird von
der Akteurin als ein solcher zweiter Körper angesprochen und in Gebrauch ge-
nommen. Die Situierung in der Klosterkirche ermöglicht einen freien Zugang wie
auch Momente der Ungestörtheit. So kann sich in spielerischer Weise und Wirk-
lichkeit für die Grabbesucherin ein Gespräch entfalten, in dem sie dem Objekt
etwas erzählt oder Fragen stellt. Entdeckt sie beim gleichzeitigen Betrachten des
alten Bildnisses Einzelheiten neu, könnte dies als Resonanz des Gegenübers ge-
deutet werden. Die Akteurin mag sich dabei vergegenwärtigen, dass sie Themen
und Orte mit jemandem teilt, der genau hier vor Jahrhunderten lebte, und sich
dabei in einem sozialen Kontinuum verortet sehen. Hier in der Klosterkirchen-
kapelle mit dem Fenster zum schönen Garten vermittelt diese spielerische Praktik
eine andere Form von Gegenwärtigkeit, von ernster Wirklichkeit als es beim Ge-
brauch einer alten Ausgabe mit Schriften Lütkemanns oder mit einem Porträt für
ähnliche Kommunikation möglich wäre. Die fokussierte Akteurin befindet sich
jenseits von Trauer. Sie betreibt aber, wie es für Trauernde von Bedeutung ist, eine
identitätsbezogene Praktik. Sie entdeckt Gemeinsamkeiten und Anschlussmög-
Abb. 4: Blick von Westen auf den Waldfriedhof Hanerau. Foto: Antje Mickan
gräber vorhanden, alle mit einem liegenden Grabmal gleicher Größe aus Sand-
stein oder Marmor, auf dem in stilvoll geschwungener Kursivschrift Name, Le-
bensdaten mit Ortsangaben, teils die Profession und oft eine Bibelversangabe
eingraviert sind. Alle Gräber liegen so in Ost-West-Richtung, dass die Morgen-
sonne auf die meist leicht angekippten Steine fällt. Sie wirken daher wie Kopf-
kissen der nach Osten blickenden Verstorbenen. An den „Kopfenden“ stehen
Lebensbäume, die alle auf etwa die gleiche Höhe (ca. 1,5 m) gestutzt wurden. Die
Gräber sind fast durchweg grün bewachsen und an den „Fußenden“ sind – beim
Besuch Ende Oktober – vor allem Heidekräuter oder Begonien gepflanzt. Die
schmalen Wege zwischen den Gräbern erscheinen frisch geharkt. Am Westzugang
des Friedhofes fällt ein grünes Holztor auf. Es trägt von dieser Seite aus gesehen
die auf pietistische Frömmigkeit hindeutende Aufschrift „Selig sind, die in dem
Herrn sterben. Sie ruhen von ihrer Arbeit“. Von Westen kommend ist zu lesen:
„Trachtet nach dem, was droben ist“.³⁹ Fünf Kreuze weisen oben auf dem Tor in
diese Richtung. Die Gleichheit der Menschen im Tode, die der Theologe, Guts-
Der Wortlaut wurde original vom Gottesacker der Brüderngemeinde in Herrnhut übernom-
men. Vgl. zu Herrnhut Barbara Leisner: „Grabmalreform im 19. Jahrhundert“, in Grabkultur in
Deutschland, hg.v. Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Museum für Sepulkralkultur
(Berlin: Reimer, 2009), 95 – 125, hier 96 f.
Stein und Raum 207
Vgl. Eckart Niemöller, „Johann Wilhelm Mannhardt: Ein Theologe gründet ein Dorf“,
Rendsburger Jahrbuch 61 (2011): 163 – 179. Ein Wikipedia-Artikel über J.W. Mannhardt bietet im
Wesentlichen eine Zusammenfassung dieses Beitrags.
Vgl. E. Niemöller, Mannhardt, 170.
Die Vorschrift ist als Informationstafel vor Ort veröffentlicht. Der Waldfriedhof wird von den
Erbbesitzern des Gutes Hanerau, heute R.-M. u. Ch. Niemöller, verwaltet. Vgl. zum heutigen
Gutsbetrieb und seinen Anlagen Familie Niemöller, „Gut Hanerau“ (online abrufbar unter http://
www.gut-hanerau.de/, Lesedatum: 12.11. 2021).
Der Friedhof ist in sechs Felder unterteilt, wobei sich links vom Mittelgang untereinander die
Felder für verheiratete Männer, Männer und Kinder befinden und rechts die entsprechend auf-
geteilten die der Frauen. Die Gräber der Ehepartner sind spiegelbildlich angeordnet. Die Liegezeit
beträgt 30 Jahre und ist verlängerbar.
Auf Anfrage können auch ortsfremde, nicht verwandte Verstorbene bestattet werden.
Auch J. Lütkemann sprach in einer Predigt zum 25. Sonntag nach Trinitatis mit 1 Thess
4,13 – 18 vom „entschlafen“ der Gläubigen, während Christus wahrhaft starb und auferstand. Vgl.
H. Müller und J. Lütkemann, Hertzens-Spiegel u. Aufmunterung (1296). – Zu heutigen Vorstellung
des Todes als Schlaf vgl. exemplarisch Antje Mickan, „… wenn ich irgendwo so ’n Steinchen da hätte
mit Namen“: Bestattungswünsche älterer Menschen (Berlin: LIT, 2015), 116 – 118, 120.
208 Antje Mickan
zeichen sind an der aus Felssteinen gesetzten niedrigen Mauer rechts (Frauen)
und links (Männer) vom Friedhofstor aufgestellt. Sie bilden so eine Art Ahnen-
galerie, die sich jedoch nicht über die Nachfahren erhebt, sondern zeichenhaft
das unten an den Seiten des Himmelstores wachsende Band der Wartenden
verkörpert. Wilhelm Mannhardts Stein aber wurde aufgearbeitet und am Grab
belassen. Wie bei einer Internetrecherche zu ermitteln ist, machte er sich be-
sonders dadurch verdient, dass er mit dem Anlegen einer Landesbaumschule,
also Begründung eines Waldes südlich von Hanerau dem in der Region lange
betriebenen Raubbau entgegenwirkte.⁴⁶. Bereits seinem Vater Johann Wilhelm
Mannhardt ging es um einen sozialen Einsatz der Begüterten für die Menschen vor
Ort.⁴⁷ In einer Zeit, wo andere Adelige und Landbesitzer den eigenen Wald als
abgegrenzten Bestattungsort entdeckten, um sich dort Grabmonumente zu er-
Vgl. Hans-Jürgen Kühl, „Wald als Lebenswerk von vier Generationen“, Schleswig-Holsteinische
Landeszeitung (2010) (online abrufbar unter https://www.shz.de/lokales/landeszeitung/wald-als-
lebenswerk-von-vier-generationen-id2162666.html, Lesedatum: 12.11. 2021).
Neben Aufforstungen machte J.W. Mannhardt sich durch ein breites soziales Engagement
verdient, wobei er finanziell von seinem Schwiegervater Hinrich III. van Smissen unterstützt
wurde. Vgl. E. Niemöller, Mannhardt, 175 – 177.
Stein und Raum 209
Die Ruhefrist für Urnengräber Erwachsener beträgt laut § 10 der betr. Friedhofsordnung
20 Jahre mit anschließender Möglichkeit der Verlängerung.
Vgl. G. Schmied, Friedhofsgespräche, 72.
Stein und Raum 211
1 Die Prothese
Der Dirigierstab, etwas funktionalistischer auch als Taktstock bezeichnet, ist ein
eigenwilliges Ding. Im englischen Sprachraum heißt er baton, was namensgleich
auch den Schlagstock eines Schutzmannes bezeichnet. Der Zusammenhang ist
nicht nur ein äußerlicher: Seine Reputation als Insignie eines Führungsanspruchs
und damit der Dominanz über ein untergeordnetes Kollektiv macht den Diri-
gierstab zur normativen Apparatur. Zugleich ist er aus der Gruppe der musikali-
schen Instrumente ausgeschlossen, denen gegenüber er sich in einer dialekti-
schen Zwickmühle befindet. Jenen haftet ein Wert an sich – soziologisch
gesprochen: kulturelles Kapital – an, derweil der Taktstock immerzu mit der Re-
putation assoziiert ist, ‚lediglich‘ ein Werkzeug derer zu sein, die ihn zu nutzen
wissen und ihn damit erst in das transformieren, was er als passives Ding nicht zu
sein mag. Im Vorgang seiner Verwendung, wenn man so über seine Funktion
https://doi.org/10.1515/9783110762853-014
214 Thorsten Benkel
Cäcilie Blume, Populäre Musik bei Bestattungen: Eine empirische Studie zur Bestattung als
Übergangsritual (Stuttgart: Kohlhammer, 2014).
Stille Klänge 215
irgendwie auch das ‚Wesen‘ des zu erzeugenden Musikstücks anzeigen. Es ist vor
allem der Körper, der diese Evokationsarbeit leistet; durch den Dirigierstab wird
die Leistung lediglich verstärkt und verdeutlicht. Da sich das Utensil von eben
diesem Körper mühelos trennen lässt, kann es sinnbildlich für eine Aufgabe
einstehen, die es nicht selbst erbringt, die zu unterstützen aber seine einzige
Daseinsberechtigung ist.
Im Sinne der Theorie Helmuth Plessners, jenes in Zoologie wie Philosophie
geschulten und dann zur Soziologie abgebogenen Exponenten anthropologischer
Nachforschungen am Wesen der Lebendigkeit – was eine Abgrenzung zum
Dinglichen zwangsläufig erfordert –,² dient eine Prothese der Transzendierung
der menschlichen Körperausstattung. Ohne jene segensreiche Determination, die
Tieren zukommt, steht der Mensch als Mängelwesen da: Ihm fehlen umgrenzte
Lebensräume, vorgegebene Lebensführungsmuster, eingeschränkte Zeitab-
schnitte der Paarung und viele weitere Leitlinien, die Komplexität reduzieren, weil
sie Möglichkeiten negieren und Spielräume beschneiden. Die Sinnlücke wird
durch künstliche Erzeugnisse kompensiert, zu denen nicht lediglich manuelle
Anfertigungen gehören, sondern auch Erzeugnisse der Kultur wie die Musik, die
Mathematik, die Religion.
So wie die Geometrie das Ergebnis einer zaghaften, über Jahrtausende ver-
laufenden Koordination von Auge und Hand ist, ist die Musik das Ergebnis ab-
sichtsloser, aber eben doch evozierter Beziehungsverflechtungen zwischen Ohr
und Stimme. Sie entstammt also dem Körper, genauer der körperlichen Ausstat-
tung des beseelten Leibes, hinter bzw. in dem ein Geist wirkt, dem sie seither in
allmählicher Ausdifferenzierung hin zur Musik eine geradezu metaphysische
Freude verleiht, die sich in Worte nicht so recht fassen lässt. Ziel und Zweck der
Künste, und allemal der musischen Variante, sind vielleicht dann am besten er-
forscht, wenn über sie nicht näher nachgedacht wird. Ästhetische Abhandlungen
verhalten sich zur Realität der Töne nämlich so wie die Schwangerschaftsverhü-
tungsanleitung zum Geschlechtsakt – man lernt etwas daraus, aber sicherlich
nichts, was das Vergnügen mehrt.
Prothesen transzendieren die körperlichen Einschränkungen, die die Biologie
dem Menschen auferlegt. Der Erfindungsreichtum, sich die vorhandene Welt
materiell so anzueignen, dass Substanzen und Gebilde umgeformt werden kön-
nen zu Verlängerungen der Sinnesausstattung, gilt folglich als Zivilisationsindi-
kator. Bestimmte Affenarten oder zum Beispiel auch Tintenfische, denen es ge-
lingt, Hindernisse auf dem Weg zur Bedürfnisbefriedigung unter Zuhilfenahme
und Umfunktionierung von Gegenständen aus dem Weg zu räumen, beweisen im
Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (Berlin: de Gruyter, 31975).
216 Thorsten Benkel
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Unter-
suchungen, Bd. 1, Wandlungen des Verhaltens in den westlichen Oberschichten des Abendlandes
(Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993), 236.
Stille Klänge 217
sie existierten, darüber übereingekommen wären, dass es sich mit und in der
Gesellschaft wohl angenehmer lebe. Wie aber hat man sich den sozialen Um-
schlagplatz vorzustellen, der aktiv praktiziert, was sukzessiv erst noch entwickelt
wird?
In diesem Sinne hält Elias fest, dass nicht wenige kreative Entwicklungen im
Kanon jener Errungenschaft, die als gesellschaftsverändernd, als anschlussfähig,
als vorbildlich, als schulbildend, schlichtweg als modern galten und noch immer
gelten, sich sozusagen aus den Lebensweisen der Menschen herausgeschält ha-
ben. Dazu gehört, auch wenn dies nicht Elias‘ Thema ist (zumindest nicht an
zentraler Stelle),⁴ gewiss auch die Musik. Die Genealogie ihrer Organisationsfor-
men und Institutionalisierungen darf an dieser Stelle weitgehend vernachlässigt
werden. Entscheidend ist – um auf die buchstäblichen Zuspitzungen des Diri-
gierstabes zu kommen –, dass ein Anstieg der Komplexität, selbst wiederum
(zumindest im Geiste der Luhmann’schen Systemtheorie) ein evolutionäres
Prinzip, das aus dem Zusammenleben ‚psychischer Systeme‘ als nicht-intentional
verfolgbarer Emergenzeffekt geboren wird, die Entstehung des Stäbchens be-
günstigt hat. Oder anders formuliert: In dem Augenblick, da die Erzeugung ge-
ordneter Wohlklänge als Phänomen der Mehrstimmigkeit festgeschrieben und der
vokale Sound allmählich durch Instrumentalbeigaben unterstützt wurde, zeich-
nete sich die Notwendigkeit einer ordnungsgebenden Instanz ab, die zunächst als
primus inter pares und später von einer beteiligt-unbeteiligten Meta-Position aus
im Sinne ästhetischer Politik zu steuern hatte, wann, wie und wie lange sich Töne
miteinander verbinden. Der Dirigierstab ist, so betrachtet, also ein Werkzeug zur
Regulierung sozialer Uneinheitlichkeit.
2 Das Ensemble
Je komplexer das Ensemble der Musizierenden, desto notwendiger wurde es im
Laufe der Zeit, der stummen Autorität der Noten (die sich aus der Tradition der
Neumen entwickelt hatten) eine Art Verwaltungsposition anheim zu stellen. Diese
stellt ein interessantes Scharnier dar, insofern sie die performativen Handlungen
der anwesenden Musizierenden im Zeichen einer abwesenden Instanz koordi-
niert, die (fast immer) als hintergründige Macht einzig durch schriftartige Zeichen
vertreten ist. Der Komponist (damals eine ausschließlich männliche und außer-
dem recht verrufene, weil künstlerische Profession) braucht sich nicht damit
Siehe aber Norbert Elias, Mozart: Zur Soziologie eines Genies (Frankfurt am Main: Suhrkamp,
1991).
218 Thorsten Benkel
Klaus Hock und Thomas Klie (Hg.), Bachzitate: Widerhall und Spiegelung (Bielefeld: Transcript,
2021).
Alfred Schütz: „Gemeinsam musizieren: Eine Studie sozialer Beziehungen“, in ders., Werk-
ausgabe, Bd. 7: Schriften zur Musik (Konstanz: UVK, 2016), 149 – 169.
220 Thorsten Benkel
des Taktstocks gegolten haben, dass bei einem dieser Konzerte, die im Wesent-
lichen Tanzveranstaltungen für den Adel waren, der französische Komponist
Jean-Baptist Lully sich den Stab in die große Zehe rammte und an einer Wund-
entzündung starb.
Mit der Vergrößerung der Orchester betrat der explizite dirigierende, d. h.
leitende, steuernde, machtvolle musikalische Herrscher die Bühne, der seine
interpretatorischen Einfälle deutlich sichtbar, ja geradezu in inszenatorischer
Manier verkörperte. Berlioz entsprach diesem Typus, ebenso Felix Mendelssohn
Bartholdy. Sie agierten für eine historisch kurze Zeitspanne als handgreifliche
Sachverwalter ihres ästhetischen Selbst, bis sie schließlich durch die hauptbe-
ruflichen Orchesterleiter zwar nicht ersetzt, aber doch umfangreich ergänzt
wurden. Die Orchester wuchsen zu stark an und die interne Zusammenarbeit des
Ensembles verlangte bisweilen zu viel didaktisches Geschick, als dass die prin-
zipiell laienhaft und aus dem Bauch heraus agierenden Tonschöpfer und diri-
gierenden Dilettanten der Angelegenheit gewachsen waren. Hinzu kommen die
politischen, wirtschaftlichen und auch psychologischen Transformationen jener
Zeit, in der sich die alte Welt Europa in nationalstaatliche Kulturbereiche auf-
spaltete, was sich in der Ausbildung eigenwilliger musikalischer Traditionen
niederschlug. Mit einem Mal war Musik „deutsch“, „französisch“, „italienisch“
oder „russisch“. (Nicht aber „englisch“ – denn die britische Insel galt damals, wie
in chauvinistischer Sicht deutsche Feuilletons oft unterstrichen, als „Land ohne
Musik“.) In dieser Zeit der Umbrüche und Neuaufstellungen entstanden die ersten
Taktstöcke – und es entstand der Berufstypus des selbstbewussten Musikers, der
um seine Kompetenzen bei der Koordination von Körper, Instrument und Per-
formanzwissen weiß⁷ und der daher nicht immer glücklich mit besserwisseri-
schen externen Signalen ist.
Die Nostalgischen unter den Musikliebhabern der Gegenwart lassen
manchmal, dann etwa, wenn eine Aufführung besonders ergreifend war, die
Äußerung fallen, dass sie zu gerne einmal gehört hätten, wie der Komponist selbst
das Werk interpretiert hätte bzw. hat. Bekannt ist heute, dass aufgrund ver-
schiedener kultureller, aber auch technischer Facetten (die etwa das Verständnis
von Geschwindigkeitsangaben betreffen, welches das Metronom nur bedingt zu
vereinheitlichen wusste), Musik – und insbesondere Orchestermusik – früher
wesentlich schneller gespielt wurde. Anhand frühester Tonaufnahmen, die seit
dem Beginn des 20. Jahrhunderts in größerem Umfang entstanden sind, lässt sich
dieser bemerkenswerte Befund hier und da verifizieren. Dies spricht Bände über
die Übersentimentalität heutiger Aufführungspraxen. Und es zeigt, dass Musik-
kultur keine Frage der devoten Unterwerfung unter bedrucktes Papier ist. Viel-
mehr wird in der Formung und Gestaltung durch Dirigent*innen ein Werk immer
wieder neu erfunden. Ob dies unter demokratischen oder diktatorischen Um-
ständen geschieht, ist seit jeher eine umstrittene Frage.
Man könnte sie, wenn diese Überdehnung der Zulässigkeitsgrenzen von
Analogien an dieser Stelle ausnahmsweise gestattet ist, vergleichen mit der Si-
tuation einer (Kirchen‐)Gemeinde, die einer Predigt zuhört bzw. einer Messe oder
einer anderen liturgischen Feier beiwohnt. Die einzelnen Versatzstücke sind all-
gemein bekannt und müssen es sogar sein, damit das Resultat des ‚Zusammen-
spiels‘ von Pfarrer*in und Gemeinde – wie etwa der Gottesdienst – als solches
zustande kommt. Dies gelingt unabhängig von der konkreten Semantik des Got-
tesdienstes, also unabhängig vom Erzählten und Gesungenen, durch den von
allen Beteiligten (früher hätte man gesagt: von allen „Rollenträger*innen“) ak-
zeptierten und performativ realisierten Ablauf. Die symbolische Ordnung der re-
levanten Rituale kennt ‚Leitungspersonal‘ (bei Max Weber: „Virtuosen“⁸), die aber
keiner passiv rezipierenden, sondern einer aktiv mitgestalteten, ja unvermeidlich,
weil unabdingbaren Gruppe wortwörtlich gegenüberstehen. Gottesdienst ist also
– idealtypisch betrachtet – Emergenz, nicht Vortragen und Nachbeten, und in
schwacher Ähnlichkeit gilt dies eben auch für musikalische Anleitungen diri-
gistischer Art, wie sie in Konzertsälen stattfinden. Das kirchliche Singen mit
seiner eigenen, sehr alten Entwicklungshistorie und überhaupt die Tradition des
Chorgesangs als intime, anfänglich und vielerorts noch immer religiös affizierte
Lobpreisung sind Überbrückungen zwischen zwei Kommunikationsformen, die
genealogisch demselben Ursprung entstammen. Die in der Kirche materiell fest
verankerte Orgel und die Orgel im Konzertsaal mögen unterschiedlich verwendet
werden, in kultureller Hinsicht aber sind sie Geschwister.
So schwer es fällt, sich im Rahmen einer regulären Gottesdienstfeier – also
nicht etwa anlässlich kirchlicher Musikaufführungen, die sowohl aufgrund des
sakralen Rahmens wie auch angesichts der akustischen Besonderheiten vieler
Gotteshäuser regelmäßig stattfinden, wenn nicht gerade eine Pandemie tobt –
Pfarrerin oder Pfarrer mit Taktstock in der Hand vorzustellen, so naheliegend
wirkt es andererseits, dass im religiösen Kontext, der hier aus einer offenkundigen
Außenperspektive beschrieben und stark ‚soziologisiert‘ betrachtet wird, die
bloßen Hände in der einen oder anderen Weise ‚den Takt vorgeben‘. Der Diri-
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der Verstehenden Soziologie (Tübingen: Mohr
Siebeck, 51976), 327.
222 Thorsten Benkel
rakter von Taktstock und Dirigent*in allerdings auf und macht die entsprechende
Person, so sie denn vor einem Orchester steht, zur einzig nicht-hybrid an der Musik
beteiligten. Oder, im Lichte der beliebten Vorstellung gesagt, dass Dirigent*in und
Orchester ohnehin grundsätzlich so verfeindet sind wie Lehrer und Schüler oder
Vorgesetzte und Angestellte: Die Orchesterleitung ist materiell unbewaffnet,
derweil das Ensemble seine Gerätschaften (seine Instrumente) weiterhin zur
Hand hat und sie erklingen lassen kann, darf und soll. Der Klang kommt also stets
von der Gemeinde.
Davon unabhängig können größere Ensembles – wie etwa das Orpheus Chamber Orchestra –
durchaus ohne Dirigent*in auftreten, was das Vorhalten einer Taktstocksammlung im Orches-
terfundus erst recht erübrigt. Die Phrasierungsentscheidungen werden gemeinsam getroffen, die
notwendigen Einsätze gibt die Primgeige, und auch alle anderen Aufgaben der obsoleten Lei-
tungsfigur werden vom Kollektiv getragen. Es handelt sich, metaphorisch gesprochen, somit um
kleine soziale Gemeinschaften in völliger Säkularisierung gegenüber der (vielleicht doch primär
nur symbolischen) Leitfigur, die außerdem in ästhetischer Organisationsfreiheit schwelgen. Dem
224 Thorsten Benkel
Zweck des Artefakts nicht erfüllt. Der Zusammenklang bleibt aus; andere Dinge
sind offenbar dringlicher. Was bleibt und was in einer Wartestellung abgelegt ist,
sind die materiellen Bedingungen der Möglichkeit des orchestralen Sounds, vor
allem die Instrumente. Ihnen gegenüber wirkt das Stäbchen nicht nur bezüglich
seiner Ausmaße bescheiden, sondern auch bezüglich seiner Bedeutsamkeit für
die Verwirklichung der Möglichkeiten: Jedes einzelne Musikinstrument kann
nämlich Wohlklang erzeugen. Genau genommen, reicht sogar schon ein leben-
diger Körper aus, damit Töne kontrolliert entstehen. Anleitungen, die nur stille
Klänge erzeugen, sind nicht obligatorisch. Auch deshalb ist der Wurf des Takt-
stocks in den Kamin, der in Nocturne ausbuchstabiert wird, eine verschlüsselte
Kastration: Ohne dieses Hilfsinstrument ist die Verbindung zur Musik abgebro-
chen.
Nun gibt es andererseits Artefakte, die den Reduktionismus des Dirigierstabes
konterkarieren, indem sie ohne Gebrauchswert sind. Ihre bloße Existenz ist ihr
Zweck, der also ein lediglich selbstbezüglicher ist. Sie erfüllen keine Funktion
außer der, da zu sein und in diesem Dasein wahrgenommen zu werden. Sie
brauchen sich nicht an andere Materialitäten zu koppeln, um etwas auszulösen.
Das klingt mystisch, und in gewisser Weise ist das Beispiel, das mir an dieser
Stelle nicht zufällig einfällt, tatsächlich von Mystik ummantelt. In der Studie über
Artefakt und Erinnerung, die ich gemeinsam mit Thomas Klie leiten durfte, wurde
in theologisch-soziologischer Koproduktion auf den sogenannten „Aschedia-
manten“ geschaut.¹³ Dabei handelt es sich um ein Juwel, das einerseits als ‚echter‘
(Industrie‐)Diamant gilt, das aber andererseits auf dem Kohlenstoffgehalt der
Kremationsasche Verstorbener basiert. Konkret werden nach der Kremation eines
verstorbenen Menschen seiner Asche die Kohlenstoffanteile maschinell entzogen,
die wiederum in einem technischen Verfahren – welches die Entstehungsver-
hältnisse von Diamanten im Erdinneren simuliert – zu einem Edelstein gepresst
werden. Diese Diamanten, die in Europa beispielsweise in der Schweiz von einem
darauf spezialisierten Unternehmen hergestellt werden, sind von einer spezifi-
schen Blaufärbung geprägt. Obgleich nur ein kleiner Bestandteil der Krema-
tionsasche für diesen Verzauberungszusammenhang benötigt wird (die Restasche
wird den Angehörigen ausgehändigt oder, wenn diese daran kein Interesse haben,
auf einem firmeneigenen Bergfriedhof bestattet), gilt der Aschediamant den
meisten Hinterbliebenen als materielle Repräsentation des verstorbenen Ehe-
gegenüber ist mir nur ein Stück bekannt, das den Spieß umdreht und zumindest passagenweise
die Dirigent*in ‚ins Leere hinein‘ dirigieren lässt, weil die Partitur verlangt, dass das Orchester den
Gesten untätig zusieht: Sofia Gubaidulinas Stimmen… Verstummen… für großes Orchester (1986).
Thorsten Benkel, Thomas Klie und Matthias Meitzler, Der Glanz des Lebens: Aschediamant und
Erinnerungskörper (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019).
Stille Klänge 225
mannes, der verstorbenen Partnerin, des verstorbenen Kindes. Ist er erst einmal in
den heimischen Kontext der Angehörigen ein- bzw. ‚zurückgekehrt‘, ‚macht‘ der
Diamant nichts weiter, als da zu sein. Zwar sind Schmucksteine immerzu von
einer sehr eingegrenzten Performativität geprägt – sie hübschen beispielsweise
auf und/oder sind Stellvertretersymbole für einen bestimmten (Wohl‐)Stand –, der
Aschediamant aber (übrigens eine projektinterne Wortschöpfung, um eine Ab-
grenzung zu den Deklarierungen der Herstellerfirma zu bewerkstelligen) ist nicht
einmal um dieses ‚Leistungspotenzials‘ willen gekauft, ja erzeugt worden. Er re-
präsentiert in den Augen derer, die gedenken, trauern und noch immer lieben,
eine andere Person, ohne diese Person zu sein; und doch ‚ist‘ er nichts anderes.
Die dreijährige Projektarbeit zwischen Rostock und Passau – nicht eben ein
nachbarschaftliches Unternehmen – hat zu Tage gefördert, wie soziale Zu-
schreibungen an die Adressen von Objekten funktionieren, die doch eigentlich
mehr als Objekte sind.¹⁴ Die materielle Gestalt ist zwar durchaus von Gewicht,
denn ein Diamant (meistens handelt es sich um kleine Steine von 1 bis 2 Karat
Größe) ist fraglos mit Glanz und Pracht, mit Vorzeigbarkeit und Prestige ver-
knüpft. In dieser lebenszugewandten Assoziationskette bildet er einen denkbar
scharfen Gegensatz zu Sterben, Tod und Trauer. Entscheidend aber ist die An-
thropomorphisierung in den Gedankenwelten der Auftraggeber*innen des Juwels,
der Hinterbliebenen: Sie halten mit dem Edelstein ein materielles Souvenir, wenn
nicht gar den letzten Überrest eines geliebten Menschen in den Händen.
Aschediamanten sind in einer ontologischen Selbstbezüglichkeitsschleife; es
gäbe sie nicht, wenn sie nicht – aus der Tragödie eines singulären Todesfalles
heraus – gezielt in Auftrag gegeben würden, um als Endprodukt des Transfor-
mationsablaufs Leiche – Asche – Kohlenstoff – Diamant¹⁵ zu existieren. Takt-
stöcke dagegen sind Massenware. Die Musikalienfachhandel hat zahlreiche Fa-
brikate vorrätig, und in einigen Geschäften für den eher rezipierenden
Musikliebhaber (etwa bei Tower Records am Piccadilly Circus, seit 2009 bedau-
erlicherweise geschlossen) waren sogar Plastik-Pendants zum ‚Mitdirigieren‘ vor
der Stereoanlage erhältlich. Diese Instrumente, die keine wirklichen Instrumente
sind, werden unabhängig von emotionalen Dispositionen hergestellt und auch
unabhängig davon verwendet. Die Ergriffenheit beim Klang der Musik hat nichts
mit dem Schwung des Stabes zu tun. Gleichwohl ist der Taktstock ein performa-
Thorsten Benkel, „Der unsichere Status der Dinge: Zum Kontinuum von Sozialität und Ma-
terialität“, in Die Dinge, die bleiben: Reliquien im interdisziplinären Diskurs, hg.v. Thomas Klie und
Jakob Kühn (Bielefeld: Transcript, 2020), 71– 86.
Thorsten Benkel und Matthias Meitzler, „Die Transformierbarkeit des Körpers: Vom ver-
gänglichen Leib zur beständigen Materialität“, in Vanitas und Gesellschaft, hg.v. Claudia Ben-
thien, Antje Schmidt und Christian Wobbeler (Berlin/Boston: de Gruyter, 2021), S. 87– 107, 89 ff.
226 Thorsten Benkel
tiver Gegenstand, der ‚fungiert‘, um etwas außerhalb seiner materiellen wie auch
symbolischen Qualität zu verwirklichen.
Dinglichkeit hat viele Gesichter. Funktionalismus, Oberflächenästhetik und
symbolischer Gehalt sind Komponenten von Artefakten, die unterschiedlich stark
gewichtet bzw. in verschiedenartiger Weise von ‚Nutzern‘ wertgeschätzt oder
nachgefragt werden. Ein toter Mensch kann – keineswegs nur als Edelstein – im
Kontext materieller Ankerpunkte adressierbar sein; dafür steht klassisch die
Grabstätte. Der Grünwuchs am Grab konterkariert die Zerfallslogik der unsichtbar
gemachten Leiche, und seit einiger Zeit sorgen individualisierte Grabgestaltungen
für eine weitere Ebene von ‚Lebendigkeit‘ auf dem Totenacker. Funktion, Ästhetik
und Symbolik treffen hier auf anschauliche und daher auch im Hinblick auf die
sie begleitenden Ritualformen aufschlussreiche Weise aufeinander.¹⁶
Funktion, Ästhetik und Symbolik des Dirigierstabes sind hingegen keine
gleichwertigen Kategorien. Die Standardformel für soziologische Kontingenzbe-
schwörungen – „Alles könnte anders sein“¹⁷ – trifft bei diesem Artefakt ins
Schwarze: Eine musikalische Aufführungsszene, bei der der Taktstock nicht ge-
braucht wird, ist schließlich keine Vision, sondern in vielen Konzertsälen und
Aufnahmestudios Realität.Wenn ein Gegenstand nicht gebraucht wird, damit das,
was seine Existenzberechtigung impliziert, evoziert werden kann – ist dieser
Gegenstand dann tot?
Der britische Dirigent Thomas Beecham wünschte sich einmal einen „magic
wand“, der die Musik dirigiert, ohne dass er sich dafür engagieren müsse. Der
Mensch fiele somit zurück hinter das Ding. Dies wäre ein lebendiges, ein soziales,
ein voluntatives Artefakt – es hätte einen Willen. Und ein zauberhafter Taktgeber
ohne steuernde Hand wäre außerdem auf eigenwillige Weise das Pendant des
Aschediamanten, ihm dürfte nämlich zugeschrieben werden, aus sich heraus zu
wirken. Tatsächlich aber verbleibt der Stab, etwa bei Valery Gergiev reduziert auf
die Größe eines Zahnstochers, da, wo es ihn noch gibt, fest in der Hand des ei-
gentlich Wollenden, der sich von dem Gegenstand, welcher diesen Willen nach-
zeichnet, unterscheidet. Das ist der Wirklichkeit des Diamanten nicht unähnlich –
denn auch hier sind es fremde Willensbekundungen, ja Projektionsleistungen, die
das glanzvolle Artefakt erst zu dem machen (die es geradezu ‚vitalisieren‘), als das
es im Umkreis der Eingeweihten erscheinen kann.
Ein Anfang der 1970er Jahre entstandenes Orchesterstück von Bernd Alois
Zimmermann trägt den Titel Stille und Umkehr. Neben den Instrumentalklängen
Thomas Klie, „Bestattungskultur“, in Tod, hg.v. Ulrich Volp (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018),
201– 254.
Niklas Luhmann, „Komplexität und Demokratie“, in ders., Politische Planung: Aufsätze zur
Soziologie von Politik und Verwaltung (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1994), S. 35 – 45, 44.
Stille Klänge 227
erklingt aus einem Lautsprecher eine vorab aufgenommene Tonspur – ein damals
beliebtes Gimmick und eine Art material expansion turn, in dessen Gefolge auf
dem Konzertpodium außermusikalische Gerätschaften plötzlich Platz fanden.
Noch bevor man weiß, wie das Ganze klingen mag, legt der Titel Stille und Umkehr
gewisse Assoziationen nahe. Eine schöne Implikation dieses Titels besteht darin,
dass man sich angesichts der Stille, die zu Beginn dieses Textes angesprochen
wurde, mit dieser auseinandersetzt – um dann doch wieder umzukehren auf die
andere Seite, dahin, wo die Töne und Klänge lokalisiert sind. Auch darin ist eine
Parallele zu Tod und Trauer eingegraben: Sich der Stille zuzuwenden, die ein
Lebensende erzwingt, bedeutet nicht, dass man nicht umkehren kann. Ob diese
Kehre ‚von außen dirigiert‘, durch die Anleitung anderer, oder auf anderen Wegen
zustande kommt, kann nur der Einzelfall zeigen. Auf das Schweigen folgt ein
weiteres Sprechen, scheint Zimmermann besagen zu wollen.
In diesem Sinne habe ich am Beispiel eines gänzlich meinen subjektiven
Interessen entstammenden Exempels für ein Ding zwischen ‚Zeichen und Spiel‘
nicht mehr als in Dankbarkeit anzudeuten versucht, dass einer wie ich, der – wie
eine berühmte Briefstelle von Max Weber an Ferdinand Tönnies besagt – der
weitgehend „religiös unmusikalischen“ Zunft der Soziolog*innen angehört, zu
produktiven und inspirierenden Berührungen mit der Praktischen Theologie ge-
langen kann – allemal dann, wenn der Mensch gegenüber Thomas Klie heißt.
Bernhard Dressler
Ein Paar Bergschuhe
Verstreute Gedanken zum Bergsteigen und zur Religion
Über die Religionsaffinität des Bergsteigens ist schon oft nachgedacht worden.
Bergsteigen steht – oder sollte man angesichts seiner zunehmenden Bemächti-
gung durch die Freizeitindustrie sagen: stand? – für die Suche nach dem Erha-
benen, nach existenziellen Grenzsituationen, nach dem Einklang mit der Natur.
Auch Bergsteiger, die sich als nichtreligiös verstehen, geraten oft in eine religi-
onsanaloge Redeweise, wenn sie von ihren Bergerlebnissen sprechen. Vor allem:
Wenn sie von den Motiven sprechen, die sie in die Felswände, auf die Gletscher
und die Firngrate treiben, von der Bereitschaft zur mühevollen Anstrengung und
zum Risiko großer Gefahr. Manche Grate werden als „Himmelsleitern“ mit Jakobs
Traum assoziiert. Schon die nur auf den ersten Blick triviale Antwort vieler
Bergsteiger auf die Frage nach dem Grund, warum sie einen Berg besteigen – „weil
er da ist“ – verweist auf jenes zweckfreie, aber zielgerichtete Handeln, als das mit
Friedrich Schleiermacher der Gottesdienst begriffen werden kann. Und Schleier-
machers Nähe zu den Romantikern, die, etwa in vielen der Gemälde Caspar David
Friedrichs, in den Bergen das Erhabene entdeckten, dürfte kein Zufall sein. Der
alpinistische Stilwandel von Edward Whymper über Luis Trenker bis zu Reinhold
Messner hat die Kontinuität der Suche nach dem Kontingenten und dem Sublimen
nicht gebrochen.
1 Meine Bergschuhe
Ich gehe aus Altersgründen nicht mehr über schwierige Routen auf hohe Gipfel.
Wenn ich auf leichten Wanderungen im Gebirge ferne Firne leuchten sehe, ver-
binden sich Erinnerungen mit einer Sehnsucht, die ungestillt bleibt. Für die
Wanderungen wähle ich aus dem Schuhregal im Keller oft die Hochtouren-Stiefel,
mit denen ich eigentlich overdressed bin, aber an denen diese Sehnsucht und
Erinnerungen an hochalpine Bergtouren kleben wie das Lederfett, mit denen sie
gepflegt werden. Auch wenn sie schwerer sind als die normalen Plastik-Wan-
derschuhe, die heute die Regale der Sportgeschäfte füllen, versprechen sie Tritt-
sicherheit und deshalb entspannteres Gehen auch auf leichten Gebirgspfaden.
Warum finde ich meine Bergstiefel schön? Liegt es nicht nur an den Erinne-
rungen, die ich mit ihnen verbinde, sondern auch an ihrer Materialität, der
Stofflichkeit, mit der sie sich vom gängigen Sportwaren-Design der Freizeitindu-
https://doi.org/10.1515/9783110762853-015
230 Bernhard Dressler
Vgl. Dietrich Zilleßen, „Seltsames Begehren“, in Lust und Abgrund: Theologische und kultur-
wissenschaftliche Zugänge zum Begehren, hg.v. Richard Janus und Harald Schroeter-Wittke
(Wiesbaden: VS-Springer, 2022).
Isabel Capeloa Gil, „Fuß-Karrieren: Der Schuh von Baudelaire bis Warhol“, Paragrana 21 (1)
(2012): 212– 229, hier 213. Ich verdanke Dietrich Zilleßen den Hinweis auf diesen Aufsatz.
232 Bernhard Dressler
Macht nicht real ist. Es geht um ein „als ob“, das Hartmut Böhme im Sinne einer
„Fetisch-Dynamik“ deutet: „Wir glauben (nicht), aber wir handeln so, als
glaubten wir, und glauben dadurch, ohne zu glauben.“⁴ Doch gerade weil er nicht
verfügt, weiß der Fetischist mit dem „als-ob-Spiel im Konjunktiv“ wenig anzu-
fangen.⁵ Und das unbewusste Begehren kommt nie zur Ruhe.
Einen Höhepunkt erreichte die ästhetische Sublimierung von Schuhen im
Streit um Martin Heideggers Deutung eines Gemäldes von Vincent van Gogh in
seinem Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerks“, in dem er 1960 einige voraus-
gehende (kunst)philosophische Einzelarbeiten zusammenfasste. In den zwei
ausgelatschten alten Schuhen auf van Goghs Bild sieht Heidegger ohne jeden
Grund die Schuhe einer Bauersfrau und eine Metapher für deren Leben. Er „er-
klärt die Schuhe zur dinglichen Verkörperung des Daseins einer Bäuerin. Warum
er meint, dass sie einer Bäuerin gehörten, sagt er nicht, schlussfolgert aber ‚Kunst
ist das Sich-Ins-Werk-Setzen der Wahrheit.‘“⁶
Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeugs starrt die Mühsal
der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeugs ist aufgestaut die Zä-
higkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen
des Ackers (…). Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen
schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem
Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde (…) Durch dieses Zeug zieht das
klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens
der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes.
Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Aus diesem behüteten
Zugehören ersteht das Zeug selbst zu seinem Insichruhen.⁷
Kann man sagen, van Goghs Bild bringe das zur „Unverborgenheit“, was von den
Alltagsroutinen verdeckt wird, zeuge von der „Zeughaftigkeit des Zeugs“, zeige
einen verborgenen Bezug zur Erde, setze die Wahrheit „ins Werk“, offenbare
Schönheit als eine „Weise, wie Wahrheit west.“?⁸ Ist Heideggers Deutung eine
Abart des Schuhfetischismus? Es ist jedenfalls eine Art von Idyllenmalerei, gegen
die Einspruch erhoben wurde, am deutlichsten vom deutsch-amerikanischen
Kunsthistoriker Meyer Schapiro, der 1968 in einem Aufsatz Heidegger vorwarf, das
Malerische am Bild zu ignorieren, van Gogh als Vorwand für seine Seinsphilo-
sophie, für sein raunendes „Pathos des Ursprünglichen und Bodenständigen“ zu
missbrauchen.⁹ Wahrscheinlich hatte van Gogh die Schuhe in der Stadt, in Paris,
gekauft, sie kaum selbst getragen, sondern sie aus einem einzigen Grund in sein
Atelier am Montmartre gebracht: Er wollte sie malen. Es entstand ein radikales
Gemälde, mit dem ein alltägliches Ding, das vorher kaum als kunstwürdig galt,
völlig isoliert zum malerischen Objekt erhoben wurde. Die Entmythologisierung
noch weiter als Meyer Shapiro trieb, man kann es sich denken, Jacques Derrida,
der fragte: „Handelt es sich überhaupt um ein Paar Schuhe? Sind es nicht zwei
linke Schuhe? Und warum sind sie unterschiedlich geschnürt?“¹⁰ Für Derrida ist
van Goghs Gemälde kein Spiegelbild der Realität, sondern eine „Allegorie der
Malerei“. Er dekonstruiert die „Zuschreibungsdiskurse“: „Es gibt Schuhe – das ist
alles“.¹¹ Das Bild soll als Kunstwerk ernstgenommen werden, und nicht als Il-
lustration einer philosophischen Meinung oder ästhetischen Theorie.
Kerstin Thomas, „The Still Life of Objects – Heidegger, Schapiro and Derrida“, Zeitschrift für
Ästhetik und Allgemeine Kulturwissenschaft 1 (2015) (online abrufbar unter https://doi.org/10.
28937/1000106256).
Zit. von Th. Assheuer, Kunst.
Vgl. Thomas Keith, „Restitutionen“: Derridas Auseinandersetzung mit Heideggers „Ursprung
des Kunstwerks“ (München: GRIN, 2008).
234 Bernhard Dressler
Anlegen der Steigeisen, deren Knirschen beim Gehen auf dem noch harten Firn,
das allmähliche In-den-Rhythmus-finden beim Gehen, und dann irgendwann
stellt sich im gleichmäßigen Schreiten eine Art medidatives Selbsterlebnis ein,
unterbrochen nur gelegentlich von Kletterpassagen im harten Fels. Beim Blick auf
meine Schuhe sind das fast intensivere Erinnerungen als an die grandiosen
Fernblicke und Panoramen auf den Gipfeln. Schuhe sind erdverbunden.
Ja, das ist keine Phrase: Die Berge geben zu erleben, weil sie da sind. „Subtile
Momente, die man dort erlebt. Es ist vorwiegend die Stille, die man dort suchen
darf. Obwohl der Berg steht und sich nicht rührt, kann man dort Grunderfah-
rungen des Sozialen machen“¹²: Das Gehen und Steigen in einem Gelände, das vor
nicht langer Zeit von den Menschen gemieden wurde. Noch vor wenigen Jahr-
zehnten wäre es keinem Gebirgsbauern eingefallen, hier heraufzusteigen.
„Da gehört wirklich kein Mensch her. Das ist (…) so nicht für den Menschen
gemacht. Und dennoch ist man hier. Da ist mir klar geworden, wie zwiespältig, wie
von Grund auf ambivalent diese ganze Bergsteigerei ist. Und diese Ambivalenz zu
denken, auf keine Seite abzugleiten, sich nicht für Eindeutigkeiten zu entschei-
den, sondern im Mehrdeutigen, zumindest im Zweideutigen zu bleiben, das habe
ich mir zur Aufgabe gestellt.“¹³
Zugegeben: Man kann Bergsteigen auch als bloßes Freizeitvergnügen betrei-
ben. Das trifft für zunehmend viele Bergsportler zu. Aber noch mindert das nicht
das Elitäre am Bergsteigen, das wortwörtliche Sich-Erheben über die Niederungen
des Lebens. Auch wenn der Nietzscheanismus, das Pathos der Gefahrensuche und
der ursprüngliche Männlichkeitsgestus des Bergsteigens aus der klassischen
Phase des Eroberungsalpinismus längst verschwunden ist. Heute dominieren
subtilere Formen existenzialistischer Selbstdeutung oder – bei Reinhold Messner
gelegentlich – spirituelle Selbstinterpretationen meist ostasiatischer Provenienz.
Ich selbst habe beim Bergsteigen, insbesondere weil und indem ich vom Fels-
klettern zu den Hochtouren auf die großen Alpengipfel gewechselt bin, selten
etwas riskiert, geschweige denn das Risiko gesucht. Aber Mühe und Anstrengung
verbinden sich mit der Leichtigkeit eines Gefühls des Außer-der-Welt-Seins. Liegt
hier der Berührungspunkt zur Religion?
Aber wie kann das sein, dass das kontingente und chaotische Resultat des
Geschiebes, Gedränges, Gewürges der unseren historischen Horizont völlig
überspannenden Plattentektonik als schön und erhaben wahrgenommen wird?
Und zwar umso mehr, als seine geologischen Ursachen naturwissenschaftlich
Die Alpinistin Helga Peskoller in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (online abrufbar
unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/extrembergsteigerin-helga-peskoller-der-berg-
lehrt-das.970.de.html?dram:article_id=441527).
Ebd.
Ein Paar Bergschuhe 235
durchschaut sind, und das Gebirge nicht mehr als menschenfeindlicher, unzu-
gänglicher Ort, nicht mehr als Wohnstatt lebensfeindlicher Geister wahrgenom-
men wird? Auch hier sind in den Wahrnehmungen Deutungen im Spiel, aber wie
werden sie stimuliert? Als Reaktion auf die langweilige Glätte und Berechenbar-
keit des Lebens in der Zivilisation? Aber es ist ja doch am Ende die Rückkehr in die
Welt der Gewohnheiten, die uns das Risiko der Alltagsunterbrechungen wagen
lassen:
Gewohnheiten versichern das Reisen gegen sich selbst, gegen seine Haltlosigkeit, gegen die
Unwägbarkeiten des Lebens, gegen die tiefe Fremdheit der Existenz. Gewohnheiten: das
Wort ist bezeichnend. Wohin anders als nach Hause soll es denn gehen, wenn wir in die
Fremde ziehen. (…) Wir ziehen in die Fremde, um zu Hause bleiben zu können, um Heimat zu
sichern. Die Fremde ist der Grund der Heimat, weil sie die Heimat bestätigt. In der Fremde, in
die wir ziehen, spiegelt sich die Heimat, an der wir hängen. Wir ziehen in die Fremde. Aber
wir kommen nirgends anders als bei uns selbst an.¹⁴
Wahrscheinlich liegt darin ein Grund, warum sich Religion immer schon mit
Pilgerreisen, Wallfahrten, Prozessionen verband: „Loslassen und sich binden,
weggehen und zurückkehren.“¹⁵
Es ist deshalb auch das „normale“ Wandern mit ähnlichen, wenn auch we-
niger extremen Erlebnissen behaftet, wenn einem im Alter das Steigen auf hohe
Berge verwehrt ist. Es gibt viele gute Gründe, zu gehen. Und ich ziehe meine
Hochtourenstiefel gern auf Wanderwegen an. Auch dort, wo das Gehen keine
sportliche Anstrengung ist, kann es mit einem Bewusstsein des Zu-sich-selbst-
Kommens verbunden sein.
Dietrich Zilleßen, „Wir ziehen in die Fremde: Ein kleines Kapitel Religionspädagogik“, Lo-
ccumer Pelikan 2 (2004): 62.
Ebd.
Jörg Lauster, „Der Berg ruft: Eine Christologie der Alpen zwischen Materialismus und Meta-
physik“, NZSTh 4 (2016): 435 – 452.
236 Bernhard Dressler
Lauster zeigt am Beispiel des US-Amerikaners John Muir, dessen Wirken eng
mit der Errichtung von Nationalparks im nordamerikanischen Hochgebirge ver-
bunden ist, wie sich in dessen Lektüre von Autoren der Romantik „Wurzeln
moderner Naturverehrung“ zeigten:
Ebd., 438.
Lauster erwähnt besonders: Markus Gabriel (Hg.), Der Neue Realismus (Berlin: Suhrkamp,
2014).
Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption
der Natur so gut wie sicher falsch ist (Berlin: Suhrkamp, 2016).
J. Lauster, Berg, 451.
„Jedes einzelne Leben bei uns ist ein Teil des langwierigen Prozesses, in dem das Universum
allmählich erwacht und sich seiner selbst bewusst wird.“ (Th. Nagel, Geist, 125; zit. bei J. Lauster,
Berg, 447). Ich würde nicht so weit gehen, Darwins Erkenntnisse für die Evolution der Artenvielfalt
vollständig zu verwerfen, wohl aber für die Erklärung der Entstehung von Leben überhaupt. Dass
Thomas Nagel immer wieder betont, er sei Atheist, ist nach meiner Vermutung der Abgrenzung
vom in Amerika in den christlichen Denominationen vorherrschenden Theismus, insbesondere
Ein Paar Bergschuhe 237
denfalls kann Jörg Lauster „begründet annehmen, dass es auch wiederum etwas
an den Bergen selbst ist, auf das wir im Modus einer inneren Stellungnahme
reagieren. Wir finden die Berge schön, weil etwas an ihnen zu uns sagt, dass sie
schön sind.“²² Und weiter „lässt sich mit den Kritikern des Materialismus sagen,
dass diese offensichtliche Resonanz zwischen unserem Bewusstsein und dem
Berg nur unzureichend erklärt ist, wenn wir die Resonanz als Resultat einer in sich
gänzlich zufälligen Evolution begreifen. Eine solche Erklärung kann sowohl ra-
tional als auch emotional die Tiefe der Bergerfahrung nicht angemessen reprä-
sentieren.“²³
Zugespitzt: „Wenn ich auf den Bergen stehe, dann werden sich in dem, was
ich dort über die Berge denke und empfinde, die Berge ihrer selbst bewusst.“²⁴
Und, im Blick auf die Gipfelkreuze, von denen in den letzten Jahren viele von
wahren Barbaren, von angeblichen Kämpfern für Religionsfreiheit (verstanden als
Freiheit von vermeintlicher religiöser Bevormundung) zerstört wurden, lässt sich
sagen, dass sie uns anregen, und
dass es gute Gründe gibt, an diesem Ort die Gegenwart Gottes in der Welt für denkmöglich zu
halten, das Gipfelkreuz vergegenwärtigt aber zugleich, dass diese Präsenz in unseren
Denkmöglichkeiten niemals ganz aufgeht, ja diese Präsenz überhaupt niemals ganz in dem
aufgeht, was sich Menschen von der Gegenwart Gottes erdenken und ersinnen. Am Gipfel-
kreuz leuchtet beides auf, Sinn und Geheimnis der Welt. Darum ist das Gipfelkreuz die
Eucharistie eines freien und dennoch frommen Christentums.²⁵
von den Kreationisten, geschuldet, mit denen er von seinen Kritikern umstandslos in einen Topf
geworfen wird. Nach den Kriterien europäischer, insbesondere deutschsprachiger Theologie ist er
allenfalls ein der Religion nicht unfreundlich gesonnener Agnostiker.
J. Lauster, Berg, 447.
Ebd.
Ebd., 448.
Ebd., 452.
238 Bernhard Dressler
sein, uns also nicht als jene Objekte zu verstehen, als die uns materialistisch-
naturalistische Theorien letztlich nur verstehen können. Von der Dingwelt ver-
schieden zu sein, ist die Bedingung dafür, uns von Dingen ansprechen lassen zu
können. Wie verändern sich Phänomene geistig-bewussten Lebens, wenn die
Frage thematisiert wird, ob, und wenn ja: warum die Welt „lesbar“ ist, also eine
intelligible Sinndimension jenseits eines materialistischen Evolutionsgeschehens
erkennen lässt? Warum bleibt Bewusstsein in naturalistischer Perspektive ein
Rätsel? Und wie erscheint es in religiöser Perspektive als Geheimnis? Das lässt
sich auch ohne Religion fragen, mit möglichen Antworten auf diese Fragen ist
keine Nötigung zum Gottesgedanken verbunden. Selbst dann, wenn man vor
diesen Fragen auf Verstehen verzichtet, hält man durch sie aber doch ein Sen-
sorium für Geistphänomene wach. Und wo, wenn nicht im Religionsunterricht, ist
ein vorzüglicher Ort für solche Fragen? Es ist ein religionsdidaktisches Desiderat,
Bezüge zwischen Subjektivitätstheorien und den Selbstbewusstseinsdimensionen
des Welterlebens und Weltumgangs stark zu machen, mit denen Geist-Phäno-
mene zu erhellen sind. So ist die Grenze scharf zu ziehen gegen die auch in der
Religionsdidaktik (vor allem der sog. „konstruktivistischen Religionsdidaktik“)
bisweilen beobachtbaren Tendenzen, sich auf Theorien zu beziehen, bei denen
die Unterscheidung zwischen Personen und Sachen unscharf wird. Die Rezeption
nicht jeden kulturwissenschaftlichen turns ist für Religion und Theologie be-
kömmlich.
Petra Schulz
Schieferdachplatten
Annäherung an ein imaginäres Museum
Es geht im Folgenden um das Kunstprojekt „Grauzone. Ein Dach wird Kunst“¹, das
auf dem Gelände einer Remise im dänischen Gedser beginnt und seinen vorläu-
figen Höhepunkt im Kulturhistorischen Museum der Hansestadt Rostock findet.
Im Mittelpunkt dieses Kunstprojekts stehen die Schieferdachplatten, die einst das
Dach der Remise bildeten. Erzählt wird von der Entstehung und Entwicklung des
Kunstprojekts aus der Perspektive der Schieferdachplatten und das metaphori-
sche Potential dieser Erzählung wird exemplarisch entfaltet.
Als der Künstler auf die Schieferdachplatten stieß, ahnten weder diese noch er, was
aus der Begegnung einmal werden sollte. Für den Transport zur Entsorgungsde-
ponie vorbereitet lagen sie da. Achtlos auf Haufen geschüttet. Ausgedient als
Dachschiefer nach 130 Jahren. Man fragt sich, was in einer Schieferdachplatte in
solch einem Augenblick vorgeht. Man kann es nur ahnen.
Schieferdachplatten können nicht denken und fühlen. Sie sind aus Gestein. Sie
können jedoch „belebt“ und auf diese Weise zum Denken und Fühlen gebracht
werden. Allerdings: Ihre „‘Belebung‘ […] soll ganz und gar uns zugerechnet
werden.“² Aktiv handeln können die Schieferdachplatten nicht. Sie fungieren
vielmehr als Zeugen der Ereignisse, die sich um sie herum abspielen. „[D]er Zeuge
tut nichts, er greift nicht ein, er ist nur dabei. Dinge sind stumme Zeugen.“³ Dinge,
das sind Objekte, die mit Deutung versehen werden und in besonderer Weise
Relevanz für jemanden gewinnen.⁴ Das, was den Schieferdachplatten widerfuhr,
kann zum Gleichnis, zur Metapher menschlicher Erfahrungen werden und asso-
ziativ Anschlüsse bieten zu biblischen Sprach- und Erzählwelten.
Die Eisenbahnlinie Berlin – Kopenhagen. Die Kriege. Die Sehnsucht derer, die nicht
von Rostock aus nach Gedser in See stechen konnten. All dies focht die Schiefer-
https://doi.org/10.1515/9783110762853-016
240 Petra Schulz
dachplatten in all den Jahren nicht an. Nur Wind und Wetter. Diese beiden machten
ihnen zu schaffen dort auf dem Dach der Remise. Doch sie hielten stand. Ihrer
Herkunft aus Wales waren die Schieferdachplatten sich stets bewusst. Denn dort lag
ihre Vergangenheit vor plus/minus 450 Millionen Jahren. Dort hatte man Schiefer
entdeckt, geborgen, in neue Form gebracht und zu Dachschindeln zurechtge-
schnitten. Seitdem waren die Schieferdachplatten nicht mehr um ihrer selbst willen
da gewesen. Seitdem hatten sie eine Funktion gehabt. Sie boten als Dach dem Haus
Schutz. Verlässlich, denn sie hielten zusammen. Nicht mehr wie damals vor langer
Zeit still im Gestein. Jetzt lagen sie hoch oben mit weitem Blick. Und unter ihnen
lagen Werkzeuge aller Art, Eisenbahnen und Lokomotiven. Laute Geräusche dran-
gen aus der Remise. Die Schieferdachplatten lebten damit.
+++ in einer guten Position sein +++ sich der eigenen Rolle/Funktion bewusst sein
+++ strapaziert werden +++ Unbillen trotzen +++ traditionsbewusst +++ sich
selbst als Teil einer Geschichte verstehen +++ um das eigene Geworden-Sein
wissen +++ eingebunden sein in einen großen Zusammenhang +++ eine Aufgabe
haben, sich dieser Aufgabe stellen und sie gut ausfüllen +++ Weltoffenheit spü-
ren/zeigen +++ geschäftiges Treiben um sich herum wahrnehmen +++ mitten im
Leben stehen +++ …
Vgl. Matthias Jung, „Das Konzept der Objektbiographie im Lichte einer Hermeneutik materieller
Kultur“, in Biography of Objects, hg.v. D. Boschung, P.-A. Krenz und T. Kienlin, 35 – 65.
Hans Peter Hahn, „Dinge sind Fragmente und Assemblagen: Kritische Anmerkungen zur Me-
tapher der ‚Objektbiographie‘“, in Biography of Objects, hg.v. D. Boschung, P.-A. Krenz und T.
Kienlin, 11– 33, hier 27.
Schieferdachplatten 241
sondern durch kulturelle und religiöse Vorgaben bestimmt sind.⁷ Und beim Par-
cours, dem Hindernislauf, müsste überlegt werden, was als Hindernis, das zu
überwinden ist, gilt. Dabei besteht die Möglichkeit, dass das Ding in verschiedene
Verfassungen sowie Kontexte gerät, in denen es auf vielfältige Weise wahrge-
nommen und in Gebrauch genommen werden kann.⁸
Biographie, Itinerar und Parcours setzen eine gewisse Aktivität voraus, die
den Schieferdachplatten als Zeugen des Geschehens nicht eigen ist. Biographie,
Itinerar, Parcours mögen zur Beschreibung dessen, was einem Ding widerfährt,
Grenzen haben. Doch gerade die Unschärfen im Blick auf Lebensanfang und Ende
eines Dings bieten besondere Zugänge zur Lebensgeschichte einer Person, die als
Biographie, Itinerar oder Parcours geschrieben/gelesen werden kann. Ein Vor und
Nach kann vielperspektivisch zur Sprache kommen als Tradition, Familienge-
schichte, Eingebunden- und Bestimmt-Werden. Kann gesellschaftliche, soziale,
kulturelle Kontexte beschreiben, in die Menschen hineingeboren oder geworfen
und von denen sie bestimmt werden. Kann Wandlungen nachzeichnen, denen sie
unterworfen sind. Kann Nachleben in vielfältiger Gestalt wahrnehmen. Der
Mensch wird in einen Kontext hineingeboren, zu dem er sich allerdings verhalten
und diesen mitgestalten kann. Jeder Zugang entwickelt eine je eigene Perspektive
auf eine Lebensgeschichte. Jeder Zugang setzt einen anderen Fokus, indem er
etwas besonders hervorhebt. Die Frage ist, welche Rolle im Rahmen der Le-
bensgeschichte Passivität und Eigeninitiative spielen.
Irgendwann trat Veränderung ein. Der Betrieb auf der Remise wurde eingestellt. Die
vertraute Geschäftigkeit wich einer merkwürdigen Stille. Die Eisenbahn traf nicht
mehr im Hafen von Gedser auf einer Fähre ein. Zunächst focht dies die Schiefer-
dachplatten nicht an. Doch dann traf es auch sie. Zu sehr hatten Wind, Sonne, Regen
und Sturm ihnen zugesetzt. Man nahm sie ab und warf sie als nicht mehr brauchbar
befunden in den Hof der Remise. Dort lagen sie nun. Weithin unbeachtet.
löschung fürchten +++ Einsamkeit +++ Depression +++ innere Leere +++ Ver-
zweiflung +++ Arbeitslosigkeit +++ Ruhestand +++ …
Die Schieferdachplatten waren, wenn nicht Müll, so doch zum Abfall geworden.
Aus der Ordnung, die ihnen einen Platz zuwies, waren sie herausgefallen.⁹ „Wie
Wasser bin ich hingeschüttet, und es fallen auseinander meine Gebeine. Wie
Wachs ist mein Herz, zerflossen in meiner Brust. Trocken wie eine Scherbe ist
meine Kehle, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, in den Staub des Todes
legst du mich.“ (Psalm 22, 15 f.) Den Gefühlen, die den Schieferdachplatten zu-
geschrieben werden, kann mit Worten der Psalmen eine Stimme gegeben werden.
Die emotionale Verfassung wird in den Psalmen in Metaphern gekleidet. „Der
Begriff der Metapher meint ungewohnte, nicht durch Konventionen abgesicherte
Wort- und Bildkombinationen […] Der Psalter ist voll von solch metaphorischem,
das Alltägliche transzendierendem Sprachgebrauch.“¹⁰
Abfall ist das aus der Ordnung heraus Gefallene. Das Ausgesonderte. Doch anders
als Müll ist Abfall nicht das schlechthin, endgültig wertlos Gewordene. Abfall
kann in Recyclingverfahren zum Wertstoff werden. Abfall kann aber auch in nicht-
recycelter Form neue Wertschätzung erfahren. „Abfälle können Grenzgänger der
Ordnung werden.“
Als der Künstler auf die Schieferdachplatten stieß, die dort auf den Abtransport zur
Entsorgungsdeponie warteten, sah er die Ablagerungen von Staub, Sand, Erde und
Kalk. Er sah, dass Gestein abgerieben und ausgebrochen war. Er sah Moos und
Flechten auf den Platten. Und teerige Klebereste. Aber er sah zugleich etwas an-
deres. Er sah in den ausrangierten Schieferdachplatten ihre Geschichte. Er sah die
außergewöhnliche Schönheit, die in den Zeichen, die die Zeit eingraviert hatte,
wahrnehmbar war. Dem Künstler zeigten sich Bilder. Ihm zeigten sich Bilder, die die
Natur gemalt hatte. So barg er die Schieferdachplatten kurze Zeit später. Und sie
wechselten erneut ihren Ort. Die Fahrt nach Rügen war kürzer als damals die Reise
von Wales nach Gedser.
+++ wider Erwarten (erneut) wahrgenommen werden +++ wider Erwarten in-
tensiv, detailliert und in der eigenen Schönheit wahrgenommen werden +++ ge-
rettet werden +++ einen Ortswechsel erleben +++ an einen neuen Ort kommen ++
Vgl. Susanne Hauser, Metamorphosen des Abfalls: Konzepte für alte Industrieareale (Frankfurt
a. M.: Campus-Verl., 2001), 12.
Bernd Janowski, Konfliktgespräche mit Gott: Eine Anthropologie der Psalmen (Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 52019), 30 f.
Schieferdachplatten 243
+ zufällig auf etwas treffen, das am Rande liegt/ausrangiert wurde +++ dessen
Besonderheit und Schönheit erkennen +++ sich dessen annehmen +++ verlieben
+++ …
Schönheit liegt im Auge des Betrachters.¹¹ Die Wahrnehmung der Schönheit ge-
schieht durch Resonanz¹², durch ein Berührt-, Affiziert-Sein, das auch Altes, ja
bereits Aufgegebenes neu aufscheinen und in eine neue Ordnung Eingang finden
lässt. Im Spiegel der imaginierten Erfahrungen eines Dings, hier der Schiefer-
dachplatten, kann ein Mensch sich mit seiner Lebensgeschichte gebrochen
wahrnehmen, kann Schlüsselerfahrungen und Lebenspassagen vergegenwärti-
gen, kann sich im Perspektivenwechsel aus der Rolle des passiven Zeugen in die
des aktiv Handelnden, hier des Künstlers, begeben, dem es gelingt, neue Le-
bensoptionen freizulegen und zu initiieren. Gelesen werden kann dies als ein
Geschehen, das einem Menschen widerfährt. Gelesen werden kann es aber auch
als ein intrapersonaler Prozess, ein Vorgang, eine Möglichkeit, das eigene Leben
neu zu ordnen, in neue Kontexte zu versetzen in der Imagination und/oder auch
in der tatkräftigen, konkreten Umsetzung. Beides ereignet sich in einem Zwischen
von etwas bewirken, steuern, gestalten können und der Erfahrung, dass es Mo-
mente, Situationen, Lebensphasen gibt, in denen etwas mit einem geschieht, man
preisgegeben ist einer Entwicklung, auf die man keinen Einfluss hat. Ist es un-
verhoffte Gnade, was den Schieferdachplatten widerfuhr? Vielleicht hätten sie ja
mit Sarah, wenn ihnen die Geschichte (Gen 18) bekannt gewesen wäre, nur un-
gläubig gelacht angesichts dessen, was sich verheißungsvoll ankündigte.
Wieder verging eine geraume Zeit. Die Schieferdachplatten hatten Geduld. Viel
später dann wählte der Künstler nahezu einhundert Stück aus. Einige von diesen
waren sogar lädiert. Doch dies schien nicht zu stören. Der Künstler bestimmte einen
gemeinsamen Ausschnitt, der auf allen Stücken intakt war, und ließ diesen mittels
Wasserstrahl auslasern. Format 240 × 194 Millimeter. Damals in Wales war der
Schiefer geschnitten und in die Form der Dachschindel gebracht worden. Jetzt erhielt
er erneut eine andere Form. Die neue Form verband von nun an die ausgewählten
einhundert Stück. Eine Erinnerung an die alte Zeit war die horizontale Linie, die sich
durch nahezu jede Schieferdachplatte zog. Hier hatten die Schieferdachplatten sich
einst überlappt. Ansonsten sah man der Form nach den Schieferdachplatten ihre
Vergangenheit auf dem Dach der Remise nun nicht mehr an.
Vgl. Umberto Eco (Hg.), Die Geschichte der Häßlichkeit, Übers. Friederike Hausmann, Petra
Kaiser und Sigrid Vogt (München: Carl Hanser Verlag, 2007), 8 – 20.
Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung (Berlin: Suhrkamp, 22016).
244 Petra Schulz
Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Das Auge des Betrachters kann auch das
am Rande Liegende wahrnehmen, das Abseitige, das Ausgegrenzte, das Aus-der-
Ordnung-Gefallene in die Mitte rücken, neu sehen, sehen lassen und auf diese
Weise in eine neue Ordnung einfügen. „Die Widerkehr des Abfalls setzt voraus,
dass etwas, das aufgegeben war, neu interpretiert, in neue Bezüge gesetzt und in
eine Ordnung eingefügt wird, die sich aber in diesem Prozess verändert und ihre
Grenzen verschiebt.“¹³ Es ist ein Anderes, das zum Gegenüber wird und diesen
Prozess anstößt. Das kann vieles sein. Ein anderer Mensch, ein Eindruck, eine
Imagination, eine Berührung, ein Erlebnis. Die Geschichte der Schieferdach-
platten kann zur Metapher einer Heilung werden, vielleicht eines Aussätzigen
oder eines Blinden oder beides zugleich. Von der Heilung kann sowohl inter- als
auch intrapersonal erzählt werden. Der Heilungsprozess kann als ein Bezie-
hungsgeschehen, das durch etwas von außen Kommendes angestoßen wird,
verstanden werden oder als etwas, das sich im Innern eines Menschen ereignet. In
jedem Fall ist da etwas, das unverfügbar ist, das einem Menschen widerfährt und
eine Neuausrichtung des Lebens auf Zukunft hin zur Folge hat. Auch dieser Er-
fahrung kann mit einem Psalmwort zum Ausdruck verholfen werden: „Du lässt
meine Leuchte strahlen, HERR, mein Gott erhellt meine Finsternis.“ (Psalm 18,29)
Was dann geschah, lag quer zu allem, was die Schieferdachplatten, die sich von nun
an als Schieferplatten mit einer besonderen Vergangenheit verstanden, bisher erlebt
hatten. Wenngleich, und das wurde ihnen im Verlauf der kommenden Monate klar,
sich seit der Begegnung mit dem Künstler alles Schritt für Schritt angebahnt hatte.
Den Schieferplatten eröffnete sich jetzt ein für sie geradezu kategorial anderer
Horizont. Dies war weder der Horizont, der sich ihnen damals gezeigt hatte auf dem
Dach der Remise, noch war es der Horizont, den der Künstler auf ihnen sah. Der
andere Horizont, der sich ihnen eröffnete, war der Blick auf die Kunst. Und zwar der
Blick auf sie selbst als Teil von Kunst und auf die Kunst, die in Resonanz auf sie
entstand. 37 Künstlerinnen und Künstler wiederum hatte der Künstler angefragt,
sich ein, zwei oder drei Schieferplatten auszuwählen und zu jeder der ausgewählten
Schieferplatten eine dazugehörige eigene Arbeit anzufertigen. Als einzige Bedingung
hatte er die Beibehaltung der Maße im Hoch- oder Querformat genannt. Durch diese
Idee schafften die Schieferplatten es vom Steinbruch in Wales über das Dach der
Remise und den Hof des Künstlers sogar bis ins Internet. Denn ein Transport war
aufgrund ihrer Fragilität unmöglich. Über eine Online-Galerie wurden sie allen be-
teiligten Künstlern zugänglich gemacht. Wieder begann eine Zeit des Wartens,
verbunden auch mit der Hoffnung, dass die Wahl eines Künstlers oder einer
Künstlerin auf sie fallen würde. Einige der Schieferplatten, das sei nur am Rande
erwähnt, wurden nicht ausgewählt. Anders als diejenigen, die Teil eines Diptychons
wurden, wurden sie nicht in Stahlrahmen gefasst. Sie sind noch in Erwartung, was
irgendwann einmal mit ihnen geschehen wird. Oder haben sie die Hoffnung auf-
gegeben?
+++ zur Schau gestellt werden +++ darauf warten/hoffen, ausgewählt zu werden +
++ eine kategorial andere Erfahrung machen +++ eine Schlüsselerfahrung ma-
chen +++ erneut ausgewählt werden +++ nicht ausgewählt werden +++ übrig
bleiben +++ in Erwartung verharren +++ enttäuscht resignieren +++ Tanzstunde +
++ etwas nicht unmittelbar wahrnehmen können und sich dennoch dafür ent-
scheiden müssen +++ Onlinedating +++ eine Resonanz spüren +++ sich in der
Begegnung mit einem Anderen auf einen kreativen Prozess einlassen +++ sich mit
einem Anderen auseinandersetzen +++ …
Worauf richtet sich der Blick, wenn er auf etwas fällt? Was leitet die Wahrneh-
mung? Wodurch stellt sich Resonanz ein? Erfordern die „Dinge den langen fas-
zinierenden Blick, der sich von der Dichte der Oberfläche nicht abzulösen vermag
[…]“¹⁴? Oder erschließt sich Sinn erst dem, der die Oberfläche deutend durchstößt,
um so in tiefere Bedeutungsschichten zu gelangen? Beides ist möglich und kann
sich vielschichtig verbinden und spannungsvoll wechselseitig erschließen. Etwas
Neues entsteht so oder so. Assoziativ stellt sich eine Verbindung zur Struktur der
Psalmen ein, nämlich zum parallelismus membrorum, „der darauf beruht, dass
Aleida Assmann, „Die Sprache der Dinge: Der lange Blick und die wilde Semiose“, in Ma-
terialität der Kommunikation, hg.v. Hans-Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer (Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 21995), 237– 251, hier 241.
246 Petra Schulz
ein Sachverhalt durch zwei oder drei parallele Aspekte beschrieben wird [und
dadurch, P.S.] eine produktive Unschärfe und Plastizität der Aussage“ entsteht.“¹⁵
Die in den beiden Satzgliedern eines Verses verwendeten Worte decken sich nicht,
sie stehen aber in Resonanz zueinander und öffnen dadurch auf einen Sachver-
halt mehrere Perspektiven. Jedes in den Satzgliedern verwendete Wort öffnet
andere Deutungshorizonte. „Darauf, dass sich zwei Wörter nie ganz in ihrer Be-
deutung decken, kommt es aber gerade an, weil ‚das Ganze‘ nie durch ein einziges
Wort oder einen einzigen Gedanken zu erfassen ist, sondern immer nur durch
mehrere […].“¹⁶
Plötzlich trat den Schieferplatten, die inzwischen in Stahl gerahmt worden waren,
ein Anderes gegenüber, das in Resonanz auf sie so oder so entstanden war. Einige
erkannten sich selbst in dem Anderen, sie sahen die Bilder, die sich in sie eingeprägt,
hatten. Sie sahen die Zeichen der Zeit, die sie auf ihrer Oberfläche spürten. All dies
nahmen sie in dem Anderen wahr, allerdings in einer veränderten Gestalt. Anderen
wiederum schien es, als würden sie durch das Andere in eine Geschichte eintreten,
die offensichtlich in Resonanz auf sie erzählt wurde. Sie rätselten nun, was diese
Geschichte erzählte und versuchten, sie zu erschließen. Oder sie überließen sich
dieser Geschichte und tauchten in sie hinein wie in einen Traum. Einige Schiefer-
platten waren froh, dass das Andere, das ihnen gegenübertrat, einen Titel trug. Das
eröffnete ihnen sogleich einen Zugang zu der Weise, wie das Andere sich verstand.
Andere Schieferplatten hoben wiederum den Vorzug eines unbestimmteren Zugangs
zum Anderen hervor.
+++ sich überraschend einem Anderen gegenüber sehen, das in Resonanz auf
einen selbst entstanden und gestaltet wurde +++ sich selbst im Spiegel eines
Anderen noch einmal neu und anders wahrnehmen können +++ sich im Anderen
spiegeln können +++ in der Begegnung mit dem Anderen Teil einer Erzählung
werden +++ die Unbestimmtheit des Anderen wahrnehmen und schätzen +++
spüren, dass sich hier Imaginations- und Deutungsräume öffnen +++ vermeint-
liche Sicherheit gewinnen durch die genaue Bezeichnung des Anderen +++ sich
dem Raum, den ein Anderer öffnet, vertrauensvoll überlassen +++ sich dem An-
deren interessiert zuwenden +++ …
Das „Urbild“ der Schieferdachplatte zeigt sich in vielerlei Gestalt. Keines ähnelt
dem anderen. Das Gleiche gilt für die auf die einzelnen Schieferdachplatten be-
zogenen Resonanzen. Nicht nur Urbild, sondern auch Resonanz gibt es nur im
Plural. Zugleich zeigt sich ein Verweisungszusammenhang zwischen Urbildern
sowie den darauf bezogenen Resonanzen. Es fällt auf, dass bei näherer Be-
trachtung der Schieferdachplatten sowie ihres jeweiligen Gegenübers in einzel-
nen Fällen nicht auf den ersten Blick deutlich wird: Was ist das Original und was
ist die Resonanz? Davon ausgehend ist es nur ein kleiner Schritt, bei allen Di-
ptychons die Perspektive zu wechseln und die Paare in wechselseitiger Resonanz
wahrzunehmen. Assoziationen stellen sich ein zur Vielfalt von Gottes- und
Menschenbildern, die sich unterscheiden, aufeinander verweisen und in Span-
nung zueinander gesetzt werden. Von der Schieferdachplatte ausgehend kann die
Resonanz zum Kunstwerk gehen oder auch umgekehrt. Vermeintlich klare Zu-
ordnungen (Wer oder was war zuerst da?) werden durchkreuzt im Prozess der
Wahrnehmung. Der Blick weitet sich von den Paarkonstellationen auf das Ganze
der Vielfalt. „Stelldichein bei den Netzen I“ – Der Titel eines der Kunstwerke mag
nicht zuletzt als Aufforderung verstanden werden, intuitiv, assoziativ Verbin-
dungen zwischen den verschiedenen Schieferdachplatten sowie ihrem jeweiligen
Anderen herzustellen und so ein Netzwerk wechselseitiger Verweisungen ent-
stehen zu lassen. Jedes einzelne Kunstwerk wiederum kann Deutungsräume für
biblische Textwelten öffnen.
So verbindet sich „Stelldichein bei den Netzen I“¹⁷ nicht nur mit der Berufung
des Fischers Petrus, dem Erfolg und Misserfolg beim Fischfang, sondern auch mit
dem höchst ambivalenten Bild des Menschenfischers. Jesus fordert den von seiner
Blindheit geheilten Menschen auf, in sein Haus zu gehen und nicht in das Dorf
zurückzukehren. Weshalb? Vielleicht weil dort die Gefahr besteht, von alten und
beschädigenden Netzen wieder eingefangen, erneut verwickelt zu werden. Der
Rückzug ins Haus ermöglicht Zeit, innezuhalten, sich zu besinnen, neu aufzu-
stellen. Das Bild lässt sich auch als Verweis auf die Versuchungsgeschichte
deuten. Da ist der Versuch des Satans, Jesus mit (vermeintlich) reizvollen Ange-
boten auf seine Seite zu ziehen/einzufangen. „Stelle dich ein bei den Netzen“, das
wäre dann die auf der Oberfläche freundlich einladende Geste, um jemanden zu
verführen und der eigenen Sache dienstbar zu machen. „Stelle dich ein bei den
Netzen“ kann aber auch die Einladung sein, sich einer Gemeinschaft anzu-
schließen, die als gut vernetzte den Einzelnen auffängt, ihn hält und trägt.
Andere Assoziationen stellen sich ein, wenn dem Werk „Stelldichein bei den
Netzen I“ die auf eine andere Schieferdachplatte entstandene Resonanz gegen-
Grit Sauerborn, 2018. Acryl, Farb- und Graphitstift auf Sperrholz. Abbildung in: Grauzone,
132 f.
248 Petra Schulz
Abb. 1: Schiefertafel zu Grit Sauerborn, Stelldichein bei den Netzen I. Foto: Martin Kumlehn
Im Spiegel der Kunst nahmen die Schieferplatten sich selbst und ihre Gemeinsam-
keit noch einmal in besonderer Weise wahr. Unversehens erschienen ihnen die Zeit
auf dem Hof und die Zeit auf der Remise nur wie ein Augenblick. Und sie dachten
noch einmal an die Millionen Jahre, in denen sie einstanden waren. Sie dachten an
die unendlichen Weiten der Zeit und des Kosmos und sahen im Anderen auch
Spiegelungen dieser Weiten, die sich im Spiegel des Anderen noch einmal ganz
anders zeigten. In der Begegnung mit dem Anderen wurden die Schieferplatten sich
des Eigenen umso stärker bewusst. Interessant war, dass die Schieferplatten – be-
dingt durch die Nähe zu den anderen Schieferplatten – von Anfang an auch deren
jeweiliges Andere wahrnahmen und sich davon ansprechen ließen. Die Schiefer-
Abb. 2: Grit Sauerborn, Stelldichein bei den Netzen I. Foto: Martin Kumlehn
+++ Rückblick halten +++ das Leben Revue passieren lassen +++ die eigene
Geschichte und Tradition vergegenwärtigen/derer gedenken +++ sich eingebun-
den in einen großen Zusammenhang wahrnehmen +++ der Vielfalt/Fülle des
Lebens gewahr werden +++ um die Wahrheit des Lebens ringen +++ durch Be-
gegnungen angeregt werden +++ sich auf Andere(s) einlassen +++ Vielfalt und
Widersprüchlichkeit von Erfahrungen wahrnehmen +++ Selbstwerdung +++
Identität als soziale Identität +++ um die Wahrheit ringen +++ Vielfalt der Per-
spektiven +++ im Dialog mit sich selbst und anderen sein +++ kontroverse
Standpunkte wahrnehmen +++ sich bereichern lassen durch Andere und Anderes
+++ Vielfalt der Perspektiven als horizonterweiternd oder als bedrohlich erleben +
++
Das Zwischen der Schieferdachplatten und das Zwischen der Psalmen korre-
spondiert. Im Zwischen der Psalmenverse zeigt sich die Wahrheit der Gefühle, die
in den Psalmen ihren Ausdruck findet. „Die Wörter und Texte werden in ihrer
Bedeutung aufeinander hin durchsichtig und erschließen so gegenseitig ihren
250 Petra Schulz
Sinn. Diese Vieldimensionalität des Sinns gleicht einen ‚Raum‘, in dem sich das
Verstehen hin und her bewegen kann.“²²
Mit der Kunst eröffnete sich den Schieferplatten auch eine neue Öffentlichkeit. Sie
fanden Eingang in Kunstorte und wurden zuletzt mit ihrem Anderen gar in einem
Museum gezeigt. Dort fand das, was sich Schritt für Schritt angebahnt hatte, einen
vorläufigen Höhepunkt.
Wer sich durch die Ausstellung wie ein Flaneur durch eine Stadt treiben lässt²³,
stellt kontinuierlich neue Verbindungen her und nimmt auch das am Rande (der
Deutung) Liegende wahr. Auf seinem Weg geraten die nicht ausgewählten
Schieferdachplatten in besonderer Weise wieder in den Blick. Der im Museum
aufgeschüttete Rest mag zur Veranschaulichung der Originale, die damals auf der
Mülldeponie geborgen wurden, dienen. Auf deren Herkunft verweist zudem ein
Foto des Schiefersteinbruchs in Wales, das sich hinter der Aufschüttung zeigt.
Jedoch zeigt sich der Haufen dem Flaneur nicht nur als übrig gebliebener Rest,
sondern vielmehr als Potential dessen, was noch möglich wäre. Nicht allein als
Veranschaulichung der Geschichte des Kunstprojekts, sondern als Hinweis auf die
Fülle möglicher Gestalten und Resonanzen, die den Rahmen der Ausstellung
übersteigt. „Über den Weg, genauer gesagt über die Betrachtung des Weges im
Nachhinein flechten sich die einzelnen Ereignisse zu einem Ganzen zusammen.
Hierbei spielen das Zufällige, die Funde am Rande des Weges, die ‚Serendipities‘ –
Glücksfunde – eine große, wenn nicht bestimmende Rolle.“²⁴ Glücksfunde stellen
sich ein durch „freie[s], imaginative[s] Suchen und […] den Sprung, den kreativen
Sprung über das hinaus, was bislang vorgegeben war.“²⁵
Werden Dinge, die Eingang ins Museum finden, einschließlich ihrer Geschichte
als Metaphern in Gebrauch genommen, öffnet sich die Tür zu einem kategorial
anderen Deutungs- und Erkenntnisraum. „Bei der Musealisierung […], also bei der
Aufnahme von Dingen ins Museum, findet […] ein Aufheben in einem dreifachen
Sinne statt: ein Aufheben im Sinne der Zerstörung eines ursprünglichen Kontex-
tes, ein Aufheben im Sinne von Bewahren (Speichern) und schließlich ein Auf-
heben im Sinne eines Erhöhens, nämlich durch die Konstruktion einer symbo-
lisch-epistemischen Ordnung.“²⁶ Ein Aufheben in einem vierten Sinne schließt
sich nun im Blick auf die Schieferdachplatten und ihres jeweiligen Anderen an.
Nämlich im Sinne einer Bewahrung über das konkrete Projekt „Grauzone. Ein
Dach wird Kunst“ hinaus durch Metaphorisierung und Einbettung in einen wei-
teren Kontext, nämlich den der anthropologischen Grunderfahrungen und reli-
giösen Sprach- und Textwelten.
Mit dem Schachtdeckel, der als Metapher für den Einstieg in Tiefenstrukturen der
Identität wahrgenommen werden kann, wird die Versuchungsgeschichte Jesu (Mt
2,1– 11) aufgerufen.²⁸ Der geöffnete Schachtdeckel macht die Welt, die unterhalb
der Stadt liegt und dunkel, andersartig, fremd, bedrohlich anmutet, zugänglich.
Vieles von dem, was die Funktionsfähigkeit der Stadt gewährleistet, findet sich
dort. Der Schachtdeckel verweist auf das, was auf der Oberfläche der Wahrneh-
mung zunächst nicht sichtbar ist. Beispielsweise das existenzielle innere Ringen
eines Menschen um den für ihn stimmigen Weg.
Poller dienen der Abgrenzung. Als Metapher verweisen sie auf die Grenzen, die
Menschen zum Schutz setzen oder die ihnen gesetzt werden. Die Komposition der
HG Merz, „Lost in Decoration“, in Dingwelten: Das Museum als Erkenntnisort, hg.v. Anke te
Heesen und Petra Lutz (Köln: Böhlau, 2005), 37– 43; hier: 97.
Vgl.Vittorio Magnago Lampugnani, Bedeutsame Belanglosigkeiten: Kleine Dinge im Stadtraum
(Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2019).
Vgl. Maria Kassel, Biblische Urbilder: Tiefenpsychologische Auslegung nach C.G.Jung (Mün-
chen: Pfeifer, 31980), 8 – 29.
252 Petra Schulz
Versuchungsgeschichte ist so angelegt, dass mit Jesu Entgegnungen auf die An-
gebote des Satans biblische Erzählungen als Poller aufgerufen werden, an denen
sich zugleich das Profil der Jesusfigur zeigt.²⁹
Das Denkmal fungiert als Zeichen der Erinnerung und des Gedächtnisses. Ein
Denkmal könnte an das Ende der Versuchungsgeschichte gesetzt werden als Er-
innerung an eine Situation, in der sich nach einer Zeit des existenziellen Ringens
wieder Ruhe einstellt und neue Kraft zuwächst.
Oftmals finden sich Bank und Abfallkorb im nahen Umfeld eines Denkmals. Die
Bank lädt zum Innehalten ein und der Abfallkorb nimmt das auf, was nicht mehr
benötigt wird. Wobei Müllsucher nicht nur in Abfalleimern Verwertbares finden.
Nicht nur die Schieferdachplatten und ihr jeweiliges Andere bieten die Möglich-
keit vielperspektivischer Deutung. Im Grunde genommen kann nahezu jedes Ding
in dieser Weise in Gebrauch genommen werden. Neue Zugänge zu anthropolo-
gischen Grunderfahrungen und religiösen Text- und Sprachwelten eröffnen sich
somit über „verschiedene ästhetische Sprachspiele […], die sich ihrerseits am
Sagen des Unsagbaren abarbeiten und der theologischen Sprache von daher neue
Übersetzungsmöglichkeiten zuspielen können.“³⁰
Die Dinge können in einem imaginären Museum gesammelt und Besucher an-
geregt werden, über spezifische Klassifizierungssysteme „ihre eigenen Verbin-
dungen und Interpretationen“³¹ herzustellen.
Das zweite Objekt in dem imaginären Museum könnte beispielsweise das
fleckige Shirt sein.
Was kann dieses Shirt erzählen von dem, der es trägt? Was kann es erzählen von den
Erfahrungen, die er gemacht hat? Viele Erfahrungen hat es gemacht! Zuweilen
Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 1. Teilband (Mt 1– 7) (Zürich/Düsseldorf:
4
1997), 162– 164; Eckart Reinmuth, Anthropologie des Neuen Testaments (Tübingen: UTB, 2006),
56 – 59.
Martina Kumlehn, „Zwischen Babel und Pfingsten: Übersetzungen zwischen Sprachwelten als
Kernaufgabe sprachsensibler Theologie“, in Sprachsensibler Religionsunterricht, Jahrbuch für
Religionspädagogik 37, hg.v. Stefan Altmeyer u. a. (Neukirchen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021),
30 – 41, hier: 41.
Nicky Reeves, „Einblick ins Depot: Einblick in die Museumsarbeit, in Kultur & Gespenster:
Archive und Depots: Archive und Depots und Lager und Halten und Haufen und Bunker und Ver-
liesse und Kammern, Kultur & Gespenster 21, Übers. Birthe Mühlhoff, hg.v. Gustav Mechlenburg,
Nora Sdun und Christoph Steinegger (Hamburg: 2021), 220 – 237, hier: 223.
Schieferdachplatten 253
diente es gar als Serviette – nachts, wenn der Kühlschrank geöffnet wurde und alles,
fast alles, was sich im Kühlschrank befand, Eingang fand in den Bauch, den das
Shirt bedeckte. Das Shirt hielt alles aus. Es hatte auch keine andere Wahl. Denn es
gehört zu dem, der es trägt. Das weiß das Shirt sehr wohl. Das muss es ertragen. Vor
allem nachts vor dem Kühlschrank fällt ihm das oftmals schwer. Da wird es zum
Zeugen. Es wird zum Zeugen eines geheimen Gelages. Und hin und wieder finden
sich Spuren dieses Gelages an ihm. Die Flecken gehen beim Waschen meist raus.
Tagsüber denkt das Shirt viel nach. Hin und wieder fragt es sich, wie es eigentlich zu
dem, der es trägt, steht. Über Stunden des Nachts ist es ihm so nah wie sonst nie-
mand. Es liegt auf ihm. Es umspielt seinen Körper. Es bleibt ihm auch dann nah,
wenn er sich von allem zurückzieht, verkriecht. Es bleibt ihm nah, wenn er sich selbst
kaum noch aushält. Es würde sich wünschen, er spräche mit ihm. Doch er sagt
nichts. Er liegt nur da und sagt nichts und fühlt sich gut und schlecht zugleich. Gut,
weil mit vollem Magen, und schlecht, weil viel zu viel gegessen. Das spürt das Shirt
ganz genau. Und es umarmt ihn. Trotz allem. Auch, weil es nicht anders kann.
Wahrscheinlich spürt er die Umarmung gar nicht, weil es ja sowieso die ganze Zeit
seinen Körper umhüllt. Und sein Träger ein Mehr als diese Umhüllung vielleicht gar
nicht fühlen und denken kann. Das zumindest vermutet das Shirt.
Später begegnen dem Flaneur im imaginären Museum vielleicht ein Talar und
eine Stola als Zeugen des gottesdienstlichen Vollzugs. „Der Talar sagt etwas – die
Stola auch.“³² Was sagen Talar und Stola? Und was sagen sie/Sie zum fleckigen
Shirt?
Diesen Kurs hat Thomas Klie entscheidend mitgeprägt. Allzu vertikale Argumentationsmuster
sind ihm fremd. Das Interesse für Zeichen, Spiel, Gesten, Stoffe, Sprache, Musik, Theater und
andere Dinge, die er auf Religion hin zum Sprechen bringt, zeigen die horizontale Ausrichtung.
https://doi.org/10.1515/9783110762853-017
256 Matthias Marks
sich auf Schritt und Tritt, wie wichtig die ‚empirische Wende‘ war. Neue Reflexi-
onspotenziale taten sich auf durch die Öffnung für den Dialog mit Nachbardis-
ziplinen. Seitdem ist klar: der Gegenstand der Praktischen Theologie ist viel
komplexer als zuvor gedacht und kann nur interdisziplinär gewinnbringend be-
arbeitet werden.
Bei der Nennung der zukunftseröffnenden Perspektiven- und Paradigmen-
wechsel darf neben dem ‚cultural turn‘, ‚performative turn‘, ‚material turn‘ und
anderen ‚turns‘ freilich der ‚iconic turn‘² nicht fehlen. Dies sei erwähnt, weil es
derzeit immer noch so aussieht, als stünde die Bildwissenschaft in der Prakti-
schen Theologie auf einem Abstellgleis.³ Ob es daran liegt, dass im Zuge der
phänomenologisch-hermeneutischen (Wieder‐)Entdeckung des Visuellen in der
Theologie bisher vor allem die strukturellen Eigenarten des Bildes im Fokus
standen und die bildlich vermittelten Botschaften und ihre Bedeutung bei der
rezeptionsästhetischen Aneignung noch zu wenig Beachtung finden?⁴ Oder ist es
nach wie vor der erhöhte Respekt vor der Macht des Bildes, jenem Ding, das die
Spielregeln im Umgang mit ihm nicht zu kennen scheint, das sich als Schauplatz
entstehenden Sinns verselbstständigen, einem leicht aus den Fingern gleiten,
nicht nur Neugier entlocken, sondern auch das Fürchten lehren kann? Dagegen
hatte es die Semiotik vergleichsweise leicht, in der Praktischen Theologie Fuß zu
fassen.⁵ Denn wer ‚Zeichen‘ sagt, muss noch nicht ‚Bild‘ meinen.⁶ Die Frage ist
Gleichwohl weiß er zu betonen: „Kommunikation des Evangeliums“ meint nicht nur, was Men-
schen kommunikativ mit dem Evangelium tun (gen. obj.), sondern ebenso, was das Evangelium
kommunikativ mit Menschen tut (gen. subj.).
Der Begriff „iconic turn“ stammt von Gottfried Boehm, „Die Wiederkehr der Bilder“, in Was ist
ein Bild?, hg.v. Gottfried Boehm (München: Fink, 1994), 11– 38, und meint im interdisziplinären
Kontext einen wissenschaftsübergreifenden Paradigmenwechsel von der Textwissenschaft zur
Bildwissenschaft. Wie dies praktisch-theologisch aussehen könnte, ist eindrücklich zu studieren
in dem Beitrag von Thomas Klie, „Lektüren liturgischer Performanz am Beispiel der Elevation“, in
Präsenz im Entzug: Ambivalenzen des Bildes, hg.v. Philipp Stoellger und Thomas Klie (Tübingen:
Mohr Siebeck, 2011), 373 – 388.
Nach zögerlichen Aufbrüchen in den 1980er Jahren durch Beiträge von Rainer Volp, Eilert
Herms u. a. wurde die Bildthematik lange nur am Rande der theologischen Ästhetikdebatte oder
in Dialog-Foren ‚Kunst und Kirche‘ mit verhandelt. Wie der Beitrag der Praktischen Theologie im
interdisziplinären Bilddiskurs aussehen könnte, wurde erst kürzlich gezeigt. Vgl. Matthias Marks,
Menschwerden aus Passion: Das Religiöse in der Malerei von Rudolf Hausner (1914 – 1995) (Stutt-
gart: Kohlhammer, 2013), insbes. 101– 134; 299 – 311; dort auch die wichtigsten Literaturverweise.
Vgl. Christian Schwindt, Art. „Theologie, christliche“ in Bildwissenschaft: Disziplinen, Themen,
Methoden, hg.v. Klaus Sachs-Hombach (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005), 196 – 212.
Mit der Semiotik hat sich die Praktische Theologie eine Theorie zu Eigen gemacht, mit der sie in
vielen Handlungsfeldern Neuland betreten konnte: in der Liturgik (Bieritz, Volp), der Homiletik
Dinge, die unter die Haut gehen 257
Einen Forschungsüberblick bieten Iris Därmann, Thomas Macho und Nina Franz (Hg.), Unter
die Haut: Tätowierungen als Logo- und Piktogramme (München: Fink, 2016). Ebenso Elisabeth
Rohr, „Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design: Zur sozialen und psychischen Be-
deutung von Piercings und Tattoos“, in Körperhandeln und Körpererleben: Multidisziplinäre Per-
spektiven auf ein brisantes Feld, hg.v. Anke Abraham und Beatrice Müller (Bielefeld: Transcript,
2010), 225 – 242.
Inken Mädler, „Grenzüberschreitung als Phänomen populärer Religionskultur: Die Tätowie-
rung als Arbeit an der Grenze“, in Kommunikation über Grenzen, VWGTh 33, hg.v. Friedrich
Schweitzer (Gütersloh: Ev. Verlagsanstalt, 2009), 710 – 722.
Vgl. Matthias Marks, Religionspsychologie, Kompendien Praktische Theologie 1 (Stuttgart:
Kohlhammer, 2018).
Dinge, die unter die Haut gehen 259
Technik. Der Akt des Tätowierens stellt sich seit jeher als ein Eingriff dar, der mit
Blut und Schmerz verbunden ist. Unterschiedliche Verfahren werden praktiziert,
um die Farben unter die Haut zu bringen. Als Beispiele: Die Inuit benutzen rußige
Fäden, die narbenähnliche Markierungen hinterlassen. Die Maori in Neuseeland
schneiden sich mit Meißel-ähnlichen Holzinstrumenten Farbe in die Gesichts-
haut. Die Samoaner verwenden eine kammähnliche Hacke, die u. a. aus Men-
schenknochen bestand. Auf Tahiti wird die Haut mit scharfen Steinen, Knochen
Lange galt die These, dass die Sitte des Tätowierens ursprünglich aus Südwestasien stamme,
sich von dort über Ägypten nach Polynesien und Australien ausgebreitet habe und schließlich
nach Nord- und Südamerika weitergetragen wurde. Dies wird heute in Frage gestellt.
260 Matthias Marks
oder Haifischzähnen aufgeritzt und dann mit Asche oder Pflanzenfarbe einge-
rieben. Bei den Maya und Azteken sind Dornen und Kakteenstacheln gebräuch-
lich. Tätowiert wird an allen Körperstellen.
Kult. In der Frühzeit ist die Körperkunst des Tätowierens stets eingebettet in einen
sakralen, rituellen und sozialen Kontext. Sie dient „u. a. der Markierung zentraler
Lebensphasen, der Initiation, d. h. dem Abschied von der Kindheit und der In-
tegration in die Erwachsenenwelt, der Geburt des ersten Kindes, der Tötung des
ersten Tieres während der Jagd, aber auch dem siegreichen Kampf in der krie-
gerischen Auseinandersetzung.“¹⁴ In Ägypten werden mit einer Tätowierung
magische Kräfte verbunden, die über den Tod hinaus wirken und dem Verstor-
benen im Jenseits zugutekommen. Bei den frühen Christen ist es üblich, sich zur
Vergewisserung ihres Glaubens und als Identifikationszeichen die Initialen CX
oder I.N. (Iesus Nazarenus) bzw. christliche Symbole (Lamm, Kreuz, Fisch) auf
Stirn oder Handgelenk stechen zu lassen.
Begriff. Das Wort „tätowieren“ hat seinen Ursprung in den polynesischen Spra-
chen. „Tattoo“ stammt vom tahitianischen Wort „tattau“ oder „tatatau“ (= ein-
schlagen, kunstgerecht, ein Muster in der Haut). Der Begriff, der erstmals 1769 von
Captain James Cook erwähnt und als „tattoo“ in die englische Sprache eingeführt
wird, verbreitet sich ab 1774 in Europa. Im deutschen Sprachraum sind zuerst
beide Begriffe „Tatauieren“ und „Tätowieren“ gebräuchlich, bevor sich zu Beginn
des 20. Jh. die Bezeichnung „Tätowieren“ durchsetzt.
Stigma. Die europäische Tradition der Tattoos ist eng mit der Geschichte der
Sklaverei verbunden, in einem doppelten Sinne. Zum einen dienen Tätowierun-
gen dazu, Menschen zu Besitzstücken und Zwangsarbeitern zu machen. In der
griechischen Antike tragen Sklaven die eintätowierten Namen ihres Herrn oder
Buchstaben und Ziffern, die wie Brandstempel auf Tieren als Eigentumsmarke
oder Erkennungszeichen fungieren. Im alten Rom dient die Gesichtstätowierung
als Zeichen der Strafe für entlaufene Sklaven, Kriegsverbrecher und Kriminelle,
die als Gladiatoren in den Arenen oder Zwangsarbeiter in den Minen den Tod
finden sollen. Zum anderen werden Straf- und Sklaventätowierungen auch im
umgekehrten Sinne verwendet als Überlebens-, Schutz- und Freiheitszeichen,
d. h. als Stiftung der neuen Identität bzw. Zeugnis oder Bekenntnis, zu dieser
sozialen Gruppe zu gehören. Als sakral gilt die Sklaventätowierung, die einen
Sklaven als unter dem Schutz seines Gottes stehendes Eigentum ausweist, d. h. als
von ihm befreit (losgekauft) und somit für profane Zugriffe unerreichbar. Daran
angelehnt bezeichnet sich der Apostel Paulus als „Sklave des Messias“, der „die
Stigmata Jesu“ an seinem „Leibe trägt“ (Gal 6, 17).
Ambivalenz. Die Tätowierung in der Bedeutung als Stigma verbreitet sich in Eu-
ropa (und Japan¹⁵) bis ins 20. Jh. hinein. An die Straf- und Sklaventätowierungen
im erstgenannten Sinne erinnern die Häftlingsnummern, die im Nationalsozia-
lismus KZ-Insassen eintätowiert wurden, oder auch Tätowierungen von Zwangs-
prostituierten durch Zuhälter. Ganz anders erscheint die Bedeutung der Stigma-
tisierung im Anschluss an die Tradition des tätowierten Seemanns (seit James
Cook). Es entwickelt sich jene Tätowierungspraxis, bei der Personen, die als ge-
sellschaftlich Randständige galten (wie Seeleute, Kriminelle, Prostituierte usw.),
die Tätowierung als identitätsstiftende Initiierung freiwillig auf sich nehmen, um
ihrer exklusiven Gruppe anzugehören und sich vor anderen auszuzeichnen.¹⁶ Zum
Beispiel sind ehemalige Häftlinge mit Spinnen am Hals oder Hinterkopf, mit
Tränen an den Augenrändern („Knasttränen“) oder mit drei Punkten zwischen
Daumen und Zeigefinger („Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt“) täto-
wiert. Sind Anfang des 20. Jh. Tätowierungen fast nur bei Seeleuten, Soldaten,
Angehörigen sog. Subkulturen oder Häftlingen zu sehen, werden sie in den 1970er
Jahren v. a. bei Punks und Rockern zum Bestandteil ihrer Kultur. Was gesell-
schaftlich lange als negativ galt (Stigma von Schande, Sünde, Verbrechen, so-
zialem Außenseitertum), wird ästhetisch zur Schau getragen. Das Stigma wird
also zunehmend im positiven Sinne als Zeichen von etwas Herausgehobenem,
Besonderem und Exklusivem verstanden. Tätowierte Prominente, wie Stars im
Profi-Fußball und in der Musikbranche, werden zu Vorbildern einer modernen
Jugendkultur.¹⁷
Auch wenn Tätowierung in Japan (erst seit 1948 offiziell erlaubt) immer beliebter wird, haftet
ihr bis heute das Stigma des kriminellen Milieus an. Früheste Belege stammen aus dem 3. Jh., als
Tätowierungen v. a. zur Stigmatisierung von Verbrechern eingesetzt werden (vgl. Yakuza-Kultur),
bevor um 1868 die Schmucktätowierung aufkommt.
Vgl. dazu genauer: I. Därmann, Th. Macho u. a., Unter die Haut.
Vgl. E. Rohr, Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design, 240 – 242.
262 Matthias Marks
Zusammenhang kommt²⁰, was wiederum dem Tätowierten selbst gar nicht be-
wusst sein muss, aber in der persönlichen Auseinandersetzung und im Gespräch
über sein Tattoo zum Vorschein kommen kann. Darum soll hier die tätowierende
Handlung, also der performative Aspekt von Tattoos genauer betrachtet werden.
Vgl. Patrick Dzambo, „Tattoos: Mehr als nur Farbe in der Haut?“, KatBl 141 (2016): 130 – 135;
Ders., „Tattoos, a modern way of religious identity construction?“, in: Religiöse Bildung in Europa:
Exemplarische Einblicke in eine komparative Religionspädagogik, hg.v. Patrik Dzambo, Jadranka
Garmaz und Bernhard Grümme (Münster: LIT, 2019), 39 – 45.
E. Rohr, Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design, 226.
Statt einer Entfernung wird manchmal auch ein „Makeover“ gewünscht. Ein Tattoo wird
damit quasi zu einem Palimpsest, indem das bisherige Tattoo, das ausgedient hat, von einem
neuen überdeckt wird, ohne damit jedoch zu verschwinden.
264 Matthias Marks
Udo Feist, „Etwas, das bleibt“: Wie viel Religion steckt in Tattoos?, Manuskript WDR 3, Le-
benszeichen, Sendung vom 01.11. 2016, 11.
E. Rohr, Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design, 234.
Ebd., 233.
Vgl. Matthias Marks, Art. „Adoleszenz“, in Wissenschaftlich-Religionspädagogisches Lexikon
im Internet (2020) (online abrufbar unter www.wirelex.de); im Anschluss an Peter Blos, Adoles-
zenz: Eine psychoanalytische Interpretation (Stuttgart: Klett, 1973).
Uta Karacaoglan, in U. Feist, Etwas, das bleibt, 9.Vgl. dies., „Tattoo and taboo: On the meaning
of tattoos in the analytic process“, in The International Journal of Psychoanalysis 93 (1) (2012):
5 – 28.
Dinge, die unter die Haut gehen 265
die aufgrund der Selbstheilungskräfte des Körpers ohne eigenes Zutun heilt. Als
bunte Zeichnung oder Narbe hält sie „die Erinnerung an den Schmerz“, vor allem
jedoch „die Erinnerung an die aktiv gestaltete Überwindung des Schmerzes“²⁸ und
an die künftig weiterhin dafür benötigen Abwehrkräfte fest. Insofern spiegelt sich
im Begehren einer Tätowierung „sowohl ein autoaggressives wie auch ein re-
gressives Verhalten“, das helfen soll, Krisen- und Konflikterfahrungen nicht nur
passiv erleiden zu müssen.²⁹ Stattdessen wird die Haut, in der man steckt, als
Pufferzone, d. h. als Experimentierfeld und Schutzwall genutzt in einer globali-
sierten Welt, wo „nur noch der eigene Körper als Objekt der Kontrolle, der
Selbstvergewisserung und der performativen Ausgestaltung der eigenen Identität
zur Verfügung zu stehen scheint.³⁰
Ästhetisierung von Tabus. Tattoos können als ein Mittel benutzt werden, um be-
stimmte Themen, Probleme und Konflikte von sich fern zu halten. Indem sie als
Tattoo gestochen werden, erscheinen sie sozusagen auf magische Weise in einem
bestimmten Motiv (Verdichtung) oder in ihr Gegenteil verkehrt (Verschiebung)
gebannt und somit entschärft. Wie in einem Traumbild, in dem äußere Erfah-
rungen und die darauf antwortenden inneren Phantasievorstellungen zunächst
undifferenziert zusammenkommen und eine andere Ebene brauchen, um ge-
ordnet und verarbeitet werden zu können.³¹ Diese andere Ebene können Tattoos,
solange sie nur gestochen, aber sachlich nicht bearbeitet werden, nur bedingt
sein, insofern die dahinterstehenden Themen, Probleme und Konflikte auf diese
Weise auch tabuisiert und durch Selbsttäuschung zum Verschwinden gebracht
werden können. „Tattoos helfen nicht dabei, mit unerträglichen Gefühlen besser
umgehen zu können. Sie halten sie bloß auf Distanz“, sind sozusagen ein „Auf-
schub“, ein „Snapshot“, eine Momentaufnahme von der Situation, in der man
emotional stecken geblieben ist.³² Ein Tattoo kann somit nur vorübergehend be-
ruhigen, was erklärt, warum es oft bei einem Tattoo nicht bleibt. Denn die Sym-
bolisierung auf der Haut kann den für eine wirkliche und dauerhafte Heilung und
Individuation notwendigen innerpsychischen Symbolisierungsprozess³³ nicht er-
setzen. Psychoanalytisch würde man das Ding unter der Haut dann als „projektive
Identifizierung“ bezeichnen, ein vorläufig hilfreicher psychischer Mechanismus,
der zur sog. „ersten Wahrnehmung“ von Wirklichkeit gehört, die es im weiteren
Ruf nach Heilung. Im Zentrum der psychoanalytischen Deutung steht das Para-
dox, dass die Haut als äußerste Grenze des Körpers zur Darstellung eines in-
nersten Aspekts des Selbst genutzt wird. D. h. in den Bildern, Zeichen, Symbolen
oder Worten, die im wahrsten Sinne ‚unter die Haut‘ gestochen werden, erschei-
nen Dinge zum Sprechen gebracht, die im sprichwörtlichen Sinne ‚unter die Haut‘
gegangen sind. Insofern können Tattoos als bildgewordene Biographie oder vi-
sualisiertes Tagebuch³⁵ verstanden werden, „Botschaften an die Innen- und Au-
ßenwelt, mit denen versucht wird, die Seele ein wenig Gerechtigkeit oder Aus-
gleich erfahren zu lassen, die sie in der traumatisierenden Interaktion nicht
erfahren konnte.“³⁶ Zu den extremsten Traumata³⁷ gehören sexuelle Miss-
brauchserfahrungen. In diesem Zusammenhang kann ein Tattoo oder Piercing in
Genital-Nähe begehrt werden und ein Ausdruck des Rufs nach Heilung der kör-
perlichen und seelischen Verletzung sein. Im Akt des Tätowierens oder Piercens
wird dabei dem Tätowierer oder Piercer – wie in einer „Übertragungssituation“³⁸ –
„Diese erste oder früheste Wahrnehmung von Wirklichkeit gehört zur psychischen Grund-
ausstattung von Menschen und kann in bestimmten auslösenden Situationen immer wieder
hervorgerufen werden. Nur die Überwindung, die ständige Überwindung dieser ‚ersten Wahr-
nehmung‘ von Wirklichkeit führt dazu, dass Wahrheit überhaupt in den Blick genommen werden
kann. Diese hermeneutischen Konsequenzen aus den Forschungen von Melanie Klein (1946) und
anderen Autoren sind der wesentliche Beitrag der Psychoanalyse zur Diskussion über die
Wahrnehmung von Wirklichkeit und Wahrheit.“ Wulf-Volker Lindner, „Religiöse Erfahrungen
und Rituale im Lebensalltag, in Religiöses Erleben verstehen, hg.v. Wilfried Ruff (Göttingen:
Vandenhoeck, 2002), 29.
Ann-Kathrin Brenke, „‘Ein Tagebuch in Bildern‘ – reportage“, Hamburger Abendblatt v. 29.11.
2021: 5.
Aglaja Stirn, Körperkunst und Körpermodifikation: Interkulturelle Zusammenhänge eines
weltweiten Phänomens (Gießen: Psychosozial, 2003), 140.
Vgl. Maike Schult, Ein Hauch von Ordnung: Traumaarbeit als Aufgabe der Seelsorge (Leipzig:
Ev. Verlagsanstalt, 2018).
Vgl. M. Marks, Religionspsychologie, 61. – Das psychoanalytische Übertragungs-Gegenüber-
tragungskonzept ist nur im Kontext mit anderen psychoanalytischen Konzepten und vor dem
Hintergrund des psychoanalytischen Menschenbildes zu verstehen. Hier aufs Kürzeste: Inhalte
des Unbewussten kommen – wenn sie denn kommen – meist nicht direkt, sondern indirekt auf
anderen Wegen, am bewussten Selbst-Erkennen-Können vorbei, zum Vorschein. Dies kann in
gewöhnlichen Alltagssituationen geschehen. Im therapeutischen, im kreativen wie im rezeptiven
Prozess können jene verborgenen Anteile der eigenen Person unter bestimmten Beziehungsvor-
aussetzungen übers „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ erschlossen werden. Mithilfe eines
Gegenübers ist es möglich, dass die unbekannten Selbstanteile sich ungewollt ‚inszenieren‘
(„Projektion/Introjektion“), sich unkontrolliert am Anderen, der mit der Sache gar nichts zu tun
Dinge, die unter die Haut gehen 267
mehr unbewusst als bewusst die Rolle des Übeltäters zugedacht. Die unbewältigte
Erfahrung soll durch eine Re-Inszenierung des Übels gelöst werden. Indem die/
der Tätowierte sich nun freiwillig in die Hände eines Menschen begibt, der ihr/ihm
an derselben Stelle wieder Gewalt antut, geschieht das in einem von ihr/ihm selbst
kontrollierten Rahmen. Darin erfolgt eine Identifikation mit dem Aggressor, zu-
gleich jedoch eine quasi-religiöse Handlung, indem ‚Narbe auf Narbe‘ gesetzt und
die erfahrene Gewalt in etwas ‚Schönes‘ umgewandelt wird. Dem Skandalon muss
zunächst ein bildhafter Ausdruck gegeben, es muss noch einmal ähnlich erlebt
werden, um bewältigt werden zu können. Der körperliche Schmerz, den es bei der
Tätowierung heroisch und stoisch zu ertragen gilt (Narkose ist verpönt), erhält so
den Charakter einer Mutprobe im Hinblick darauf, ob die ungleich schmerzhaftere
Auseinandersetzung mit der seelischen Verletzung, mit dem, was ‚echt‘ an den
Nerv gegangen ist, vielleicht gelingen könnte.
Übergangsobjekt. In Gestalt des Tattoos wird das Problem zunächst auf eine
‚Zwischenbühne‘ der Symbolisierung gebracht, bevor es sich – vielleicht – in ein
Narrativ verwandeln, mentalisieren und lösen lässt. Das Tattoo fungiert auf diese
Weise wie das, was in der Psychoanalyse unter dem Begriff des „Übergangsob-
jekts“³⁹ diskutiert wird. Denn dieses enthält „sowohl regressive wie auch pro-
gressive Elemente und ist notwendig, um subjektive wie objektive Umbrüche zu
bewältigen und diese individuell und kreativ zu gestalten.“⁴⁰ Ob ein Tattoo diese
Funktion erhält, ist allerdings nicht garantiert. Es kann ein „Snapshot“ bleiben
oder sogar kontraproduktiv wirken, wenn damit ein innerseelisches Anliegen
bloß nach außen gelenkt („projektive Identifizierung“) und die nötige Ausein-
andersetzung umgangen wird. Auf diese Weise gerinnt ein Tattoo „zum ästheti-
sierten, aber leeren Zeichen auf der Haut.“⁴¹ In der Psychoanalyse wird seit Freud
davon ausgegangen, dass der nötige Prozess des „Erinnerns, Wiederholens und
Durcharbeitens“⁴² nicht allein und nicht schon auf der Ebene der Gefühle und
Bilder zu einer (Er‐)Lösung führen, sondern dass der Konflikt letztlich erst durch
Erzählen und mit Hilfe eines Anderen kommunikativ entschärft werden kann.
Möglich wäre dies durchaus mithilfe eines Tattoos, wenn beispielsweise beim
Aussuchen und Stechen des Motivs über die Beweggründe offen gesprochen
werden kann. Dann könnte der Akt des Tätowierens sogar zu einer Art „Therapie“
werden: „die Leute sitzen da oder liegen da, ähnlich wie beim Friseur, und reden
halt über diese Geschichten.“⁴³ Ob allerdings Tätowierer*innen immer über die
nötigen bildhermeneutischen, psychotherapeutischen bzw. seelsorglichen Kom-
petenzen verfügen, ist fraglich. Ihre Aufgabe ist es nicht.
Ebd.
Sigmund Freud, „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“, in GW X (1914): 125 – 136.
Ramon Sanchez, in U. Feist, Etwas, das bleibt, 10.
Wulf-Volker Lindner, „Die Abendmahlsbilder Rudolf Hausners in St. Jacobi“, in Kirchen –
Kulturorte der Urbanität, hg.v. Hans Werner Dannowski,Wolfgang Grünberg et. al. (Hamburg: EB,
1995), 116.
Dinge, die unter die Haut gehen 269
Bekenntnis zu Glaube, Hoffnung, Liebe. Tattoos können Bilder der Hoffnung und
Zuversicht auf eine Macht sein, die höher, größer, weiter ist als man selbst und
diese Welt, eine letzte Wahrheit, eine umfassende Güte und Gerechtigkeit, Quelle
von Liebe und Frieden. Mit diesem bekenntnishaften Charakter religiöser Täto-
wierungen wirbt beispielsweise ein Tattoo-Studio in Essen mit seinem Namen
„Glaube, Hoffnung, Liebe“ in Anlehnung an 1. Kor 13. Der Akt der Tätowierung
könnte damit an das ursprüngliche Verständnis als sakrales Ritual erinnern, sehr
wohl aber auch, wenn es um das geht, was Menschen „über alle Dinge fürchten,
lieben und dem sie vertrauen“ (Luther), als ‚liturgische Handlung‘ bezeichnet
werden.⁴⁷
Wunsch nach etwas, das bleibt. Tätowierungen können Antwort auf die kulturelle
Beschleunigung sein, also Ausdruck des Wunsches „nach Gültigkeit und Fest-
halten“, nach „Spuren, die überdauern – für zumindest eine persönliche Ewig-
keit.“⁴⁸ Wird ein Tattoo begehrt, weil das gewünschte Motiv nicht nur (ab-
waschbar) gemalt, sondern bewusst auf Dauer angelegt sein soll, spiegeln sich
darin oftmals Ahnungen oder Erfahrungen der Verletzlichkeit und Endlichkeit des
Lebens und von Beziehungen zu geliebten Menschen, angesichts der Vergäng-
lichkeit von allem die Sehnsucht nach „etwas, das bleibt“⁴⁹. Auch dieser Aspekt
ist ‚religiös‘ zu nennen, weil man damit über sich hinausgreift. Ersehnt wird eine
Beziehung, die nicht fällt, wenn alles fällt, die aller Flüchtigkeit und Beliebigkeit
zum Trotz auch über das eigene Ende hinaus bleibt und Gewissheit stiftet, dass
das, was hier und jetzt ist, nicht alles ist (vgl. dazu auch die Ausstellung „Kör-
perwelten“).
Ruf nach Körperlichkeit. Der Tätowierungsboom kann Antwort auf den gesell-
schaftlichen Bedeutungsverfall des Körpers sein, also eine Gegenbewegung als
Ruf nach Ganzheit, mit der der verlorene Bezug zum Leiblichen eingeklagt wird.
Das würde erklären, warum bei einer Tätowierung die Verwundung der Haut, Blut
und Schmerz nicht nur in Kauf genommen, sondern als geradezu dazugehörend
wahrgenommen werden. Damit verweisen Tattoos als Zeugnisse eines neuer-
wachten Interesses am Körper zugleich auf die Bedeutung jener tiefen Kränkung,
die im Individuationsprozess unumgänglich ist und der Einsicht in die Wahrheit
des Selbst dient. Denn:
Körperliche Schmerzen (…), die zum einen an die Vergänglichkeit, die Verwundbarkeit und
Endlichkeit des Körpers gemahnen, der fern davon ist, immer und zu allen Zeiten perfekt
gestylt, allseits fit und ewig gesund zu sein, und seelische Konflikte, die trotz aller An-
strengungen nicht aus der Welt zu schaffen sind, erinnern (…) daran, dass der Mensch auch
schwach, unvollkommen und abhängig und nach wie vor und trotz aller Bemühungen nicht
Herr oder Herrin im eigenen Hause ist. Diese Kränkung war immer schon existent, doch wird
sie in einer Zeit besonders virulent, die Hedonismus, Narzissmus und Perfektion zum Leit-
Diese Deutung setzt freilich ein weites Liturgieverständnis voraus, wie es Thomas Klie vertritt,
indem er dort forscht, wo Kirchenleute und Liturgiewissenschaftler für gewöhnlich nicht unter-
wegs sind: auf den Spiel- und Schauplätzen von Religion im offenen kulturellen Raum, im
Theater, in der Musik, bei Halloween, Valentin und Co. u.v.a.m.
U. Feist, Etwas, das bleibt, 2.
Ebd.
Dinge, die unter die Haut gehen 271
bild einer Gesellschaft erkoren hat und geradezu gnadenlos Schwache, Kranke und Arme
marginalisiert und sanktioniert, so als sei jeder und jede allein an dem eigenen Schicksal
schuld.⁵⁰
Der Ruf nach Körperlichkeit wäre somit ein Ruf nach Menschlichkeit, d. h. den
nötigen Bedingungen, menschlich erwachsen werden, also auch schwach sein zu
dürfen. Das ist ohne Körperempfindungen nicht möglich. Dieses Begehren nach
„Verkörperung“⁵¹ ist religiös, ja christlich-religiös zu nennen, wenn darin jene
Wahrheitsdimension berührt wird, wo sich das ersehnte Bild eines ganzen Men-
schen durch Leiden hindurch verwirklicht. Dies hat nichts mit Masochismus zu
tun, wie in der Psychoanalyse zunächst angenommen. Vielmehr verweist dies auf
ein Leiden, das konstitutiv zur Gott-Mensch-Beziehung gehört, worüber ein
Mensch versucht eins zu werden, wie der Glaube mit einer Hostie. Herstellbar wie
ein Tattoo ist das nicht. Doch wenn es geschieht, dass eine Tätowierung, etwa im
Stil eines Übergangsobjekts, jemandem hilft, „wieder ganz, also ‚heil‘ zu werden“,
ist das nicht nur ein „psychosomatisches Phänomen“⁵² Beim Heilwerden im
christlichen Sinne jedenfalls wird Gewalt nicht bloß in etwas „Schönes“, sondern
vor allem Lebens- und Identitätsstiftendes gewandelt und dieses Tattoo nicht von
Menschen, sondern von Gott vollbracht.
Ruf nach Akzeptanz. Beim Verstehen des Religiösen in Tattoos werden stets
körperliche und seelische Aspekte, innere und äußere Lebenswirklichkeiten und
verschiedene Perspektiven ins Blickfeld gezogen. Wird die Haut als äußerste
Grenze des Körpers zur Darstellung eines innersten Anliegens des Selbst genutzt,
wie die psychoanalytische Deutung es nahelegt, dürften sich viele gestochene
Bilder und Zeichen bei näherem Hinsehen als symbolisierte Ausläufer der Aus-
einandersetzung mit Vater- und / oder Mutter-Imago erweisen.⁵³ Sie treten damit,
mehr unbewusst als bewusst, mehr verschlüsselt als direkt, sei es in religiöser
Verkleidung (Engel, Teufel, Maria, Jesus etc.) oder durch andere Gestalten (Dra-
chen, mythische Helden, erotische Frauen, Totenkopf etc.) in den Dienst von
Such- und Fluchtbewegungen im Ringen mit unbewältigten Konflikten aus der
frühen Kindheit oder Umständen, die mit der eigenen Geburt zusammenhängen.
„Die Bindung an die Eltern ist ein gängiges religiöses Bild. Immer schon sprechen
Menschen Ahnen, Geister und Götter als Vater und Mutter an. Es geht dabei um
Herkunft, auch um Bestimmung, den Platz, an den man gehört. Und um Gebor-
genheit. Bei Totemtieren in alten Stammeskulturen ist das ähnlich. Sie gelten als
Urzeitahnen eines Clans. Sie sind mythische Eltern-Wesen. Ihr auf den Körper
tätowiertes Bild schafft Verbindung zu ihnen, gibt Anteil an ihrer Macht – und
damit auch Schutz.“⁵⁴ Dieses Begehren drückt aus, was fehlt: gelungene Tren-
nung, die gewünschte Beziehungsqualitäten ermöglicht, oder psychoanalytisch
ausgedrückt: die Fähigkeit oder Bereitschaft zur Überwindung der Widerstände
gegen die Auflösung des Ödipuskomplexes. So könnte in Tattoos auch der exis-
tenzielle Grundkonflikt, der sich tief in das Lebensgefühl eingraben kann, zum
Sprechen kommen: Zwischen der Überzeugung, in dieser Welt freundlich emp-
fangen worden und trotz aller Brüche, Risse und Widersprüche richtig und für
sich selbst und andere akzeptabel zu sein, und dem nagenden Zweifel, nicht
richtig, vielleicht unwert zu sein und eine tiefe Schuld in sich zu tragen.“⁵⁵
Tattoos als Ikonen. Dass im Tragen von Tattoos das Wirken magischer Kräfte er-
wartet oder erfahren wird, ist vom kulturellen Ursprung des Phänomens her be-
kannt, erinnert jedoch auch an die Erwartungen und Erfahrungen mit Ikonen in
der christlichen Orthodoxie. Nicht ganz unbegründet werden sie in der Ostkirche
als „heilige Bilder“ (Ikonen) verehrt. Der Auftrag, der ihnen zuerkannt wird, ist die
Vergegenwärtigung der Offenbarungswirklichkeit als Heilsmitteilung an den
Glaubenden, also Verkündigung. Deshalb werden diese Bilder geweiht und ge-
küsst. Im liturgischen Kontext dienen sie „zum Erlass der Sünden derer, welche
die Ikonen verehren und welche die Ikonen mit Ehrfurcht begrüßen und auf deren
Urbild die Ehre übertragen.“⁵⁶ Damit berühren sie den Kern der menschlichen
Existenz. Wollte man Tattoos als Ikonen verstehen, träfe die Bezeichnung „Sin-
Skin“, die in Tätowierer-Kreisen natürlich als Adelung des Stigmas vom Außen-
seitertum gebraucht und als Name eines Tattoo-Studios in Dortmund wahr-
scheinlich in diesem provokativen Sinne verwendet wird, in existenzieller Hinsicht
durchaus das entscheidende Ding.
7 Präsenz im Entzug
Soweit das Beispiel „Tattoo“ als Versuch, das Huhn vom Ei her zu verstehen (siehe
1). Er hinkt freilich, solange nicht offengelegt ist, wie die umgekehrte Perspektive
verborgen mitgelaufen ist: eben das Ei vom Huhn her zu verstehen. Denn das kann
keine Alternative sein, so wahr der Mensch sowohl von innen nach außen als auch
von außen nach innen existiert. Über die Reihenfolge kann man streiten. Klar ist:
Der Mensch lebt nicht vom Ding allein. Aber ohne das Ding ist alles nichts.
Martina Kumlehn
Unter und an Masken lernen
Impulse religiöser Identitätsbildung im performativen
Spannungsfeld von Zeigen und Verbergen
Die Maske ist zu dem Dingsymbol der Covid-19-Pandemie schlechthin avanciert.
Sie ist omnipräsent im öffentlichen Raum und hat auch im Unterricht und im
Gottesdienst ihren Ort. Dabei ist sie zweifellos ein Gegenstand, „über den zu
diskutieren und zu entscheiden ist“¹ und der mit einem „mehrfachen Sinngehalt
ausgestattet zu denken, wahrzunehmen oder zu imaginieren“² ist. Auch wenn es
sich um eine (bloße) Schutzmaske handelt, die nicht in Gänze den vielschichtigen
Gehalt der Maske als Kultgegenstand, Theatermaske, Schminkmaske, Masken-
gesicht bzw. der Maskenmetaphorik im Zusammenhang von (religiösen) Identi-
tätsdiskursen repräsentieren kann, so bieten die genauen Beobachtungen zur
Materialität, Performanz und Symbolik der Maske in der gegenwärtigen Situation
doch hinreichend Anregungs- und Anschauungsmaterial, um weiterführend die
verschiedenen Deutungshorizonte und pragmatischen Implikationen der Maske
im konkreten, metaphorischen und vor allem auch religiösen Sinne neu freizu-
legen. Man könnte mit Bodei sagen, dass sich die Maske im Kontext der Pandemie
„nach einem langen Interregnum des Vergessens in ein Ding zurückverwandelt“,
das „auch die Ideen, Vorurteile, Neigungen und Geschmäcker einer ganzen Ge-
neration und Gesellschaft“ mit prägen wird.³ In diesem Sinne will der vorliegende
Text die Maske zum Sprechen bringen, ihrer „Aufeinanderfolge von Verweisun-
gen“⁴ nachgehen, um dadurch im Ausgang von einer phänomenologisch orien-
tierten Betrachtung zum aktuellen Gebrauch der Maske zu einer mehrperspekti-
vischen Erschließung dieses Dinges in seinen verschiedenen Facetten im
Spannungsfeld von Theater und (christlicher) Religion fortzuschreiten und
schließlich Impulse für religiöse Bildungsprozesse in performativer und reflexiver
Auseinandersetzung mit Maske, Person und Identität im Spannungsfeld von
Zeigen und Verbergen zu formulieren. Dabei wird deutlich werden, wie ein All-
tagsgegenstand im Kontext seiner Bedeutungsgeschichte und im Feld der zuge-
Remo Bodei, Das Leben der Dinge (Berlin: MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft,
2020), 23.
Ebd., 37.
Ebd., 54 f.Vgl. dazu auf die Covid-Pandemie bezogen: Manfred Brauneck, Masken: Theater, Kult
und Brauchtum: Strategien des Verbergens und Zeigens (Bielefeld: transcript, 2020), 10.
R. Bodei, Das Leben der Dinge, 78.
https://doi.org/10.1515/9783110762853-018
276 Martina Kumlehn
Vgl. zu diesem Spannungsfeld Hans Peter Hahn, „Materialität zwischen Alltag und Religion:
Lebensweltliche Verwandlungen der geringen Dinge“, in Die religiöse Positionierung der Dinge:
Zur Materialität und Performativität religiöser Praxis, hg.v. Ursula Roth und Anne Gilly (Stuttgart:
Kohlhammer, 2021), 13 – 26.
Hans Peter Hahn, „Der Eigensinn der Dinge – Einleitung“, in Vom Eigensinn der Dinge: Für eine
neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, hg.v. dems. (Berlin: Neofelis Verlag, 2015), 9 – 56, 25.
Ebd., 26.
Vgl. ebd., 34.
Hans Peter Hahn, Materielle Kultur: Eine Einführung (Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 22014), 113.
Unter und an Masken lernen 277
Als medizinischer Gegenstand, der der heutigen Form schon sehr nahe-
kommt, wurde sie von dem Arzt Wu Lien-teh während der mongolisch-man-
dschurischen Lungenpest 1910/11 erfunden.¹¹ Durch den weltweit massenhaften
Bedarf als unverzichtbarer Teil der Pandemiebekämpfung in der Corona-Krise ist
sie über die Operationssäle und Krankenhäuser hinaus auch in ökonomische
Dynamiken verwickelt worden. Schutzmasken waren zunächst ein knappes und
teures Gut, das dann jedoch in schnellstmöglicher Zeit in größtmöglicher Zahl
produziert wurde. Ihr Erwerb und ihre Verteilung in den Zeiten des Mangels war
anfällig für Versuche der Bereicherung und der Vorteilsnahme, wie die soge-
nannten „Maskenaffären“ oder „Maskenskandale“ offenbart haben.¹² Inzwischen
jedoch sind sie weitgehend flächendeckend verfügbar und erschwinglich. Ent-
sprechend werden sie auch oft achtlos weggeworfen. Sie werden nicht nur per-
manent erneuert, sondern auch in dem möglichen Rahmen hinsichtlich ihres
Materials und Tragekomforts optimiert.
Die Schutzmaske partizipiert ebenso an Logiken der Modewelt. In der jetzigen
Form der OP- und FFP-2-Masken wirkt sie zwar einerseits hochgradig uniformie-
rend, andererseits werden über Farbwahl und vor allem Motivik jedoch auch
deutliche Akzente gesetzt und die Maske möglichst passend in das eigene Er-
scheinungsbild eingefügt. Als Stoffmasken noch zugelassen waren, sind sie nicht
nur kreativ individuell gestaltet worden, sondern auch von großen Modehäusern,
z. B. Fendi und Chanel, als modisches Accessoire adaptiert worden.¹³ Daneben
finden sich politische Statements: „Bajuwaren-Chef Markus Söder trägt die weiß-
blaue Raute der Bayern vorm Gesicht, EU-Minister zeigen sich mit euroblauen
Masken und Sternenkranz.“¹⁴
Die Mund-Nasen-Bedeckungen verbergen das Gesicht zwar nur halb, rufen
aber dennoch – über die Aspekte der Uniformierung und ihrer punktuellen
Durchbrechung hinaus – unausweichlich Fragen bezüglich der genaueren
Wahrnehmung der menschlichen Individualität und Identität auf und sie greifen
in die Gestaltung der sozialen Kommunikation und Ordnung ein. Sie zeigen uns,
dass die individuelle Identität keine „Monade oder ein reines Selbstbewusstsein
darstellt“, sondern die Dinge und dieses Ding im Besonderen dazu herausfordern,
„auf die Wirklichkeit zu hören und diese […] in uns ‚einzulassen‘“.¹⁵ So markieren
die Schutzmasken zunächst für jeden sichtbar die Grundstruktur des Social Dis-
tancing: Sie kennzeichnen „den oder die Maskenträger*in zwar als verantwortlich
gegenüber der eigenen Gesundheit und der anderer Menschen. Zugleich aber
isolieren diese Masken ihre Träger. Nicht zuletzt deswegen, weil Abstand zu an-
deren zu halten, eine mit dem Maskentragen verbundene, verpflichtende Anord-
nung ist.“¹⁶ Das Tragen der Maske macht das Infektionsrisiko bewusst, das jeden
betreffen kann. Damit werden in elementarer Weise die für das menschliche
Selbstverständnis zentralen Themen von Vergänglichkeit und Tod vor aller Augen
gestellt. Der vermeintliche Ausnahmefall aus dem Operationssaal, „in den nie-
mand hineingeraten will“¹⁷, wird zum deutungsmächtigen Normalfall und legt
damit jedoch als spezifisches memento mori eigentlich nur die existentielle
Grundverfassung des Menschen als vom Tod umfangen neu und radikal offen. Die
Maske ist dabei doppelt codiert: Sie zeigt die Bedrohung und soll zugleich dazu
beitragen, diese abzuwenden. Damit wird sie einerseits – wie im asiatischen
Raum schon lange etabliert – zum Symbol des wechselseitigen Respekts und der
Verantwortung,¹⁸ andererseits jedoch auch zum Symbol eines „grundlegenden
Misstrauens“, das die Art, wie „wir einander begegnen, die Ordnung unserer
Berührungen“¹⁹, nachhaltig verändern kann und diesbezüglich auch langfristig
im Blick bleiben muss. Das gilt für den kulturell bedeutsamen Bereich der Be-
grüßungsrituale und vieles mehr.²⁰ Denn unter dem Einfluss der Maske und
dessen, wofür sie steht, können sich die Wahrnehmung von Körpergrenzen und
auch Empfindungen hinsichtlich von Ekel und Scham verschieben.²¹ Das hat
nicht zuletzt auf Entwicklungs- und Bildungsprozesse während der Adoleszenz im
Raum von Schule und Hochschule erhebliche Auswirkungen.²²
Im Modus des Entzugs, quasi sub contrario, zeigt das schützende Verbergen
des Gesichts zugleich verstärkt, worauf wir eigentlich als soziale Wesen ange-
wiesen sind: Wir brauchen symbolisch vermittelte Berührung zum Leben und
„sind als leibliche Wesen wie eingewoben in die eine Ordnung unserer Berüh-
rungsbeziehungen.“²³ Von daher muss Nähe unter den gegebenen Bedingungen
bewusst anders hergestellt und kommuniziert werden. Da die Maske die Augen
freilässt, sind wir aufgefordert, in der Konzentration auf diese Gesichtspartie und
die reduzierte Mimik die Emotionalität des Gegenübers und der Situation zu er-
schließen. Auch in diesem Kontext wird deutlich, dass Maske und Gesicht we-
sentlich zusammengehören. Das eine ist nur am anderen zu bestimmen. Im
Verborgenen ist das Nicht-Gezeigte mit präsent.²⁴ Dabei spitzen sich die Fragen,
wie ich Andere erkenne und wie ich selbst erkannt werde, bzw. was und wie wir
etwas von uns zeigen wollen (oder nicht), zu. Denn neben der Sehnsucht nach
„unverstellter“ Begegnung kann sich der Schutzfaktor des Verbergens nicht nur
physisch, sondern auch im sozialen Kontext durchaus entlastend auswirken. Das
Ich ist (noch) weniger leicht zu durchschauen, weniger leicht zu lesen als mit
offenem Gesicht. Zudem lassen sich Kommunikationssituationen eher umgehen
und schwache Beziehungen, die sich zufällig ergeben, werden weiter geschwächt:
„Endlich müssen sie (sc. die Menschen, MK) keine Höflichkeiten mehr austau-
schen, wenn sie lieber schweigen wollen. Das wird von ihnen als Befreiung von
Verpflichtungen zum vermeintlichen Zwang zum Kommunizieren wahrgenom-
men.“²⁵ Im Raum der Maske kommt es von daher nicht nur zum vielschichtigen
Verbergen, sondern auch zum komplexen Abgleich dessen, was jeweils als we-
sentlich für gelingendes Miteinander erachtet wird.
Dass es sich dabei um hochambivalente Aushandlungsprozesse handelt, wird
u. a. an den sehr unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich des Verhältnisses
von Maske und individueller bzw. gesellschaftlicher Freiheit deutlich. Die Maske
kann unter Pandemiebedingungen sowohl als Möglichkeitsbedingung bleibender
Sozialität und Mobilität und damit auch von Freiheit und Verantwortung gesehen
werden als auch als Symbol für die Einschränkung von persönlichen Freiheits-
Andreas Köpfer, „‚Distant Bodies – Collective Spaces – Borders‘: Herstellung und Aneignung von
Lernräumen in Zeiten erforderlicher Distanzierung“, beide in Corona bewegt – auch die Bil-
dungslandschaft, hg.v. Sabine Krause, Ines Maria Breinbauer und Michelle Proyer (Bad Heil-
brunn: Julius Klinkhardt Verlag, 2021), 33 – 48 und 103 – 116.
G. Lindemann, Die Ordnung der Berührung, 58.
Vgl. dazu Hans Belting, Faces: Eine Geschichte des Gesichts (München: C.H. Beck, 2013),
25 – 44.
Christine Averius, „Was bedeutet Corona für starke und schwache Beziehungen?“, in Corona-
Netzwerke, hg.v.Chr. Stegbauer und I. Clemens, 53 – 61, 58 f.
280 Martina Kumlehn
rechten, die als Provokation erlebt werden und in der Folge selbst zu provokantem
Antwortverhalten führen kann. Das Tragen oder Nichttragen der Maske wird zu
einem „Bekenntnisakt“.²⁶ In der Perspektive der Ablehnung der Maske kann sie
heftige Aggressionen wecken, wird zu einem verhassten Gegenstand, der den
Bedeutungsüberschuss einer insgesamt als untragbar empfundenen Situation
versinnbildlicht. Im Extremfall von Idar-Oberstein hat das Einklagen der gelten-
den Maskenpflicht in einer Tankstelle zum Mord des Kassierers geführt. Der Täter
sah in ihm einen Repräsentanten der symbolischen Ordnung und wollte aufge-
stachelt von deutungsmächtigen Verschwörungsnarrativen mit der Tötung ein
„Zeichen“ des Widerstands setzen.²⁷
Diese dunkle Seite einer möglichen gewaltsamen Wirkmacht der symboli-
schen Aufladung eines „Dings“ ist gerade im Kontext intendierter Bildungspro-
zesse im Rekurs auf materielle Kultur bewusst zu machen und kritisch zu re-
flektieren. In jedem Fall ist die Maske in ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung
immer als ambivalent und mehrdeutig in dichotomischen Spannungsfeldern
wahrgenommen worden. Sie ist ein Ding der Unterscheidung, der Distanz zu sich
selbst und zum anderen, der Durchbrechung von vertrauter Wahrnehmung, der
Spannung zwischen Außen und Innen, zwischen Abwesendem und Anwesen-
dem, zwischen Rolle und Identität, zwischen Schein und Sein, zwischen Lüge und
Wahrheit, zwischen Leben und Tod, zwischen Immanenz und Transzendenz.²⁸
Dieser „semiotische(n) Ambiguität“ der Maske soll jetzt im Sinne einer rudi-
mentären, höchst selektiven „Objektbiographie“ genauer nachgegangen wer-
den,²⁹ um ihre existentiellen und religiösen Bedeutungshorizonte weiter auszu-
leuchten.
mittler zu sein zwischen dem Gegenwärtigen und dem Vergangenen; das Über-
natürliche herbeitanzen, beschwören zu können. […] Seine menschliche, seine
individuelle Natur verbirgt der Maskenträger hinter der Maske. Nur so vermag er
seine Vermittlerfunktion auszuüben. Die Maske verleiht ihm diesen exzeptionel-
len Status.“³⁵
Für den westlichen Kulturraum spielt die Melange von Kult, Religion, Tanz
und Aufführungspraxis als Deutungshorizont für die Funktion und den Einsatz
von Masken ebenfalls eine wichtige Rolle – und zwar vermittelt über den Dio-
nysos-Kult bzw. die Dionysosfeste im antiken Griechenland. Der Weingott Dio-
nysos wurde durch eine Maske dargestellt, die an einer Säule aufgehängt war und
vor der im Zusammenhang mit Opfern und Gebeten ekstatisch getanzt wurde:
„‘bis dann im Singen der Hymnen, im Trinken des Weins und im sich steigernden
Tanz um die Säule der Gott eben da war‘“.³⁶ In dem mit Dionysos verbundenen
Anthesterienritual in Athen wurde das Maskenspiel weiter vorangetrieben und
auch im Sinne des Parodierens und Improvisierens ausdifferenziert, bis daraus
schließlich Komödie, Satyrspiel und Tragödie als griechische Theaterformen
entstanden, die jeweils Masken für festgelegte Rollen vorsahen.³⁷ Der griechische
Begriff prósopon spiegelt das Vexierspiel von Gesicht und Maske, weil er beides
bedeuten kann. Prósopon ist jeweils „gleichsam die Fassade, die dem Beobachter
zugewandt ist.“³⁸ Entsprechend wird die Maske im Rahmen dieser religiös co-
dierten Festkultur, die für die gesamte Polis und ihr Selbstverständnis bedeutsam
war, spannungsreich oder „doppelgesichtig“ bestimmt: „Sie ist ein Phänomen des
Übergangs und des Durchgangs, erzeugt Schwellenbewusstsein. Sie konstituiert
vielfältige Beziehungen zwischen Akteur und Maske, zwischen Symbol und
Realität. Sie bestimmt das Verhältnis neu zwischen dem, was ist und was nicht
ist.“³⁹ Im römischen Einflussbereich korrespondierten den Dionysosfesten die
Festkulturen der Bacchanalia und Saturnalia, wobei Letztere als Fest der Win-
tersaat mit Gelagen, Opfern und karnevalesken Zügen am Saturntempel statt-
fanden. Es ist in diesem Zusammenhang eine interessante These – wenn wohl
auch nicht haltbar, so doch wirkmächtig –, dass Jesus im Kontext der Passions-
geschichte als „Saturnalienkönig“ verstanden werden konnte, „in der soldati-
schen Maskierung eines Spottkönigs“ oder auch als „Fastnachtskönig“ oder
„Narrenkönig“, wie Luther es formuliert hat.⁴⁰ Es wäre ein eigenes Vorhaben, den
Entwicklungen und Dynamiken dieser Feste und ihrer herrschaftskritischen Im-
pulse im Schutz der Masken weiter nachzugehen und bis in die Karnevals- und
Fastnachtstraditionen der Gegenwart hinein zu verfolgen.⁴¹ Dabei wäre auch die
Ermöglichung enthemmten erotischen oder auch groben Verhaltens unter der
Maske mit zu thematisieren, welches zugleich den Reiz und die Ambivalenz der
Maske bzw. der Maskeraden bis zum Wunsch des Demaskierens (bzw. des Ent-
larvens als Herunterreißen der Larve/Maske) ausmacht und schließlich mit zum
Verbot bzw. zur Dämonisierung der Maske als Objekt der Täuschung und der Lüge
nicht zuletzt im christlich-religiösen Kontext geführt hat.⁴²
Für die weitere Entwicklung des Bedeutungsspektrums von Maske und Rolle
ist jedoch vor allem die Verknüpfung mit dem lateinischen Begriff persona von
zentraler Relevanz. Denn der Ausdruck persona wurde von der Maske auf die
Theaterrolle übertragen, wie es sich in der Nennung der dramatis personae eines
Stückes abbildet. Im Ausgang davon wurde das Rollenverständnis z. B. bei Cicero
in seiner Schrift De Officis auf die Entwicklung der Person im Kontext ihrer bio-
logischen und gesellschaftlichen Vorgaben als konstitutiver Rollen bezogen,
wobei er vier personae in der einen Person unterschied: die Vernunft als Vor-
aussetzung moralischen Handelns, die natürliche Ausstattung und die Talente,
die zeitlich bedingten Lebensumstände und schließlich die Bildung.⁴³„Die Aus-
führungen Ciceros lassen sich als zwei Verständnisse von Person interpretieren:
zum einen als Maske mit Bezug auf die angemessene Erfüllung der Aufgaben
eines äußeren Raumes, zum anderen als Existenz mit Bezug auf einen inneren
Raum des Menschen, was die Voraussetzung für eine freie Wahl der Gestaltung
Vgl. dazu ausführlich Martin Leutzsch, „Karnevaleske Bibel“, in Massen und Masken: Kul-
turwissenschaftliche und theologische Annäherungen, hg.v. Richard Janus, Florian Fuchs und
Harald Schroeter-Wittke (Wiesbaden: Springer VS, 2017), 205 – 236, insbesondere 211– 216.
Vgl. die verschiedenen Beiträge zu Karneval und Maske in dem Band R. Janus, F. Fuchs, H.
Schroeter-Wittke (Hg.), Massen und Masken und Werner Mezger, „Masken an Fastnacht, Fasching
und Karneval: Zur Geschichte und Funktion der Vermummung und Verkleidung während der
närrischen Tage“, in Masken und Maskierungen, hg.v. Alfred Schäfer und Michael Wimmer (Op-
laden: Leske + Budrich, 2000).
Vgl. A. M. Hüls, Masken und Identität, 35 f.
Vgl. die Darstellung bei Eric Mührel, „Maske und Existenz: Philosophische und sozialpäd-
agogische Betrachtungen zu Person und Biographie“, in Subjekt – Identität – Person? Reflexionen
zur Biographieforschung, hg.v. Birte Griese (Wiesbaden: Springer, 2010), 103 – 114, 104 f.
284 Martina Kumlehn
Ebd., 105.
Vgl. dazu auch A. M. Hüls, 35.
Vgl. dazu R. Weihe, Die Maske als Denkmodell, 130.
Die Literatur zur Theorie der Person im Kontext von Identität, Individualität, Subjekt, Selbst,
Ich ist sowohl in philosophischer als auch theologischer Perspektive Legion. Deshalb nur sym-
bolisch der Verweis auf Johannes Heinrichs, Art. „Person I, philosophisch“ und Konrad Stock, Art.
„Person II, theologisch“, in TRE, Bd. 26 (1996), 220 – 231, hier das Zitat von Heinrichs 224.
Unter und an Masken lernen 285
gründet erfährt.⁴⁸ Darüber hinaus wird der Begriff der Person in der Ausbildung
der Christologie und der Gotteslehre bzw. Trinitätslehre wirkmächtig eingesetzt.
Unlängst hat Malte Dominik Krüger in der Explikation der unterschiedlichen
Auslegungsmöglichkeiten der drei „Personen“ im Kontext des trinitarischen
Gottesgedankens und seiner kommunikativen, relationalen und bildorientierten
Implikationen wieder ausdrücklich auf die Bezüge zu Maske und Rolle verwiesen:
Wenn man ‚Maske‘ […] im Sinn von ‚Rolle‘ versteht und darin die Sozialität im Zusam-
menklang mit der Individualität einer ‚Person‘ erkennt, passt es […]: Jesus ist als ‚persona‘
nicht nur als bestimmtes Individuum, sondern agiert auch in einer sozialen Rolle; und in
beidem erkennt der christliche Glaube nach Ostern das Besondere Jesu. Insofern ist der
Begriff ‚Person‘ doch passend. Er nähert sich dann offenbar dem griechischen Wort
‚prósopon‘ an, welches ‚Gesicht‘ und ‚Maske‘ bedeutet. Dass Gott demnach in Jesus ein
definitives menschliches Gesicht bekommt und darin handelt, führt zur Überlegung: Wie
verhalten sich das Wesen Gottes und sein personales Handeln in Jesus zueinander?⁴⁹
Die Herausforderungen des personalen Gottesverständnisses sind jüngst gerade auch mit
Bezug zur Praktischen Theologie wieder reflektiert worden bei Christian Polke, „Welchen Sinn hat
es, heute (noch) personal von Gott zu reden? Expressiver Theismus im Zeitalter wachsender
Konfessionslosigkeit“, in Neues von Gott? Versuche gegenwärtiger Gottesrede, hg.v. Philpp David,
Anne Käfer, Malte Dominik Krüger, André Munzinger und Christian Polke (Darmstadt: WBG, 2021),
119 – 146.
Malte Dominik Krüger, „Gesicht und Trinität: Zur christlichen Gotteslehre“, in Neues von
Gott?, hg.v. Ph. David, A. Käfer, dems., A. Munzinger und Chr. Polke, 61– 100, 81 f.
Vgl. ebd., 82.
Ebd., 86.
Vgl. die Beiträge in Philipp Stoellger und Thomas Klie (Hg.), Präsenz im Entzug: Ambivalenzen
des Bildes (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011).
286 Martina Kumlehn
beim Auszug aus Ägypten (Ex 13, 21 f.); im „stillen sanften Sausen“, so dass Elia
am Horeb sein Antlitz vor Ehrfurcht im Mantel verbirgt (1 Kön 19, 12 f.); im
„Brausen vom Himmel“ und in Feuerzungen als Vermittlung des Heiligen Geistes
in der Pfingsterzählung (Apg 2, 2– 4), um nur wenige Bilder und Metaphern auf-
zurufen. In theologischer Perspektive wird vor allem in den Exodus-Erzählungen
reflektiert, dass der Mensch das unverstellte „Antlitz“ Gottes gar nicht ertragen
könnte, so dass es zum Schutz des Menschen verborgen bleiben muss: „Mein
Angesicht kannst Du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“
(Ex 33, 20). Mose partizipiert dann dennoch durch seine Gottesbeziehung an
dessen „Glanz“, der sich auf seiner Haut zeigt, und entsprechend begegnen auch
ihm die Israeliten mit Angst und Ehrfurcht. (Ex 34, 29 f.). Hatte schon Mose den
Wunsch, Gott zu sehen, so bleibt es für den Glauben in eschatologischer Per-
spektive eine starke Hoffnung und Sehnsucht, Gott „von Angesicht zu Angesicht“
zu erkennen und vor allem von Gott – bar aller Masken – erkannt zu werden (1 Kor
13,12). Diese Sehnsucht nach dem zugewandten Antlitz Gottes spiegelt sich nicht
zuletzt im aaronitischen Segen: „der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir
und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“
(Num 6, 24 f.)
Von hier aus lässt sich der Bogen zu der gegenwärtigen Situation des Lebens
unter Masken zurückschlagen, weil das Irritationspotential der getragenen Mas-
ken im Gottesdienst besonders nachdrücklich erlebt werden kann. Dabei liegt
eine intrikate Wechselwirkung vor. Einerseits unterstreichen die Masken indirekt,
was in der praktischen Theologie – nicht zuletzt auch von Thomas Klie – her-
ausgearbeitet worden ist, nämlich die Theatralität des Gottesdienstes mit seinen
Inszenierungsmustern, seinen performativen Gestaltungsakten und liturgischen
Rollen, die die Bezüge zu den ursprünglichen Verbindungen von Religion und
Theater wiederentdecken lassen.⁵³ Diese Einsicht steht jedoch in Spannung zu
den hohen Authentizitätserwartungen an die Pfarrperson und ihre personale
Kompetenz, die gerade nicht mehr um die ursprüngliche Verbindung von Person,
Maske und Rolle weiß, sondern Echtheit und unverstellte Glaubwürdigkeit von
den Akteuren und Akteurinnen einfordert. Es ist ja durchaus angemessen, im
Gottesdienst sowohl Gott als auch den Mitmenschen und sich selbst ohne „fal-
sche“ Masken begegnen zu wollen, allerdings ist vollumfängliche Authentizität
für Menschen kaum erschwinglich, wie Michael Meyer-Blanck auch für die Form
Vgl. Thomas Klie, Zeichen und Spiel: Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der
Pastoraltheologie (Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 2003) und Ursula Roth, Die
Theatralität des Gottesdienstes (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2006).
Unter und an Masken lernen 287
der liturgischen Präsenz festhält.⁵⁴ Die Person kann sich gerade in dieser Rolle mit
einer bestimmten Haltung und einer adäquaten Performanz angesichts möglicher
eigener Zweifel und Anfechtungen schützend bergen. Wenn die (Schutz)masken
symbolisch neu etwas davon zeigen, dass wir als Menschen nur als fragmenta-
rische Identität und in gebrochener Authentizität, also oft nur im Schutz von
Masken und Rollen agieren können, so zeigt das performative Ablegen der Maske
durch den Liturgen vor dem Segen – wann immer es möglich ist –, dass ihr Tragen
in dieser Rolle des Zuspruchs des zugewandten Antlitzes Gottes als unstimmig
erfahren wird und dass es darauf ankommt, unsere Sehnsucht nach unge-
schütztem Seinkönnen und Gesehenwerden offen zu halten. Unter Corona-Be-
dingungen spitzt sich deshalb exemplarisch im liturgischen Raum die Notwen-
digkeit zu, die eigene Person und ihre existentielle Bedürftigkeit zwischen Maske,
Rolle und ungeschütztem Angesicht im jeweiligen Kontext zu reflektieren. Daraus
ergeben sich sowohl Bildungsanregungen für das pastorale Selbstverständnis als
auch grundsätzlich Impulse für die (religiöse) Identitätsbildung im Lernen unter
und an Masken, die abschließend in Form eines Ausblicks formuliert werden
sollen.
vorruft oder neu bewusst macht, und der existenzerhellenden Reflexion der
Maske durch die kulturellen, religiösen, philosophischen und theologischen
Traditionen hindurch lassen sich verschiedene Spuren und Akzente in religiösen
Bildungsprozessen verfolgen. Soll die Beschäftigung für Jugendliche Relevanz
entfalten, so sind sie nicht nur als Experten des konkreten Lernens unter und an
Masken mit ihren lebensweltlichen Erfahrungen intensiv einzubeziehen, sondern
es bietet sich für die Vertiefung in dieser Lebensphase der Zusammenhang von
Masken(metaphorik) und Identitätsfragen im Spannungsfeld von Zeigen und
Verbergen besonders an.⁵⁷ Im Folgenden soll deshalb über das bereits Dargestellte
und seine Bezüge zur Identitätsthematik hinaus noch einmal pointierter fokus-
siert werden, warum die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen gerade in Zei-
ten radikaler Verunsicherung nicht hinreichend ohne die performative und re-
flexive Integration der Maskenthematik mit ihrer Grundstruktur von Zeigen und
Verbergen gelingen kann. In religiöser Deutungsperspektive geht es dabei um das
Freilegen der existentiellen Bedeutungsschichten von Maske und Identität sowie
um das Aushalten der unauflösbaren Spannung von Zeigen und Verbergen im
eigenen Selbstverstehen und im religiösen Wahrnehmen und Deuten von Tran-
szendenz- und Gotteserfahrungen, um letztlich in der ambiguitätstoleranten
Auseinandersetzung mit dieser Spannung gleichzeitig zur Stärkung und Entlas-
tung der Subjekte beizutragen.
Nicht zufällig hat die „Maske als Bild- und literarisches Motiv, aber auch als
Metapher und Denkfigur eine regelrechte Verve“⁵⁸ an der Schwelle vom 19. zum
20. Jahrhundert erlebt (z. B. bei Oscar Wilde, Rainer Maria Rilke, Thomas Mann,
Arthur Schnitzler und James Ensor, dem Maler der Masken), als sowohl personale
als auch gesellschaftliche Identitätsentwürfe angesichts von radikalen sozio-
kulturellen und politischen Transformationen und der Individualisierung und
Pluralisierung religiöser und säkularer Lebensentwürfe zunehmend fraglich, ja
brüchig wurden. Im Zuge der zunehmenden Belastung des Subjekts hinsichtlich
der Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung im Horizont der vielfältigen
und vielstimmigen Erwartungen an die personale Kompetenz wurde deutlich, wie
unauflöslich sich Maske, Identität und Person miteinander verschränken: Men-
schen brauchen Masken, „um sich zu verbergen, zugleich aber, um sich zu zei-
gen.“⁵⁹ Es gilt: „Die Person ist ein Maskenwesen. Sie verwendet Masken, um die
Vgl. exemplarisch den Einstieg über die Plastik „Die zerbrochene Maske“ von Helmut Am-
mann (1948) in die Reihe Identität – Liebe – Partnerschafft, in Religion entdecken – verstehen –
gestalten 9/10, hg.v. Gerd-Rüdiger Koretzki und Rudolf Tammeus (Göttingen: Vandenhoek & Ru-
precht, 2002), 53.
A. M. Hüls, Maske und Identität, 11.
M. Brauneck, Masken, 9.
Unter und an Masken lernen 289
eigene Identität zu inszenieren. Zwar wurde das Maskenhafte aus der Definition
des Begriffs persona herausgenommen, doch im sozialen Verhalten kann sich die
Person nicht auf ihr ‚nacktes Gesicht‘ beschränken. Als gesellschaftliches Wesen
ist der Mensch auf Auftrittsformen und Rollen angewiesen.“⁶⁰ Die Maskenmeta-
phorik betont, dass der moderne Mensch sich immer wieder neu erproben und
erfinden muss und dabei versucht, „‘das Repertoire des Denkbaren,Vorstellbaren,
Erlaubten und Erreichbaren‘“⁶¹ zu vergrößern. Unter dem Druck, als unverwech-
selbares Individuum wahrgenommen zu werden, wächst im Gegenzug der Druck
der gestaltenden Selbstoptimierung und Inszenierung des eigenen Ichs und sei-
nes Gesichts. Vor diesem Hintergrund kann die Maske jetzt von Nietzsche in der
Ambivalenz von Ermöglichung und Schutz akzentuiert werden, indem er „die
Möglichkeit des geistigen und seelischen Schutzes durch die dissimulativen
Möglichkeiten der Maske“ hervorhebt und sie als „Tarnung, Fassade und Schutz
für das wahre Gesicht, den Ort der Verletzlichkeit und Preisgabe“ begreift.⁶²
Doppelgesichtigkeit wird hier neu durchgespielt: einerseits sind Konvention und
Maskerade für Nietzsche Synonyme für das „‘Elend des modernen Menschen‘“⁶³
und andererseits wird die Maske „im Sinne einer Sprach- bzw. Geistesmaske zum
Schutz der seelischen und geistigen Tiefen, also als Camouflage der wahren Ge-
danken gebraucht“⁶⁴. Man könnte auch sagen, dass Masken in ihrer übertragenen
Bedeutung in der Moderne zwischen dem „Festhalten an der aufklärerischen
Forderung nach Selbsttransparenz“ und dem Schutz vor Intimitätszumutungen
verstanden werden können.⁶⁵
In der Spätmoderne sind diese ambivalenten Prozesse auf Dauer gestellt, das
Krisenbewusstsein ist perpetuiert und Identität wird fragmentarisch, fluide und
multiperspektivisch verstanden. Die identitätstheoretischen Diskurse mit der
Betonung der Patchwork- oder Bricolage-Identität und der Notwendigkeit per-
manenter Identitätsarbeit als Passung von Innen und Außen sowie der immer
wieder neuen (Re‐)konstruktion der eigenen Identität im Erzählen spiegeln diese
Entwicklung und sind im religionspädagogischen Diskurs omnipräsent.⁶⁶ Inter-
Ebd. 353.
Marcell Saß
Digitale Dinge?
Eine praktisch-theologische Spurensuche
Zwei Jahre nach dem Auftauchen eines „neuartigen Coronavirus“ leben wir immer
noch in bedrängenden, pandemischen Zeiten, blicken gebannt auf die nächste
„Omikron-Welle“, verfolgen mit Sorge Inzidenzen oder Hospitalisierungen, hoffen
auf eine baldige endemische Entwicklung und müssen inmitten unzähliger Vi-
deokonferenzen und eingeschränkter Präsenzlehre letztlich konstatieren: die
gesellschaftliche Abreise aus der Gutenberg-Galaxis geht schneller als vielleicht
erwartet, schneller als vielleicht gewünscht. Denn innerhalb sehr kurzer Zeit sind
wir endgültig im digitalen Zeitalter angekommen.¹ Der Prozess der Digitalisierung
ist unaufhaltsam, eine Kultur der Digitalität² hat Einzug gehalten und durchdringt
sämtliche Lebensbereiche, die Medienevolution der letzten Jahre ist eine Medi-
enrevolution. „Bit by bit“³ tasten wir uns vor in neue Zeiten. Da mag das Nach-
denken über Fragen der Materialität fast etwas aus der Zeit gefallen wirken,
ebenso wie die Suche nach Schauplätzen⁴ der Religion in virtuellen Weiten. Geht
das überhaupt noch? Oder müssen wir den „material turn“ hinter uns lassen?
Und in der Tat, die Hinwendung zu den Dingen, die gefühlte, be-griffene
Stofflichkeit in rituell-religiösen Praxen mag aufs erste so gar nicht passen zu
Künstlicher Intelligenz, Algorithmen oder durch Bildschirme vermittelte Kom-
munikation. Indes, so kann man beruhigt nach einem kurzen Blick in aktuelle
Diskurse feststellen: Auch Digitalität fragt nach Materialität, etwa, wenn Dinge
digital werden, wenn Medialität und Digitalität einander neu zuzuordnen sind.
Das „Internet der Dinge“ zeigt: Offenkundig sind wir bereits unterwegs in post-
digitalen Zeiten⁵, die die eindimensionale Gegenüberstellung analoger und digi-
taler Welten, von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen und virtueller Realität
als obsolet ausweisen und auf die selbstverständliche Einbettung des Digitalen in
unsere artifizielle, alltägliche Normalität verweisen. Auch dieses neue Nachden-
ken über Dinge, in Museen und Archiven, von Ökonomie bis Kunst, findet im
Vgl. Gordon Mikoski, „On the Mediation of the Mediation of the Mediation: The (Im)possibility
of Online Communion and the Limits of Online Worship“, Liturgie und Kultur 9 (1) (2018): 6 – 11, 6.
Felix Stalder, Kultur der Digitalität (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2016).
Matthew J. Sagalnik, Bit by Bit: Social Research in the Digital Age (Princeton: Princeton Uni-
versity Press, 2019).
Thomas Klie und Silke Leonhard (Hg.), Schauplatz Religion: Grundzüge einer performativen
Religionspädagogik (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2003).
So mit Nicholas Negroponte, Being Digital (New York: Alfred Knopf, 1998).
https://doi.org/10.1515/9783110762853-019
294 Marcell Saß
Horizont von Digitalität statt. Und wer über das Smartphone als Artefakt nach-
denkt, weiß: Das Digitale kann sich sehr materiell zeigen. So sind die folgenden
Überlegungen zu verstehen als eine Spurensuche im Schnittfeld von post-digitaler
Normalität und alltäglicher Materialität.
Space: the final frontier. These are the voyages of the starship Enterprise. Its five-year mis-
sion: to explore strange new worlds. To seek out new life and new civilizations. To boldly go
where no man has gone before!⁸
Wer, wie der Autor dieses Beitrages, in der eigenen Jugend die Abenteuer der
„neuen“ Enterprise miterlebte, hat vermutlich ein Besatzungsmitglied der neuen
Enterprise besonders zu schätzen gelernt: Lt. Commander Data. Er ist ein Android,
ein kybernetischer Organismus. Zu gern möchte Data menschlich sein, was ihm
jedoch permanent misslingt. Er ist unfähig Gefühle zu erleben, versucht sich je-
doch – auf Grundlage seiner umfangreichen Datenbanken – an einer Liebesbe-
ziehung zu einer Kollegin. Er möchte erfahren, was Wut ist, studiert Humor,
scheitert aber an der Pointe; und er spielt perfekt klassische Musik, jedoch ohne
die Schwermut oder transzendente Freude wirklich transportieren zu können.
Alles bleibt technisch und doch ist Data den Zuschauenden menschlich sehr
nahe.
In einer Folge nun stellt sich dezidiert die Frage, was der Android per defi-
nitionem ist: Ding oder Person. „Die Vermessung des Menschen“ (engl.: The
Measure of a Man)⁹ spitzt den Konflikt um Datas Status als Person zu, da ein
Wissenschaftler namens Maddox Data zerlegen und studieren möchte, um dann
eine ganze Kohorte von weiteren Datas zu produzieren. Es sollen unendlich viele
werden, die den Menschen dienen. Dass hier die us-amerikanische Debatte um
Rassismus und Sklaverei den Kontext bietet, ist offensichtlich – beeindruckend
inszeniert übrigens in einem Gespräch des Kapitäns der Enterprise mit der Bar-
keeperin, gespielt von Woopi Goldberg.
Data spricht dem Wissenschaftler Maddox die Kompetenzen für das Experi-
ment insgesamt nicht zu, verweigert sich dem Experiment und möchte schließlich
seinen Dienst quittieren. Das allerdings, so das Kommando der Sternenflotte, sei
unmöglich, schließlich „gehöre“ er der Sternenflotte. Als Ding ist er Eigentum,
Maddox spricht von ihm konsequent als „it“.
Der kommandierende Offizier der Enterprise, Jean Luc Picard, bringt die
Sternenflotte schließlich dazu, in einem Musterprozess zu klären, ob Data Ding
oder Person ist, ob er Rechte hat. Picard argumentiert leidenschaftlich und liefert
als Richtschnur für die Personalität Datas die Frage, ob er ein „sentient beeing“
(dt.: empfindsam Wesen/Sein) sei.
Maddox definiert daraufhin „sentient“: Ein „sentient being“ ist intelligent
(intelligent), selbst-bewusst (self-aware) und hat Bewusstsein (consciousness).
Data kann auf Anhieb zwei Kriterien erfüllen, und auch „Bewusstsein“ scheint er
durchaus zu haben. Darauf wird entschieden: Er darf als Person handeln, obwohl
er physisch nicht als Mensch, sondern als Ding und Maschine klassifiziert wurde.
Die Grenzen sind verschoben, Mensch-Maschine-Verhältnisse filmisch unter-
haltsam neu justiert.
Vgl. Marcell Saß, „‚Die Vermessung des Menschen‘ – christliche Anthropologie im Zeitalter der
Digitalisierung“, Perspektiefe 47 (2018) (online abrufbar unter https://www.zgv.info/perspektiefe-
online/artikel-einzelansicht/505-die-vermessung-des-menschen-christliche-anthropologie-im-
zeitalter-der-digitalisierung.html?type=123, Lesedatum: 12.07. 2019). „The Measure of a Man“ er-
schien zuerst am 13. Februar 1989.
296 Marcell Saß
Das alles wird nun erstmals 1989 ausgestrahlt, in Zeiten vor der Digitalisie-
rung: Smartphones und das World Wide Web waren da letztlich noch Science-
Fiction.
Drei Dekaden später sitzen wir nun selbstverständlich in Videokonferenzen,
denken über ethische Implikationen selbstfahrender Autos nach und nutzen
automatisches Lernen, Künstliche Intelligenz (KI) und vieles mehr. Das Digitale
prägt unseren Alltag, bestimmt uns tief, hat Arbeit und Kommunikation, kurzum
unser Leben tiefgreifend transformiert¹⁰: „At the end of a century filled with
turmoil and change, we are no longer limited to where the wires run.“¹¹
Mediengeschichtlich¹² gesehen leben wir in turbulenten Zeiten, ungeachtet
anderer Umbrüche in der Vergangenheit, denn der Abschied von der Gutenberg-
Galaxis und die Ankunft im „Digital Age“¹³ vereint nicht nur Beschleunigungs-
erfahrungen, sondern löst bisweilen heftige Reaktionen aus, etwa heilsähnliche
Machbarkeitsvorstellungen¹⁴ für eine bessere Welt ohne Leid und Vergänglich-
keit¹⁵, aber auch eher pessimistische Aussagen¹⁶.
Digital über Dinge zu denken, sozusagen Data in unseren Alltag zu lassen,
und dabei materiell den Menschen fest im Blick zu haben – in ein solches
Spannungsfeld eingezeichnet ringen Wissenschaftsdisziplinen unserer Tage um
Deutung. Übliche Unterscheidungen zwischen den Natur- und Geistes- bzw. Ge-
sellschaftswissenschaften werden dabei neu bestimmt, bisweilen gar als For-
Vgl. Irving Fang, A History of Mass Communication, Six Information Revolutions (Boston:
Routledge, 1997). Fang zählt folgende Informationsrevolutionen auf: 1.Writing, 2. Printing, 3. Mass
Media, 4. Entertainment, 5. The Toolshed Home, 6. The Highway.
Ebd., 189.
Vgl. grundlegend Werner Faulstich, Das Medium als Kult: Von den Anfängen bis zur Spätantike
(8. Jahrhundert) (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,1997); ders., Medien und Öffentlichkeiten im
Mittelalter (800 – 1400) (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,1996); ders., Medien zwischen
Herrschaft und Revolte: Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400 – 1700) (Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht, 1998); ders., Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700 – 1830) (Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 2002), ders., Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (1830 –
1900) (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004).
Vgl. Eric Schmidt und Jared Cohen, The New Digital Age: Reshaping the Future of People,
Nations and Business (New York: Vintage, 2013).
Exemplarisch genannt seien die Versuche von Tesla-Gründer Elon Musk ab 2020 mittels
Neuralink Gehirn und Internet zu verbinden.Vgl. dazu https://www.nytimes.com/2019/07/16/tech
nology/neuralink-elon-musk.html, Lesedatum: 17.07. 2019.
Man denke hier etwa an die Debatten um Pflegeroboter wie Pepper. Vgl. https://www.mdr.de/
wissen/pflegeroboter-pepper-100.html.
Vgl. Volker Jung, Digital Mensch bleiben (München: Claudius, 2018).
Digitale Dinge? 297
Vgl. z. B. das Projekt Guide+ der FH Bielefeld (online abrufbar unter www.guide-projekt.de,
Lesedatum: 17.07. 2019). Vgl. auch www.technik-zum-leben-bringen.de, Lesedatum: 17.07. 2019.
Vgl.Viktor Meyer-Schönberger und Kenneth Cukier, Big Data: A Revolution That Will Transform
How We Live, Work and Think (London: Redline, 2013).
Friedemann Voigt, „Vom Ethos der Ethik: Die protestantische Sozialethik und die modernen
Lebenswissenschaften“, Zeitschrift für Evangelische Ethik 58 (2014): 203 – 212, 212 mit Bezug auf
Hartmut Kreß, „Dogmatisierung ethischer Fragen: Kirchliche Stellungnahmen zu ethischen
Themen: Neue Dogmatisierungen, Konfessionalisierungen und die Retardierung der kirchlichen
ethischen Urteilsfindung“, Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 61 (2010):
3 – 9.
Chr. Grethlein, Kirchentheorie, 225, mit Bezug auf Yuval Noah Harari, Homo Deus: A Brief
History of Tomorrow (New York: de Gruyter, 2017).
So der Begriff für den Übergang von 18. zum 19. Jahrhundert von Reinhart Koselleck, „Ein-
leitung“, in Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg.v. dems. (Stuttgart: Klett, 1979), 9 – 16.
298 Marcell Saß
hang von Medien und Religion interessiert. Dies auf (neue) digitale Materialität zu
übertragen, scheint lohnend.
Es geht dann um zweierlei: die Notwendigkeit einer grundsätzlichen, mög-
licherweise neuen, Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von Medien und
Religion und um die Neuformatierung anthropologischer Vorstellungen, etwa
vom Subjekt oder Individuum. Es gilt Kants berühmte Fragen neu zu stellen: „1.
Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der
Mensch?“²².
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Ingeborg Heidemann (Stuttgart: Reclam,
1993), 815.
Online abrufbar unter https://www.evangelische-akademien.de/veranstaltung/heilig-christ
lich-smart-digitale-kommunikation-als-kirchliche-herausforderung, Lesedatum: 17.07. 2019.
Vgl. Chr. Grethlein Kirchentheorie, 51– 123, der Kirche in ihrem Transformationsprozess von
der Bewegung zur staatsanalogen Institution nachzeichnet und in eben dieser Staatsanalogie
eine wesentliche Hürde für die Fortentwicklung der (ev.) Kirche im digitalen Zeitalter ausmacht.
Vgl. hierzu Claudia Rudolff, „Sublan-Gottesdienste“, Liturgie und Kultur 9 (1) (2018): 32– 36;
Marcell Saß, „‚Rent a Pastor?‘ – Beobachtungen zur Ritualpraxis im Zeitalter der Digitalisierung“,
in Provozierte Kasualpraxis: Rituale in Bewegung, hg.v. Ulrike Wagner-Rau und Emilia Handke
(Stuttgart: Kohlhammer, 2019).
Digitale Dinge? 299
Erfindung sei, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt.
Vielleicht auch deren baldiges Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie
erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis […] diese Dispositionen ins Wanken gerie-
ten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens
es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer
ein Gesicht im Sand.²⁷
Sollen nun in post-digitalen Zeiten, in denen die Alltäglichkeit digitaler Dinge der
Normalfall ist, Materialität und Digitalität als Spannungsfeld der Anthropologie
neu in Bezug gesetzt werden, wird man bei Serres wie Foucault gute Gesprächs-
angebote finden, die in post-humanistische Diskursen fortgesetzt werden und die
Praktische Theologie neu inspirieren könnten: Gemeint sind damit Versuche in
Philosophie, Natur-, Technik-, Literatur- und Kommunikationswissenschaften
und andernorts, die die gegenwärtigen (technischen) Entwicklungen als Bruch
mit Annahmen unserer Kultur deuten. Zunächst geht es hierbei um ein anderes
Verständnis des Verhältnisses des Menschen zur Welt und Natur. Es geht darum,
tradierte anthropozentrische Deutungen zu verändern und neue epistemologi-
sche Deutungsangebote für die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Technik zu
formulieren.²⁸ Daraus folgend sehe ich auch Anregungen, die Grenze zwischen
der sinnlich wahrnehmbaren, stofflichen Materialität religiös-ritueller, v. a. litur-
gischer Kommunikation und der digitalen Ausformung eben solcher Praxis neu
zu vermessen.
Mitten in aufregenden gesellschaftlichen Zeiten wird so aus der ethisch-mo-
ralischen Auseinandersetzung um die Nutzung und den Nutzen neuer Techno-
logien eine grundlagentheoretisch bemerkenswerte Herausforderung: Tiefer zu
Michel Serres, Erfindet Euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation (Frankfurt
a. M.: Suhrkamp, 2013), 63.
Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 1974), 462.
Vgl. Jay David Bolter, Art. „Posthumanism“, in The International Encyclopedia of Commu-
nication Theory and Philosophy (2016), 1 (online abrufbar unter https://onlinelibrary.wiley.com/
doi/pdf/10.1002/9781118766804.wbiect220, Lesedatum:10.07. 2019).
300 Marcell Saß
A way of capturing this deep, consistent and self-reinforcing role of media in the construc-
tion of the social world is to say that the social world is not just mediated but mediatized:
that is, changed in its dynamics and structure by the role that media continuously (indeed
recursively) play in its construction.³⁰
Hier ist die Theologie als hermeneutische Disziplin gefordert, gerade, weil
kirchliche Gemeinschaft(en) und deren ekklesiologische sowie anthropologische
Konstruktionen von Sozialität dazu in Spannung treten können. Der material turn
bleibt geeigneter Dreh- und Angelpunkt, wenn wir ihn auch in digitale Phäno-
mene fragend eintragen und hermeneutisch neu aufrufen, worum es prinzipiell
geht, z. B. um Annahmen christlicher Religion wie die Gott-Ebenbildlichkeit des
Menschen oder die Frage einer zeitgemäßen Liturgik. Die Feier des Abendmahls
etwa verweist hier auf Probleme, die man auch im Spannungsfeld von „Mediali-
tät“ und „Materialität“ wird deuten können.³¹
Die Praktische Theologie würde damit übrigens vertrautes Terrain bearbeiten,
bliebe sie doch auf Religion als kommunikative und diskursive Praxis konsequent
bezogen, mit der leitenden Prämisse, dass es ohne Medien keine Religion gibt³²
und Transzendenz immer mediatisiert ist, jede Religion dann aber lediglich eine
(begrenzte) Mediatisierung dieser Transzendenz zeigt: „The Ultimate is infinitely
apprehensible, yet never entirely comprehensible“³³.
Den material turn digital auszudehnen, die Medialität der Dinge in digitali-
sierten Lebenswelten zu fokussieren ist dann – strukturanalog zur Umformung
Vgl. dazu Peter Mahon, Posthumanism: A Guide for the Perplexed (London: Bloomsbury, 2017),
25.
Nick Couldry und Andreas Hepp, The Mediated Construction of Reality (Cambridge: Polity,
2017), 15.
Anregend ist hier Ilona Nord, Realitäten des Glaubens: Zur virtuellen Dimension christlicher
Religiosität (Berlin: de Gruyter, 2008).
Jörg Rüpke, „Religion medial“, in Religion und Medien: Vom Kultbild zum Internetritual, hg.v.
Jamal Malik, Jörg Rüpke und Theresa Wobbe (Münster: Aschendorff, 2007) 19 – 28.
Paul Knitter mit Bezug auf Tillich, „Doing Theology Interreligiously: Union and the Legacy of
Paul Tillich“, Crosscurrents 61 (1) (2011):117– 132, 123
Digitale Dinge? 301
3 Ausblick
Digitale Materialität und deren anthropologische Relevanz betrifft grundlegend
die (Praktische) Theologie. Das sollte auch dazu führen künftig noch beherzter
intra- und interdisziplinären Formen in Forschung und Lehre zu finden – gerade
im Dialog mit den Technik- und Kommunikationswissenschaften liegen dann gar
Chancen die Frage nach Sinn und Ziel theologischer Wissenschaft neu zu be-
antworten und die Fachlichkeit der Theologie zu befördern. Dabei dürften neue
Potenziale der Selbst-Vergewisserung eines traditionsreichen Faches zu entde-
cken sein, weil hier an einer gegenwärtig großen gesellschaftlichen Herausfor-
derung nicht nur binnentheologisch und -kirchlich, sondern im Dialog mit an-
deren Wissenschaften konstruktiv gearbeitet wird.
Was für die Theologie als Wissenschaft, für theologische Bildung und Aus-
bildung gilt, betrifft auch die (ev.) Kirche. Digitalisierungsprozesse, die Einsicht in
post-digitale Zeiten mit einer grundlegend anderen Selbstverständlichkeit des
Umgangs mit Technik, ermutigen dazu, kirchliche Praxen, kirchliches Selbst-
Verständnis und kirchliche Institution zu transformieren. Rituelle Praxen und
gottesdienstliche Feiern, vor allem die Kasualien, sind dabei der Indikator dafür,
wie es gelingen kann Formen von Kirchlichkeit in Kontakt zu bringen mit den
Lebenswelten der Menschen. Hier, so drückt es Thomas Klie auf unnachahmliche
Weise aus, kollidieren ja, wie wohl an kaum einem anderen Ort, der „Kunden-
habitus“ eines „ambulanten Christentums“ mit dem „stationären“, kernge-
meindlichen.³⁴ „On demand“ als Konzept trifft die Kasualien, daher dürften
spätmoderne Lebenswelten geradezu dem Nachdenken über deren digitale,
künftige Materialität neue Räume bieten. Das macht durchaus Mut für die Zu-
kunft.
Vgl. dazu insgesamt die Dokumentation einer Rostocker Tagung hierzu bei Thomas Klie,
Folkert Fendler und Hilmar Gattwinkel (Hg.), On Demand: Kasualkultur der Gegenwart (Leipzig:
Evangelische Verlagsanstalt, 2017).
Thomas Schlag
Das Smartphone als Spiegel des Lebens
Le Bataclan Concert’s Interruption by Gunmen, Shown in Video (online abrufbar unter https://
www.youtube.com/watch?v=qXZG8QbT7jA, Abrufdatum: 15.01. 2022).
Vgl. Ashley Cowburn, „Paris terror: Man reveals he was saved by his mobile phone as survivors
share stories“, Independent vom 14.11. 2015 (online abrufbar unter https://www.independent.co.
uk/news/world/europe/paris-attacks-survivors-and-witnesses-share-accounts-of-deadly-paris-at
tacks-a6734401.html, Lesedatum: 01.12. 2021).
https://doi.org/10.1515/9783110762853-020
304 Thomas Schlag
tion vermeintliche islamische Freudenfeiern über das Ereignis als digitaler Fake
verbreitet.³ Zum anderen kam es nach den Anschlägen spontan – etwa unter
#prayforparis oder #NotInMyName – zu muslimischen Solidaritätsbekundungen
sowie zur Produktion von religiösen Memes, was ebenfalls den produktiven und
global kommunikativen Verwendungszwang des Smartphones offenbar machte.⁴
Yanan Wang, „Fake video, images claim to show Muslim joy over Paris attacks“, Washington
Post vom 18.11. 20215 (online abrufbar unter https://www.washingtonpost.com/news/morning-
mix/wp/2015/11/18/fake-video-images-claim-to-show-muslim-joy-over-paris-attacks/, Leseda-
tum: 05.02. 2022).
Vgl. https://esmemes.com/t/pray-for-paris-images, Abrufdatum: 01.12. 2021.
Vgl. Zielsetzung, Design und erste Ergebnisse der ökumenischen und internationalen CONTOC-
Studie (Churches Online in Times of Corona) unter www.contoc.org.
In erziehungswissenschaftlicher Perspektive, die auch für die spätere religionsdidaktische
Reflexion anregend sein kann, werden Dinge vor dem Hintergrund ihrer Performativität näher
gefasst als „Medien, da sie Beziehungen stiften zwischen dem Menschen und der Welt, zwischen
dem Einzelnen und den Mitmenschen und zwischen sich und sich selbst.“ Von dort aus besteht
„der performative Bildungshabitus der Dinge“ in „Ambivalenzen, Widersprüchen und Parado-
xien. Bildung ist die Antwort auf die Möglichkeiten der Dinge.“, Jörg Zirfas und Leopold Klepacki,
„Die Performativität der Dinge: Pädagogische Reflexionen über Bildung und Design“, Zeitschrift
für Erziehungswissenschaft 16 (2013): 43 – 57, 52, 54.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 305
Hier ist zu erinnern an die religionsdidaktisch relevante Figur des Modus der Weltbegegnung
konstitutiver Rationalität; mit anderen Worten: Gebrauch, Zwecksetzung und Bedeutung des
Smartphones lassen sich durchaus mit Fragen nach dem „Woher?“, „Wozu?“ und „Wohin“
menschlicher Lebensführung verbinden.
Vgl. Felix Stalder, Kultur der Digitalität (Berlin: Suhrkamp, 2017).
Vgl. Thomas Schlag, „Gebildete Wahrheitskommunikation unter den Bedingungen digitaler
Bild-, Wort- und Zeichenfülle – eine praktisch-theologische Perspektive“, in Von semiotischen
Bühnen und religiöser Vergewisserung: Religiöse Kommunikation und ihre Wahrheitsbedingungen,
hg.v. Daniel Bauer, Thomas Klie, Martina Kumlehn und Andreas Obermann (Berlin/Boston: de
Gruyter, 2020), 109 – 123.
Vgl. den Beitrag von Klaus Hock in diesem Band.
306 Thomas Schlag
Dass es sich beim Smartphone hingegen um ein kleines, unscheinbares, oftmals sogar ver-
nachlässigtes oder vergessenes Ding handelt, sollte eher nicht behauptet werden, vgl. Hans Peter
Hahn, „Materialität zwischen Alltag und Religion: Lebensweltliche Verwandlungen der geringen
Dinge“, in Die religiöse Positionierung der Dinge: Zur Materialität und Performativität religiöser
Praxis, hg.v. Ursula Roth und Anne Gilly (Stuttgart: Kohlhammer, 2021), 15. Vielmehr kommt ihm
unverkennbare Macht zu bzw. wird in es eingeschrieben, die sich gleichwohl von der Machtfülle
sakraler Objekte im klassischen Sinn unterscheidet, vgl. dazu Karl-Heinz Kohl, Die Macht der
Dinge: Geschichte und Theorie sakraler Objekte (München: Beck, 2003).
Angesichts der spezifisch mit dem Oberflächen-Grund des Smartphones verbundenen zei-
chenbezogenen Gebrauchspraktiken sowie der damit verbundenen typischen leibhaften Gesten
sei an das aufforderungsklare Diktum von Thomas Klie erinnert, wonach sich Praktische Theo-
logie „als eine das Leben deutende Wissenschaft auch und gerade gestischen Erscheinungsfor-
men zuwenden [sollte]. Sei es nun in der liturgischen Performance, in der seelsorgerlichen
Bußsituation oder in den opaken Übergängen des Alltags“; Thomas Klie, „Alltagsreligion –
Sonntagskultur: Das praktisch-theologische Interesse an Oberflächen“, in Lebenswissenschaft
Praktische Theologie?!, hg.v. dems., Martina Kumlehn, Ralph Kunz und Thomas Schlag (Berlin/
New York: de Gruyter, 2011), 149.
Stefan Altmeyer, „Ist das alles? Die Dinge theologisch denken mit Bruno Latour“, in Gott, Gaia
und eine neue Gesellschaft: Theologie anders denken mit Bruno Latour, hg.v. Daniel Bogner, Mi-
chael Schüßler und Christian Bauer (Bielefeld: transcript, 2021), 29.
Exemplarisch Christian Grethlein, „Kommunikation des Evangeliums in der digitalisierten
Gesellschaft“, ThLZ 140 (2015): 598 – 611.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 307
„damit“ ist durchaus von programmatischer Natur! – auf seine religiösen Kon-
notationen hin zu bedenken.¹⁵ Dann lässt sich möglicherweise sogar von einem
Transzendenzbezug des Mediums sprechen – vielleicht im Sinn dessen, was einen
unbedingt angeht bzw. noch technikangemessener: was für einen unbedingt an-
geht bzw. anbleibt.
Die weit reichende Alltagsbedeutung dieses technischen Mediums, das sei-
nerseits weit mehr als ein bloßes Objekt ist, ruft nach theologisch-religionsher-
meneutischem Deutungsmut. In diesem Horizont soll den Dynamiken digitaler
Resonanz- und Beziehungsstiftung, die durch das Smartphone möglich oder eben
auch verunmöglicht werden, näher und kritisch auf die Spur gegangen werden. In
dieser Perspektive lassen sich anhand dieses Dings von einem weiten Begriff di-
gitaler Religion bzw. digitaler Religionspraxis her eine ganze Reihe von herme-
neutisch-theologisch deutungsfähigen Aspekten aufzeigen, die wiederum mit den
Grundfragen der Materialität und Virtualität eines religiös konnotierten Zei-
chengebrauchs verbunden sind bzw. von dort her näher betrachtet und in Au-
genschein genommen werden können.
Aber auch dies ist festzuhalten: Bei den unterschiedlichen Annäherungen an
dieses spezifische materiale Ding des 21. Jahrhunderts soll und kann es aus
praktisch-theologischer Perspektive nicht um eine reine Technik- und Medien-
kritik gehen. Auf der anderen Seite sind allzu nahe liegenden und gefälligen
Analogiebildungen – etwa zwischen technischer Ubiquität und göttlicher All-
präsenz – ebenfalls nicht angezeigt, weil dies die komplexen Bedeutungszu-
schreibungen digitaler Performanz, Interaktion und Resonanz zu unterlaufen
droht.
3 Materiale Revolution
Es muss hier kaum näher erläutert werden, wie die Erfindung des Smartphone die
Wahrnehmungs- und Alltagswelten geradezu revolutionär verändert hat. Diese
technisch handgreifliche Form ist der sicherlich bisher augenfälligste materiale
Ausdruck gegenwärtiger Digitalisierungsprozesse sowie Gebrauchs- und Kom-
munikationslogiken. Tatsächlich gibt es gute Gründe, spätestens mit dessen
Vgl. dazu die interdisziplinären Forschungsansätze und Themen des Zürcher Universitären
Forschungsschwerpunktes (2021– 2032) Digital Religion(s). Communication, Interaction and
Transformation in the Digital Society (online abrufbar unter www.digitalreligions.uzh.ch).
308 Thomas Schlag
Jürgen Habermas beschreibt den „revolutionären Charakter der neuen Medien“ wie folgt: „An
den Inhalten der Presse-, Radio- und Fernsehprogramme ändert sich nichts, wenn sie über
Smartphones empfangen werden. … die veränderte Rezeption und die bedauernswerte Auszeh-
rung des Kinos sind durch die Konkurrenz des Fernsehens längst angebahnt worden. Neben ihren
evidenten Vorzügen hat die neue Technologie andererseits auch höchst ambivalente und mög-
licherweise disruptive Auswirkungen auf die politische Öffentlichkeit im nationalen Rahmen. Das
liegt an der Art und Weise, wie die Nutzer der neuen Medien von der Bereitstellung von gren-
zenlosen Verknüpfungsmöglichkeiten, d. h. von ‚Plattformen‘ für mögliche Kommunikationen mit
beliebigen Adressaten Gebrauch machen.“; vgl. Jürgen Habermas, „Überlegungen und Hypo-
thesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit“, in Ein neuer Struktur-
wandel der Öffentlichkeit? Sonderband Leviathan 37, hg.v. Martin Seeliger und Sebastian Se-
vignani (Baden-Baden: Nomos, 2021), 486 f.
Vgl. Oliver Ruf (Hg.), Smartphone-Ästhetik: Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien
(Bielefeld: transcript, 2018).
Steve Jobs iPhone 2007 Presentation (online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?
v=vN4U5FqrOdQ, Abrufdatum: 28.01. 2022).
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 309
keiten in einem Gerät. Aus dem Telefon wird also ein umfassendes bzw. körper-
lich-ganzheitliches Informations- Kommunikations- und Speichermedium, das
„ähnlich wie ein Personenkraftwagen [funktioniert], dessen Innenleben für die
allermeisten Fahrerinnen und Fahrer gleichermaßen intransparent wie eine black
box [kursiv J-.F. S.] erscheint.“¹⁹
Will man sich den grundstürzenden Charakter dieser technischen Innovation
bzw. den von seinen Schöpfern damit verbundenen Anspruch deutlich machen,
so lohnt sich ein kurzer Rekurs auf den Begriff des „Smarten“. Gemeint ist hier erst
einmal ganz banal „klug“. Aber natürlich ist die personale Konnotation hier of-
fensichtlich – denn smart sind normalerweise eben nicht materielle Dinge, son-
dern Personen! Der Möglichkeit personaler Resonanz ist bereits durch diese ge-
radezu genialische Namensgebung im Rahmen dieser emotional befeuerten
Gesamtinszenierung angelegt.
Man könnte also sagen: Smart wird diese Materialität erst und nur dadurch,
dass sie in ihrer personalen Funktionalität, Nützlichkeit und dann eben auch
Unverzichtbarkeit deutlich wird.²⁰ Von dieser ganzheitlichen und zudem höchst
einfachen Zugänglichkeit aus musste man von Seiten der Erfinder für die Be-
deutsamkeit dieses Dings eigentlich gar nicht mehr weiter werben oder gar apo-
logetisch Partei ergreifen. Dieses Artefakt verstand sich – wie übrigens auch die
digitale Taufinszenierung und der immer wieder spontan aufbrechende Applaus
zeigen – von Anfang an von selbst. Damit war zugleich die Brücke zum Alltags-
gebrauch durch alle wie selbstverständlich gebaut.
4.1 Nutzungshinweise
Der im wahrsten Sinn des Wortes entscheidende Fingerzeig ist, dass sich das
Smartphone in seinen Eigenschaften und Nutzungsmöglichkeiten von anderen
technischen Gebrauchsobjekten und deren Be-Nutzung in einer Reihe von „Hin-
sichten“ unterscheidet. Gerade dieses Artefakt wird durch den interaktiven und
resonanten Eigen-Gebrauch in mehrfachem Sinn zum lebensbestimmenden Ding
an sich. Es mag möglicherweise nur ein Zufall sein, dass der Begriff des Eigen-
Gebrauchs normalerweise für Drogenkonsum verwendet wird – wenn er bei der
Verwendung für die digitale Nutzung eigenartig harmloser klingt, so kann auch
dies zu denken geben.
Gut ein Viertel des Smartphones besteht aus insgesamt etwa 30 Metallen, wie zum Beispiel
Kupfer, Eisen, Zinn und Metalle der seltenen Erden. Bei rund einem Prozent der insgesamt ver-
bauten Metalle handelt es sich um Gold, Silber, Platin, Palladium, seltene Metalle wie Kobalt,
Gallium, Iridium und Wolfram und Metalle der seltenen Erden, wie zum Beispiel Neodym.
Vgl. J.-F. Schrape, Digitale Transformation, 24 f.
Ebd., 47.
312 Thomas Schlag
Natürlich gilt für alle technischen Produkte, dass sie erst durch ihre aktive Be-
nutzung ihre Funktion überhaupt erfüllen können. Dennoch liegt beim Smart-
phone nochmals ein besonderer Fall dessen vor, wie dieses Ding handgreiflich
und interaktiv zum Sprechen gebracht wird. Seine eigentliche Bedeutung erlangt
es somit nicht im Modus einer Subjekt-Objekt-Relation, sondern durch eine In-
teraktion, in der gleichsam von beiden Seiten – also vom Produkt wie vom Be-
nutzenden aus – Interaktion und Resonanz initiiert wird.
Der Sinn seiner Verwendung liegt somit nicht darin, dass das Smartphone für
sich einen Sinn hat, sondern aus Sicht der Benutzenden einen Sinn macht – und
übrigens auch aus der Sicht der Technologiekonzerne, wobei hier der Sinn ein
Vgl. Shoshana Zuboff, The age of surveillance capitalism: The fight for the future at the new
frontier of power (London: Profile Books, 2019).
Vgl. https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article137177999/Wenn-die-SMS-nach-Braten-
duftet.html, Lesedatum: 30.01. 2022; vgl. https://www.newyorker.com/tech/annals-of-technolo
gy/is-digital-smell-doomed, Lesedatum: 30.01. 2022.
314 Thomas Schlag
nehmen. Resonanz so verstanden, dass sie eine bestimmte Art und Weise und
Manifestation der Welt- und Wirklichkeitsbeziehung des Menschen in seiner Re-
lationalität zum Ausdruck und Vorschein bringt.
Mit anderen Worten: Das Smartphone ermöglicht in seinem eigenen An-
spruch auf Ganzheitlichkeit eine Reihe von urmenschlichen Emotionen, die ih-
rerseits mit der spezifischen Materialität des Dings, den Erfahrungen gelingender
Interaktion und Resonanz sowie den davon ausgehenden Bedeutungszuschrei-
bungen zu tun haben:
Zuerst einmal vermittelt schon der „souveräne“ Gebrauch die Erfahrung von
Autonomie und Selbstwirksamkeit und erzeugt damit eine positive Resonanz sich
selbst gegenüber. Dies verbindet sich durch den kreativen Eigengebrauch mit der
Erfahrung des Smartphones als eines häufig primär bildhaften Narrationsmedi-
ums, d. h. es wird als Medium der Selbst-Darstellung, des Bekenntnisses und oft
auch der intimen Beichte genutzt und erlebt.
Eine solche Performanzerfahrung macht das Ding selbst zum je für den Ein-
zelnen bedeutsamen und lebensrelevanten Resonanzding. Man könnte durchaus
sagen, dass das Smartphone im positiven Fall als emotionaler Ort der anschauli-
chen Gewisswerdung von unbedingter und dauerhafter Zuwendung erfahren wird.³⁴
Damit verbunden und darüber hinaus gehend ist der berührende Gebrauch –
im Doppelsinn des Wortes – ein ganzheitliches körperliches Phänomen (aus
Augen- und Daumenhandlung),³⁵ das ebenfalls eine produktive und resonanz-
steigernde Dynamik aus sich heraus entbindet. Damit geschieht nicht weniger als
eine durch das Artefakt seinerseits erzeugte Sichtbarwerdung der eigenen Wirk-
lichkeit und Weltschöpfungsmacht.
Diese Interaktion mit sich selbst verbindet sich mit der Interaktion nach au-
ßen, insofern das Smartphone in seiner material-geistigen Bedeutung Kontakt-
aufnahme und Kommunikation ermöglicht und eine Art Erfüllungsresonanz von
Verbundenheitssehnsucht liefert. Die technische Möglichkeit von bildhafter An-
Für positive Interaktionserlebnisse mit digitalen Technologien wird von psychologischer Seite
her auf den klaren Zusammenhang zwischen grundlegenden Bedürfnissen nach Autonomie,
Kompetenz und Verbundenheit sowie positiven Emotionen hingewiesen, vgl. etwa die For-
schungsarbeiten von Marc Hassenzahl (Universität Siegen) oder Jörn Hurtienne (Universität
Würzburg).
Offensichtlich kann aufgrund exzessiven Smartphone-Gebrauchs am Daumen sogar das so-
genannte Repetitive-Strain-Injury-Syndrom auftreten, weil dieser anatomisch gesehen nur zum
Gegenhalten für die anderen Finger ausgelegt sei, nicht aber für feinmotorisches Tippen auf der
Smartphone-Oberfläche!, vgl. Lina Timm, „Du böses Handy!“, FAZ vom 07.02. 2014 (online ab-
rufbar unter https://www.faz.net/aktuell/stil/leib-seele/smartphones-und-gesundheitsschae
den-du-boeses-handy-12784725/wie-entsteht-das-12789052.html, Lesedatum: 11.11. 2021).
316 Thomas Schlag
Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung (Berlin: Suhrkamp, 2016), 159.
Ebd., 159.
Dies knüpft an die dreifache Näherbestimmung der Formen der Digitalität, nämlich „Refe-
renzialität“, „Algorithmizität“ und „Gemeinschaftlichkeit“, vgl. F. Stalder, Kultur der Digitalität,
96 – 128.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 317
„Es“ – also das Artefakt selbst – will als repräsentiertes und repräsentierendes
„Ich“ natürlich auch gefüttert werden. Insofern ist es ein höchst gefräßiges Ding,
das den einzelnen Nutzenden im Blick auf dessen Aufmerksamkeitsressourcen
unbarmherzig verschlingen kann. Im Sinn schwarzer Technikpädagogik könnte
man sagen: Wer nicht folgt, dem wird die Resonanz entzogen, wer in die falsche
Richtung schaut, dem droht Entfremdung. Entsprechende Ausschließungsdro-
hungen und Suchtphänomene sind auch jenseits ihrer populären und allzu ein-
gängigen Dramatisierung⁴⁰ nicht zu bezweifeln.
Resonanztheoretisch gesehen ist es natürlich ebenso bedenkenswert wie
bedenklich, dass eine „smartphonefixierte Kultur des gesenkten Blicks [kursiv,
H.R.], die auch im Sozialraum Augenkontakte durch Bildschirmbeziehungen er-
setzt, per se ein Entfremdungspotential birgt“.⁴¹ Zu ergänzen wäre hier, dass diese
Entfremdungsdynamiken wohl nicht nur im Blick – bzw. Nichtblick – auf die
Außenwelt und Weltbeziehungen als Weltverlust, sondern auch hin-sichtlich der
je eigenen Person und deren Selbstbeziehung als Selbstverlust auswirkungsreich
sind.⁴²
Dass sich schon die Entwicklung und nun auch der stetige weitere Ausbau der
Smartphonetechnologien mit handfesten kommerziellen und nicht zuletzt mili-
tärischen Interessen verbindet, kann nicht deutlich genug betont werden. In be-
wusster Analogiebildung über die Zeiten hinweg ist in ideologiekritischer Hin-
sicht von digitaler „Aufzeichnung, [totalen] Mobilmachung und
Standardisierung“ als den „Soldatengesichter[n] des Internets“⁴³ die Rede. Die
ganzheitliche und handfeste Gebrauchslogik des Smartphone setzt immer auch
die handfeste Kritik in ihr gutes Recht.
5 Theologische Reflexionen
Zu Anfang wurde gefragt, weshalb man sich praktisch-theologisch mit der Per-
formanz und Resonanz dieses „smarten“ Dings beschäftigen sollte. Zu Recht wird
konstatiert: „Digitale Kultur ist religionsproduktiv und fordert theologische Kri-
teriologien heraus.“⁴⁴ Nach den bisherigen Ausführungen ist festzuhalten, dass
das grundsätzliche Ziel der theologischen Beschäftigung mit den digitalen Dy-
namiken nicht darin bestehen kann, im Sinn einer „Reinigungsarbeit der Mo-
derne“ Menschliches vom Nicht-Menschlichen säuberlich zu trennen.⁴⁵ Ohnehin
Vgl. etwa Manfred Spitzer, Die Smartphone-Epidemie: Gefahren für Gesundheit, Bildung und
Gesellschaft (Stuttgart: Klett-Cotta, 2019).
H. Rosa, Resonanz, 311 f.
Vgl. ebd., 716.
M. Ferraris, Seele, 85.
Michael Schüßler, „Latours hybride Schöpfung: Transformationen einer Theologie der Digi-
talität“, in Gott, Gaia und eine neue Gesellschaft, hg.v. D. Bogner, M. Schüßler und Chr. Bauer, 172.
Vgl. ebd., 178.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 319
Religionsstiftern getreten sind, ist kein Geheimnis mehr. Vielleicht tun sie dies
nicht in dem Sinn, bewusst in die traditionelle Rolle von göttlichen Schöp-
fungsinstanzen eintreten zu wollen. Aber offenkundig ist, dass von technologi-
scher Seite die Hoffnungen auf manifeste Gotteserfahrung auf ihre eigene Art und
Weise zur materialen Anschaulichkeit gebracht werden bzw. durch diese techni-
schen Möglichkeiten eine Art von verfügbarem Verlässlichkeitsraum bereitgestellt
wird. Von hier aus lassen sich konkrete praktisch-theologische Erdungen und
Möglichkeitsräume zumindest exemplarisch für den Bereich religionsdidakti-
scher Herausforderungen aufzeigen.⁴⁸
6 Religionsdidaktische Folgeüberlegungen
Soll und kann man in Bildungsprozessen für diese Bedeutung und den Gebrauch
dieses technischen Artefakts überhaupt sensibilisieren oder ist man hier nicht
übergriffig im Sinn einer Kolonisierung jugendlicher Lebenswelten? Wenn reli-
giöse Bildung in einer Kultur der Digitalität den Anspruch auf kritische Medien-
und Selbstbildung hat, fällt die Antwort einigermaßen klar aus. Digitale Kom-
munikationsformen sind fraglos legitime Formen der je individuellen Glaubens-
äußerung und -kommunikation.⁴⁹ Zur weiteren didaktischen Konkretisierung ist
hier an die Unterscheidung zwischen einem ethischen Lernen mit digitalen Me-
dien und einem ethischen Lernen über digitale Medien bzw. prinzipiell über Di-
Der Verfasser enthält sich des überaus reizvollen Versuchs, den Einsatz des Smartphones als
Möglichkeit des gottesdienstlich-liturgischen Geschehens durchzubuchstabieren. Die Möglich-
keiten der Resonanzerzeugung über die bisherigen Grenzen hinweg sind für alle kirchliche Ver-
kündigungspraxis eigentlich sensationell. Dann wäre aber angesichts der pandemisch bedingten
Transformationen gottesdienstlicher Praxis etwa zu fragen, wie sich das ohnehin schon höchst
strittige digitale Abendmahl darstellen würde, wenn man sich dessen liturgischen Vollzug per
Smartphone und die entsprechende Kreuzung unterschiedlichster Materialitätsdimensionen
vorstellte.Was würde etwa geschehen, wenn man die Abendmahlsinszenierung sozusagen digital
in der Hosentasche zum freien Gebrauch bei sich trüge? Es käme einmal auf den Versuch an, mit
allen notwendigen Utensilien per Smartphone in einer vollbesetzten S-Bahn an einem digitalen
Abendmahl zu partizipieren oder dieses gar zu inszenieren. Würden dann die anderen Fahrgäste
durch den hör- und sichtbaren Vollzug des liturgischen Akts zur Gottesdienstgemeinde, auch
ganz ohne ausgesprochene Einladung zur Teilnahme, und was würde materialiter wirksam?
Vgl. Ilona Nord, Realitäten des Glaubens: Zur virtuellen Dimension christlicher Religiosität
(Berlin: de Gruyter, 2008); vgl. in religionspädagogischer Perspektive Thomas Schlag und Ilona
Nord, Art. „Religion, digitale“, in Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im In-
ternet (online abrufbar unter https://www.bibelwissenschaft.de/fileadmin/buh_bibelmodul/me
dia/wirelex/pdf/Religion_digitale__2021-02-03_12_26.pdf, Lesedatum: 05.01. 2022).
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 321
Vgl. Ilona Nord, „Ethisches Lernen im digitalisierten Raum“, in Handbuch ethische Bildung:
Religionspädagogische Fokussierungen, hg.v. Konstantin Lindner und Mirjam Zimmermann (Tü-
bingen: Mohr Siebeck, 2021), 354– 360; erstaunlicherweise kommt diese medienkritische Per-
spektive oder auch nur die Sensibilisierung für die Bedeutung und Benutzung des Smartphones in
den jüngsten, ansonsten elaborierten didaktischen Überlegungen zur Thematik – abgesehen von
einigen eher allgemeinen Bemerkungen (29 – 32) – nur sehr am Rande zu Sprache; vgl. Andrea
Dietzsch und Stefanie Pfister, Digitaler Religionsunterricht: Fachdidaktische Perspektiven und
Impulse (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021).
Vgl. J.-F. Schrape, Digitale Transformation, zusammenfassend 202– 205.
Thomas Klie: „‘Sie werden sehen.‘ Eine didaktische Miszelle zum Berufsschul-Religionsun-
terricht“, in Spiegelflächen: Phänomenologie – Religionspädagogik – Werbung, hg.v. dems.
(Münster u. a.: Lit, 1999), 244.
322 Thomas Schlag
Ebd., 247 f.
Vgl. Tanja Gojny, Kathrin S. Kürzinger und Susanne Schwarz (Hg.), Selfie – I like it: Anthro-
pologische und ethische Implikationen digitaler Selbstinszenierung (Stuttgart: Kohlhammer, 2016).
H. Rosa, Resonanz, 430.
Jolyon Mitchell and Joshua Rey, „Religion, Evolving Media, and Distant Suffering“, in Reli-
gion: Material Religion, hg.v. Diane Apostolos-Cappadona (Farmington Hills: Gale, 2016), 164.
Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Evangelischer Religionsunterricht in der digitalen Welt: Ein
Orientierungsrahmen (Hannover: Gütersloher Verlag, 2022).
Schüßler, Latours hybride Schöpfung, 183.
Luc Cachelin, Internetgott: Die Religion des Silicon Valley (Bern: Stämpfli Verlag, 2017) und in
Romanform Willemijn Dicke und Dirk Helbing, iGod (CreateSpace Independent Publishing Plat-
form, 2017).
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 323
Die von dort her aufgeworfenen zentralen Fragen „What does a humane future
look like?“ und „How can we support those working to catalyze change?“⁶⁰ sowie
die damit verbundenen konstruktiven Überlegungen sind auch für die theologi-
sche Reflexionsarbeit eine inspiratorische Quelle.
Eine solche kritisch-theologische Betrachtung material-geistiger Hybridität
bleibt im Rahmen religiöser Bildungsprozesse ein riskanter Grenzgang, der mit
immer neuen Abwägungen verbunden ist und sich weder eindeutig auf die Seite
von Technikeuphorie noch die der Technikverdammung schlagen sollte. Aber
gerade dann stellt sich – nicht zuletzt im Zusammenhang medienethischer Re-
flexion⁶¹ – die kritische theologisch induzierte Frage, was den Menschen inmitten
der Möglichkeiten medialer Performanz als Beziehungswesen eigentlich aus-
macht.
Wenn ein technisch erzeugtes Ding alle wesentlichen Sinne in Bewegung
bringt, braucht es dann das „reale“ fleischgewordene Gegenüber überhaupt
noch? Oder sind wir uns, technisch angetrieben, irgendwann selbst genug? Die
Möglichkeit der VR-Brillen und die Vision vom Metaversum deutet darauf hin,
dass uns schon bald ganz eigene Möglichkeitsräume zur Verfügung stehen. Dann
stellt sich aber umso mehr die Frage danach, wie theologisch eine Schöpfungs-
wirklichkeit und Vision von gegenwärtiger und zukünftiger Wirklichkeit be-
schrieben werden kann, die den Menschen nicht auf Dateninformationen redu-
ziert oder „am Ende der Zeiten“ in Datenspuren aufgehen lässt. Auf der anderen
Seite macht die Einsicht Hoffnung, dass eine VR-Realität bisher jedenfalls nur
deshalb so echt wirken kann, weil wir zuvor echte Erfahrungen gemacht haben.⁶²
Beispielsweise sind die Aktivitäten des Center for Humane Technology (CHT), das die hier
aufgeführten Fragen aufgeworfen hat, überaus inspirierend, noch zumal sich dessen Engagement
auch in technologischer Hinsicht auf den „state of the art“ bezieht, vgl. https://www.humanetech.
com/, Lesedatum: 12.01. 2022; aus der Fülle der digitaltechnisch kompetenten Reflexionen sei nur
verwiesen auf Dirk Helbing (Hg.), Towards Digital Enlightenment: Essays on the Dark and Light
Sides of the Digital Revolution (Cham: Springer, 2019) sowie mit Verweis auf die demokratischen
Herausforderungen das auch von diesem mitverfasste sogenannte Digitale Manifest (online ab-
rufbar unter https://www.allmytraveltips.ch/?tag=digitales-manifest-der-neun-wissenschaftler-
dirk-helbing, Lesedatum: 11.02. 2022); zur weiteren Einordnung vgl. Carsten Könneker (Hg.), Un-
sere digitale Zukunft: In welcher Welt wollen wir leben? (Berlin/Heidelberg: Springer, 2017) sowie
Adrienne Fichter (Hg.), Smartphone-Demokratie: #fakenews #facebook #bots #populismus #weibo
#civictech (Zürich: NZZ libro, 2017).
Vgl. Susanna Endres und Alexander Filipović, „Medienethik“, in Handbuch ethische Bildung:
Religionspädagogische Fokussierungen, hg.v. Konstantin Lindner und Mirjam Zimmermann (Tü-
bingen: Mohr Siebeck, 2021), 166 – 173.
Das eindrücklichste Beispiel ist der Fall der südkoreanischen Mutter, die ihrer verstorbenen
Tochter in einer holographischen VR-Gestalt begegnet und dabei offenkundig auf intensivste
324 Thomas Schlag
Weise Trauer, Schmerz, aber auch Glück erlebt (online abrufbar unter https://www.youtube.com/
watch?v=0p8HZVCZSkc, Abrufdatum: 02.02. 2022).
Thomas Klies Entfaltungen zu den Leib-Räumen bzw. sein Verständnis von Religion als leib-
räumlichem Geschehen sowie seine Charakterisierung von Religionsunterricht als Spielraum, der
sich „durch performativ ausgelegte Deutungshandlungen konstituiert“, könnte weiterführend
produktiv gemacht werden, um so die absehbar Realität werdenden technischen Artefakte von
einer theologischen Anthropologie her näher und kritisch in Augenschein zu nehmen, vgl. Tho-
mas Klie, „Geräumigkeit und Lehrkunst: Raum als religionsdidaktische Kategorie“, in Schauplatz
Religion: Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik, hg.v. Silke Leonhard und dems.
(Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2003), 192– 208.
Thomas Klie und Silke Leonhard, „Performative Religionspädagogik: Religion leiblich und
räumlich in Szene setzen“, in Schauplatz Religion, hg.v. dies., 17.
Das Smartphone als Spiegel des Lebens 325
Ein Vater hatte drei Söhne… Im Okzident ist das ein ganz normaler Anfang für ein
schönes Märchen. Auch im Orient, aus dem das folgende Gleichnis stammt, ist
dieser Beginn nicht ungewöhnlich. Ebenso normal ist die Bedeutung, die in
diesem Kulturkreis in einer vergangenen Zeit den drei Söhnen verliehen wurde.
Der erste Sohn ist der wichtigste. Er wird ja einmal die Nachfolge seines Vaters
antreten. Der zweite Sohn tritt nur dann in die Familientradition ein, wenn der
erste wegen Krankheit oder Tod ausfallen sollte. Dementsprechend ist der dritte
Sohn nicht mehr ganz so wichtig.
In unserem Gleichnis ist der Vater ein Beduine, der aufgrund unglücklicher
Umstände fast seinen ganzen Besitz verloren hatte, als er „seine Knochen zu
seinen Vätern versammeln“ musste, wie das Sterben im Alten Testament be-
zeichnet wird. Nun wird es ungewöhnlich, denn er besitzt nur noch elf Kamele. Sie
müssen entsprechend der Wichtigkeit der Söhne und qua Gesetz vererbt werden.
Der Älteste bekommt demnach die Hälfte des Besitzes, der zweite noch ein Viertel
und auch der dritte geht nicht ganz leer aus und bekommt immerhin noch ein
Sechstel der Erbmasse.
Die Pointe beginnt damit, dass der älteste Sohn im Gleichnis daherkommt
und sechs Kamele mit nach Hause nehmen will; wie er aus seiner Perspektive
angibt, die Hälfte des Bestandes. Die anderen Brüder widersprechen. Sechs Ka-
mele sind zu viel, sie sind mehr als die Hälfte der Herde, die ja nur elf Kamele
umfasst.
Der Streit wird unversöhnlich. So zerren die beiden jüngeren Brüder den Äl-
testen vor den Kadi und das Gleichnis steuert auf seinen Höhepunkt zu. Denn der
Kadi spricht: „So Allah will, nehmt eines meiner Kamele und gebt es mir wieder
zurück, wenn ihr es nicht mehr braucht“. Und siehe da, nun ist die Aufteilung des
Erbes einfach: Der erste Sohn bekommt die Hälfte, also sechs Kamele, der zweite
bekommt sein Viertel, also drei Kamele, und auch der dritte kriegt seinen vom
Gesetz her vorgeschriebenen Anteil (das Sechstel) ausgehändigt, nämlich zwei
Kamele. 6 plus 3 plus 2 = 11. Die Rechnung geht nun auf und die Söhne könnten
dem Kadi sein Kamel eigentlich wieder zurückgeben.
https://doi.org/10.1515/9783110762853-021
328 Frank Albrecht Uhlhorn
1
Nun haben sich zwei der bekanntesten Konstruktivisten der Welt zu diesem
Gleichnis geäußert. Der Kybernetiker Heinz von Foerster (der das Storyboard mit
den Zahlen 17 und 18 durchdekliniert) und der Systemtheoretiker Niklas Luh-
mann.¹ Luhmann insbesondere zeigt sich fasziniert von der offenen Stelle des
Gleichnisses und gibt sich mit dem Ende nicht zufrieden und fragt den Kadi zu-
rück: Was will Allah denn eigentlich? Und er fragt sich und uns: War das Kamel
nun nötig oder nicht? Wozu war es nötig? War es für die Teilung wichtig und
danach nicht mehr? Braucht ein Richter für ähnliche Fälle einen Bestand von
Prozesskamelen, die verliehen werden können, und/oder braucht es ein
„diensttuendes“ Kamel? Ist es sinnvoll und richtig, es zurückzugeben, wenn man
den Grund gar nicht kennt, warum das Kamel nötig war? Musste das Kamel
wirklich den Söhnen ausgehändigt werden oder reicht die Fiktion eines Kamels?²
Luhmann bezeichnet die offene Stelle im Gleichnis in Anlehnung an einen Ter-
minus des Philosophen und Logikers Gotthard Günter als „Kamelogramm“.
Darauf wird zurückzukommen sein.
Uns erinnert diese Geschichte an das erste Auftreten eines Dozenten für Re-
ligionspädagogik vor einem neuen Kurs von Vikar*innen im Kloster Loccum in der
Nähe von Hannover. Der Reihe nach mussten sich alle Lehrenden denen vor-
stellen, die sie nun für zweieinhalb Jahre als Pfarrpersonen ausbilden wollten.
Darunter waren Studienleiter und Konventualstudiendirektoren, Abt, Prior und –
so hieß es damals noch – die Hausdame, der die Hauswirtschaft des Klosters in
die Hände gelegt war und die den angehenden Pastor*innen auch gesellschaft-
liches Benehmen (etwa bei Tisch) beizubringen hatte.
Nun waren alle angesichts der feuchten Kälte in einem Zisterzienserkloster
praktisch gekleidet. Mit Birkenstockschuhen und weiten Hosen sowie wärmenden
Westen aus Fell. Nur Thomas Klie, der Dozent für Religionspädagogik, kam mit
einem feinen Zwirn vom Herrenausstatter und blauen Wildlederschuhen. Mit viel
Chuzpe erklärte er uns, welchen Stellenwert in unserem Ausbildungsgang sein
Fach habe und dass man an dieser Schnittstelle von Schule und Religionsunter-
Vgl. Lynn Segal, Das 18. Kamel oder Die Welt als Erfindung – Zum Konstruktivismus Heinz von
Foersters, Übers. Inge Leipold (München: Pieper, 1986) sowie Niklas Luhmann, „Die Rückgabe des
zwölften Kamels – Zum Sinn einer soziologischen Analyse des Rechts“, Zeitschrift für Rechtsso-
ziologie 21 (2000): 3 – 60. Die folgenden Ausführungen verdanken sich dem Aufsatz von Dirk
Baecker, „Wie steht es mit dem Willen Allahs?“, in Wozu Systeme?, hg.v dems. (Berlin: Kadmos,
2002), 126 – 169.
Vgl. N. Luhmann, Die Rückgabe des zwölften Kamels, 31 sowie D. Baecker,Wie steht es mit dem
Willen Allahs, 127.
Das (fiktive) Kamel im Konstruktivismus 329
richt, Gesellschaft und Kirche, ein „Feuerwerk abbrennen“ müsse, um die Schü-
ler*innen oder Konfirmand*innen für die Sache zu interessieren, denn naturge-
mäß fänden sie Religion langweilig.
Diese Inszenierung des Thomas Klie beeindruckte den Ausbildungskurs 53
nachhaltig.Was war es, das uns dazu bewegte, uns nach diesem Auftreten mit den
blauen Schuhen innerlich zu schwören, für den Religions- und Konfirmanden-
unterricht besonders viel Kraft und Kreation aufzuwenden? War es die Differenz
zu den anderen Dozierenden, war es die Performanz, von Überraschung und
Abweichung nicht nur zu reden, sondern sie auch zu verkörpern, oder waren die
blauen Schuhe aus feinstem Wildleder nicht auch ein „zwölftes Kamel“, das die
Rechnung, das Kalkül, der angehenden Geistlichen mit einem „Kamelogramm“
ausstattete, um gleich zu Beginn einer kirchlichen Karriere ein Rezept zu liefern,
manche praktisch-theologische Rekursionen aufbrechen zu können?
2
Der Reihe nach sollen diese und die anderen offenen Fragen nun abgearbeitet
werden. Heinz von Foerster, Niklas Luhmann und Dirk Baecker stehen dabei im
Rücken, so dass wir uns nicht allein in der Einöde der Sümpfe um ein Zisterzi-
enserkloster und auf logisch recht schwierigem Terrain bewegen müssen.
Wir beginnen mit der einfachsten: Das Kamel war nämlich nötig und nicht
nötig zugleich. Das ist eine Paradoxie. Es ist nötig für die Rechnung und nicht
nötig für das Ergebnis. Hier schlägt das Herz des Systemtheoretikers, der den
„Trick“ seiner Theorie folgendermaßen schildert: Es wird „zwischen zwei Auf-
hängern, die beide paradox sind, ein operativ rein logischer Raum erzeugt“.³ Er
weist aber auch darauf hin, dass die Relation zwischen nötig und nicht-nötig nur
zeitabstrakt betrachtet prekär ist. Sieht man auf die Dynamik des Vorgangs, lässt
sich erkennen, dass diese Paradoxie operativ durch die Kategorie Zeit aufgelöst
werden kann, nämlich im Augenblick der Rechnung ist es nötig und danach nicht
mehr.⁴
Schwieriger ist die Frage nach dem Willen Allahs zu beantworten. Denn der
Kadi bedient sich eines gewissen Betrugs, was für einen Richter ja nicht statthaft
ist. Denn er spricht das Recht nicht über dem Bestand des Erbes des Verstorbenen,
sondern fügt diesem ein (virtuelles?) Kamel zu. Das kann er nur, so der Soziologe
Luhmann, indem er die Grenzen des Funktionssystems Recht überschreitet und
Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie (Heidelberg: Carl Auer, 32006), 88.
Vgl. Frank Albrecht Uhlhorn, Kommunikation kalkulieren (Berlin: de Gruyter, 2015), 136.
330 Frank Albrecht Uhlhorn
auf eine gesellschaftliche Ressource, nämlich in diesem Fall seinen eigenen Besitz,
zurückgreift.
Wir sind juristisch zu wenig gebildet, um zu beurteilen, ob das noch rechtens
ist. Man könnte aber dem Kadi wenigstens zu Gute halten, dass er den Betrug nur
vornimmt, um dem Recht seine Geltung zu verschaffen. Er sieht also die Grenze
des Systems und entscheidet sich, eine zusätzliche Größe einzuführen, um die
Systemlogiken und Systemoperationen, die ins Stocken geraten sind, wieder in
Gang setzen zu können. Er promoviert dadurch die gesellschaftliche Funktion des
Rechts, in einem Streitfall für Ausgleich zu sorgen.
Erfüllt der Kadi damit den Willen Allahs? Es wäre doch nicht abwegig, zu
behaupten, dass der Wille Gottes auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zielt, also
darauf, dass die Menschen in Frieden und Eintracht zusammenleben. War, in
diesem Zusammenhang gesehen, dann die exaltierte Kleidung des Dozenten ein
zwölftes Kamel, dass die gesellschaftliche Funktion der Religion, nämlich eine
Form zur Verfügung zu stellen, die die Unbeobachtbarkeit der Welt und des Be-
obachters zu beobachten hilft, durch diese Äußerlichkeit so lanciert, dass Vi-
kar*innen Lust dazu bekommen, Methoden zu lernen, um sie jungen Menschen
im Unterricht zu vermitteln? Dann würde das Wahrnehmungsschema „Kleider
machen Leute“ oder elaborierter: sind ein semiotisches Zeichen, das Deutungen
auslöst, erweitert sein um ein Mittel zum Zweck.
Wir müssen hier offen lassen, ob das damals bewusst die Absicht des Thomas
Klie war und betrachten auch die erste Antwort auf die Frage nach dem Willen
Allahs nur als Durchgangsstadium für das sich daran anschließende Problem:
Kann man analysieren, welche Fähigkeit der Kadi gehabt haben musste, um die
Systeme beobachten und das eine sprengen zu können – und dabei zeitgleich und
schnell auszurechnen, dass ihm das persönlich in Hinsicht auf seinen Besitz von
Kamelen nicht schaden werde? Denn eine solche Fähigkeit zu besitzen, wäre si-
cher auch für Theolog*innen hilfreich, weil es in der Schule und der Gemeinde-
leitung einige Konflikte zu lösen gilt.
3
Manch*e Kritiker*in wirft der Systemtheorie vor, dass auch sie letztlich nichts
anderes tut, als einen gewissen Betrug zu institutionalisieren. Die offene oder
„Leerstelle“, von der sie nach dem Vorschlag Gotthard Günters spricht, sei in
Wahrheit eine Theorielücke, die durch die Einführung des „Beobachters“ gefüllt
werde. Er komme immer dann ins Spiel, wenn das Gedankengebäude ins Stocken
gerät und blockiert. Er ist nicht im System und nicht in dessen Umwelt zu loka-
lisieren, sondern nur auf der Grenze von beidem zu finden. Doch wir lassen diese
Das (fiktive) Kamel im Konstruktivismus 331
Skepsis nicht gelten. Denn Dirk Baecker etwa beschreibt den Beobachter präzise:
Er ist „eine Heuristik, die man braucht, um Grenzziehungen beobachten zu
können, von denen die beteiligten Systeme nichts wissen, obwohl sie sie laufend
realisieren, so lange sie sie realisieren.“⁵ Und nicht nur das. Denn er hat eine
weitere wichtige Funktion. Nur der Beobachter (= eine Beobachtung zweiter
Ordnung) kann den blinden Fleck sehen, den die Operationen eines Systems be-
nötigen, um überhaupt operieren zu können.
Diese Erkenntnis stammt von Heinz von Foerster. In einer seiner Publikatio-
nen druckt er das Symbol eines Sternes und daneben eines kleinen Kreises ab.⁶ Er
fordert die Leser*innen dazu auf, mit den Augen den Stern zu fixieren und das
Buch etwa dreißig Zentimeter vor die Augen zu halten. Nun muss mit dem Buch
etwas auf der Horizontalen und Vertikalen gespielt werden, dann ist schnell
festzustellen: Es gibt einen Punkt des Abstandes des Blattes von den Augen, an
dem man den Kreis nicht mehr sieht. Physiolog*innen können das erklären: Es
existiert eine Stelle auf unserer Netzhaut, an der sich keine Rezeptoren finden. An
dieser Stelle werden alle Nervenfasern zum Sehnerv gebündelt. Dieser Punkt er-
möglicht erst das Sehen, macht das Sehfeld aber unvollkommen. Diese Unvoll-
ständigkeit bleibt unter normalen Bedingungen verborgen. So spricht Heinz von
Foerster davon, dass wir nicht sehen, dass wir nicht sehen. Entscheidend ist, dass
dies ein Problem Zweiter Ordnung ist. Im normalen Sehvorgang taucht das Pro-
blem nicht auf, sondern nur, wenn wir unser Sehen besehen oder beobachten.
Wäre das dann eine Fähigkeit, die der Kadi hatte? Also Beobachtungen zweiter
Ordnung vornehmen zu können und blinde Flecken zu erkennen? Gemäß der
Theorie hat ja jedes System einen blinden Fleck.
Der blinde Fleck, der das Sehen erst ermöglicht, ist für soziale Systeme die Ausgangspara-
doxie, die sie konstituieren. Es geht im Umgang mit ihr darum, sie zu erkennen und zu
entfalten. Dabei ist Entfaltung nicht das Ausmerzen der Paradoxie, sondern der kreative
Umgang, der zu einer vorübergehenden Anpassung an vorübergehende Lagen führt. Luh-
mann beschreibt das Rezept für eine funktionale Analyse und/oder eine systemische The-
rapie so:
Man identifiziert die bisher gewohnten Unterscheidungen mit der Frage nach dem
Beobachter als paradox, treibt sie auf die Frage nach der Einheit der Differenz zurü ck, um
dann die Frage zu stellen, welche anderen Unterscheidungen das Paradox ‚entfalten‘, also
wiederauflösen können. So behandelt, ist das Paradox eine Zeitform, deren andere Seite eine
offene Zukunft, ein neues Arrangement und eine Neubeschreibung der Gewohnheiten als
fragwü rdig bildet. Wie in der Autopoiesis auch gibt es dabei keine Abschlußform, die, sei es
als Ursprung, sei es als Ziel, die Frage nach dem ‚Davor‘ und dem ‚Danach‘ nicht zuläßt.⁷
Wäre eine solche Fähigkeit dann nicht aber dem hinzuzufügen, was Gott für seine
Menschen wollen könnte? Uns scheint es nicht nur einen spielerischen Unsinn
darzustellen, eine Fähigkeit auch von Theolog*innen zu befördern, Grenzzie-
hungen von sozialen Systemen besonders dann beobachten zu können, wenn
diese Systeme ins Stocken geraten. Wenn also beispielsweise die Parochialstruk-
turen der Kirche aus dem 19. Jahrhundert daraufhin geprüft werden müssen, ob
sie auch in einer kleiner werdenden Kirche noch funktional sind. Oder wenn der
Status des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen in Frage gestellt wird.
4
Wenn die blauen Schuhe damals ein zwölftes Kamel gewesen waren, um die
Dynamik der Bewusstseinssysteme der Vikar*innen in Hinsicht auf die Kreativität
für die Vermittlung der Funktion der Religion anzukurbeln, dann hätte dieser
„Betrug“ eigentlich dadurch finalisiert werden müssen, dass er auch zur Adaption
einer Beobachtung zweiter Ordnung führt. Die akademisch sehr gut ausgebildeten
jungen Leute wurden nach dem Auftreten ihres Dozenten im Verlauf ihrer Aus-
bildung ja zumeist erstmals in ihrem Leben vor einen Klassenverband von
Schüler*innen gestellt, sollten nach Lehrbüchern Unterricht erteilen und an-
schließend Noten vergeben.
Die dafür anempfohlene Fachliteratur wie Leitfäden zur Unterrichtsvorberei-
tung (Hilbert Meyer), UnterrichtsMethoden – Praxisband (ders.) oder Grundlagen
der evangelischen Religionspädagogik (Jörg Ohlemacher/Heinz Schmidt), war sie
nicht aber auch irritierend? Sie treffen eine Unterscheidung zwischen Didaktik
und Pädagogik. Aber gehören Lernen und Lehren nicht zusammen, weil das
Lehren des Lehrers am Lernen der Schülerin ausgerichtet sein sollte und nicht
etwa an seinen eigenen Interessen? Ebenso muss doch das Lernen am Lehren sich
orientieren und nicht etwa nach Lust oder gute Laune der Schüler*innen.⁸ Wer
trifft also diese Unterscheidung? Hat der soziologisch geschulte Beobachter recht,
wenn er sagt: Didaktik ist, wenn „Lehrer beobachten, was Lehrer tun, wenn sie
kommunizieren wollen, daß sie Erziehung für möglich halten“⁹?
Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien (Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 32004),
214.
Vgl. D. Baecker, Wie steht es mit dem Willen Allahs, 139.
Ebd.
Das (fiktive) Kamel im Konstruktivismus 333
Wissen läßt sich nicht vermitteln, es läßt sich nicht als eine Art Gegenstand, eine Sache oder
ein Ding begreifen (…). Meine Vorstellung ist dagegen, daß das Wissen von einem Menschen
selbst generiert wird und es im wesentlichen darauf ankommt, die Umstände herzustellen in
denen diese Prozesse der Generierung und Kreation möglich werden. Das Bild des Lernen-
den wird auf diese Weise ein anderes. Er ist nicht mehr passiv, er ist keine leere Kiste, kein
Container, in den eine staatlich legitimierte Autorität (ein Lehrer oder ein großer, weiser
Professor) Fakten und Daten und seine enorme Weisheit hineinfüllt. Der Lernende erscheint
aus einer solchen kognitions- oder perzeptionstheoretischen Perspektive als aktiver Kon-
strukteur; er ist es, der sich das Wissen erarbeitet.
(…) Es wäre gut, wenn er (scil.: der Lehrer) seine überlegene Position aufgeben und die
Klasse in dem Bewusstsein betreten könnte, daß auch er nichts weiß. (…).
Laßt den Lehrer, der wissen soll, zum Forscher werden, der wissen möchte! Und (…)
dann werden die sogenannten Schüler und Lehrer zu kooperierenden Mitarbeitern, die ge-
meinsam – ausgehend von einer sie faszinierenden Frage – Wissen erarbeiten. Es entsteht,
so meine ich, eine Atmosphäre der Kooperation, des gemeinsamen Suchens, des Forschens.
Man weckt die Neugierde und die Empathie, regt zu eigenen Gedanken an, serviert nicht
irgendwelche fertigen Resultate, sondern Fragen, die zum Ausgangspunkt einer Zusam-
menarbeit und des wechselseitigen Entzückens werden.¹⁰
Die Lernenden sind keine trivialen Maschinen (von Foerster), und die Lehrenden
sind es genauso wenig wie das Wissen, das vermittelt werden soll. In diesem
hochkomplexen Feld stellen die Noten ein zwölftes Kamel dar, das das Kolla-
bieren des Systems verhindert. Ohne die Notengebung und ihre Selektionsfunk-
tion, zu der sich die Pädagog*innen systematisch gezwungen sehen müssen, er-
geben ihre Bemühungen keinen Sinn. Sie ist systemtheoretisch gesehen die
Leistung, die das Erziehungssystem den anderen Teilsystemen der Gesellschaft
zur Verfügung stellt, jedoch in einem absoluten Nichtwissen darüber, wie mit den
erteilten Noten dort umgegangen wird.
Das Bonmot von sich an Kinder richtende TV-Serien („Schloss Einstein“), dass
auch Albert Einstein nur eine „4“ in Mathe hatte, wurde um die Jahrtausendwende
für Vikar*innen der Hannoverschen Landeskirche bitterer Ernst. Die Note für
Unterrichtsentwurf und Lehrprobe zum Abschluss der katechetischen Ausbildung
musste eine „1“ ergeben, sonst wurde eine Anstellung als Pfarrperson unwahr-
scheinlich. Es kam vor, dass der vom Erziehungssystem bereitgestellte Mentor für
den Berufsanfänger als Tipp für die Lehrprobe mitgab, der skizzierte Unter-
richtsverlauf sei zu lang und müsse gekürzt werden und die tatsächliche Unter-
Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Gespräche
für Skeptiker (Heidelberg: Carl-Auer, 112016), 70 f.
334 Frank Albrecht Uhlhorn
richtsstunde dann noch zehn Minuten dauerte, aber die „Didaktische Reserve“
schon aufgebraucht war. Nicht der Mentor bekam dann aber Abzüge in der Ab-
schlussnote, weil der seinen „Tipp“ der Prüfungskommission gar nicht berichtete,
sondern der Kandidat. Inwiefern „Opfer“ solcher Kontingenzen dann aufgrund
der schlechteren Benotung nicht Pfarrpersonen wurden, obwohl sie für die Kirche
viel einzubringen gehabt hätten, kann heute wohl nicht mehr aufgeklärt werden.
Leider erkennt das Erziehungssystem nicht, dass Noten ein klassisches
zwölftes Kamel sind und geht daher mit ihnen auch nicht besonders kreativ um.
Das System wendet sie immerhin aber auch auf sich selbst an, gibt sich selber
Zensuren und entwirft aufgrund dieser endogenen Unruhe immer neue Didakti-
ken, Pädagogiken und sogar Schulformen.¹¹ Wenn diese den Betrug mit dem
Kamel verstehen und das Kamel eines Tages zurückgeben könnten, wäre viel er-
reicht.
5
Der Dozent am Religionspädagogischen Institut wechselte dann vom Erzie-
hungssystem in das Teilsystem Wissenschaft der Gesellschaft und beschäftigte
sich u. a. mit Themen wie dem Zusammenhang von Zeichen und Spiel für die
Pastoraltheologie (2003), Ästhetik und Ethik als Kategorien der öffentlichen Be-
deutung der Praktischen Theologie (2007) Performanzen des Todes in der Be-
stattungskultur (2008), Krankheitsdeutungen (2019), Logiken religiöser Textilien
(2020) und Hybrider Vergewisserungen (2020), um nur einige Gegenstände seiner
Beschäftigung zu nennen. Aber ein zwölftes Kamel wird auch gern in diesem
System und auch in Klies Forschungsarbeiten verwendet.
Die Praxis jeder Theorie hat nämlich ein Problem, das sie mit einem Kamel
lösen muss. Sie benötigt für ihre Erklärungen Gründe, für ihre Vergleiche Kriterien
und für ihre Modelle Geschichten. Diese können aber nicht in den zu untersu-
chenden Dingen, Phänomenen und Zusammenhängen selbst liegen, deshalb
müssen die jeweiligen Begründungen einen Beobachterstatus schaffen, Selbst-
referenz und Fremdreferenz trennen und die Wirklichkeit als die Einheit dieser
Differenz einführen, um ihre Reflexionen operationsfähig zu gestalten. Die Be-
gründungen führen dann als Argument die Wirklichkeit an, „obwohl und weil die
jeweilige Wirklichkeit eine andere ist.“¹²
Thomas Klie hat den theoretischen Zugriff für sein Wirken als Theologe in
seiner Habilitationsschrift unter die Überschrift „Semiotische Perspektiven“ von
„Zeichenspiele(n)“ gesetzt.¹³ Er führt aus, dass christliche Religion sich in je ak-
tuellen Kontexten in sinnstiftenden Zeichen zeige, die Religion allererst kommu-
nizierbar mache, aber auch zur Deutungsarbeit aufrufe. Die Semiotik wahre dabei
eine kategoriale Differenz zwischen „wahrnehmbaren Formen und den inhaltli-
chen Motivationen“ und halte „die theologischen Wechselverhältnisse (…) zwi-
schen Gott und Welt, Innen- und Außensicht, Zeichen und Referent, Religion bzw.
Kultur und Evangelium“ präsent.¹⁴ Diese Relationen müssen in ihrer geschicht-
lichen Gestalt gedeutet werden und können so in ihrer „Vieldeutigkeit und Mul-
tifunktionalität“ dargestellt werden – ohne (und darauf kommt es Klie als
Theologe an!) dass diese notwendigerweise selektiven Wahrnehmungen „die
transzendierende Wirklichkeit des dreieinigen Gottes und den daraus resultie-
renden Wahrheitsanspruch“ relativieren.¹⁵
Ob ein solcher Zugriff theoriekonsistent ist, weil doch, wie Klie selber aus-
führt, die Semiotik sich einer „Generalthese über Grund und Wahrheit der Phä-
nomene“ enthält, sei dahingestellt. Ein zwölftes Kamel, wie es im Buche steht,
erscheint jedenfalls, wenn der Professor für Praktische Theologie ausführt, dass
„gewissermaßen als Vorzeichen vor der Klammer“ bei seinen Forschungen „Gott
[als der] in jeder Gegenwart gegenwärtig [Seiende]“¹⁶ mitgeführt wird. Das ist
insofern das Vorgehen des Einsatzes einer Leerstelle oder eines „Kamelo-
gramms“, weil die Wirklichkeit hier, obwohl es nur eine gibt, als Differenz in die
Theorie eingeschmuggelt wird, damit sie selbst als Differenz gegenüber ihrem
Gegenstand mit diesem in Beziehung gesetzt werden kann.¹⁷ Die nun sich in
Bewegung setzenden Systemoperationen und Ergebnisse solcher Spiele mit
Deutungen sind jedoch äußerst instruktiv, wie die Arbeiten zur Praxis von immer
ungewöhnlicheren Trauerfeiern, Liturgien bei Großschadensereignissen und
Schulkulturen zeigen. Und sie sind kompatibel mit dem monströsen Anspruch
eines Konstruktivismus, alle anderen Theorien gleich miterklären zu können, sich
dabei aber zurückzunehmen auf die Absicht, ein Moment der Verstörung einzu-
bauen und Unberechenbarkeit zu spoilern. Dass dieses nicht nur therapeutisch in
der Hypnose (siehe dazu nur die Ausführungen von Paul Watzlawick), sondern
Thomas Klie, Zeichen und Spiel: Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pasto-
raltheologie (Gütersloh: Chr. Kaiser, 2003), 166.
Ebd., 167.
Ebd., 168.
Ebd.
Vgl. D. Baecker, Wie steht es mit dem Willen Allahs, 161.
336 Frank Albrecht Uhlhorn
auch theologisch im Sinne der ersten Tafel des Dekalogs „würdig, recht und
heilsam“ ist, braucht an dieser Stelle nicht begründet zu werden.
6
Will man den großen Kybernetiker*innen, Konstruktivist*innen und System-
theoretiker*innen folgen, muss am Schluss eine autologische Zirkulation einge-
baut werden. Mit anderen Worten: Es ist anhand der Beispiele von Schule und
Wissenschaft gezeigt, was man tut, wenn man nicht weiß, was man tut – und dass
dann das Kamel dem Kadi nicht zurückgegeben werden darf, weil andernfalls die
Systemoperationen kollabieren könnten. Aber wie soll es denn anders gehen?
Was kann man denn tun, wenn man nicht weiß, was man tun soll? Wenn nur elf
Kamele da sind und einer, dem die Hälfte zusteht, sechs haben will? Wie löst man
also ein Dilemma, das in den Begriffen des Systems keines ist?
Der Ruf nach einem Kamel, das selbstreferentielle Systemoperationen auf-
bricht, damit sie sich auch mit Fremdreferenz anreichern können, ist verständlich
und führt, wie von Foerster gezeigt hat, zwar nicht auf eine logische, aber eine
operative (doppelte) Schließung. In Bezug auf das Problem mit der Erbschaft
würde eine Gewaltfreie Kommunikation (Marshall B. Rosenberg) empfehlen, dass
Alter Ego dem Ego seine Beobachtung, Gefühle und Bedürfnisse mitteilt und dann
darauf hoffen darf, dass seine zusammenfassende Bitte eine solch sanfte Macht
ausübt, dass Ego sie erfüllt.¹⁸ Dementsprechend hätten die beiden jüngeren
Brüder der Bitte des Ältesten folgen können und es wäre alles genauso gut aus-
gegangen. Doch das kann noch nicht die letzte Antwort darstellen, weil psychi-
sche Systeme eine Black box darstellen und die Ablehnung der Bitte nur in den
infinitiven Regress führten, sie, wenn auch anders formuliert, immer wieder
stellen zu müssen.
Weiter führt die Erkenntnis, dass eine Fremdreferenz durch rekursive
Selbstreferenz je und je selbst produziert wird, weil, wie von Louis H. Kauffman
dargestellt, der pointer eines Pfeils nach seiner kreisförmigen Bewegung gar nicht
genau auf seinen eigenen body treffen kann.¹⁹ Oder um es mit Edmund Husserl zu
sagen, das Bewusstsein intentional ausgerichtet ist und sich nicht nur mit seinem
eigenen Denken beschäftigen kann.²⁰ Diese letzte Unbestimmtheit, die aus der
Rekursivität der Selbstreferenz erzeugt wird, kann aber durch die Funktion des
Gedächtnisses, Abweichungen zu erinnern und wieder zu vergessen, handhabbar
gemacht werden. Denn durch die vom Gedächtnis in seinen Operationen bereit-
gestellten Redundanzen befähigt sich das System selbst zur Freiheit, Offenheit für
andere Möglichkeiten zu konstruieren. Die Fremdreferenz ist also eine selbst er-
zeugte, muss aber als Fremdreferenz ausgewiesen und belegt werden, damit das
System seine selbstreferentiellen Rekursionen fortsetzen kann. Deswegen kann
das Kamel jetzt endlich zurückgegeben werden, aber nicht in toto. Man kann nur
„so tun, als könnte man es zurückgeben wollen“²¹, denn nur so kann es unter-
schieden und bezeichnet werden und dann seinen lebenswichtigen Dienst an der
Konstruktion der Wirklichkeit tun.
Mit einem solchen Kamel, das in die Differenz zwischen Selbst- und Fremd-
referenz galoppiert, lässt sich trefflich spielen: Mit Deutungen oder Paradoxien,
mit Redundanzen und Variationen, mit praxis oder poiesis. Man kann mit ihm
Situationen schaffen, in denen die Chance besteht, dass Änderungen erkennbar
werden. Dafür standen in Erinnerung ja auch die blauen Schuhe und das ist ganz
sicher auch der Wille des Himmels, in festgefahrene Strukturen wieder Bewegung
zu bringen, um Konflikte zu vermeiden und Entwicklungen der vorübergehenden
Anpassung an vorübergehende Lagen zu fördern. Und diese Erkenntnis kann
schließlich helfen, das Religionssystem in eine fruchtbare Differenz zur Gesell-
schaft zu bringen²², um diese möglicherweise mit einer unmöglichen Gabe zu
beglücken und zu den anstehenden Veränderungen in ihrer Umwelt zu motivie-
ren.
Siehe etwa Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie: Erstes Buch: Allgemeine Einfü hrung in die Phänomenologie, Husserliana 3, hg.v.
Walter Biemel (Den Haag: Nijhoff, 1950).
D. Baecker, Wie steht es mit dem Willen Allahs, 169.
Ebd.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dr. Thorsten Benkel
Akademischer Rat am Lehrstuhl für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nach-
haltige Entwicklung an der Universität Passau
Jakob Kühn
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Theologischen Fa-
kultät der Universität Rostock
https://doi.org/10.1515/9783110762853-022
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