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TDM PA R T I Z I PAT I O N A L S S C H L Ü S S E L F Ü R S Q U A R T I E R

Was demokratiestärkende
Bildungsarbeit bewirken kann
Verschlechtertes Zusammenleben, schwindende
Bindekräfte gemeinschaftsstiftender Institutionen,
Radikalisierung … Wie kann die Wohnungswirt-
schaft zur Verbesserung beitragen? Warum sind
inklusive Bewohnerpartizipation und aufsuchende
politische Bildung im Quartier dabei zentral?
Von Maëlle Dubois und Wassili Siegert

D
ie zunehmende soziale und gagement im Quartier. Wo Vielfalt positiv konnotiert
ethnische Segregation, Zu- und gelebt wird, führt sie zu horizonterweiternden
wanderung und der demo- Austauschen und Erfahrungen.
grafische Wandel wirken
sich in bestimmten städti- Konflikte bearbeiten und lösen
schen Wohnquartieren bun- Damit sich dieses Potenzial entfalten kann, stellt
desweit auf das Zusammenleben aus. In aufsuchende politische Bildung im Quartier einen
vielen Nachbarschaften verändern sich die Maëlle Dubois vielversprechenden Ansatz dar. Ihr Kernziel, Demo-
Zusammensetzungen der Bewohnerschaft Politikwissenschaftlerin kratie zu stärken, beschränkt sich nicht auf klassi-
rapide. Viele alteingesessene Mieterinnen Minor – Wissenschaft sche Institutionenkunde. Vielmehr geht es darum,
Gesellschaft mbH
und Mieter nehmen diese Entwicklungen BERLIN Menschen in die Lage zu versetzen, sich eine in-
negativ wahr und Ressentiments zwischen formierte und reflektierte Meinung zu bilden sowie
verschiedenen Bevölkerungsgruppen ver- mündig und selbstständig zu handeln. In
stärken sich. Die Konzentration von Menschen in pre- diesem Zusammenhang bietet politische
kären Lebenslagen, die häufig periphere Lage und die Bildung im Quartier große Potenziale, den
Überbelastung der öffentlichen Infrastruktur können neuen Herausforderungen zu begegnen.
außerdem dazu führen, dass Bewohnerinnen und Die Konfliktlinien zwischen alteinge-
Bewohner ihr Quartier als „abgehängt“ wahrnehmen sessenen Mietern und Neuzugezogenen,
und ihr Misstrauen gegenüber öffentlichen Instituti- zwischen Jugendlichen und älteren Men-
onen, Politik und Akteuren in den Quartieren wächst. schen oder Familien, zwischen deutschen
Wenig überraschend ist also, dass viele Woh- Wassili Siegert Bewohnern und jenen mit Migrationsge-
nungsunternehmen von einer Zunahme von Nach- Sozialgeograf schichte, zeigen zunächst einmal den gro-
Bilder: Minor/PartQ; Gesobau AG/Thomas Bruns

Minor – Wissenschaft
barschaftskonflikten berichten, welche den Bedarf ßen Bedarf an nachbarschaftlicher Begeg-
Gesellschaft mbH
an Vermittlung und Schlichtung erhöhen (siehe DW BERLIN nung auf. Denn ein konstruktiver Dialog und
2/2020, Seite 8: Studie „Herausforderung: Zusammen- geteilte Erfahrungen können Ängste und
leben im Quartier“ im Auftrag des GdW). Diese neue Vorurteile abbauen. Demokratiestärkende
Situation bildet außerdem eine potenzielle Grundlage Bildungsarbeit zielt darauf ab, die Verständigung zwi-
für die Entwicklung von politischer Radikalisierung. schen unterschiedlichen Gruppen zu fördern und Be-
Andererseits ermöglicht das Zusammentreffen ver- wohner für ihre jeweiligen Belange zu sensibilisieren.
schiedener Generationen und Lebensstile die Ent- Damit Konflikte nachhaltig gelöst werden können,
stehung neuer Formen von Gemeinschaft und En- ist es von großer Relevanz, dass sie von den Bewoh-
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nern eigenständig ausgehandelt werden. Neben der Das Projekt PartQ – Aufsuchende
Entwicklung eines Verständnisses für andere Per-
spektiven erfordert dies die Stärkung bestimmter politische Bildung im Quartier
Kompetenzen wie zum Beispiel Kommunikationsfä-
Im Rahmen vom Projekt PartQ (Laufzeit: Dezember 2020 – Dezember
higkeit, Kompromissbereitschaft, Überzeugungskraft 2024) werden in Kleinprojekten Ansätze der aufsuchenden politischen
und Ambiguitäts- sowie Frustrationstoleranz. Die Bildung an Modellstandorten bundesweit erprobt, begleitet und
politische Bildung bietet hierfür ein Arsenal an inhalt- evaluiert. Ziel ist, Dialog, Partizipation und Engagement im Quartier
lichen und methodischen Konzepten, die für die Nach- zu stärken. Die erste Runde von Kleinprojekten ist zum 30. September
barschaftsarbeit nutzbar gemacht werden können. abgeschlossen. Zwischenerkenntnisse werden im Rahmen von zwei
Fachaustausch-Veranstaltungen am 20. Oktober und 17. November in
Berlin und Halle (Saale) diskutiert.
Die zweite Projektrunde startet im Januar 2023. Dafür wird bereits
nach neuen Modellquartieren gesucht.
Informationen und Bewerbung: www.minor-wissenschaft.de/partq

An der Quartiersgestaltung mitwirken


Um den Zusammenhalt im Quartier langfristig zu
verbessern, ist eine aktive Beteiligung der Bewoh-
Mit Partizipationswerkstätten, wie hier in Halle- nerinnen und Bewohner erforderlich. Viele der typi-
Silberhöhe, identifizieren die Projektakteure
Bedarfe im Quartier, die mit politischer Bildung schen Nachbarschaftskonflikte wie Hausordnungs-
angegangen werden sollen verstöße und Lärmbeschwerden zeigen auf, dass

Überlastete Infrastrukturen und eine Bewohnerschaft mit vielfältigen sozialen und kulturellen Voraussetzungen
können zu Schwierigkeiten im Zusammenleben führen. Nun wird untersucht, wie aufsuchendnde politische
Bildungsarbeit zur Stabilisierung beitragen kann. Einer der sechs Modellstandorte ist das Märkische Viertel
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Die Partizipationspyramide
nach Gaby Straßburger und Judith Rieger*

Partizipation aus institutionell-professioneller Perspektive Partizipation aus der Perspektive der Bürger

Zivilgesellschaftliche Eigenaktivitäten
7

Entscheidungsmacht übertragen 6 Bürgerschaftliche Entscheidungsfreiheit ausüben

Entscheidungskompetenz teilweise abgeben 5 Freiräume der Verantwortung nutzen


Stufen

Mitbestimmung zulassen 4 An Entscheidungen mitwirken

Verfahrenstechnisch vorgesehene Beiträge


Vorstufen

Lebensweltexpertise einholen 3
einbringen
Im Vorfeld von Entscheidungen Stellung
Meinung erfragen 2
nehmen
Informieren 1 Sich informieren

* Straßburger/Rieger (Hg.) Partizipation kompakt – Für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe 2014: S. 232 f., Weinheim 2019; eigene Darstellung

eine Neuverhandlung der Normen des Zusammen- Partizipation ernst gemeint wird (siehe Infotext).
lebens nötig ist, insbesondere in Quartieren, die sich Nur wenn das Ergebnis offen und gleichzeitig ver-
in den letzten Jahren und Jahrzehnten erheblich bindlich ist, können Bewohner Selbstwirksamkeit
verändert haben. Alle Gruppen und Communities erfahren und Verantwortung für ihre Nachbarschaft
sollten idealerweise gleichberechtigt mitbestimmen, übernehmen.
wie sie miteinander leben wollen. Partizipation ist somit der Schlüssel zu einer
Die erste Voraussetzung dafür ist die Anerken- nachhaltigen und diversitätsgerechten Quartiersent-
nung und Betonung der Expertise der Bewohne- wicklung und damit zu einem positiven Image und
rinnen und Bewohner für ihr Wohnumfeld, ohne der Stabilität des Quartiers. Denn nur wenn alle Mie-
ein bestimmtes Fachwissen mitbringen zu müssen. tergruppen gleichermaßen an den Entscheidungen
Für eine bewohnerorientierte und demokratische mitwirken können, wirken diese legitim für die Be-
Quartiersentwicklung ist außerdem essenziell, dass wohnerschaft. Aufgabe demokratiestärkender Bil-
dungsarbeit in diesem Kontext ist, die Menschen in
den Quartieren dahingehend zu stärken, dass sie ihre
Interessen und Anliegen selbstständig identifizieren,
zum Ausdruck bringen sowie aushandeln können.
Partizipation für alle: aufsuchend Der weitreichende Effekt der Stärkung von Parti-
ansprechen, inklusiv arbeiten zipation auf Quartiersebene darf nicht unterschätzt
werden. Denn nur wenn Menschen demokratische
Partizipation funktioniert nur, wenn alle repräsentiert sind und gehört Erfahrungen in der eigenen Lebenswelt erleben
werden. Angebote der politischen Bildung werden jedoch nur durch können, werden sie deren Wert anerkennen. Somit
Bilder: www.partizipationspyramide.de; Minor/PartQ

einen kleinen Teil der Bevölkerung wahrgenommen. Deswegen ist es können solche Ansätze auch zur Eindämmung von
nötig, Bewohnerinnen und Bewohner – insbesondere unterrepräsen- Radikalisierungstendenzen beitragen und die Distanz
tierte Gruppen – dort anzusprechen, wo sie sich ohnehin aufhalten,
zu politischen Prozessen verringern.
sei es im öffentlichen Raum oder in den sozialen Medien. Wichtig ist,
sie direkt anzusprechen, anstatt darauf zu warten, dass sie sich zu Was Wohnungsunternehmen für
den Angeboten bewegen. Außerdem ist es zentral, dass Partizipati- mehr Partizipation machen können
onsprozesse inklusiv gestaltet und damit zugänglich für alle Betrof-
fenen sind. Es gilt, Barrieren abzubauen und Normen sowie Arbeits- Als zentrale Akteure im Quartier können Wohnungs-
gewohnheiten in der Quartiersarbeit, die bisher als selbstverständlich gesellschaften und -genossenschaften einen zen-
wahrgenommen wurden, zu hinterfragen. tralen Beitrag zur Stärkung der Partizipation von
Bewohnern leisten. Hierbei ist Folgendes wichtig:
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· Politische Bildung soll als fester Bestandteil von


ganzheitlichen Quartierskonzepten integriert wer-
den. Dazu gehört eine konzertierte Zusammenarbeit
von Akteuren der Quartiersarbeit, der Stadtverwal-
tung und -politik sowie Trägern der politischen
Bildung.
· Begegnungsräume und inklusive Freizeitaktivitäten
sollen gestärkt werden, beispielsweise durch den
Betrieb und die Erweiterung von Nachbarschafts-
einrichtungen.
· Als eine Partizipationsmöglichkeit sollen beste-
hende Gremien der Mietervertretung gestärkt und
geöffnet werden. Häufig repräsentieren diese nur
ungenügend die Mieterschaft und ihre Mitbestim-
mung ist stark eingeschränkt. Es gilt, breit und
aufsuchend für ein Engagement zu werben (siehe
unten) sowie Gremien durch eine niedrigschwellige
Gestaltung (zum Beispiel Verzicht auf „Amtsspra-
che“) zugänglicher zu machen. In Rostock-Toitenwinkel wurde ein Projekt entwickelt, das auf der direkten
· Jenseits der Gestaltung eigener Gremien der Par- Ansprache von Bewohnern im öffentlichen Raum basiert
tizipation gilt es, offene Partizipationsräume zu
schaffen und demokratische Partizipationsprozesse
zu initiieren. Alle Betroffenen sollen ihre Bedarfe
und Interessen einbringen können und gleichbe-
handelt werden. aber auch oft am besten in ihren sicheren Räumen
· Auch eine Vernetzung mit kommunalen Akteuren (Läden, Privatwohnungen) und durch Brückenper-
ist essenziell, um lokale Beteiligungsverfahren zu sonen erreichen. Zusätzlich zeigt ein gutes Praxis-
unterstützen und daran anzuknüpfen. beispiel aus dem PartQ-Modellquartier Rostock-
· Um mehr Bewohner für Angebote der politischen Toitenwinkel, dass eine systematische Ansprache im
Bildung, für die Mitarbeit in Mietervertretungen öffentlichen Raum besonders erfolgsversprechend
sowie für Partizipationsprozesse zu gewinnen, ist ist. Durch Einzelgespräche, die den Fokus auf die
eine aufsuchende Ansprache notwendig. Ein gutes Interessen und Ressourcen der angesprochenen
Verhältnis zwischen Mietern und Kundenbetreuern Person legen, können Bewohner Wertschätzung
der Wohnungsunternehmen kann ein maßgebli- erfahren und aktiviert werden. 
cher Ausgangspunkt sein. Bewohner lassen sich

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