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Andreas Novy | Richard Bärnthaler | Veronika Heimerl


Zukunftsfähiges Wirtschaften

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Arbeitsgesellschaft im Wandel

Herausgegeben von
Brigitte Aulenbacher | Birgit Riegraf

Moderne Gesellschaften sind nach wie vor Arbeitsgesellschaften. Ihr tief


greifender Wandel lässt sich daran ablesen, wie Arbeit organisiert und
verteilt ist, welche Bedeutung sie hat, in welcher Weise sie mit Ungleich-
heiten einhergeht.
Die Buchreihe leistet eine kritische sozial- und zeitdiagnostische Betrach-
tung der „Arbeitsgesellschaft im Wandel“ und befasst sich mit • Theorien
der Arbeit und der Arbeitsgesellschaft • Arbeit in und zwischen Markt,
Staat, Drittem Sektor, Privathaushalt • Arbeit in Organisationen, Berufen,
Professionen • Erwerbs-, Haus-, Eigen-, Subsistenz-, Freiwilligenarbeit in
Alltag und Biografie • Arbeit in den Verhältnissen von Geschlecht, Ethnizi-
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Andreas Novy | Richard Bärnthaler |


Veronika Heimerl

Zukunftsfähiges
Wirtschaften

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Die Autor_innen
Andreas Novy, Prof. Dr., ist Leiter des Institute for Multi-Level Governance and Development
an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Richard Bärnthaler arbeitet am Institut für Multi-Level Governance and Development der
Wirtschaftsuniversität Wien und am Institut für Development Studies der Universität Wien.
Veronika Heimerl arbeitet am Institut für Multi-Level Governance and Development sowie
am Institut für Wirtschaftsgeographie der Wirtschaftsuniversität Wien.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektroni-
sche Systeme.

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Dieses Buch ist erhältlich als:


ISBN 978-3-7799-6142-0 Print
ISBN 978-3-7799-5444-6 E-Book (PDF)

1. Auflage 2020

© 2020 Beltz Juventa


in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Ulrike Poppel


Satz: Helmut Rohde, Euskirchen
Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza
Printed in Germany

Weitere Informationen zu unseren Autor_innen und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de
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Vorwort

Mit Fridays for Future ist das Thema Zukunftsfähigkeit endlich ganz oben auf
der politischen Agenda gelandet. Dass die Welt, so wie wir sie kennen, bedroht
ist, bestimmt heute zumindest die offiziellen Reden politischer Entscheidungs-
trägerInnen und öffentlicher Debatten. Weiterhin fehlt es jedoch an Konzepten
und Ideen, wie zukunftsfähig gewirtschaftet werden kann. Wir fanden keine
Bücher und nur wenige Texte zu zukunftsfähigem Wirtschaften. Das überrascht
vor allem deshalb, weil die derzeitige Wirtschaftsweise zwar in der Vergangen-
heit wirtschaftlichen Fortschritt gebracht und sozialen Zusammenhalt gestärkt
hat, heute aber zentraler Treiber von Nicht-Nachhaltigkeit ist.
Aus diesem Grund entschlossen wir uns, eine kleine Einführung für interes-
sierte Laien zu schreiben. Wir hatten dazu ausreichend Material gesammelt, da
wir seit Jahren (mehr oder weniger stark involviert) eine Lehrveranstaltung zu
„Zukunftsfähigem Wirtschaften“ an der Wirtschaftsuniversität Wien abhalten.
Es ist dies eine Lehrveranstaltung für alle Studierenden dieser großen wirt-
schaftswissenschaftlichen Universität mit über 20.000 StudentInnen. Unser Ziel
als AutorInnen war anfangs vor allem, Neugier und Interesse der Studierenden
zu wecken, über den Tellerrand einer betriebswirtschaftlichen Problemsicht
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hinauszublicken. Mit Vorträgen und Übungen zeigten wir in der Lehrveran-
staltung, wie Klimakrise, Globalisierung und zunehmende Ungleichheit unser
aller Leben, aber auch unternehmerisches Handeln beeinflussen.
Die Erstellung dieses Buches wurde aber zu viel mehr als dem bloßen Fest-
halten dessen, was wir konkret im Hörsaal präsentierten und diskutierten. Un-
ser Wissen zu systematisieren, Argumente zu verfeinern und Beispiele zu fin-
den, hat großen Spaß gemacht. Doch es war deutlich mehr Arbeit als wir an-
fangs dachten: Was als Sammlung von Beispielen geglückter und missglückter
Zukunftsfähigkeit begann, wurde zum ambitionierten Projekt, Orientierung zu
bieten in einer unübersichtlichen Welt. Zukunftsfähig einfach mit nachhaltig
gleichzusetzen, schien uns zu eng. So erarbeiteten wir eine eigene Definition
von Zukunftsfähigkeit, die Nachhaltigkeit mit Gerechtigkeit und Verantwor-
tungsbewusstsein verbindet. Wir präsentieren in diesem Buch nicht bloß empi-
rische Fakten in verschiedenen Politikfeldern, sondern zeigen vor allem Zu-
sammenhänge auf. Angelehnt an Ludwig Flecks Theorie der Denkkollektive
wollen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, wie Theorien und Konzepte unsere
Weltsicht bewusst oder unbewusst prägen. So ist das Buch nicht nur ein Plä-
doyer für Neugier und Weltoffenheit geworden, sondern gibt Impulse, wie in
einer komplexen Welt verantwortungsbewusst gehandelt werden kann.

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Wir bedanken uns bei den KollegInnen, die jahrelang zu dieser Lehrveran-
staltung beigetragen haben, allen voran Karl-Michael Brunner, Sigrid Stagl,
Ruth Simsa und Barbara Haas. Ohne die ausdauernde Unterstützung durch
Magdalena Prieler wären uns im Endspurt der Fertigstellung die Kräfte ausge-
gangen. Und ein großes Danke geht auch an diejenigen, die Teile des Manu-
skripts gelesen haben: Verena Madner, Silvia Nossek, Werner Raza, Peter Hei-
merl, Clemens Schwarcz, Elisabeth Stachel, Mathias Moser und Ernest Aigner.
Und schließlich gilt unser Dank den zahlreichen Studierenden, die uns mit
ihren Fragen zwangen, genauer zu argumentieren.

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Inhalt

Teil 1: Zukunftsfähige Denkweisen –


Multiperspektivität in Wissenschaft und Wirtschaft 9
Eine Welt im Wandel 9
Wohlstand im Wandel 16
Das Volkseinkommen und die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 17
Der Human Development Index (Index der menschlichen Entwicklung) 19
Die Sustainable Development Goals (Nachhaltige Entwicklungsziele) 21
Wohlbefinden als Selbstbestimmung, Kompetenz und Dazugehören 22
Zukunftsfähigkeit 25
Nachhaltigkeit 26
Gerechtigkeit 30
Verantwortungsbewusstsein 33
Multiperspektivität 35
Perspektiven als „Brillen“ 36
Grenzen der Multiperspektivität 37
Denkkollektive und Denkstile 38
Denkkollektive in der Ökonomik 39
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Hayek versus Polanyi: Markt und Politik 40
Neoklassik versus Keynesianismus: Wie funktioniert Wirtschaft? 46
Leitbilder zukunftsfähigen Wirtschaftens 51
Sozioökonomik 55

Teil 2: Die Welt im Umbruch – eine Vielfachkrise 59


Umwelt im Umbruch 59
Vielfältige ökologische Krisen 60
Die Klimakrise 63
Planetarische Grenzen 66
Der Ökologische Fußabdruck 69
Wirtschaftlicher Wachstumszwang 71
Wirtschaft im Umbruch 73
Wirtschaftliche Ungleichgewichte und Wirtschaftskrisen 74
Finanzialisierung und Finanzkrisen 81
Systemische Innovationen als schöpferische Zerstörung 85
Globalisierung im Umbruch 92
Die Krise der westlichen Vorherrschaft 92
Der (Wieder-)Aufstieg Asiens 95

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Historische Phasen wirtschaftlicher Entwicklung 98


Entscheidungsfindung jenseits des Nationalstaats 104
Gesellschaft im Umbruch 106
Eine kurze Geschichte sozialen Fortschritts 107
Ungleichheiten in Einkommen und Vermögen 111
Wohlfahrtsregime 118
Lokale Wohlfahrtsregime am Beispiel Wiens 123
Nicht-Nachhaltigkeit westlicher Konsumgesellschaften 125

Teil 3: Wege in die Zukunft 129


Zukunftsfähige Umwelt 129
Ansätze ökologischer Nachhaltigkeitspolitik 129
Analyse umweltpolitischer Effekte 131
Umweltpolitische Instrumente 136
Zukunftsfähige Wirtschaft 141
Stabilisierung der Wirtschaft 141
Ein New Deal für das 21. Jahrhundert 145
Degrowth 148
Soziale Innovationen 149
Systemische Innovationen 155
Zukunftsfähige Weltordnung 157
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Das Globalisierungstrilemma 157
Neoliberalismus 159
Globalismus 161
Planetarische Ko-Existenz 163
Zukunftsfähige Gesellschaft 169
Sozialökologische Steuerreform 170
Innovative neue Wohlfahrtsmodelle 172
Alltagsökonomie 174
Sozialökologische Infrastrukturen 178
Die Kunst des Abwägens 180

Bibliographie 187

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Teil 1: Zukunftsfähige Denkweisen –


Multiperspektivität in Wissenschaft
und Wirtschaft

Die wirkliche Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu erfor-


schen, sondern darin, Altes mit neuen Augen zu sehen.
Marcel Proust (französischer Schriftsteller, 1871–1922)

Eine Welt im Wandel

Die Welt ist im Umbruch. Das einzig Sichere ist, dass es nicht so bleibt, wie es
ist: So scheint der Aufstieg Asiens unausweichlich, die Vormachtstellung West-
europas und der USA wankt. Militärische Aufrüstung und neue Formen des
Autoritarismus erreichen bedrohliche Ausmaße. Die Vorhersagen zur Klima-
krise werden immer besorgniserregender, und Fachleute rufen zu einem
grundlegenden Kurswechsel in der Art zu produzieren, zu konsumieren und zu
leben auf. Grund zur Panik? In der Tat geben diese Entwicklungen Anlass zur
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Sorge und nähren die Befürchtung, die Zukunft sei auch nicht mehr das, was sie
einmal war. Über Generationen hat sich insbesondere der reiche Teil der Welt-
wirtschaft an die Vorstellung gewöhnt, die Zukunft wäre automatisch die kon-
tinuierliche Verbesserung des Bestehenden. Selbstverständlich ist dies weiterhin
möglich, aber es wird nicht von selbst passieren. Vieles deutet darauf hin, dass
die uns vertraute Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in einer tiefen Krise
steckt. Einige zentrale Merkmale der grundlegenden Veränderungen sind die
folgenden vier Punkte.

(1) Extremwettersituationen (Hitzesommer, Stürme, Brände, Überschwem-


mungen) nehmen zu, lokale Klimaveränderungen und ihre Folgen (z. B. das
Schmelzen der Alpengletscher) sowie der Anstieg des Meeresspiegels beschleu-
nigen sich. Das Bewusstsein für anhaltende Klimaveränderungen, die vom
Menschen verursacht sind, steigt. Doch ist weder ein wesentliches politisches
Umsteuern zu beobachten, noch kommt es zu umfangreichen Änderungen im
Privatleben (der Lebensweise) oder in den Unternehmen (der Produktions-
weise). (Vgl. Teil 2 Umwelt im Umbruch)

(2) 2008 erschütterte die größte Finanzkrise seit 1929 die Welt. Der internatio-
nale Zahlungsverkehr brach kurzfristig zusammen und führte zu einem abrup-

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ten globalen Wirtschaftseinbruch. Globale Finanzmärkte und transnationale


Unternehmen, die in globalen Wertschöpfungsketten produzieren, sind zen-
trale, mächtige Institutionen dieser aktuellen Weltwirtschaft. Digitale Markt-
plätze bringen neue Formen der Arbeit, ökonomische Praktiken und Markt-
ordnungen mit sich. Standortwettbewerb, Exportorientierung und die Domi-
nanz der Finanz- über die Realwirtschaft charakterisieren die derzeitige Wirt-
schaftsweise. Wirtschaftswachstum scheint notwendig, um soziale Krisen zu
vermeiden und Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Gleichzeitig ist das Wachs-
tum des Ressourcenverbrauchs eine wesentliche Ursache der genannten Um-
weltveränderungen. (Vgl. Teil 2 Wirtschaft im Umbruch)

(3) Die USA sind als Führungsmacht auf dem Rückzug. Schwellenländer, insbe-
sondere in Asien, werden zu Global Players. Doch eine neue Weltordnung ist
nicht in Sicht. Hatten viele gehofft, mit dem Ende des Kalten Krieges 1989 und
der Demokratisierung in Ost- und Südosteuropa bräche eine neue Ära globaler
Zusammenarbeit an, so sind die Einschätzungen heute pessimistischer. Globali-
sierung wird zwar von vielen weiter als Chance und Notwendigkeit verstanden,
um Wohlstand und Frieden zu gewährleisten. Gleichzeitig mehren sich Gegen-
bewegungen und Widerstand gegen die derzeitige Form der Globalisierung.
Dies äußert sich beispielsweise in Form von Protesten gegen Handels- und
Investitionsabkommen wie TTIP und CETA. Weltweite Verbundenheit er-
scheint oftmals vor allem als Gefahr, nicht als Chance. (Vgl. Teil 2 Globalisie-
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rung im Umbruch)

(4) In den letzten Jahrzehnten hat die Ungleichverteilung von Einkommen und
Vermögen innerhalb nationaler Gesellschaften zugenommen. Damit einher
geht die Konzentration von wirtschaftlicher, politischer und medialer Macht.
Der soziale Zusammenhalt und das Vertrauen in politische und wirtschaftliche
EntscheidungsträgerInnen, die als „Establishment“ kritisiert werden, schwindet.
Die liberale Demokratie ist in der Krise. GroßspenderInnen beeinflussen Wah-
len, Lobbyisten betreiben die Privatisierung von lebenswichtigen öffentlichen
Gütern und Dienstleistungen, wie Wasserversorgung oder Gesundheitsdiens-
ten, wodurch Lebensgrundlagen zu käuflichen Waren werden. Diese gesell-
schaftlichen und politischen Veränderungen führen zu Gegenbewegungen
gegen zunehmende soziale Unsicherheit am Arbeitsplatz, unerschwingliche
Wohnungen sowie einen realen oder vermeintlichen Verlust von Heimat. (Vgl.
Teil 2 Gesellschaft im Umbruch)

Diese beispielhaft beschriebenen Phänomene sind Symptome des Wandels. Sie


friedlich und ohne gesellschaftliche Zerwürfnisse zu gestalten, ist eine Heraus-
forderung. Krise erscheint manchen deshalb vor allem bedrohlich. Doch ur-
sprünglich bezeichnete das griechische Wort krisis den Höhe- und gleichzeitig,

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den mit einer Entscheidungssituation verknüpften Wendepunkt einer gefährli-


chen Lage. Krisen beinhalten Gefahren, aber auch Chancen. Sie sind Um-
bruchssituationen, in denen das Alte endet und etwas Neues noch nicht ent-
standen ist. Das ist der Zugang dieses Buches. Die schwindende Vormachtstel-
lung des Westens bietet beispielsweise Chancen für mehr globale Gerechtigkeit.
Die Krise der Automobilindustrie eröffnet Chancen, auf ein nachhaltiges Mo-
bilitätssystem umzusteigen. Wie mit Krisen in Wirtschaft und Wissenschaft
umgegangen wird, vor welchen Herausforderungen Politik und Unternehmen
auf unterschiedliche Weise stehen und was dies für jede und jeden Einzelnen
bedeutet, ist Gegenstand dieses Buches.
Seit dem 19. Jahrhundert haben wir uns zumindest im Westen daran ge-
wöhnt, dass Wandel linearen Fortschritt, Verbesserung und Wachstum bedeu-
tet – besser, schneller, mehr. Dieses lineare Geschichtsverständnis löste das bis
dahin dominante Kreislaufdenken ab, welches sich an Jahreszeiten und Ernte-
zyklen orientierte. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte in West-
europa der Optimismus, dass es „die Kinder“ einmal besser haben werden. Es
ging „bergauf“. Diese Gewissheit ist spätestens seit der Wirtschaftskrise 2008
ins Wanken geraten. Immer mehr Menschen in den reichen Ländern Europas
zweifeln daran, dass es den eigenen Kindern zukünftig besser gehen wird als
ihnen selbst. So zeigen Umfragen aus dem Jahr 2017, dass nur 10 Prozent der
Franzosen und Französinnen und 32 Prozent der Deutschen (hingegen 78 Pro-
zent der ChinesInnen) denken, dass ihre Kinder ein besseres Leben als sie selbst
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haben werden. Eine britische Studie zeigt die ungewöhnliche Sorge junger
Menschen: Trotz technischer, sozialer und wirtschaftlicher Verbesserungen gibt
jede/r dritte unter 35-Jährige an, dass er oder sie es vorziehen würde, in der
eigenen Elterngeneration aufgewachsen zu sein. Vor allem die Wählerschaft
rechter Parteien blickt pessimistisch in die Zukunft. So befürchten 81 Prozent
der FPÖ-WählerInnen der österreichischen Nationalratswahl 2017, dass es die
junge Generation in Zukunft einmal schlechter haben werde als sie selbst. Der
Optimismus, die Zukunftsgewissheit, die Denken und Handeln vergangener
Generationen in Friedenszeiten bestimmte, scheint abhanden zu kommen. In
diesem Buch versuchen wir zu erkunden, woran dies liegt und welche Konse-
quenzen für Strategien zukunftsfähigen Wirtschaftens damit einhergehen.
Wandel erfolgt entweder schrittweise oder abrupt. Er kann nach kleinen
Veränderungen letztlich das Bestehende bewahren oder zu großen Umbrüchen
führen. Zukunftsfähiges Wirtschaften muss sowohl die mittelfristigen, kleinen
Veränderungen innerhalb der bestehenden Wirtschaftsweise im Auge haben,
als auch die Möglichkeit und Notwendigkeit grundlegender Umbrüche ernst
nehmen. Wirtschaften ist, so unsere These, dann zukunftsfähig, wenn sich die
aktuell vorherrschenden Routinen und Institutionen (vgl. Box Institutionen) in
Richtung Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt verändern. Grundlegende
menschliche Bedürfnisse wie Wohnen, Mobilität oder Kommunikation können

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auf unterschiedliche Weise befriedigt werden. Das Bedürfnis nach Kommuni-


kation mit FreundInnen und Bekannten kann beispielsweise entweder über
Messenger auf einem Smartphone befriedigt werden, oder über regelmäßige
persönliche Treffen. Vielfach wird gefordert, nachhaltiger Konsum solle an die
Stelle einer Wegwerfkultur treten. Es brauche Unternehmen, die ökologische
Produkte herstellen, und bewusste KonsumentInnen, die diese trotz höherer
Preise kaufen. Um den Materialverbrauch bei der Befriedigung von Bedürfnis-
sen substanziell zu senken, braucht es aber mehr. Die Art zu produzieren und
zu leben muss sich ändern. Die notwendige Mobilitätswende veranschaulicht
die Herausforderung: Einzig die private Autoflotte auf Elektromobilität umzu-
stellen, löst teilweise das Problem der CO2-Emissionen beim Fahren, hat aber
eine Vielzahl neuer ökologischer Probleme zur Folge, allen voran die energie-
und materialintensive Herstellung und die Frage, ob der Strom, der das Auto
betreibt aus fossilen oder erneuerbaren Quellen stammt. Es braucht systemische
Alternativen, wie zum Beispiel das Teilen der Autonutzung, den Ausbau der
öffentlichen Verkehrsmittel oder Radfahren. Eine Stadt oder Siedlung der kur-
zen Wege, in der es die meisten Dienstleistungen und Produkte direkt vor Ort
gibt, ist ein Beispiel für systemische Veränderung. Ob eine Maßnahme wie
Carsharing das Potential hat, zu großen Umbrüchen und weitreichenden Ände-
rungen beizutragen, hängt von der Marktstruktur und der Art der gesellschaft-
lichen Nutzung ab. Führt das Teilen der Autonutzung dazu, dass ein Großteil
der Menschen auf ein eigenes Auto verzichtet und sich nur bei Bedarf eines
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leiht, fände eine Transformation, eine weitreichende Änderung, statt. Verleiten
Carsharing Angebote dazu, statt öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen ein Auto
zu leihen, sind keine positiven ökologischen Effekte zu erwarten.

Box: Institutionen
Institutionen sind Systeme von etablierten und vorherrschenden sozialen Regeln, die
soziale Interaktionen strukturieren. Dazu zählen Rechtssysteme, Märkte, Steuersysteme,
Verhaltenskodizes wie Anstandsregeln, Tischmanieren und Routinen („nach dem Volley-
ballspielen am Mittwoch gehen wir immer auf ein Bier“).
Institutionen unterscheiden sich von Organisationen wie Unternehmen oder Behörden.
Diese Einrichtungen agieren aber innerhalb eines institutionellen Gefüges, werden von
diesem beeinflusst und beeinflussen es.

Innovationen sind Veränderungsprozesse hin zum etwas Neuem wie Erfindun-


gen, neuen Ideen, neuen Produkte und Praktiken. Diese Veränderungen sind
unterschiedlich weitreichend, werden von verschiedenen AkteurInnen voran-
getrieben, finden in verschiedenen Bereichen und auf unterschiedlichen Ebe-
nen statt. Statt bloß technische Innovationen zu beschreiben, untersuchen wir,
wie technische und sozioökonomische Veränderungen zusammenhängen.
Besonderes Augenmerk gilt oft sozialen Innovationen, die „von unten“ durch
Eigeninitiative angestoßen werden. Als Start-ups, NGOs, gemeinnützige Unter-

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nehmen oder zivilgesellschaftliche Organisationen liefern diese Eigeninitiativen


praktische Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen. Sie sind oft
lokal verankert und dezentral. Mit den Hippies der 1960er Jahre bildeten sich
beispielsweise alternative ländliche Wohnprojekte, die versuchten, ökologisch
nachhaltig zu leben. Bis heute gibt es eine Vielzahl derartiger kreativer Initiati-
ven, die jedoch oft nicht vorrangig den Anspruch haben, zu großen gesell-
schaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen beizutragen.
Systemische Innovationen hingegen wollen ausdrücklich grundlegende
Veränderungen anstoßen. Systemisch werden Innovationen auf zwei Arten
verwirklicht: (1) Soziale Innovationen können von Nischen ausgehend zu sys-
temischen Veränderungen, ausgelöst „von unten“, führen. (2) Systemische
Innovationen werden „von oben“ in die Wege geleitet. Dafür braucht es in der
Regel das Zusammenspiel mächtiger AkteurInnen wie große Unternehmen und
dem Staat.
Grundlegende Änderungen, wie die oben beschriebenen, werden in der
Transformationsforschung als Transformation bezeichnet. Derart grundle-
gende Veränderungen wie heute, so die Transformationsforschung, habe es in
der Menschheitsgeschichte noch nicht oft gegeben. Transformation, wie die
Wortbestandteile (trans-form-ation) anzeigen, bedeutet einen Form-Wandel,
eine radikale Veränderung sozialer Formen, das heißt der Art zu leben und zu
wirtschaften. Dies umfasst Änderungen von Institutionen, Organisationen und
Technologien. Eine erste grundlegende Transformation der menschlichen Pro-
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duktions- und Lebensweise war die neolithische Revolution, in der es vor 7.000
bis 12.000 Jahren an verschiedensten Orten der Welt zum Übergang von Jäger-
und Sammlergemeinschaften zur Vieh- und Landwirtschaft gekommen ist. Aus
Jägern wurden Bauern, aus Nomaden Sesshafte. Mit Vorratshaltung und Urba-
nisierung (Verstädterung) ging eine neue Form der Arbeitsteilung einher. Zivi-
lisationen entstanden, in denen sich eine Elite dem Schreiben und Rechnen, der
Religion und Kunst widmen konnte. Die Mehrzahl erarbeitete mühselig die für
das Überleben notwendigen Lebensmittel.
Ähnlich tiefgehende Veränderungen waren in der sogenannten Industriel-
len Revolution ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zu beobachten: In landwirt-
schaftlichen Gesellschaften vor der Industriellen Revolution arbeiteten die
Mehrzahl der Menschen als Bauern, Handwerker, Händler, abhängige Knechte
und Mägde, Leibeigene oder SklavInnen. Die Menschen stellten Produkte des
täglichen Bedarfs und Geräte lokal her, die dann regional und darüber hinaus
gehandelt wurden. Die meisten aber waren SelbstversorgerInnen. In modernen
Industriegesellschaften hingegen arbeiten Menschen vermehrt in Städten, in
Fabriken, Büros und Einzelhandel. Seit dem 20. Jahrhundert befriedigen Men-
schen so den Großteil ihrer Bedürfnisse mit Geld, das sie am Arbeitsmarkt
verdienen. Damit kam es im Übergang zur Industriegesellschaft zu einer gänz-
lich anderen Art zu arbeiten, zu wirtschaften und zu leben. Auch das zugrun-

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deliegende Energiesystem wurde transformiert. Der in England begonnene


Übergang von einer agrarischen Feudalgesellschaft zu einer Industriege-
sellschaft basierte auf einem grundlegenden Formwandel: neue Energieträger
(insbesondere Kohle), neue Technologien (insbesondere die Dampfmaschine),
neue Eigentumsrechte (Einschränkungen traditioneller Landnutzungsrechte
durch die Beschränkung des Gemeindelandes im Zuge der Enclosure-Bewe-
gung) und angesammeltes Kapital, das investiert werden konnte. Schließlich
trat an die Stelle der Subsistenzwirtschaft – also dem Produzieren für den
eigenen Bedarf mit lokalem oder regionalem Tausch – die Erwerbsarbeit,
durchgesetzt mit rigiden „Armengesetze“, die einen Zwang zur Erwerbsarbeit
einführten. Feudale Institutionen lösten sich auf, und es entstand eine Marktge-
sellschaft. Auf das Massenelend des 19. folgte die Massenkonsumgesellschaft
des 20. Jahrhunderts. Auch die politische Organisation und die Macht einfacher
BürgerInnen durchliefen radikale Veränderungen: Zuerst in Nordamerika und
Westeuropa, dann zunehmend weltweit, veränderten sich Standesgesellschaften
mit fixen Hierarchien und Privilegien zu demokratischen Gesellschaften basie-
rend auf Vielfalt, Wettbewerb und individuellen Freiheitsrechten.
Im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft kam es zusätzlich zu
einer einzigartigen „Großen Beschleunigung“ (vgl. Teil 2 Umwelt im Umbruch).
Veränderungen passierten ungleich rasanter als in der neolithischen Revolu-
tion. Die intensive Nutzung fossiler Energieträger ermöglichte bis dahin unvor-
stellbare Steigerungen der Arbeitsproduktivität und damit des materiellen
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Wohlstands. Kapitalistische Marktgesellschaften (vgl. Box Kapitalismus und
Marktgesellschaft) entfesselten viel weitreichendere technologische Fortschritte
als alle Gesellschaften davor. Doch es gab auch Gegenbewegungen, die sich
gegen die Geschwindigkeit, aber auch die Art der Veränderungen wehrten. Die
Maschinenstürmer des 19. Jahrhunderts, welche neu errichtete Fabriken oder
Maschinen zerstörten, um gegen die Ersetzung von Arbeitskräften durch Ma-
schinen, die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Bezahlung
sowie den Ersatz qualifizierter ArbeiterInnen durch Ungelernte zu demonstrie-
ren, sind ein bekanntes Beispiel.

Box: Kapitalismus und Marktwirtschaft


Kapitalismus ist das heute dominante Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und basiert
auf folgenden Merkmalen:
• Individuelle Eigentumsrechte und dezentrale wirtschaftliche Entscheidungen
• Koordinierung wirtschaftlicher AkteurInnen über Märkte und Preise, durch Angebot und
Nachfrage sowie den Kauf und Verkauf von Waren. Dadurch gibt es einen Prozess der
Kommodifizierung („Zur Ware Werden“, vom Englischen „commodity“ = Ware), bei dem
immer mehr Ressourcen, Aktivitäten und Funktionen zu handelbaren Waren werden.
• Akzeptanz und Dominanz des Gewinnmotivs. Damit gehen die (Re-)Investition von
Ersparnissen und Erträgen in der Gegenwart einher, um in der Zukunft daraus Vorteile
zu ziehen.
• Die Existenz von Arbeitsteilung, Geldwirtschaft und Krediten

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• Die Tendenz zur Herausbildung von Unternehmen als Organisationsform mit Unterneh-
merInnen und Beschäftigten (ArbeiterInnen und Angestellte). Erstere besitzen Kapital
und Produktionsmittel, letztere verkaufen ihre Arbeitskraft für Einkommen. Dies stellt
sowohl eine unpersönliche Marktbeziehung als auch eine von Machtungleichgewichten
geprägte soziale Beziehung dar.
Marktwirtschaften organisieren wirtschaftliches Handeln primär über Märkte. Sie teilen
mit dem Kapitalismus die zentrale Funktion von Märkten, können aber auch außerhalb
des Kapitalismus existieren, wenn die restlichen Merkmale nicht erfüllt bzw. nicht domi-
nant sind. So verkauften LandwirtInnen ihre Produkte bereits über regionale Märkte, bevor
sich eine kapitalistische Produktionsweise herausbildete. Auch zukünftig sind nicht-kapi-
talistische Marktwirtschaften denkbar.

Viele ForscherInnen vermuten, dass wir gegenwärtig am Anfang einer aberma-


ligen Transformation stehen, die auf ähnlich grundlegende Weise das Leben der
Menschen verändern wird: weg von einer nicht-nachhaltigen fossilen hin zu
einer nachhaltigen Wirtschaftsweise. Offen ist, ob und wie diese massiven Ver-
änderungen von Menschen aktiv gestaltet werden können. Drei Szenarien wer-
den unterschieden: spontane Transformation, Transformation by design und
Transformation by disaster. Transformation als spontanen Prozess zu verste-
hen, bedeutet zu glauben, dass sich grundlegende Umbrüche automatisch zum
Vorteil der Menschheit vollziehen werden. Dies passiere aufgrund von Prozes-
sen, die auf „natürliche“ Weise aus der Gesellschaft heraus entstehen, ohne dass
dafür planerisch eingegriffen werden müsste. Dabei gibt es verschiedene Über-
zeugungen, durch welche Mechanismen die Spontanität passiert. Dies kann
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entweder die Selbststeuerungsfähigkeit des Marktes sein, welcher Transforma-
tionsprozesse automatisch am effizientesten koordiniert oder die Zivilgesell-
schaft, welche sich zum notwendigen Zeitpunkt selbst organisiert. Transforma-
tion by design will Veränderung aktiv durch ein Zusammenspiel unterschiedli-
cher Akteure (z. B. Unternehmen und Zivilgesellschaft, Staat, Wissenschaft)
und den Einsatz verschiedener wirtschaftlicher und politischer Instrumente
gestalten und steuern. Dazu zählen marktwirtschaftliche Instrumente ebenso
wie Ge- und Verbote (Ordnungspolitik) oder die Förderung systemischer In-
novationen und neuer Technologien. Transformation by disaster ist jenes Sze-
nario, in dem Probleme so lange wie möglich ignoriert werden. Diese Strategie
eines „Business as Usual“ vertraut darauf, dass mit kleinen Adaptierungen die
bestehende Wirtschaftsweise und Gesellschaftsordnung beibehalten werden
können. Es ist zu vermuten, dass auf diese Weise Handlungsfähigkeit verloren
geht. Die Wahrscheinlichkeit problematischer Entwicklungen mit unvorher-
sehbaren Konsequenzen erhöht sich. Wenn tatsächlich Katastrophen eintreten
sollten, käme es auch zu einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.
Der menschliche Handlungsspielraum, diese zu gestalten, wäre dann jedoch
stark eingeschränkt. Die Geschichte zeigt, dass als Folge von Nicht-Handeln
autoritäre Lösungen wahrscheinlicher werden, die viele Menschen ausgrenzen.

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Wer in diesem Buch Patentrezepte für zukunftsfähiges Wirtschaften erwar-


tet, wird enttäuscht. Ebenso enttäuscht werden diejenigen, die sich eine genaue
Prognose zukünftiger Entwicklungen erhoffen, um daran persönliche und un-
ternehmerische Einzelentscheidungen auszurichten. Das Buch hat nämlich den
emanzipatorischen Anspruch, mündige Menschen zu ermächtigen, selbstbe-
stimmt Entscheidungen zu treffen. Zukunftsfähig sind für uns Menschen, die
ihre Augen nicht verschließen vor Klimakrise und Globalisierung – auch wenn
nicht sofort und unmittelbar klar ist, wie ein besseres Verständnis zu einem
Wandel zum Besseren beiträgt. Dies erfordert die Fähigkeit, scheinbare Ge-
wissheiten in Frage zu stellen und Entwicklungen kritisch zu analysieren. Dafür
wollen wir das notwendige Orientierungswissen bereitstellen: es geht um das
Verstehen von Zusammenhängen, um sich in einer komplexen Welt Überblick
zu verschaffen. Dies hilft in jeweils eigenen Lebens- und Arbeitskontexten,
Handlungsoptionen zu erkennen und umzusetzen. Ein unhinterfragtes „So ist
es (halt)“ wandelt sich zur Frage „Muss es (wirklich) so sein?“. Noch vor 200
Jahren wäre die Forderung, den Sklavenhandel abzuschaffen, als unrealistisch
abgewiesen worden. Noch vor etwas mehr als 100 Jahren verhaftete die briti-
sche Regierung Frauen für deren Forderung nach ihrem Wahlrecht. Und heute
wird die Forderung aktiver Klimapolitik oft als unrealistische, wirtschaftsfeind-
liche Utopie, als Wunschtraum interpretiert. So wie in der Bewegung zur Ab-
schaffung der Sklaverei und der Frauenbewegung braucht es auch heute Pio-
niere des Wandels, die mit Lösungen für die aktuellen Herausforderungen
- orderid - cma57090050 - transid - cma57090050 -
experimentieren. Zum Nachdenken und zum Ausprobieren zu ermutigen, ist
Ziel dieses Buches.

Wohlstand im Wandel

Die aktuellen Veränderungen gehen mit Krisen einher. Das beinhaltet Gefahren
und Chancen. Sie können Wohlstand und Lebensqualität erhöhen oder senken.
Lange Zeit dominierten bei der Messung von Wohlstand (prosperity) und
Wohlbefinden (well being) monetäre Indikatoren, allen voran (1) das Volksein-
kommen, gemessen als BIP (Bruttoinlandsprodukt) und BNE (Bruttonational-
einkommen). Damit werden bestimmte Aspekte von Wohlstand inkludiert,
andere jedoch vernachlässigt. Wohlstandsmessung beruht nämlich auf An-
nahmen über die relative Bedeutung unterschiedlicher Dimensionen von
Wohlstand und Wohlbefinden. Sie sind daher immer normativ (vgl. Box Nor-
mativ und Deskriptiv). Je nachdem, was als wohlstandsverringernd oder
-erhöhend definiert wird, werden unterschiedliche Lösungswege beschritten. So
spiegelt die Messung der Kindersterblichkeit die Sorge um soziale Entwicklung
wider, das BIP misst das Wachstum materiellen Wohlstands. Indikatoren len-

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ken den Blick auf bestimmte Aspekte der Wirklichkeit und setzen damit Prio-
ritäten. Andere, von den jeweiligen Indikatoren nicht berücksichtigte Dimensi-
onen und Lebensbereiche erhalten weniger Aufmerksamkeit. Diese Selektivität
ist in einer komplexen Welt unvermeidbar. Multiperspektivität ermöglicht
jedoch die sinnvolle Reduktion von Komplexität auf wesentliche Aspekte. Da-
her setzen (2) Vielfachindikatoren multiple Dimensionen von Wohlstand und
Wohlbefinden in Verbindung und können auf diese Weise ökologische, wirt-
schaftliche und gesellschaftlichen Aspekte besser berücksichtigen.

Box: Normativ und Deskriptiv


Deskriptive Aussagen sind beschreibende Aussagen, normative Aussagen beinhalten Wert-
urteile.
Beispiele für deskriptive Aussagen:
• „Heute existieren rund 20 Prozent weniger Spezies als zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“
• „CO2-Emissionen sind zentrale Ursache des Treibhauseffekts.“
Diese Aussagen sind deskriptiv, da sie beschreiben, was ist oder wie etwas ist.
Beispiel für eine normative Aussage:
• „Die Menschheit muss ihren Lebensstil und ihre Produktionsweise ändern, um nicht auf
Kosten zukünftiger Generationen zu leben.“
Diese Aussage ist normativ, weil sie ein (Wert-)Urteil darüber abgibt, wie etwas sein sollte.

Das Volkseinkommen und die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung

- orderid - cma57090050
Die Volkswirtschaftliche - transid
Gesamtrechnung (VGR) ist ein- Kontensystem,
cma57090050 das die -
Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft statistisch erfasst und das BIP (Brut-
toinlandsprodukt) und BNE (Bruttonationaleinkommen) errechnet. Das BIP
erfasst den Geldwert der Waren und Dienstleistungen, die innerhalb der Lan-
desgrenzen eines bestimmten Landes hergestellt werden. Es unterscheidet sich
vom BNE, das den Geldwert der von BewohnerInnen eines Landes – Staatsbür-
gerInnen und Nicht-StaatsbürgerInnen – im In- und Ausland hergestellten
Waren und Dienstleistungen erfasst. Das BNE ist aussagekräftiger, um den
Wohlstand der BewohnerInnen zu messen. Es erfasst Einkommen von Pendler-
Innen, die ins Ausland pendeln, sowie im Ausland erwirtschaftete Gewinne
einheimischer Firmen. Das BIP des Burgenlands beispielsweise, eine klassische
Auspendlerregion, ist deutlich niedriger als sein BNE. Das BIP Wiens ist höher
als sein BNE, weil viele PendlerInnen und ausländische Firmen in der Stadt
tätig sind.
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über das im Jahr 2018 erwirt-
schaftete BIP pro Kopf in ausgewählten Ländern.

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Tabelle: BIP pro Kopf

Reihung Land BIP pro Kopf in US Dollar


1 Luxemburg 113.954,4
3 Norwegen 82.372,4
8 USA 62.517,5
12 Schweden 53.867,2
14 Österreich 51.707,6
17 Deutschland 48.669,6
22 Vereinigtes Königreich 42.260,9
33 Spanien 31.059,5
44 Griechenland 20.311,0
57 Ungarn 16.016,0
73 China 9.633,1
187 Demokratische Republik Kongo 478,3

Die VGR hat eine Reihe von Schwächen. So erfasst sie nur wirtschaftliche Akti-
vitäten, welche über den Markt gehandelt oder vom Staat bereitgestellt werden.
Da nur Zahlungsströme erfasst werden, finden andere wohlstandsschaffende
wirtschaftliche Aktivitäten in BIP und BNE keine Berücksichtigung: unentgelt-
liche Hausarbeit, Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen. Umge-
kehrt sind manche wohlstandsmindernde wirtschaftliche Aktivitäten inkludiert
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und führen zu einer Erhöhung des BIP, beispielsweise Spitalskosten durch
Krankenhausaufenthalte, erhöhte Rechtsanwaltskosten durch Scheidungen,
Reparaturkosten bei Autounfällen oder Aufbauarbeiten nach Umweltkatastro-
phen. BNE und BIP sind Flussgrößen, vergleichbar mit der Gewinn- und Ver-
lustrechnung einer Firma. Sie sagen nichts über den Bestand, die Aktiva einer
Volkswirtschaft, aus. Öffentliches Eigentum wie Universitäten, Spitäler, Bahn-
unternehmen, Stadtwerke oder Bundesforste wären derartige Aktiva. Auch eine
intakte Umwelt kann als Teil der Aktiva verstanden werden, die durch das
Schmelzen der Gletscher, die Zerstörung der Artenvielfalt, Versteppung und
schrumpfende Trinkwasserreserven verringert werden. Dieser Rückgang
scheint jedoch in der VGR nicht auf. Daher kann die VGR nur eingeschränkt
Aussagen über den tatsächlichen Wohlstand eines Landes treffen.
Trotz aller Kritik sind BIP und BNE, vereinfacht als Volkseinkommen be-
zeichnet, bis heute die zentrale Maßgröße für Wohlstand. Wir können zum
Beispiel feststellen, dass sich 2018 das BIP Chinas um 6,5 Prozent und Öster-
reichs um 2,8 Prozent erhöht hat und in Venezuela um 18 Prozent gesunken ist.
Die weltweit weitgehend vereinheitlichte Erfassung des Volkseinkommens
ermöglicht es, auf diese Daten in wenigen Minuten zuzugreifen und sie zu ver-
gleichen. Wir haben damit einen wichtigen Anhaltspunkt dafür, dass die Ent-
wicklung der Produktion und des Einkommens in Venezuela negativ ist und in

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China positiv. Doch wie viel wissen wir damit wirklich über Wohlstand, ge-
schweige denn Wohlbefinden?

Der Human Development Index (Index der menschlichen Entwicklung)

Der Human Development Index (HDI) zieht zusätzlich zum Einkommen


Messgrößen für Bildung und Gesundheit heran. Er setzt sich aus drei Indikato-
ren zusammen und verbindet Aspekte von Wohlstand und Wohlbefinden.
Gesundheit wird operationalisiert durch die Lebenserwartung der heute neu
Geborenen. Der Indikator für Bildung ist eine Kombination aus der tatsächli-
chen Anzahl an Ausbildungsjahren von 25-jährigen mit der erwarteten Anzahl
an Ausbildungsjahren für SchulanfängerInnen. Diese Indikatoren treten zum
Einkommen, gemessen als BNE pro Kopf, hinzu. Der HDI ist der Durchschnitt
(das geometrische Mittel) aus den drei Teilindikatoren und nimmt einen Wert
zwischen 0 und 1 an, wobei ab 0,8 von „sehr hoher menschlicher Entwicklung“
gesprochen wird.
Die dem HDI zugrundeliegende Theorie ist der Fähigkeitenansatz von
Amartya Sen. Demnach brauche es für ein gelungenes Leben sowohl die Ent-
wicklung individueller Befähigungen als auch gute Möglichkeiten, diese Fähig-
keiten zu nutzen und an (politischen) Entscheidungsprozessen teilzuhaben.
Nur mit der positiven Freiheit (vgl. Box Negative und positive, wirtschaftliche
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und politische Freiheit), bestimmte Dinge tun zu können, ist ein gelungenes
Leben möglich. Die Annahme ist, dass Menschen, die gesund, gebildet und
ausreichend wohlhabend sind, bessere Chancen haben, sich zu verwirklichen.
Es geht also um Verwirklichungschancen, die in zukunftsfähigen Gesellschaften
möglichst allen BewohnerInnen zur Verfügung stehen. Menschen soll ermög-
licht werden, ein gelungenes Leben zu führen, indem ihre Fähigkeiten gefördert
werden. Zum Beispiel die Fähigkeit, sich ausreichend zu ernähren, leistbar zu
wohnen und an der Universität studieren zu können, kurzum, am gesellschaft-
lichen Leben teilnehmen zu können.

Box: Negative und positive, wirtschaftliche und politische Freiheit


Negative Freiheit bezeichnet die Abwesenheit von Zwang. Jemand ist dann z. B. frei,
Fahrrad zu fahren, wenn Fahrrad fahren nicht verboten ist und er oder sie nicht durch
Zwang davon abgehalten wird.
Positive Freiheit definiert, dass Menschen nur dann die Freiheit haben etwas zu tun, wenn
sie dazu tatsächlich die Möglichkeit haben und ermächtigt sind, es zu tun. Dies beinhaltet
Kenntnisse, Fähigkeiten, Ressourcen, Infrastrukturen, etc. Jemand besitzt also nur dann
die Freiheit, Fahrrad zu fahren, wenn es nicht verboten ist, er oder sie die Fähigkeit besitzt,
Fahrrad zu fahren, Zugang zu einem Fahrrad hat, es Fahrradwege gibt, etc.
Wirtschaftliche Freiheit beruht auf der Abwesenheit von staatlichen Einschränkungen in
der Ausübung wirtschaftlicher Aktivitäten. Beispiele sind Eigentums- und Vertragsrechte
sowie Erwerbsfreiheit.

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Politische Freiheit beruht auf der Möglichkeit zur Mitgestaltung der gesellschaftlichen
Regeln des Gemeinwesens. Beispiele sind Meinungs- und Glaubensfreiheit, das Recht zu
demonstrieren und das Wahlrecht. Politische Freiheit ermächtigt zu politischer Teilhabe.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über den Human Development Index
ausgewählter Länder im Jahr 2017.

Tabelle: HDI

Reihung Land HDI


1 Norwegen 0.953
5 Deutschland 0.936
7 Schweden 0.933
13 USA 0.924
14 Vereinigtes Königreich 0.922
20 Österreich 0.908
21 Luxemburg 0.904
26 Spanien 0.891
31 Griechenland 0.870
45 Ungarn 0.838
49 Russland 0.816
86 China 0.752

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176
cma57090050 -
Demokratische Republik Kongo

Der HDI erfasst wie alle Indikatoren nur einen Teil dessen, was Wohlstand und
Wohlbefinden beinhaltet. Nicht inkludiert sind zum Beispiel Ungleichheiten
innerhalb der Bevölkerung, Sicherheits- und Teilhabebedürfnisse (z. B. Anti-
diskriminierungsgesetze oder freier Zugang zu Bildung und Gesundheit) und
soziokulturelle Armut wie beispielsweise Einsamkeit. Zusätzlich geht dieser
Indikator implizit von der Austauschbarkeit seiner Komponenten aus. So kann
beispielsweise dieselbe HDI-Bewertung mit verschiedenen Kombinationen von
Gesundheit und Einkommen erzielt werden. Eine geringere Lebenserwartung
(Wohlbefinden) könnte so mit zusätzlichem Einkommen (Wohlstand) ausge-
glichen werden. Das ist problematisch. Der HDI war der erste, breit eingesetzte
multidimensionale Indikator. Heute gibt es zahlreiche Indikatoren, die über die
Messung des Volkseinkommens hinausgehen. Einer der wichtigsten ist der
Better Life Index der OECD.

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Die Sustainable Development Goals (Nachhaltige Entwicklungsziele)

Die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) und ihre Messung sind in einer


Resolution festgehalten, welche auf der UNO-Generalversammlung 2015 verab-
schiedet wurde. Unter dem Titel „Transformation unserer Welt: die Agenda
2030 für nachhaltige Entwicklung“ übernimmt die Staatengemeinschaft globale
Verantwortung für gute Entwicklungschancen aller Menschen. Die SDGs sollen
bis 2030 global von allen UNO-Mitgliedstaaten erreicht werden. Sie sind die
wichtigste Strategie der Weltgemeinschaft, mehr als nur die Weltwirtschaft zu
regeln. Sie umfassen 17 Ziele, die mit einer Vielzahl konkreterer Indikatoren
gemessen werden:

SDG 1: Armut in allen ihren Formen und überall beenden


SDG 2: Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernäh-
rung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern
SDG 3: Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und
ihr Wohlergehen fördern
SDG 4: Inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten
und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern
SDG 5: Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen
zur Selbstbestimmung befähigen
SDG 6: Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sa-
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nitärversorgung für alle gewährleisten
SDG 7: Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner
Energie für alle sichern
SDG 8: Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachs-
tum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für
alle fördern
SDG 9: Eine widerstandsfähige Infrastruktur aufbauen, breitenwirksame und
nachhaltige Industrialisierung fördern und Innovationen unterstüt-
zen
SDG 10: Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern
SDG 13: Umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und sei-
ner Auswirkungen ergreifen
SDG 11: Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nach-
haltig gestalten
SDG 12: Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen
SDG 14: Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Ent-
wicklung erhalten und nachhaltig nutzen
SDG 15: Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige
Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung

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bekämpfen, Bodendegradation beenden und umkehren und dem


Verlust der biologischen Vielfalt ein Ende setzen
SDG 16: Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwick-
lung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und
leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen
auf allen Ebenen aufbauen
SDG 17: Umsetzungsmittel stärken und die Globale Partnerschaft für nachhal-
tige Entwicklung mit neuem Leben erfüllen

Die SDGs halten auf globaler Ebene einen Wertekonsens der Staatengemein-
schaft fest: Ziel ist ein gutes Leben für alle Menschen. Die Agenda der Nachhal-
tigen Entwicklungsziele ist mit 169 Unterzielen komplex. Doch sie konkreti-
siert, was es bedeutet zu gewährleisten, dass alle Menschen an Rechten und
Würde gleich sind. In diesem Sinne ergänzen, aktualisieren und konkretisieren
sie die seit 1948 festgeschriebene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
Doch sind die SDGs keine rechtlich bindende Resolution. Ihre Nichtbefolgung
hat keine globalen Sanktionen zur Folge. Ihr Erfolg hängt wesentlich von der
nationalen und lokalen Umsetzung ab (vgl. Teil 3 Zukunftsfähige Weltordnung).
Sie benennen jedoch konkrete Ziele und machen Zielkonflikte sichtbar.
Diese treten dann auf, wenn nicht alle Ziele gleichzeitig und im gleichen Aus-
maß erfüllt werden, weil die Erfüllung des einen Ziels der Erfüllung eines ande-
ren im Wege steht. Können zum Beispiel Ozeane, Meere und Meeresressourcen
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geschützt (SDG 14) und Klimawandel bekämpft (SDG 13) werden, wenn Wirt-
schaftswachstum weiterhin als zentrales Ziel (SDG 8) verfolgt wird (vgl. Teil 2
Wirtschaftlicher Wachstumszwang und ökologisches Gleichgewicht)? Können
verantwortungsvolle Produktionsmuster (SDG 12), die unter heutigen Rah-
menbedingungen zu höheren Kosten, sinkenden Gewinnen und in der Folge
geringeren Steuereinnahmen führen, die Finanzierung hochwertiger Bildung
(SDG 4) ermöglichen? Die Entscheidung, welches Ziel eine höhere Priorität
und welches eine niedrigere hat, ist immer eine gesellschaftliche Aushandlungs-
frage.

Wohlbefinden als Selbstbestimmung, Kompetenz und Dazugehören

Das westliche Denken darüber, was ein gutes, ein gelungenes Leben sei, geht auf
die Philosophen der griechischen Antike, allen voran Aristoteles, zurück. Für
ihn war das Streben nach einem guten Leben und guter Lebensführung eine
zentrale Zielsetzung persönlicher Entwicklung sowie der Gestaltung des Ge-
meinwesens (vgl. Teil 2 Eine kurze Geschichte sozialen Fortschritts). Diese anti-
ken Ideale bestimmten lange Zeit das westliche Denken. Erst in kapitalistischen
Marktgesellschaften wird das gute Leben verengt auf die Verfügung über mate-

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rielle Güter. Die Kritik daran führte zur Suche nach einem neuen Verständnis
von Wohlstand, gemessen an Indikatoren wie dem HDI oder dem Better Life-
Index. Noch stärker angelehnt an die antike Idee eines guten Lebens sind neue
Überlegungen zu Wohlbefinden.
Erkenntnisse der Psychologie liefern wichtige Ansatzpunkte, welche As-
pekte über Materielles hinaus für Wohlbefinden sorgen. Umfangreiche empiri-
sche Forschungen (vgl. Box Empirische Fakten und Theorien) der Selbstbe-
stimmungstheorie haben drei grundlegende psychologische Bedürfnisse identi-
fiziert, deren Befriedigung Wohlbefinden schafft: Kompetenz, Autonomie
(Selbstbestimmung) und Bezogenheit (Dazugehören). Kompetenz bezeichnet
Gestaltungsfähigkeit. Sie beruht auf der Überzeugung, das, was einem wichtig
ist, effektiv gestalten zu können. Auf diese Weise können Menschen auf die
eigene Umgebung, den Arbeitsplatz oder die Gesellschaft Einfluss nehmen.
Autonomie beschreibt die Fähigkeit, das zu tun, was man selbst will. Entschei-
dungen, die einen selbst betreffen, sollen selbst getroffen werden. Es gehe da-
rum, sich selbst Ziele zu stecken. Bezogenheit benennt schließlich das Bedürfnis,
dazu zu gehören und sich sicher zu fühlen. Es geht um Orte und Situationen,
wo man sich zuhause fühlt und zurecht findet. Als soziale Wesen brauchen
Menschen Gruppen und Gemeinschaften, in denen sie wertgeschätzt werden
und zu denen sie gleichzeitig etwas beitragen, etwas leisten können. Auf welche
Art und Weise diese grundlegenden psychologischen Bedürfnisse jeweils
befriedigt werden können, hängt stark vom soziokulturellen Kontext ab. Allein
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die Befriedigung materieller Bedürfnisse ist nicht ausreichend.
Die Selbstbestimmungstheorie, welche die Kritik an materialistischen Defi-
nitionen von Wohlstand mit Hilfe psychologischer Forschung begründet, iden-
tifiziert die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse als Voraussetzung für Wohl-
befinden und Gesundheit. Die drei Grundbedürfnisse Autonomie, Kompetenz
und Bezogenheit können nicht gegeneinander ausgetauscht werden, weil sie
unvergleichbar (inkommensurabel) sind. Wichtig für ein gelungenes Leben ist
zu lernen, sich selbst Ziele zu geben (Autonomie), diese auch zu erreichen
(Kompetenz) und dabei Teil einer Gemeinschaft zu sein (Bezogenheit). Diese
Ziele sind selbstgesteckt, intrinsisch und daher individuell unterschiedlich. Sie
kommen „von innen“ und schaffen Selbstwertgefühl. Wer selbstgesteckte Ziele
hat, erreicht diese leichter als Menschen, deren Ziele „von außen“, zum Beispiel
von den Eltern oder der Gesellschaft, vorgegeben sind. „Ich will aufhören zu
rauchen!“ ist viel erfolgversprechender, als „Ich möchte mir das Rauchen abge-
wöhnen, weil meine Mutter das will!“ Empirische Forschungen zeigen, dass es
in verschiedensten Bereichen zu besseren Ergebnissen führt, intrinsische Ziele
zu verfolgen. Gleichzeitig begünstigt die derzeitige Lebens- und Wirtschafts-
weise extrinsische Motivation, da sie Wohlbefinden stark an die Höhe des Ge-
halts, materiellen Reichtum und Karriere koppelt. Je mehr Menschen von ex-
trinsischer Motivation getrieben sind, desto geringer ihr Wohlbefinden, unter

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anderem gemessen an erhöhten Fällen von Depression und Drogenabhängig-


keit. Der übermäßige Fokus auf (materiellen) Wohlstand kann von Aktivitäten
ablenken, die Wohlbefinden fördern wie seinen Hobbys nachgehen oder Zeit in
der Natur oder mit Familie und FreundInnen verbringen.
Demgegenüber sind Menschen, die sich intrinsisch motivieren, autonomer
und kompetenter. Für viele Menschen, die am oder unter dem Existenzmini-
mum leben, ist der Zuwachs von materiellem Wohlstand selbstverständlich ein
wichtiges Ziel. Für eine wachsende Bevölkerungsgruppe aber kann das Gefühl,
eine sinnvolle Tätigkeit auszuüben, wichtiger sein als die Höhe des Gehalts. Das
sogenannte Easterlin Paradox zeigt, dass ab einer bestimmten Schwelle des
materiellen Wohlstands der Grenznutzen von Wirtschaftswachstum sinkt: die
Menschen haben genug Einkommen, so dass zusätzliches Einkommen nicht
oder kaum mehr zu ihrer Lebenszufriedenheit beitragen kann. Lebenszufrie-
denheit und Einkommen sind dann weitgehend entkoppelt. Der Fokus auf
monetäre Indikatoren verliert an Relevanz, die Sorge um sich selbst, die Mitwelt
sowie soziale Verantwortung gewinnt an Bedeutung. Bei Wohlbefinden geht es
um mehr und anderes als bloß wirtschaftlichen Erfolg im Sinne von „je mehr,
desto besser“. Arbeiten und Wirtschaften sind zentrale menschliche Tätigkei-
ten, aber nicht nur, weil sie Einkommen bringen, sondern weil sie Beziehungen
ermöglichen und ein Gefühl von Sinn geben. Wirtschaftlicher Erfolg wird in
diesem weiteren Verständnis dann zu einem Teil eines gelungenen Lebens. Ein
zukunftsfähiges Wirtschaftssystem sollte möglichst alle Menschen dabei unter-
- orderid - cma57090050 - transid - cma57090050 -
stützen, den Tätigkeiten nachzugehen, die Kompetenz, Selbstbestimmung und
Bezogenheit ermöglichen und somit Wohlbefinden schaffen.

Box: Empirische Fakten und Theorien


Empirische Fakten sind gesammelte Daten und Informationen, die auf Beobachtung und
Erfahrung beruhen. Die Wissenschaft produziert Fakten durch verschiedene Methoden der
Datenerhebung wie zum Beispiel Fragebögen, Interviews, Messungen und Beobachtun-
gen. Beispiele sind die bereits erwähnten Umfragen hinsichtlich der Zukunftsgewissheiten
in unterschiedlichen Ländern, aber auch Messungen bezüglich der Reduktion der Arten-
vielfalt (vgl. Teil 2 Umwelt im Umbruch).
Empirische Daten alleine erklären jedoch nicht warum etwas ist, wie es ist. Dafür braucht
es Theorien. Sie interpretieren diese Daten. Eine Theorie ist ein kohärentes System von
Ideen, welches die vorhandenen Daten aus einer bestimmten Perspektive erklärt. Wissen-
schaftliche Theorien müssen durch empirische Daten gestützt werden. Gleichzeitig erlau-
ben dieselben empirischen Daten unterschiedliche Erklärungen: Zum Beispiel kann die
Entstehung von Arbeitslosigkeit (empirische Daten) durch eine zu hohe Kostenbelastung
der Unternehmen aufgrund zu hoher Löhne oder durch zu geringe Konsumnachfrage
aufgrund zu niedriger Löhne erklärt werden (vgl. Neoklassik versus Keynesianismus).
Empirische Fakten gelten als wahr, wenn ihre Richtigkeit intersubjektiv (das heißt von
verschiedenen Personen) nachvollziehbar ist. Gute empirische Analysen basieren auf einer
wissenschaftlichen Methodik, die Aussagen über die Realität beispielsweise durch Beob-
achtung, Befragung oder Messung trifft.

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Zukunftsfähigkeit

Im vorangegangenen Kapitel wurden verschiedene Wohlstandskonzepte vorge-


stellt, die jeweils von bestimmten Vorstellungen über eine gute Zukunft ausge-
hen. Die Unterzeichnung der SDGs verpflichtet die Weltgemeinschaft, sich für
eine Zukunft einzusetzen, in der alle Menschen in Würde leben können. Diese
Zielsetzung deckt sich mit dem Bestreben, Wohlbefinden ins Zentrum wirt-
schaftspolitischer Maßnahmen zu setzen. Demnach ginge es bei zukunftsfähi-
gem Wirtschaften darum, Wohlbefinden für alle Menschen zu ermöglichen –
und dies, in Anlehnung an die SDGs, auf nachhaltige Art und Weise. Es gibt
somit einen überraschend breiten, wenn auch sehr allgemeinen Wertekonsens,
ein gutes Leben für alle unter Berücksichtigung planetarischer Grenzen anzu-
streben.
Wenden wir uns von allgemeinen Erklärungen und abstrakten Konzepten
dem alltäglichen Leben und Wirtschaften zu, zeigen sich im Konkreten rasch
sehr unterschiedliche Vorstellungen von einer guten Zukunft. Die drohende
Schließung von Braunkohlegruben in Deutschland freut UmweltschützerInnen,
führt jedoch zu Widerstand oder Verzweiflung bei MinenarbeiterInnen. Selbst
im eigenen Freundeskreis wird eine kurze Umfrage zeigen, dass die Vorstellun-
gen darüber, was unter einer guten Zukunft sowie einer zukunftsfähigen Wirt-
schaft verstanden wird, stark variieren. Menschen haben unterschiedliche Er-
fahrungen, Werthaltungen und Interessen, woraus sie unterschiedliche Strate-
- orderid - cma57090050 - transid - cma57090050 -
gien ableiten, um sich in der Welt zurechtzufinden, ihr einen Sinn zu geben.
Für die einen setzt zukunftsfähiges Wirtschaften beispielsweise voraus, dass die
Volkswirtschaft wettbewerbsfähig bleibt, für die anderen geht es darum, die
Natur nicht zu zerstören. Für manche ist Heimat wichtig, andere sehen sich als
WeltbürgerInnen.
Im Folgenden wenden wir uns zuerst dem Begriff der (1) Nachhaltigkeit zu.
So legt Klimaforschung zum Beispiel den Ausstieg aus Kohle als Energieträger
nahe, da nur so ein lebenswertes Klima erhalten werden kann. Dies sei nach-
haltig. Wie wir sehen werden, gibt es allerdings unterschiedliche Sichtweisen,
was unter Nachhaltigkeit zu verstehen sei. Weiters muss Nachhaltigkeit um
(2) Gerechtigkeit ergänzt werden. Die Sorgen der VerliererInnen wirtschaftli-
cher Entwicklung, zum Beispiel der MinenarbeiterInnen bei einer Abkehr von
fossilen Energieträgern, ernst zu nehmen, ist ebenso Teil zukunftsfähigen Wirt-
schaftens. Doch auch hier unterscheiden sich die Sichtweisen, was gerecht ist.
Daher braucht es schließlich (3) Verantwortungsbewusstsein als die Fähigkeit,
konkrete Probleme sowie unterschiedliche Positionierungen zu verstehen, zu
bewerten und zu Lösungen beizutragen. Zukunftsfähige Lösungen entstehen
beispielsweise aus der Kenntnis der Region, der Kohlewirtschaft und ihren öko-
logischen Konsequenzen sowie dem Wohlbefinden der heute und in Zukunft

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Betroffenen. Das erfordert immer, Zielkonflikte zu identifizieren, zu bewerten


und dann Entscheidungen zu treffen. In diesem Sinne definieren wir Zukunfts-
fähigkeit als Problemlösungskompetenz, die Fähigkeit Probleme zu lösen.

Nachhaltigkeit

Zukunftsfähigkeit wird im öffentlichen Diskurs oft synonym mit Nachhaltigkeit


verstanden: Wirtschaften ist dann zukunftsfähig, wenn es gewährleistet, dass
Menschen heute und in Zukunft gut leben können. Der Begriff der Nachhaltig-
keit kommt ursprünglich aus der Forstwirtschaft und bedeutet dort, nur so viele
Bäume zu fällen, wie durch neue Pflanzungen wieder nachwachsen, sodass der
Ertrag laufend gegeben ist und der Baumbestand nicht schrumpft. Nachhaltig-
keit ist auf langfristige Entwicklungen ausgerichtet. So wäre die Abholzung
eines gesamten Waldes, um für wenige Jahre in Saus und Braus zu leben, nicht
nachhaltig. Das Konzept der „Nachhaltigen Entwicklung“ steht seit dem
Brundtland-Bericht aus dem Jahr 1987, „Our Common Future – unsere ge-
meinsame Zukunft“, im Zentrum der politischen Agenda der Vereinten Natio-
nen (UNO). Dieser Bericht definierte nachhaltige Entwicklung folgenderma-
ßen: „Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Ge-
genwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen ihre eige-
nen Bedürfnisse nicht befriedigen können“.
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Schon der Brundtland-Bericht wies darauf hin, dass Entwicklungs- und
Umweltfragen nicht voneinander getrennt betrachtet werden können. Umwelt-
schutzstrategien müssen sich auch mit sozialen und wirtschaftlichen Aspekten
wie ökonomischer Verteilung, Gleichstellung der Geschlechter und Armutsbe-
kämpfung befassen. Der Deutsche Rat für nachhaltige Entwicklung formuliert
es so: „Nachhaltige Entwicklung heißt, Umweltgesichtspunkte gleichberechtigt
mit sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu berücksichtigen. Zu-
kunftsfähig wirtschaften bedeutet also: Wir müssen unseren Kindern und En-
kelkindern ein intaktes ökologisches, soziales und ökonomisches Gefüge hin-
terlassen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben“. Alle drei Dimensionen
– Ökologie, Soziales und Ökonomie – hängen zusammen. Ökologische Nach-
haltigkeit sichert die dauerhaften biophysischen Lebensgrundlagen sowie ein
lebensfreundliches Klima, ökonomische Nachhaltigkeit sichert auch zukünftigen
Generationen einen hohen Lebensstandard, indem die langfristige Produkti-
onsstruktur und notwendige Infrastrukturen aufrechterhalten werden, und
soziale Nachhaltigkeit sichert langfristig den sozialen Zusammenhalt. Bei der
Verfolgung der Zielerreichung treten zwangsläufig Zielkonflikte auf, wie sich
anhand der SDGs zeigte. So kann zum Beispiel eine hohe Steuer auf Heizöl zur
Erreichung der Klimaziele beitragen, indem Heizen mit dieser CO2-intensiven
Energiequelle verteuert wird. Gleichzeitig verschärft sie ohne Begleitmaßnah-

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men Armut, da gerade jene mit besonders niedrigen Einkommen öfters Ölhei-
zungen verwenden. Dieses Beispiel stellt also einen Zielkonflikt zwischen Um-
welt und Sozialem dar. Alle drei Dimensionen frühzeitig zu berücksichtigen,
kann Zielkonflikte entschärfen. Es gibt allerdings unterschiedliche Auffassun-
gen über die konkreten Wechselwirkungen zwischen den drei Dimensionen.
Die Konzepte der schwachen und starken Nachhaltigkeit liefern zwei unter-
schiedliche Antworten über das Verhältnis von Wirtschaft, Gesellschaft und
Umwelt.
Schwache Nachhaltigkeit findet ihre Anwendung in der Umweltökonomik
(Environmental Economics) und basiert auf dem Prinzip der Austauschbarkeit:
Naturkapital (natürliche Ressourcen) kann durch Sachkapital (Maschinen,
materielle Infrastruktur, etc.) und Humankapital (Wissen, Know-How, etc.)
ersetzt werden. Die drei Bereiche Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft existie-
ren voneinander getrennt und interagieren durch Ressourcenaustausch (vgl.
Grafik Schwache Nachhaltigkeit). Sachkapital ist in der wirtschaftlichen Sphäre
enthalten, Humankapital in der sozialen Sphäre und Naturkapital in der ökolo-
gischen Sphäre. In diesem Sinne bedeutet Nachhaltigkeit den Gesamtwert des
Kapitalbestands (die Summe der drei Arten von Kapital) konstant zu halten
und wenn möglich zu erhöhen. Natur-, Sach- und Humankapital sind mittels
einer Maßgröße, nämlich Geld, vergleichbar und gegenseitig substituierbar, das
heißt gegeneinander austauschbar. Um diesen Austausch zu vollziehen, braucht
es Methoden des Vergleichens (vgl. Kosten-Nutzen-Analyse in Teil 3 Analyse
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umweltpolitischer Effekte).
Es können aber auch Märkte geschaffen werden, auf denen die drei Kapi-
talformen gehandelt werden. Dies führt zu einer Kommodifizierung, einem Zu-
Ware-Machen ehemals freier Güter wie Luft und Wasser und damit auch so-
zialer und ökologischer Lebensgrundlagen. Es ist demnach kein Problem, wenn
heute das Naturkapital schrumpft, weil Regionen versteppen und Wälder abge-
holzt werden, solange gleichzeitig das Sachkapital, zum Beispiel durch den Bau
von Straßen, erhöht wird. Umweltschäden können, unter dem Gesichtspunkt
der Austauschbarkeit, auch durch monetäre Kompensationszahlungen ausge-
glichen werden. Wer fliegt, kann beispielsweise eine Ausgleichszahlung leisten,
welche in Projekte zur Regenwaldaufforstung fließt. Die Emissionen, die durch
den Flug entstanden sind, würden durch zusätzliche Bäume, welche Emissionen
binden, wieder „wettgemacht“.
Das Schlüsselkonzept der schwachen Nachhaltigkeit ist die Optimierung –
das Konzept der Neoklassik zur bestmöglichen Zuteilung (Allokation) knapper
Ressourcen (vgl. Neoklassik vesus Keynesianismus). Um Ressourcen optimal
zuzuteilen, müssen externe Effekte, sogenannte Externalitäten, berücksichtigt
und kalkuliert werden. Diese Externalitäten sind Folgen wirtschaftlichen Han-
delns für Unbeteiligte, welche nicht kompensiert werden. Es gibt negative und
positive Externalitäten. Sie werden von AkteurInnen verursacht, ohne dass

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diese die entstehenden Kosten tragen (negative Externalität) oder den entste-
henden Nutzen genießen (positive Externalität). Negative Externalitäten resul-
tieren unter anderem aus umweltverschmutzenden Aktivitäten: zum Beispiel
wenn verschmutzte Luft aus Schornsteinen ausgestoßen wird, ohne dass das
Unternehmen Filter einbauen oder den negativ Betroffenen Schadenersatz
leisten. Ein positiver externer Effekt entsteht beispielsweise für EigentümerIn-
nen, die infolge eines neuen U-Bahn Anschlusses Wertsteigerungen ihrer
Grundstücke erfahren, ohne für den U-Bahnanschluss gezahlt zu haben. Wer-
den Externalitäten nicht in den Preis einberechnet, entspricht das Marktopti-
mum nicht dem sozialen Optimum. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht kommt
es so zu falschen Preis- und daher Knappheitssignalen. Dies wird als Marktver-
sagen bezeichnet. Die Internalisierung externer Effekte, wie etwa die monetäre
Kompensation von Umweltschäden, ist daher das zentrale wirtschaftspolitische
Instrument im Konzept der schwachen Nachhaltigkeit: Mittels „richtiger
Preise“ werden bislang externalisierte Umweltbelastungen internalisiert, also in
Preise miteingerechnet. Beispiele sind Abgaben oder Steuern auf verschmutztes
Wasser oder Luft sowie der Handel mit Emissionszertifikaten. Schwache Nach-
haltigkeit folgt dem Verursacherprinzip: Wer ökologische und soziale Kosten
verursacht, soll diese auch tragen.
Starke Nachhaltigkeit steht im Zentrum der Debatten in der ökologischen
Ökonomik (Ecological Economics), in denen über die Reduktion von Umwelt-
problemen auf eine optimale Ressourcenallokation hinausgegangen wird.
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Starke Nachhaltigkeit basiert auf dem Prinzip der Einbettung, nicht der Aus-
tauschbarkeit: Wirtschaft ist ein Subsystem, eingebettet in die Gesellschaft und
die biophysische Sphäre (vgl. Grafik Starke Nachhaltigkeit). Starke Nachhaltig-
keit geht davon aus, dass wirtschaftliches und soziales Leben auf unersetzbaren,
miteinander verwobenen Ökosystemen beruht, die erhalten bleiben müssen.
Wirtschaftliche Aktivitäten sind mit ökologischen Grenzen konfrontiert. Die
Ersetzbarkeit von Natur durch andere Arten von Kapital ist beschränkt. An-
stelle des Optimierungsgedankens tritt bei der starken Nachhaltigkeit ein holis-
tischer und systemischer Blick auf sozialökologische Systeme und ein vernünf-
tiges Abwägen (Deliberation) zwischen Alternativen. Unter diesem Gesichts-
punkt sind die drei Bereiche Umwelt, Soziales und Wirtschaft in vielerlei Hin-
sicht unvergleichbar (inkommensurabel) und daher nicht gegenseitig aus-
tauschbar. Es gibt keine Messgröße, mittels der sie verglichen werden könnten.
So können Kompensationszahlungen für Flüge nie die Flugemissionen ausglei-
chen, da die beiden Systeme Ökologie und Wirtschaft nicht gegeneinander
aufgerechnet werden können. Sobald Emissionen ausgestoßen sind, entfalten
sie biophysische Effekte wie den Treibhauseffekt, die aufgrund ihrer Komple-
xität nie eins zu eins rückgängig gemacht werden können. Zusätzlich dazu
müssten die gepflanzten Bäume die gleiche Lebensdauer haben wie CO2-Emis-
sionen in der Atmosphäre, also mehrere tausend Jahre. Nur so wäre die Bin-

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dung der Emissionen langfristig gegeben und eine exakte Kompensation von
Flügen durch Regenwaldaufforstung möglich.
Im Verständnis starker Nachhaltigkeit ist Natur daher kein Ressourcenbe-
stand (Kapital), sondern ein komplexes Öko-System, welches die menschliche
Gesellschaft mit lebensnotwendigen Funktionen und Diensten versorgt. Natur
hat einen Eigenwert, denn es gibt qualitative Unterschiede zwischen hergestell-
tem Kapital und Natur: Ersteres ist reproduzierbar (es kann wiederhergestellt
werden), die Zerstörung der Natur oft irreversibel (sie ist selten rückgängig zu
machen). Es können neue T-Shirts produziert und neue Brücken gebaut wer-
den. Wenn hingegen eine Spezies ausgestorben ist, kann sie nicht wiederherge-
stellt werden. „Aus den Fischen eines Aquariums kann eine Fischsuppe ge-
macht werden, aus einer Fischsuppe aber keine Fische für ein Aquarium“.
Starke Nachhaltigkeit beruft sich auf das Vorsorgeprinzip: Mögliche Schä-
den bzw. Belastungen für die Umwelt, die für Menschen gefährlich werden
könnten, sind zu vermeiden oder zu verringern, auch wenn ihr Eintreten nicht
zu 100 Prozent sicher ist. Demnach ist es unverantwortlich, vollständiges Wis-
sen als Voraussetzung für Handeln zu verlangen bzw. unvollständiges Wissen
als Rechtfertigung für Nicht-Handeln vorzuschieben, wenn die Gefahr irrever-
sibler, gefährlicher Schäden besteht. Ein paar Beispiele: (1) Der Abschluss von
Alters- und Krankheitsvorsorge folgt dieser Logik, indem durch Versicherung
für mögliche zukünftige Notlagen vorgesorgt wird. Ihr Eintreten ist denkbar,
aber nicht erwiesen. (2) Das europäische Primärrecht (AEUV) und dement-
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sprechend die Europäische Kommission betonen den Stellenwert des Vorsor-
geprinzips als wesentliches Element der EU-Politik bei der Risikovorsorge im
Bereich des Umweltschutzes. (3) Auf der Konferenz der Vereinten Nationen
über Umwelt und Entwicklung im Jahr 1992 in Rio de Janeiro und in völker-
rechtlichen Verträgen wie der UN-Klimarahmenkonvention wurde das Vor-
sorgeprinzip zum Schutz der Umwelt auf internationaler Ebene festgehalten.
Dem Vorsorgeprinzip folgend müsste zukunftsfähiges wirtschaftliches Handeln
an den Erkenntnissen der Klimaforschung ausgerichtet sein.

Grafik: Schwache Nachhaltigkeit

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Grafik: Starke Nachhaltigkeit

Gerechtigkeit

Gerechtigkeit liefert Kriterien zur Bewertung von menschlichem Verhalten,


wirtschaftlichen Entscheidungen und Gesellschaftsordnungen. Gleiches soll
gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden. Doch was bedeutet gleicher
Lohn für gleiche Arbeit? Bekommt jemand nur aufgrund des Geschlechts einen
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geringeren Lohn, gilt dies als ungerecht. Ergibt sich der unterschiedliche Lohn
daraus, dass eine Person fleißiger und gewissenhafter arbeitet, wird dies zumeist
als gerecht, als fair, angesehen. Unterschiedliche konkrete Situationen und
verschiedene Gerechtigkeitskonzepte beeinflussen Bewertungen. Im Folgenden
werden kurz wichtige Gerechtigkeitskonzepte vorgestellt.
Bedürfnisgerechtigkeit strebt eine Verteilung der Ressourcen an, die vorran-
gig Grundbedürfnisse befriedigt. Sie geht von den gleichen Rechten und der
Würde aller Menschen aus und garantiert eine – minimale oder auch angemes-
sene – Deckung dieser Grundbedürfnisse. Beispiele dafür sind die Forderung
nach einem bedingungslosen Grundeinkommen und die in Österreich bis 2019
geltende „bedarfsorientierte Mindestsicherung“, die die Teilhabe am gesell-
schaftlichen Leben sicherstellen sollte. Auch Menschen, die keine oder keine
vom Markt nachgefragte Leistung erbringen können, sollen demnach vor Ar-
mut und Verelendung geschützt werden. Doch die Definition dessen, was noch
ein Grundbedürfnis ist und was schon Luxus, ist nicht eindeutig. Geht es nach
der Selbstbestimmungstheorie wäre die Befriedigung der pyschologischen
Grundbedürfnisse Autonomie, Kompetenz und Bezogenheit eine anspruchs-
volle Aufgabe, die weit über das hinausgeht, was normalerweise unter Grund-
bedürfnissen verstanden wird: Eine kostenlose Schulbildung und auch freier

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Zugang zur Universität? Gesundheitsversorgung sowie regelmäßige Kuraufent-


halte? Und ist die aktive Teilhabe an der Gesellschaft, an der Arbeitswelt und
am öffentlichen Leben auch ein Grundbedürfnis? All diese Fragen werden aus
verschiedenen Perspektiven unterschiedlich beantwortet.
Dem Konzept der Leistungsgerechtigkeit folgend soll sich die Entlohnung
nach dem Beitrag richten, den Einzelne leisten. Das österreichische Pensions-
system ist hierfür ein Beispiel: Wer mehr einzahlt, bekommt am Ende mehr
ausbezahlt. Ungleichheit in der Entlohnung ist gerecht, da ungleiche Leistung
ungleich belohnt werden soll. Da Menschen unterschiedliches leisten, sei auch
nur unterschiedliche Entlohnung fair. Wenn alle Kinder im Wald Himbeeren
sammeln und jedes Kind die eigenen Beeren essen kann, entspricht dies dem
Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Würden die Beeren gesammelt, damit es für
alle Beeren mit Joghurt zum Nachtisch gibt, entspräche es hingegen dem Prin-
zip der Bedürfnisgerechtigkeit. Die Schwierigkeit besteht im Einzelfall festzule-
gen, was eine gute Leistung ist und wie diese objektiv gemessen werden soll.
Beim Eislaufen und Schispringen nähert man sich der Objektivität durch eine
Jury, durch PreisrichterInnen. In der Wissenschaft wird Leistung durch Indi-
katoren wie Zitierungen und Evaluierungen bewertet.
Marktgerechtigkeit ist eine Sonderform der Leistungsgerechtigkeit, die die
„Objektivierung“ dem Markt überlässt. Die Entlohnung eines Kochs richtet sich
dann nicht nach seinem Ausbildungsstand und seinen Vordienstzeiten, son-
dern danach, wie viele Menschen im Restaurant konsumieren und bereit sind,
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für die erbrachte Leistung (ein gutes Essen) zu zahlen. Der Marktgerechtigkeit
folgend ist es daher gerecht, dass Arbeitsplätze im Investmentbanking hoch
entlohnt werden und Pflegedienste niedrig, da das Gesetz von Angebot und
Nachfrage ersteren höhere Einkommen sichert. Gerecht ist, was am Markt als
Preis geboten wird, nicht die Anstrengung, die hinter einer Leistung steht. Was
am Markt gewählt wird, spiegele die Präferenzen der MarktteilnehmerInnen
wider. Doch sind diese Präferenzen nicht einfach intrinsisch gegeben, sondern
durch Faktoren wie Sozialisierung und Marketing „von außen“ beeinflusst. So
erhöhte Apple seine Marketingausgaben allein 2016 um 50 Prozent auf einen
Rekordwert von 1,8 Milliarden US Dollar. Neun der zehn größten Pharmaun-
ternehmen geben mehr für Marketing aus als für Forschung. Ausgeblendet
bleibt beim Konzept der Marktgerechtigkeit auch die ungleiche Ausgangslage
der MarktteilnehmerInnen. Nicht alle haben die gleichen Chancen, mit ihrer
Leistung am Markt erfolgreich zu sein. Zusätzlich werden viele wichtige Leis-
tungen, wie die Pflege von Angehörigen oder Kindern, nicht über den Markt
erbracht. Heißt dies, dass pflegende Angehörige keine Leistung erbringen? Und
leistet ein Investmentbanker tatsächlich ein Vielfaches einer Pflegekraft? Markt-
gerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit fallen oft auseinander.
Chancengerechtigkeit ist bestrebt, Ungleichheiten in den Ausgangsmöglich-
keiten auszugleichen. Menschen sollen die gleichen Startchancen haben. So

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zeigt die empirische Forschung, dass ein Kind einer wohlhabenden Familie in
der Schule oft besser benotet wird als ein Kind einer armen Familie. Letzteres
erhält vermutlich weniger Unterstützung von seinen Eltern, da diese selbst
keine gute Ausbildung bekamen und sich keine Nachhilfe leisten können. Bei
ersterem können die Eltern selbst durch ihren höheren Bildungsgrad bei Schul-
aufgaben helfen oder Nachhilfe bezahlen. Um zu verhindern, dass Ungleiches
gleich behandelt wird, kann durch rechtliche und sozioökonomische Maßnah-
men Chancengleichheit hergestellt werden. Im oben genannten Beispiel sind
die Bereitstellung von Gratisnachhilfe für Kinder aus ärmeren Haushalten oder
gute, leistbare öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen ein Weg, um alle
Kinder gleichermaßen bei ihren schulischen Leistungen zu unterstützen.
Struktureller Ungleichheit im Zugang zu Bildung oder am Arbeitsmarkt kann
durch positive Diskriminierung entgegengewirkt werden. Diese gibt gesell-
schaftlichen Gruppen einen Vorteil, die beispielsweise aufgrund ihrer Herkunft
oder Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihres sozialen Milieus historisch und
fortgesetzt benachteiligt werden. Beispiele sind Einstellungsquoten in Unter-
nehmen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, ein geförderter Zugang zu
Studienplätzen für einkommensschwache Gruppen, Frauenquoten für Füh-
rungspositionen oder geringere Beschränkungen des CO2-Ausstoßes für jene
Weltregionen, die historisch weniger CO2 emittiert haben.
Teilhabegerechtigkeit ist ein erweitertes Konzept der Chancengerechtigkeit.
Jede Einzelne und jeder Einzelne soll die Chance erhalten, am gesellschaftlichen
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und wirtschaftlichen Leben teilzuhaben. Menschen können an ihrem Gemein-
wesen, ihrer Nachbarschaft, Stadt und Gesellschaft teilhaben, wenn sie Zugang
zu Gütern, Dienstleistungen und Infrastrukturen haben und in gesellschaftliche
Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Kurz: Teilhabe umfasst Zugang
und Mitbestimmung. Infrastrukturen, die Menschen befähigen, an einem guten
Leben teilzuhaben, umfassen das Gesundheits- und Pflegesystem, öffentliche
Verkehrsmittel sowie Umwelt- und Kulturgüter. Teilhabegerechtigkeit grenzt
sich von Bedürfnisgerechtigkeit ab, sofern sich diese auf die materielle Vertei-
lung von Ressourcen reduziert. Sie umfasst mehr als bloß formale Chancenge-
rechtigkeit und die Abwesenheit von rechtlicher Diskriminierung. Zusätzlich
beinhaltet sie Leistungsgerechtigkeit, indem sie ein Wirtschaftssystem anstrebt,
in dem sich Menschen entfalten können und in dem es sich lohnt, etwas beizu-
tragen.
In den letzten Jahren hat sich durch das steigende ökologische Bewusstsein
das Verständnis von Gerechtigkeit und damit auch Teilhabegerechtigkeit er-
weitert. Es umfasst als Umweltgerechtigkeit auch die Verantwortung gegenüber
Menschen, die vom Konsum- und Produktionsmodell der wohlhabenden Teile
der Welt negativ betroffen sind. Das sind vor allem ärmere Bevölkerungs-
schichten in reichen Ländern und die Bevölkerung armer Länder. Hinzu
kommt die Generationengerechtigkeit, welche die Interessen der jungen und der

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noch nicht geborenen, „zukünftiger“ Generationen berücksichtigt. Es gilt zu


bedenken, wie es auch an anderen Orten der Welt sowie in Zukunft möglich ist
und sein wird, am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen.

Verantwortungsbewusstsein

Aus der Perspektive der Zukunftsfähigkeit bedeutet Verantwortung zu über-


nehmen, informierte Entscheidungen zu treffen und dabei Verantwortung für
sich selbst und das eigene Leben mit der Verantwortung für die uns umgebende
Welt zu verbinden. Dazu gehört es, Antworten zu geben auf die kleinen und
großen Herausforderungen des Lebens.
Verantwortung für sich selbst zu übernehmen bedeutet, selbstbestimmt, un-
abhängig und kompetent für das eigene Leben zu sorgen, nicht andere dafür
verantwortlich zu machen. Es bedeutet mündig zu sein, authentisch und acht-
sam zu leben, die Einzigartigkeit der eigenen Existenz anzuerkennen. Es
braucht die negative Freiheit, frei zu sein von äußeren Zwängen, um die Auto-
rIn des eigenen Lebens sein zu können. Es ist ein erster Schritt in Richtung
Zukunftsfähigkeit, wenn sich Menschen entscheiden, nachhaltig zu konsumie-
ren und selbstbestimmt den eigenen Lebensstil wählen. So könnte man bei-
spielsweise im Supermarkt keine in Plastik verpackten Produkte mehr wählen,
um den eigenen Ressourcenverbrauch einzuschränken.
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Doch sind Menschen soziale und biochemische, von Ökosystemen abhän-
gige Wesen, eingebettet in politische und sozioökonomische Institutionen.
Deshalb sind ihre Handlungsspielräume durch die real verfügbaren Optionen
eingeschränkt. Nicht alles ist möglich. Vorherrschende Praktiken, Routinen,
Institutionen und Infrastrukturen beeinflussen somit, welche Möglichkeiten
Menschen tatsächlich haben. Sie schaffen die positive Freiheit, bestimmte
Dinge tun zu können, oder eben nicht. Dies bedeutet, dass beispielsweise für
einen Großteil der Menschen plastikfreies Einkaufen nur eingeschränkt bis gar
nicht möglich ist, da es oftmals schlicht am Angebot fehlt.
Rechtlich gesehen sind mündige, eigenverantwortliche Menschen geschäfts-
und damit auch deliktfähig. Verstoßen sie gegen vorherrschende Gesetze, wer-
den sie dafür belangt. Derartige Regeln und Einschränkungen sind notwendiger
Bestandteil von Gesellschaften, um das Aufeinandertreffen unterschiedlicher
Menschen zu gestalten und zu ordnen. Mit der Institution des Rechtes, aber
auch anderen Formen von Regeln, werden Rahmenbedingungen für die
Handlungsspielräume der Einzelnen aktiv gesetzt. Als soziale Wesen sorgen
sich die allermeisten Menschen auch um das Wohlbefinden anderer. Allen
voran der eigenen Familie, der FreundInnen und der Menschen in der unmit-
telbaren Umgebung, durchaus aber gibt es auch eine Sorge um die „große weite
Welt“, um ein lebenswertes Klima und eine Welt ohne hungernde Menschen.

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Verantwortung für Umwelt und Mitwelt, für mich und für andere, zu über-
nehmen ist eine schwierige Herausforderung angesichts rasant stattfindender
Veränderungen. Warum ändert sich das Klima, wem wird dadurch geschadet,
und was hat das mit mir zu tun? Warum braucht es den Ausstieg aus der Koh-
lewirtschaft und was kann ich tun? Was bedeutet es für mich, wenn brasiliani-
sche Großbauern den Regenwald, „die Lunge der Welt“, in großem Ausmaß
roden? Kaufe ich dann kein Fleisch aus Brasilien mehr? Breche ich als Handels-
unternehmen die Kontakte zu langjährigen brasilianischen Agrarpartnern ab,
obwohl dies herbe Umsatzeinbußen zur Folge hat? Engagiere ich mich bei Pro-
testen, die unter diesen Bedingungen kein Handels- und Investitionsabkommen
mit Brasilien wollen? Inwiefern bin ich verantwortlich für die Arbeitsbedingun-
gen der Textilarbeiterin, die mein T-Shirt hergestellt hat? Soll, muss ich mich
verändern? Und wie? Auf Fragen folgen Antworten. Ver-Antwortung sucht
Antworten auf die Herausforderungen einer komplexen Welt.
Der Anspruch, mit jeder eigenen Entscheidung Verantwortung für die
ganze Welt zu übernehmen, überfordert. Zukunftsfähigkeit heißt nicht, alleine
die ganze Welt zu retten. Problemlösungskompetenz beinhaltet auch die Kom-
petenz zu entscheiden in welcher Situation ich überhaupt Verantwortung über-
nehmen kann und wofür, worauf ich in welcher Weise effektiven Einfluss neh-
men kann. Der gute Wille, die passende Moral reicht nicht. Es braucht auch
Wissen. Zukunftsfähig zu entscheiden und zu handeln ist nur möglich, wenn
Menschen die sie umgebende Welt besser verstehen lernen. Es setzt voraus, sich
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zu informieren, verstehen zu wollen, kritisch zu hinterfragen und sich mit ver-
schiedenen Perspektiven auseinanderzusetzen. Innehalten und Reflektieren
hilft dabei, keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen.
Denken und handeln, Reflexion und Aktion sind verwoben. Lernen wird zu
einer Aneignung von Problemlösungskompetenz. Wissenschaft kann helfen,
Entscheidungen auf Grundlage eines bestmöglichen Wissensstands zu treffen.
Niemand besitzt die ganze Wahrheit, auch Wissenschaft ist fehlbar. Aber ohne
wissenschaftliche Expertise und Fachwissen sind in der derzeitigen arbeitsteilig
organisierten Welt keine zukunftsfähigen Entscheidungen zu treffen. Es
braucht fundierte Vorhersagen, die mit größerer oder geringerer Wahrschein-
lichkeit eintreten werden. Es braucht Modelle, um das Verhalten von Menschen
und die Auswirkungen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Natur zu verstehen.
Trotzdem können wir uns mit Hilfe wissenschaftlicher Verfahren der Wahrheit
nur bestmöglich annähern. Es bleiben Unsicherheiten und Interpretationsspiel-
räume.
Das mag unbefriedigend klingen für diejenigen, die sich klare Anweisungen
für zukunftsfähiges Handeln oder gar nachhaltige Geschäftsmodelle erwarten.
Es gibt aber keine Autorität, die eigenständiges Entscheiden und Handeln er-
setzt. Es bleibt die eigene Verantwortung, zwischen verschiedenen Positionen
und Informationen abzuwägen. Dies bedeutet nicht, dass Entscheidungen alle

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Interessen zufriedenstellen können. In einer komplexen, von Widersprüchen


und Zielkonflikten geprägten Welt sind Win-win-Situationen oft nicht mög-
lich. Doch schafft die erlangte Orientierung die Fähigkeit, unterschiedliche
Konsequenzen unseres Handelns zu erkennen und abzuwägen. Sie verringert
die Gefahr unerwünschter Nebenwirkungen und trägt dazu bei, jenen Formen
der Entscheidungsfindung entgegenzuwirken, die vorrangig auf politischer und
wirtschaftlicher Macht beruhen und dabei die gesellschaftlichen, wirtschaftli-
chen und ökologischen Konsequenzen für weniger mächtige und einflussreiche
Gruppen ignorieren.

Multiperspektivität

Um komplexe und systemische Phänomene wie Klimakrise oder Globalisierung


zu verstehen, reicht ein Erklärungsmodell alleine nicht. Multiperspektivität ist
deshalb eine Kernkompetenz für zukunftsfähiges Wirtschaften. Nehmen wir als
Beispiel die Börse, den Markt, an dem Aktien und Wertpapiere gehandelt wer-
den. Die Börse ist eine zentrale wirtschaftliche Institution, an der durch Ange-
bot und Nachfrage der Preis für diverse Finanzprodukte festgelegt wird. Da
Finanzmärkte in den letzten Jahren viel stärker gewachsen sind als Gütermärkte
(die „Realwirtschaft“), sind die Entwicklungen an der Börse für Wohl und
Wehe von Volkswirtschaften bedeutsam. ÖkonomInnen beschäftigen sich im
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Zusammenhang mit der Börse in erster Linie mit Kursen (also Preisen) und
deren Veränderungen. In der Wirtschaftssoziologie ist die Börse darüber hin-
aus ein soziales Gefüge und konkretes Gebäude, wie zum Beispiel die Wiener
Börse in der inneren Stadt. Es wird von Menschen untertags aufgesucht. Men-
schen sprechen miteinander, manchmal wird es laut. SoziologInnen sind ge-
schult, Beziehungen zu analysieren: Wer macht was mit wem und zu welchem
Zweck? Gibt es Regeln, an die sich alle halten, auch wenn sie niemand festge-
schrieben hat? Wer verfügt über welche Ressourcen? Wer ist mächtig? Beide
Perspektiven, die der Ökonomin und die des Wirtschaftssoziologen, untersu-
chen die Börse als Marktplatz – doch beide sehen Unterschiedliches, beide
formulieren Theorien aus unterschiedlichen Gesichtspunkten. Sozioökonomik
greift beide Perspektiven auf, die der Wirtschaftswissenschaft und der Soziolo-
gie, um die Börse als sozioökonomisches Phänomen zu verstehen. Die Attrakti-
vität der Sozioökonomik besteht darin, dass sie wirtschaftliche Phänomene mit
unterschiedlichen „Brillen“ untersucht.

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Perspektiven als „Brillen“

Einen „Blick von nirgendwo“, das heißt einen Blick ohne Perspektive, gibt es
nicht. Er liegt außerhalb unserer menschlichen Fähigkeiten. Die menschliche
Wahrnehmung hat nicht die Möglichkeit objektive (unvoreingenommene),
neutrale (unabhängige), und universale (allgemeine, immer und für alle gültige)
Darstellungen unserer Welt zu liefern. Unsere Ausbildung, das soziale und
kulturelle Umfeld, die Sprachen, die wir sprechen, der Freundeskreis, zu dem
wir gehören, all dies beeinflusst, was und wie wir die Welt wahrnehmen. Per-
spektiven haben Ähnlichkeit mit „Brillen“: Manche Brillen erleichtern die Sicht
in die Ferne, auf das große Ganze. Andere erlauben, das Kleingedruckte, die
Details zu identifizieren. Es gibt Brillen, durch die manches rosarot, farbenfroh
und schön, anderes grau oder gar schwarz-weiß gesehen wird. So ist der Blick
von Menschen, die gegenüber Einwanderung tendentiell skeptisch eingestellt
sind, vorrangig auf Schlagzeilen misslingender Integration gerichtet, während
Menschen, die Diversität als bereichernd erleben, eher Beispiele erfolgreichen
Zusammenlebens wahrnehmen. Durch diese selektive Wahrnehmung verstärkt
sich der Eindruck, die eigene Perspektive sei richtig und wahr. Dieses allgegen-
wärtige Phänomen, sich in Kreisen Gleichgesinnter eine Meinung zu bilden,
wird durch Social Media noch verstärkt. Dass unsere subjektiven Erfahrungen
immer aus einer bestimmten Perspektive erfolgen, bedeutet jedoch nicht, dass
sich die Welt vollkommen beliebig interpretieren ließe, wie im Kapitel Grenzen
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der Multiperspektivität ausgeführt wird.

Box: Ein Beispiel zu Perspektiven


Welche ist die nächstfolgende Zahl der Zahlenreihe 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, (…)? Ver-
mutlich werden Sie schnell die „11“ als korrekte Lösung finden.
Vervollständigen Sie nun die folgende Zahlenreihe: 1, 10, 2, 9, 3, 8, (…). Auch hier werden
Sie vermutlich rasch die Lösung ermitteln: (4,7,5,6).
Doch was ist das Ordnungsprinzip der Reihe 8, 3, 1, 5, 9, 6, 7, (…)? Die Anordnung ver-
wirrt. Wir sind nicht geschult, Zahlen in dieser Weise zu ordnen. Unsere „Brille“ sieht ange-
sichts einer Zahlenreihe vorrangig bekannte Ordnungsmuster wie mehr-weniger, größer-
kleiner. Doch diese Ordnungsmuster helfen nicht dabei, diese Fragestellung zu beantwor-
ten. Es braucht einen anderen Blick, eine neue „Brille“, um zu erkennen, dass in diesem
Fall die Lösung „4“ ist und das Alphabet als Ordnungsprinzip dient: Acht, Drei, Eins, Fünf,
Neun, Sechs, Sieben, Vier, (Zwei).

Da keine Perspektive und keine Theorie alleine in der Lage ist, die ganze Wirk-
lichkeit zu erklären, gibt es auch nicht das eine Vorzeigemodell, das alle Pro-
bleme lösen könnte. Es gibt kein Patentrezept für zukunftsfähiges Wirtschaften.
Erneuerbare Energieträger alleine lösen die Klimakrise nicht; bessere Kleinkin-
derbetreuung für Kinder aus benachteiligten Familien alleine überwindet ver-
festigte Ungleichheiten nicht – auch wenn diese Beispiele wichtige Ansätze für
die Lösung der jeweiligen Probleme sind.

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Grenzen der Multiperspektivität

Verantwortungsbewusstsein bedeutet zu entscheiden, wann mehrere Perspekti-


ven eine Debatte bereichern und wann sie diese stören und behindern. Wäh-
rend dies in allen Bereichen des menschlichen Lebens der Fall sein kann, ist
aktuell der Umgang mit der Klimakrise ein Beispiel von besonderer Bedeutung.
In den Berichten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) be-
schreiben KlimaforscherInnen aktuelle Klimaveränderungen und entwickeln
plausible Szenarien. Gleichzeitig versuchen Interessensgruppen, diese Erkennt-
nisse in Frage zu stellen. KlimawandelskeptikerInnen, die zumeist von der Öl-
industrie finanziert werden, orientieren sich an der Strategie der Tabakindus-
trie, die jahrzehntelang aus wirtschaftlichen Interessen die Gefährlichkeit von
Rauchen erfolgreich verharmloste. Mit der gleichen Methode wurden in den
meisten Ländern bis heute wirksame Maßnahmen zur Begrenzung der Ver-
wendung fossiler Energieträger verhindert. Diese Strategie basierte unter ande-
rem auf millionenschweren Förderungen der Tabakindustrie für „alternative“
Studien, einer selektiven Kommunikation und Rezeption von Forschungsre-
sultaten, geschickten PR-Strategien sowie der (teils persönlichen) Diskreditie-
rung von WissenschaftlerInnen, die gegenteilige Positionen vertraten. Einzelne
offene Fragen, wie beispielsweise jene des Ausmaßes des Einflusses genetischer
Veranlagungen für die Entstehung von Krebs, wurden öffentlichkeitswirksam
überbetont, um den Schein einer wissenschaftlichen Kontroverse zu erzeugen.
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Auch KlimawandelskeptikerInnen leugnen den Klimawandel meist nicht
offen, sondern beharren auf dem Recht der Meinungsfreiheit. Sie fordern, auch
ihre Perspektive als legitim anzusehen. Tatsächlich inszenieren sie oftmals
Scheingefechte über Nebensächliches: Ist der Klimawandel ausschließlich men-
schengemacht oder gibt es auch andere Ursachen? Ist die Datengrundlage aus-
reichend, um mit Sicherheit Vorhersagen machen zu können? All dies sind
Fragen, die nichts an der hohen, kontinuierlich steigenden Wahrscheinlichkeit
gefährlicher Entwicklungen ändern. Doch die Taktik war in den letzten Jahren
erfolgreich.
WissenschaftlerInnen tun sich oft schwer im Umgang mit Klimawandel-
skeptikerInnen und anderen, deren Strategie es ist, Zweifel zu säen: Gute For-
scherInnen sind sehr vorsichtig mit jeglichem absoluten Wahrheitsanspruch.
Zukunft, zumal in komplexen Fragen, ist offen und selten vollständig vorher-
sagbar. Allerdings zeigt eine zusammenfassende Analyse von 11.944 For-
schungsarbeiten, durchgeführt von John Cook und KollegInnen, dass 97 Pro-
zent aller aktiv publizierenden KlimawissenschafterInnen darin übereinstim-
men, dass der Klimawandel im letzten Jahrhundert mit extrem hoher Wahr-
scheinlichkeit von menschlichen Aktivitäten verursacht wurde. Dieses Ausmaß
wissenschaftlicher Übereinstimmung ist ebenso außergewöhnlich wie die tief-
greifenden, vielfach negativen Konsequenzen, wenn bestimmte Trends tatsäch-

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lich Wirklichkeit werden. Es wäre daher unverantwortlich, unvollständiges


Wissen („wir wissen es nicht zu 100 Prozent“) als Rechtfertigung für Nicht-
Handeln vorzuschieben – auch deshalb, weil Menschen als Teil einer komple-
xen, sich ständig verändernden Welt in kaum einen Bereich vollkommen si-
chere Vorhersagen treffen können. Insbesondere trifft dies auf den Fall der
Klimakrise zu, in dem unabsehbare Folgen möglich sind. Wie umgehen mit
KlimawandelleugnerInnen? Wo sind die Grenzen legitimer Multiperspektivität
zu ziehen? Soll ihre Forschung nicht öffentlich finanziert werden dürfen? Soll
die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden, wie dies bei der Tabakindustrie
mittlerweile der Fall ist? Diese Frage gut zu beantworten, ist Teil zukunftsfähi-
gen Entscheidens.

Denkkollektive und Denkstile

Ludwik Fleck war ein polnischer Physiker, medizinischer Forscher und Wissen-
schaftsphilosoph, der die heute wichtige Forschungsrichtung der STS (Science
and Technology Studies) inspiriert hat. Fleck wurde 1896 in Polen geboren und
starb 1961 in Israel. 1944 wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald
deportiert und sollte dort einen Impfstoff gegen Typhus entwickeln. Als ihm
dies gelungen war, lieferte er allerdings der SS, die den Massenmord in den
Konzentrationslagern organisierte, nur ein Placebo; das echte Medikament
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verteilte er an Mithäftlinge. Er besaß Wissen und vor allem Mut, und verband
dies mit Verantwortung für die Menschen. Damit praktizierte er, was er gleich-
zeitig als Theorie entwickelte, nämlich die Werte- und Kontextabhängigkeit
von Denken.
In seinen wissenschaftlichen Arbeiten stellte sich Fleck gegen ein Bild von
Wissenschaft, wonach Wissen objektiv, neutral und universal sei. Seine These:
Produktion und Verwertung von Wissen finden in bestimmten Umgebungen
statt, was ihre jeweilige Bedeutung, Bewertung und Wirksamkeit beeinflusst. In
Konzentrationslagern wird Wissen anders eingesetzt als in NGOs, in For-
schungs- und Marketingabteilungen von Firmen anders als in Verwaltungsbe-
hörden und Universitäten. Wissen und seine Anwendung entstehen niemals im
luftleeren Raum, sondern sind immer eingebettet in bestehende Institutionen
und Machtstrukturen. Auch WissenschafterInnen sind von ihrem Umfeld und
Vorwissen beeinflusst und erkennen Dinge auf Grundlage erlernter Konzepte
und bestimmter Vorgangsweisen (Methoden).
Mit Hilfe eines gemeinsamen Denkstils „teilt“ eine Gruppe von Menschen
eine Art zu denken, eine bestimmte Perspektive, bestimmte Konzepte und
Methoden. Ob in einer Scientific Community oder in Social Media Foren, ein
Denkstil wird durch Interaktion mit anderen erlernt und angepasst. Menschen
gehören bewusst oder unbewusst bestimmten Denkkollektiven an, welche ein

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und denselben Denkstil teilen, also Konzepte und Theorien, aber auch Werte
und Vor-Urteile. Sie verwenden eine bestimmte „Brille“, die ihnen hilft, be-
stimmte Dinge zu sehen, während andere ausgeblendet werden. Denkkollektive
sind konservativ im eigentlichen Wortsinn, das heißt, dass sie heftigen Wider-
stand gegen die Änderung und Weiterentwicklung ihrer Art zu denken leisten.
Fleck betont, dass es Menschen, die unterschiedlichen Denkkollektiven angehö-
ren, nur sehr schwer möglich ist, die Gedankengänge des jeweils anderen nach-
zuvollziehen – die Art zu denken, zu argumentieren und zu verstehen ist häufig
grundlegend verschieden. Gleichzeitig haben Angehörige eines Denkstils oft
nicht die Kapazitäten, Phänomene, die den Erklärungen ihres Denkstils wider-
sprechen, überhaupt wahrzunehmen. Wenn sie doch wahrgenommen werden,
werden sie oft als unbedeutend abgetan oder geleugnet: So leugneten kirchliche
Autoritäten am Ende des Mittelalters die Erkenntnisse Galileis, und einflussrei-
che Nobelpreisträger behaupteten noch kurz vor der großen Finanzkrise 2008,
dass in modernen Marktwirtschaften keine großen wirtschaftlichen Instabilitä-
ten auftreten können.

Denkkollektive in der Ökonomik

Wirtschaftswissenschaft (Ökonomik) liefert die Theorien, um Wirtschaft (Öko-


nomie), sowie ihre Prozesse und Institutionen zu verstehen und zu erklären.
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Auch in Bezug auf die Erklärung wirtschaftlicher Phänomene gehen die wissen-
schaftlichen Theorien von bestimmten Perspektiven aus und basieren auf An-
nahmen und Werturteilen. So besteht auch die Ökonomik aus einer Vielzahl
von Theorien, die von verschiedenen Denkkollektiven mit spezifischen Denk-
stilen vertreten werden. Sie formen unsere Art zu denken, unser Welt- und
Menschenbild und nehmen dadurch Einfluss auf unser Handeln. Es ist wichtig,
dass Wirtschaftsstudierende nicht nur den Denkstil des vorherrschenden
Denkkollektivs kennen. Deshalb werden im Folgenden beispielhaft (1) zentrale
Persönlichkeiten und (2) Theorien gegenübergestellt. An diesen orientiert bil-
deten sich Denkkollektive, die (3) unterschiedliche Leitbilder für zukunftsfähi-
ges Wirtschaften liefern. Bei allen in diesem Buch vorgestellten Denkkollekti-
ven, Perspektiven, Leitbildern, Ansätzen und anderen Kategorisierungen han-
delt es sich um Idealtypen. In der Realität vertretene Positionen entsprechen
diesen daher in der Regel nicht eins zu eins. Diese Komplexitätsreduktion ist
notwendig, um Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit zu erfassen und zu ord-
nen. Wesentliche Aspekte der sozialen Realität werden dabei hervorgehoben
und geben Orientierung in komplexen Situationen.

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Hayek versus Polanyi: Markt und Politik

Sowohl Friedrich Hayek als auch Karl Polanyi waren vom „Roten Wien“ der
Zwischenkriegszeit beeinflusst. In der Zeit von 1918 bis 1934 wurden von einer
sozialdemokratischen Kommunalverwaltung neben umfassenden sozialen
Wohnbauprojekten auch weitreichende Reformen in der Gesundheits-, Sozial-
und Bildungspolitik umgesetzt. Mit dem Bau von 60.000 Gemeindewohnungen,
Freibädern, der Bereitstellung von Säuglingspaketen und einer Vielzahl weiterer
innovativer sozialpolitischer Maßnahmen schuf die Wiener Stadtverwaltung
ein Netz sozialer Sicherheit. Auf diese Weise wurden Grundbedürfnisse abseits
des Marktes befriedigt und Wohlbefinden ermöglicht. ArbeiterInnen fühlten
sich erstmals als gleichberechtigte BürgerInnen. Wie sich zeigen wird, zogen
Hayek und Polanyi allerdings grundlegend verschiedene Schlüsse aus ihren
Erfahrungen des „Roten Wiens“. Sie betrachteten Wirtschaft und Gesellschaft
aus verschiedenen Perspektiven. Sie hatten jedoch gemeinsam, dass sie Öko-
nomik als Sozialwissenschaft verstanden und sich mit den philosophischen
Grundlagen ökonomischer Theorien sowie wirtschaftlichen Handelns beschäf-
tigten. Beide beeinflussen bis heute das Denken über Wirtschaft und Gesell-
schaft.
Friedrich August von Hayek wurde am 8. Mai 1899 in Wien geboren und
starb am 23. März 1992 in Freiburg im Breisgau. Er studierte Rechtswissen-
schaft und Volkswirtschaftslehre in Wien. 1974 erhielt er zusammen mit dem
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schwedischen Entwicklungsökonomen Gunnar Myrdal den Nobelpreis für
Wirtschaftswissenschaften für ihre Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie
sowie ihre umfassende Analyse ökonomischer und sozialer Entwicklungen.
1944 erschien sein Hauptwerk „Der Weg zur Knechtschaft“, in welchem er
in einer geplanten Wirtschaft die Wurzel für „Tyrannei“ und den Verlust von
individueller Freiheit sah. Das „Rote Wien“ mit seiner umfassenden Sozialpoli-
tik sowie einem strengen Mietrecht, das den privaten Wohnungsmarkt stark
regulierte, empfand Hayek als einen Schritt in Richtung „Knechtschaft“, hin zu
einer bürokratisierten und verplanten Gesellschaft. Freiheit – verstanden als die
Abwesenheit von staatlichem Zwang und Bevormundung – droht so verloren-
zugehen. Nur in einer Marktwirtschaft gedeihen Freiheit und Rechtsstaat. In
einem langen kulturellen Evolutionsprozess haben sich Märkte, Eigentum und
Wettbewerb als beste wirtschaftliche Institutionen durchgesetzt, um knappe
Ressourcen bestmöglich einzusetzen. Der Markt schafft eine spontane Ordnung
(kosmos), die es Einzelnen erlaubt, ihre eigenen Ziele zu verfolgen und gleich-
zeitig gesellschaftlichen Wohlstand zu schaffen. Für Hayek ist der Markt die
natürliche und einzig effiziente ökonomische Institution. Wirtschaften heißt
Marktwirtschaften. Alle anderen Institutionen sind für Hayek entweder vor-
modern oder totalitär. So erachtet er die Subsistenzwirtschaft, die auf Selbstver-
sorgung zur Sicherung des Lebensunterhaltes einer kleinen Gemeinschaft aus-

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gerichtet ist, im Vergleich zur Marktwirtschaft als „primitiv“ und dieser unter-
legen. Aber auch Wirtschaftsplanung ist in jeder Form abzulehnen, denn es gibt
zwischen freien Marktwirtschaften und totalitären Planwirtschaften keinen
Mittelweg. Zukunftsfähigkeit bedeutet demnach Wettbewerbsfähigkeit: Wirt-
schaften ist Wettbewerb am Markt.
Weil der Markt die effizienteste Informationsverarbeitungsmaschine ist, sei
es eine Anmaßung einzelner ExpertInnen und WissenschaftlerInnen, wenn sie
mit rationalen Methoden Vorschläge zur Begrenzung von Märkten umsetzen
wollen. Ihr Wissen ist immer beschränkt gegenüber dem kollektiven Wissen
des Marktes, in dem sich die Präferenzen der Individuen widerspiegeln. Roh-
stoffbörsen wissen beispielsweise mehr über die Entwicklung von Rohstoff-
märkten als der am besten informierte Rohstoffexperte. Solange wichtige Preise
wie der von Öl keine Knappheitssignale senden, ist es daher auch weder nötig
noch sinnvoll, ihren Verbrauch zu reduzieren – und sei es, um den Klimawan-
del zu bekämpfen. Märkte beschränken zu wollen, ist Hybris, Überheblichkeit,
und unterschätzt den Markt als Informationsverarbeitungsmaschine.
Alle Hoffnungen, eine Gesellschaftsordnung (taxis) planen zu können, sind
darum gefährlich. Die Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit und ihr planeri-
scher und demokratischer Gestaltungswille waren daher aus Hayeks Sicht erste
Schritte hin zu einer paternalistischen, letztlich aber totalitären Gesellschaft. So
war er ein entschiedener Kritiker des Wohlfahrtskapitalismus (vgl. Leitbilder
zukunftsfähigen Wirtschaftens und Teil 2 Historische Phasen wirtschaftlicher
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Entwicklung) und sah es als Aufgabe einer neuen Form von Marktliberalismus
– des Neoliberalismus – eine „Verfassung der Freiheit“ zu etablieren. Diese
würde die bestmögliche, effizienteste Wirtschaftsordnung schaffen, die deshalb
zukunftsfähig sei.
Dies sicherzustellen ist Aufgabe des Staates, denn Laissez-faire, das heißt die
Abwesenheit staatlicher Regulationen, führt zu Chaos. Der Rechtsstaat muss
dem Schutz der Vertragsfreiheit dienen, Polizei und Militär dem Schutz des
Privateigentums und Regulierungsbehörden der Schaffung von Märkten (z. B.
für Bildung, Gesundheitsversorgung oder heute CO2-Emissionen). Dazu muss
für Hayek Demokratie allgemein, und demokratische Wirtschaftspolitik im
Besonderen, möglichst eingeschränkt werden, um der Marktwirtschaft keinen
Schaden zuzufügen. Er schreibt in „Der Weg zur Knechtschaft“, dass ein freier
Markt eher unter einer Diktatur bestehen kann, als unter einer unbegrenzten
Demokratie. Deshalb war Hayek ein scharfer Kritiker von Mehrheitsentschei-
dungen und parlamentarischen Aushandlungsprozessen, denn diese legitimie-
ren problematische Eingriffe in die liberale Wirtschaftsordnung. So kritisierte
Hayek das strenge österreichische Mietrecht aus 1917. Regeln, die Eigentum
und eine freiheitliche Marktordnung garantieren, müssen so abgesichert wer-
den, dass keine Regierung Mehrheitsentscheidungen gegen vermögensbesit-
zende Minderheiten durchsetzen kann. Am besten kann dies eine globale libe-

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rale Weltordnung gewährleisten, die den Handlungsspielraum nationaler Re-


gierungen einschränkt.
Hayeks Idee wurde prägnant zusammengefasst vom bekannten Slogan der
englischen Premierministerin der 1980er Jahre, Margaret Thatcher: „There is
no alternative“. Dieser Slogan wurde zu „TINA“ abgekürzt und beschreibt, dass
sowohl Thatcher als auch Hayek keine Alternative zur westlichen Marktgesell-
schaften sehen. Marktgesellschaften beschränken staatliche Verbote und er-
möglichen so Freiheit. Dieser Freiheitsbegriff wird negative Freiheit genannt
(vgl. Box Negative und positive, wirtschaftliche und politische Freiheit), nicht
deshalb, weil etwas daran „negativ“ im Sinne von „schlecht“ wäre, sondern weil
er sich durch ein Ausschlusskriterium definiert: Solange es keinen (staatlichen)
Zwang gibt, herrscht Freiheit. Die Aufgabe des Staates ist es, Marktordnungen
und Eigentumsrechte zu schaffen und zu verteidigen. Die wirtschaftliche Frei-
heit, über sein Eigentum verfügen und am Markt handeln zu können, ist für
Hayek wichtiger als politische Freiheiten in einem demokratischen Gemeinwe-
sen, wie Wählen oder Demonstrieren.
Die Gleichheit, die es für Hayek zu verteidigen gilt, ist Gleichheit vor dem
Recht sowie gleicher Zugang zu Märkten. Da freie Gesellschaften dem Ver-
ständnis Hayeks nach Marktgesellschaften sein müssen, wird Gerechtigkeit als
Marktgerechtigkeit definiert. Andere Ungleichheiten zwischen Individuen sind
für ihn legitim, zum Beispiel, dass manche erben und andere nicht. Aus der
evolutionstheoretischen Perspektive Hayeks folgt, dass Zivilisationen ungleiche
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Gesellschaften sein müssen. Nur so ist für ihn Fortschritt möglich.
Karl Polanyi war ein ungarisch-österreichischer Sozioökonom. Er wurde am
21. Oktober 1886 in Wien geboren und starb am 23. April 1964 in Pickering
(Ontario, Kanada). Polanyi studierte Rechtswissenschaften und Philosophie in
Budapest und wurde als Soldat im Ersten Weltkrieg schwer verwundet. In den
1920er Jahren arbeitete er als Wirtschaftsjournalist im „Roten Wien“ und war
dort inspiriert von der Entstehung eines lokalen Wohlfahrtsstaats, der die Ar-
beitenden erstmals systematisch vor Hunger und Elend schützte. Nach seiner
erzwungenen Exilierung unter dem Austrofaschismus 1933 verdiente er seinen
Lebensunterhalt in der ArbeiterInnenweiterbildung in England. Seine wissen-
schaftliche Karriere begann erst nach dem Zweitem Weltkrieg an der Columbia
Universität in den USA.
Aus Polanyis Sicht ist Wirtschaft immer in Umwelt und Gesellschaft einge-
bettet und dient der Bereitstellung und Organisation der menschlichen Lebens-
grundlagen. Wirtschaften ist dadurch mehr als Marktwirtschaften. Markt und
Privateigentum sind keine „natürlichen“ Formen des Wirtschaftens, sondern
politisch-rechtlich geschaffen und daher von Menschen gemacht. Der Markt ist
für Polanyi nur eine von mehreren Institutionen, um wirtschaftliche und so-
ziale Aktivitäten zu organisieren. So nutzten beispielsweise die UreinwohnerIn-
nen Amerikas so wie die allermeisten traditionellen Gemeinschaften ihr Land

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gemeinschaftlich, bis es von der zugewanderten europäischen Bevölkerung auf


blutige Art und Weise angeeignet und privatisiert wurde. In jüngerer Vergan-
genheit wurde beispielsweise mit CO2-Emissionszertifikaten ein neuer Markt
für Verschmutzungsrechte geschaffen. Auch stehen öffentliche Universitäten
mit freiem Hochschulzugang privaten Universitäten und Märkten für tertiäre
Bildung gegenüber. Ebenso kann medizinische Versorgung über den Markt
organisiert werden oder der gesamten Bevölkerung gleichen Zugang eröffnen.
Nicht immer und für alle Bereiche sind Märkte geeignet, menschliche Lebens-
grundlagen bestmöglich zu sichern. Wenn Bildung beispielsweise eine Ware ist,
die es am Markt zu erwerben gilt, können jene, die sich einen Hochschulzugang
nicht leisten können, ihre individuellen Potentiale nicht ausschöpfen. Damit
geht verloren, dass Bildung einen Wert an sich hat. Die Gesellschaft profitiert
als Ganze, wenn möglichst alle ihre Mitglieder eine möglichst gute Bildung
erhalten. Ebenso sind Sozialversicherungen Institutionen, die dazu dienen, dass
auch Menschen gute medizinische Versorgung in Anspruch nehmen können,
die sich dies nicht am privaten Markt leisten könnten. So kann die Gesundheit
für die Gesamtbevölkerung verbessert werden.
Eine genaue Analyse zeigt, dass Wirtschaften bis heute durch vielfältige In-
stitutionen geprägt ist. Die wichtigsten wirtschaftlichen Institutionen sind
(1) Tausch (meist, aber nicht immer, über den Markt), (2) Reziprozität (d. h.
Gegenseitigkeit, z. B. Nachbarschaftshilfe oder Hilfe unter FreundInnen),
(3) zenitrale Umverteilung (z. B. ein Steuersystem, mit dem Zugang zu Bildung,
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Gesundheit und Altersvorsorge für die gesamte Bevölkerung finanziert wird)
und (4) die Haushaltswirtschaft (also alle Tätigkeiten, die unentgeltlich im
Haushalt verrichtet werden). Wirtschaftspolitik sollte, Polanyi folgend, dieser
gemischten Form des Wirtschaftens mit einem Mix aus Institutionen Rechnung
tragen. Viele Aspekte des sozialen Lebens sind nicht dazu geeignet „kommodi-
fiziert“, das heißt in eine am Markt handelbare Ware, verwandelt zu werden.
Nicht-monetäre wirtschaftliche Tätigkeiten wie Pflege und Ehrenamt sollten
aufgewertet, wichtige gesellschaftliche Bereiche wie Bildung, Gesundheit und
Pflege für alle bereitgestellt und damit dem Markt entzogen werden.
In seinem Hauptwerk „Die große Transformation“ aus dem Jahr 1944 be-
schreibt Polanyi die Industrielle Revolution als eine tiefgreifende Transforma-
tion, die zu einer neuen Gesellschaftsordnung führte. Zum einen brachte sie
Verbesserungen: materiellen Wohlstand für einige und eine enorme Steigerung
von Effizienz, Produktivität und damit Rentabilität. Auf der anderen Seite war
diese Transformation eine Katastrophe für andere Gesellschaftsschichten, un-
tergrub gewohnte und gesicherte Lebensgrundlagen sowie Status und Wohlbe-
finden. Vor der Industriellen Revolution stellten Menschen die Produkte des
täglichen Bedarfs lokal her, die meisten waren SelbstversorgerInnen. Arbeit war
unregelmäßig: Auf bestimmte Tätigkeiten wie der Ernte oder dem Melken von
Kühen folgten Perioden mit weniger intensiver Arbeit oder sogar Müßiggang.

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Arbeit orientierte sich vorrangig an den Rhythmen der Natur (z. B. Ernte-
rhythmen, Regen- und Trockenzeiten, Sonnenaufgang und -untergang). Im 19.
Jahrhundert verlagerte sich die Arbeit vom Land in die Stadt, da die Produktion
nicht mehr lokal, sondern in großen zentralen Fabriken stattfand, wodurch die
Bevölkerungszahl in Städten rasant anstieg. Infolgedessen standen Städte, die
meist nur für eine beschränkte Bevölkerungsanzahl konzipiert waren, unter
Druck, ihre neuen EinwohnerInnen aufzunehmen. Die Londoner Slums des 19.
Jahrhunderts waren hierfür bezeichnend. Die Wohnungsbedingungen waren
katastrophal, Unterkünfte überfüllt, Sanitäreinrichtungen kaum vorhanden,
Krankheiten weit verbreitet. Die Logik und Rhythmen der industriellen Pro-
duktion bestimmten das Leben der Arbeiterschaft. So lebten auch in den Zie-
gelfabriken rund um Wien bis zu zehn Familien in einem einzigen Raum, in
anderen Fällen mussten ArbeiterInnen sogar auf den riesigen, brennend heißen
Industrieziegelöfen schlafen. In Europa wurde die Tuberkulose zu dieser Zeit
auch als „Wiener Krankheit“ bezeichnet. In dem Arbeiterbezirk Favoriten,
gekennzeichnet durch desaströse Wohnverhältnisse, entfielen auf 1.000 Le-
bende mehr als 63 Todesfälle durch Tuberkulose.
Arbeit diente nicht mehr der Selbstversorgung, sondern wurde zur Ware,
die ArbeiterInnen an Unternehmen verkaufen mussten, um ihren Lebensun-
terhalt zu bestreiten. Um Produktivität, Effizienz und Rentabilität zu steigern
und konkurrenzfähig zu bleiben, dehnten die Unternehmen die Arbeitsstunden
auf ein Maximum aus und versuchten die Arbeit zu intensivieren. Letzteres
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führte zur Arbeitsteilung und dem fortschreitenden Einsatz von Maschinen,
wodurch die ehemals vielfältige Arbeit der Selbstversorgung, von Handwerk
und Gewerbe durch schlechtbezahlte, monotone Tätigkeiten ersetzt wurde.
ArbeiterInnen wurden aus ihren traditionellen Lebensrealitäten, die sie ge-
wohnt waren, entwurzelt. Die Anerkennung, die eine Bäuerin für ihr eigens
bestelltes Feld, der Schmied für seine selbsthergestellten Werkezeuge erhielt,
ging verloren. Anstelle dessen trat die austauschbare ArbeiterIn als Ware. So
beschreibt Charles Dickens die Arbeiterschaft in dieser Zeit in seinem Roman
„Schwere Zeiten“ bezeichnend mit dem Sammelbegriff „die Hände“, einer aus-
tauschbaren undifferenzierten Masse.
So waren die Schattenseiten der Verbesserung von Produktivität, Effizienz
und Rentabilität erzwungene Auswanderung, Krankheit, Elend und Entwurze-
lung. Anhand des Beispiels der Industriellen Revolution problematisiert Pola-
nyi, dass möglichst schnelle wirtschaftliche Verbesserungen oftmals nur um
den hohen Preis großer sozialer Verwerfungen umgesetzt werden. Nicht Ver-
änderung an sich, ihre Geschwindigkeit ist bedeutsam, um das soziale Gefüge
aufrechtzuerhalten. Als Reaktion auf zu schnelle Veränderungen sieht er die
Entstehung gesellschaftlicher Gegenbewegungen, welche zum Ziel haben, ihre
„Beheimatung“, also gewohnte Lebensweisen und Routinen, zu verteidigen
oder wiederherzustellen. Sie wollen den Markt so gestalten, dass dieser ihren

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Bedürfnissen gerecht werde. Es sei also gerade in Umbruchszeiten wichtig, den


Prozess ungesteuerter Veränderung zu verlangsamen und, wenn möglich, im
Interesse der Mehrheitsbevölkerung zu gestalten, um das Wohlergehen der
Gemeinschaft zu schützen.
Freiheit ist für Polanyi die Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten. Die-
ser Freiheitsbegriff wird positive Freiheit genannt (wieder: nicht positiv im
Sinne von „gut“, sondern weil Freiheit durch das Vorhandensein von be-
stimmten Grundvoraussetzungen definiert wird). Für Polanyi ist jemand nur
dann frei etwas zu tun, wenn er oder sie tatsächlich die Möglichkeit dazu hat.
Dazu gehört neben der individuellen Fähigkeit auch das Vorhandensein von
Infrastrukturen und rechtlichen Regelungen. Positive Freiheit umfasst wirt-
schaftliche und politische Freiheit (vgl. Box Negative und positive, wirtschaftli-
che und politische Freiheit). Allen die gleiche Freiheit zu ermöglichen, bedeutet
Teilhabegerechtigkeit herzustellen. Dazu braucht es soziale Rechte wie den
freien oder zumindest gut leistbaren Zugang zu Bildung, Gesundheit und Pflege
sowie einen intakten ökologischen Lebensraum. Aus dieser Perspektive ermög-
licht Zukunftsfähigkeit den Schutz von Privatsphäre und Eigeninitiative ebenso
wie gesellschaftlichen Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit. Indivi-
duelle Wünsche und gesellschaftliche Verantwortung stehen in einem ständi-
gen Aushandlungsprozess. Eine solche Wirtschaftsordnung zu schaffen ist ein
fortgesetzter Balanceakt, bei dem für Dogmatismus – also das kompromisslose
Festhalten an Anschauungen – kein Platz ist. Dies bedeutet auch, dass es Regeln
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braucht, die wirtschaftliche und politische Machtkonzentrationen zu verhin-
dern und Schwache bzw. weniger Mächtige zu schützen. Aus der Perspektive
Polanyis gilt demnach der Satz „There are many and real alternatives“ (TA-
MARA).
Die folgende Tabelle stellt die Perspektive Hayeks und Polanyis nochmals
gegenüber.

Tabelle: Hayek und Polanyi im Vergleich

Hayek Polanyi
Ansatz Marktliberalismus / Gemischte Ökonomie
Neoliberalismus
Institutionen Markt als die wirtschaftliche Eine Vielfalt an Institutionen
Institution schafft eine Marktge- organisiert die Lebensgrundla-
sellschaft, die Zwang minimiert gen, ohne dass alle Lebensbe-
reiche zur Ware werden
Verständnis von Marktwirtschaft entsteht spon- Wirtschaft in Gesellschaft und
Wirtschaft tan (Marktwirtschaft als „natür- Umwelt eingebettet (Marktwirt-
liche“ Ordnung) schaft als „geschaffene“ Ord-
nung)
Zukunftsfähigkeit Zukunftsfähig ist wettbewerbs- Zukunftsfähig ist nachhaltig
fähig

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Hayek Polanyi
Gerechtigkeit Marktgerechtigkeit Teilhabegerechtigkeit
Freiheit Negative Freiheit; Wirtschaftli- Positive Freiheit; Freiheit und
che Freiheit vor Demokratie Demokratie
Gestaltungs- Markt weiß mehr als ExpertIn- ExpertInnen und BürgerInnen
möglichkeiten nen, Regierungen und Mehrhei- können Gesellschaft demokra-
ten tisch gestalten
Regeln und Regeln zur Sicherung und Regeln zur Regulierung und
Regulierungen Schaffung von Märkten Begrenzung von Märkten
Slogan „There is no alternative.“ (TINA) „There are many and real alter-
natives.“ (TAMARA)

Neoklassik versus Keynesianismus: Wie funktioniert Wirtschaft?

Zwei bedeutende Wirtschaftstheorien, die sich in vielen Annahmen und Aussa-


gen grundlegend unterscheiden, sind die Neoklassik und der Keynesianismus.
Dies sind komplexe Theoriegebäude, zu deren Formulierung herausragende
ÖkonomInnen beigetragen haben. Für die folgende Einführung konzentrieren
wir uns auf diejenigen Aspekte der beiden Denkkollektive, die erlauben, die
jeweiligen Analysen und wirtschaftspolitischen Ausrichtungen herauszuarbei-
ten.
Als Neoklassik wird vereinfachend jenes Denkkollektiv bezeichnet, das sich
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mit der Allokation knapper Ressourcen zur Bedürfnisbefriedigung beschäftigt.
Die zentrale Methode ist die mathematische Optimierung. Dieses Denkkollek-
tiv ist heute in der Ökonomik vorherrschend. Vor allem wird diese Perspektive
in einführenden Lehrveranstaltungen der Volkswirtschaftslehre unterrichtet. In
fortgeschrittenen Kursen werden diverse Annahmen verändert, um die Reali-
tätsnähe zu erhöhen. So zeigt beispielsweise die Verhaltensökonomik im Unter-
schied zur Theorie des homo oeconomicus, das heißt des rationalen Wirt-
schaftsmenschen, dass Menschen oftmals nicht egoistisch und den persönlichen
Nutzen maximierend agieren.
Die Neoklassik entwickelte sich im Laufe des späteren 19. Jahrhunderts und
nahm sich die Physik der damaligen Zeit zum Vorbild. Sie wollte die Wirt-
schaftswissenschaft so „exakt“ und „eindeutig“ machen wie die Naturwissen-
schaften, weshalb der Mathematik und formaler Modellbildung eine wichtige
Rolle eingeräumt wurde. Die Neoklassik wurde von verschiedenen Wissen-
schafterInnen vorangetrieben, als Meilenstein kann die Veröffentlichung von
Alfred Marshalls „Principles of Economics“ aus dem Jahr 1890 gesehen werden.
Im Laufe der Zeit wurde die Theorie weiterentwickelt und stellt heute ein in
sich konsistentes Theoriegebäude, ein weithin geteiltes Denkkollektiv dar. Es
hat den Anspruch, allgemeingültige Aussagen über volkswirtschaftliche Phä-
nomene und Entwicklungen zu treffen.

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In der Neoklassik besteht die Wirtschaft aus nutzenmaximierenden Indivi-


duen (homo oeconomicus), die stets Entscheidungen zum eigenen (monetären)
Vorteil treffen. Das Wirtschaftsgeschehen hänge vom Verhalten Einzelner ab.
Diese treten auf Märkten in Tauschbeziehungen, Angebot und Nachfrage tref-
fen sich. Bei perfektem Wettbewerb stellt sich ein Gleichgewichtspreis ein. Un-
ter bestimmten Beschränkungen, insbesondere monetären, optimieren die
Akteure ihren jeweiligen Nutzen und Gewinn. In dieser Situation befindet sich
der Markt in einem „natürlichen“ Gleichgewicht, der Markt ist „geräumt“, da es
niemanden gibt, der gerne ein Produkt gehabt hätte, aber keines bekommen
hat, und niemanden, der auf einem sitzen geblieben ist, das er gerne verkauft
hätte. Da auch die Erwartungen über die Zukunft als rational angenommen
werden, ist eine zentrale Aussage, dass auch Finanzmärkte in der Regel effizient
seien, wenn Markthandeln nicht durch staatliche Regulierungen behindert wird
(Markteffizienzhypothese). Da in die Preise am Finanzmarkt alle relevanten
Informationen inkludiert seien, treffen die MarktteilnehmerInnen in ihrer
Gesamtheit rationale Entscheidungen. Die Möglichkeit, dass Unvorhergesehe-
nes passiert, ist als Risiko kalkulierbar, das heißt in Zahlen messbar und damit
berechenbar. Der Entwickler der Markteffizienzhypothese, Eugene Fama, ge-
wann 2013 den Nobelpreis.
In der Neoklassik wird die Wirtschaft als Tauschwirtschaft analysiert. Der
Fokus liegt auf dem Angebot, also der Produktionsseite, da beim „richtigen“
Preis das gesamte Angebot nachgefragt wird. Es wird davon ausgegangen, dass
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der Erfolg einer Volkswirtschaft in erster Linie von den Bedingungen auf der
Angebotsseite abhängt. Wie viel produziert wird, hängt in erster Linie von den
Produktionskosten ab, die sich aus Kosten für Kapital und Arbeit zusammen-
setzen. Löhne, der Preis der Arbeit, sind deshalb in erster Linie ein Kostenfak-
tor. Dem Staat komme vorrangig die Rolle zu, die Eigentumsrechte der indivi-
duellen MarktteilnehmerInnen zu sichern und damit deren Teilnahme an
Tauschbeziehungen zu ermöglichen. Steuern für Unternehmen sollten tenden-
tiell niedrig und staatliche Regulierungen beschränkt sein. Steigen die Gewin-
nerwartungen der Unternehmen, werde mehr investiert und dadurch Arbeits-
plätze geschaffen. Diese Strategie wird als angebotsorientierte Wirtschaftspoli-
tik bezeichnet.
Der neoklassische Denkstil setzt wirtschaftliches Handeln mit Handeln auf
Märkten gleich. Im Grundmodell führen Märkte zu optimalen Ergebnissen.
Komplexere Modelle beschäftigen sich mit Rahmenbedingungen, in denen
optimales Markthandeln schwieriger ist. Zum Beispiel bei Marktversagen, sei
dies durch Monopolmärkte, welche von einem Anbieter kontrolliert werden,
oder durch Externalitäten, deren Kosten vom Verursacher auf andere abgewälzt
werden (vgl. Nachhaltigkeit). Mit Hilfe des Verursacherprinzips können Kos-
ten, für die Unternehmen bis dahin nicht gezahlt haben, durch Steuern oder
andere Maßnahmen internalisiert werden. So muss das Unternehmen, das

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beispielsweise Schadstoffe in den Fluss leitet, dafür zahlen oder die Kosten für
die Reinigung übernehmen. Mit derartigen Konzepten zeigt die Neoklassik die
Nützlichkeit von Märkten in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. So
optimiert die Gesundheitsökonomik den Ressourceneinsatz in Spitälern, Bil-
dungsökonomik vergleicht die Wirksamkeit von Ausgaben im Bildungssektor,
etc. Dies erlaubt einen effizienten Einsatz von Ressourcen, fördert aber gleich-
zeitig die Kommodifizierung aller Lebensbereiche. So wird die Marktlogik auch
auf Bereiche angewandt, in denen das Optimierungskalkül problematische
Aspekte hat, wie zum Beispiel bei der Entscheidung, ob sich eine Hilfsaktion
„auszahlt“ oder ob es sich „lohnt“, noch etwas in eine Beziehung zu „investie-
ren“.
Mathematische Modellbildung, wie sie die Neoklassik verwendet, hilft We-
sentliches von Unwesentlichem zu trennen. Liegen Modellen gute Abstraktio-
nen und Annahmen zugrunde, können wichtige Mechanismen des Wirtschaf-
tens erfasst werden. Modelle priorisieren bestimmte Aspekte, Variablen und
Messformen und vernachlässigen andere. Sie sind kein Spiegel, der Wirklich-
keit abbildet, sondern stellen ein Phänomen aus einer gewissen Perspektive dar.
Die Neoklassik geht davon aus, dass nicht-mathematische Erklärungen unge-
nau und oftmals fehlerhaft, jedenfalls aber unwissenschaftlich, sind. Dies hat zu
dem Vor-Urteil geführt, sich nicht länger mit den Schriften der Klassiker der
Ökonomik, von Smith über Keynes bis zu Karl Marx und Joseph Schumpeter,
beschäftigen zu müssen. Darin unterscheidet sich die Neoklassik grundlegend
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von der Sozioökonomik, aber auch dem Keynesianismus. Durch dieses feh-
lende Interesse für Geschichte und Ideen früherer DenkerInnen war die Zunft
der ÖkonomInnen 2008 überrascht, dass es weiterhin tiefgehende Wirtschafts-
krisen geben kann. Sogar die britische Königin sah sich veranlasst zu fragen,
wie es möglich sei, dass eine ganze Disziplin in den entscheidenden Monaten
nach dem Konkurs der Lehman Brothers so sprach- und ratlos sein konnte.
Diesbezüglich unterscheidet sich die Ökonomik von allen anderen Geistes- und
Sozialwissenschaften wie Philosophie, Soziologie oder Politikwissenschaften, in
denen es unvorstellbar ist, die eigenen Klassiker nicht zu kennen.
Der Keynesianismus wurde von John Maynard Keynes, Brite und 1883 ge-
boren, geprägt. Dieser entwickelte seine Theorien immer als Antwort auf aktu-
elle Probleme. Einflussreich wurde seine Theorie in den 1930er Jahren. Wäh-
rend des Wohlfahrtskapitalismus bestimmte der Keynesianismus weite Teile
der europäischen und US-amerikanischen Wirtschaftspolitik. In seinem Men-
schenbild ist Keynes „klassischer“ als die Neoklassik. In Anlehnung an Adam
Smith, der oft als Gründervater der Ökonomik bezeichnet wird, ist auch für
Keynes der Mensch ein komplexes Wesen. Für Smith waren Menschen unter
bestimmten Umständen Egoisten (selfishness), aber nicht immer. Ihr Eigeninte-
resse (self-interest) beinhaltet zumeist auch das Wohlbefinden der Umgebung
und von Nahestehenden. In seinem Buch zur „Theorie der ethischen Gefühle“

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betont er, wie wichtig Anteilnahme und Sympathie für menschliches Miteinan-
der sind. Kurzum, Menschen sind vielschichtig, keinesfalls bloß Nutzenmaxi-
miererInnen. Sie sind Kulturwesen, die Gier nach Geld bezeichnet Keynes als
„krankhaftes Leiden“.
Im Unterschied zur Neoklassik geht der Keynesianismus von fundamenta-
len Unsicherheiten in der Wirtschaft aus, die wirtschaftliche Gleichgewichte zu
Ausnahmesituationen und Abweichungen vom Gleichgewicht zum Normalzu-
stand machen. Keynesianismus wird im Folgenden vereinfachend als jenes
Denkkollektiv bezeichnet, das die Rolle von Unsicherheit im Wirtschaftsge-
schehen ernst nimmt. Im Laufe der Zeit wurden einige Ansätze Keynes’ (wie
z. B. der Multiplikator) in vereinfachter Form in die Neoklassik übernommen.
Dies wird neoklassische Synthese genannt. Viele bedeutende KeynesianerInnen
sehen dies als unzureichend oder sogar falsch wiedergegeben an und bezeich-
nen diese Synthese als „Trivial-Keynesianismus“. Weit gefasst umfasst Keynesi-
anismus Keynes selbst, den Postkeynesianismus und die neoklassische Syn-
these.
Im Keynesianismus führen die mit wirtschaftlichen Dynamiken verbunde-
nen Prozesse zu Unsicherheiten. Diese sind grundlegenderer Natur als bloßes
Risiko, wie es die Neoklassik definiert. Unsicherheiten können eben nicht voll-
ständig in Zahlen und Wahrscheinlichkeiten gefasst werden. Das Verhalten von
Investoren und anderen WirtschaftsakteurInnen sieht Keynes als wesentlich
von „animal spirits“, also von Emotionen und Herdentrieb geprägt. Oft ist es
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instinkthaft oder orientiert sich an Gewohnheiten. Entschieden wird oft auf
Grundlage von Faustregeln. Zum Beispiel: „Verkaufe, bevor andere verkaufen“.
Dies kann z. B. dazu führen, dass Aktien rasant und von allen gleichzeitig ver-
kauft werden, was Panikreaktionen und Kurseinbrüche zur Folge hat. Bei Kurs-
aufschwüngen wiederum schießen Aktienkurse, also die Preise für Aktien,
regelmäßig über den tatsächlichen Wert hinaus, da AnlegerInnen stark positi-
ven Emotionen ausgesetzt sind. Der Herdentrieb veranlasst sie dazu, weiter
mitzuziehen, auch wenn der tatsächliche Wert der Aktie schon wieder am Sin-
ken ist oder die realwirtschaftlichen Eckdaten eine Rezession ankündigen.
„Animal spirits“ bestimmen das Wirtschaftsgeschehen und fördern wirtschaft-
liche Instabilität. Je nach dem institutionellen Rahmen, in den Märkte einge-
bettet sind, haben Herdentrieb oder Emotionen größere oder geringere Aus-
wirkungen. 2008 waren die Finanzmärkte weitgehend liberalisiert und deregu-
liert (vgl. Teil 2 Wirtschaft im Umbruch). So waren die durch Herdentrieb aus-
gelösten Kettenreaktionen besonders heftig.
Im Unterschied zur Neoklassik konzentriert Keynes seine Analyse auf die
Nachfrageseite, von der der Erfolg einer Volkswirtschaft abhängig sei. Löhne
und Gehälter stellen für ihn in erster Linie Kaufkraft dar, welche die Wirtschaft
ankurbelt. So führt jeder Euro an zusätzlichem Einkommen zu zusätzlichem
Konsum (in unteren Einkommensschichten ist dieser zusätzliche Konsum hö-

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her als in oberen Schichten, in welchen zusätzliches Einkommen vermehrt


gespart wird), welcher wiederum das Einkommen der nächsten Person dar-
stellt, und so weiter. Wenn z. B. das Einkommen der FriseurIn um 100 Euro im
Monat steigt, so kann diese öfter ins Restaurant oder ins Konzert gehen. Dies
wiederum schafft zusätzliche Einkommensmöglichkeiten für KellnerInnen und
KöchInnen sowie MitarbeiterInnen bei Konzerten. Die KöchInnen können
damit auch öfter ins Konzert gehen, oder zur FriseurIn oder ins Fitnesscenter.
Durch diesen als Einkommensmultiplikator bezeichneten Prozess führt zusätz-
liches Einkommen zur wirtschaftlichen Belebung.
Keynes meinte mit seinen Theorien die Funktionsweise kapitalistischer
Marktwirtschaften verstanden zu haben. Grundlage funktionierender Markt-
wirtschaften ist eine florierende Realwirtschaft, die Güter produziert, Dienst-
leistungen anbietet und Infrastrukturen schafft. Keynes sympathisierte mit den
Klassen, die seiner Meinung nach Reichtum produzieren – den Unternehmer-
Innen und Beschäftigten. Und er war ein scharfer Kritiker der Rentiers, die ihr
Einkommen alleine aus dem Besitz von Vermögen beziehen und weder einer
unternehmerischen Tätigkeit nachgehen noch Arbeitsleistung erbringen. Die
Finanzwirtschaft solle eine unterstützende Rolle einnehmen und zur Finanzie-
rung von realwirtschaftlichen Projekten beitragen. Gewinnt sie ein Eigenleben,
droht sie die Realwirtschaft zu schwächen und Marktwirtschaften zu destabili-
sieren. Keynes war überzeugt, dass es staatliche Eingriffe in den Markt braucht,
um Krisen zu vermeiden. Insbesondere die großen Schwankungen auf Finanz-
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märkten müssen durch strenge Regulierung begrenzt werden. Gleichzeitig
kommt dem Staat auch in Wirtschaftsabschwüngen oder Krisen die Rolle des
Stabilisators zu. In Krisenzeiten verlieren Menschen ihren Arbeitsplatz und
Einkommen gehen zurück, wodurch die Nachfrage einbricht und aufgrund des
Multiplikators eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt wird. Der Staat kann diese
Nachfrageeinbrüche durch erhöhte staatliche Investitionen kompensieren.
Diese Strategie der antizyklischen Staatsausgaben (der Staat spart im Wirt-
schaftsaufschwung und investiert im Wirtschaftsabschwung) wird nachfrage-
orientierte Wirtschaftspolitik genannt. Sie ist notwendig für die Stabilisierung
der Wirtschaft. Um diese Art von Politik in der Realität durchzuführen, braucht
es handlungsfähige und gemeinwohlorientierte öffentliche Institutionen, die
verschiedene wirtschaftspolitische Instrumente einsetzen.
Die folgende Tabelle stellt die Perspektive der Neoklassik und des Keynesia-
nismus nochmals gegenüber.

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Tabelle: Neoklassik und Keynes im Vergleich

Neoklassik Keynesianismus
Wirtschaftsweise Marktwirtschaft Gemischte Ökonomie
Menschenbild Mensch als homo oeconomi- Mensch als Kulturwesen mit
cus animal spirits
Menschliches Verhalten Verhalten basiert auf Nut- Verhalten basiert auf Routi-
zenmaximierung nen, Herdentrieb und Faust-
regeln
Akteure der Wirtschaft Individuen bestimmen das Auch Gruppen, Institutionen
Wirtschaftsgeschehen und Staat bestimmen das
Wirtschaftsgeschehen
Eigenschaft des Marktes Gleichgewicht des Marktes Tendenz zu Ungleichgewich-
ten am Markt
Berücksichtigung von Risiko Unsicherheit
Unvorhersehbarem
Steuerung Angebotsorientiert (Löhne als Nachfrageorientiert (Löhne als
Kostenfaktor) Kaufkraft)

Leitbilder zukunftsfähigen Wirtschaftens

Die Denkkollektive der Neoklassik und des Keynesianismus sowie jene Hayeks
und Polanyis beruhen jeweils auf bestimmten Annahmen und Analysen, die zu
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wirtschaftspolitischen Zielen, Bewertungen und Empfehlungen führen. Wir
fassen die oben beschriebenen Denkkollektive, Analysen und Empfehlungen in
vier Leitbildern zusammen. Dies sind Idealtypen, die die Vielzahl an Strategien
und Instrumenten ordnen. Die Leitbilder unterscheiden sich darin, in welchem
Ausmaß und mit welchen Mitteln sie die bevorstehende Transformation ge-
stalten wollen. Sie inspirieren unterschiedliche aktuelle Initiativen und Vor-
schläge für zukunftsfähiges Wirtschaften, die in Teil 3 Wege in die Zukunft
genauer vorgestellt werden.
Das marktliberale Leitbild, das auf den Vorstellungen Hayeks und der Neo-
klassik basiert, sieht im Markt die Institution, die individuelles Handeln und
gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt verbindet. Dies wird mit dem Bild der „un-
sichtbaren Hand“ dargestellt, die – soziologisch gesprochen – ein Beispiel für
Handeln ist, das unbeabsichtigt zu einem gesellschaftlichen Optimum führt. Sie
regelt Angebot und Nachfrage mit Hilfe des Marktmechanismus. So kann das
Verfolgen von Eigeninteressen dem Gemeinwohl besser dienen als jegliche
wirtschaftliche Planung. Der Staat ist ein Zwangsapparat, dessen Einfluss auf
konkretes wirtschaftliches Handeln minimiert werden muss. Freie Marktwirt-
schaft und Freihandel sind die besten Voraussetzungen für zukunftsfähiges
Wirtschaften. Gibt es eine funktionierende Markt- und Eigentumsordnung,
kann darauf vertraut werden, dass die anstehende Transformation spontan mit

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Hilfe von Marktprozessen gelingt. Die Aufgabe marktliberaler Politik besteht


darin, die passenden Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Innerhalb dieses
Leitbilds reicht das Spektrum von libertären Positionen, die Staatseingriffe
minimieren wollen (im Sinne Hayeks) bis hin zu neoklassischen Positionen, die
wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse nutzen, um Marktversagen zu korri-
gieren (zum Beispiel durch eine CO2-Steuer). Marktversagen kann vermieden
werden, wenn ökologische Güter, wie gute Luft- und Wasserqualität einen Preis
erhalten, da knappe Ressourcen und Produktionsfaktoren so optimal eingesetzt
werden. Die damit einhergehende Ausweitung von Märkten kommodifiziert
immer mehr Aspekte des Lebens, die bisher keinen Preis hatten.
Aus der Vorstellung, dass Marktwirtschaften effizienter als andere Wirt-
schaftsordnungen sind, folgen Vorschläge für verantwortungsbewusstes Wirt-
schaften. Für den Nobelpreisträger Milton Friedman besteht unternehmerische
Verantwortung darin, sich als Unternehmen vorrangig um den eigenen Gewinn
zu kümmern. Wettbewerbsfähig zu bleiben sei das wichtigste, was Unterneh-
men für ihre Angestellten, EigentümerInnen und KundInnen leisten können.
Um soziale und ökologische Probleme sollen sich Fachleute, Sozialeinrichtun-
gen, Umweltinitiativen und NGOs kümmern. Dies schließt nicht aus, dass Un-
ternehmerInnen freiwillig aus sozialem Verantwortungsgefühl spenden, doch
die unternehmerische Verantwortung muss sich am Shareholder Value orien-
tieren, also dem Streben, kurzfristig Unternehmenserträge zu maximieren, um
Anteilseigner zufrieden zu stellen. Diese Arbeitsteilung zwischen unternehme-
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rischer, gesamtwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Perspektive ist gegenwär-
tig nur schwer aufrecht zu erhalten. Zu sehr ist Wirtschaften heute mit Gesell-
schaft und biophysischer Umwelt verwoben und in seiner Nachhaltigkeit ge-
fährdet.
Das Leitbild des Wohlfahrtskapitalismus ist durch die historischen Erfah-
rungen des Wohlfahrtskapitalismus (1945 bis ca.1980) geprägt. In dieser ge-
mischten Wirtschaftsordnung spielten Märkte eine wichtige Rolle, doch gab es
andere Institutionen, die Schwächen marktwirtschaftlichen Wirtschaftens
kompensierten. Neben Wirtschaftswachstum und Preisstabilität waren Vollbe-
schäftigung und sozialer Zusammenhalt gleichwertige wirtschaftspolitische
Zielsetzungen. Der demokratisch legitimierte Staat sollte die Wirtschaft im
Sinne des Gemeinwohls regulieren und planen. Die Sozialpartnerschaft zwi-
schen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, wie sie in Österreich bis
heute besonders ausgeprägt ist, institutionalisierte diesen Kompromiss der
Interessen von Kapital und Arbeit, von Unternehmen und Beschäftigten, von
Gewerkschaft und Wirtschaftskammer. Wirtschaftswachstum lieferte die
Grundlage, auf deren Basis Verteilungskonflikte vermieden werden konnten,
indem es einen immer größeren „Kuchen“ zu verteilen gab. Es war dies ein
demokratischer Kompromiss, der den sozialen Frieden sicherte. Basierend auf
diesen historischen Erfahrungen braucht es heute systemische Innovationen,

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die zukünftige Wirtschaftsentwicklung bewusst politisch gestalten. Im Zusam-


menspiel unterschiedlicher Akteure innerhalb dieser Innovationsprozesse
nimmt der Staat die zentrale Rolle ein, gemeinwohlorientierte Politik umzuset-
zen. Hierbei ist Wirtschaftswachstum weiter zentral, um Verteilungskonflikte
zu lösen.
Innerhalb dieses Leitbilds reicht das Spektrum von Keynes, der selbst
grundlegende Wirtschaftsreformen wie eine 15-Stunden Woche (dies schlug er
für das Jahr 2030 vor) oder eine „Sozialisierung der Investitionen“ vorschlug,
bis zu VertreterInnen der neoklassischen Synthese. Auch Polanyis Ideen zur
gemischten Ökonomie und die neoklassische Wohlfahrtsökonomie, die Markt-
versagen mit Hilfe des Verursacherprinzips korrigiert, prägen dieses Leitbild.
Unternehmerische Verantwortung wird weiter definiert als im marktlibera-
len Leitbild. Unternehmen haben auch Verantwortung für ihre Stakeholder, das
sind all diejenigen, mit denen sie interagieren – KonsumentInnen, denen ein
gutes Produkt zu einem fairen Preis geliefert wird; MitarbeiterInnen, die fair
entlohnt werden und gute Arbeitsbedingungen haben; LieferantInnen, die faire
Lieferbedingungen und Preise erhalten sowie die AnrainerInnen, die nicht
unter Umweltverschmutzung, Lärm und verschmutztem Wasser leiden müs-
sen. All diese PartnerInnen braucht ein Unternehmen für seinen langfristigen
Erfolg. Vernachlässigt, belügt oder ignoriert es sein gesellschaftliches und poli-
tisches Umfeld, kann dies betriebswirtschaftliche Folgen haben. Die aktuellen
Turbulenzen, in denen sich lange Zeit erfolgreiche deutsche Firmen heute be-
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finden, zeigen, dass es auch ökonomisch kurzsichtig ist, wenn ökologische und
gesellschaftliche Bedenken weggewischt werden. Die Deutsche Bank hat nach
zahlreichen Korruptionsfällen ein Glaubwürdigkeitsproblem, Volkswagen lei-
det darunter, dass Ingenieure und Manager gelogen haben, was den Schadstoff-
ausstoß ihrer Autos betrifft. Bayer bezahlt hohe Entschädigungen dafür, dass es
bei der Übernahme von Monsanto die Bedenken von UmweltschützerInnen
bezüglich der Krebsgefährdungen durch Glyphosat ignorierte. Unternehmeri-
sche Eigenverantwortung ist begrüßenswert, aber nicht ausreichend. Für ein
funktionierendes Wohlfahrtssystem braucht es Gesetze, damit alle Unterneh-
men gesellschaftliche Verantwortung in ihr Wirtschaftshandeln integrieren.
Regulierung durch Institutionen und Gesetze sind notwendig, damit zukunfts-
fähiges Wirtschaften zur Norm, und nicht nur Ausnahme, unternehmerischen
Handelns wird.
Das wohlfahrtskapitalistische Leitbild wird kritisiert für sein naiv positives
Bild staatlichen Handelns, das Ineffizienzen und staatliche Machtausübung
ignoriert. Auch sicherte das Modell in Zeiten geringer Weltmarktverflechtun-
gen sozialen Zusammenhalt, ging aber aufgrund der massiven Ausweitung der
Produktion und des Massenkonsums auf Kosten der ökologischen Nachhaltig-
keit. Es gibt Zweifel, ob man für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu
Lösungen aus dem 20. zurückgreifen kann.

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Das Leitbild einer sozialökologischen Transformation ergibt sich aus den


großen gegenwärtigen Herausforderungen. Es ist inspiriert von Karl Polanyi,
diversen sozioökonomischen Theorien, der sozialökologischen Transforma-
tionsforschung und teilweise auch Keynes. Es betont zwei Haupthindernisse für
wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit. Einerseits die Verbindung von Wirtschafts-
wachstum und steigendem Ressourcenverbrauch. Andererseits, wie bereits der
Wohlfahrtskapitalismus zeigte, führt die Tendenz zur Kommodifizierung aller
menschlichen Lebensbereiche zu Problemen. Viele Bereiche sind nicht dafür
geeignet, als Ware am Markt gehandelt zu werden. Je mehr eine Gesellschaft
vermarktet ist, desto mehr ist Wohlbefinden von Einkommen und Konsum
abhängig. Dies ist ökologisch nicht nachhaltig. Deshalb braucht es eine grund-
legende Transformation, die neue Wege hin zu einer nachhaltigen und gerech-
ten Wirtschaftsweise beschreitet. Es geht um Widerstand gegen Fehlentwick-
lungen (z. B. Braunkohlebergbau) und neue Formen zukunftsfähigen Wirt-
schaftens wie die Commons Bewegung, social entrepreneurs oder Genossen-
schaften. Die Ausrichtung auf materiellen Wohlstand, hohen Ressourcenver-
brauch und Konsum muss durch den Fokus auf Wohlbefinden ersetzt werden.
Innerhalb dieses Leitbilds reicht das Spektrum von pragmatischen bis zu ra-
dikalen Vorstellungen einer sozialökologischen Transformation. Eine pragmati-
sche Position ist zum Beispiel jene des deutschen Wissenschaftlichen Beirats der
Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), der einen neuen
Weltgesellschaftsvertrag für eine nachhaltige Weltwirtschaftsordnung vor-
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schlägt. Dieser Ansatz ökologischer Modernisierung verbindet soziale mit sys-
temischen Innovationen. Ein starker gemeinwirtschaftlicher Sektor, eine gute
öffentliche Technologie- und Innovationspolitik sowie öffentliche Infrastruktu-
ren schaffen Möglichkeiten für eine Transformation by design. Doch bleibt
Wirtschaftswachstum wichtig, um Verteilungskonflikte zu lösen. Wohl aber
gebe es Lösungen, um gleichermaßen wirtschaftliche, soziale und ökologische
Nachhaltigkeit zu erreichen: Wirtschaftswachstum muss vom Ressourcen- und
Energieverbrauch entkoppelt werden. Radikale VertreterInnen einer sozial-
ökologischen Transformation sind zum Beispiel Clive Spash, Giorgos Kallis
und Joan Martinez-Alier (vgl. Degrowth in Teil 3 Sozialökologische Transfor-
mationsstrategien) oder Ulrich Brand und Markus Wissen (vgl. Kritik der
imperialen Lebensweise in Teil 2 Der Ökologische Fußabdruck). Sie fordern eine
Abkehr vom Wachstumszwang, denn Wirtschaftswachstum und ökologische
Nachhaltigkeit seien unvereinbar. Dieser Ansatz ist explizit normativ, eine Vi-
sion, die in der Realität (noch) nicht stattgefunden hat. Mit sozialen Innovatio-
nen wird Neues ausprobiert. Diese Ansätze sind auch politisch und setzen auf
soziale Bewegungen – wie Fridays for Future –, um Druck „von unten“, aus der
Zivilgesellschaft kommend, aufzubauen und so systemische Veränderungen
einzuleiten.

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Die folgende Tabelle stellt die vier zentralen Leitbilder zukunftsfähigen


Wirtschaftens nochmals gegenüber.

Tabelle: Drei Leitbilder zukunftsfähigem Wirtschaftens im Vergleich

Marktliberales Leitbild des Leitbild einer Leitbild einer


Leitbild Wohlfahrtskapi- pragmatischen radikalen sozial-
talismus sozialökologi- ökologischen
schen Transfor- Transformation
mation
Inspirie- Hayek und Keynes, teilweise Polanyi, Keynes, Polanyi, Sozioöko-
rende Neoklassik auch Polanyi und Sozioökonomik, nomik, sozialökolo-
Denkkollek- Neoklassik sozialökologische gische Transforma-
tive Transforma- tionsforschung,
tionsforschung, teilweise ökologi-
Umweltökonomik, sche Ökonomik
teilweise ökologi-
sche Ökonomik
Ziele Marktordnung Gemischte Wirt- Wirtschafts- Abkehr von Wachs-
sichern; Wett- schaftsordnung wachstum von tumszwang; Expe-
bewerbsfähig- schaffen; Wachs- steigendem Res- rimente mit sozioö-
keit, Wachs- tum, Preisstabili- sourcenverbrauch kologischen Alter-
tum und Preis- tät, Vollbeschäf- entkoppeln nativen
stabilität tigung und so-
zialer
Zusammenhalt

- orderid
Kommodi-
fizierung
- cma57090050
Ja Teilweise - transid
Teilweise - cma57090050
Nein -
Transforma- Spontane Transformation Transformation by Soziale Innovatio-
tion und Transforma- by design durch design; soziale nen mit dem Ziel
Innovation tion systemische Innovationen systemischer
Innovationen Veränderung
Unterneh- Gewinnmaxi- Verantwortung Unternehmeri- Unternehmerische,
merische mierung; gegenüber allen sche, gesell- gesellschaftliche
Verantwor- Shareholder Stakeholdern schaftliche und und ökologische
tung Value ökologische Verantwortung
Verantwortung integrieren
integrieren

Sozioökonomik

Wir haben in diesem einleitenden Teil diverse Perspektiven, Denkkollektive


und Leitbilder beschrieben. Doch auch wir schreiben dieses Buch nicht im
luftleeren Raum. Unseren Ausführungen liegen Theorien und Werturteile
zugrunde. Auch sie sind von Denkkollektiven beeinflusst. Wir sind Teil des
Departments für Sozioökonomie der Wirtschaftsuniversität Wien. Dieses bietet
im Grundstudium Sozial- und Wirtschaftswissenschaften eine Lehrveranstal-

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tung „Zukunftsfähiges Wirtschaften“ an, in der Grundwissen der Sozioökono-


mik vermittelt wird. Wirtschaft wird demnach zusammen mit Gesellschaft und
Umwelt analysiert.
Auch die Sozioökonomik bildet ein Denkkollektiv. Ihr Anspruch ist es, Ori-
entierung zu bieten angesichts komplexer ökonomischer und gesellschaftlicher
Prozesse. Deshalb verbindet sie ökonomisches Wissen mit anderen Sozialwis-
senschaften. Die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen, ist eine
ihrer Kernkompetenzen. Jedes Phänomen, wie zum Beispiel die Wiener Börse,
und jedes Problem, wie zum Beispiel der steigende Meeresspiegel, haben ver-
schiedene Aspekte, die erst mit Hilfe verschiedener Perspektiven in ihrer Kom-
plexität erfasst werden können. Fehlt die ökonomische Perspektive, mangelt es
der Analyse von Finanzmärkten an Wissen über Preise und deren Schwankun-
gen. Fehlt die soziologische Perspektive, könnte der Eindruck entstehen, die
Märkte wären Akteure und nicht Orte, an denen Menschen mit eigenen Inte-
ressen, Ressourcen und Einfluss handeln. Die ungleiche Verteilung von Macht
und Chancen bliebe dann ausgeblendet. Fehlt die Perspektive von Betroffenen
von den Auswirkungen von Finanzkrisen (z. B. delogierte Familien, Menschen
im Globalen Süden, die durch Spekulationen auf Rohstoffbörsen betroffen
sind) werden die sozialen und ökologischen Kosten vermeintlich effizienten
wirtschaftlichen Handelns unterschätzt. Sozioökonomik hilft, diese verschiede-
nen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Damit behandelt sie unter anderem
Megatrends wie den demographischen Wandel, Migration und die Klimakrise.
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Derartig komplizierte Probleme ermöglichen keine einfachen Lösungen. Oft-
mals sind selbst die Problemdefinitionen umstritten. Daher arbeitet die Sozioö-
konomik interdisziplinär, das heißt sie forscht mit Hilfe verschiedener Diszipli-
nen. Werden darüber hinaus auch PraxispartnerInnen wie Fachleute aus der
Verwaltung, aus Unternehmen, aus der Politik oder Betroffene eingebunden,
nennt man das Transdisziplinarität.
In der Sozioökonomik sind Probleme selten im Vorhinein definiert. Pro-
blematisierung, das heißt die Identifizierung tieferliegender Ursachen, ermög-
licht eine Herangehensweise, die Möglichkeiten (Potentiale) identifiziert. So
können Krisen auch zu Chancen werden, Neues zu wagen. Lebendige Demo-
kratien sowie kritische Wissenschaften leben vom Dialog verschiedener Per-
spektiven. Eine starke Demokratie und eine lebendige Wissenschaft brauchen
Debatten, in die verschiedene Perspektiven einfließen. Transformative For-
schung beruht auf starken Theorie-Praxis-Kooperationen und versucht, Verän-
derungen nicht nur zu verstehen, sondern auch zu gestalten. Die Fähigkeit,
Probleme zu lösen, ist daher eine entscheidende Kompetenz (vgl. Zukunftsfä-
higkeit). Die Relevanz der Forschung wird zu einem wichtigen Kriterium für
deren Exzellenz.
So geht es in der Sozioökonomik, soweit sie von Karl Polanyi inspiriert ist,
um das Kernproblem, die Lebensgrundlagen durch geeignete Institutionen zu

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organisieren. Demnach beschäftigt sich Sozioökonomik nicht nur mit Markt-


wirtschaften, sondern untersucht das politökonomische System in seiner Ge-
samtheit. Teil dessen sind die Analyse der Modernisierung und der damit ver-
bundenen zunehmend arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. Zentral ist auch
die Analyse des Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der
Märkte eine zentrale Rolle spielen. Doch werden Märkte in der Sozioökonomik
immer als eingebettet betrachtet. Die Märkte, die von Marktliberalen als „freie“
Märkte bezeichnet werden, bezeichnen SozioökonomInnen als marktliberal
organisierte Märkte, da jeder Markt immer in konkreten gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen operiert und politisch geschaffen ist. Damit kann ein
Markt nicht freier oder weniger frei sein, sondern nur auf verschiedene Art und
Weise eingebettet und reguliert. Herausragende WissenschaftlerInnen, ange-
fangen von Marx über Max Weber bis hin zu Schumpeter teilten, bei all ihren
Unterschieden, eine ähnliche Herangehensweise und diverse Einschätzungen.
Für die Analyse des Übergangs weg von einer wachstumsfixierten Wirtschafts-
weise ist die Analyse von Marx von besonderer Bedeutung, da er den dem Ka-
pitalismus innewohnenden Wachstumszwang erklärt. Dieser zwingt, laut Marx,
das einzelne Unternehmen, ständig zu wachsen, Marktanteile zu gewinnen und
zu innovieren. Tut es dies nämlich nicht, droht ihm die Verdrängung vom
Markt durch KonkurrentInnen, die billiger, besser und schneller produzieren.
Da der Wachstumszwang systemisch ist, kann er auch nicht durch wohlmei-
nendes Handeln einzelner Unternehmen abgeschafft werden. Es braucht struk-
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turelle Lösungen, systemische Innovationen, die ein Wirtschaften auch ohne
Fixierung auf Wachstum ermöglichen.
Sozioökonomik unterscheidet sich mit ihrem weiteren Blick gleichermaßen
von Neoklassik und Keynesianismus. Die neoklassisch inspirierte Mikroöko-
nomik untersucht AkteurInnen, wie Firmen und Haushalte, und studiert deren
Verhalten und Entscheidungen. Die keynesianisch und teilweise auch neoklas-
sisch inspirierte Makroökonomik hingegen beschäftigt sich mit gesamtwirt-
schaftlichen Aggregaten wie Beschäftigung, Wachstum und Inflation. Mikro-
und makroökonomische Analysen werden in der Sozioökonomik durch eine
Mesoanalyse ergänzt, die sich mit Institutionen beschäftigt. Institutionen be-
schreiben Regelmäßigkeiten menschlichen Verhaltens, die auf Routinen, Nor-
men und Gesetzen beruhen, die menschliches Verhalten beeinflussen, oftmals
auch unbewusst. Daher strukturieren sie zum Beispiel Geschlechterverhältnisse.
Vorurteile und Stereotype über Männer und Frauen sowie über das, was als
„normal“ angesehen wird, strukturieren auch die Funktionsweise von Arbeits-
märkten ebenso wie Arbeits- und Sozialgesetze. Spitzenpositionen sind bei-
spielsweise weiterhin vorwiegend Männern vorbehalten.
In Zeiten des Umbruchs stellt sich die Frage, wohin sich die Welt entwi-
ckeln wird und soll. Es geht auch um Visionen und Zukunftsträume. Die Sozi-
oökonomik definiert Vernunft weiter als Effizienz. Effizienz – also ein größt-

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möglicher Output bei gegeben Mitteleinsatz oder ein kleinstmöglicher Mit-


teleinsatz bei gegebenem Output – ist ein wichtiger Aspekt vernünftigen wirt-
schaftlichen Handelns. Optimierung hilft, sparsam mit Ressourcen umzugehen
und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz. Doch Vernunft
problematisiert darüber hinaus das Wohin des Wirtschaftens, dessen Zweck. Ist
mehr, schneller und höher immer vernünftig? So kann sich die Frage aufdrän-
gen, warum in den reichen, hochtechnologisierten Ländern Mitteleuropas das
Leben der Einzelnen nach wie vor durch Berufsarbeit, Leistungswettbewerb
und Statuskonkurrenz bestimmt ist. Gibt es dazu keine Alternativen, wie Hayek
meint? Sieht ein gelungenes Leben nicht anders aus? Zukunftsfähigkeit bedeutet
daher, Bestehendes in Frage zu stellen, kritisch zu denken, neugierig und offen
zu sein. Zukunftsfähigkeit ist die Kunst des Abwägens und die Fähigkeit, ver-
antwortungsbewusst zu entscheiden und zu handeln, um Probleme zu lösen.
Dies zu lernen ist nicht einfach und bedarf der Übung. Dieses Buch soll dabei
unterstützen, sich Orientierung in einer komplexen, widersprüchlichen Welt zu
verschaffen und darauf aufbauend selbstbestimmte, fundierte zukunftsfähige
Entscheidungen zu treffen.

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Teil 2: Die Welt im Umbruch –


eine Vielfachkrise

Nichts ist so beständig wie der Wandel.


Heraklit von Ephesus (griechischer Philosoph, 520–460 v. Chr.)

Die derzeitige Wirtschaftsweise führt zu großen Herausforderungen, die sich in


verschiedenen Krisen manifestieren. Krisen sind Schocks wie der Ölpreisschock
1973, Katastrophen wie Tsunamis oder Überschwemmungen, manchmal auch
Ausnahmezustände, wie die Bankenkrise im Herbst 2008 oder die großen
Fluchtbewegungen 2015. Auf Krisen können neue Stabilitätsphasen folgen.
Wirtschaft und Gesellschaft kehren dann entweder zur „Normalität“ von vor
der Krise zurück, oder es kommt zu einem Systemwechsel, wie beispielsweise
nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Bei den aktuellen Krisen wird von
einer Vielfachkrise gesprochen, weil sie die Arbeits- und Lebenswelt der Men-
schen in vielfältiger Weise berühren sowie miteinander verwoben sind. Sie
haben zum Teil gemeinsame Ursachen, und es bestehen Zielkonflikte zwischen
ihren einzelnen Dimensionen. Im Folgenden werden vier Aspekte der Vielfach-
krise – Umwelt, Wirtschaft, Globalisierung sowie Gesellschaft – einzeln unter-
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sucht. Gleichzeitig werden bestehende systemische Verbindungen herausgear-
beitet. Ziel dieses zweiten Teils ist die Vermittlung von Orientierungswissen
mit Hilfe wissenschaftlicher Expertise aus verschiedenen natur- und sozialwis-
senschaftlichen Disziplinen. Zahlreiche empirische Forschungsergebnisse sowie
unterschiedliche theoretische Erklärungen helfen, das große Ganze nicht aus
den Augen zu verlieren und wichtige Zusammenhänge zu verstehen.

Umwelt im Umbruch
Die Umweltbewegung und die Umweltforschung weisen seit den 1970er Jahren
auf die zunehmenden ökologischen Probleme hin, die durch die industrielle
Produktionsweise und das westliche Zivilisationsmodell hervorgerufen werden.
Im Folgenden werden (1) vielfältige ökologische Krisen kurz dargestellt, (2) die
aktuelle Klimakrise hingegen ausführlicher. Dies deshalb, weil sie zu Recht im
Zentrum der Debatte um Zukunftsfähigkeit steht. (3) Das Erfolgsmodell des
Westens, das Wohlstand für viele gebracht hat, stößt heute an seine Grenzen.
Dies wird in der Umweltforschung mittels des Konzepts der planetarischen
Grenzen diskutiert. (4) Eine Form die Übernutzung der Ressourcen des Plane-
ten darzustellen ist der ökologische Fußabdruck. (5) Das Kapitel endet mit der

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Beschreibung des Wachstumszwangs im derzeitigen Wirtschaftssystem und


den damit verbundenen Konsequenzen.

Vielfältige ökologische Krisen

Im Kapitalismus ging ein einzigartiger Schub an individualisiertem Freiheits-


und Wohlstandsgewinn einher mit einer bis dahin unbekannten Ausbeutung
von Natur und Mensch. Die Industrielle Revolution entstand im Gefolge einer
grundlegenden Transformation: eine einzigartig produktive Produktionsweise
und massive Steigerungen des materiellen Wohlstandes wurden durch eine
ebenso massive Zunahme des Verbrauchs von natürlichen Ressourcen und
ausgestoßenen Emissionen ermöglicht. Sozioökonomisches Wachstum ging
mit der Beschleunigung biophysischer Trends einher. Diese Beschreibung ex-
ponentieller Wachstumsdynamiken (vgl. Box Exponentielles Wachstum) wird
„die große Beschleunigung“ genannt. Die Grafik Die große Beschleunigung zeigt
beispielhaft einige wichtige biophysische sowie sozioökonomische Indikatoren,
die alle mit der Industriellen Revolution zu steigen beginnen. Ab der Mitte des
20. Jahrhunderts wird die Tendenz zu exponentiellem Wachstum offensicht-
lich.

Box: Exponentielles Wachstum


Exponentielles Wachstum beschreibt einen Prozess, bei dem sich die Bestandsgröße in
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jeweils gleichen Zeitschritten immer um denselben Faktor verändert. Stellen Sie sich vor,
ein Unternehmen hat einen Umsatz von einer Million Euro und wächst jährlich um 15%.
Während sich bei linearem Wachstum die Bestandsgröße, von welcher das Wachstum
berechnet wird, nicht verändert (sie bleibt immer 1 Million Euro), vergrößert sich diese bei
exponentiellem Wachstum jährlich. Je länger die Zeitreihen fortgesetzt werden, desto mehr
unterscheiden sich die Werte. So beträgt der Wert nach 50 Jahren bei linearem Wachstum
8,5 Millionen Euro und bei exponentiellem 1,08 Milliarden Euro. Nach 100 Jahren steht ein
Mittelbetrieb mit 16 Millionen Euro Umsatz einem zum Großbetrieb gewachsenen Unter-
nehmen mit 1,17 Billionen Umsatz Euro gegenüber.
Umsatz bei linearem Umsatz bei exponentiellem
Wachstum (in Euro) Wachstum (in Euro)
Ausgangswert 1.000.000 1.000.000
Nach einem Jahr 1.150.000 1.150.000
Nach zwei Jahren 1.300.000 1.322.500
Nach drei Jahren 1.450.000 1.520.875
Nach fünfzig Jahren 8.500.000 1.083.657.442
Nach hundert Jahren 16.000.000 1.174.313.450.700
Ein bekanntes Beispiel für exponentielles Wachstum in biophysikalischen Prozessen ist die
Ausbreitung von Seerosen. Wenn es auf einem Teich in einer Woche 10 und in der nächs-
ten 20 Seerosen gibt, dann gehen viele intuitiv davon aus, dass es eine Woche später 30,
dann 40 und dann 50 sein werden. Das ist die lineare, Menschen vertraute Sicht der Welt.
Tatsächlich werden es aber 40 sein, dann 80 und dann 160. In der Woche bevor der Teich
gänzlich mit Seerosen bedeckt ist, haben sich diese erst über den halben Teich erstreckt.

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Grafik: Die große Beschleunigung

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nach Steffen, W., Broadgate, W., Deutsch, L., Gaffney, O., & Ludwig, C. (2015).
(Datenbasis: Global IGBP Change – International Geosphere-Biosphere Programme, 2015)

Weil der Mensch geologische, biologische und atmosphärische Prozesse ent-


scheidend beeinflusst, sprechen GeologInnen von einem neuen Erdzeitalter: auf
das Holozän folgt das Anthropozän (anthropos bedeutet auf Altgriechisch
Mensch). Auch wenn viele zukünftige Auswirkungen dieses drastischen
menschlichen Einflusses auf unseren Planeten noch ungewiss sind, zeichnen
sich ökologische Krisen wie Klimawandel, Artensterben, Übernutzung natürli-
cher Ressourcen und diverse Schadstoffbelastungen bereits heute deutlich ab.
So beschleunigt die gegenwärtig steigende Konzentration von Luftschad-
stoffen nicht nur den Klimawandel, sie ist auch krebserregend. Die mit Abstand
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gravierendsten Folgen hat die Luftverschmutzung durch Industrie- und Auto-
abgase, durch Feinstaub und das Heizen und Kochen mit Holz oder Kohle.
Auch in Europa ist Luftverschmutzung das größte umweltbezogene Gesund-
heitsrisiko und führt zu Herzerkrankungen und Schlaganfällen, gefolgt von
Lungenerkrankungen und Lungenkrebs. Schadstoffe in Luft, Wasser und Bo-
den verursachen weltweit neun Millionen Todesfälle, und damit dreimal so
viele wie Aids, Tuberkulose und Malaria zusammen. Die Zahl der Terroropfer,
die medial großes Aufsehen erregt, bewegt sich demgegenüber auf einem ver-
schwindend geringen Niveau. 2017 starben bei Anschlägen 18.814 Menschen
weltweit, in Europa 81.
Auch die Artenvielfalt schrumpft, wie der Biodiversitätsbericht des Weltbi-
odiversitätsrats (IPBES) feststellt, in erschreckender Geschwindigkeit: Weltweit
sind ein Achtel unserer Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht.
Schon heute existieren rund 20 Prozent weniger Spezies als zu Beginn des 20.
Jahrhunderts. Mehr als ein Drittel aller marinen Säugetierspezies, 40 Prozent
aller Amphibienarten und ungefähr 33 Prozent der riffbildenden Korallen sind
bedroht und bis 2016 sind mehr als neun Prozent der für die Viehwirtschaft
genutzten Säugetierrassen verschwunden. Insbesondere die industrielle Land-
wirtschaft trägt durch Rodungen, Pestizid- und Maschineneinsatz in einem
historisch nicht bekannten Ausmaß zum Artensterben bei.

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Die Klimakrise

Menschliche Zivilisationen benötigen ein lebensfreundliches Klima, welches in


den vergangenen 11.700 Jahren durch das Holozän (das Nacheiszeitalter, also
der gegenwärtige Zeitabschnitt der Erdgeschichte) gegeben war. Dieses lebens-
freundliche Klima ist durch das vorherrschende ressourcenintensive Wirt-
schaftsmodell gefährdet. Dessen Probleme sind nicht Folge eines Scheiterns,
sondern unbeabsichtigte Konsequenzen der Erfolgsgeschichte kapitalistischer
Marktwirtschaften. Diese haben, ausgehend von Europa, zwei Jahrhunderte
lang Wohlstand, soziale Errungenschaften und kulturelle Emanzipation für
immer größere Teile der Menschheit gebracht. Um diese Entwicklungen zu
beschreiben, kommt man an Superlativen nicht vorbei. Stagnierte das Pro-
Kopf-Einkommen weltweit bis 1700 weitgehend, kam es danach zu einem ex-
ponentiellen Wachstum der Wirtschaftsleistung, der Bevölkerung und des Res-
sourcenverbrauchs (vgl. Tabelle Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate seit
der Industriellen Revolution weltweit).

Tabelle: Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate seit der Industriellen Revolution


weltweit

Jahr Weltproduktion (%) Weltbevölkerung (%) Pro-Kopf Out-


put (%)
0–1700 0.1 0.1 0.0
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1700–2012 1.6
-
0.8
transid - cma57090050
0.8
-
1700–1820 0.5 0.4 0.1
1820–1913 1.5 0.6 0.9
1913–2012 3.0 1.4 1.6
(Piketty, 2014)

Die Schattenseiten dieser Erfolgsgeschichte werden zunehmend offensichtlich.


In den letzten 30 Jahren haben Eisschilde an Masse verloren, Gletscher sind
geschrumpft oder, wie in Island, verschwunden, Ozeane wurden wärmer und
der Meeresspiegel ist gestiegen. Mit einem Großteil dieser Veränderungen wird
die Menschheit zum ersten Mal konfrontiert.
Die Klimakrise hängt damit zusammen, dass das Energiesystem, die Ver-
kehrsinfrastruktur und die industrielle Landwirtschaft auf fossile Energieträger,
wie Öl, Gas und Kohle basieren. Die dadurch verursachten Treibhausgase sind
die zentrale Ursache des sogenannten Treibhauseffekts. Beim Abbau und der
Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen werden Treibhausgase, insbeson-
dere Kohlendioxid (CO2) und Stickstoffoxide (wie Lachgas), freigesetzt. Diese
verhindern, dass die Sonnenwärme, die durch Sonnenstrahlung in die Erd-
atmosphäre gelangt, wieder aus ihr entweicht. Heute ist die Konzentration der
Treibhausgase in der Erdatmosphäre die höchste in den letzten 800.000 Jahren.

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Die Folge ist ein Temperaturanstieg, welcher im globalen Durchschnitt seit der
Zeit vor der Industriellen Revolution bereits mehr als ein Grad Celsius beträgt.
Das verändert unter anderem auch den Wasserzyklus radikal. Die Erdatmos-
phäre nimmt in kürzeren Zeiträumen mehr Wasser auf, Niederschläge werden
unregelmäßiger und heftiger. Überflutungen und längere Trockenperioden,
Schneechaos, Waldbrände, Hurrikans und andere Wetterextreme sind bereits
beobachtbare Folgen. Die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik
(ZAMG) maß auf der Wiener Messstation der Hohen Warte in den 1980er
Jahren insgesamt 102 Hitzetage. In den 1990er Jahren waren es 152, von 2000
bis 2010 192 und von 2010 bis 2019 bereits 277.
Das Zwei-Grad-Ziel ist in der Klimapolitik zu einem zentralen, weltweit ak-
zeptierten Ziel geworden, das auf mehreren Konferenzen beschlossen wurde. Es
findet sich auch im Übereinkommen von Paris, das auf der Klimaschutzkonfe-
renz COP21 im Jahr 2015 von den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen
(UNO) ratifiziert wurde: Der Anstieg der globalen Mitteltemperatur gegenüber
der vorindustriellen Zeit sollte „deutlich unter 2 Grad Celsius“ gehalten werden,
1,5 Grad werden angepeilt. Bei Nicht-Einhaltung dieses Ziels drohen unvorher-
sehbare Konsequenzen wie das Überschreiten von Kipppunkten. Diese be-
schreiben Schwell- oder Grenzwerte, bei deren Überschreiten abrupte, oft un-
vorhersehbare und miteinander verbundene, sich gegenseitig verstärkende
biophysische Veränderungen eintreten. So führt die Erderwärmung beispiels-
weise zum Auftauen des Permafrosts in der Arktis, welcher organische Sub-
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stanzen enthält. Das Auftauen ermöglicht die Zersetzung von Bakterien, die
Methan als Nebenprodukt der anaeroben Atmung freisetzen. Durch diese Frei-
setzung großer Mengen von Methan wird die globale Erwärmung weiter be-
schleunigt. Das Überschreiten von Kipppunkten in der Arktis beeinflusst in
Folge des verstärkten Temperaturanstiegs auch Kipppunkte in anderen Weltre-
gionen.
So verweist der IPCC-Bericht darauf, dass der Wasserdampf in der Luft, die
Wärme in der Atmosphäre einfängt. Die Wanderung tropischer Wolken in
Richtung der Pole führt zu einem Verlust von Polareis, was den Prozess der
Erderwärmung verstärkt. Da die Eiskappen als Reflektoren wirken, die die Son-
nenstrahlen zurück in den Weltraum leiten, geht durch ihr Abschmelzen eine
Kühlfunktion verloren. Ferner bringt das Abschmelzen des Eises dunkles Was-
ser an die Oberfläche, welches mehr Wärme aufnimmt, eine stärkere Erwär-
mung auslöst und den Schmelzprozess wiederum beschleunigt. Schließlich
führt das Schmelzen von Landeis, wie in Grönland und weiten Teilen der Ant-
arktis, dazu, dass Wasser in das darunterliegende Land sickert, was den Zu-
sammenbruch von Gletschern beschleunigt. Die Konsequenz: die Erderwär-
mung beschleunigt sich weiter, was den oben beschriebenen Prozess verstärkt.
Gleichzeitig führt die Erwärmung und Versauerung der Ozeane zu einem
Absterben von CO2-fressendem und sauerstoffproduzierendem Meeresplank-

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ton. Die Konsequenz: die CO2-Konzentration und damit die Erderwärmung


steigt noch schneller an und die Meeresfischpopulationen, die sich von diesem
Plankton ernähren, sinken rasant. Doch das sauerstoffproduzierende Plankton
ist für ein gemäßigtes, für menschliche Lebensgrundlagen notwendiges Klima
von entscheidender Bedeutung: Es produziert 50 Prozent bis 80 Prozent der
gesamten Sauerstoffversorgung der Welt. Weiters beeinflusst das Schmelzen
des arktischen Eises Meeresströmungen wie den Golfstrom, die unser Wetter
und unsere Jahreszeiten stabilisieren, wodurch es zu radikalen und ungewöhn-
lichen Hitze- und Kälteperioden kommen kann. Diese können nicht nur die
Nahrungsmittelerträge verringern und zu mehr Ernteausfällen führen. Hitze
und Dürre befördern auch Waldbrände, was wiederum den Verlust von CO2-
speichernden Wäldern bedeutet. Selbst bei zwei Grad Erwärmung sind somit
massive biophysische Veränderungen mit teilweise unvorhersehbaren Folgen
wahrscheinlich.
Doch ohne Trendwende in der Organisation von Wirtschaft und Gesell-
schaft ist sogar das Erreichen dieses Zwei-Grad-Ziels unwahrscheinlich. So ist
beispielsweise die globale Energienachfrage von 10.035 Mtoe (Millionen Ton-
nen) Öläquivalent im Jahr 2000 weiter auf 14.050 Mtoe im Jahr 2017 gestiegen,
also um mehr als 40 Prozent. Davon wird 81 Prozent weiterhin durch fossile
Energieträger gedeckt. 2017 stiegen die globalen energiebezogenen CO2-Emis-
sionen erneut um 1,4 Prozent. Dies entspricht den Emissionen von 170 Millio-
nen zusätzlichen Autos. Weiterhin dominieren die fossilen Industrien die
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Weltwirtschaft: Acht der weltweit zehn größten Unternehmen waren 2018 aus
der Öl-, Automobil- und Energiebranche. Diese Unternehmen bilden zusam-
men mit nahestehenden PolitikerInnen, Gewerkschaften und Medien einen
einflussreichen fossilen Machtblock, der den Status Quo verteidigt.
Die Ölpreise, Indikatoren für Knappheit, haben sich durch immer riskan-
tere Explorationsmethoden (z. B. Fracking, Tiefseebohrungen) nicht erhöht.
Das deutsche „Exportwunder“ basiert weiterhin wesentlich auf Autos und
LKWs, die mit Verbrennungsmotoren angetrieben werden. Die Kohle-, Öl-
und Automobilindustrie verteidigt ihr Eigentum (an Ressourcen unter der
Erde) und ihre Märkte (für motorisierten Individualverkehr und „billige“ Ener-
gie) bisher erfolgreich. Zusätzlich erhöhen Bevölkerungs- und Wirtschafts-
wachstum, aber auch der Klimawandel selbst die Energienachfrage. Alleine
durch den vermehrten Einsatz von Klimaanlagen könnte die Energienachfrage
bis 2050 um 25 bis 58 Prozent steigen. Derartige Selbstverstärkungseffekte ver-
schärfen das Problem.
Um die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, dürfte die CO2-Kon-
zentration in der Atmosphäre 450 ppm (parts-per-million, 10-6) nicht über-
schreiten. Gemäß dem Fünften Sachstandsbericht des IPCC dürfen weltweit
insgesamt maximal 2.900 Gt (Gigatonnen = Milliarden Tonnen) CO2 emittiert
werden, um die Erderwärmung auf zwei Grad zu beschränken. Daraus ergeben

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sich nationale und globale CO2-Budgets, die die Menge an CO2-Emissionen


festlegen, die höchstens noch ausgestoßen werden könnten. Da vom globalen
Budget bereits 1.900 Gt emittiert sind, beschränkt sich die verbleibende Auf-
nahmekapazität auf 1.000 Gt CO2. Diesem Modell folgend müssen bis 2050 die
Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 2010 um 40 Prozent bis 70 Prozent
gesenkt werden und 2100 bei null liegen. Schon Mitte dieses Jahrhunderts
müsste die Energieversorgung gänzlich auf fossile Brennstoffe verzichten. Mit
dem Übereinkommen von Paris akzeptierten die unterzeichnenden National-
staaten nationale CO2-Budgets. Um diese einzuhalten, müssten in Europa ein
großer Teil der heute bekannten Reserven fossiler Brennstoffe – nämlich 21
Prozent der Öl-, sechs Prozent der natürlichen Gas- und 89 Prozent der Kohle-
reserven – unter der Erde bleiben, das heißt niemals verwendet werden.
Gelingt diese Trendwende nicht, werden Teile der Erde für Menschen noch
in diesem Jahrhundert unbewohnbar. Daher gehen mit klimatischen Extrem-
situationen große Fluchtbewegungen einher. So gingen den jüngsten politi-
schen Unruhen im Nahen Osten Dürreperioden und Wasserknappheit voraus.
Laut Weltbank könnten bis 2050 mehr als 140 Millionen Menschen aufgrund
klimatischer Veränderungen zur Flucht gezwungen werden. Von diesen Kli-
maflüchtlingen kommen voraussichtlich 86 Millionen aus der Subsahara-Re-
gion Afrikas, 40 Millionen aus Südasien und 17 Millionen aus Lateinamerika.
Trotzdem werden Klimakrisen nicht als Fluchtgrund anerkannt, der die Ge-
währung von Asyl rechtfertigt.
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Planetarische Grenzen

1972 veröffentlichte der Club of Rome die einflussreiche Studie „Die Grenzen
des Wachstums“ und stieß damit die umweltpolitische Debatte an. Auch wenn
die prognostizierten Entwicklungen so nicht eintraten, festigte sich eine ökolo-
gische Perspektive, die grenzenloses Wachstum problematisiert. Besonders die
Klimaforschung zeigte, dass das Überschreiten bestimmter Grenzen unvorher-
sehbare Auswirkungen hat. Das naturwissenschaftliche Konzept der planetari-
schen Grenzen beschreibt neben der Klimaveränderung auch andere Belas-
tungsgrenzen des Erdsystems. Damit der Planet Erde weiterhin gute Bedingun-
gen für menschliches Leben bieten kann, müssen diese eingehalten werden.
Berücksichtigt werden dabei neun biophysische Prozesse von Klimawandel bis
Süßwassernutzung, die miteinander in Wechselwirkung stehen (vgl. Grafik
Planetarische Grenzen für relevante Subsysteme). Für jeden Prozess wird ein
„sicherer Handlungsraum für die Menschheit“ festgelegt, der durch Kipp-
punkte begrenzt ist. Werden Kipppunkte überschritten können bis dahin statt-
gefundene Entwicklungen entweder abbrechen, die Richtung wechseln oder
sich plötzlich stark beschleunigen. Zumeist ist dies irreversibel. Ein regional

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beschränktes Beispiel ist die Ausrottung vieler großer Säugetiere am Ende der
letzten Eiszeit infolge menschlicher Einwanderung auf dem amerikanischen
Kontinent. Der mit Kipppunkten einhergehende Stabilitätsverlust lief historisch
oft chaotisch ab und gefährdet menschliche Zivilisationen. Mit der Klimakrise
bekommt dieses Konzept besondere Brisanz, weil lokale Prozesse planetarische
Auswirkungen haben können.
Da Kipppunkte im Vorhinein nicht eindeutig bestimmt werden können,
werden mit Hilfe von ExpertInnen Grenzwerte politisch festgelegt. Angesichts
der großen Unsicherheit werden große Sicherheitsabstände zu den Kipppunk-
ten angenommen. Das Vorsorgeprinzip wird angewendet, denn mögliche
Schäden für Mensch und Umwelt sollen möglichst im Vorhinein vermieden
oder verringert werden. Das Konzept der planetarischen Grenzen basiert auf
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, ist aber ausdrücklich normativ, das
heißt wertebasiert. Das Konzept soll das Bewusstsein von Entscheidungsträger-
Innen und Öffentlichkeit wecken und motivieren, auch nicht exakt vorherseh-
bare, aber wahrscheinlich desaströse Konsequenzen möglichst frühzeitig zu
bekämpfen. Als normatives Konzept gibt es Orientierung und unterstützt ver-
antwortungsbewusste Entscheidungen.

Grafik: Planetarische Grenzen für relevante Subsysteme

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(Steffen at al., 2015; Abbildung von: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare
Sicherheit)

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In der obigen Grafik zu planetarischen Grenzen zeigen die am hellsten gefärb-


ten Bereiche bis zum inneren dick umrahmten Kreis, wo die planetarischen
Grenzen noch nicht überschritten werden. Zum Beispiel befindet sich die
Menschheit bezüglich Süßwassernutzung derzeit im „sicheren Handlungsspiel-
raum“. Der nächste dick umrahmte Kreis gibt die Grenze für erhöhte Un-
sicherheit an. So wurden bezüglich Landnutzungswechsel und Klimawandel die
Grenzwerte des „sicheren Handlungsspielraums“ bereits überschritten, was das
Risiko fataler Folgewirkungen erhöht. Betreffend des Phosphor- und Stickstoff-
kreislaufs sowie der genetischen Artenvielfalt wurden die planetarischen Gren-
zen weit überschritten, das Risiko fataler Folgen ist hoch. Planetarische Gren-
zen, für die noch keine geeigneten Operationalisierungen gefunden wurden
oder Belastungsgrenzen nicht definiert werden konnten, sind mit einem Frage-
zeichen gekennzeichnet.
Das Modell der planetarischen Grenzen zeigt globale Grenzen, die nicht
zwischen unterschiedlich betroffenen Weltregionen unterscheiden. In verschie-
denen regionalen Kontexten wirken sich jedoch Hitzeperioden, Starknieder-
schläge, Stürme oder Sturmfluten unterschiedlich aus. Niedrig gelegene Küs-
tenregionen wie die Niederlande und Bangladesch sind anders betroffen als
trockene Regionen südlich der Sahara. Ärmere und schwächere Gruppen und
Länder haben schlicht weniger Ressourcen, um sich zu schützen. Während
große Teile der Niederlande heute schon von sehr kostenintensiven Dämmen
vor dem steigenden Meeresspiegel geschützt werden, hat das ähnlich niedrig
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gelegene Bangladesch keine vergleichbaren Vorkehrungen. Dementsprechend
bedrohlich ist das Ansteigen des Meeresspiegels für Menschen in Bangladesch.
Klimapolitik, die ein würdiges Leben für alle Menschen anstrebt, ist deshalb
wesentlich Verteilungspolitik (vgl. Teil 1 Gerechtigkeit). Dies ist angesichts
unterschiedlicher Interessen nicht einfach. Die reichen Staaten Nordamerikas
und Europas haben ein Interesse daran, dass auch aufstrebende Länder wie
Indien und China ihren Verbrauch an nicht-erneuerbaren Ressourcen ein-
schränken, wohingegen letztere auf die historische Verantwortung der reichen
Länder bestehen, die über 200 Jahre lang einseitig das globale Kohlenstoffbud-
get beansprucht haben. Für die einen sind die reichen Länder ökologische
„Schuldner“, die über ihre Verhältnisse gelebt haben und immer noch leben.
Für die anderen sind die großen aufstrebenden Länder der Schlüssel für wirk-
same Veränderungen: Wir im kleinen Österreich können nichts bewirken, wohl
aber China und Indien, so die Argumentation. Die Folge dieser jeweils vereng-
ten Sichtweisen: Die früh industrialisierten und heute reichen Länder Europas
und Nordamerikas weigern sich, für ihren historischen Beitrag zum Über-
schreiten von Grenzen Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig wollen die
aufstrebenden Länder auf kurzfristige Wettbewerbsvorteile durch die Nutzung
von Kohle und andere klimaschädliche Produktionen nicht verzichten. Gibt es
Möglichkeiten weltweiter Kooperation in einer konkurrenzorientierten Welt-

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wirtschaft? Fest steht, dass sich die Krise ohne politischen Willen und wirksame
Instrumente weiter zuspitzen wird.

Der Ökologische Fußabdruck

Der ökologische Fußabdruck ist der zentrale Indikator eines Buchhaltungssys-


tems für Umweltressourcen, das Angebot (Biokapazität) und Nachfrage (Fuß-
abdruck) gegenüberstellt. Er ist daher komplementär zur Volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung, die das Volkseinkommen (BIP und BNP) erfasst. Der ökolo-
gische Fußabdruck misst, wie viele natürliche Ressourcen Einzelpersonen, Na-
tionen oder die Weltbevölkerung benötigen, um sich mit den Dingen des all-
täglichen Lebens zu versorgen (wie Energiegewinnung, Bauland, Nahrungs-
mittelproduktion oder Abfallentsorgung) und drückt dies in Fläche aus, die
dafür an biologisch produktiver Erdoberfläche notwendig wäre. Er wird entwe-
der in globalen Hektar pro Person (gha) gemessen oder in der Anzahl an Pla-
neten der Qualität der Erde, die notwendig wären, wenn alle Menschen die
selbe Anzahl an Ressourcen verbrauchen würden, wie die Person, deren Fuß-
abdruck berechnet wird. Er bewertet den „Druck“ auf den Planeten, indem er
diese Nachfrage in Beziehung zur Biokapazität setzt. Diese misst die Menge an
biologisch produktiver Fläche, die für die Versorgung mit Ressourcen und die
Beseitigung unserer Abfälle bereitsteht. Dazu zählen Wälder, Felder, Seen,
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Meere und andere Formen von Land, wie zum Beispiel bebaute Flächen. Ein
ökologisches Defizit liegt vor, wenn der ökologische Fußabdruck einer Bevölke-
rung die Biokapazität des dieser Bevölkerung zur Verfügung stehenden Gebiets
überschreitet. Auf diese Weise wird gezeigt, dass Menschen seit einigen Jahr-
zehnten mehr Ressourcen nutzen als die Erde langfristig bereitstellen kann.
Außerdem zeigt sich, wie ungleich der Ressourcenkonsum global verteilt ist.
Die Folge ökologischer Ungleichgewichte ist, dass das planetarische Öko-
system zurzeit über eineinhalb Jahre bräuchte, um sich von den jährlichen Be-
lastungen zu erholen. Als Welterschöpfungstag wird jener Tag bezeichnet, an
dem die Menschheit rein rechnerisch die Ressourcen für das gesamte Jahr ver-
braucht hat. Danach werden nicht-erneuerbare Ressourcen verbraucht. 2019
war der Welterschöpfungstag am 29. Juli. Für Deutschland und Österreich war
der Erschöpfungstag sogar der 3. Mai bzw. der 9. April, da die Menschen in
diesen Ländern deutlich mehr verbrauchen als der Weltdurchschnitt. Dies
macht sie zu „ökologischen Schuldnerländern“.
Im Jahr 2016 betrug der durchschnittliche ökologische Fußabdruck pro Per-
son in Deutschland 4,8 gha, in Österreich 6 gha pro Person. Die in Deutschland
verfügbare Biokapazität pro Person ist jedoch nur 1,6 gha, jene in Österreich 2,9
gha. Wir leben in Mitteleuropa also deutlich über den planetarischen Möglich-
keiten, ebenso wie die USA mit einem Fußabdruck von 8,1 gha bei einer vor-

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handenen Biokapazität von 3,6 gha pro Person (2016). Nur wenige reiche Län-
der sind „ökologisches Gläubigerländer“. So zum Beispiel Kanada, dessen Fuß-
abdruck 7,7 gha beträgt, das aber aufgrund der Größe seines Landes und der
geringeren Bevölkerungsdichte über eine Biokapazität von 15,1 gha pro Person
verfügt (2016). Kanada ist somit ein Ausnahmefall: Es ist „ökologisches Gläubi-
gerland“, obwohl es überdurchschnittlich viele Ressourcen nutzt. Die aller-
meisten Länder des Globalen Südens, vor allem in Afrika, sind „ökologische
Gläubigerländer“, weil sie wenige Ressourcen nutzen. So zum Beispiel die
Demokratische Republik Kongo mit einem Fußabdruck von 0,7 gha und einer
Biokapazität von 2,5 gha pro Person (2016).
Dass die reichen Länder ökologische Schuldner sind, liegt an der Lebens-
weise ihrer Bevölkerung. Bereiche, die die Höhe des ökologischen Fußabdrucks
vor allem beeinflussen, sind Wohnen, Ernährung und Mobilität: Wichtig sind
die Größe der Wohnung, bzw. des Hauses und seine Energieeffizienz. Bei der
Ernährung ist der Fleischkonsum ausschlaggebend, und ob und wie oft biolo-
gisch und regional eingekauft wird. Beim Mobilitätsverhalten ist entscheidend,
ob und wie oft geflogen und mit dem Auto gefahren wird. Schließlich hat auch
das Konsummuster einen Einfluss, vor allem wie oft neue Produkte gekauft
werden. Besonders bei Mobilität und Wohnen dominiert die kohlenstoffba-
sierte Infrastruktur (Heizen mit Gas und Öl, Verbrennungsmotor, Fliegen). Ein
erheblicher Anteil des ökologischen Fußabdrucks, in Österreich 1,5 gha pro
Person, ergibt sich aus dem Bau und der Erhaltung öffentlicher Infrastrukturen,
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wie öffentliche Gebäude und Verkehrswege, die allen zur Verfügung stehen.
Die dafür aufgewandten Gesamtressourcen werden hierbei gleichmäßig auf alle
BürgerInnen verteilt. Somit kann nur ein Teil des eigenen Fußabdrucks durch
Konsumentscheidungen beeinflusst werden. Es ist verständlich, dass die Länder
des Globalen Südens mit ihrem niedrigen Fußabdruck die globale Schieflage
nicht fair finden. Klimagerechtigkeit fordert einen fairen Beitrag der Reichen,
die Kosten, die ihr Lebensstil verursacht, auch zu übernehmen. Doch noch
weigern sich ökologische Schuldnerländer, wie Österreich und Deutschland,
globale Verantwortung zu übernehmen. Zum Beispiel, indem sie in der Klima-
politik eine Vorreiterrolle übernehmen.
Kombiniert man den Human Development Index (HDI) und den ökologi-
schen Fußabdruck – versucht man also an Hand dieser zwei Indikatoren, „Ent-
wicklung“ und „Nachhaltigkeit“ zusammen zu denken – ergibt sich ein er-
nüchterndes Bild: Es gibt kein Land, das sowohl eine „sehr hohe Entwicklung“
(HDI von mindestens 0,8) als auch einen nachhaltigen ökologischen Fußab-
druck (unter der weltweiten Biokapazität von 1,7 gha pro Person bzw. einer
Erde) aufweist. Am nächsten kommen diesem Ziel die Philippinen (HDI von
0,7; Biokapazität von 1,33 pro Person), Jamaika (0,73 und 1,61), Sri Lanka (0,77
und 1,49) und Kuba (0,77 und 1,78). Dies zeigt, dass es in der derzeitigen Le-
bens- und Produktionsweise kaum möglich ist, den Zielkonflikt zwischen

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sozialem und wirtschaftlichem Fortschritt einerseits und ökologischen Grenzen


andererseits zu lösen. Der westliche ressourcenintensive Lebensstandard ist
nicht weltweit verallgemeinerbar. Es gibt schlicht nicht genug Ressourcen,
damit alle Menschen den materiellen Lebensstandard eines durchschnittlichen
Europäers genießen können. Ulrich Brand und Markus Wissen sprechen
deshalb von einer „imperialen Lebensweise“ in Europa und den USA, einem
nicht-nachhaltigen Lebensstil auf Kosten anderer. Die Diskrepanz zwischen
höherem HDI und verträglichem ökologischen Fußabdruck weist auf weltweite
Ungleichverteilungen und Ausbeutungsverhältnisse hin. Vom aktuellen Pro-
duktions- und Konsummodell des Westens profitieren Öl- und Autokonzerne
ebenso wie KonsumentInnen weltweit, aber insbesondere jene in den reichen
Ländern. Europas Bevölkerung kann günstig auf Rohstoffe und Konsumgüter
aus anderen Erdteilen zugreifen. Wird versucht, die planetarischen Grenzen
einzuhalten, muss der Ressourcenverbrauch begrenzt werden, was Verteilungs-
konflikte zuspitzen wird. Bis vor kurzem wurden die Kosten vor allem auf zu-
künftige Generationen und den Globalen Süden abgewälzt. Zweiteres wird
zusehends schwieriger, denn die Vormacht des Westens wankt (vgl. Globalisie-
rung im Umbruch).

Grafik: Ökologischer Fußabdruck und HDI (2016)

- orderid - cma57090050 - transid - cma57090050 -

(Datenbasis: Global Footprint Network, 2019)

Wirtschaftlicher Wachstumszwang

Das westliche Zivilisationsmodell der „expansiven Moderne“ beruht auf


Wachstum. Es sind grundsätzlich auch Wirtschaftsmodelle ohne Wachstum
vorstellbar, auch solche in denen Märkte eine wichtige Rolle einnehmen. Kapi-

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talistischen Marktwirtschaften ist der Wachstumszwang jedoch systemimma-


nent. Einzelne Unternehmen können sich ihm nur eingeschränkt entziehen,
denn Konkurrenz zwingt zu ständiger Innovation und kostengünstigerer Pro-
duktion. Unternehmen, die nicht wachsen, sind gefährdet, vom Markt ver-
drängt zu werden. Mit dem Wohlfahrtskapitalismus der Nachkriegszeit wurde
Wirtschaftswachstum immer bedeutsamer. Die europäische Wirtschaftspolitik,
festgehalten im Strategiedokument Europa 2020, macht Wirtschaftswachstum
sogar zum Oberziel und strebt „inklusives, intelligentes und nachhaltiges“
Wachstum an. Damit folgt die Strategie den Konzepten der Grünen Ökonomie
und des Grünen Wachstums, die eine qualitative Veränderung des Wirtschafts-
wachstums anstreben, also ein Wirtschaftswachstum mit weniger Material-
verbrauch. Die „Grüne Ökonomie“ ist, dem Umweltprogramm der Vereinten
Nationen (UNEP) folgend, „eine Wirtschaftsweise, die menschliches Wohlbe-
finden und soziale Gerechtigkeit fördert und gleichzeitig Umweltrisiken und
ökologische Knappheiten verringert“. Laut OECD zielt Grünes Wachstum
darauf ab, „Wachstum und Entwicklung bei gleichzeitiger Erhaltung von Na-
turkapital, das heißt Ressourcen und Ökosystemdienstleistungen“ zu fördern.
Ökosystemdienstleistungen sind jene vielfältigen Vorteile, die der Mensch aus
der biophysischen Umwelt und aus gut funktionierenden Ökosystemen ziehen
kann. Dazu gehören unter anderem die Versorgung mit Nahrungsmitteln und
Wasser, die Regulierung des Wetters und des Klimas, die Sauerstoffproduktion
oder Erholungsmöglichkeiten. Das Ziel Grünen Wachstums ist steigende Pro-
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duktion und Einkommen mit reduziertem Materialverbrauch und ökologi-
schem Fußabdruck zu verbinden. Es strebt Win-win-Situationen an.
Grüne Ökonomie nimmt an, dass natürliche Ressourcen (Naturkapital) und
produzierte Güter (Sachkapital) substituiert werden können. Die Idee ist, dass
heute durch technologischen Fortschritt und erhöhte Produktivität der Lebens-
standard steigt und mit dem vermehrten Reichtum die verlorengegangene
Umweltqualität zu einem späteren Zeitpunkt durch „grüne“ Investitionen wie-
derhergestellt werden kann. Umweltzerstörung sei reversibel. So hofft man,
viele der ökologischen Probleme, die die expansive Grundlogik unserer Wirt-
schaftsweise verursacht, zu lösen, ohne diese Grundlogik selbst in Frage zu
stellen. Stattdessen wird versucht, Wirtschaftswachstum durch Effizienzsteige-
rungen von Materialverbrauch und Emissionen zu entkoppeln. Diese Ent-
kopplung von Wirtschaftswachstum und Materialverbrauch kann relativ und
absolut erfolgen. Unter relativer Entkopplung versteht man die Abnahme von
Material- bzw. Emissionsintensität pro Einheit (z. B. weniger Emissionen pro
produziertem Fahrzeug). Dieses empirisch zu beobachtende Phänomen ist Fol-
ge technologischen Fortschritts. Um das Zwei-Grad-Ziel einzuhalten, bräuchte
es allerdings absolute Entkopplung, bei der Emissionen und Materialverbrauch
trotz fortgesetztem Wirtschaftswachstum in absoluten Zahlen sinken. Absolute
Entkopplung ist bis jetzt nur in ausgewählten Zeiträumen und für einzelne Län-

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der gelungen. Meist deshalb, weil diese Länder (wie Dänemark) ihre ressour-
cenintensiven Produktionsprozesse in andere Länder (wie China) ausgelagert
haben. Global findet bisher keine absolute Entkopplung statt. So gefährdet die
expansive wirtschaftliche Dynamik die ökologische Nachhaltigkeit.
Die technologischen Anforderungen für Entkopplung sind hoch, bei abso-
luter Entkopplung riesig. Während in den letzten zehn Jahren in Österreich die
Energieeffizienz um ungefähr ein Prozent pro Jahr gestiegen ist, wuchs das BIP
um mehr als das Doppelte. Würde Österreich die Emissionsziele des IPCC bis
zum Jahr 2050 allein auf Grundlage von Energieeffizienz erreichen wollen,
müsste diese selbst bei einem stagnierendem BIP jährlich um mehr als drei
Prozent steigen, bei einem Wirtschaftswachstum von zwei Prozent sogar um
mehr als fünf Prozent – ein schwieriges, bisher noch nie erreichtes Unterfan-
gen. Trotzdem setzt die derzeitige wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik
darauf, mittels technologischen Fortschritts in Zukunft absolute Entkopplung
zu erreichen. So wären Win-win-Situationen möglich und Verteilungskonflikte
könnten vermieden werden. In der Realität wird das Einsparungspotential von
Effizienzsteigerungen jedoch zumeist nur teilweise verwirklicht. Einsparungen,
die durch technologischen Fortschritt erzielt werden, führen anderswo zu er-
höhtem Verbrauch. Dies wird Reboundeffekt genannt: Positive Effizienzsteige-
rungen „schlagen zurück“. So können Produkte durch technologischen Fort-
schritt billiger werden, weshalb mehr Kaufkraft für zusätzlichen Konsum ent-
steht. Wenn beispielsweise Autos weniger Benzin verbrauchen, ersparen sich
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AutofahrerInnen Geld beim Tanken, das sie möglicherweise dafür ausgeben,
längere Strecken zu fahren oder eine Flugreise zu unternehmen. Ebenso kann
billiges und überall verfügbares Carsharing motorisierten Individualverkehr
erhöhen und öffentliche Verkehrsmittel und Radfahren verdrängen (vgl. Teil 1
Eine Welt im Wandel). Durch den Reboundeffekt verringern sich die ökologi-
schen Ersparnisse effizienterer Produktionsprozesse.

Wirtschaft im Umbruch

Aufgabe zukunftsfähigen Wirtschaftens ist es, nicht nur den Erhalt der bio-
physischen Lebensgrundlagen zu sichern, sondern auch wirtschaftliche Instabi-
litäten und daraus resultierende soziale und politische Verwerfungen zu ver-
meiden. Doch beruht der wirtschaftliche und soziale Erfolg der vergangenen
200 Jahre auf Wachstum und damit fortgesetzter Veränderung, die nach
Schumpeter mit schöpferischer Zerstörung einhergeht.
Nicht nur diese innovativen Umwälzungen, auch Ungleichgewichte bis hin
zu Krisen sind ständige Wegbegleiter kapitalistischer Marktgesellschaften. Re-
gelmäßig kommt es zu konjunkturell bedingten wirtschaftlichen Abschwüngen,

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sogenannten Rezessionen. Seltener, aber dafür mit weitgehenderen Konsequen-


zen verbunden sind tiefe Wirtschaftseinbrüche, sogenannte Depressionen, die
zu Massenarbeitslosigkeit, Kaufkrafteinbruch und Massenarmut führen. Wäh-
rend Krisen Wohlstand gefährden, ist schöpferische Zerstörung eine Form von
Instabilität, die konstruktive Dynamiken ermöglicht.
In diesem Kapitel werden wir uns mit diesen vielfältigen und verwobenen
Phänomenen wirtschaftlicher Veränderungen beschäftigen. Um die sich gegen-
seitig verstärkenden Dynamiken zu verstehen, werden wir drei entscheidende
Faktoren, die zu kleinen oder großen Veränderungen führen, untersuchen:
(1) Wirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen verschiedenen Sektoren und
Ländern, (2) Finanzialisierung als ein Prozess, in dem Finanzinstitutionen und
Finanzmärkte überproportional zur Realwirtschaft wachsen, und (3) systemi-
sche Innovationen als Prozesse schöpferischer Zerstörung.

Wirtschaftliche Ungleichgewichte und Wirtschaftskrisen

Die größte wirtschaftspolitische Tragödie Österreichs spielte sich in der Zwi-


schenkriegszeit ab. Österreichs BIP schrumpfte von 1929 bis 1933 um 22,5 Pro-
zent, die Arbeitslosigkeit stieg auf 25,9 Prozent. Die tiefe Wirtschaftskrise mün-
dete 1934 in einen Bürgerkrieg und den Austrofaschismus. Ähnlich traumatisch
war 80 Jahre später die Wirtschaftskrise in Griechenland. Dort verringerte sich
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das BIP von 2009 bis 2013 um 22,1 Prozent und die Arbeitslosigkeit kletterte
auf 28 Prozent. Die griechische Wirtschaft hat sich bis heute kaum erholt, breite
Bevölkerungsschichten mussten große Einbußen hinnehmen und politisch
führte dies zwar nicht in den Autoritarismus, wohl aber zu einer tiefen Politik-
und Demokratieverdrossenheit.
Die folgende Tabelle vergleicht die österreichische Entwicklung nach dem
Börsenkrach 1929 mit jener Griechenlands nach der Finanzkrise 2008.

Tabelle: Auswirkungen von Wirtschaftskrisen; Vergleich von Österreich (1929–1932)


mit Griechenland (2009–2012)

Österreich damals Griechenland heute


Rezession -22,5% des BIP -22,1% des BIP
(1929–1933) (2009–2013)
Arbeitslosigkeit 25,9% (1933) 28% (November 2013)
Arbeitslose ohne staatliche 50% (1936/37) 84,1% (Dezember 2013)
Unterstützung
Staatsschulden (in % des BIP) 43,5% (1935) 177,4% (2013)
(Datenbasis: Schulmeister, 2018; Eurostat, 2019)

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Zukunftsfähiges Wirtschaften kann aus der Geschichte lernen, um jene Fehler


zu vermeiden, die zu schweren Krisen führen, soziale Sicherheiten zerstören
und autoritäre Politikmodelle attraktiv machen. Eine Erkenntnis ist, dass au-
ßenwirtschaftliche Ungleichgewichte die Wahrscheinlichkeit von Wirtschafts-
krisen erhöhen. Dies war auch bei der Finanzkrise 2008 der Fall, in deren Vor-
feld Länder in Ost- und Südeuropa hohe Leistungsbilanzdefizite aufwiesen (vgl.
Box Saldenmechanik). Stark importabhängige Länder wie Griechenland und
Spanien auf der einen Seite und exportorientierte Länder wie Österreich oder
Deutschland auf der anderen sind systemisch verbunden: Alles, was von einem
Land exportiert wird, muss von einem anderen Land importiert werden und
umgekehrt. Der Überschuss der einen geht einher mit dem Defizit der anderen.
Wird durch Leistungsbilanzüberschüsse des einen Landes Auslandsvermögen
(also Vermögen eines anderen Landes, das vom Staat oder von Privaten gehal-
ten wird) angehäuft, reduziert dies in einem anderen Land entweder die Wäh-
rungsreserven oder es erhöht die Auslandsverschuldung. Dauerhaft sind solche
Leistungsbilanzdefizite daher nicht finanzierbar. Dies ergibt sich aus der
grundlegenden buchhalterischen Logik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrech-
nung, wonach jede Buchung eine Gegenbuchung erforderlich macht, den Ein-
nahmen Ausgaben, den Erträgen Kosten sowie den Aktiva Passiva gegenüber-
stehen. Dieses Regelwerk wirtschaftlicher Zusammenhänge wird Saldenmecha-
nik genannt (vgl. Box Saldenmechanik).
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Box: Saldenmechanik
Die von Wolfgang Stützel entwickelte Saldenmechanik unterteilt die Volkswirtschaft in
Sektoren, um das Prinzip zu veranschaulichen, das jeder Ausgabe eine Einnahme gegen-
übersteht: (1) private Haushalte, (2) Unternehmen, (3) Staat und (4) Ausland. Jeder Sektor
hat Einnahmen und Ausgaben. Ausgaben können Konsumausgaben, Investitionen oder
Steuerzahlungen sein. Was nicht ausgegeben wird, wird gespart. Jeder Einnahme eines
Sektors muss eine Ausgabe gegenüberstehen und umgekehrt – entweder innerhalb des
Sektors oder in einem anderen Sektor. Die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben
(bzw. zwischen Investition und Sparen) ergibt den Finanzierungssaldo eines Sektors.
Diese Zusammenhänge lassen sich mit Hilfe einiger einfacher Gleichungen veranschauli-
chen:

A) Darstellung für den Fall einer Volkswirtschaft:


(1) Y = C + I + G + (X – M)
Das Einkommen einer Volkswirtschaft (Y) entpricht der Summe aus Konsumausgaben (C),
den Investitionen (I), den Staatsausgaben (G) und den Nettoexporten (Exporte X minus
Importe M). Eine weitere Sichtweise auf die volkswirtschaftliche Einkommensrechnung ist
der Hinweis, dass Haushalte ihr Gesamteinkommen Y für die folgenden Zwecke verwenden
können:
(2) Y = C + S + T
also Konsum (C) plus Ersparnis (S) plus Steuern (T). Dann bringt man beide Perspektiven
zusammen, weil beide nur unterschiedliche Sichtweisen von Y sind:
(3) C + S + T = Y = C + I + G + (X – M)
Der Konsum (C) fällt weg, weil auf beiden Seiten enthalten, und man erhält:
(4) S + T = I + G + (X – M)

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Durch Umstellung von Gleichung (4) erhält man die Saldenbeziehung zwischen den drei
Sektoren Inland privat (Haushalte und Unternehmen), Staat und Ausland:
(5) (S – I) = (G – T) + (X – M)
Die Gleichung der sektoralen Salden besagt, dass die privaten Gesamtersparnisse S
minus privater Investitionen I gleich sind dem öffentlichen Defizit (Ausgaben G minus
Steuern T) plus Nettoexporte (X – M), wobei der Nettoexport die Nettoersparnisse von
Nicht-Inländern darstellt, also des Auslandes.

Zusammenfassend gilt also für den Finanzierungssaldo eines Sektors:


Einnahmen – Ausgaben = Sparen – Investitionen
Ist der Finanzierungssaldo eines Sektors positiv, nimmt er also mehr ein, als er ausgibt
(d. h., dass er mehr spart als er investiert), spricht man von einem Überschuss. In diesem
Fall stellt der Sektor anderen Sektoren Geld zur Verfügung. Ist der Finanzierungssaldo
eines Sektors negativ, gibt er also mehr aus, als er einnimmt (d. h., dass er mehr investiert
als er spart), spricht man von einem Defizit: der Sektor borgt von anderen. Es ist aber zu
beachten, dass die Summe der Finanzierungssalden über alle Sektoren einer Volkswirt-
schaft definitionsgemäß Null sein muss. Diese Sichtweise der einzelnen Volkswirtschaft
lässt sich mit geringfügigen Modifikationen auf die Weltwirtschaft insgesamt übertragen.

B) Darstellung für Fall der Weltwirtschaft


Der wesentliche Unterschied der Weltwirtschaft zur nationalen Volkswirtschaft ist, dass die
Weltwirtschaft geschlossen ist. Solange wir keine Wirtschaftsbeziehungen mit anderen
Planeten unterhalten, gibt es keinen Sektor Ausland. Der Außenhandel der einzelnen
Volkswirtschaften miteinander ist Teil der internen Transaktionen des Systems Weltwirt-
schaft. Daher ergeben sich für die Weltwirtschaft folgende Identitäten:
Summe aller Einnahmen = Summe aller Ausgaben
Summe aller Exporte = Summe aller Importe
Summe aller Guthaben (Forderungen) = Summe aller Schulden (Verbindlichkeiten)
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Summe aller Überschüsse = Summe aller Defizite
Summe aller Leistungsbilanzüberschüsse = Summe aller Leistungsbilanzdefizite
Die Leistungsbilanz beschreibt die Wirtschaftsaktivitäten des Sektors Ausland im Fall
einer Volkswirtschaft. Sie umfasst die Importe und Exporte von Waren, Dienstleistungen
und Einkommen einer einzelnen Volkswirtschaft. Dies inkludiert Rücküberweisungen,
Erwerbs- und Vermögenseinkommen sowie Mittel der Entwicklungszusammenarbeit. Ihr
Saldo ist positiv, wenn die Volkswirtschaft mehr exportiert als sie importiert (Leistungsbi-
lanzüberschuss). Der Saldo ist negativ, wenn sie mehr importiert als exportiert (Leistungs-
bilanzdefizit). Wann immer eine Volkswirtschaft einen Leistungsbilanzüberschuss aufweist,
muss zumindest eine andere ein Leistungsbilanzdefizit aufweisen. Sind die Überschüsse
eines Landes sehr hoch, müssen andere Länder höhere Defizite aufweisen.

Die Grafik Finanzierungssalden Deutschlands illustriert die Saldenmechanik


Deutschlands vor und nach der Wirtschaftskrise 2008, die Grafik Finanzie-
rungssalden Spaniens jene Spaniens. Die Überschüsse werden in der Grafik
positiv in Prozent des BIP dargestellt, die Defizite negativ. Der Leistungsbilanz-
überschuss Deutschlands scheint in der Graphik aber im negativen Bereich auf,
da dieser Überschuss als negativer Finanzierungssaldo des Auslands gegenüber
Deutschlands dargestellt wird.

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Grafik: Finanzierungssalden Deutschlands

HH: private Haushalte, UNT: Unternehmen, ST: Staat, FIN: Finanzinstitute, AUS: Ausland;
Perioden der Rezession sind grau hinterlegt
(Glötzl und Rezai, 2018)

Die deutsche Leistungsbilanz hat sich seit 1999 stark verändert. Wies Deutsch-
land bis 2001, dem Jahr der Euro-Einführung, noch ein Defizit auf, so erzielte
Deutschland danach zunehmend größere Leistungsbilanzüberschüsse (siehe
Linie AUS). Länder wie Griechenland und Spanien verschuldeten sich gegen-
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über Deutschland und gleichzeitig investierte dieses weniger im eigenen Land.
Das Zusammenfallen der steigenden außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte
mit der Euro-Einführung ist kein Zufall. Mit einer gemeinsamen Währung
verloren die einzelnen Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, ihre ehemals nationa-
len Währungen im Falle von Leistungsbilanzdefiziten abzuwerten und somit
ihre Exporte zu verbilligen (und damit ihre Exportquote zu erhöhen) und ihre
Importe zu verteuern (und damit die Importquote zu senken). Gleichzeitig
verfolgte Deutschland eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik: Löhne wer-
den als Kostenfaktor betrachtet – Arbeitsmarktmaßnahmen wie Hartz IV
schufen einen Niedriglohnsektor und die deutschen Reallöhne, also inflations-
bereinigte Löhne, sanken zwischen 2001 und 2009 um 5,7 Prozent (damit war
es das einzige EU-Land mit einem Rückgang, Österreich wies mit einem An-
stieg von 3,5 Prozent den zweitniedrigsten Wert auf). Zusammen mit Produkti-
vitätssteigerungen senkte dies seine Lohnstückkosten (d. h. die Arbeitskosten
pro produziertem Stück) im Verhältnis zu den europäischen Nachbarn. Dies
erhöhte neben anderen Faktoren seine Wettbewerbsfähigkeit und in der Folge
den Leistungsbilanzüberschuss. Die Inlandsnachfrage stagnierte hingegen we-
gen der Reallohnentwicklung. Investitionen in die Infrastruktur gingen zurück,
da der Staat sparte.

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Die deutschen privaten Haushalte waren immer sparsam. Seit 1999 weist ihr
Saldo einen konstanten Überschuss, also eine Sparquote von etwa fünf Prozent
des BIPs auf. Haushalte sind traditionell meist Sparer und verborgen ihre Er-
sparnisse an andere Sektoren, meist an private Unternehmen. Diese nehmen
Kredite auf, um Investitionen zu tätigen, Unternehmen sind also traditionell
Schuldner. Doch mit Beginn der 2000er Jahre wurden die deutschen Unter-
nehmen ebenfalls zu Gläubigern. Vorsichtige Zukunftseinschätzungen machten
sie investitionsscheu, wenn sie doch investierten, wurde dies vermehrt aus dem
Eigenkapital finanziert. Dazu kam, dass selbst Produktionsunternehmen einen
zunehmenden Teil ihrer Erträge aus der finanzwirtschaftlichen Veranlagung
ihrer Überschüsse erwirtschafteten. Dies führte zu einer Finanzialisierung der
Unternehmensstrategien (vgl. Finanzialisierung und Finanzkrisen).
Anfang der 2000er Jahre gab der deutsche Staat noch mehr aus, als er ein-
nahm. Dieses Defizit des Sektors Staat wird auch (öffentliches) Haushaltsdefizit
genannt. Bis zum Ausbruch der Krise 2008 erreichte Deutschland jedoch ein
ausgeglichenes Budget, eine sogenannte „schwarze Null“, und entsprach damit
den Vorgaben des EU-Konvergenzkriteriums zur staatlichen Neuverschuldung
(pro Jahr maximal drei Prozent des BIP). In den Jahren nach der Krise führten
Bankenrettung und konjunkturfördernde, antizyklische Staatsausgaben wieder
zu einem hohen Haushaltsdefizit, insbesondere im 3. Quartal 2010 (vgl. Grafik
Finanzierungssalden Deutschlands).
Das deutsche Parlament beschloss 2009, das heißt mitten in der Finanzkrise,
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ein Verfassungsgesetz, das die Möglichkeiten der Neuverschuldung regelte und
2011 in Kraft trat. Dies wurde auch Schuldenbremse genannt und sah die Ein-
führung einer strengen Fiskalpolitik, das heißt einer drastischen Begrenzung
der Staatsausgaben, vor. Schon 2013 kam es dadurch wieder zu einer „schwar-
zen Null“. Von ihren VerfechterInnen wurde die schwarze Null zum Marken-
zeichen einer Regierungspolitik erhoben, die sparsam ist.
Tatsächlich wurde Deutschlands Staat neben Unternehmen und privaten
Haushalten zum Nettosparer, während notwendige Infrastrukturinstandhal-
tungen unterblieben. Damit kam es in Deutschland zu der besonderen Situa-
tion, dass alle inländischen Akteure – Haushalte, Unternehmen, Finanzinstitute
und Staat – „tugendhaft“ sparen. Doch können die inländischen Sektoren nur
dann fortgesetzt sparen, wenn sich das Ausland fortgesetzt verschuldet. Lang-
fristig sind dadurch außenwirtschaftliche Ungleichgewichte und daraus resul-
tierende Konflikte vorprogrammiert.

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Grafik: Finanzierungssalden Spaniens

UNT: Unternehmen, FIN: Finanzinstitute, HH: private Haushalte, AUS: Ausland; ST: Staat;
Perioden der Rezession sind grau hinterlegt
(Glötzl und Rezai, 2018)

Die Entwicklung Spaniens verlief im Unterschied dazu fast spiegelbildlich,


wobei die Krise 2008 einen deutlicheren strukturellen Bruch zur Folge hatte.
Spaniens Leistungsbilanzdefizit stieg bis 2008 kontinuierlich bis auf über 10
Prozent des BIP an: Spanien ist wie Griechenland eines jener importabhängigen
Länder, welches als Gegenpart zu den Leistungsbilanzüberschüssen der export-
orientierten Länder Leistungsbilanzdefizite aufwiesen. Diese außenwirtschaftli-
chen Ungleichgewichte ergeben sich auch aus unterschiedlicher Spezialisierung
seit dem EU-Beitritt in den 1980er Jahren: Deutschland ist ein Industrieland
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geblieben mit Hochtechnologie, qualifizierter Beschäftigung und Produktivi-
tätsfortschritten. Die Länder Südeuropas deindustrialisierten, da ihre Industrie,
ihr Gewerbe und Handwerk vermehrt von der Konkurrenz der Unternehmen
aus den anderen Ländern des neu geschaffenen europäischen Binnenmarkts
verdrängt wurden. Ihre Wirtschaftsstruktur verschob sich zu niedrig entlohn-
ten Sektoren mit geringem Produktivitätswachstum wie Bauwirtschaft und
Tourismus. Die erfolgreiche Angleichung des Wohlstands durch überdurch-
schnittliches Wirtschaftswachstum in Ost- und Südeuropa ging mit keiner
entsprechenden Steigerung der Produktivität einher. Es fehlten Innovationen
im Unternehmenssektor, ein modernisiertes Bildungswesen sowie effiziente
staatliche Bürokratien.
In der Europäischen Währungsunion, in der einzelne Länder ihre Währung
weder ab- noch aufwerten können, spielt die Reallohnentwicklung eine Haupt-
rolle für die Lohnstückkosten und damit für die Wettbewerbsfähigkeit. Wäh-
rend zwischen 2001 und 2009 die deutschen Lohnstückkosten im Zuge einer
angebotsorientierten Politik sanken, verfolgten Griechenland und Spanien vor
2008 einen wohlfahrtskapitalistischen Weg mit Reallohnsteigerungen. In Spa-
nien stiegen die Reallöhne zwischen 2001 und 2009 um 11,7 Prozent, in Grie-
chenland sogar um 24,1 Prozent. Damit schien ein Versprechen der EU-Inte-
gration wahr zu werden, nämlich die Verringerung des Wohlstandsgefälles zwi-

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schen den ärmeren Ländern des Südens und Ostens Europas und den reicheren
Ländern West- und Nordeuropas. Die Reallohnsteigerungen führten zu erhöh-
ten deutschen (und österreichischen) Importen nach Spanien und Griechen-
land. Gleichzeitig erhöhten sie die Lohnstückkosten und verteuerten und senk-
ten damit spanische (und griechische) Exporte.
Die spanischen Haushalte hatten sich vor der Krise kontinuierlich verschul-
det, insbesondere für den Kauf von Immobilien. Die Kredite für den Hauskauf
wurden unter der Annahme ständig steigender Immobilienpreise vergeben, die
Kreditwürdigkeit der Haushalte deshalb oft nicht ernsthaft überprüft. Es wur-
den Kredite vergeben, die selbst unter guten wirtschaftlichen Bedingungen nur
schwer zurückgezahlt werden konnten. Als in Folge der Krise viele Menschen
arbeitslos wurden oder Einkommensverluste hinnehmen mussten, führte diese
nicht solide Hypothekarverschuldung oftmals zu Zahlungsunfähigkeit. Die
ausfallenden Kreditrückzahlungen brachten nicht nur die zahlungsunfähigen
Haushalte um ihre Wohnungen, sondern auch die Banken in Schwierigkeiten.
Die schuldenbasierte Wohlfahrtssteigerung, und damit die Angleichung der
Wohlfahrtsniveaus in Europa, kam zu einem abrupten Ende.
Um eine für das gesamte Wirtschaftssystem bedrohliche Zahlungsunfähig-
keit der Banken zu vermeiden, übernahm in vielen Ländern der Staat die Haf-
tung für „faule“ Kredite, stark verschuldete private Banken wurden teils ver-
staatlicht. Damit besicherten die SteuerzahlerInnen die Schulden der Eigentü-
merInnen der Banken. Diverse Bankenpakete, nicht nur in Spanien, brachten
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so eine große Umverteilung von der Allgemeinheit zu den EigentümerInnen
von Finanzvermögen. Dies rettete zwar den Bankensektor und trug zur Über-
windung der Krise bei, doch hatte die umfangreiche und erfolgreiche Staatsin-
tervention den hohen Preis, dass durch Bankenrettung und Konjunkturförde-
rung die Staatsausgaben explodierten. Aus der Immobilien- und Bankenkrise
wurde eine Staatsschuldenkrise. Vor der Krise hatte Spaniens Regierung die
EU-Konvergenzkriterien besser erfüllt als Deutschland: Nicht nur erzielte Spa-
nien Haushaltsüberschüsse, die öffentliche Gesamtverschuldung lag ebenfalls
deutlich unter den vorgeschriebenen 60 Prozent des BIP. Nach 2008 stieg das
öffentliche Haushaltsdefizit rapide auf über 10 Prozent des BIP.
Nach der Krise kam es im Gefolge von Arbeitslosigkeit, Lohneinbußen und
dem Verlust von Wohnungen auch zu einem starken Rückgang der Importe
nach Spanien, was das Leistungsbilanzdefizit verringerte. Die hohe Arbeitslo-
sigkeit reduzierte die Verhandlungsmacht der Beschäftigten, die Löhne fielen.
Durch diesen, „interne Abwertung“ genannten, Prozess sanken die Lohnstück-
kosten und erhöhte sich die Wettbewerbsfähigkeit spanischer Unternehmen.
Ab 2013 kam es sogar zu leichten Leistungsbilanzüberschüssen. Gleichzeitig
hielten sich nun auch in Spanien die privaten Haushalte und Unternehmen
aufgrund unsicherer Zukunftsperspektiven mit Ausgaben zurück. Sie wurden
zu Nettosparern. Nun sind aber Konsum und Investitionen in kapitalistischen

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Marktwirtschaften Grundlage erfolgreichen Wirtschaftens. Ohne Kredite, Kon-


sum und Investitionen kein Wirtschaftswachstum. Die Folge kollektiven Spa-
rens war in Spanien eine langanhaltende schwere Wirtschaftskrise mit tiefgrei-
fenden sozialen Verwerfungen.
Angesichts der hohen Leistungsbilanzdefizite in Südeuropa vor 2008 (d. h.,
wenn der Sektor „Ausland“ spart), muss sich ein anderer Sektor verschulden. In
Spanien waren dies vor 2008 private Haushalte und Unternehmen. In den an-
deren südeuropäischen Ländern verschuldete sich vor allem der Staat. So hatte
Griechenland in den Jahren 1999 bis 2008 Haushaltsdefizite zwischen drei und
über 10 Prozent, Italien nur geringfügig niedrigere. Das Leistungsbilanzdefizit
hängt also strukturell mit dem Haushaltsdefizit zusammen.
Es waren die Schuldnerländer, die die Anpassungskosten der Krise zu tra-
gen hatten. Die Banken, die vor 2008 nicht nur riskante Hypothekarkredite
vergeben hatten, sondern allgemein ihr Kreditvolumen in Süd- und Osteuropa
erhöht hatten, mussten das marktwirtschaftliche Risiko von Fehlinvestitionen
nicht tragen. Die Kosten der Stabilisierung übernahm die öffentliche Hand
sowohl in den Schuldner- als auch den Gläubigerländern. Um die entstandenen
öffentlichen Haushaltsdefizite zu begrenzen, wurde in vielen Ländern Europas
eine sogenannte „Austeritätspolitik“ verfolgt, das heißt eine strenge Haushalts-
disziplin und damit verbunden eine restriktive Fiskalpolitik. Umgesetzt wurde
diese Politik, die die Interessen der Gläubiger durchsetzte, wesentlich von der
Troika, dem Dreigespann aus Europäischer Zentralbank, Europäischer Kom-
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mission und Internationalem Währungsfonds. In Ländern Süd- und Osteuro-
pas basierte dies auf strengen Auflagen der Troika als Voraussetzung für die
Gewährung von „Rettungspaketen“, vor allem in der Form von zusätzlichen
Krediten. Die restriktive Fiskalpolitik beinhaltete die Senkung von Staatsausga-
ben, Gehältern im öffentlichen Dienst, Pensionen und staatlichen Dienstleis-
tungen sowie Steuererhöhungen. Austeritätspolitik wirkt in Krisenzeiten jedoch
prozyklisch, also die Wirtschaftskrise verstärkend (das Gegenteil von antizyk-
lisch), da sie die Kaufkraft weiter senkt. Sie führte in Spanien und Griechenland
zu einer tiefen und langen Rezession mit steigender Arbeitslosigkeit und Ver-
armung sowie Massenprotesten.

Finanzialisierung und Finanzkrisen

Vor 2008 waren einflussreiche VertreterInnen der Wirtschaftswissenschaft so


selbstsicher, dass sie meinten, Instrumente für eine krisenfreie Steuerung von
Marktwirtschaften gefunden zu haben. Man glaubte, Rezessionen und vor allem
Depressionen vermeiden zu können. Die Ursache vorangegangener Krisen
wären ineffiziente staatliche Regulierungen und Eingriffe gewesen. Diese hätten
verhindert, dass die Rationalität individueller MarktteilnehmerInnen ein

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Marktgleichgewicht herstellt. Durch die weitgehende Deregulierung der Fi-


nanzmärkte gebe es Selbststeuerungsmechanismen zur wirtschaftlichen Stabili-
sierung.
Umso heftiger wurden die allermeisten ÖkonomInnen von der Bankenkrise
2008 überrascht. Ihr Glaube an die Rationalität der Märkte erwies sich als Irr-
tum, als der Konkurs der angesehenen Bank Lehman Brothers im September
2008 zu Panik an den Börsen führte. Ein Crash mit unabsehbaren Folgen für
Wirtschaft und Gesellschaft schien greifbar nah. Das Schlimmste konnte nur
verhindert werden, weil es PolitikerInnen und Fachleute gab, die aus den Erfah-
rungen der Weltwirtschaftskrise 1929 gelernt hatten: Umgehend übernahmen
Staaten und Notenbanken die Funktion der Systemstabilisierung. Die Noten-
banken stellten Liquidität zur Verfügung. Die Staaten übernahmen die „Ret-
tung“ der Banken. Sie dämpften aber auch den Anstieg der Arbeitslosigkeit
durch Kurzarbeitsprogramme und kurbelten die Nachfrage durch Subventio-
nen an. Beispielsweise subventionierte die sogenannte „Verschrottungsprämie“
den Neukauf von Autos. Die Staatsausgaben erhöhten sich aufgrund der stei-
genden Anzahl an BezieherInnen von Sozialausgaben. All dies stärkte die Kauf-
kraft und milderte den Abschwung.
Die Vergabe „fauler“ Immobilienkredite in Ländern wie Spanien, aber auch
zu einem großen Teil in den USA, war Auslöser der Wirtschaftskrise nach 2008.
Die zugrundeliegenden Ursachen waren jedoch die oben beschriebenen au-
ßenwirtschaftlichen Ungleichgewichte, steigende Einkommens- und Vermö-
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gensungleichheit (vgl. Gesellschaft im Umbruch) sowie die neue Rolle des Fi-
nanzsektors: Die ökonomische Grundfunktion des Finanzsektors ist die Um-
wandlung von kurzfristigen Spareinlagen (meist von Haushalten) in langfristige
Kredite zur Finanzierung von Investitionen (meist von Unternehmen). Die
Regulierung des Finanzsektors soll sicherstellen, dass die Finanzwirtschaft in
erster Linie dieser Funktion bestmöglich nachkommt. Die strenge Finanz-
marktregulierung nach dem Börsenkrach 1929 war eine wesentliche Grundlage
des Wohlfahrtskapitalismus, in dem realwirtschaftliche Geschäftsideen (Pro-
duktion in Fabriken, Einzelhandel, große Infrastrukturprojekte, etc.) im Zen-
trum der Wirtschaftstätigkeit standen. Ab den 1980er Jahren wurden die Fi-
nanzmarktregulierungen schrittweise wieder abgebaut. Dies stärkte Finanz-
marktinteressen mit ihrem Geschäftsmodell, Preisveränderungen für interna-
tional gehandelte Assets (Aktien, Anleihen, Rohstoffe, Derivate, etc.) auszunut-
zen, um Gewinne zu erzielen. Dabei wurden neue technologische Möglichkei-
ten genutzt wie der sogenannte Hochfrequenzhandel, bei dem Hochleistungs-
rechner mittels eines zuvor programmierten Algorithmus innerhalb von Mik-
rosekunden auf kleinste Kursveränderungen reagieren und Assets kaufen oder
verkaufen.

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Diese Verschiebung wirtschaftlicher Dynamik und Macht zum Finanzsektor


wird Finanzialisierung genannt. Es entstand ein Machtkomplex der Finanzwirt-
schaft bestehend aus Notenbanken, Geschäftsbanken und anderen Finanzin-
stitutionen, privaten Vorsorgekassen und damit verbundenen BesitzerInnen
größerer und kleinerer Vermögen. Der „Drehtüreffekt“ beschreibt eine politi-
sche Praxis, die aus einem engen Netzwerk von Fachleuten, Firmen und Politik
resultiert. PolitikerInnen, die vor und nach ihrer politischen Tätigkeit in der
Privatwirtschaft arbeiten, verinnerlichen Ideen ebendieser Branche und vertre-
ten deren Interessen. Somit führte eben dieser Effekt zu engen personellen
Verflechtungen zwischen den unterschiedlichen AkteurInnen. So war der der-
zeitige EZB-Chef Mario Draghi davor bei der Investmentbank Goldman Sachs
tätig. In der Finanzialisierung wachsen Finanzmärkte überproportional gegen-
über der Realwirtschaft, was durch nationalstaatliche Deregulierungsmaßnah-
men ermöglicht wurde: die Aufhebung von Kapitalverkehrskontrollen, die
Senkung von Steuern auf Gewinne und Finanztransaktionen sowie die steuerli-
che Begünstigung von Finanzanlagen und privaten Vorsorgekassen. Finanzka-
pital wurde mobiler, die grenzüberschreitenden Finanztransaktionen stiegen
an. Vor 2008 bauten die staatlichen Regulierungsbehörden vorrangig auf eine
freiwillige Selbstregulierung des Finanzsektors, was dessen Krisenanfälligkeit
erhöhte.
Eine Erklärung für die zyklische Wiederkehr von Finanzkrisen liefert Hy-
man Minsky mit seiner Theorie zur Entstehung von Wirtschaftskrisen. Dem-
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nach gibt es zwei parallel ablaufende Trends: (1) die Lockerung der strengen
Regulierung des Finanzsektors und (2) die zunehmende Neigung der Finanz-
marktakteurInnen, Risiken einzugehen. Für den ersten Trend, der zur Wieder-
kehr von Finanzkrisen führt, nennt Minsky drei Gründe: (1) Die Finanzmarkt-
regulierung diente der Stabilisierung des Sektors, was eine Beschränkung der
Handlungsmöglichkeiten von Finanzunternehmen beinhaltet. Dies begrenzt
deren Möglichkeiten, Gewinne zu machen, weshalb sie für eine Lockerung
lobbyieren. (2) Die Erfahrungen vergangener Krisen werden mit der Zeit ver-
gessen. Ab den 1970er Jahren begann eine neue Generation von ÖkonomInnen,
die die Wirtschaftskrise nach 1929 nicht erlebt hatte, das Risiko der Finanz-
märkte neu einzuschätzen. Sie sahen Finanzmärkte als besonders rationale und
effiziente Märkte, die Angebot und Nachfrage in Sekundenschnelle aufeinander
abstimmen. Sie nahmen an, dass die freiwillige Selbstregulierung des Marktes
zwar zu kurzfristigen Schwankungen, aber im Sinne der Markteffizienzhypo-
these zu besseren Ergebnissen führe als staatliche Vorschriften. (3) Finanzinno-
vationen, also die Erfindung neuartiger Finanzprodukte, werden schneller vo-
rangetrieben als deren Regulierung, wodurch der Anteil des nicht regulierten
Finanzmarkthandels stetig ansteigt.

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Auch der zweite Trend, wonach die FinanzmarktakteurInnen mit der Zeit
ihre Neigung erhöhen, Risiken einzugehen, hat drei Gründe: (1) Finanzinnova-
tionen schaffen stärker risikobehaftete und damit rentablere Finanzprodukte.
So wurden vor der Finanzkrise 2008 risikoreiche Immobilienkredite zu neuen,
vermeintlich sichereren Produkten gebündelt, was zu falschen Risikoeinschät-
zungen führte. (2) Erwartungen der FinanzmarktakteurInnen werden optimis-
tischer, wenn es länger keine Finanzkrisen gibt. So wurden die Kredite für den
Hauskauf in der Annahme vergeben, dass die Preise weiter steigen. (3) Die
Rahmenbedingungen erlauben immer größere Unsicherheiten, während sich
FinanzmarktakteurInnen irrigerweise an vergangenen Erfahrungen stabilerer
Rahmenbedingungen orientieren. Das Risiko einzelner Handlungen sowie die
Reichweite von Krisen wird damit systematisch unterschätzt. So konnte sich
2007/08 das Platzen der Immobilienblase zu einer Weltwirtschaftskrise entwi-
ckeln. Diese zeigte gerade wegen der immer stärkeren internationalen Ver-
flechtung von Finanzmärkten ganz konkrete, lokale Auswirkungen. Eine Krise,
die als Immobilienblase in den USA begann und danach Spanien erfasste, hatte
beispielsweise die Schließung von Schulen in einer nord-norwegischen Klein-
stadt zur Folge: Die Stadt Narvik, mit ca. 18.000 EinwohnerInnen, hatte 26
Millionen Euro ihres öffentlichen Vermögens in vermeintlich risikoarme Fi-
nanzprodukte investiert, von denen sich herausstellte, dass sie risikoreich ge-
bündelte Kredite aus den USA enthielten. Die Stadt verlor durch das Platzen
der Blase 20 Millionen Euro und musste die öffentlichen Ausgaben für Schulen,
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Gesundheitsversorgung, Pflege und Feuerwehr drastisch kürzen. Das Beispiel
zeigt: Was auf dem Finanzmarkt passiert, hat Auswirkungen auf die Realwirt-
schaft. Was am US-Immobilienmarkt passiert, kann in Europa eine Rezession
auslösen.
Schließlich erhöht die steigende Einkommens- und Vermögensungleichheit
die Instabilitäten. In der aktuellen Phase der Finanzialisierung finden verwo-
bene Dynamiken statt. Bei hoher Einkommensungleichheit wird weniger kon-
sumiert und mehr gespart, weil Menschen mit hohem Einkommen zusätzliches
Einkommen eher sparen. Sie haben eine niedrige „Konsumneigung“ und eine
hohe „Sparneigung“, während für NiedriglohnbezieherInnen das Gegenteil gilt.
Das führt dazu, dass Sparvermögen lukrative Anlagen sucht. Diese sind in der
Realwirtschaft nicht ausreichend verfügbar, was die Attraktivität neuer Finanz-
produkte wie Derivate oder risikoreich gebündelter Kredite erhöht. Weiters
verschulden sich NiedrigverdienerInnen, deren Einkommen stagnieren oder
sinken, um ihren Lebensstandard zu halten. Die riskanten Kredite in den USA,
welche die Krise auslösten, wurden vorrangig an Niedrigverdienende vergeben.
Deren Privatverschuldung kompensierte vor 2008 das Stagnieren der Real-
löhne.

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Systemische Innovationen als schöpferische Zerstörung

Während außenwirtschaftliche Ungleichgewichte sowie Verschuldung und


Finanzialisierung Wohlstand gefährden, ist schöpferische Zerstörung eine
Form von Instabilität, die konstruktive Dynamiken ermöglicht. Kapitalismus
beruht auf Veränderung, Krisen sind ihm inhärent. Marx beschreibt sozioöko-
nomische Veränderungen als Prozesse stets komplexer werdender Produktiv-
kräfte. Die Ursache für diese expansive Logik liege im Zwang, im Wettbewerb
zu bestehen. Schumpeter hat diesen Gedanken aufgegriffen. Bei ihm ist die
schöpferische Zerstörung ein gleichzeitiger Prozess von Destruktion und Inno-
vation. Wachstum ist nicht bloß ein quantitativer Prozess, bei dem etwas mehr
wird, sondern führt zu qualitativen Veränderungen in Form von Innovationen
und neuen Produktionsprozessen, bei denen sich die Art des Gutes, der Leis-
tung oder der Arbeit verändert. Wachstum sei also Triebkraft von Fortschritt.
In fortgesetzten Prozessen der „schöpferischen Zerstörung“ erhöhe sich nicht
nur die Wirtschaftsleistung, sondern revolutioniere sich durch Innovationen
auch die Wirtschaftsstruktur.
Innovationen eröffnen neue Möglichkeiten, die sich aus dem Zusammen-
spiel verschiedener Akteure auf unterschiedlichen Ebenen ergeben. Das be-
kannteste Beispiel für einen Cluster bahnbrechender Innovation, das Silicon
Valley, trägt den Raum, in dem die Innovationen stattfinden, sogar im Namen.
Aufgrund von Agglomerationseffekten, den Vorteilen räumlicher Ballung,
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entstehen Cluster, geplant oder ungeplant, in denen Staat, Unternehmen und
Wissenschaft zusammenarbeiten. Sie kennen das regionale Umfeld und können
dessen Stärken, seine Betriebsstruktur und Infrastruktur, aber auch die For-
schungskompetenzen, nutzen, um langfristige Forschungsanstrengungen um-
zusetzen. Räumliche Nähe ist wichtig für den Innovationserfolg, weil sie Team-
arbeit erleichtert und ermöglicht, implizites Wissen (tacit knowledge) zu nut-
zen. Es ist dies ein Wissen, dass nicht öffentlich zugänglich und verschriftlicht
ist. Menschen wissen mehr, als sie sagen können. Lionel Messi „weiß“, wie man
gut Fußball spielt; vielleicht kann er es aber nicht erklären und sicherlich wird
niemand zum guten Fußballer, nur weil er Messi zuhört. Derartiges spezifisches
Wissen ist oft nur an einem bestimmten Ort verfügbar, beispielsweise bei Fach-
arbeiterInnen, in staatlichen Verwaltungen oder Forschungseinrichtungen.
Daher beeinflussen lokale Standortfaktoren den unternehmerischen Erfolg.
Während Silicon Valley wohl die bekannteste Clusterbildung ist, versuchen
viele andere Regionen, diesen Erfolg zu imitieren. Auch ein in Österreich 2017
gestartetes Mikroelektronik-Zentrum nennt sich „Silicon Austria“, die Chip-
und Hightech-Industrie in Sachsen „Silicon Saxony“.

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Die aktuelle Forschung im Bereich der STS betont, dass technische immer
Teil systemischer Innovationen sind. Doch hat keine Technologie nur eine
Verwendungsmöglichkeit. Sogar etwas scheinbar so Zweckmäßiges wie eine
Uhr kann entweder die Zeit bestimmen, als Mikrocomputer verwendet werden
oder ein Schmuckstück sein. Ko-Produktion benennt hierbei die dynamische
Interaktion zwischen Technologie einerseits und Gesellschaft, Politik und Wirt-
schaft andererseits: Gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Vorstellun-
gen, Werte, Interessen und Widerstände prägen die Entwicklung bestimmter
Technologien. Umgekehrt beeinflussen Technologien auch soziale Ordnungen
und bestimmen den Unternehmenserfolg.
So haben Technologien im Zusammenspiel mit unternehmerischer Innova-
tionskraft, politischen Aushandlungsprozessen sowie gesellschaftlichen Vor-
stellungen und Widerständen unterschiedliche Potentiale; beispielsweise:
(1) Marktanteile vergrößern, wie dies digitale Plattformen derzeit versuchen.
(2) Einflussbereiche stabilisieren: Die Erfindung von Telegraf und Dampfschiff
erleichterte die bessere Verwaltung der Kolonialreiche. Neue Infrastrukturen
der digitalen Kommunikation in Echtzeit und das auf fossilen Energieträgern
beruhende Transportwesen ermöglichten erst weltweite Vernetzung und den
globalen Einfluss von Finanzmärkten. (3) Politische Regime absichern: Im Na-
tionalsozialismus erlaubten Technologien, die große Datenmengen verarbeiten
konnten, politische Gegner aufzuspüren und Massenvernichtung industriell zu
organisieren. (4) Gesellschaftsordnungen verändern: Die Verbreitung von Haus-
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haltstechnologien im 20. Jahrhundert transformierte gesellschaftliche Ge-
schlechterverhältnisse, indem sie die geschlechterspezifische Arbeitsteilung so-
wie den Alltag und die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft veränder-
te. (5) Neue Bilder im Bewusstsein verankern: Das gegenwärtige Verständnis
einer „globalen“ Welt mit WeltbürgerInnen und globalen Märkten entstand in
Interaktion mit neuen Technologien der Kommunikation, Berechnung und
Beobachtung. Blue Marble, die bekannte, erstmalige Visualisierung der Erde
durch eine Aufnahme aus dem All im Jahr 1972, schuf ein Bewusstsein für die
Verwundbarkeit des „blauen Planeten“ als der „globalen Heimat“ des Men-
schen.
Der russische Ökonom Nikolai Kondratieff entwickelte auf Basis empiri-
scher Untersuchungen das Modell langer Wellen. An diesem Modell angelehnt
lässt sich zeigen, dass grundlegende technologische Innovationen, sogenannte
Basisinnovationen, in einem Wechselverhältnis mit Veränderungen der domi-
nanten Leitindustrien stehen. Technologische Innovationen führen demzufolge
zu systemischen Innovationen, weil sie die Wirtschafts- und Arbeitswelt verän-
dern. Gleichzeitig werden sie von vorherrschenden Vorstellungen, Machtver-
hältnissen und Interessen, wie gewirtschaftet und gearbeitet werden soll, beein-
flusst. Innovative Technologien können wirtschaftliche Veränderungen her-
beiführen und sind gleichzeitig von diesen beeinflusst. Dies führt laut Kondra-

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tieff zu regelmäßigen wirtschaftlichen Auf- und Abschwüngen, die in einem


Zeitraum von 40 bis 60 Jahren stattfinden. So können seit dem späten 18. Jahr-
hundert fünf langfristige Wellen beobachtet werden, die die Wirtschafts- und
Arbeitsweisen im Zusammenspiel mit neuen Technologien veränderten.
Ab ca. 1780 prägte die Erfindung der Dampfmaschine den Arbeitsmarkt.
Handwerkliche Arbeit in Manufakturen wurde durch industrielle Produktion
in Fabriken abgelöst. Die maschinenbasierte Arbeitsteilung erforderte diszipli-
niertes Verhalten der ArbeiterInnen. Dieses neue Verständnis von Arbeit als
Prozess der Aufteilung von Arbeitsvorgängen entstand im Zusammenspiel mit
neuen Technologien. Die Disziplinierung in der Fabrik wurde durch Maschi-
nen erzwungen, die das Arbeitstempo vorgaben und den Arbeitsrhythmus
bestimmten. Dagegen gab es jedoch auch Widerstände wie die Maschinenstür-
mer. Diese erste Kontratjeff’sche Welle endete mit der durch eine Spekulations-
blase ausgelösten Wirtschaftskrise 1837.
Mit der Erfindung der Eisenbahn wurde diese zusammen mit der Stahlin-
dustrie gegen 1830 zur neuen Leitindustrie und läutete die Ära des Massen-
transports ein. In Österreich folgte auf die ersten Staatsbahnen eine Phase der
staatlich subventionierten Privatbahnen. Das Eisenbahnnetz wurde ausgebaut,
sofern es sich um betriebswirtschaftlich rentable Strecken handelte. Mit dem
Börsenkrach von 1873 kam es zu Kursverfall und Konkursen. Die privaten
Investitionen stockten. Damit endete eine Phase dynamischer und manchmal
auch spekulativer Firmengründungen. Öffentliche Investitionen stiegen erneut
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an bis hin zur Verstaatlichung des Eisenbahnsektors.
Die dritte, gegen 1880 beginnende Welle umfasste Innovationen in der
Elektrotechnik (Telefon, Radio, elektrische Beleuchtung, Elektromotor) und
Chemie, und basierte stark auf der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse
im Produktionsprozess. Es entstanden Aktiengesellschaften, Kartelle und
Trusts. Sie perfektionierten das „wissenschaftliche Management“ von Arbeits-
abläufen, den sogenannten Taylorismus. Die Bewegungen des Körpers sollten
nach Maschinenart standardisiert, Hand- und Kopfarbeit klar voneinander
getrennt werden. Theoretisch sollte es, Frederick Winslow Taylor folgend,
möglich sein, ArbeiterInnen durch „einen intelligenten Gorilla“ zu ersetzen.
Während Taylor seine Bemühungen darauf fokussierte körperliche Bewe-
gungen der ArbeiterInnen zu optimieren, setzte Henry Ford darauf, harte kör-
perliche Arbeit durch Maschineneinsatz zu erleichtern. Der Fordismus beruhte
auf der Idee der austauschbaren Teile, dem Einsatz des Fließbands und der
Standardisierung von Produkten für die Massenproduktion. Und er ging im
Zusammenspiel mit neuen wirtschaftlichen Ideen über die reine Produktions-
sphäre und den Einsatz neuer Technologien hinaus. Fordismus kann als ein
neuartiges gesamtwirtschaftliches Ordnungssystem, eine neuen Regulations-
weise, verstanden werden: Hohe Löhne und niedrige Preise wurden Grundlage
steigender Nachfrage. Ford machte das Leitprinzip „Massenproduktion für den

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Massenkonsum“ populär, indem er den Arbeitern in seiner Automobilfabrik so


viel bezahlte, dass sie sich die Autos selbst leisten konnten. Gleichzeitig war er
damit als Unternehmer erfolgreich. Dieses Lohnmodell beruhte auf Männern
als Alleinverdienern (male breadwinner model), die ein für die Familie ausrei-
chendes Einkommen erzielten. Ford setzte jene wirtschaftspolitische Idee in-
nerhalb seines Unternehmens durch, die Keynes später als nachfrageorientierte
Wirtschaftspolitik (Kaufkraftstärkung durch hohe Löhne) populär machen
sollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Zeit der Massenproduktion für
den Massenkonsum. Diese Welle endete mit der Weltwirtschaftskrise 1929.
Durch Innovationen im Bereich der Petrochemie (die Herstellung von che-
mischen Produkten aus Erdöl und -gas) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg
ein neuer Aufschwung beflügelt. Die Automobilindustrie, von der Österreich
und Deutschland bis heute profitierten, wurde zu einer neuen Leitindustrie.
Transnationale Unternehmen gewannen an Bedeutung und die weltweite Er-
schließung von Erdöl beschleunigte einen Zyklus, der zu motorisiertem Indivi-
dualverkehr mit Verbrennungsmotoren sowie autozentrierten Siedlungsmus-
tern führte. Die Zersiedelung US-amerikanischer Vorstädte, Urban Sprawl ge-
nannt, ist hierfür ein extremes Beispiel. Nach dem Nachkriegsaufschwung be-
gann mit der ersten (1973) und zweiten (1979) Ölkrise, die den Preis für Erdöl
kurzfristig in die Höhe trieben, der wirtschaftliche Abschwung.
Die fünfte, ebenfalls noch nicht abgeschlossene, Welle begann in den 1970er
Jahren, ohne dass die Automobilindustrie ihre bestimmende Stellung einbüßte.
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Die neue Welle wurde durch die computerbasierte Informationstechnologie
angetrieben, die zu starkem Wachstum des Informationssektors führte. Wohin
diese Welle führt, ist noch nicht absehbar. Es gibt zahlreiche verschiedene
Prognosen, was sich im Zuge der Digitalisierung in immer mehr Bereichen der
Produktion und des Alltags verändern wird. Biotechnik, der Gesundheitssektor,
Robotik und künstliche Intelligenz gewinnen an Bedeutung. Der seit Taylor
eingesetzte Prozess der Automatisierung bewegt sich heute in Richtung cyber-
physischer Systeme: Maschinen überwachen Arbeitsprozesse.
Die folgende Tabelle fasst die fünf Phasen noch einmal zusammen.

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Tabelle: Die Kondratjew-Zyklen

K1 K2 K3 K4 K5
Wann? 1780–1830 1830–1880 1880–1930 1930–1970 1970 bis heute
Was? Dampf- Eisenbahn Chemie und Petrochemie Informations-
maschine; (und Dampf- Elektrotech- und Erdöl; technologie;
Textilindustrie schiff); nik; Elektro- Automobil- und Informations-
Stahlindustrie industrie Flugindustrie, industrie
Kunststoff-
industrie
Wofür? Bekleidung Massen- Massen- Individuelle Information
transport produktion Mobilität für und Kommuni-
für Massen- die Masse kation
konsum
Wie? Fabriksystem Kleinunter- Großunter- Transnationale Netzwerke
nehmer nehmen, Unternehmen großer und
Kartelle, kleiner Firmen,
Trusts, enge Koopera-
Monopole tion (Just-in-
und Oligopole time)
Wo? UK UK (Ausbrei- USA und USA USA und Japan
tung nach Deutschland (Ausbreitung
Europa und überholen UK nach Europa)
USA)

Diese Entwicklungen zeigen, dass technologische Innovationen sowie gesell-


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schaftliche und politische Vorstellungen von Wirtschafts- und Arbeitsweisen
sich gegenseitig beeinflussen. Wie neue Technologien genutzt werden, hängt
eng mit Regulierungen, wirtschaftspolitischen Strategien und Marktstrukturen
zusammen. Tatsächlich ist die Grundstruktur kapitalistischer Marktgesell-
schaften, wie sie Schumpeter, Marx und andere Klassiker beschreiben, vom 19.
bis zum 21. Jahrhundert weitgehend konstant geblieben. Es gab keine der In-
dustriellen Revolution vergleichbare grundlegende Transformation. Konkur-
renz, Eigentum, sowie Wachstums- und Gewinnorientierung sind weiterhin
wesentliche Strukturmerkmale der gegenwärtigen kapitalistischen Marktwirt-
schaften. Trotzdem hat sich die konkrete Art und Weise, wie gewirtschaftet
wird, stark gewandelt. Dominierte im 20. Jahrhundert lange Zeit die Fabrik als
Produktionsort, so arbeiten heute die meisten Beschäftigten in den wohlhaben-
den Ländern in Büros oder Geschäften. Ein großer Teil der Produktion hat sich
in andere Länder verlagert. In der ersten Globalisierung des 19. Jahrhunderts
(vgl. Historische Phasen wirtschaftlicher Entwicklung) prägten Landflucht und
großes Elend das Wirtschaftsleben. Im europäischen Wohlfahrtskapitalismus
(vgl. Historische Phasen wirtschaftlicher Entwicklung) und dem „American Way
of Life“ entwickelten sich hingegen effiziente Unternehmensformen, Sozial-
staaten und Massenkonsumgesellschaften, in denen große Bevölkerungsteile
am Wohlstand teilhaben konnten. Auch wenn all dies Formationen von kapita-

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listischen Marktwirtschaften sind, macht die konkrete Ausprägung der Struk-


turmerkmale einen wichtigen Unterschied: Menschen lebten im 20. Jahrhun-
dert in Europa in der Regel deutlich länger und besser als im 19. Jahrhundert
(vgl. Eine kurze Geschichte sozialen Fortschritts). Wie Gesetze, wirtschaftspoliti-
sche Strategien, Technologien und Marktstrukturen konkret ausgestaltet sind,
entscheidet über Lebensqualität, Wohlstand und Wohlbefinden. Öffentlichen
Institutionen, der staatlichen Innovations- und Technologieförderung sowie
der Wirtschaftspolitik kommt hierbei eine wichtige Rolle zu.
Ob heutige Volkswirtschaften zukunftsfähig werden, wird wesentlich vom
Umgang mit der Digitalisierung und den ihr zugrundeliegenden Technologien
abhängen. In den vergangenen Jahren entstanden digitale Marktplätze vielfach
dezentral. Durch Netzwerkeffekte, kam es vor allem bei digitalen Plattformen
jedoch rasch zu Konzentrationsprozessen. Heute haben Firmen wie Amazon,
Airbnb und Uber eine marktbeherrschende Rolle. Es geht um eine Vision glo-
baler Märkte mit souveränen KonsumentInnen. Neue Technologien helfen bei
der Umsetzung dieser Vision, denn sie eröffnen neue Möglichkeiten des Kon-
sums und verbilligen die Dienstleistungen und Produkte. Gleichzeitig unter-
laufen diese globalen Märkte auch nationale Regelungen wie Arbeits-, Sozial-
und Gewerberecht, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Dies zeigt sich
beispielsweise an der Strategie von Uber, welches die Übertretung von Regeln
und damit verbundene Strafzahlungen bewusst in Kauf nimmt. Beschäftigte,
die rechtskonform als Angestellte angemeldet werden müssten, agieren als
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Selbständige, um Lohnsteuern und Sozialabgaben zu vermeiden; Personen ohne
Gewerbeschein, für die weniger strikte Regeln gelten, konkurrieren mit offiziell
Angemeldeten.
In der zunehmend digitalen und globalen Arbeitswelt nehmen Menschen
vermehrt über nationale Grenzen hinweg Arbeit in unterschiedlichsten Formen
an. Beispielsweise werden sogenannte Crowdworker virtuell für Aufgaben ge-
sucht, die so konzipiert sind, dass sie schnell ausgeführt und gering entlohnt
werden. Der Vergabevorgang ist automatisiert, so dass nur wenig oder gar kein
Verhandlungsspielraum von Seiten der Arbeitenden besteht. Verhandlungen
über Qualität der Arbeit und Höhe der Bezahlung gibt es nicht. Traditionelle
Regulierungen des Arbeitsrechts oder des ArbeitnehmerInnenschutzes sind
kaum durchsetzbar. Dies führt zu Lohndruck und einem verstärkten Wettbe-
werb unter ArbeitnehmerInnen. Bei Unternehmen wie Uber und Foodora feh-
len oft grundlegende Arbeitsstandards sowie eine angemessene soziale Absiche-
rung. Die herkömmliche Regulation von Arbeitsmärkten unterliegt einer
grundlegenden Transformation. Wurden in Österreich Löhne und Gehälter,
Sonderzahlungen, Arbeitszeitfragen sowie Kündigungsfristen traditionell von
den Interessensvertretungen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretung
verhandelt und in Kollektivverträgen geregelt, kann diese Formen der sozialen
Absicherung über das Arbeitsrecht mit den rasanten organisatorischen und

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technologischen Entwicklungen nur schwer Schritt halten. Kurzum, Eigentü-


merInnen, KosumentInnen und hochqualifizierte Beschäftigte profitieren
demnach von der Digitalisierung, ein Gutteil der Beschäftigten nicht.
Kondratieffs Modell der technologischen Wellen zeigt, dass technologische
Neuerungen Arbeit nicht einfach abschafft, sondern verändert. Technologische
Wellen erzeugten immer Arbeitslosigkeit für einige und schufen neuartige
Beschäftigungen für andere. Dies ist auch heute der Fall. Die weit zitierte Ox-
ford-Studie von Carl Benedikt Frey und Michael Osborne zu zukünftiger Arbeit
schätzt, dass bei 47 Prozent aller Jobs in den USA eine mindestens 70-prozen-
tige Chance bestehe, dass diese in den nächsten zehn bis 20 Jahren automati-
siert werden. Besonders betroffen seien Arbeitsplätze in der Produktion, Trans-
port- und Logistik sowie im Büro- und Verwaltungsbereich. Es entstehe eine
neue Polarisierung am Arbeitsmarkt: Jobs mit mittlerem Einkommen gehen
zurück, während die Beschäftigung in kognitiven Berufen mit hohem Einkom-
men und in manuellen Berufen mit niedrigem Einkommen wächst. Die Aus-
wirkungen technologischer Veränderungen erstrecken sich auf neue Bereiche,
welche alle großteils oder gänzlich automatisiert werden könnten: Selbstfah-
rende Autos, Übersetzungsalgorithmen, Diagnosen im Gesundheitswesen,
Recherchen in Anwaltskanzleien oder Entscheidungsfindungen im Finanzsek-
tor. Der Wissenschaftsverlag Springer Nature hat ein erstes Buch herausgege-
ben, das nicht von einem Menschen, sondern von einem Algorithmus verfasst
wurde.
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Die Oxford Studie zielt allerdings auf das Substituierungspotential der Au-
tomatisierung, woraus nicht notwendigerweise folgt, dass mehr Jobs verloren
gehen, als neue geschaffen werden. Es gibt nämlich starke gegenläufige Tenden-
zen. Durch demographischen Wandel droht in Teilen Europas Arbeitskräfte-
und Fachkräftemangel. Für 2060 wird die deutsche Erwerbsbevölkerung auf 40
Millionen geschätzt, fünf Millionen weniger als heute. Vielmehr sehen Ar-
beitsmarktforscherInnen im Rückgang „guter Jobs“ mit „guten Löhnen“ sowie
im schwierigen Arbeitsmarktzugang für junge Menschen das Hauptproblem.
Trotz gesteigerter Arbeitsproduktivität steigen nicht Löhne und Gehälter, son-
dern vor allem Kapitaleinkommen (vgl. Box Erwerbs- und Kapitaleinkommen).

Box: Erwerbs- und Kapitaleinkommen


Das Erwerbseinkommen, auch Arbeitseinkommen genannt, besteht aus den Einnahmen,
die Personen als ArbeitnehmerInnen oder Selbständige erhalten.
Das Kapitaleinkommen umfasst Einkommen aus Kapitalvermögen in Form von Zins- und
Gewinnzahlungen wie Dividenden, Aktienkurssteigerungen, Renditen aus Anleihen oder
Mieteinnahmen.
Beide Formen der Einkommen werden in der Einkommensverteilung berücksichtigt. Ihre
Summe ergibt das Gesamteinkommen.

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Globalisierung im Umbruch

Die Herausbildung einer Weltwirtschaft vernetzte in den vergangenen 500 Jah-


ren bisher unverbundene Gebiete, Menschen, Kulturen und Unternehmen. Be-
sonders seit dem 19. Jahrhundert verkürzten neue Technologien wie Telegra-
phen, Eisenbahn und Dampfschiff Zeit-Raum-Distanzen. Die Welt wurde
„kleiner“, Menschen, Waren, Güter, Kapital und Wissen mobiler. Diese zu-
nehmende Vernetzung der Weltwirtschaft bedeutet keine Auslöschung räumli-
cher Unterschiede. Raum war und ist wichtig. Globalisierung und Nationsbil-
dung sind immer Hand in Hand gegangen. Mächtige Nationen, die Territorien
politisch und wirtschaftlich organisierten, haben immer schon versucht, die
Welt im Sinne ihrer eigenen Interessen zu ordnen. Heute kontrollieren global
agierende transnationale Unternehmen globale Produktionsnetzwerke und
suchen geeignete lokale Produktionsstandorte. Je vernetzter die Weltwirtschaft,
desto leichter können sie verschiedene Standorte gegeneinander ausspielen.
Als führende Industrienation setzte England im 19. Jahrhundert den Frei-
handel durch, während die USA und Deutschland ihre Unternehmen vor aus-
ländischer Konkurrenz schützten. Sie errichteten Zölle, um Importe zu verteu-
ern oder untersagten diese zum Schutz und für den Aufbau einer nationalen
Industrie. Bis heute ist Weltpolitik durch nationale Interessen geprägt, wobei
politischer Einfluss immer mit wirtschaftlicher Macht verbunden ist. Bei den
aktuellen geopolitischen Umbrüchen geht es vor allem (1) um die Verschie-
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bung der weltweiten Raumhierarchien weg vom Westen – das heißt Nordame-
rika und Europa. Für die einen, den Westen, beinhaltet dies vorrangig Pro-
bleme, für andere im Globalen Süden vorrangig Chancen. Die Globalisierung
hat zuerst Westeuropa und danach Nordamerika zum Zentrum der Weltwirt-
schaft gemacht. Doch heute scheint die westliche Vorherrschaft zu enden.
(2) Asien ist am Vormarsch. (3) Historisch können diese diversen Entwicklun-
gen in unterschiedliche Phasen eingeteilt werden, in welchen sich auch (4) demo-
kratische Entscheidungsstrukturen veränderten.

Die Krise der westlichen Vorherrschaft

Die europäische Zivilisation ist nicht nur in Bezug auf Ausbeutung und Nut-
zung der Natur expansiv. Handel, Krieg, Eroberung und Missionierung gingen
oftmals Hand in Hand. In den mittelalterlichen Kreuzzügen sollte das „Heilige
Land“ befreit werden, und seit dem 16. und 17. Jahrhundert bildete sich eine
Weltordnung heraus, in deren Zentrum das „christliche Abendland“ stand. Ein
auf Handel aufbauendes Weltsystem schuf eine globale Hierarchie von sich im
Zeitablauf verschiebenden Zentren und Peripherien. In den Zentren konzen-

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trierten sich Finanz und Industrie, während die Peripherie Rohstoffe, Agrargü-
ter und Mineralien lieferte. Ausgangspunkt der expansiven Geschichte des
kapitalistischen Weltsystems war das Reich der Venezianer, welche über das
Mittelmeer vom 13. bis zum 15. Jahrhundert große Handelswege kontrollierten.
Es folgten Genua und dann im 17. Jahrhundert die Niederlande, die ebenfalls
über große Häfen – allen voran Amsterdam – und eine mächtige Flotte verfüg-
ten. Noch ausgeprägter verband schließlich das Vereinigte Königreich seine
Seemacht mit einem für damalige Verhältnisse großen Binnenmarkt, das heißt
einem geographisch begrenzten Wirtschaftsraum, in dem Waren, Dienstleis-
tungen, Kapital und ArbeitnehmerInnen frei verkehren können. England
wurde zur Wiege der Industrialisierung. Große Gebiete Asiens, Afrikas und
Lateinamerikas wurden zu europäischen Kolonien und damit zu Absatzgebie-
ten der europäischen Industriewaren sowie Quellen für die dafür notwendigen
Rohstoffe. Mit Ausnahme Lateinamerikas erlangten die meisten Länder des
Globalen Südens ihre politische Unabhängigkeit erst nach dem Zweiten Welt-
krieg. Heute sind 193 unabhängige Staaten Mitglied der Vereinten Nationen.
Nach zwei Weltkriegen teilte sich die Welt in die Einflusssphären der USA
und der Sowjetunion. In der westlichen Einflusssphäre begann die Phase der
US-Hegemonie, die ihre Vorherrschaft auf militärische und wirtschaftliche
Macht stützte, aber gleichzeitig auch kulturell attraktiv war. Der „US-American
Way of Life“ und seine Massenkonsumgesellschaft wurden zum Vorbild im
Streben nach einem guten Leben. Rechtsstaatlichkeit, politische Demokratie
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und soziale Sicherungssysteme sollten – so das Leitbild – diese liberale Wirt-
schaftsordnung ergänzen. Europa gab sich mit der Rolle des Juniorpartners
zufrieden. Der Wohlstand kehrte mit hohen Wachstumsraten zurück, auch
wenn die politische Vormachtstellung abgetreten wurde. Doch über die letzten
drei Jahrzehnte sind die Weltmarktanteile Europas stagniert. So verändert sich
die Jahrhunderte alte ungleiche Weltordnung, von der in erster Linie die Men-
schen im Globalen Norden profitierten.
Erste Machtverschiebungen fanden in der wissenschaftlichen Debatte statt,
als 1949 erstmals eine Wirtschaftstheorie entstand, die weltweit diskutiert
wurde, aber nicht in Europa oder Nordamerika entwickelt worden war. Der
lateinamerikanische Strukturalismus erarbeitete einen eigenständigen Weg der
Modernisierung der Peripherie der Weltwirtschaft, also der nach westlichem
Maßstab wirtschaftlich weniger entwickelten, oft ausgebeuteten Gebiete. Gute
Wirtschaftspolitik unterscheide sich an verschiedenen Orten. Im Zentrum der
Weltwirtschaft mit starken und modernen Unternehmen und Institutionen sei
Freihandel vorteilhaft. An der Peripherie, in Afrika, Lateinamerika und Asien,
führe die bestehende Arbeitsteilung aber zu Nachteilen. Die Spezialisierung auf
Landwirtschaft und Bergbau eröffne keine Entwicklungsperspektiven. An der
Peripherie brauche es vielmehr eine Politik der Industrialisierung und der Stär-
kung des Binnenmarktes. Damit könne die Abhängigkeit von den ehemaligen

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Kolonialmächten reduziert werden. Diese nationalstaatliche Entwicklungsstra-


tegie zeitigte bis Anfang der 1980er Jahre bedeutende Industrialisierungserfolge
in vielen Ländern der Peripherie.
Um 1960, als es zur Dekolonisierung insbesondere der afrikanischen Staaten
kam, entstand mit der Blockfreienbewegung auch eine politische Alternative.
Dieser Zusammenschluss von Staaten wollte sich den Einflusssphären von USA
und UdSSR entziehen. Diese Länder, großteils aus dem Globalen Süden, for-
derten im Rahmen der UNO eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Diese
politischen Versuche endeten in den 1980er Jahren, als viele Staaten der Block-
freienbewegung mit Verschuldung und Leistungsbilanzproblemen konfrontiert
waren. Der eigenständige Entwicklungsweg außerhalb des westlichen Einfluss-
bereichs kam damit zu einem Ende.
Ein weiterer, scheinbar erfolgreicher Pfad der Veränderung von Raumhie-
rarchien erfolgte auf wirtschaftlichem Weg. Den „Tigerstaaten“ Singapur, Tai-
wan und Südkorea gelang die qualitative Veränderung ihrer Wirtschaftsstruk-
tur. Sie kombinierten pragmatisch unterschiedliche Strategien, die auf Unter-
nehmensförderung und Marktwirtschaft in eigenen Exportproduktionszonen,
aber auch eine aktive, staatsgeleitete Industrie- und Technologiepolitik setzten.
Der Staat schützte inländische Unternehmen vor ausländischer Konkurrenz
durch Schutzzölle. Diese Strategie hat Ähnlichkeiten mit derjenigen, die
Deutschland und die USA im 19. Jahrhundert erfolgreich im Konkurrenzkampf
gegen England praktizierten. Wie damals, als Deutschland und die USA Eng-
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land als Industriemacht verdrängten, erleichterten vorübergehende Schutzzölle
den Aufbau einer eigenständigen Industrie. Gleichzeitig wurde der komparative
Vorteil billiger Löhne in der internationalen Arbeitsteilung für eine erfolgreiche
Exportwirtschaft genutzt. China und andere Schwellenländer folgten. Heute ist
die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA zunehmend herausgefordert. Seit
dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak 2003 wird der USA vermehrt
vorgeworfen, sich einzig auf ihre Eigeninteressen zu konzentrieren. Die vormals
kulturell attraktive US-Hegemonie wird immer mehr als reine Dominanz
wahrgenommen, verstanden als Macht, basierend vor allem auf militärischer
Stärke.
Die gegenwärtigen Veränderungen erschüttern auch die jahrhundertelange
kulturelle Dominanz des Westens, die neben wirtschaftlicher und militärischer
Macht zuerst auf dem Christentum und dann vermehrt auf den Ideen der Auf-
klärung basierte. Der „Westen“ sah sich lange Zeit als ein Vorbild des „unter-
entwickelten Rests“, wie dies der Kulturwissenschafter Edward Said beschreibt.
Über 500 Jahre profitierte Europa von seiner Außenorientierung, sei dies in der
Form von Missionierung, Kolonialisierung oder Global Governance (vgl. Box
Global Governance). Alles „nicht-Westliche“ wurde oftmals als ein Zeichen von
Rückständigkeit interpretiert – Gebiete, Menschen und Kulturen wurden am
Maßstab des Westens in entwickelt und unterentwickelt unterteilt. Bis heute

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spiegelt sich dies im oft verwendeten Wort „Entwicklungsländer“ (dem Globa-


len Süden) wider. Gegenwärtige Entwicklungen deuten jedoch darauf hin, dass
jene Ära, in der sich der Westen aufgrund seiner hegemonialen Rolle als das
Maß aller Dinge sehen konnte, zu Ende geht. Asien ist am Vormarsch.

Box: Global Governance


Global Governance ist eine Form der politischen Zusammenarbeit zwischen nationalen,
inter-, supra- und transnationalen Akteuren. Sie verhandeln gemeinsame Strategien,
Regeln und Instrumente für Probleme, die mehr als einen Staat oder eine Region betref-
fen. Dabei geht es wesentlich um globale Gemeingüter wie Klimawandel, Migration, Frie-
den und Sicherheit sowie die Stabilität der Weltwirtschaft. Zentrale Akteure sind die Ver-
einten Nationen (UNO), die Welthandelsorganisation WTO, der Internationalen Strafge-
richtshof, die Weltbank und transnationale Organisationen wie NGOs und transnationale
Unternehmen.
Governance steuert durch Regeln und Institutionen, die das Verhalten von AkteurInnen
beeinflussen. Governance (Steuerung bzw. Regieren) ist nicht Government (eine Regie-
rung). Daher unterscheidet sich Global Governance von einer, gemeinhin als unrealistisch
angesehenen Weltregierung.

Der (Wieder-)Aufstieg Asiens

Bis ins 17. Jahrhundert war Asien in Bezug auf Wirtschaftsleistung, technologi-
sche Entwicklung und Bevölkerung weltweit führend. Zwischen dem 11. und
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13. Jahrhundert zählten Kaifeng im Osten Chinas und Merv im heutigen Turk-
menistan zu den weltweit größten Städten, führende Gelehrte arbeiteten in
Bukhara und Samarkand (Usbekistan), Isfahan (Iran) und Xi’an (China). Von
1600 an verlagerte sich das Zentrum der Weltwirtschaft Richtung Europa, da-
nach in Richtung Nordamerika. Doch seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-
derts ist eine erneute Verschiebung der Wirtschaftsleistung Richtung Asien zu
beobachten. Die chinesische Volkswirtschaft ist heute die zweitgrößte der Welt.
China ist mit 12,76 Prozent der Weltexporte (2017) der weltweit größte Expor-
teur sowie mit 10,26 Prozent der Weltimporte (2017) der zweitgrößte Impor-
teur. Als zweitgrößter Kapitalexporteur (12,61 Prozent der weltweiten ausländi-
schen Direktinvestitionen im Jahr 2016) verfügt China mit 3,14 Billionen US-
Dollar, das heißt 2.140 Milliarden US-Dollar, (2017) über riesige Devisenreser-
ven, das heißt auf ausländische Währung lautende Guthaben, einen begehrten
Inlandsmarkt und eine Währung, die zunehmend auch im internationalen
Zahlungsverkehr verwendet wird.
Vor rund 2000 Jahren verband die sogenannte Seidenstraße die chinesische
Pazifikküste mit dem Mittelmeerraum. 2013 begann China mit der Wiederbe-
lebung dieser historischen Seidenstraße. Diese Initiative wurde als „Belt and
Road Initiative“ (BRI), „One Belt, One Road“ oder auch „Neue Seidenstraße“
bekannt. Dafür gab es 2018 mit über 130 Ländern bzw. Organisationen Koope-

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rationsabkommen zu gemeinsamen Infrastrukturprojekten, Handel und Inves-


titionen sowie wirtschaftspolitischer Zusammenarbeit. Chinesische Unterneh-
men investierten über 50 Mrd. US-Dollar und schufen fast 200.000 lokale Ar-
beitsplätze. Geographisch ist die BRI nicht auf die historische Seidenstraße
beschränkt, sondern erstreckt sich bis Afrika (z. B. Nigeria), Südamerika (z. B.
Bolivien) und Europa (z. B. Griechenland und Luxemburg). Die Initiative um-
fasst den Ausbau von Straßennetzen und anderen Transportrouten kombiniert
mit der Minimierung von Handelsbarrieren. Ungefähr eine Billion Dollar wer-
den in den Bau von Häfen, Pipelines, Straßen und Eisenbahnen investiert, um
den Handel voranzutreiben und neue Märkte zu erschließen. In diesem Sinne
verschafft die BRI China die Möglichkeit, sich international als zentraler Akteur
zu positionieren und seine Einflussmöglichkeiten auszuweiten. Gleichzeitig
tragen die Investitionen der BRI dazu bei, den chinesischen Bedarf vor allem im
stark wachsenden Energiesektor zu decken.
China ist eine autokratische Ein-Parteien-Herrschaft. Die regierende kom-
munistische Partei verfolgt einen neuen kapitalistischen Entwicklungsweg.
Offiziell fordert China eine multilaterale Weltordnung, das heißt ein System der
internationalen Beziehungen ohne zentrale Führungsmacht. Dem Konzept der
Harmonie (Héxié) folgend sollen verschiedene Entwicklungswege und damit
nationale Souveränität nicht angetastet werden. Die inneren Angelegenheiten
eines Landes gingen das Ausland nichts an. Dieses Konzept ähnelt dem der Ko-
Existenz, wie es während des Kalten Krieges praktiziert wurde, sowie dem
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konfuzianischen Gedanken, dass Menschen zwar zusammen und in Interaktion
stehen, ihre Unterschiede aber beibehalten.
Gleichzeitig steht Chinas reale Politik heute im Zentrum der Debatte um
Menschenrechte und ökologische Herausforderungen. Chinas Haltung gegen-
über geistigem Eigentum, der Freiheit des Internets, eingeschränkter Presse-
freiheit, systematischen Menschenrechtsverletzungen und dem Umgang mit
Hongkong wird stark kritisiert. Umweltprobleme als Folge rasanten Wirt-
schaftswachstums reichen von schlechter Luft- und Wasserqualität sowie Was-
serknappheit bis zu Erosion und Versteppung. Chinas rasant steigender Res-
sourcenverbrauch beschleunigt Engpässe und treibt die Weltmarktpreise in die
Höhe. Außerdem ist China heute der weltweit größte Emittent an CO2. Die
Grafik Jährliche CO2-Emissionen per Weltregion (in Milliarden Tonnen) zeigt
den drastischen Anstieg chinesischer CO2-Emissionen in absoluten Zahlen.
Doch China ist gleichzeitig das bevölkerungsreichste Land, weshalb sein pro
Kopf-Verbrauch immer noch weit hinter dem der westlichen Nationen liegt.
Weiters stammt ein guter Teil der Emissionen aus der Produktion von Gütern,
die zwar in China produziert, aber in anderen Ländern konsumiert werden.

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Grafik: Jährliche CO2-Emissionen per Weltregion

(Ritchie und Roser, 2019 basierend auf: Carbon Dioxide Information Analysis Centre (CDIAC), 2017;
Quéré et al., 2018)

Angesichts dieser ökologischen und menschenrechtlichen Konfliktpotentiale


- orderid - cma57090050
gibt es keine Anzeichen, - transid
dass traditionelle Formen des-Wettbewerbs
cma57090050um hege- -
monialen Einfluss durch ökonomische und militärische Stärke abnehmen.
Rivalitäten auf regionaler und globaler Ebene scheinen sich vielmehr zu erhö-
hen, wie der aktuelle Handels- und Währungskonflikt zwischen den USA und
China zeigt. Noch sieht die Europäische Kommission China offiziell als einen
der „wichtigsten strategischen Partner“. De facto gibt es wachsende Bedenken.
In rezenten Strategiepapieren wird China mittlerweile bereits als „Systemrivale“
bezeichnet. Doch eröffnet insbesondere die stockende EU-Erweiterung in Süd-
osteuropa Chinas Unternehmen neue Chancen, sich in Teilen Europas als zen-
traler Akteur zu positionieren. Da China auch als Financier verschuldeter Staa-
ten einspringt, wachsen seine Einflussmöglichkeiten auf europäische Mitglieds-
staaten. Und dies trotz eines Entwicklungsmodells, das auf autoritärer Kon-
trolle beruht, die mit digitalen Mitteln bisher ungekannte Ausmaße annehmen
könnte. Ein Land, in dem wirtschaftliche und politische Macht in dieser auto-
ritären Weise verbunden sind, wird auf diesem Weg zu einem Schlüsselakteur
in Europa und der Welt.

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Historische Phasen wirtschaftlicher Entwicklung

Nach Jahrhunderten der Orientierung nach innen fand sich China Mitte des 19.
Jahrhunderts mit europäischen Versuchen konfrontiert, die chinesische Wirt-
schaft zu öffnen. Diplomatische und militärische Interventionen waren Teil
dieser Geschichte. Globalisierung hatte immer auch imperialistische und kolo-
nialistische Züge, denn neue Auslandsmärkte wurden und werden mit allen
möglichen Mitteln erschlossen. Ein besonders skrupelloses Beispiel stellt der
Fall des Opiumhandels dar, den das Vereinigte Königreich in China mit Gewalt
legalisierte. Die British East India Company (EIC) exportierte indisches Opium
nach China, was der chinesische Kaiser unterbinden wollte. Mit dem ersten
(1839–1842) und zweiten Opiumkrieg (1856–1860) brachen die Briten seinen
Widerstand. Der Opiumhandel wurde Profiteur des Freihandels.
Im 20. Jahrhundert dominierten lange Fremdherrschaft und Bürgerkrieg,
bis das kommunistische China unter Mao nach 1949 einen Entwicklungsweg
einschlug, der um maximale wirtschaftliche Unabhängigkeit bemüht war, um
koloniale Abhängigkeiten zu überwinden. Erst unter Deng Xiaoping, Staatschef
von 1978 bis 1992, wurde Binnenorientierung (vgl. Box Binnen- und Außenori-
entierung) und zentrale Planwirtschaft schrittweise aufgegeben. Deng öffnete
China wirtschaftlich, nicht aber politisch. Die Kommunistische Partei blieb
dominant. Doch wurden marktliberale Reformen hin zu einer „sozialistischen
Marktwirtschaft“ umgesetzt und China vernetzte sich intensiver mit dem kapi-
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talistischen Weltsystem. 2001 wurde China in die Welthandelsorganisation
(WTO) aufgenommen.
Nicht nur Chinas Entwicklung, auch die aller anderen Volkswirtschaften,
kann in unterschiedliche Phasen eingeteilt werden. Die aus Frankreich stam-
mende Regulationstheorie untersucht derartige historische Phasen wirtschaftli-
cher Entwicklung. Während der lateinamerikanische Strukturalismus eine
Theorie aus der Perspektive der Peripherie entwarf, untersucht die Regula-
tionstheorie kapitalistische Marktwirtschaften im Zentrum. Sie unterscheidet
zwischen unterschiedlichen Akkumulationsregimen und Regulationsweisen.
Ein Akkumulationsregime beschreibt eine bestimmte Organisationsweise der
Produktion, der Finanzierung und Verteilung, das heißt zum Beispiel Phasen
größerer und geringerer wirtschaftlicher Ungleichheit. Eine Regulationsweise
stabilisiert ein Akkumulationsregime durch passende Regulierungen von Geld,
Arbeit und Wettbewerb sowie unterschiedliche Arten der Einbindung in die
Weltwirtschaft, zum Beispiel eine geringere oder stärkere Abhängigkeit vom
Weltmarkt.

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Box: Binnen- und Außenorientierung


Binnen- und Außenorientierung sind zwei unterschiedliche Entwicklungsstrategien.
Binnenorientierung fokussiert auf den Inlandsmarkt, den Absatz im eigenen Wirtschafts-
raum. Daher werden Löhne als potentielle Nachfrage gesehen. Der Binnenmarkt bezeich-
net ein abgegrenztes Wirtschaftsgebiet, das durch einen freien Markt, eine einheitliche
Rechtsordnung und eine Währung gekennzeichnet ist. Beispiele sind nationale Märkte
sowie seit 1993, auch der gemeinsame europäische Binnenmarkt.
Das Gegenstück zur Binnenorientierung ist die Außen-, das heißt Exportorientierung,
welche auf den Absatz der nationalen Produktion auf dem Weltmarkt bzw. Märkten ande-
rer Länder fokussiert. Damit soll Beschäftigung geschaffen werden. Löhne sind in dieser
Strategie vorrangig ein Kostenfaktor, der Exporte verteuert und damit Wettbewerbsfähig-
keit gefährdet. Hohe Löhne sind nur bei hoher Produktivität finanzierbar, weshalb es gut
qualifizierte Arbeitskräfte braucht, um hohe Löhne zu ermöglichen.

Die folgende historische Darstellung ist an die regulationstheoretische Periodi-


sierung angelehnt. Sie unterscheidet drei Phasen: (1) die liberale Regulation
während der ersten Globalisierung vor 1914, (2) den Wohlfahrtskapitalismus,
auch Fordismus genannt, und (3) die neoliberale Globalisierung. Im Fokus
stehen Veränderungen der jeweiligen Binnen- und Außenorientierung sowie
der Machtbeziehungen zwischen Finanz- und Realkapital. Die drei Phasen sind
Idealtypen, das heißt Vereinfachungen, um wichtige Dynamiken vorrangig in
Westeuropa und Nordamerika zu verstehen.

(1) Die liberale Regulation vor dem Ersten Weltkrieg wird als erste Globalisie-
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rung bezeichnet (1850–1914), in welcher- ein
transid - cma57090050
international verwobener Banken- -
sektor dominierte. Unterstützt wurde die Dynamisierung des Welthandels
durch den Goldstandard (vgl. Box Goldstandard). Die Bank of England machte
damit Gold zu einer Ware, die von allen MarktteilnehmerInnen als Zahlungs-
mittel akzeptiert wurde, was internationale Transaktionen vereinfachte. Damit
definiert Gold einen stabilen Geldwert. Steigt die Menge neu geschürften Gol-
des langsamer als die Wirtschaftsleistung, gibt es Deflation, das heißt die Preise
sinken. Tatsächlich blieben die Preise in England im gesamten 19. Jahrhundert
weitgehend konstant. Gold als Zahlungsmittel erhöhte die Stabilität der Ein-
nahmen aus ausländischen Direktinvestitionen. Es beschränkte die Möglichkeit
zu importieren, ohne entsprechende Exporterlöse erzielt zu haben. Die Rechts-
ordnungen der damals vorherrschenden konstitutionellen Monarchien orien-
tierten sich an internationalen Standards, um Rechtssicherheit für Investoren
zu schaffen. Diese liberale Regulationsweise war außenorientiert, Wirtschafts-
wachstum wurde vor allem durch Exporte erzielt.
Gleichzeitig wurden Schutzzölle gegen ausländische Konkurrenz verhängt
und neue Märkte erobert und gesichert. Nationen sahen sich im ständigen
Wettbewerb anlagesuchender Rentiers. Löhne galten als Kostenfaktor. Ver-
suchten nationale Gewerkschaften höhere Löhne oder nationale Parlamente
Sozialleistungen durchzusetzen, erhöhte dies umgehend die Kosten der Export-

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güter und gefährdete die Handelsbilanz. Wenn es dadurch zum Abfluss von
Gold kam, drohten Währungskrisen. Nationale Regierungen, insbesondere in
Kleinstaaten, waren somit einer goldenen Zwangsjacke („Golden Straightja-
cket“) ausgesetzt: Jede Maßnahme, die von Investoren abgelehnt wurde, drohte
im Konfliktfall zu fehlendem Kreditzugang, steigenden Zinssätzen für Staats-
schuldscheine sowie fallenden Aktienkursen zu führen. Schon die erste Globali-
sierung ging daher über den reinen Freihandel hinaus. Das Drohpotential schuf
ein formelles, aber vor allem informelles Regelwerk, das Rechtssicherheit bei
Verträgen und gesicherte Renditen der transnational agierenden Investoren
garantierte. Dies bedeutete eine tiefe wirtschaftliche Integration, die den Spiel-
raum nationaler Gesetzgebung einschränkte. Damit waren Regierungen de facto
internationalen Investoren mehr rechenschaftspflichtig als der eigenen Bevöl-
kerung.

Box: Goldstandard
Der Goldstandard bezeichnet eine Währungsordnung, in der die Währung eines Landes
einen Anspruch auf Gold repräsentiert und daher in Gold eingetauscht werden kann. Der
Wert des Geldes ist somit an die Menge von Gold geknüpft. Jede/r, der/die über das Pa-
piergeld des jeweiligen Landes verfügt, kann es der nationalen Notenbank vorlegen und
eine vereinbarte Menge Gold aus der nationalen Goldreserve erhalten. Daher ist es für
Notenbanken riskant, mehr Geld in Form von Banknoten in Umlauf zu bringen als es über
Währungsreserven in Gold verfügt. Dies stabilisiert den Geldwert, schränkt aber politische
Handlungsspielräume ein: Der Ausgabe von Banknoten sowie der Staatsverschuldung sind
enge Grenzen gesetzt.
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1914 gipfelten die zahlreichen imperialistischen Konflikte in einem brutalen
Weltkrieg. Dessen Ende 1918 führte zur Entstehung neuer Staaten in der Form
von demokratischen Republiken, wo vorher Monarchien herrschten, und
wichtigen sozialpolitischen Errungenschaften. Die Verträge von Versailles und
Saint-Germain, die Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Schuld
am Ersten Weltkrieg gaben, verhinderten eine friedliche und kooperative Zu-
sammenarbeit der Sieger- und Verliererstaaten. Hohe Reparationszahlungen,
der Verlust deutscher Kolonien, das Abtreten von Anteilen der jährlichen
Ausfuhren sowie die Übergabe des Großteils seiner Handelsflotte und die Be-
schränkung des Militärs schränkte den nationalen Handlungsspielraum
Deutschlands stark ein. Als das Deutsche Reich mit den Reparationszahlungen
in Rückstand geriet, besetzten 1923 französische und belgische Truppen das
Ruhrgebiet. Als 1929 die Weltwirtschaftskrise ausbrach, waren die Entschei-
dungsträger nicht vorbereitet, Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. Dies dele-
gitimierte die verbliebenen demokratischen Nationalstaaten weiter. In weiten
Teilen Europas entstanden autoritäre und faschistische Diktaturen. In Russland
regierte die kommunistische Partei mit zunehmend diktatorischen Zügen. Sieg-
reich aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen, erweiterte die Sowjetunion
ihr Einflussgebiet auf weite Teile Osteuropas.

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(2) In Westeuropa und Nordamerika stabilisierten sich liberale Demokratien


und kapitalistische Marktwirtschaften erst im Wohlfahrtskapitalismus (1945 bis
ca.1980), in Portugal, Spanien und Griechenland endeten die Diktaturen in den
1970er Jahren, in Osteuropa brachen nach 1989 die staatssozialistischen Sys-
teme zusammen. Liberale Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass der
Staat die Freiheit des Einzelnen ebenso schützt wie individuelle Freiheit vor
dem Staat geschützt wird. Der liberale Demokratiebegriff beruht auf Mehr-
heitsbeschlüssen, Rechtsstaatlichkeit: Gewaltenteilung, Rechtsbindung sowie
Menschenrechts- und Minderheitenschutz. Darüber hinaus basieren liberale
Demokratien auf Repräsentation, welche parlamentarische, präsidentielle oder
semi-präsidentielle Formen annehmen kann. Politische Sachentscheidungen
werden nicht direkt durch das Volk, sondern durch VertreterInnen getroffen.
In der Nachkriegszeit verschob sich die wirtschaftliche Dynamik hin zur
Realwirtschaft. Die UNO intensivierte die politische Zusammenarbeit im Rah-
men einer multipolaren Weltordnung, um Frieden zu sichern. Das Bretton-
Woods-Abkommen 1944 (vgl. Box Bretton Woods) basierte ebenfalls auf einem
Goldstandard. Die Kopplung des US-Dollars an das Gold blieb die Jahre nach
dem Weltkrieg mit 35 Dollar je Unze Gold gleich. Damit schufen die USA ei-
nen überhöhten Wechselkurs und begünstigten damit seine Verbündeten, in-
dem sie deren Exporte erleichterten. Dadurch unterschied sich das Bretton-
Woods-System grundlegend vom Goldstandard der ersten Globalisierung. Nun
galten einige wenige, aber sehr wirksame „Verkehrsregeln“, allen voran strenge
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Kapitalverkehrskontrollen. Diese erlaubten es den nationalen Regierungen,
trotz Goldstandards und fixer Wechselkurse eine eigenständige Finanz- und
Geldpolitik zu verfolgen. Das General Agreement on Tariffs and Trade
(GATT), ein völkerrechtliches Zoll- und Handelsabkommen, führte bis 1994
zur Wiederbelebung des Welthandels. Es war ausdrücklich kein Modell ver-
tiefter Integration, sondern beruhte auf freiwilligen Zollsenkungen nach dem
Prinzip der Meistbegünstigung. Demnach mussten Handelsvorteile, die ein
Land einem anderen Land gewährte, auch für alle anderen Länder gelten. Na-
tionale Volkswirtschaften hatten Entscheidungsspielräume, um „sensible“
Sektoren wie die Landwirtschaft oder neue Industriezweige zu schützen. 1995
wurde das GATT von der Welthandelsorganisation WTO abgelöst. Die WTO
ist eine internationale Institution, in der jedes Land eine Stimme hat. Sie kann
nationale Regulierungen, die WTO-Regeln verletzen, sanktionieren. Die WTO
ist eine Schlüsselinstitution der tiefen Integration in der nach dem Wohlfahrts-
kapitalismus entstehenden neoliberalen Globalisierung, die einen möglichst
unbeschränkten Welthandel sichern soll.

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Box: Bretton Woods


Das 1944 von 44 Staaten ausgehandelte Bretton-Woods-Abkommen etablierte ein inter-
nationales Währungssystem, das bis Anfang der 1970er Jahre bestand. Währungen waren
an den Wert des US-Dollars gebunden, der wiederum an den Goldpreis gekoppelt war.
Zwei Institutionen stabilisierten diese Weltwirtschaftsordnung. Der Internationale Wäh-
rungsfonds (IWF) unterstützte Mitgliedsländer mit Krediten, um kurzfristige Leistungsbilan-
zungleichgewichte auszugleichen. Die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwick-
lung (IBRD), die als Weltbank bekannt ist, war für die Vergabe langfristiger Kredite zur
Entwicklungsförderung zuständig. Anfangs waren dies vorwiegend Infrastrukturprojekte,
später vermehrt auch Investitionen in Bildung, Gesundheit und Umweltschutz.
In IWF und Weltbank haben die westlichen Nationen die Stimmenmehrheit, weil sie die
Mehrheit der Kapitaleinlagen finanzieren. Sie stellen PräsidentIn der Weltbank und Direk-
torIn des IWF.

Orientiert am Keynesianismus (vgl. Teil 1 Neoklassik versus Keynesianismus)


wurde eine nachfrage- und binnenorientierte Wirtschaftspolitik betrieben.
Diese Regulationsweise ermöglichte durch hohes Wirtschaftswachstum Win-
win-Situationen. Sie wird auch Fordismus genannt, da Ford das Leitprinzip
„Massenproduktion für den Massenkonsum“ populär machte (vgl. Systemische
Innovationen als schöpferische Zerstörung). Öffentliche Investitionen, der Aus-
bau des Sozialstaats und eine Politik der Umverteilung erweiterten die mate-
rielle und soziale Infrastruktur. Erstmals hatten breite Bevölkerungsschichten
am Wohlstand teil, denn Löhne wurden nicht nur als Kostenfaktor gesehen, der
die Wettbewerbsfähigkeit behindert, sondern auch als Kaufkraft, die die natio-
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nale Wirtschaft ankurbelt. Der Ausbau des Sozialstaats universalisierte den
Zugang zu Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge in Nordwesteuropa und
Nordamerika. Freiheit wurde als Befähigung verstanden, die eigene Lebensge-
staltung in einem Gemeinwesen selbst zu bestimmen.
Als die USA mit strukturellen Leistungsbilanzdefiziten zu kämpfen hatte,
tauschte ab 1971 die US-Notenbank Dollar nicht länger gegen Gold. 1973 wer-
tete sie den Kurs des US-Dollars ab, um Exporte zu verbilligen und Importe zu
verteuern. Damit endete die Gold-Dollar-Kopplung und die Periode fixer
Wechselkurse. Eine bis heute andauernde Phase flexibler Wechselkurse begann.

(3) Die neoliberale Regulationsweise seit den 1980er Jahren wird als zweite
Globalisierung bezeichnet. Der von Polanyi kritisierte „Glauben an selbststeu-
ernde Märkte“ kehrte mit der Renaissance des marktliberalen Hayek’schen
Gedankenguts zurück. Die Abkehr von Kapitalverkehrskontrollen beförderte
die Finanzialisierung und eine außenorientierte Akkumulationsstrategie. Ein-
kommen und Vermögen konzentrierten sich erneut, was die Massenkaufkraft
der unteren Einkommensgruppen verringerte. Diese Politik ist angebotsorien-
tiert, indem sie die mikroökonomische Effizienz und Produktivität erhöhen
will. Instrumente sind neben Technologiepolitik die Privatisierung von Staats-
betrieben, Deregulierungen und eine strenge Haushaltsdisziplin: Staatsausga-

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ben sollen beschränkt werden, um die Staatsverschuldung zu senken (vgl. Aus-


teritätspolitik in Wirtschaftliche Ungleichgewichte und Wirtschaftskrisen). Der
Internationale Weltwährungsfonds koppelt seit den 1980er Jahren die Vergabe
von Krediten an Länder mit Leistungsbilanzdefiziten an sogenannte Struk-
turanpassungsprogramme, welche die oben beschriebenen marktliberalen Be-
dingungen (Konditionen) verlangen. Dies führte in vielen Ländern Afrikas und
Lateinamerikas zu Deindustrialisierung, also einer Schrumpfung des industri-
ellen Sektors, sozialen Verwerfungen und wirtschaftlicher Stagnation.
Diese umfassende und tiefe wirtschaftliche Integration beschneidet de iure
nationale Entscheidungsspielräume, bietet Investoren und Konzernen Rechtssi-
cherheit und erhöht ihren Einfluss auf nationale Entscheidungsfindung. So
konnte zum Beispiel der Agrarkonzern Monsanto viele Jahre lang Bauern durch
Knebelverträge abhängig machen, um ein Monopol bei Saatgut und Pestiziden
zu schaffen. Pharmaunternehmen lobbyierten, um den Schutz geistigen Eigen-
tums in Investitionsabkommen zu integrieren. Transnationale Unternehmen
setzten die Schaffung spezieller Tribunale durch. Diese ermöglichen es privaten
Unternehmen, nationale Regierungen zu verklagen, wenn sie Maßnahmen
setzen, die die erwarteten Gewinne schmälern. Dazu können auch höhere Ar-
beits- und Umweltstandards zählen. Es gibt Klauseln, die Kapitalverkehrsma-
nagement erschweren oder verunmöglichen. Somit geht die zweite wie schon
die erste Globalisierung über Freihandel hinaus, indem sie die Interessen aus-
ländischer Investoren über demokratische Entscheidungsmöglichkeiten stellt.
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Auch die Art der europäischen Integration, in der die wirtschaftliche Inte-
gration rasant, die politische nur schleppend erfolgte, ist vom Marktliberalis-
mus der neoliberalen Regulationsweise geprägt. Spätestens seit der Durchset-
zung des Europäischen Binnenmarktes 1993 bilden die vier Grundfreiheiten –
freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit und freier
Kapital- und Zahlungsverkehr – den Kern der europäischen Werte- und
Rechtsordnung. Der Europäische Gerichtshof gewann gegenüber nationalen
und demokratischen Akteuren an Bedeutung. Mitgliedsstaaten können
Grundfreiheiten, die Verfassungsrang besitzen, selbst mit Mehrheitsentschei-
dungen nicht einschränken. EU-weite Markfreiheit steht über demokratischen
Entscheidungsstrukturen auf nationaler und europäischer Ebene. Verfassungs-
grundsätze, die ursprünglich auf grundlegende Menschenrechte beschränkt
waren, umfassen in der Europäischen Union die gesamte marktliberale Wirt-
schafts- und Sozialordnung. Somit hat die Europäische Union wesentliche
Aspekte der von Hayek konzipierten „Verfassung der Freiheit“ institutionali-
siert.
Die folgende Tabelle fasst die drei Phasen wirtschaftlicher Entwicklung
noch einmal zusammen.

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Tabelle: Phasen wirtschaftlicher Entwicklung

Liberale Wohlfahrtskapitalismus Neoliberale


Regulationsweise Regulationsweise
Periode 1850–1914 1945 bis ca.1980 seit den 1980er
(erste Jahren
Globalisierung) (zweite
Globalisierung)
Art der Globali- Tiefe Integration Wachsender Welthandel, Tiefe Integration
sierung (Hyperglobalisierung aber kein globaler Fi- (Hyperglobalisierung
): Schaffung von nanzmarkt; nationalde- ): Stärkung des
attraktiven Bedin- mokratische Entschei- Global Governance
gungen für Investo- dungen regulieren und (vgl. Entscheidungs-
ren beschränken Märkte findung jenseits des
Nationalstaats)
Finanz- und Weitgehend unbe- Staatliche Regulation von Weitgehend unbe-
Gütermärkte schränkte Finanz- Güter- und Finanzmärk- schränkte globale
märkte, aber ver- ten, schrittweise Reduk- Güter- und Finanz-
mehrt Schutzzölle tion von Zöllen im Güter- märkte, streng
verkehr regulierte nationale
Arbeitsmärkte
Finanz- und Finanzwirtschaft Realwirtschaft dominant Finanzwirtschaft
Realwirtschaft dominant dominant
Orientierung Außenorientierung Binnenorientierung Außenorientierung
Verständnis von Löhne/Gehälter als Löhne/Gehälter als Löhne/Gehälter als
Löhnen Kostenfaktor Kaufkraft Kostenfaktor
- orderid - cma57090050
Denkkollektive Steht Hayek und - transid
Steht - cma57090050
teils Polanyi und Steht Hayek und -
und Leitbilder dem neoklassischen vorrangig dem Denkkol- dem neoklassischen
Denkkollektiv nahe; lektiv des Keynesianis- Denkkollektiv nahe;
folgt marktliberalen mus nahe; Leitbild des folgt marktliberalen
Leitbild Wohlfahrtskapitalismus Leitbild

Entscheidungsfindung jenseits des Nationalstaats

In den 1940er Jahren entstanden neben dem Bretton-Woods-System die UNO


als Nachfolgerin des Völkerbundes: Sie soll den Weltfrieden sichern, zur Ein-
haltung des Völkerrechts und der Menschenrechte beitragen. Aus den Katast-
rophen zweier Weltkriege lernend gründet die UNO auf dem Prinzip gleichbe-
rechtigter internationaler Kooperation: „ein Land – eine Stimme“. Dieses Prin-
zip ist nicht streng demokratisch, gibt den reichen Nationen aber keine Mehr-
heit, wie dies bei IWF und Weltbank der Fall ist. In Anerkennung der realen
Machtverhältnisse wurden fünf Ländern im UN-Sicherheitsrat ständige Veto-
rechte zugesprochen: Frankreich, China, den Vereinigten Staaten, dem Verei-
nigten Königreich und der Sowjetunion. Nach dem Zusammenbruch der Sow-
jetunion 1991 gab es die Hoffnungen, dass Global Governance das UN-System
weiterentwickelt und eine umfassende liberale Weltordnung schafft: mit Frei-

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handel, Demokratie und Menschenrechten. Diese Stärkung des Global Gover-


nance unterscheidet die erste von der zweiten Globalisierung.
Die 1995 gegründete WTO war ein Vorzeigeprojekt der neoliberalen Glo-
balisierung. Doch gleichzeitig lösten ihre Versuche, eine globale Marktordnung
zu schaffen, massive zivilgesellschaftliche Proteste aus. Am bekanntesten waren
die Proteste gegen das WTO-Treffen 1999 in Seattle, bei denen 30.000 Men-
schen auf die Straße gingen. Weitere Proteste gegen multilaterale Wirtschafts-
institutionen folgten. Es formierte sich eine globale Zivilgesellschaft, die sich –
zum Beispiel in Form von sozialen Bewegungen, NGOs, Lobbying-Organisa-
tionen oder Gewerkschaften – über die Grenzen von Sprachgemeinschaften
und Nationen hinweg entwickelten. Sie forderten eine Demokratisierung des
Global Governance: Entscheidungen, die globale Gemeingüter wie Klima oder
Welthandel betreffen, sollen demokratisch „von unten“ legitimiert sein. Durch
Mitspracherechte in UN-Organisationen haben diese Bewegungen in den
vergangenen Jahren die Sorge um Gemeingüter wie Klima und ein stabiles
internationales Finanzsystem auf die Agenden der UN-Konferenzen gebracht.
Damit sind die Themen, die international diskutiert werden, breiter geworden.
Das UN-System ist durch neue, gemeinwohlorientierte Organisationen partizi-
pativer und transparenter geworden, aber auch komplexer. Globale Zivilgesell-
schaften sind nicht nur ethnisch und kulturell vielfältig, sie sind auch in unter-
schiedlichen politischen und gesellschaftlichen – oftmals weiterhin nationalen –
Systemen verwurzelt. Zielkonflikte, unterschiedliche Perspektiven und Wert-
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systeme sind daher unausweichlich, wodurch neue Konfliktfelder entstehen.
Demokratie bedeutet immer auch Kritik und abweichenden Meinungen zu
begegnen und zwischen diesen auszuhandeln. Auf globaler Ebene ist dies auf-
grund der großen Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Akteure und deren Le-
bensrealitäten eine noch größere Herausforderung als auf nationaler Ebene.
Darüber hinaus haben verschiedene Gruppen unterschiedliche Möglichkeiten,
mit ihren Interessen auf die Gestaltung globaler Governance einzuwirken.
Auch aus diesem Grund haben sich die Erwartungen in ein demokratisiertes
Global Governance nur eingeschränkt erfüllt. Zu wenig wirksam sind die Akti-
onen jenseits der Durchsetzung wirtschaftlicher Rechte. Während diverse wirt-
schaftliche Regelungen völkerrechtlich bindend sind, sind soziale und ökologi-
sche Vereinbarungen zumeist nur Empfehlungen. Ihre Nichteinhaltung führt
zu keinerlei Sanktionen. Wenn es aber supranationale Kompetenzen gibt, wie
beim Internationalen Strafgerichtshof, dann beteiligen sich die USA oftmals
nicht. Weiters hat sich wegen ungenügender Mitgliedsbeiträge der Mitglieds-
staaten die Finanznot der UN-Organisationen erhöht. Reiche Mitgliedsstaaten,
finanzstarke Lobby-Organisationen und Sponsoren gewinnen an Einfluss. Dies
erhöht die Abhängigkeit der UN-Organisationen von privaten Geldgebern und
finanzstarken Ländern.

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Angesichts globaler Herausforderungen bräuchte es mehr, nicht weniger


internationale Kooperation und daher eine starke UNO. Die Vereinten Natio-
nen können in ihrer siebzigjährigen Geschichte einige Erfolge vorweisen wie ihr
Beitrag zur Abschaffung von Kolonialismus und einige als erfolgreich beurteilte
Friedensmissionen wie jene in Mosambik. Was die Förderung von Demokratie
und Menschenrechten in ihren Mitgliedsstaaten betrifft, war sie jedoch weniger
erfolgreich. Die aktuelle Krise der UNO ist trotzdem kein Grund zur Freude. Es
wäre nämlich gefährlich, wenn durch die Konkurrenz zwischen Nationen und
Unternehmen eine anarchische Weltordnung zurückkehrt, in der das Völker-
recht außer Kraft gesetzt wird und das Recht des Stärkeren gilt. Leider fördern
mächtige Staaten genau diese Entwicklung, indem sie einen Widerspruch zwi-
schen nationalen und globalen Zielsetzungen postulieren. Zum Beispiel haben
die USA unter Präsident Trump angekündigt, aus dem Pariser Klimaschutzab-
kommen auszusteigen. Aus dem Migration Compact sind sie ausgestiegen und
erleichterten es anderen Ländern zu folgen. Dem einseitigen Ausstieg aus dem
Atomabkommen mit dem Iran folgte eine Spirale militärischer Provokationen.
Russland versucht ebenfalls, seinen Einflussbereich zu sichern und auszuweiten,
wie in Syrien oder in der Ukraine. Die EU leistet gegen diese Aushöhlung inter-
nationaler Kooperation auf dem Gebiet globaler Gemeingüter, deren Qualität
im Interesse aller BewohnerInnen des Planeten ist, nur halbherzigen Wider-
stand.
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Gesellschaft im Umbruch

Westliche Konsumgesellschaften sind reiche Gesellschaften. Technischer Fort-


schritt und Globalisierung haben das Alltagsleben verändert: Der Besitz eines
Handys ist ein Grundbedürfnis, der wohlverdiente Urlaub in Übersee eine
verbreitete Form des Ausspannens. Gleichzeitig haben sich in den letzten Jahr-
zehnten die Ungleichheiten innerhalb der westlichen Gesellschaften teilweise
stark erhöht. Nicht alle können am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben,
zunehmend mehr schaffen es nicht, den Leistungsdruck auszuhalten. Die so-
ziale Verunsicherung, echte und eingebildete Sorgen, nehmen zu. Sich in dieser
Situation erhöhter Unsicherheit auch noch vom ressourcenintensiven Konsum-
stil zu verabschieden, ist eine schwierige gesellschaftliche Aufgabe, für manche
eine Provokation. Eine neue Problematik tritt damit in den Vordergrund: Ist
sozialer Zusammenhalt und weitere soziale Verbesserungen mit ökologischer
Nachhaltigkeit vereinbar?
Im Folgenden untersuchen wir diese Problematik detailliert. (1) Wir begin-
nen mit einer kurzen Geschichte sozialen Fortschritts, indem wir verschiedene
Formen von Ungleichheit (vgl. Box Drei Arten von Ungleichheit) untersuchen.

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(2) Es folgt die historische Analyse der Ungleichheiten von Einkommen und
Vermögen. Ihre aktuelle Zunahme innerhalb einzelner Länder ist eine wesentli-
che Ursache für den gefährdeten sozialen Zusammenhalt. (3) Verschiedene
Wohlfahrtsregime entstanden als Antwort auf historische Ungleichheiten und
existenzielle Unsicherheiten, vorrangig auf nationaler, aber auch auf lokaler
Ebene. (4) Das illustrieren wir am Beispiel Wien. (5) Abschließend widmen wir
uns explizit der Problematik von sozialem Zusammenhalt und ökologischer
Nachhaltigkeit.

Box: Drei Arten von Ungleichheiten


Göran Therborn unterscheidet drei Arten von Ungleichheit:
(1) Ressourcenungleichheit, insbesondere monetäre Ungleichheiten.
(2) Vitale Ungleichheit umfasst Ungleichheiten im Gesundheitszustand, insbesondere die
unterschiedliche Lebenserwartung.
(3) Existenzielle Gleichheit basiert auf Chancengleichheit und Teilhabemöglichkeiten in
einem umfassenden Sinn, das heißt dem Fehlen von Diskriminierung, Stigmatisierung
und Unterdrückung wie zum Beispiel durch Rassismus, Sexismus, Kastenwesen oder
Sklaverei.

Eine kurze Geschichte sozialen Fortschritts

Ungleichheit begleitet alle arbeitsteilig organisierten Zivilisationen, deren Sta-


bilität zumeist durch starre soziale und geschlechtliche Hierarchien, Exklusion
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und wirtschaftliche Ausbeutung möglich wurde. Die konkrete Form dieser
Ungleichheit hat sich jedoch im Laufe der Zeit grundlegend verändert.
Die antike Polis schuf einen politischen Raum für einige durch Ausgren-
zung vieler. Aristoteles, der Vordenker eines guten Lebens (vgl. Teil 1 Wohlbe-
finden als Selbstbestimmung, Kompetenz und Dazugehören), lebte in Athen in
einem politischen Gemeinwesen mit großen existenziellen Ungleichheiten. Nur
Besitzbürger besaßen umfassende Rechte, ein gutes Leben führen zu können
blieb ihr Privileg. Frauen, SklavInnen und Fremde hatten sich um die Bereit-
stellung der Lebensgrundlagen zu kümmern. Sie arbeiteten, wurden aber sozial
und politisch diskriminiert. Im mittelalterlichen Feudalismus bestand die
überwiegende Bevölkerungsmehrheit aus Bauern und Bäuerinnen, die Leibei-
gene waren. Das von ihnen bestellte Land befand sich im Besitz der Grundher-
ren, von denen sie persönlich abhängig waren. Sie durften ihren Wohnort nicht
verlassen und mussten einen Teil ihres wirtschaftlichen Ertrags in Form von
Arbeitsleistung, Gütern und Geld abtreten. Legitimiert wurde diese Wirt-
schaftsordnung durch die Allianz aus Kirche und Monarch. Die mittelalterli-
chen Kirchen, die heute architektonische Attraktionen sind, wurden nur durch
die Mehrarbeit der Leibeigenen möglich. Diese ständische Ordnung, in der

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Ungleichheit „natürlich“ und „gottgewollt“ war, dominierte bis ins späte 18.
Jahrhundert.
Die Französische Revolution 1789 war Kristallisationspunkt einer Zeiten-
wende hin zur heutigen westlichen Zivilisation, die auf dem Gleichheitsgrund-
satz beruht: Alle Menschen sind gleich und frei geboren, Ungleichheit nicht
länger „gottgewollt“. Im 19. Jahrhundert verbreitete sich der Grundsatz der
Gleichheit vor dem Recht. In den entstehenden kapitalistischen Marktgesell-
schaften trat an die Stelle des Kriteriums der Geburt und den damit verbunde-
nen ständischen Privilegien die des persönlichen Verdiensts, sei es in Form von
Besitz oder Berufserfolg. An die Stelle einer Standes-trat eine Klassengesell-
schaft, in der trotz rechtlicher Gleichheit weiterhin nur ein Teil der Bevölke-
rung ein gutes Leben führen konnte. Die zunehmende Arbeitsteilung konzen-
trierte den Besitz der Produktionsmittel, das heißt des Eigentums an Fabriken
und Maschinen, in den Händen der industriellen Kapitalisten. Die Beschäftig-
ten wurden zu LohnarbeiterInnen, die unter prekären Bedingungen zu niedri-
gen Löhnen kaum genug zu essen hatten. Ein Beispiel: Die Wiener Ringstraße
mit ihren Prachtbauten wurde in dieser Zeit mit Ziegeln errichtet, die zu einem
guten Teil von tschechischen MigrantInnen unter sehr schlechten Arbeitsbe-
dingungen am Rande Wiens hergestellt wurden. Lebenschancen wurden bis ins
20. Jahrhundert wesentlich dadurch bestimmt, welcher sozialen Klasse – dem
Bürgertum, der Arbeiter- oder Bauernschaft – jemand angehörte.
Kapitalismus war aber niemals nur Ausbeutung, sondern brachte oft auch
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sozialen Fortschritt. So ist die Lebenserwartung seit dem 19. Jahrhundert durch
verbesserte Ernährung, Fortschritte in der Medizin und städtischer Müll-, Ka-
nal- und Wassersysteme stetig gestiegen. Diese Entwicklung verlief weltweit
ungleichmäßig, der Zusammenbruch der Sowjetunion führte nach 1989 sogar
zu einem Rückgang der Lebenserwartung. Während sie in den frühindustriali-
sierten Weltregionen schon im 19. Jahrhundert stark anstieg, blieb sie im Rest
der Welt niedrig. Dies führte zu hoher vitaler Ungleichheit zwischen unter-
schiedlichen Teilen der Welt. In Asien und Afrika stieg die Lebenserwartung
erst deutlich nach dem Ersten Weltkrieg (vgl. Grafik Lebenserwartung im Ver-
gleich). Doch auch innerhalb der industrialisierten Welt gab es Unterschiede. So
sank zu Beginn der Industrialisierung in England die Lebenserwartung der
arbeitenden Bevölkerung aufgrund teils katastrophaler Wohn- und Arbeitsbe-
dingungen (vgl. Teil 1 Hayek versus Polanyi). Als Antwort entstanden vor allem
in Europa und Nordamerika Formen sozialer Absicherung, zuerst lokal, dann
national organisiert. Diese Wohlfahrtsregime schützen vor sozialen Risiken
(vgl. Wohlfahrtsregime).

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Grafik: Lebenserwartung im Vergleich

(Roser, 2019 basierend auf: Zijdeman und Ribeira da Silva, 2015; Riley, 2005; Bevölkerungsabteilung
der Vereinten Nationen, 2019)

Doch diese sozialen Errungenschaften passierten nicht von alleine. Es bedurfte


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sozialer Bewegungen, Aufstände, Streiks- und
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Verhandlungen, um bessere Ar- -
beitsbedingungen, soziale Rechte und das Wahlrecht durchzusetzen. Erst nach
dem Ersten Weltkrieg etablierte sich in Österreich und Deutschland ein umfas-
sender Sozialstaat, der ArbeiterInnen vor sozialen Verwerfungen schützte,
sowie eine liberale Demokratie, in der Frauen formal gleichgestellt waren. Mit-
tels Massenmobilisierung verschafften sich soziale und politische Bewegungen
Gehör und bestimmten politische Entscheidungen mit. In Österreich und
Deutschland wurde das allgemeine Wahlrecht 1919 eingeführt, im sogenannten
Mutterland der Demokratie – dem Vereinigten Königreich – dürften Frauen
erst seit 1928, in Frankreich und Italien erst nach 1945 und in der Schweiz gar
erst seit 1971 wählen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand ein gesellschaftlicher Konsens, Mas-
senelend und soziale Spaltungen in Zukunft vermeiden zu wollen: Ohne sozia-
len Zusammenhalt gebe es keine liberale Demokratie, so die Erfahrung aus
Wirtschaftskrise und Faschismus. Dies erforderte neben sozialen Sicherungs-
systemen auch eine strenge Regulierung des liberalen Kapitalismus, insbeson-
dere der Finanzmärkte (vgl. Wirtschaft im Umbruch). Die Grundstruktur der
Ungleichheit, die sich aus Klassen- und Familienzugehörigkeit sowie dem Ge-
burtsort ergab, wurde damit zwar nicht aufgehoben. Doch es kam zu einer

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gewissen Vereinheitlichung der Lebenschancen, allen voran zu einer Reduktion


der vitalen und existenziellen Ungleichheit.
So erschien es zur Zeit der Französischen Revolution als unvorstellbar, dass
die Tochter der Magd und der Sohn der Königin gleich seien: Adelige, Bürger
und Bauern bildeten Stände, die sich nicht mischten, Frauen waren gegenüber
Männern in vielerlei Hinsicht zweitrangig. Vielfältige Formen existenzieller
Ungleichheit waren bis vor kurzem auch in Österreich und Deutschland stark
ausgeprägt. In vielen Teilen der Welt sind sie das bis heute. Patriarchale Struk-
turen, die die Teilhabechancen von Frauen beschränken, sind auch gegenwärtig
fest verankerter Bestandteil ungleicher Gesellschaften. Die Geschichte der Frau-
enemanzipation ist auch in Mitteleuropa eine junge. In Deutschland durften
Frauen bis 1962 kein eigenes Bankkonto eröffnen. Erst 1975 wurden Frauen in
Österreich Männern in der Ehe und bei der Kindererziehung gleichgestellt.
Noch bis 1971 wurde Homosexualität in Österreich strafrechtlich verfolgt,
mittlerweile ist die gleichgeschlechtliche Ehe in Österreich sowie in vielen wei-
teren Ländern möglich. In weiten Teilen der Welt, vor allem im Nahen Osten
und Teilen Afrikas, ist Homosexualität jedoch weiter strafrechtlich verboten,
teilweise droht sogar die Todesstrafe. Wenn auch die europäische Emanzipa-
tionsgeschichte nicht so lange ist, sind Antidiskriminierungsgesetze heute Teil
des westlichen Zivilisationsmodells. Offen praktizierte Benachteiligungen sind
weitgehend verboten: Diskriminierung wegen Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe
oder Religion ist strafbar.
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Die sozialen Errungenschaften waren im Rahmen des Wohlfahrtskapitalis-
mus besonders ausgeprägt. Dieser beruhte ökonomisch auf verschiedenen In-
stitutionen und gesellschaftlich auf der Kombination von bürgerlichen, politi-
schen und sozialen Rechten. Der Rechtsstaat sichert bürgerliche Rechte, die das
Individuum vor privaten Übergriffen und staatlicher Willkür schützen. Die
liberale Demokratie schafft politische Rechte wie das Wahlrecht, das ermög-
licht, dass Mehrheiten regieren. Gleichzeitig schützen andere politische Rechte
wie Versammlungsfreiheit die Möglichkeiten der politischen Opposition und
Grundrechte von Minderheiten. Dies soll sicherstellen, dass Demokratie nicht
zur Diktatur der Mehrheit wird. Wohlfahrtsregime schaffen soziale Rechte, die
soziale Absicherung und damit positive Freiheiten gewährleisten.
Kolonialismus und der damit verbundene Rassismus stellen eine weitere,
historisch bedeutsame Form existenzieller Ungleichheit dar. Die unrühmliche
Geschichte des europäischen Kolonialismus endete spät. Die portugiesischen
Kolonien in Afrika wie Angola und Mozambique erhielten ihre Unabhängigkeit
erst 1975. Lange dominierten koloniale Interessen, oft mit großer Brutalität wie
im Fall des belgischen Kongo. Ausländische Interessen dominierten gegenüber
eigenständigen Entwicklungswegen (vgl. Globalisierung im Umbruch), die Aus-
bildung und Gesundheitsversorgung der lokalen Bevölkerung wurde vernach-
lässigt. Die Einkommensungleichheit zwischen Globalem Norden und Globa-

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lem Süden vergrößerte sich im 20. Jahrhundert (vgl. Ungleichheiten in Ein-


kommen und Vermögen). Die Lebenschancen wurden wesentlich dadurch be-
stimmt, in welchem Land jemand geboren wurde.
Auch die Geschichte des Rassismus, zu der der Westen mit der Sklavenöko-
nomie einen unrühmlichen Beitrag leistete, ist bis heute nicht abgeschlossen. In
der USA, dem vermeintlichen Mutterland moderner Demokratie, erlangten
schwarze SklavInnen 1863 ihre rechtliche Freiheit als Person. Doch erst durch
die Bürgerrechtsbewegung und hartnäckigen sozialen und politischen Protest
wurde die Diskriminierung Schwarzer im Alltagsleben untersagt. Nach langem
Boykott des städtischen Busunternehmens in Montgomery erhielten Schwarze
1956 das Recht, in den öffentlichen Bussen nicht segregiert im hinteren Teil des
Busses sitzen zu müssen. Noch heute gibt es Vorwürfe gegen die Polizei in den
USA, systematisch Schwarze zu diskriminieren. „Black Lives Matter“ ist eine
soziale Bewegung, die die Tötung Schwarzer durch PolizistInnen anklagt.
Es gibt somit bis heute Diskriminierung und Ungleichheit. Und trotzdem
zeigt dieser kurze Aufriss, dass moderne westliche Gesellschaften keinesfalls
nur das Konsumniveau und den Ressourcenverbrauch erhöhten. Es gibt sozia-
len Fortschritt und Anlass zur Zuversicht, dass es möglich ist, die Lebensbedin-
gungen auf diesem Planeten zu verbessern. Gleichzeitig gibt es besorgniserre-
gende Entwicklungen wie zum Beispiel in Bezug auf die Einkommens- und
Vermögensverteilung.
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Ungleichheiten in Einkommen und Vermögen

Die Einkommens- und Vermögensverteilung (Ressourcenungleichheit) hat


Auswirkungen auf vitale und existenzielle Formen von Ungleichheit wie Bil-
dung, Gesundheit und Teilhabegerechtigkeit. Wer vermögender ist bzw. besser
verdient, hat in der Regel auch besseren Zugang zu Gütern, Dienstleistungen
und Infrastrukturen, die Wohlbefinden fördern. Im Folgenden konzentrieren
wir uns deshalb auf die Einkommen- und Vermögensungleichheit als zentralem
Aspekt von Teilhabemöglichkeiten. Branko Milanovics Untersuchungen zei-
gen, wie ungleich die Einkommenszuwächse der letzten Jahrzehnte verteilt
waren.

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Grafik: Anteil des globalen absoluten Einkommenszuwachses (1988–2008)

(Milanovic, 2014 nach Kapeller, 2019)

Die Grafik Anteil des globalen absoluten Einkommenszuwachses (1988–2008)


zeigt die „Giraffe“ der weltweiten Einkommenszuwächse, da die Form des Gra-
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phen an jene einer Giraffe mit einem langen Hals erinnert. Sie zeigt, dass sich
der Großteil der Einkommenszuwächse von 1988 bis 2008 bei den Reichsten
der Welt konzentriert. Die x-Achse zeigt 20 Einkommensquantile. Dafür wer-
den die Einkommen aller miteinberechneten Menschen vom niedrigsten zum
höchsten gereiht und dann in gleich große Gruppen unterteilt. „5“ zeigt die 1.
Quantilgruppe an: die fünf Prozent mit den niedrigsten Einkommen. „10“ zeigt
die Gruppe des nächsten Quantils (die nächsten fünf Prozent in der Einkom-
mensverteilung) und so weiter. Nur „100“ weist ausschließlich das reichste
Prozent aller EinkommensbezieherInnen und „99“ die nächstreichsten vier
Prozent aus. So ist ersichtlich, dass mehr als die Hälfte aller Einkommenszu-
wächse an die reichsten fünf Prozent der Welt gegangen sind. Zusätzliche rund
zehn Prozent gingen an die nächstreichsten fünf Prozent, also insgesamt über
60 Prozent des Einkommenszuwachses an die reichsten 10 Prozent. Auf die
gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung hingegen entfielen in Summe nur etwa
zehn Prozent.

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Wer sind die Menschen, die sich in den einzelnen weltweiten Quantilen be-
finden? In den niedrigen Einkommensperzentilen sind dies fast ausschließlich
Menschen, welche in den ärmeren Ländern der Welt leben, vorwiegend in Af-
rika und Südasien (wobei die Reichsten dieser Länder in höheren Quantilen zu
finden sind). Um die Mitte herum befinden sich aufstrebende Schwellenländer
wie China, Brasilien oder auch Russland. Zwischen dem 80. und 95. Quantil
„80“ bis „95“ befinden sich vor allem Europa und Nordamerika, also die
reichsten Länder der Welt, wobei die Menschen mit niedrigen Einkommen in
diesen Ländern um das Quantil „80“ herum zu finden sind. Sie sind zwar in ih-
ren jeweiligen Ländern relativ arm, jedoch im globalen Maßstab Teil des
reichsten Viertels der Welt. Nur etwa ein Prozent des weltweiten Einkom-
menswachstums ging an das Quantil „80“.

Grafik: Relativer Einkommenszuwachs nach globalem Einkommensniveau


(1988–2008)

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(Lakner und Milanovic, 2016)

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Eine andere Betrachtungsweise ergibt sich, wenn die anteilsmäßigen, die pro-
zentuellen Zuwächse betrachtet werden (das heißt relativ zum eigenen Ein-
kommen). Dies beschreibt die Grafik Relativer Einkommenszuwachs nach glo-
balem Einkommensniveau (1988–2008), auch bekannt als der Milanovic’sche
Elefant, da die Form des Graphen an einen Elefanten erinnert. Demnach stei-
gen die Einkommen, die weltweit gerade über dem Durchschnittseinkommen
liegen, relativ am meisten (um ca. 75 Prozent). Dies wird als die neue globale
Mittelschicht bezeichnet, welche sich vor allem in Schwellenländern herausge-
bildet hat. Aber auch relativ gesehen hat das Prozent mit dem höchsten Ein-
kommen besonders stark profitiert, es ist um ca. 65 Prozent gewachsen. Die
niedrigsten Einkommen haben in absoluten Zahlen kaum hinzugewonnen (vgl.
die „Giraffe“). Relativ gesehen stiegen sie jedoch deutlich. So ist das Einkom-
men der ärmsten fünf Prozent der Weltbevölkerung um ca. 15 Prozent gewach-
sen, jenes der zweit- und drittärmsten fünf Prozent um je 40 Prozent. So war es
durch das allgemeine Wirtschaftswachstum möglich, die absolute Armut welt-
weit deutlich zu reduzieren. Doch unterscheiden sich die Entwicklungen in
Europa und Nordamerika von denjenigen der ehemaligen Kolonien in Asien,
Afrika und Lateinamerika. In Fabriken Asiens werden bis heute ArbeiterInnen
oftmals wie LohnsklavInnen ausgebeutet, Bauern werden durch Billigimporte
von subventionierten landwirtschaftlichen Produkten die Lebensgrundlage
entzogen, viele indigene Völker wurden ausgerottet, Naturräume zerstört. Der
in Geld gemessene Lebensstandard der Ärmsten ist trotzdem deutlich gestie-
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gen. 1990 lebten allein in China und Indien noch über eine Milliarde extrem
armer Menschen, heute nur noch wenige. Laut Weltbank leben Menschen in
extremer Armut, wenn sie weniger als 1,90 Dollar pro Tag ausgeben können
und sich somit Lebensmittel und andere Artikel des täglichen Lebens nicht
leisten können. Ein Großteil der verbleibenden 650 Millionen extrem Armen
leben heute (2016) im sub-saharischen Afrika. Während 1990 noch etwas mehr
als eine Milliarde Menschen unterernährt waren, hungerten 2018 821 Millionen
Menschen. Kaum vom globalen Einkommenswachstum profitierte hingegen
das 80. Quantil, sowie das 85. und 90. Quantil. Hier befinden sich in erster Linie
Geringverdienende bis zur Mittelschicht in den reichen Ländern Europas und
Nordamerikas. Diese stagnierenden Einkommen der GeringverdienerInnen
und der Mittelschicht in Europa und Nordamerika lässt bereits auf ein An-
steigen der Einkommensungleichheit innerhalb dieser Länder schließen. Die
Forschung von Thomas Piketty und seinen KollegInnen dokumentiert dies auf
Grundlage anderer Datensätze.

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Grafik: Einkommensanteil der Top 1 Prozent und Top 10 Prozent am Gesamteinkom-


men (USA, 1913–2014)

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(World Inequality Database (WID), 2019)

Grafik Einkommensanteil der Top 1 Prozent und Top 10 Prozent am Gesamtein-


kommen (USA, 1913–2014) zeigt anhand der USA, dass die obersten 10 Prozent
der EinkommensbezieherInnen in den 1920er Jahren fast die Hälfte des Volks-
einkommens erhielten. Im Wohlfahrtskapitalismus fiel dieser Anteil auf etwas
mehr als ein Drittel. Dazu trugen hohe Wachstumsraten, Vollbeschäftigung,
hohe Einkommens- und Vermögenssteuern sowie strenge Kapitalverkehrs-
kontrollen bei. In der aktuellen Hyperglobalisierung gehen die Einkommen aus
unselbständiger Arbeit erneut auseinander. Zwischen 2009 und 2012 hatte das
reichste Prozent in den USA in absoluten Zahlen eine Einkommenssteigerung
von 33 Prozent, die restlichen 99 Prozent von nur 0,5 Prozent. Beim obersten
Prozent beläuft sich der Anteil von Kapital- am Gesamteinkommen auf 40 bis
fast 90 Prozent (vgl. Box Erwerbs- und Kapitaleinkommen). Die Ähnlichkeiten
zwischen der ersten und zweiten Globalisierung sind groß: so erhielt das
reichste Prozent 1929 und neuerlich 2013 über 20 Prozent des Gesamteinkom-
mens der USA, während es in den 1970er Jahren nur gute zehn Prozent waren.

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Die Phase der neoliberalen Globalisierung führte in den USA zu einer deut-
lichen Polarisierung der Einkommen, ein Trend, der sich abgeschwächt auch in
vielen anderen Ländern zeigt: der Anteil der reichsten 10 Prozent am Gesamt-
einkommen steigt, jener der unteren 50 Prozent fällt. Jedoch gibt es Unter-
schiede in Geschwindigkeit und Ausmaß. Besonders groß war der Anstieg in
Russland nach 1989. Dort sank als Folge von Armut und Arbeitslosigkeit sogar
die Lebenserwartung der Männer. In Lateinamerika und Subsahara-Afrika
stagniert die Einkommensungleichheit auf hohem Niveau. Nur im Mittleren
Osten ist sie etwas gesunken, befindet sich jedoch immer noch am weltweit
höchsten Niveau. Die großen Unterschiede zwischen den Ländern unterstrei-
chen die bedeutende Rolle von nationaler Politik und lokalen Institutionen.
Eine wichtige Ursache der steigenden Einkommensungleichheit sind die ge-
änderten Machtverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital in einer offenen
Weltwirtschaft. Kapital ist an sich mobiler als Arbeit, was die Verhandlungs-
macht der Lohnabhängigen einschränkt: Ein Großteil des Finanzkapitals kann
in Sekundenbruchteilen „wandern“, die Mobilität der Beschäftigten ist durch
Landesgrenzen, aber auch soziale Faktoren wie Familie, FreundInnen und
eventuell auch ein Eigenheim, eingeschränkt. Im Wohlfahrtskapitalismus mit
beschränkter Kapitalmobilität etablierte sich ein Kompromiss zwischen Unter-
nehmen und Beschäftigten. Löhne und Gehälter wurden kaum individuell ver-
handelt, sondern durch Kollektivverträge geregelt. Dies erhöht die Verhand-
lungsmacht der Gewerkschaften und dadurch der Arbeiterschaft. Als die Ge-
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werkschaften ab den 1980er Jahren an Macht verloren, ging die Lohnquote, das
heißt der Anteil des Erwerbseinkommens am Volkseinkommen, in den meisten
Industrienationen zurück, während der Anteil des Kapitaleinkommens stieg.
Doch auch innerhalb der Gruppe der unselbständig Beschäftigten stieg die
Ungleichheit. Dies liegt zum einen an Supergagen, Boni und andere Begünsti-
gungen von SpitzenmanagerInnen, die auf globalen Arbeitsmärkten konkurrie-
ren. Zum anderen ermöglichen Digitalisierung und Globalisierung Skalenvor-
teile und Konzentrationsprozesse in neuen Bereichen. Lange Zeit waren Fuß-
ballstars lokale Helden, bestenfalls nationale Idole, aber keine wertvollen Mar-
ken. Im Zuge der Globalisierung sind die besten SportlerInnen und Künstler-
Innen weltbekannt geworden und werden global vermarktet: mit Fanartikeln
und als Werbeträger. Das spielt Gewinne ein, die weit über den Einnahmen
durch ZuseherInnen und ZuhörerInnen liegen. Lionel Messi, Serena Williams
und Madonna sind „ihr Geld wert“. Das gleiche gilt für Influencer in sozialen
Medien, die Produkte bewerten und bewerben. Kleine Klubs und nationale
Stars hingegen verdienen deutlich weniger. Die Masse der KünstlerInnen und
SportlerInnen kann von ihrer Leistung nicht leben. Das mag nicht fair sein, ist
aber ein Ergebnis mächtiger struktureller Dynamiken in der neoliberalen Glo-
balisierung: Marktgerechtigkeit entkoppelt sich von Leistungsgerechtigkeit.

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Wie Milanovics „Elefant“ zeigt, stagnieren die unteren Einkommen im


Westen und niedrig qualifizierte Beschäftigte sind besonders von Arbeitslosig-
keit betroffen. Die Deindustrialisierung hat gut bezahlte Jobs vernichtet; die
entstandenen Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor sind tendentiell schlechter
bezahlt. Handelsliberalisierung hat also Verteilungswirkungen. NAFTA, das
1995 in Kraft getretenen Freihandelsabkommen zwischen Mexiko, USA und
Kanada, brachte durch Auslagerungen und die Spezialisierung von Produkti-
onsprozessen Wohlstandsgewinne. Mit billigen mexikanischen Arbeitskräften
können Produkte günstiger auf den US-Markt gebracht werden. Das erhöht die
Kaufkraft der US-KonsumentInnen. Gleichzeitig stiegen zwischen 1990 und
2000 die Löhne in durch NAFTA liberalisierten Branchen um 17 Prozent weni-
ger als in anderen Sektoren. Die VerliererInnen, insbesondere die Industriear-
beiterschaft im US-amerikanischen „Rust Belt“, wurden nicht entschädigt.
Genau dort erzielte Donald Trump 2016 die entscheidenden Wahlerfolge.
Noch ungleicher als Einkommen sind Vermögen verteilt. In Europa war die
Vermögenskonzentration historisch aufgrund seiner ständischen Vergangen-
heit und der damit verbundenen ererbten Vorrechte dramatisch. Vor dem
Ersten Weltkrieg besaßen 10 Prozent der Bevölkerung rund 90 Prozent der
Vermögen, allen voran Land und Finanztitel. Diese Werte sanken bis zu den
1970er Jahren, um danach erneut zu steigen. Durch Privatisierungen wurde
öffentliches Vermögen in private Hände transferiert. Während das gesamte
Vermögen stark, jedoch sehr ungleich, gestiegen ist, liegt das öffentliche Ver-
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mögen heute nahe Null oder im negativen Bereich. Dadurch verringert sich der
Spielraum von demokratisch gewählten Regierungen, mit öffentlichen Pro-
grammen, allen voran Investitionen in die Infrastruktur, der Ungleichheit ent-
gegenzuwirken.
Es gibt verschiedene Gründe, soziale und ökonomische Ungleichheit zu
problematisieren. Aus keynesianischer Perspektive führt hohe monetäre Un-
gleichheit zu sinkender Nachfrage, da Besserverdienende anteilsmäßig mehr
Einkommen sparen, was die Gesamtnachfrage reduziert (vgl. Wirtschaft im
Umbruch). Weiters haben Richard Wilkinson und Kate Pickett gezeigt, dass die
Lebensqualität in Ländern mit geringerer ökonomischer Ungleichheit höher ist.
Sie untersuchten die Auswirkungen sozialer Ungleichheiten auf die Lebensqua-
lität in OECD-Staaten, also der 36 einkommensstarken Mitgliedstaaten der
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, und zeig-
ten den stark positiven Zusammenhang zwischen Gleichheit in Bezug auf Geld-
einkommen und verschiedenen Formen von Lebensqualität. Gesellschaften mit
weniger ökonomischer Ungleichheit, wie die skandinavischen Länder, schnei-
den in der Regel bei verschiedenen Indikatoren für Lebensqualität am besten
ab, während Länder mit hoher ökonomischer Ungleichheit, wie die USA oder
Großbritannien, am schlechtesten abschneiden. Dies lässt sich beispielsweise
anhand der Indikatoren Lebenserwartung, Kindersterblichkeit und Teenager-

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Schwangerschaften zeigen. So ist die durchschnittliche Lebenserwartung in den


USA mit 79,2 Jahren deutlich unter jener der meisten EU Länder und selbst
einkommensschwächeren Ländern wie Costa Rica, Cuba und Chile. Länder mit
mittleren Ungleichheitsraten, wie Deutschland, liegen auch bei den Lebensqua-
litätsindikatoren in der Mitte. Wenig überraschend mag der Befund sein, dass
es Armen in gleicheren Gesellschaften besser geht als in ungleichen. Verwun-
derlich ist, dass manchmal auch Reiche in egalitäreren, das heißt gleicheren
Gesellschaften eine höhere Lebensqualität genießen als Reiche in ungleicheren
Gesellschaften. Als Beispiel führen die AutorInnen die Kindersterblichkeit in
Großbritannien im Vergleich zu der in Schweden an: sie ist in der niedrigsten
sozialen Schicht in Schweden geringer als in der höchsten in England und Wa-
les. Eine mögliche Erklärung dafür orten Wilkinson und Pickett in Statuskon-
kurrenz, die in ungleichen Gesellschaften besonders groß ist, da mehr gewon-
nen bzw. verloren werden kann. Der Druck, die eigene Position zu verteidigen
oder zu verbessern, führe auch bei den Bessergestellten zu erhöhtem Stress.
Ungleichheit wirke sich also – wie Luftverschmutzung – auf alle negativ aus.

Wohlfahrtsregime

Sozialer Fortschritt und Ungleichheit begleiten die Geschichte moderner Ge-


sellschaften. Der Historiker Walter Scheidel ortet historisch eine Tendenz zur
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Ungleichheit und listet vier „Gleichmacher“ auf, die dieser Tendenz entgegen-
wirkten und zu größerer Ressourcengleichheit führten: (1) Seuchen wie zum
Beispiel die Pest in Europa zu Ende des Mittelalters, die ganze Regionen entvöl-
kerte. Dies erhöhte die Marktmacht der Bauern und damit die Möglichkeit, sich
vor der Willkür der Feudalherren zu schützen. (2) Der Zerfall staatlicher Ord-
nung milderte Einkommensunterschiede. Beispiele sind das Ende des römi-
schen Reichs oder Somalias, das Ende des 20. Jahrhunderts als „failed state“
(gescheitertes Staatswesen) bezeichnet wurde. (3) Große Kriege wie insbeson-
dere der Erste und der Zweite Weltkrieg führten zur drastischen Reduktion von
Ungleichheit. Sie legten den Grundstein der einmalig egalitären Gesellschafts-
ordnung des 20. Jahrhunderts. So kam es auch im Wohlfahrtskapitalismus nach
dem Zweiten Weltkrieg zu keiner weiteren Verringerung der Einkommen-
sungleichheit. Diese verharrte bloß auf einem historischen Tiefstand. Dies gilt
aber nicht für alle Kriege, denn Bürgerkriege können Ungleichheit auch erhö-
hen. (4) (Kommunistische) Revolutionen wie insbesondere durch Mao in China
und durch die Bolschewiken in der Sowjetunion reduzierten Ungleichheit stark.
Doch reduzieren nicht alle autokratischen Regime Ungleichheiten, denn diese
können ihre Bevölkerung auch besonders intensiv ausbeuten. Diese vier
„Gleichmacher“ sind nicht attraktiv.

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Es gibt einen weiteren potentiellen Gleichmacher: die Wohlfahrtsregime. Sie


stellen eine weitere, weniger brutale und autoritäre Form der Herstellung glei-
cher Lebensbedingungen dar. Es waren anfangs verschiedenste zivilgesell-
schaftliche, dann auch lokal- und nationalstaatliche Initiativen, die im 19. Jahr-
hundert Antworten auf die rasant steigenden Ungleichheiten suchten. Sie expe-
rimentierten mit verschiedensten Formen sozialer Absicherung, selbstorgani-
siert oder staatlich bereitgestellt. Gosta Esping-Andersen erarbeitete Idealtypen,
die bis heute in der Sozialstaatsforschung verwendet werden. Dabei unterschei-
det er ein liberales, konservatives und sozialdemokratisches Wohlfahrtsregime.
Diese bieten in Art und Ausmaß unterschiedlichen Schutz vor sozialen Risiken
und verhindern damit die Kommodifizierung (Zur-Ware-Machung) verschie-
dener gesellschaftlicher Funktionen wie Arbeit, Altersvorsorge, Bildung, Woh-
nen, Gesundheit und Pflege. Sie unterscheiden sich im Grad, in dem bestimmte
öffentliche Dienstleistungen als soziales Recht gelten und daher nicht käuflich
sind.
Das liberale Wohlfahrtsregime dominiert in angelsächsischen Ländern wie
den USA, dem Vereinigten Königreich und Australien. Es ist ein Sozialhilfe-
basiertes Wohlfahrtsregime für diejenigen, die in der Marktwirtschaft nicht für
sich selber sorgen können: Kranke, Menschen mit besonderen Bedürfnissen,
Alte, Arbeitslose. Es ist ausdrücklich kein Sozialstaat für alle, sondern bloß für
Bedürftige. In Marktgesellschaften seien Menschen selbstverantwortlich und
würden gemäß ihrer Leistung entlohnt. Daher versorgt der Sozialstaat einzig
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die wirklich Bedürftigen (die „deserving poor“, d. h. die „unverschuldet in Ar-
mut Geratenen“). Dieser residuale Sozialstaat versucht zu verhindern, dass
Arbeitsfähige zu Unrecht Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Dies führt zu
hohen bürokratischen Kosten und Stigmatisierung. Insbesondere die Mittel-
schicht ist bemüht, Wohlfahrtsleistungen möglichst gar nicht zu benötigen.
Daher florieren private Lösungen wie Privatschulen, Privatpension und private
Krankenversicherungen für die Mittelschicht und gut Verdienende. Der Sozial-
staat wird für diese Schichten dann zur „Bürde“, die die Erwerbstätigen mit
ihrer Leistung finanzieren. Dieses Wohlfahrtsregime basiert auf dem Konzept
der Bedürfnisgerechtigkeit für unverschuldet in Armut Geratene und auf
Marktgerechtigkeit für den Rest. Zu hohe Sozialleistungen untergraben die
Wettbewerbsfähigkeit. Dieses Regime dominierte während der ersten Globali-
sierung und beeinflusst in der zweiten auch andere Wohlfahrtsregime. Das
liberale Regime forciert die Kommodifizierung von Bildung, Wohnen, Ge-
sundheit und Pflege. Weit fortgeschritten ist diese Kommodifizierung im Be-
reich der universitären Ausbildung, die zunehmend als Investition in das eigene
Humankapital verstanden wird. Hochschulbildung ist dann eine käufliche
Dienstleistung wie jede andere auch. Das angelsächsische Verständnis von
Bildung als eine Möglichkeit, das eigene Humankapital zu steigern führt daher
dazu, dass Studiengebühren direkte Zuwendungen der öffentlichen Hand erset-

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zen. Die Unterstützung der Studierenden erfolgt wesentlich über Studienkre-


dite, die nach dem Studium zurückgezahlt werden müssen. Dies fördert Finan-
zialisierung, denn Studierende beginnen ihr Berufsleben verschuldet. Gleich-
zeitig wird es Jugendlichen aus einkommensschwachen Haushalten wegen
drohender Privatverschuldung erschwert, das Risiko eines Studiums einzuge-
hen.
Das konservative Wohlfahrtsregime dominiert in Kontinentaleuropa in Län-
dern wie Deutschland, Österreich und Frankreich. Es wird auch korporatisti-
sches Wohlfahrtsregime genannt, weil es einen standesgemäßen Lebensstan-
dard in (vorübergehenden) Notlagen sichert. Seine Vorläufer hat es in den
mittelalterlichen Zünften und der katholischen Soziallehre. Historisch entstan-
den kollektive Versicherungen in Berufsgruppen, in denen bestimmte gleiche
Risiken auftraten, was das solidarische Handeln innerhalb der Berufsgruppe
erleichterte. So sind Minenarbeiter regelmäßig Opfer von Grubenunglücken,
Bauernhöfe Opfer von Blitzschlägen. Da das Risiko gleich verteilt ist, bildeten
sich selbstorganisierte Formen gegenseitiger Hilfeleistung, bzw. Versicherun-
gen. Die Dorfgemeinschaft kümmerte sich zum Beispiel um die Familie von
verunglückten Minenarbeitern. In Österreich ist bis heute der Zugang zu einem
Gutteil der sozialen Sicherheitsleistungen an die Teilnahme am Arbeitsmarkt
oder die Staatsbürgerschaft geknüpft, oder beides. Dies schafft einen Sozialstaat,
der nach Versicherungsprinzipien funktioniert. Versicherte sind „Insider“,
Nicht-Versicherte „Outsider“. Zu letzteren zählen vor allem MigrantInnen und
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teilweise immer noch Frauen.
Das konservative Wohlfahrtsregime basiert auf dem Prinzip der Bedürfnis-
gerechtigkeit, insofern es auch Arbeitsunfähige absichert, dem Prinzip der
Markt- und Leistungsgerechtigkeit, insofern es Hierarchien in der Arbeitswelt
bei den Sozialleistungen fortsetzt, und dem Prinzip der Teilhabegerechtigkeit,
da das Niveau der Sozialleistungen auch in Notlagen ein würdiges Leben si-
chern soll.
In Österreich übernahm das konservative Wohlfahrtsregime während des
Wohlfahrtskapitalismus Elemente des sozialdemokratischen Regimes (siehe
unten). Ein Beispiel war die Öffnung der Universitäten für junge Menschen aus
Hauhalten mit niedrigem Einkommen und Bildungsniveau. Die Hochschulbil-
dung war stark geprägt vom bildungsbürgerlichen Ideal in der Tradition Wil-
helm von Humboldts. Demnach seien öffentliche Schulen und Universitäten
Bildungsinstitutionen, in denen neben beruflichen Qualifikationen, das heißt
Ausbildung, auch staatsbürgerliche Fähigkeiten, Allgemeinbildung und Werte
vermittelt werden. Doch war die Universität bis zur Studentenbewegung 1968
im Wesentlichen den bürgerlichen Schichten vorbehalten. In den 1970er Jahren
wurde durch den freien Hochschulzugang und ein großzügiges Stipendienwe-
sen Studieren zu einem sozialen Recht, das auch von Kindern aus bäuerlichen
und Arbeiterhaushalten in Anspruch genommen wurde. Junge Menschen soll-

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ten gleichermaßen für Beruf und der Teilhabe am gesellschaftlichen und politi-
schen Leben befähigt werden. Bis heute ist der Hochschulzugang im Wesentli-
chen für alle StaatsbürgerInnen frei. Dies umfasst angesichts der Nichtdiskri-
minierungsregeln auch alle EU-BürgerInnen. Doch wird dieses gemeinwohlori-
entierte Verständnis von Bildung heute in Österreich durch ein Verständnis
von Bildung als Humankapital ergänzt. Immer mehr Lehrgänge sind kosten-
pflichtig, die Universitäten verstehen sich als im Wettbewerb stehend. Auch im
Bereich der Pflege, der durch Alterungsprozesse an Bedeutung gewinnt, erfolgt
ein Übergang zu einem liberalen Regime. Das Pflegegeld wird beispielsweise als
monetäre Sozialleistung ausbezahlt, was die Schaffung von transnationalen
Pflegemärkten fördert: Migrantinnen aus Ost- und Südosteuropa pflegen alte
Menschen in Deutschland und Österreich, legal, und oft auch illegal. Der Aus-
bau dezentraler öffentlicher Pflegeeinrichtungen stockt. Menschen sind an-
gehalten, „für sich selbst zu sorgen“.
Eine aktuelle Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) analysiert
die Verteilungswirkungen des österreichischen Wohlfahrtsregimes. Sozialleis-
tungen werden in Österreich (1) als Geldleistungen, wie Pensionen, Pflege- oder
Arbeitslosengeld, und (2) als Sachleistungen wie Betreuungseinrichtungen an
die Anspruchsberechtigten vergeben. Die wesentlichen Ausgaben für öffentli-
che Geld- und Sachleistungen erfolgen in den Bereichen Bildung (28 Prozent),
Gesundheit und Pflege (44 Prozent) sowie Familie (16 Prozent). Mit Ausnahme
von Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe und bedarfsorientierter Mindestsi-
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cherung (8 Prozent) kommen diese Leistungen allen Einkommensgruppen re-
lativ gleichmäßig zugute. Besonders ausgeglichen ist die Verteilung im Bereich
Gesundheit und Bildung. Dort führen die zahlreichen Sachleistungen wie Arzt-
besuche, Spitalsaufenthalte, Schul- und Hochschulbesuch dazu, dass die Kosten
sich relativ gleichmäßig auf alle sozialen Schichten verteilen. Zusammenfassend
charakterisieren Österreichs Sozialstaat zwei Tendenzen: Noch ist er ein Wohl-
fahrtsregime „für (fast) alle“. Doch es gibt eine steigende Zahl an „Outsider“,
die nur eingeschränkten Zugang zu Leistungen haben – und marktliberale
Politiken gewinnen an Bedeutung.
Das sozialdemokratische Wohlfahrtsregime dominiert in Skandinavien
(Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland). Es gewährleistet universelle
soziale Rechte und ist bestrebt, gut ausgebaute öffentliche soziale Infrastruktu-
ren, Bildung, Gesundheit und Wohnen in möglichst guter Qualität für mög-
lichst alle bereitzustellen. Dies führt zu einer (teilweisen) Dekommodifizierung
von Altersvorsorge, Bildung, Wohnen, Gesundheit, Pflege und Arbeit. Schulbe-
such ist keine zu bezahlende Dienstleistung; Gemeinde- und Sozialwohnungen
sind öffentlich gestützt. Grundprinzipien dieses Modells sind eine Politik der
Vollbeschäftigung (alle Menschen haben ein Recht auf Arbeit) und der An-
spruch, allen EinwohnerInnen (auch jenen mit guten Einkommen) soziale
Dienste und Infrastrukturen in guter Qualität anzubieten. Dieses Wohlfahrtsre-

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gime „für alle“ basiert auf dem Prinzip der Teilhabegerechtigkeit, aber auch
dem der Chancen- und der Bedürfnisgerechtigkeit. Es hatte seine Blütezeit im
Wohlfahrtskapitalismus.
Für den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler Österreichs, Bruno
Kreisky (1970 bis 1983), war Schwedens Sozialstaat Vorbild. Diesem kleinen
Land gelang es im Wohlfahrtskapitalismus, nicht nur sozial, sondern auch wirt-
schaftlich erfolgreich zu sein. Doch auch der schwedische Wohlfahrtsstaat
nahm in den letzten Jahrzehnten Aspekte des liberalen Wohlfahrtsregimes an.
Anteilsmäßig ist die Ungleichheit in Schweden besonders stark gestiegen. Es
kam zu weitreichenden Privatisierungen und Liberalisierung, vor allem bei
Wohnen und Bildung. Ausgaben für soziale Sicherheit, wie Arbeitslosengeld,
Frühpensionierungen, Sozialhilfe, Krankengeld und Familienbeihilfen sanken
im Verhältnis zum BIP seit 1985 um 25 Prozent. Gleichzeitig wurde die aktive
Arbeitsmarktpolitik und damit verbundene Qualifizierungsprogramme ge-
kürzt, während einfache Lohnzuschüsse, die Unternehmen für die Beschäfti-
gung ehemals Arbeitsloser subventionieren, zunehmen. Die Finanzialisierung
von Wohnen führte dazu, dass Wohnraum vermehrt zur Vermögensanlage
wurde. GewinnerInnen waren KäuferInnen von Eigentumswohnungen, die
steuerlich begünstigt werden. Sozialstaatlich geschützt blieben Geringverdie-
nende, die weiterhin Wohnbeihilfe erhalten. Leidtragende sind insbesondere
die „In-Betweener“. Sie verdienen zu viel, um Wohnbeihilfe zu erhalten, und zu
wenig, um sich eine Eigentumswohnung leisten zu können, konkret vor allem
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Junge sowie die untere Mittelschicht. Diese leiden besonders unter den stark
steigenden Mieten am privaten Vermietungsmarkt. Das schafft Protestpoten-
tial, das populistische Parteien nützen.
Die folgende Tabelle fasst die drei Wohlfahrtsregime noch einmal zusam-
men.

Tabelle: Wohlfahrtsregime

Liberales Konservatives Sozialdemokrati-


Wohlfahrtsregime Wohlfahrtsregime sches
Wohlfahrtsregime
Länder Angelsächsische Kontinentaleuropa Skandinavien
Länder
Verständnis des Kein Sozialstaat für Sozialleistungen an Sozialstaat bietet
Sozialstaats alle, sondern bloß für die Beteiligung am öffentliche Dienstleis-
Bedürftige; gute Arbeitsmarkt tungen in guter Quali-
Qualität sozialer und/oder an Staats- tät „für alle“ an
Dienste wird privat bürgerschaft gebun-
angeboten den

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Liberales Konservatives Sozialdemokrati-


Wohlfahrtsregime Wohlfahrtsregime sches
Wohlfahrtsregime
Länder Angelsächsische Kontinentaleuropa Skandinavien
Länder
Gerechtigkeits- Bedürfnisgerechtig- Mischform aus Teilhabe-, Chancen-
prinzipien keit für unverschuldet Bedürfnisgerechtig- und Bedürfnisgerech-
in Armut Geratene; keit sowie Markt- tigkeit „für alle“
Markt- und Leis- und Leistungsge-
tungsgerechtigkeit rechtigkeit
„für alle“
Kommodifizierung Märkte für Altersvor- Dekommodifizierung Dekommodifizierung
sorge, Bildung, Woh- sozialer Dienstleis- sozialer Dienstleis-
nen, Gesundheit und tungen für „Insider“ tungen für „alle“
Pflege
Dominierende Dominierte während Tendiert im Wohl- Blütezeit im Wohl-
Phasen der ersten Globalisie- fahrtskapitalismus fahrtskapitalismus,
rung und beeinflusst zum sozialdemokra- tendiert aktuell zum
alle Wohlfahrtsregime tischen Regime, in liberalen Regime
in neoliberaler Globa- der neoliberalen
lisierung Globalisierung zum
liberalen Regime

Die Staaten Ost- und Südeuropas, aber auch Schwellenländer wie Russland und
China wurden von Esping-Andersen in seiner ursprünglichen Studie nicht
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erfasst. Nachträglich erfolgten diverse Zuordnungen. So wurden die osteuropäi-
schen Länder als Wohlfahrtsregime im Übergang bezeichnet. Tatsächlich hat
sich Ungarn rasch von seinem kommunistischen Erbe universeller staatlicher
Versorgung wegentwickelt und weist Merkmale des konservativen Wohlfahrts-
regimes auf, insbesondere die Unterscheidung in Insider und Outsider. In Un-
garn kommen die Outsider vor allem aus der Roma-Bevölkerung, die systema-
tischer Diskriminierung ausgesetzt ist. In der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
führte die Regierung Orban ein liberales, residuales Wohlfahrtsregime ein.
Sozialleistungen werden niedrig gehalten, um den Eintritt in den Arbeitsmarkt
zu forcieren. Wohlfahrtsregime sind immer im Wandel. Sie verändern sich im
Zeitablauf (siehe Schweden und Ungarn) und vereinen Aspekte verschiedener
Wohlfahrtsregime (siehe Österreich).

Lokale Wohlfahrtsregime am Beispiel Wiens

Die Wohlfahrtsforschung begann mit der Erforschung nationaler Wohlfahrts-


regime. Lokalen Regimen wurde wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl es
zwischen Stadt und Land sowie zwischen Regionen durchaus große Unter-
schiede gibt. Weltweit bekannt ist das Wiener Wohlfahrtsregime, weil Wien –

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gemäß diverser City-Rankings – seit vielen Jahren als lebenswerteste Stadt der
Welt gilt. Ein wesentlicher Grund für die aktuell hohe Lebensqualität liegt in
seiner materiellen und sozialen Infrastruktur, also Straßen, Wasser-, Kanal-
und Energieversorgung ebenso wie Schulen, Spitälern, öffentlichen Verkehrs-
mitteln und öffentlichen Räumen.
Wien wuchs in der ersten Gründerzeit des 19. und beginnenden 20. Jahr-
hunderts sehr rasch, es gab große Armut in der Arbeiterschaft. Handwerker
und Gewerbetreibende litten unter der Konkurrenz großer kapitalistisch ge-
führter Unternehmen und Banken. Daher formierte sich massiver Widerstand
gegen diese Modernisierung, für die die liberalen Eliten verantwortlich gemacht
wurden. Es entstanden zwei Gegenbewegungen, die gesellschaftlichen Schutz
vor der ersten Globalisierung organisierten: die Christlich-Sozialen und die
Sozialdemokratie. Die Christlich-Sozialen unter der Führung Karl Luegers
waren eine antiliberale, heute würden wir sagen populistische, Partei, die die
Interessen der Mietshausbesitzer, der lokalen Unternehmen und der unteren
Mittelschicht vertrat. Da dies die Mehrheit der stimmberechtigten Bevölkerung
war, gewann Lueger 1895 die Bürgermeisterwahlen. Von 1897 bis 1910 war er
Wiens Bürgermeister. Er vertrat die ökonomischen Interessen der lokalen Un-
ternehmen und die kulturellen Interessen einer Mittelschicht, die Angst vor
antireligiöser Propaganda, sozialistischer Politik und der Teilhabe der Frauen
am sozialen Leben hatten. Angesichts der enormen Bedeutung jüdischer Fach-
leute, Künstler und Unternehmen rahmte Lueger seinen Antielitismus als Anti-
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semitismus. Gleichzeitig baute er die städtische Infrastruktur aus und kommu-
nalisierte eine breite Palette an Infrastrukturen wie Gas, Strom, Wasser, Kanali-
sierung und Straßenbahn. 1907 gründete er mit der Zentralsparkassa eine
Kommunalbank. Diese soziale und materielle Infrastruktur und die damit ver-
bundene dekommodifizierte Form des kollektiven Konsums besteht bis heute.
Sein kommunalwirtschaftlicher Zugang bestimmt die Politik auch gegenwärtig:
Kommunalpolitik ist wesentlich für die Daseinsvorsorge verantwortlich, sie
habe die Verpflichtung, zum Wohlbefinden ihrer Bevölkerung beizutragen.
1919 kam die Sozialdemokratische Arbeiterpartei an die Macht, indem sie
die große Schwäche der Lueger’schen Kommunalpolitik thematisierte: Den
meisten Wiener Wohnungen fehlten Toiletten, Wasserleitungen, eine Gasver-
sorgung oder Strom. Dennoch machten deren Miete bis zum Weltkrieg bis zu
25 Prozent des Monatslohns eines Arbeiters aus. Daher konzentrierte sich die
Sozialdemokratie auf den vernachlässigten Wohnungsbau, der durch gestaffelte
Verbrauchsteuern auf Luxusgüter wie Autos, Reitpferde, Hotelzimmer sowie
private Bedienstete finanziert wurde. Die neu eingeführte Wohnbausteuer be-
steuerte kleine Wohnungen mit zwei Prozent, Villen und Luxuswohnungen mit
bis zu 36 Prozent. Vergleichsweise geräumige Gemeindewohnungen mit ange-
gliederten Einrichtungen wie Wäschereien, Bibliotheken, Kindergärten, Ge-
schäften, Jugendzentren und medizinischer Versorgung setzten weltweit neue

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Standards im Wohnbau. Riesige Wohnanlagen wie der Karl-Marx-Hof oder


Freizeiteinrichtungen wie ein öffentliches Schwimmbad (Amalienbad) waren
Leuchtturmprojekte des sogenannten Roten Wien (1919–1934). Auch in ande-
ren sozialen Bereichen, insbesondere im Kultur- und Bildungsbereich, wurden
innovative Reformen umgesetzt. Gefördert wurde eine „städtische Staatsbür-
gerschaft“ aller in Wien Geborenen, unabhängig ihrer Nationalität oder kultu-
reller Abstammung. Das Beispiel Wiens zeigt die wichtige Rolle der lokalen
Ebene und der öffentlichen Hand. Es reicht nicht, Politik und Wirtschaft als
Wechselspiel zwischen nationaler und globaler Ebene zu verstehen. Städte und
Regionen sind für Wohlfahrt und Wohlbefinden, aber auch für wirtschaftlichen
Erfolg von großer Bedeutung.

Nicht-Nachhaltigkeit westlicher Konsumgesellschaften

Der Wohlfahrtskapitalismus gewährleistete in seinen jeweiligen Nationen eine


weitgehend allgemeine soziale Absicherung. Doch dies allein schafft keinen
dauerhaften sozialen Zusammenhalt. Liberale Gesellschaften sind individualis-
tische Gesellschaften, die auf dem Versprechen basieren, anders sein zu dürfen,
sozial aufsteigen zu können oder schlicht von seinen Mitmenschen in Ruhe
gelassen zu werden. Sozialer Zusammenhalt entsteht aus dem Ausbalancieren
von Gleichheits- und Freiheitsbestrebungen, aus Kompromissen zwischen
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sozialer Sicherheit und individueller Selbstverwirklichung. Dass Menschen
keine existenziellen Ängste haben und sich zu Hause fühlen ist das eine, indivi-
duelle Autonomie sowie die Vielfalt an Lebensentwürfen zu respektieren, das
andere. Die Stärke liberaler Gesellschaften ist, negative Freiheiten sicherzustel-
len und die Vielfalt ihrer Mitglieder als Chance für ein funktionierendes Ge-
meinwesen zu sehen. Ihre Schwäche ergibt sich aus der Tendenz, die Kluft
zwischen GewinnerInnen und VerliererInnen, zwischen Besitzenden und Be-
sitzlosen, so weit zu erhöhen, dass sie zu Verelendung, Abstiegsängsten, bruta-
ler Konkurrenz und sozialen Revolten führen.
Die gegenwärtigen sozioökonomischen Umbrüche werden vor dem Hinter-
grund der Nachkriegsordnung als ungerecht wahrgenommen. Dies führt, wie
schon am Beispiel Wien gezeigt, zu Widerstand und Gegenbewegungen. Aus
der Perspektive Karl Polanyis ist die aktuelle Rückkehr des Glaubens an selbst
regulierte Märkte gefährlich: Studienkredite fördern beispielsweise nicht nur
die Ausbildung, sondern führen auch zu frühzeitiger Verschuldung. Die aktu-
elle Verteuerung von Wohnraum, der als Finanzanlage mit dem Bedürfnis nach
Wohnen konkurriert, treibt einkommensschwache und junge Haushalte aus
der Stadt. Wie in den 1930er Jahren gebe es Anzeichen, dass auch die neolibe-
rale Globalisierung die Fundamente des gesellschaftlichen Zusammenlebens
aushöhlt. Die gesellschaftliche Unzufriedenheit münde in Politikverdrossen-

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heit, befördere autoritäre und manchmal sogar reaktionäre Bewegungen und


Parteien. Das Zur-Ware-machen von immer weitergehenden Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens untergrabe kulturelle, soziale und politische Sicher-
heiten.
In Europa wird der Verlust sozialen Zusammenhalts oft als ein Verlust von
Heimat, Sicherheit und Gemeinschaft erlebt. Das Unbehagen wurzelt in einer
konservativen Sehnsucht nach der Rückkehr zu einer vermeintlich besseren
Vergangenheit: sei dies die Nachkriegszeit oder in Ostdeutschland teilweise
auch die DDR. Familie und Nation eröffnen Zugehörigkeit, Autoritäten geben
Sicherheiten. So gewinnen konservative Werte in Zeiten des Umbruchs an
Attraktivität. Konservative wollen das beste aus der Vergangenheit bewahren,
weshalb sie den gesellschaftlichen Wandel bremsen. Im Wohlfahrtskapitalis-
mus agierten konservative politische Parteien und Bewegungen zumeist auf
Grundlage der Menschenrechte, das heißt der grundsätzlichen Gleichheit aller
Menschen. Es galt, Kompromisse mit Gewerkschaften und sozialen Bewegun-
gen auszuhandeln, die weitergehende Veränderungen forderten und daher
politische Gegner waren. Umstritten war die Höhe der Lohnsteigerungen und
Sozialleistungen, nicht aber die Idee, dass Produktivitätsfortschritt gerecht
aufzuteilen sei. Umstritten war, ob Kinder schon mit drei Jahren in öffentlichen
Einrichtungen versorgt werden sollen, nicht aber, dass es eine öffentliche Auf-
gabe sei, Kinder und Jugendliche zu bilden und zu versorgen.
Reaktionäre Politikmodelle hingegen brechen mit dem kompromissorien-
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tierten Politikstil des Nachkriegskapitalismus. In illiberalen Politikmodellen
gibt es im Politischen nicht Gegner, sondern Feinde. Oftmals instrumentalisiert
man für politische Auseinandersetzungen Sündenböcke. Diese Feindbilder
werden für negative strukturelle Entwicklungen, die sich aus den gegenwärtigen
sozioökonomischen Umbrüchen und der Klimakrise ergeben, verantwortlich
gemacht. Beliebt ist die Schuldzuweisung an ethnische oder religiöse Gruppen.
Aber auch Minderheiten und Frauen wurden oftmals Opfer von dogmatischen
und reaktionären Gesellschaftsvorstellungen. Karl Lueger instrumentalisierte
den Antisemitismus im Kampf gegen liberale Eliten. Dieses Politikmuster lässt
sich, insbesondere in Mitteleuropa, bis heute im Anlassfall gleichermaßen ge-
gen Juden, Roma, Flüchtlinge oder Muslime mobilisieren. Die Schuld an sozia-
ler Desintegration wird dann im abweichenden Verhalten anderer verortet.
Aktuell wird die als bedrohlich wahrgenommene Migration oft als Hauptursa-
che für komplexe Verunsicherungen identifiziert. Aus der Unzufriedenheit
über die aktuelle Situation, seien dies Stress und Konkurrenz am Arbeitsplatz,
verdreckte Straßen, unerschwingliche Mieten oder lästige Nachbarn wird rasch
ein „Ausländerproblem“, eine „Flüchtlingsdebatte“ oder eine Diskussion über
fehlenden Fleiß und Disziplin von Arbeitslosen. Für komplexe Probleme wer-
den einfache Lösungen gesucht.

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Ingolfur Blühdorn bietet eine weitere Erklärung, warum sich die westlichen
Konsumgesellschaften in einer politischen Krise befinden. Trotz tagtäglicher,
offizieller Betonung der Wichtigkeit von Nachhaltigkeit bis hin zu den Nach-
haltigen Entwicklungszielen, agieren ihre Mitglieder systematisch nicht nach-
haltig. Ein Gutteil der Bevölkerung in westlichen Konsumgesellschaften wolle
auf die materiellen Errungenschaften eines übermäßigen ökologischen Fußab-
drucks nicht verzichten – sei dies eine große Wohnung, ein Auto, Flugreisen,
die neuesten Modelle oder jeden Tag ein Stück Fleisch. Da sei es für alltägliche
Lebensentscheidungen gleichgültig, dass Naturwissenschaft und Umweltöko-
nomie beweisen, dass diese Lebensweise nicht nachhaltig ist. Blühdorn sieht in
diesen Entwicklungen eine Krise des Ideals des selbstbestimmten Individuums,
die nicht darin bestehe, dass Menschen keine selbstbestimmten Entscheidungen
treffen. Ganz im Gegenteil: Selbstbestimmung wird als Wert absolut gesetzt.
Das eigene Ich wird zum alleinigen Schiedsrichter in der Beurteilung der eige-
nen Lebensführung. Doch erfordert das Ideal der Selbstbestimmung, wie es
Immanuel Kant vertreten hat, eine moralische Grundhaltung: Der Ausstieg aus
der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ setzt die gleichen Rechte anderer
voraus: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen
kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Lange verstand sich Emanzipa-
tion als eine universelle Befreiung von traditionellen, oftmals als irrational
empfundenen Ordnungen, die von Familie, Religion oder anderen gesellschaft-
lichen Konventionen vorgegeben wurden: sich eine eigene Meinung bilden und
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dem Pfarrer nicht zu glauben, wenn er erklärte, die Erde sei in sechs Tagen
erschaffen worden; nicht zu akzeptieren, dass brave Mädchen keine Hosen
tragen. Selbstbestimmung war und ist Befreiung. Diverse Emanzipationsbewe-
gungen kämpfen bis heute genau dafür: gegen Genitalverstümmelung, religiö-
sen Fundamentalismus oder Diskriminierungen aufgrund des sozialen Ge-
schlechts.
Doch heute konstatiert Blühdorn eine neue Form von Selbstbestimmung. Er
nennt „zweite Emanzipation“ das unbeschränkte Streben nach Selbstverwirkli-
chung und Selbstoptimierung. Das derart emanzipierte Individuum akzeptiert
vorgegebene Regeln und Werthaltungen nicht, sondern strebt nach einer radi-
kalen Form negativer Freiheit, der möglichst vollkommenen Abwesenheit allen
Zwangs. War die erste Emanzipation immer verbunden mit den universalisti-
schen Idealen politischer Freiheit und Gleichheit, so sind diese Ideale in der
zweiten Emanzipation nur mehr Mittel zum Zweck der Umsetzung der eigenen
Lebenspläne. Jegliche Art des Setzens von Grenzen werde als Bevormundung
wahrgenommen. Das äußere sich beispielhaft in der Klimadebatte. Sie kennen
Aussagen wie „Ich habe es satt zu hören, dass Fleischgenuss und Autofahren
schlecht geredet werden“, „Ich kann den Pessimismus der KlimaforscherInnen
schon nicht mehr hören. Warum genießen wir nicht einfach den warmen
Sommer? Warum blicken wir nicht einfach optimistisch in die Zukunft?“ An

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Stelle des erhofften Auszugs aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit trete
daher immer öfter „die Befreiung aus der Mündigkeit“: Man will es nicht mehr
wissen, man kann es nicht mehr hören. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden
ignoriert, wenn sie Selbstoptimierung verhindern. „Fake News“ werden ge-
glaubt, wenn sie erlauben, weiter so zu handeln wie immer. Vereinfachungen
des marktliberalen Leitbilds dienen als Rechtfertigung, heute nichts tun zu
müssen, weil die unsichtbare Hand in Marktwirtschaften für gesellschaftliche
Gleichgewichte sorge. Im Teil 3 Zukunftsfähige Gesellschaft wird sich zeigen,
wie wichtig eine neue Balance aus Selbstbestimmung und Dazugehören ist.
Zukunftsfähiges Wirtschaften könnte dafür Voraussetzungen schaffen.

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Teil 3: Wege in die Zukunft

Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der
Katastrophe nehmen.
Max Frisch (Schweizer Schriftsteller und Architekt, 1911–1991)

Im vorangegangenen Teil haben wir die Komplexität gegenwärtiger Entwick-


lungen dargestellt und Orientierungswissen vermittelt. Dabei standen Gefahren
und Herausforderungen im Mittelpunkt. Krisen eröffnen aber auch Gelegen-
heiten und bieten Chancen. Im Folgenden stellen wir verschiedene mögliche
Wege in die Zukunft vor, die je nach eingenommener Perspektive mehr oder
weniger wünschenswert sind. Die in Teil 1 dargestellten Leitbilder zukunftsfä-
higen Wirtschaftens beeinflussen die jeweiligen Bewertungen und führen zu
unterschiedlichen Handlungsempfehlungen.

Zukunftsfähige Umwelt

Teil 2 Umwelt im Umbruch hat in verschiedenen Dimensionen gezeigt, dass das


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derzeitige Wirtschaftssystem zu Lasten -zukünftiger
transidGenerationen,
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bestimmter -
gesellschaftlicher Gruppen und Regionen operiert. Zukunftsfähigkeit erweist
sich heute an der Fähigkeit einer Wirtschaftsweise, sozialen Zusammenhalt und
ökologische Nachhaltigkeit zu verbinden. Bei Nachhaltigkeitspolitik geht es
ausdrücklich um mehr als nur ökologische Aspekte. Damit beschäftigt sich der
Großteil dieses abschließenden Teils 3. Im Folgenden werden aber zuerst
(1) zwei Ansätze ökologischer Nachhaltigkeitspolitik, deren Ziele, (2) Analyse-
methoden und (3) Instrumente vorgestellt: der Naturschutz einerseits und der
Umwelt- und Klimaschutz andererseits.

Ansätze ökologischer Nachhaltigkeitspolitik

Naturschutz stand im 19. Jahrhundert am Anfang der Umweltbewegung. Diese


aus der Romantik entsprungene Sichtweise ist für NaturschützerInnen bis
heute bedeutsam, denn Natur hat einen Eigenwert. Sie ist „Schöpfung“, „schön“
und „Heimat“ und damit einzigartig und inkommensurabel. Gemäß der star-
ken Nachhaltigkeit, für die ökologische, soziale und wirtschaftliche Dynamiken
vielfach unvergleichbar sind, können zerstörte Ökosysteme nicht mit steigen-
dem Sach- oder Humankapital ersetzt werden. Natur besitzt somit einen Wert

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an sich, der sich nicht auf ihren Nutzen für Menschen beschränkt. Seltene Tier-
arten sind zu schützen, auch wenn sie den Menschen keinen direkten Nutzen
bringen. Die Natur ist zu erhalten – mit allen Mitteln. Diesbezüglich stellt der
Naturschutz das derzeitige Wirtschaftssystem und das westliche Zivilisations-
modell grundlegend in Frage. Insbesondere der Wachstumszwang und die
fortschreitende Kommodifizierung seien nicht nachhaltig. Dass Natur einen
Preis haben könnte, dass sie kommodifiziert, zur Ware gemacht wird, wird
abgelehnt. Der Eigenwert der Natur, die Unberührtheit der Wildnis, ihre
Schönheit und Vielfalt beruht auf absoluten Werten, die unverhandelbar sind.
Weil Wind- oder Wasserkraftwerke das Landschaftsbild und Biotope seltener
Arten zerstören, rechtfertigt Naturschutz unter Umständen auch den Wider-
stand gegen den Ausbau erneuerbarer Energieträger. Der Naturschutz ist kon-
servativ, bewahrend, aber kritisch gegenüber der derzeitigen expansiven Wirt-
schaftsweise. Naturschutz wirft Fragen von Moral und demokratischem Ent-
scheiden auf, denn wer entscheidet auf Basis welcher Kriterien, wo Tier- und
Naturschutz beginnt und endet: Dürfen Menschen in die Natur eingreifen, um
sich vor Überschwemmungen und Lawinen zu schützen? Gilt Tierschutz für
Tiger und Kühe, nicht aber für Bakterien und Krebszellen?
Klima- oder Umweltschutz stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Eine
intakte Umwelt und ein lebensfreundliches Klima sind für menschliches Leben
erforderlich. Es geht also vor allem um die Erhaltung der Umwelt und des Kli-
mas um der Menschen Willen. In welcher Weise Umwelt- und Klimaschutz
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umgesetzt wird, hängt stark davon ab, an welchem Leitbild zukunftsfähigen
Wirtschaftens sich Handlungen und Maßnahmen orientieren.
Dem marktliberalen Leitbild folgend ist der Markt das zentrale Steuerungs-
element. Um Ressourcen effizient zu verteilen, brauchen öffentliche Güter wie
Luft, Wasser und Artenvielfalt einen Preis. Wenn Wasser einen Preis hat, wird
weniger verschwendet; wenn der CO2-Ausstoß etwas kostet, wird weniger
emittiert. Daher müssen Märkte für diese Güter geschaffen oder abgesichert
werden. Um Marktversagen zu beheben, braucht es die Internalisierung exter-
ner Effekte: die VerbraucherIn oder EmittentIn hat so die tatsächlichen Kosten
ihrer individuellen Handlung zu tragen. Dem Leitbild der pragmatischen so-
zialökologischen Transformation folgend braucht es weitere Instrumente jen-
seits des Marktes, wie Steuern, staatliche Förderungen oder Verbote, wie jenes
des Kältemittels FCKW bei Kühlschränken, Fahrverbote, etc. Eine CO2-Steuer
wäre ein erster Schritt hin zu einer umfassenden ökologischen Steuerreform.
Grünes Wachstum und technischer Fortschritt kann zu Win-win-Situationen
führen, grüne Arbeitsplätze schaffen und damit sozialen Zusammenhalt ge-
währleisten. Dem Leitbild einer radikalen sozialökologischen Transformation
folgend sind Wirtschaftswachstum und ökologische Notwendigkeiten nicht
miteinander vereinbar. Es braucht eine Neugestaltung der Interaktion zwischen
Mensch und Natur. Diese Interaktion wird als gesellschaftliches Naturverhält-

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nis beschrieben: Die Grenzen zwischen „menschengemachter“ und „natürli-


cher“ Umwelt verschwimmen: Agrikultur, Landwirtschaft, ist eine Kulturleis-
tung. Weder sind Naturschutzparks „natürlich“ und „unberührt“, noch sind
Autobahnen vollkommen „künstlich“. Beides sind bestimmte Formen eines
gesellschaftlichen Naturverhältnisses. Ziel einer radikalen sozialökologischen
Transformation ist, nachhaltige gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu schaf-
fen. Zum Beispiel nachhaltige Siedlungsstrukturen mit einer Stadt der kurzen
Wege und lebendigen Dorfkernen ohne Zersiedelung am Rand.

Analyse umweltpolitischer Effekte

Um wirtschaftliche und politische Entscheidung hinsichtlich ihrer ökologi-


schen Nachhaltigkeit zu bewerten, braucht es geeignete Analysemethoden. Der
Naturschutz ist skeptisch, ob Eingriffe in die vermeintlich „natürliche“ Sphäre
gemessen und bewertet werden können. Allerdings finden einige seiner An-
nahmen, besonders sein expliziter Fokus auf starke Nachhaltigkeit, Eingang in
Ansätze des Umwelt- und Klimaschutzes sowie deren Analysemethoden. Drei
solcher Methoden können unterschieden werden: (1) die Kosten-Nutzen-Me-
thode, (2) die Multi-Kriterien Analyse und (3) weiterreichende Beteiligungs-
formen.
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(1) Die Kosten-Nutzen-Analyse ist die zentrale Methode der schwachen Nach-
haltigkeit. Stellen Sie sich vor, es soll entschieden werden, ob ein Kohlekraft-
werk weiter in Betrieb bleibt. Eine Kosten-Nutzen-Analyse hilft bei der Ent-
scheidung für oder gegen das Kraftwerk, indem sie Nutzen (zum Beispiel Steu-
ereinnahmen und Arbeitsplätze) und Kosten (insbesondere CO2-Emissionen
und Luftverschmutzung) des Kraftwerkbetriebs quantifiziert. Ökologische und
soziale Vorteile und Kosten, die für bestimmte Personengruppen in einem
zumeist abgegrenzten Territorium, einer Region oder einem Land anfallen,
werden monetarisiert. Ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Vor- und
Nachteilen wird ein fiktiver Geldwert zugeschrieben. Externalitäten, also Folgen
wirtschaftlichen Handelns, die nicht von den VerursacherInnen getragen wer-
den, werden internalisiert, das heißt monetär bewertet, um sie in die Analyse
miteinzubeziehen. Unsicherheiten werden, aufbauend auf den Annahmen des
neoklassischen Denkkollektivs, zu quantifizierbaren Risiken. Damit sich das
Kraftwerk aus einer umfassenden Gemeinwohlorientierung „rechnet“, muss der
Gesamtnutzen, der alle Vorteile für die Allgemeinheit berücksichtigt, die Ge-
samtkosten, die alle externen Kosten inkludieren, übersteigen. Angesichts der
Klimakrise werden die Folgekosten zunehmend höher bewertet und so ver-
schiebt sich aktuell die Bewertung zusehends Richtung Schließung von Kohle-
kraftwerken. So soll beispielsweise das Lausitzer Braunkohlerevier in Sachsen

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2038 geschlossen werden. Das kostet Arbeitsplätze in einer strukturschwachen


Region. Um die wirtschaftlichen und sozialen Kosten zu kompensieren, sollen
17 Milliarden Euro an Strukturförderung für neue Betriebe und Infrastrukturen
in der Region investiert werden.
In derartigen Bewertungen scheinen all jene ökologischen, sozialen und
wirtschaftlichen Aspekte auf, denen monetäre Werte zugeschrieben werden
können. Doch welche Kosten entstehen der Allgemeinheit durch frühzeitige
Todesfälle, die durch Luftverschmutzung eines Kraftwerks verursacht werden?
Sind die Kosten bei jungen und gebildeten Menschen höher als bei Pensionis-
tInnen? Und was ist es zum Beispiel wert, Wale vor dem Aussterben zu retten?
Vor einigen Jahren schätzte eine US-amerikanische Umfrage, dass die Bevölke-
rung bereit wäre, 18 Milliarden Dollar zu zahlen, um die Existenz von Buckel-
walen in den USA zu sichern. Was wäre, wenn ein Milliardär bereit wäre, für
das Recht, alle Buckelwale in den USA zu jagen, mehr zu zahlen? Soll das er-
laubt sein? Wer könnte diese Lizenz vergeben, wäre also berechtigt, das Leben
von Buckelwalen zu verkaufen? Derartige moralische, rechtliche und organisa-
torische Bedenken finden in der Kosten-Nutzen-Analyse keine Berücksichti-
gung.
Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Ermittlung des heutigen Werts zu-
künftiger Kosten und Nutzen. Umwelt- und Klimaschutz erhöhen beispiels-
weise die Lebensqualität und Lebenserwartung in der Zukunft, belasten aber
heute private und öffentliche Budgets. Doch wie werden Kosten und Nutzen
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errechnet, die erst in fünf Jahren oder in künftigen Generationen anfallen?
Diskontierung ist das finanzmathematische Berechnungsverfahren, das den
heutigen Wert zukünftiger Zahlungen (Erträge und Kosten) errechnet. Heutige
Erträge und Kosten sind mehr wert als jene in der Zukunft. Diese Abzinsung
zukünftiger Zahlungen, Kosten, Erträge und Nutzen auf einen gegenwertigen
„Barwert“ hängt vom angenommenen Diskontsatz ab. Ein hoher Diskontsatz
vermindert die relative Bedeutung der Zukunft, während bei einem „Null-
Zins“-Diskontsatz das geschätzte Leid und Wohlbefinden zukünftiger Genera-
tionen genau so viel wiegt wie Kosten und Nutzen heute. So verwendeten zum
Beispiel zwei bekannte Umweltökonomen unterschiedliche Diskontsätze, um
die Kosten des Klimawandels zu errechnen. Die daraus resultierenden unter-
schiedlichen Bewertungen hatten verschiedene Politikempfehlungen zur Folge.
Nobelpreisträger William Nordhaus diskontierte die Kosten der Klimaverände-
rungen mit 4,5 Prozent pro Jahr, was den aktuellen Zinssätzen zur Zeit seiner
Berechnungen entsprach. Nicholas Stern, ehemaliger Weltbank-Chefökonom,
hingegen kalkulierte die Kosten in seinem bekannten Report aus dem Jahr 2006
mit 1,5 Prozent. Die von ihm errechneten Kosten zukünftiger Schäden sind also
höher als jene von Nordhaus. Wäre der aktuelle Nullzinssatz der Diskontsatz,
würde es gleich bewertet, ob ich heute schlechte Luft einatme oder meine Kin-

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der in 30 Jahren. Der fossile Machtkomplex beruft sich auf Nordhaus, Umwelt-
schützerInnen auf Stern.
Diese Berechnungen verlieren weiter an Eindeutigkeit, wenn verschiedene
Gruppen und Generationen von externen Effekten unterschiedlich betroffen
sind: AnrainerInnen von Flughäfen erleiden die Nachteile eines Ausbaus, die
Tourismusbranche erwartet sich Umsatzsteigerungen. Auch die Berücksichti-
gung von Langzeiteffekten und die Quantifizierung komplexer Phänomene
sind schwierig: Wie ist der Verlust von Arten, Grundwasser oder Ökosystemen
sowie die Erwärmung des Planeten zu kalkulieren? Was ist der Preis für die
Rettung vom Aussterben bedrohter Arten? Wer trägt die Kosten? Auch die
Annahmen und Werturteile bezüglich der Nachhaltigkeit von beispielsweise
Flugverkehr unterscheiden sich. Für UmweltökonomInnen ist beim aktuellen
Wissensstand der Klimaforschung der Ausbau dieser fossilen Infrastruktur eine
wirtschaftliche Fehlentscheidung. Hingegen jubelt die Tourismusbranche über
kauffreudige chinesische Gäste, die kurzfristig Umsatzrekorde ermöglichen.

(2) Die Multi-Kriterien-Analyse arbeitet im Unterschied zur Kosten-Nutzen-


Analyse multiperspektivisch und basiert auf der Vorstellung starker Nachhal-
tigkeit. Sie berücksichtigt unterschiedliche Werthaltungen, Annahmen und
Interessen sowie wissenschaftliche Daten verschiedener Disziplinen und macht
diese transparent. So prallen bei der Schließung von Kohlekraftwerken die
monetären Interessen der Beschäftigten und ihre kulturelle Verbundenheit mit
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einer seit Generationen praktizierten Wirtschaftsweise, die Rentabilitätserfor-
dernisse der Eigentümer von Kohlegruben und Kraftwerken, die Sorgen von
KlimaaktivistInnen und die Berechnungen der Klimawissenschaft aufeinander.
Mit der Multi-Kriterien-Analyse werden Maßnahmen aus unterschiedlichen
Perspektiven eingeschätzt und bewertet.
Zuerst werden unterschiedliche zentrale Kriterien festgelegt wie zum Bei-
spiel Beschäftigung, Energiepreise, Schutz von Arten, Luftqualität, Wohlbefin-
den, Lärmbelästigung, Steuereinnahmen und CO2-Bilanz. Einige dieser Krite-
rien sind, der starken Nachhaltigkeit folgend, inkommensurabel, weil „Äpfel“
nicht mit „Birnen“, der Schutz von Arten nicht einfach mit der Schaffung von
Arbeitsplätzen gegengerechnet werden kann. Nicht alles hat in der Multi-Krite-
rien Analyse einen Geldwert. Nachdem die Kriterien festgelegt sind, wird ver-
sucht, diese zu operationalisieren. Dies kann sowohl quantitativ (z. B. Errech-
nen von zusätzlichen Steuereinnahmen oder CO2-Emissionen) wie auch quali-
tativ geschehen (z. B. mittels Fokusgruppendiskussionen zu den potentiellen
Auswirkungen des Kraftwerks auf das Wohlbefinden der AnrainerInnen). So-
mit geht die Multi-Kriterien-Analyse über die quantitative Erfassung von Kos-
ten und Nutzen hinaus. Nichtsdestotrotz werden die Ergebnisse der einzelnen
Kriterien am Ende gewichtet. Sind höhere Steuereinnahmen ebenso wichtig wie
saubere Luft? Warum oder warum nicht? Es ist an diesem Punkt der Gewich-

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tung, an dem die Multi-Kriterien-Analyse Transparenz schafft und Lernen


fördert: Sie legt offen, welche Kriterien wie gewichtet werden und warum.
Inkommensurabilitäten werden hierbei nicht aufgelöst, wohl aber Prioritä-
ten gesetzt. Zum Beispiel könnte der Schutz von Arten höher gewichtet werden
als die Schaffung von Arbeitsplätzen (oder auch umgekehrt). Auf dieser Basis
können verschiedene Szenarien und potentielle Lösungswege aufgezeigt wer-
den. Wissenschaft kann helfen, Szenarien zu entwickeln, die für möglichst viele
Akteure vorteilhaft sind und die VerliererInnen entschädigt. Da es vermutlich
keine Win-win-Situation, keine beste Lösung gibt, braucht es demokratische
und pragmatische Kompromisse und Entscheidungen für die am wenigsten
schlechten Lösungen.
Die Stärke der Multi-Kriterien-Analyse ist gleichzeitig ihre Schwäche. In-
dem keine allgemein akzeptierten Kriterien verwendet werden und Partizipa-
tion ermöglicht wird, gibt es Raum für Interpretation bis hin zur Manipulation.
Wer wird beteiligt? Was sind Kriterien des Auswählens, Abwägens und Ent-
scheidens? Wie ist mit dem Spannungsfeld Wissenschaft–Politik umzugehen?
Machtverhältnisse spielen dabei eine zentrale Rolle: Höher gebildete Personen
haben oft mehr Selbstbewusstsein, können besser reden und finden somit
leichter Gehör. Organisationen, die über Ressourcen verfügen und mit einfluss-
reichen Akteuren in Wirtschaft und Politik vernetzt sind, können besser lob-
byieren.
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(3) An diesen Problematiken setzen weiterreichende Beteiligungsformen, das
sogenannte BürgerInnenengagement an. BürgerInnen und andere Stakeholder
sollen systematisch in die Analyse umweltpolitischer Effekte eingebunden wer-
den. Sie sollen aktiv an der Entwicklung potentieller Wege in die Zukunft teil-
haben. Umfassendes Engagement von Betroffenen führt zu besseren Ergebnis-
sen, da zusätzliche Perspektiven und spezifisches Wissen von Laien miteinbe-
zogen wird. Weiters fördert es demokratische Ideale wie Offenheit, Transpa-
renz und Pluralität. BürgerInnenengagement wird völkerrechtlich und in der
EU durch die Säulen der im Jahr 2001 in Kraft getretenen Aarhus-Konvention
verbindlich umgesetzt. Diese setzt auf aktive Informationsbereitstellung, Betei-
ligung an Verfahren und Zugang zum Rechtschutz insbesondere auch für
NGOs.
Konkrete Ansätze, Ideen und Modelle von BürgerInnenengagement passen
sich an den jeweiligen Kontext an, in dem Wissen gebraucht wird. So gibt es
„eingeladene“ Formen des Engagements wie die Multi-Kriterien Analyse, Bür-
gerInnenjurys, oder öffentliche Konsultationen. Bei diesen legen die Organisa-
torInnen, zumeist öffentliche Behörden, die Rahmenbedingungen fest und
strukturieren auf diese Weise die Entscheidungsfindung. Dadurch bestimmen
sie nicht nur, wer als ein/e „relevante“ Teilnehmer/in angesehen wird, sondern
engen auch die Möglichkeiten für grundlegende (In)Fragestellungen ein. Daher

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sind auch „ungebetene“ Formen des BürgerInnenengagements Möglichkeiten


der Beteiligung. In Form von Protesten, Kampagnen und Lobbying versuchen
sich Gruppen, Gehör zu verschaffen, wenn sie meinen, im offiziellen Verwal-
tungsprozess machtlos zu sein. Oftmals entstehen diese Formen der Beteiligung
spontan und selbstorganisiert. Sie problematisieren das Vorhaben an sich und
provozieren auf diese Weise Konflikte. So gab es rund um die Schließung der
Lausitzer Höhe viele öffentliche Konsultationen. Ungebetenerweise protestier-
ten UmweltaktivistInnen von „Ende Gelände“ gegen Kohlekraftwerke, blo-
ckierten die Kohlezufuhr und behinderten den Kraftwerksbetrieb mit Metho-
den des zivilen Ungehorsams. Begründet wird dieses teilweise illegale Vorgehen
mit der Dringlichkeit einer Energiewende. In diesem Fall nicht ohne Erfolg.
Das Beispiel zeigt grundlegende Spannungsverhältnisse in demokratischen
Gemeinwesen, in denen demokratisch gewählte PolitikerInnen und öffentliche
Verwaltungen, die auf Grundlage des Rechtsstaats handeln müssen, auf den
Protest engagierter BürgerInnen stoßen, die das konkrete Handeln von Behör-
den und Politik kritisieren. Welcher Widerstand und welche Opposition ist
legitim? Wer darf auf welche Art welche Gesetze brechen? Wie ist die demo-
kratische Öffnung von Entscheidungsprozessen mit der Notwendigkeit zu ver-
binden, konkrete Entscheidungen zu treffen? Der Einbeziehung möglichst vie-
ler AkteurInnen steht der Effizienz und Legalität von Entscheidungsfindungen
gegenüber. Wenn BürgerInnen, politische EntscheidungsträgerInnen und Ex-
pertInnen unvereinbare Ansichten zum Ausdruck bringen, entstehen offene
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Situationen. Dann müssen Entscheidungssituationen nicht nur geöffnet („open
up“), sondern auch geschlossen („closure“) werden. Vor allem besteht die Her-
ausforderung, diese Beteiligungsformen mit formalen Entscheidungsverfahren
zu verknüpfen, denn letztlich entscheiden die rechtlich legitimierten Autoritä-
ten: Behörden oder Politik. So versprach die deutsche Regierung, im Beispiel
der Lausitzer Höhe, schlussendlich auf Vorschlag der Kohlekommission die
negativen sozioökonomischen Effekte des Ausstiegs aus der Kohleförderung bis
2038 insgesamt mit 40 Milliarden Euro an Investitionen zu kompensieren.
Die folgende Tabelle stellt die Kosten-Nutzen-Analyse, die Multi-Kriterien-
Analyse und das BürgerInnenengagement nochmals zusammenfassend gegen-
über.

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Tabelle: Gegenüberstellung Kosten-Nutzen-Analyse, Multi-Kriterien-Analyse und


BürgerInnenengagament

Kosten-Nutzen- Multi-Kriterien- BürgerInnenengagement


Analyse Analyse
Beteiligung Keine BürgerInnen- „Eingeladene“ Form „Eingeladene“ und „unge-
beteiligung der BürgerInnenbe- betene“ Formen der Bür-
teiligung gerInnenbeteiligung;
Bewertung Monetäre Abwägen und Kom- „Öffnen“ von Entschei-
Bewertungen promisse auf Basis dungs- und Bewertungssi-
von Transparenz tuationen
Lösung Mathematisch Unterschiedliche Sze- Kaum mathematisch
exakte, optimale narien, je nach ver- formulierbar; keine klaren
Lösungen wendeten Kriterien Lösungswege
und Gewichtungen
Bereitschaft Bereitschaft, zu Bereitschaft, mehrere Bereitschaft zum Engage-
zahlen Perspektiven einzu- ment
nehmen
Individuen Individuen als Wirt- Individuen als politi- Individuen als politische
schaftsakteure sche Akteure (Bürger- Akteure (BürgerInnen)
Innen)
Konflikte Konflikte werden Konflikte werden Konflikte austragen er-
verschleiert angesprochen und schwert Entscheidungen
pragmatische Lösun- zu treffen, erhöht aber
gen gesucht deren Akzeptanz

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Umweltpolitische Instrumente

Die ambitionierten Ziele der Europäischen Union für 2030 sind die Senkung
der Treibhausgasemissionen um mindestens 40 Prozent (gegenüber dem Stand
von 1990), die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energiequellen auf mindes-
tens 32 Prozent und die Steigerung der Energieeffizienz um mindestens 32,5
Prozent. Umweltpolitische Instrumente helfen, derartige Ziele der Umwelt-
und Nachhaltigkeitspolitik umzusetzen. Dies zeigt sich beispielsweise an der
dänischen Energiewende. 1970 war Dänemarks Energieversorgung zu 100 Pro-
zent von importierten fossilen Brennstoffen abhängig. Als Folge der Preissteige-
rungen durch den Ölpreisschock 1973 beschloss Dänemark eine neue Energie-
politik, die auf unterschiedliche umweltpolitische Instrumente setzt. 2009 fielen
Dänemarks absolute Emissionen unter das Niveau von 1990, womit es die Ver-
pflichtungen des Kyoto-Protokolls sogar übertraf. So konnten in Dänemark
durch einen parteiübergreifenden politischen Willen und einem Mix an um-
weltpolitischen Instrumenten wichtige Veränderungen eingeleitet werden. Im
Folgenden werden diverse Instrumente genauer vorgestellt: (1) Kommunika-
tionsinstrumente, (2) eine ökologische Steuer- und Förderpolitik und (3) ord-

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nungspolitische Maßnahmen. Diese Instrumente sind immer bewusst oder


unbewusst inspiriert von den Leitbildern zukunftsfähigen Wirtschaftens.

(1) Kommunikationsinstrumente setzen auf Eigenverantwortung und fördern


nachhaltigen Konsum, ohne Vorschriften zu machen oder Verbote zu erlassen.
Was Menschen konsumieren, wie sie leben, was sie essen, wie sie sich kleiden
und wie sie sich fortbewegen, wird durch ihre Wünsche, Interessen und Werte
geprägt. Die ökonomische Theorie erfasst dies mit dem Begriff der Präferenzen,
subjektiven Bewertungen von Gütern und Dienstleistungen. Kommunika-
tionsinstrumente versuchen, diese Präferenzen zu verändern, um in der Folge
individuelles Handeln, insbesondere Konsumentscheidungen, zu beeinflussen.
Information, Bewusstseinsbildung, Informationskampagnen und Bera-
tungsangebote vermitteln Wissen über nachhaltiges Konsumieren und wecken
Emotionen, die Kaufentscheidungen beeinflussen sollen. Mittels Werbung wird
ein nachhaltiger Lebensstil als cool und modern dargestellt. Mit Labels (zum
Beispiel „Pro Planet“, „Fair Trade“) und Marken (zum Beispiel „ja, natürlich“,
„Zurück zum Ursprung“) werden Produkte als organisch, regional, saisonal
und allgemein als nachhaltig gekennzeichnet. KonsumentInnen sind eingela-
den, nachhaltig, grün, fair, biologisch, regional und ethisch zu konsumieren.
Mit gestiegenem Umweltbewusstsein und mehr Wissen über die Klimakrise
gewinnt dieses ökologische und verantwortungsbewusste Konsumieren an
Bedeutung. Beispielsweise benötigen in Europa Gebäude einen Energieausweis,
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der Daten zur Energieeffizienz und zu den anfallenden Energiekosten eines
Gebäudes liefert.
Kommunikationsinstrumente, die nachhaltigen Konsum fördern, schaffen
Markttransparenz. Sie zeigen die (Nicht-)Nachhaltigkeit von Produktwert-
schöpfungsketten auf und fördern das individuelle Verantwortungsbewusstsein
für Nachhaltigkeit, ohne Märkte zu verzerren. Aus der marktliberalen Perspek-
tive ist nachhaltiges Konsumieren eine wichtige Maßnahme hin zu einem
nachhaltigen Lebensstil. Es liegt an der Eigenverantwortung jedes Einzelnen,
die eigenen Präferenzen im Sinne der Nachhaltigkeit auszurichten. Wenn die
Wende hin zu mehr Nachhaltigkeit nicht gelingt, liegt dies an den Präferenzen
und Wahlentscheidungen der KonsumentInnen. Tatsächlich beteuern Konsu-
mentInnen in Umfragen die Wichtigkeit nachhaltigen Konsumierens, doch
wird im Supermarkt dann oft doch nach dem kostengünstigeren oder ver-
meintlich besseren Produkt gegriffen. Auch gibt es offensichtlich zahlreiche
Hürden, um vom Wissen, dass Fliegen klimaschädlich ist, zum Handeln zu
schreiten und auf einen konkreten Flug zu verzichten. Dieser Weg ist oft ge-
pflastert mit guten Absichten und viel schlechtem Gewissen. Und trotzdem
lautet die Entscheidung schlussendlich allzu oft, an gewohnten, ökologisch
problematischen Konsummustern festzuhalten. Zwar ist der österreichische
Lebensmittelmarkt Vorbild in Bezug auf biologische Produkte. Trotzdem be-

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trägt deren Marktanteil nur 8,5 Prozent. Am Weltmarkt ist der Anteil von Bio-
Baumwolle bloß ein Prozent. Der Erfolg von Kommunikationsinstrumenten,
die auf verantwortungsbewusste KonsumentInnen setzen, ist daher bescheiden.
Nachhaltige Produkte finden sich weiterhin zumeist in Marktnischen, die sich
einkommensschwächere Gruppen oft gar nicht leisten können. Systemische
Veränderungen werden kaum angestoßen.
Sowohl der Naturschutz als auch Klima- und UmweltschützerInnen, die
dem marktliberalen Leitbild kritisch gegenüberstehen, sehen Appelle an Ver-
nunft, Moral und schlechtes Gewissen als nicht ausreichend an. Transforma-
tion erfordert andere Routinen und andere Leitbilder. Hierzu reichen Kommu-
nikationsinstrumente, die hoffen, individuelle Präferenzen durch einen verbes-
serten Wissensstand zu verändern, nicht aus. Wirklich nachhaltiges Konsumie-
ren sollte zum Wohlbefinden, nicht nur zu Wohlstand beitragen. So setzen
Suffizienzstrategien auf weniger Konsum und mehr Zeitwohlstand. Am Abend
im Park kann die Einsicht dämmern: weniger kann mehr sein. Es kann ressour-
censchonender und gleichzeitig besser gelebt werden, wenn Bedürfnisse mit
weniger Ressourceneinsatz befriedigt werden. Weniger arbeiten und konsumie-
ren, mehr Zeit für Freunde und Familie.

(2) Mit einer ökologischen Steuer- und Förderpolitik können Ressourcen neu
bewertet und verteilt werden. Steuer- und Förderpolitik schaffen Rahmenbe-
dingungen, die zu anderen Entscheidungen führen, auch wenn sich Präferenzen
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nicht ändern. Preisänderungen setzen Anreize für geändertes Konsumverhal-
ten. Ökologisches Umsteuern beginnt mit der Abschaffung von Subventionen
in fossile Energieträger, denn dies setzt öffentliche Mittel für andere Investitio-
nen frei. Derartige Subventionen umfassen unter anderem Absatzbeihilfen wie
die „Abwrackprämie“, die Steuerbefreiung von Kerosin, die Subventionierung
nicht rentabler fossiler Infrastrukturen wie die Mehrzahl der Regionalflughäfen
sowie in Österreich die Steuerbegünstigung auf Diesel. Manchmal verstärken
Subventionen in fossile Energieträger auch Ungleichheiten, da bestehende ka-
pitalstarke Marktführer und deren nicht-nachhaltige Produktionsverfahren
subventioniert werden – zum Schaden anderer gesellschaftlicher Gruppen.
Darüber hinaus belasten sie die Leistungsbilanz und erhöhen die Abhängigkeit
von Energielieferanten (insbesondere aus Russland und dem Nahen Osten).
Gleichzeitig leiden der Nahe Osten und Teile Afrikas unter dem „Hunger“
kaufkraftstarker Gruppen nach Öl, Gas und anderen Rohstoffen.
Eine wesentliche Subventionierung für fossile Energieträger ist die globale
Transportinfrastruktur, die auf fossilen Energieträgern aufbaut. Davon profitie-
ren wesentlich transnationale Unternehmen, denn ein Gutteil des Welthandels
wird zwischen Mutter- und Tochterfirmen und in globalen Produktionsnetz-
werken abgewickelt. Die dafür notwendigen LKWs, Flugzeuge und Fracht-
schiffe sind von Straßen, Flughäfen und Häfen abhängig. KonsumentInnen

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profitieren von geringeren Preisen. Aber einen Gutteil der externen Effekte des
höhen CO2-Ausstoßes tragen weder sie noch die transnationalen Unterneh-
men. Deshalb könnte eine Abschaffung von Subventionen für fossile Brenn-
stoffe zwar zu steigenden Preisen vieler Konsumgüter führen, hätte aber gleich-
zeitig vielfältige positive Effekte. Einer IWF-Studie folgend brächte ein welt-
weiter Ausstieg aus fossilen Subventionen finanzpolitische Vorteile von vier
Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, also ungefähr drei Billionen Euro. Die
weltweiten CO2-Emissionen würden um 21 Prozent sinken – die Reduktion des
Kohleverbrauchs würde hiervon 61 Prozent ausmachen. Die Zahl der durch
Luftverschmutzung verursachten Todesfälle könnte sich, diesem Modell fol-
gend, um 55 Prozent reduzieren.
Neben einer Abschaffung fossiler Subventionen kann eine ökologische
Steuerreform das Verursacherprinzip weiter zur Anwendung bringen, was
grundsätzlich von allen Leitbildern begrüßt wird. Kostbare Ressourcen, insbe-
sondere fossile Energieträger, werden höher besteuert. Dies bringt Steuerein-
nahmen und damit öffentliche Mittel für zukunftsfähige Investitionen. So
führte Dänemark bereits 1992 eine Steuer auf Kohle, CO2, Erdgas und Schwefel
ein, wodurch die Energieeffizienz verbessert und die langfristige Rentabilität
von Investitionen in erneuerbare Energieträger garantiert wurde. Ein Großteil
der daraus erzielten Einnahmen von 25 Milliarden Euro (von 1980 bis 2005)
wurde in die Energieforschung (besonders in Windkraft) zurückgeleitet. Folg-
lich wurden die CO2-Steuern zum dänischen Wettbewerbsvorteil, da sie früh-
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zeitig zu einem Umsteuern führten.
Schließlich können aus derartigen Steuereinnahmen, ebenso wie durch die
aus der Abschaffung von fossilen Subventionen frei gewordenen Mittel, öffent-
liche Förderungen treten. Beispielsweise für kohlenstoffarme Energieerzeugung
wie Windenergie und Photovoltaikanlagen. Dies würde private Investitionsent-
scheidungen und -erwartungen zu Gunsten erneuerbarer Energien und „grü-
ner“ Jobs beeinflussen. So förderte Dänemark mit Unterbrechungen lokales
und kooperatives Eigentum an Windparks, weshalb KleinanbieterInnen we-
sentlich zur Energiewende beitragen konnten. Ebenso können Investitionen in
nachhaltige Mobilitätssysteme fließen. Da von ausgebauten öffentlichen Ver-
kehrsmöglichkeiten vor allem einkommensschwächere Gruppen profitieren,
ergeben sich positive Verteilungseffekte. Auch die Förderung eines Mobilitäts-
passes, der das Benützen aller öffentlichen Verkehrsmittel in einem Gebiet
(einer Stadt, Region oder im ganzen Land) kostengünstig anbietet, kann An-
reize setzen, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen (vgl. Sozialökologische
Steuerreform). Dies wären erste Schritte hin zu einem transformierten Mobili-
tätssystem, das ohne fossile Energieträger auskommt.

(3) Schließlich umfassen ordnungspolitische Maßnahmen staatlich gesetzte


Regeln wie Ge- und Verbote sowie Genehmigungsvorbehalte in Gesetzen und

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Verordnungen. Ökologische Maßnahmen waren beispielsweise das erfolgreiche


Verbot von FCKW und dem Insektizid DDT. In Dänemark waren 1981 90
Prozent der Elektrizitätsgewinnung Kohle-basiert. Die damit einhergehenden
Umweltbelastungen führten zu einem Verbot neuer Kohlekraftwerke. Auch
Geschwindigkeitsbeschränkungen, der deutsche Ausstieg aus der Atomwirt-
schaft oder das Verbot von Ölheizungen sind ordnungspolitische Entscheidun-
gen. Ebenso wie die Idee, Infrastrukturprojekte erst zuzulassen, wenn sie in
einem Verfahren auf ihre Gesundheits- und Umweltschädlichkeit geprüft und
gegebenenfalls modifiziert wurden.
Marktliberale beschränken Ordnungspolitik auf die Schaffung einer Markt-
und Eigentumsordnung. Eine freie Gesellschaft braucht ein Minimum an Ver-
boten. Maßnahmen, die Märkte garantieren oder schaffen wie im Fall von In-
vestitions- und Handelsabkommen, sind zu begrüßen. Maßnahmen, die man-
che marktliberalen Umwelt- und KlimaschützerInnen fordern, sind beispiels-
weise eine marktabhängige Parkgebühren, City-Maut und CO2-Steuern. Andere
Maßnahmen wie die Steuerung der Menge im Gegensatz zur Steuerung von
Preisen sind abzulehnen. Dies gilt beispielsweise ebenso für Ausstiegspläne aus
Kohle und Verbrennungsmotoren als auch für Fahrverbote. Diese marktliberale
Argumentation verfestigt die Grundinstitutionen kapitalistischer Marktwirt-
schaften: Wachstum und Konsumorientierung. Das Ergebnis zeigt sich in der
fehlenden Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch.
Jene am Leitbild einer pragmatischen sozialökologischen Transformation ori-
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entierten Umwelt- und KlimaschützerInnen argumentieren hingegen, dass
Instrumente im Einzelfall abgewogen werden müssen: Wiegen die umweltpoli-
tischen Vorteile eines Fahrverbots in der Innenstadt die Einschränkung des
Rechts auf Mobilität auf, oder nicht? Ist das Verbot von Ölheizungen abzuleh-
nen, weil es Märkte verzerrt und mögliche technologische Innovationen ver-
hindert? Die jeweiligen Antworten werden auf Grundlage verschiedener Inte-
ressen und Bewertungen unterschiedlich ausfallen.
Der Naturschutz basiert wesentlich auf ordnungspolitischen Maßnahmen.
Natur hat einen Eigenwert und kann daher nicht am Markt gehandelt werden.
Es braucht den Schutz von Natur, seien dies Naturreservate oder Maßnahmen
des Tierschutzes, die Tierleid verringern. Umwelt- und KlimaschützerInnen,
die einer radikalen sozialökologischen Transformation nahestehen, betonen die
Notwendigkeit anderer gesellschaftlicher Naturverhältnisse, um anders leben
und produzieren zu können. Dazu brauche es zweierlei: (1) Ordnungspolitische
Maßnahmen: Bauordnung und Flächenwidmung können beispielsweise nach-
haltige Wohnformen und Siedlungsstrukturen vorschreiben, das Verbot ge-
sundheitsschädlicher Pestizide erleichtert die Umstellung des Landwirtschafts-
systems hin zu biologischer Produktion, Verbote von Kohlekraftwerken er-
möglichen eine Verbesserung der Luftqualität und ein gesünderes Leben.
(2) Veränderte sozialökologische Infrastrukturen, das heißt nachhaltige, allen

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zugängliche soziale und materielle Infrastrukturen. Diese können dazu beitra-


gen, Routinen zu verändern und nachhaltig Bedürfnisse ressourcenschonender
zu befriedigen: zum Beispiel leistbares Wohnen, ein qualitativ hochwertiges
Wohnumfeld mit guten Naherholungsgebieten (wie Parks, öffentlichen Bäder,
Wanderwegen und Spielplätzen), Möglichkeiten der dezentralen Energiever-
sorgung, gute öffentliche Verkehrsmittel, sichere Infrastrukturen für das Rad-
fahren und ein funktionierendes Carsharing-Modell (vgl. Sozialökologische
Infrastrukturen). So könnten diese Maßnahmen unter anderem den Privatbesitz
eines PKWs in der Stadt überflüssig machen und den Zwang zur Flucht aus der
Stadt und zu Kurzurlauben verringern, indem das Lebensumfeld attraktiv wird.

Zukunftsfähige Wirtschaft

Die derzeitige Art zu wirtschaften und zu arbeiten hat in großen Teilen der
Welt beeindruckenden sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt gebracht und
gleichzeitig viele soziale und ökologische Probleme verursacht. Es braucht da-
her die Veränderung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, Institutionen und
wirtschaftspolitischer Instrumente sowie das Bewahren von erfolgreichen und
nachhaltigen Formen des Produzierens und Konsumierens. Doch was muss
bewahrt, was verändert werden? Das folgende Kapitel untersucht: (1) Strategien
zur Stabilisierung der Wirtschaft. Dazu zählt die nachhaltige Regulierung des
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Finanzsektors sowie Maßnahmen, die die Realwirtschaft stärken und Unter-
nehmen bei der Umsetzung zukunftsfähiger Geschäftsmodelle unterstützen.
(2) Verschiedene Vorschläge für einen New Deal für das 21. Jahrhundert, wel-
che ökonomische, ökologische und soziale Zielsetzungen in unterschiedlicher
Weise verbinden und verschiedenen Implementationsstrategien folgen.
(3) Degrowth als eine radikale Vision, die sich, im Gegensatz zu den Vorschlä-
gen eines New Deals, explizit von Wirtschaftswachstum verabschieden will.
(4) Soziale Innovationen, die darauf abzielen Veränderungen „von unten“ an-
zustoßen. (5) Systemische Innovationen, die Initiativen „von unten“ mit denen
„von oben“ verbinden um weitreichende Veränderungsprozesse zu befördern.

Stabilisierung der Wirtschaft

In Teil 2 Wirtschaftliche Ungleichgewichte und Wirtschaftskrisen haben wir mit


Hilfe der Saldenmechanik derzeitige wirtschaftliche Ungleichgewichte dargelegt
und gezeigt, dass der Überschuss eines Sektors mit dem Defizit eines anderen
Sektors einhergehen muss. Es gibt jedoch unterschiedliche theoretische Erklä-
rungen, in welche Richtung die Kausalität läuft: Verschuldet sich der Staat, weil

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Private (Haushalte und Unternehmen) sparen oder sparen Private, weil sich der
Staat verschuldet? Wessen Investitionen werden dabei verdrängt? Je nachdem,
wie diese Frage beantwortet wird, ergeben sich unterschiedliche wirtschaftspo-
litische Empfehlungen.
Marktliberale begründen bei dieser Frage ihre Sichtweise mit neoklassischen
Argumenten: Wenn der Staat sich verschuldet, gehen rational agierende private
AkteurInnen davon aus, dass sie deshalb in der Zukunft höhere Steuern zahlen
müssen. Deshalb sparen sie tendentiell vorausschauend. Erhöhen sie trotzdem
ihre Nachfrage, dann erhöht dies auch die Importe, was zu Leistungsbilanzdefi-
ziten führt. Weil das Haushaltsdefizit (1) zum Sparen und zu Investitionszu-
rückhaltung von privaten Akteuren und/oder (2) steigenden Leistungsbilanz-
defiziten führt, muss es beschränkt werden. Es braucht genau die Austeritäts-
politik, wie sie in den letzten Jahren durchgesetzt wurde. Die entstehenden
sozialen Kosten sind unvermeidbar, denn ohne Haushaltsdisziplin heute wären
die sozialen Kosten für die Sanierung öffentlicher Haushalte in der Zukunft
deutlicher höher.
Aus keynesianischer Perspektive ist es umgekehrt: der Staat verschuldet
sich, weil Private sparen, was darin begründet sein kann, dass sie eine Rezession
befürchten und bezüglich zukünftiger Entwicklungen verunsichert sind. Pessi-
mismus ist oft das Resultat einer verbreiteten, sich verstärkenden Stimmung
(Herdentrieb), die zu sinkender Nachfrage und in der Folge zu sinkenden
Staatseinnahmen führt. Das kann zu einem gefährlichen Teufelskreis bis hin zu
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einer Wirtschaftskrise führen. Um dies zu verhindern und die Gesamtwirt-
schaft zu stabilisieren, hat der Staat zwei Alternativen: (1) Er kann antizyklisch
agieren, seine Ausgaben aufrechterhalten und ein Haushaltsdefizit akzeptieren.
Er investiert, während Private sparen und versucht durch Staatsverschuldung
eine tiefe Rezession zu verhindern. (2) Er kann prozyklisch agieren und seine
Ausgaben ebenso wie der private Sektor kürzen. Damit verhindert er vorerst
eine Staatsverschuldung. Jedoch kommt es möglicherweise zu einer Abwärts-
spirale, die dann die Staatsverschuldung durch sinkende Steuereinnahmen
erhöht. Der Keynesianismus plädiert deshalb für Variante (1).
In der keynesianischen Analyse sind national unterschiedliche Entwicklun-
gen der Lohnstückkosten eine weitere Ursache von Leistungsbilanzdefiziten. Sie
wirken innerhalb eines gemeinsamen Währungsraums besonders destabilisie-
rend. Hat ein Land besonders niedrige Lohstückkosten, so stützt dies die eigene
Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Ländern. In letzteren sinken die Ex-
porte, die Beschäftigung und Steuereinnahmen im Inland gehen tendentiell
zurück. Wenn nun Private keine Kredite aufnehmen, um ihr Konsumniveau zu
stabilisieren, bleiben dem Staat wiederum Optionen (1) und (2). Der Staat hat
somit immer die Rolle, die Defizite bzw. Überschüsse anderer Sektoren aus-
zugleichen.

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Direkt nach der Finanzkrise 2008 intervenierte ein Großteil aller Staaten mit
beträchtlichen öffentlichen Ausgaben. Doch danach unterschieden sich die
wirtschaftspolitischen Reaktionen erheblich. Während die Länder Süd- und
Osteuropas zur Kürzung der Staatsausgaben angehalten wurden, setzte die USA
auf die Strategie, Staatsausgaben antizyklisch zu erhöhen. Die US-Regierung
sah eine erhöhte Staatsverschuldung als geringeres Übel im Vergleich zu einer
destruktiven Spirale aus sinkendem Konsum und zurückgehenden privaten
Investitionen. Auch die Strategien im Umgang mit Leistungsbilanzungleichge-
wichten unterschieden sich. Die Ungleichgewichte, welche in Teil 2 anhand von
Spanien und Deutschland dargestellt wurden, gibt es seit langem auch global.
Die USA weisen seit den 1980er Jahren, so wie Spanien bis vor wenigen Jahren,
hohe Leistungsbilanzdefizite auf. Die US-Defizite sind besonders hoch im Han-
del mit China und Deutschland. Um ihr Defizit zu senken, verteuert die US-
Regierung seit 2018 mittels Strafzöllen die Einfuhr diverser Waren, was zu Ge-
genmaßnahmen Chinas geführt hat: Zollerhöhungen auf importierte US-ame-
rikanische Waren und eine Abwertung des Yuan, der chinesischen Währung.
Außerhalb gemeinsamer Währungssysteme sind Währungsabwertungen kurz-
fristig wirksame Maßnahmen, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen
und Leistungsbilanzungleichgewichte auszugleichen: Sie verbilligen die eigenen
Exporte und verteuern die Importe. Die USA kritisieren diese vermeintlich
politische Steuerung des Wechselkurses durch China als Maßnahme eines
„Wirtschaftskrieges“.
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Als Folge dieser Handelskonflikte gehen die deutschen Exporte mittlerweile
tatsächlich zurück, und es droht in Deutschland 2019 eine Rezession. Um einen
Wirtschaftseinbruch zu vermeiden, forderten deshalb hochrangige Vertreter
der deutschen Industrie ein Ende der staatlichen Sparpolitik. Ansonsten drohe
ein Wirtschaftseinbruch und erhöhte Arbeitslosigkeit. Tatsächlich gibt es bei
sinkenden Leistungsbilanzüberschüssen nur die Möglichkeit, dass Haushalte
weniger sparen (sie sind aber in Deutschland traditionellerweise Sparer), Un-
ternehmen mehr investieren oder sich der Staat verschuldet. Die deutsche Poli-
tik kann an der Politik der vergangenen Jahre festhalten und weiter Staatsver-
schuldung um jeden Preis verringern. Aus keynesianischer Perspektive droht
dann eine Rezession, die sich verstärken kann. Oder die deutsche Politik ent-
scheidet sich, aufgefordert durch hochrangige InteressenvertreterInnen, für den
US-amerikanischen Weg der Konjunkturankurbelung und verabschiedet sich
von der Austeritätspolitik. Letzteres wäre überraschend, denn es war Deutsch-
land, das die Regeln der europäischen Wirtschaftspolitik wesentlich geprägt hat:
Seit der Einführung der EU-Konvergenzkriterien in den 1990er Jahren ist die
Reduktion der Staatsverschuldung neben Wachstum ein wirtschaftspolitisches
Oberziel der EU.
Aus keynesianischer Perspektive können Leistungsbilanzungleichgewichte
innerhalb der EU langfristig nur durch eine EU-weite gemeinsame und koordi-

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nierte Geld- und Fiskalpolitik rückgeführt bzw. vermieden werden. Mit einer/
einem EU-FinanzministerIn und einem Europäischen Währungsfonds würden
erste Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die EU-Staaten ihre Finanz- und
Außenwirtschaftspolitik besser koordinieren. Hilfreich wäre beispielsweise ein
gemeinsamer Fonds zur Finanzierung antizyklischer Staatsausgaben. Durch
produktivitätsorientierte Kollektivvertragsabschlüsse und EU-weite Mindest-
löhne könnten die Lohnstückkosten unter Berücksichtigung unterschiedlicher
nationaler Produktivitätsentwicklungen angeglichen und damit Leistungsbilanz-
ungleichgewichten entgegengewirkt werden. In Ländern mit vergleichsweise
niedrigen Reallohnsteigerungen würde diese Strategie darüber hinaus die Nach-
frage stimulieren. Sanktionen sollten aus keynesianischer Perspektive auch
hohe Leistungsbilanzüberschüsse treffen, nicht nur Leistungsbilanzdefizite.
Eine weitere keynesianische Strategie zur Reduktion der Leistungsbilanzun-
gleichgewichte wäre eine Erhöhung der niedrigen Einkommen in Ländern mit
stagnierenden Reallöhnen. In Deutschland hätten Reallohnsteigerungen die
nationale Kaufkraft erhöht und damit den Absatzmarkt auch für ausländische
Exporteure vergrößert. Dies hätte die Nachfrage nach Importen aus Süd- oder
Osteuropa erhöht, was diesen Ländern wiederum geholfen hätte, ihre Krise
besser zu bewältigen.
Die Finanzialisierung war ein wichtiger destabilisierender Faktor für die
Krise 2008. Trotzdem halten Marktliberale oftmals weiterhin an einer Wirt-
schaftspolitik der möglichst weitgehenden Liberalisierung des Wirtschaftsle-
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bens fest. Demnach gilt es, die derzeitige Wirtschaftsordnung noch weiter an
das Ideal einer umfassenden liberalen Markt- und Eigentumsordnung anzunä-
hern. Die negativen Effekte der Finanzialisierung sind Folge falscher staatlicher
Interventionen gewesen: dies gilt insbesondere für die Rettung insolventer Ban-
ken durch den Staat sowie die zu lockere Geldpolitik. Demnach geht es weiter-
hin darum, die aktuelle angebotsorientierte Wirtschaftspolitik fortzusetzten
und weiter zu verbessern. Politisch motivierte Fehlallokation von Ressourcen
(z. B. durch einen Kündigungsschutz, der „teurere“, zumeist ältere Beschäftigte
schützt und die Anstellung qualifizierter junger Beschäftigter erschwert) muss
vermieden werden, um eine effizientere Wirtschaftsstruktur zu schaffen. Ober-
ziel ist die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Im Detail bedeutet dies (1) eine
unternehmensfreundliche Wirtschaftsordnung, die private Investitionen för-
dert und im Standortwettbewerb attraktive Bedingungen für transnationale
Unternehmen und Investoren schafft. Notwendig ist allgemein eine geringere
Steuerlast, insbesondere für Unternehmen und bei Investitionen. (2) Die
Schaffung neuer Arbeitsplätze durch Deregulierung des Arbeitsmarkts sowie
die Förderung der Selbständigkeit, insbesondere durch Änderungen der Ge-
werbeordnung. (3) Eine strenge Haushaltsdisziplin der öffentlichen Hand
durch Ausgabenkürzungen, Entbürokratisierung der Verwaltung und gegebe-
nenfalls eine Erhöhung indirekter Steuern (Verbrauchssteuern). (4) Eine Pensi-

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onsreform, oftmals in Form einer Erhöhung des Pensionsantrittsalters und die


Einführung von kapitalmarktbasierter Altersvorsorge oder von Privatisierun-
gen. (5) Erneute Lockerungen der Finanzmarktregulierung, um den verbilligten
Zugang zu Kapital zu erleichtern.
Die Leitbilder des Wohlfahrtskapitalismus und der sozialökologischen
Transformation sehen Wirtschaften hingegen als Mittel zum Zweck, um die
Lebensgrundlagen zu organisieren. Von zentraler Bedeutung ist, dass die Fi-
nanzwirtschaft wieder ihre Aufgabe wahrnimmt, die Realwirtschaft zu unter-
stützen. Das finanzwirtschaftliche Kerngeschäft ist, Kredite an Unternehmen zu
vergeben, die dieses Geld für Investitionen in Maschinen, Wissen und Waren-
produktion einsetzen. Genau dieser Aufgabe soll die Finanzwirtschaft wieder
stärker nachkommen, denn nur so könne die Realwirtschaft ihre Aufgabe er-
füllen, Güter und Dienstleistungen bereitzustellen. Es gibt zahlreiche Vor-
schläge, die Instabilitäten auf den Finanzmärkten zu reduzieren: (1) Höhere
Eigenkapitalquoten der Banken können diese krisensicherer machen, da höhere
Sicherheiten das Risiko von Kurseinbrüchen oder Zahlungsausfällen teilweise
kompensieren. (2) Eine Trennung von Geschäftsbanken, welche sich um die
Zusammenführung von SparerInnen und KreditnehmerInnen kümmern, und
Investmentbanken, welche risikoreichere Investments zur Erwirtschaftung
hoher Renditen betreiben. Dies schützt die Einlagen der SparerInnen und redu-
ziert den Einfluss riskanter Geschäftsmodelle einzelner Investmentbanken.
(3) Kapitalverkehrsmanagement kann die Krisenanfälligkeit globaler Finanz-
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märkte reduzieren. Kapitalverkehrskontrollen dienen dem Schutz vor kurzfris-
tigen Währungsspekulationen, was mittlerweile auch vom Internationalen
Währungsfonds unter bestimmten Bedingungen als sinnvoll akzeptiert wird. In
den 1930er Jahren sah Keynes dies als Schritt hin zu einer eigenständigen na-
tionalen Wirtschaftspolitik. Heute ist China die größte Volkswirtschaft, die
weiterhin Kapitalverkehrskontrollen einsetzt und von internationalen Kapital-
bewegungen ein stückweit unabhängig ist. (4) Eine Finanztransaktionssteuer,
die den Handel von Aktien, Anleihen und Derivaten besteuert. Schon bei einem
geringen Steuersatz von 0,01 oder 0,1 Prozent werden Anreize geschaffen, die
Zahl der Transaktionen zu reduzieren und damit den Handel zu verlangsamen.
Trotz deklarierten politischen Willens konnte sich selbst eine Teilgruppe der
Euroländer, zu der auch Deutschland und Österreich gehörten, bislang nicht
auf die Einführung dieser Steuer einigen.

Ein New Deal für das 21. Jahrhundert

Im Gefolge der Wirtschaftskrise 2008 reißen die Bemühungen nicht ab, einen
New Deal für das 21. Jahrhundert vorzuschlagen. Diese Vorschläge für einen
großen neuen Gesellschaftsvertrag schließen an die Reform des liberalen Kapi-

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talismus an, die US-Präsident Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren ein-
leitete. Kern des New Deals war eine strenge Regulierung der Finanzmärkte,
eine wachstums- und beschäftigungsfördernde Wirtschaftspolitik sowie ein
nationales System sozialer Absicherung. Auf Basis dieser historisch erfolgrei-
chen Erfahrung wurden in den letzten Jahren unterschiedliche Variationen
eines neuen New Deals vorgeschlagen: (1) Im Rahmen der UN-Institutionen
erarbeitete zuerst das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) einen
Global Green New Deal und danach die Konferenz der Vereinten Nationen für
Handel und Entwicklung (UNCTAD) einen Global New Deal. (2) Es folgte ein
ambitionierter Green New Deal für die USA und (3) ein europäischer Green
Deal.

(1) UNEP propagierte direkt nach Ausbruch der Finanzkrise einen Global
Green New Deal, der dem Leitbild der pragmatischen sozialökologischen Trans-
formation folgt. Ziel war, die Wirtschaft zu beleben und gleichzeitig ökologi-
sche Herausforderungen zu meistern. Die Finanz- und Klimakrise sollte durch
eine Stärkung einer Grünen Ökonomie gelöst werden. Grünes Wachstum sollte
die Wirtschaft beleben und gleichzeitig umweltpolitische Zielsetzungen verfol-
gen. Verteilungskonflikte wurden bei diesem Vorschlag kaum behandelt.
Der Global New Deal, den UNCTAD in ihrem Handels- und Entwicklungs-
bericht 2017 vorschlägt, will die Möglichkeit eigenständiger Entwicklungswege
erhöhen. Länder sollen in der Lage sein, eigene Wirtschaftsstrategien zu verfol-
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gen. Konkret schlägt die UNCTAD unter anderem vor: die Förderung öffentli-
cher Investitionen, Mindestlöhne, ein globales Finanzregister gegen Steuerbe-
trug, erhöhte Mittel für Entwicklungszusammenarbeit sowie ein Überdenken
der Handels- und Investitionsabkommen. Nachträgliche Sozialtransfers, ergän-
zende Einkommensunterstützungssysteme und progressive Steuermaßnahmen
sollen potentiellen Verteilungskonflikten entgegenwirken. In diesem Sinne
stellt er mögliche Verteilungskonflikte, die der UNEP-Vorschlag nicht berück-
sichtigte, ins Zentrum. Seine wohlfahrtsstaatliche Ausrichtung vernachlässigt
jedoch ökologische Zielsetzungen. Der Global New Deal stellt dezidiert einen
internationalen Ansatz dar. Während nationale und regionale Ebenen in der
Regel die wichtigsten Orte für transformative Entwicklungsstrategien sind, er-
fordern die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts eine länderübergreifende
politische Koordinierung. Nur so kann sichergestellt werden, dass nationaler
und regionaler Standortwettbewerb, der zumeist in einer Abwärtsspirale von
Sozial- und Umweltstandards mündet, vermieden werden. Eine Beschränkung
des unbegrenzten Kapitalverkehrs ist eine Grundvoraussetzung, um Regierun-
gen genügend Raum zu bieten, ihre Politik an die örtlichen Bedingungen und
Fähigkeiten anzupassen und Einkommen für nachhaltige öffentliche Investi-
tionen zu generieren.

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(2) Aktuell wird in den USA ein Vorschlag für einen Green New Deal disku-
tiert, der aus der Demokratischen Partei kommt und dem Leitbild einer prag-
matischen sozialökologischen Transformation folgt. Dieser New Deal soll
gleichzeitig nachhaltig und gerecht sein, Dekarbonisierung ermöglichen und
Ungleichheiten reduzieren. Märkte und neue Technologien alleine seien nicht
in der Lage, eine gerechte sozialökologische Transformation zu befördern. Mit
sozialpolitischen Maßnahmen wie dem Ausbau sozialer Sicherungssysteme
(z. B. leistbares Wohnen, Sozial- und Krankenversicherungen, Arbeitnehmer-
schutz-, Alterssicherungs- und Gesundheitssysteme), aber auch dem Recht auf
einen Arbeitsplatz („job guarentee“)‚ für jene ArbeiterInnen aus ehemals fossi-
len Energiebranchen sollen Zukunftsängste gerade bei jenen reduziert werden,
die in den vergangenen Jahrzehnten am wachsenden Wohlstand nicht teilhaben
konnten und von den notwendigen Veränderungen oftmals überproportional
betroffen sind. Ein offener und fairer Zugang zu Bildung soll helfen, die Ein-
kommen der ärmeren Hälfte der Bevölkerung zu erhöhen. Damit rückt er
potentielle Verteilungskonflikte ins Zentrum. Der Green New Deal setzt erste
konkrete Schritte für eine sozialökologische Transformation wie intelligente
Stromnetze, thermische Sanierung des Gebäudebestands, technisch einfache
Lösungen, die die Kohlenstoffspeicherung im Boden erhöhen und eine aktive
sozialökologische Industriepolitik. Diese Maßnahmen sollen die heimische
Wirtschaft stärken und regionale Hochlohnjobs – „grüne Jobs“ für „gutes Geld“
– schaffen.
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Dieser derzeit in den USA propagierte Green New Deal stellt sich dezidiert
dagegen, Veränderung „von oben“ zu verordnen. Regionale und lokale Kon-
texte sind verschieden, klimatische Veränderungen betreffen Orte und soziale
Gruppen unterschiedlich (vgl. Teil 2 Planetarischen Grenzen) – dem muss bei
der Umsetzung des Green New Deals Rechnung getragen werden. Daher ist er
in vielen Aspekten kleinteilig und dezentral. Maßnahmen sollen lokal und
selbstbestimmt ausgestaltet werden, um sicherzustellen, dass unterschiedliche
Perspektiven in die Gestaltung von Transformationsprozessen miteinbezogen
werden. Zum Beispiel soll die Zusammenarbeit mit Landwirten und Viehzüch-
tern helfen, neue Landnutzungspraktiken zu erforschen und alte wiederzubele-
ben. Lokale Gemeinschaften sollen mit öffentlichen Förderungen für selbstde-
finierte Projekten und Strategien unterstützt werden.

(3) 2019 propagierte die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der


Leyen einen europäischen Green Deal mit dem Ziel, Europa zum ersten klima-
neutralen Kontinent zu machen. Der europäische Green Deal will die Dekarbo-
nisierung nutzen, um Europas Wirtschaft zu modernisieren und wettbewerbs-
fähiger zu machen. Europa könne so seine Vorbildfunktion stärken und auf
diese Weise seine globale Verantwortung wahrnehmen. Der Plan ist langfristig
angelegt und soll den Unternehmen Rechtssicherheit geben für ihren Umstieg

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hin zu einer dekarbonisierten Produktion. Dies inkludiert Kompensationen für


Wirtschaftszweige und Länder, die überdurchschnittlich betroffen wären – von
der Kohle- bis zur Automobilwirtschaft. Geht es nach dem Willen von der
Leyens soll die Europäische Investitionsbank, transformiert in eine „Klima-
bank“, in den kommenden Jahrzehnten Kredite in der Höhe von einer Billion
Euro gewähren. Eine CO2-Steuer auf Importe und ein wirksamer Emissions-
handel sind weitere Vorschläge. Doch finden sich in diesen Vorschlägen kaum
Überlegungen, die über die vorherrschenden marktliberalen Positionen hinaus-
gehen. Märkte werden einseitig als positiv gesehen, weder Wachstum noch
Kommodifizierung und zunehmende Ungleichheit werden als potentielle
Probleme für Europas Zukunftsfähigkeit wahrgenommen.

Degrowth

Während pragmatische VertreterInnen einer sozialökologischen Transforma-


tion insbesondere den Green New Deal begrüßen, gehen radikalen VertreterIn-
nen die meisten Forderungen für einen New Deal für das 21. Jahrhundert nicht
weit genug, da in vielen Vorschlägen Wirtschaftswachstum weiterhin eine
wichtige Rolle spielt. Die radikalen Ansätze haben tendenziell auch eine Skepsis
gegen Veränderungsansätze „von oben“, sei dies durch den Staat oder andere
Großorganisationen. Sie setzten auf politischen Widerstand durch soziale
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Bewegungen (z. B. gegen Kohlekraftwerke) sowie auf innovative Ansätze, die
„von unten“, aus der Zivilgesellschaft, kommen (vgl. Soziale Innovationen).
Nachhaltiges Degrowth („degrowth by design“) bedeutet weder allgemeines
noch unbegrenztes Schrumpfen der Wirtschaftsleistung. Das Schrumpfen im
Globalen Norden ist eine Verpflichtung der Klimagerechtigkeit, Verantwortung
gegenüber den Ökonomien des Globalen Südens. Doch ausgewählte Aktivitäten
wie erneuerbare Energien, der Bildungs- und Gesundheitssektor und be-
stimmte Weltregionen wie die sub-saharischen Länder können tendenziell wei-
terwachsen. Degrowth will die Abkehr vom Wirtschaftswachstum und der
imperialen Lebensweise (vgl. Teil 2 Der ökologische Fußabdruck) auf eine Weise
organisieren, die menschliches Wohlbefinden erhöht und Klimagerechtigkeit
fördert. Das kann durch individuellen Verzicht nicht erreicht werden, sondern
nur durch eine neue Produktionsweise und einer Wende hin zu einer solidari-
schen Lebensweise, die nicht auf Kosten anderer organisiert ist. Auch mit
einem bewussteren und verminderten Ressourcen- und Umweltverbrauch ist
ein zufriedenstellendes Leben möglich, zum Beispiel durch eine Kultur des
„Weniger“ und des „Weglassens“, was neue Freiräume eröffnet: Überstunden
„wegzulassen“ schafft Zeitwohlstand, Fernreisen „wegzulassen“ eröffnet die
Möglichkeit, Europa und die eigene Nachbarschaft besser kennenzulernen.

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Degrowth ist radikal, es packt die Probleme an der Wurzel. Daher ist
Degrowth modernisierungs- und kapitalismuskritisch. Es sucht nach alternati-
ven Wirtschaftsmodellen jenseits kapitalistischer Marktgesellschaften und ei-
nem Verständnis von Wohlbefinden jenseits westlicher Konsumgesellschaften.
Wirtschaftsentwicklung soll wieder vor allem auf die Produktion der Grundbe-
dürfnisse ausgerichtet werden: Kleinräumige Wirtschaftsstrukturen fördern
(„Small is beautiful“), Werbung verbieten, um Konsumismus zu bekämpfen,
die Eigenproduktion fördern, um Bedürfnisse vermehrt eigenverantwortlich zu
befriedigen. DIY-Initiativen („Do it yourself“), eine Reduktion des gesellschaft-
lichen Arbeitsvolumens und neue Formen der Arbeit, die der Erwerbsarbeit
ihren zentralen Stellenwert nehmen, gewinnen an Bedeutung. Degrowth ist
keine klar definierte Theorie oder Bewegung. Es gibt keinen vorgezeichneten
Weg. Vielmehr ist Degrowth eine Suchbewegung, die mit diversen sozialen
Innovationen experimentiert (vgl. Soziale Innovationen) und teilweise auch
staatlich-planerische Aspekte enthält (Arbeitsteilen, grüne Steuern und öffentli-
ches Geld). Sie hat Gemeinsamkeiten mit der Commons-Bewegung und der
Sharing Economy (vgl. Soziale Innovationen), der solidarischen Ökonomie
(eine Wirtschaftsform, bei welcher Geld als Bewertungs- und Zahlungsmittel
ganz oder teilweise durch andere Vereinbarungen ersetzt wird) und der Transi-
tion-Town-Bewegung (städtische Umwelt- und Nachhaltigkeitsinitiativen für
einen Übergang in eine postfossile, relokalisierte Wirtschaft).
Die Kritik an Degrowth richtet sich vor allem gegen das Wie der Verände-
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rungen. Marktliberale und VertreterInnen des Wohlfahrtskapitalismus kritisie-
ren, dass innerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung ein Schrumpfen der
Wirtschaftsleistung direkte Auswirkungen auf Einkommen und Sozialleistun-
gen hätte. Es könne zu Wirtschaftskrisen, Rezessionen oder sogar Depressionen
kommen. Während sich so Umweltindikatoren verbessern, wären die sozialen
Kosten eines Übergangs zu Degrowth vermutlich hoch. Szenarien, wie Wohl-
stand ohne Wachstum stabilisiert werden kann, konnten noch nicht erprobt
werden. Das aktuelle Niveau an Sozialleistungen sowie staatlicher Umvertei-
lung wäre vermutlich nur schwer aufrecht zu erhalten. So bleibt unklar, wie
Degrowth ohne hohe soziale Kosten und demokratischen Widerstand um-
gesetzt werden kann.

Soziale Innovationen

Soziale Innovationen werden „von unten“ durch Eigeninitiative angestoßen


und sind lokal verankert. Sie suchen praktische Antworten auf gesellschaftliche
Herausforderungen, oftmals zusammengefasst in einer allgemeinen Definition,
mit „sozialen Mitteln soziale Zwecke“ erreichen zu wollen. Innerhalb dieses
sehr breiten Rahmens reichen Definitionen von einer marktliberalen Sichtweise

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(„für weniger (Geld) mehr zu bekommen“) bis zu radikalen Formen von sozia-
ler Innovation, die eine sozialökologische Transformation anstreben. Im Fol-
genden werden vier Felder sozialer Innovationen vorgestellt, in denen dieses
Spannungsverhältnis deutlich wird: (1) Commons (2) die Ökonomie des Tei-
lens, (3) die Kreislaufwirtschaft und (4) ein neues Arbeitsverständnis.

(1) 2009 erhielt Elenor Ostrom den Nobelpreis für ihre Arbeiten zu Commons
(Gemeingüter). Commons sind Ressourcen wie Nahrung, Energiequellen, Was-
ser, Land und Wissen. Es gibt viele historische Beispiele, wie Gemeingüter ge-
meinschaftlich genutzt werden können, ohne dass knappe Ressourcen geplün-
dert werden. Es braucht jedoch klare Regeln, die Kooperation fördern und
Fehlverhalten bestrafen. Gibt es diese, dann können Ökosysteme jahrhunder-
telang gemeinschaftlich bewirtschaftet werden. Erfolgreiche Beispiele sind die
alpine Almwirtschaft und der Umgang mit Fischgründen. Wer darf wann mit
wie vielen Kühen in die Berge? Wer darf wann wie viele Fische fangen? Com-
mons brauchen keine perfekten Menschen. Basierend auf Regeln, die auch
festlegen, wer von der Nutzung ausgeschlossen ist, und Sanktionen für Fehlver-
halten entstehen Routinen des Wirtschaftens, in denen Zusammenarbeit im
Vordergrund steht. Commons beschreiben Wirtschaften „jenseits von Markt
und Staat“. Ostrom zeigt anhand detaillierter Fallstudien, dass sich diese histo-
rische Organisationsform nicht nur gegenüber der Bereitstellung durch Private,
sondern auch durch den Staat unter Umständen als überlegen erweist. Dass
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dies auch heute funktioniert, zeigt die Creative-Commons-Plattform, welche
kostenlose Copyright-Lizenzen anbietet, mit denen Inhalte und kreative Arbei-
ten auf einfache und standardisierte Weise geteilt und genutzt werden können.
Ostrom leistete damit einen wichtigen Beitrag zu einem sozioökonomischen
Verständnis von Wirtschaft, in dem Institutionen entscheidend sind, um Rah-
menbedingungen des Wirtschaftens festzulegen.
Die Theorie der Commons hat zu einer Commons-Bewegung geführt, de-
ren VertreterInnen oft mit der Degrowth-Bewegung sympathisieren. Laut Silke
Helfrich und David Bollier geht es darum, dass alle Mitglieder einer Gesell-
schaft Gemeingüter nutzen können und diese für zukünftige Generationen
erhalten bleiben. In dieser Version stehen weniger die Regeln, die Nutzung und
Ausschluss klären, sondern Nachhaltigkeit und die Mitverantwortung für ge-
meinsame Ressourcen im Zentrum. Der eigene Lebensraum wird gemeinsam
gestaltet und vertrauensvolle soziale Beziehungen gestärkt. So werden bei Ur-
ban Gardening auf kleinen städtischen Flächen Gärten angelegt, die gemeinsam
und eigenverantwortlich betreut werden. Dabei geht es um Praktisches wie
einen Platz im Grünen und gesundes Essen, sowie um eine neue Beziehung von
Natur und Stadt, Agri-Kultur. Im Kleinen experimentieren die Initiativen in
Nachbarschafts- und Gemeinschaftsgärten, in intergenerationalen und inter-
kulturellen Gärten mit einem Gegenentwurf zur Vereinsamung und Vereinze-

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lung im städtischen Raum. Andere Beispiele von Selbstorganisation sind Open-


Source Saatgut oder die Solidarische Landwirtschaft, bei der VerbraucherInnen
direkt mit LandwirtInnen kooperieren. Auch Open-Source Software, freie In-
halte und freies Radio können gemeinsam geschaffen und frei genutzt werden.
Die Kritik an der Commons-Bewegung richtet sich darauf, dass sie oftmals
in Nischen verharrt. Dies erschwert es, neue Vorstellungen der Bedürfnisbe-
friedigung politisch und gesellschaftlich zu verankern und systemische Innova-
tionen umzusetzen. Dazu bräuchte es mächtige BündnispartnerInnen, die die
Rahmenbedingungen für Commons festlegen.

(2) Die Ökonomie des Teilens – die Sharing Economy – basiert auf der Idee
von „Teilen statt Besitzen“, die Grundlage einer neuen kooperativen und res-
sourcenschonenden Wirtschaftsweise sein kann. Als radikale Idee orientierte
sie sich ursprünglich am Teilen und „Genug Haben“ (Suffizienz). In Vorzeige-
modellen wurde ausprobiert, wie ein „gutes Leben“ mit weniger Konsum mög-
lich wird. Es zeigte sich, dass es viele Möglichkeiten des Teilens und der gegen-
seitigen Hilfe gibt, die im Freundeskreis schon lange üblich sind. Nachbar-
schaftshilfe aller Art, Babysitten, Auto-Teilen (Carsharing), das Verleihen der
Wohnung an Bekannte, das Austauschen von Werkzeugen, etc. Innovativ ist
die Idee von Zeitbanken, in denen Zeit, nicht Geld getauscht wird: zum Beispiel
Nachhilfe geben gegen Haare schneiden, Buchhaltung machen gegen Babysit-
ting.
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Die Sharing Economy ist eine soziale Innovation, die mit einer technologi-
schen Innovation eng verbunden ist: Digitale Plattformen vernetzen Teilneh-
mende untereinander und nutzen und verarbeiten dabei ihre Daten. Sie sind
damit effiziente Informationsverarbeitungsmaschinen, deren Wert von der
Anzahl der Teilnehmenden abhängt. Digitale Plattformen organisieren Teilen
als Markt und reduzieren die Transaktionskosten. Gibt es zentrale Anbieter,
wird es leichter, jemanden zu finden, der tauschen will: Ebay und Willhaben
sind Tauschplattformen, auf denen Güter günstig erstanden werden können.
Diese Plattformen digitalisieren Second-Hand-Läden. Produkte werden nicht
weggeworfen, sondern auf einfache Weise weitergenutzt. Damit verliert zwar
Besitzen und Eigentum an Bedeutung, nicht unbedingt aber der Konsum.
Wenn man sein Geld nicht im Besitz bindet, dann kann sogar mehr konsumiert
werden.
Digitale Plattformen entstanden als soziale Innovationen „von unten“, aus
der Zivilgesellschaft oder von innovativen UnternehmerInnen. Heute sind sie
zumeist „winner-takes-all“ Märkte, in denen erfolgreiche Unternehmen einen
großen Teil der Renten und Extra-Gewinne erzielen und MitbewerberInnen
aus dem Markt drängen. Das Geschäftsmodell von Marktführern ist die Schaf-
fung von Oligopolen (wenige Anbieter) und Monopolen (nur ein Anbieter):
Google dominiert die Internetsuche (90% der Suchanfragen weltweit), Amazon

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wickelt fast die Hälfte des Online-Handels in Österreich und Deutschland ab.
In bestimmten Bereichen hat sich eine radikal transformatorische Idee – Teilen
statt Besitzen – in ein marktliberales Modell verwandelt. Die Beliebtheit der
Plattformen beruht darauf, mit niedrigeren Kosten und auf bequeme Weise
Zugang zu Gütern zu bekommen. Der betriebswirtschaftliche Erfolg der Platt-
formen beruht wesentlich darauf, dass ein besonders kostbares Gut – die erhal-
tenen NutzerInnendaten – nicht geteilt werden, sondern Privatbesitz der Platt-
formbetreiberInnen werden.
Es gibt daher Kritik an digitalen Plattformen wie ihre Tendenz zur Konzent-
ration, Datenmissbrauch oder schlechte Arbeitsbedingungen. Es entstanden
Gegenbewegungen, die versuchen digitale Märkte zu regulieren. Zum Beispiel
versuchen Städte, Mengenbeschränkungen festzulegen, weil bestimmte Stadt-
teile massiv unter Airbnb-Vermietung und Massentourismus leiden. Airbnb
argumentiert, dies verletze den Binnenmarkt, die Stadtverwaltungen betonen
die sozialen Kosten dieses Geschäftsmodells. Gleichzeitig gibt es Versuche,
gemeinwohlorientierte Alternativen aufzubauen. Amsterdam, Venedig, Bo-
logna, Valencia und Barcelona haben ein Pilotprojekt gestartet, fairbnb.coop.
Lokale Plattform-Genossenschaften sind Alternativen zu Airbnb, Uber,
Helpling und Co. Sie schaffen lokale statt globaler Wertschöpfung, binden Sta-
keholder ein und eignen sich private Daten nicht an. Ob dieses Geschäftsmodell
betriebswirtschaftlich bestehen kann, wird sich zeigen.
Ein zweites Beispiel der Sharing Economy ist Carsharing, das die Idee, zu
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teilen statt zu besitzen, auf die Autonutzung anwendet. Die Attraktivität für
eine sozialökologische Transformation besteht darin, dass der Privatbesitz eines
PKWs hohe ökologische und ökonomische Kosten verursacht. Geteilte Nut-
zungen von Verkehrsmitteln können Geld und Ressourcen schonen. Es ist
erneut eine radikale Idee, die die Abkehr vom fossilen Mobilitätssystem unter-
stützt. Daher wird Carsharing als Beitrag zu einer sozialökologischen Trans-
formation unterstützt. Gleichzeitig sind auch große Autofirmen wie BMW und
Mercedes in den Markt eingestiegen. Eine Studie von ATKearney gibt Einbli-
cke, welche Effekte Carsharing tatsächlich hat. Zwar hat sich die Zahl der Nut-
zerInnen zwischen 2015 und 2018 weltweit von 7 auf 27 Millionen erhöht, doch
ist das Geschäftsmodell „Teilen statt Besitzen“ nur in dicht bevölkerten Stadt-
räumen lukrativ, nicht aber am Stadtrand und im ländlichen Raum. Weiters
geht das häufigere Nutzen von Carsharing auf Kosten des öffentlichen und
nicht des motorisierten Individualverkehrs. Nur fünf Prozent der deutschen
Bevölkerung sind UmsteigerInnen, die bei passenden Begleitmaßnahmen auf
ein eigenes Auto verzichten würden. Das ökologische Oberziel, den Autobesitz
einzuschränken, wird auf diese Weise nicht erreicht. Mit technischen Neuerun-
gen in innovativen Marktnischen alleine wird der Ressourcenverbrauch ver-
mutlich kaum verringert. Technische Innovationen entfalten sich konkret in-
nerhalb bestimmter Machtverhältnisse, Interessen und darauf basierenden

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Regulierungen – oder deren Abwesenheit. Ohne Rückbau der fossilen Infra-


struktur und bei Aufrechterhaltung von fossilen Subventionen führt Carsharing
zu einer Ausweitung des motorisierten Individualverkehrs.
Zusammenfassend zeigt sich, dass die ursprünglichen Zielsetzungen der
Sharing Economy für eine sozialökologische Transformation nur ansatzweise
erreicht werden. Es dominiert mittlerweile das marktliberale Modell, Plattfor-
men als Informationsverarbeitungsmaschinen zu nutzen und damit Märkte in
zuvor nicht-marktlich organisierten Lebensbereichen zu schaffen: Vom Auto-
teilen bis zur Nachbarschaftshilfe. Dies fördert Kommodifizierung.

(3) Mit der Entstehung der Umweltbewegung in den 1970er Jahren entstand
eine Kultur des Wiederverwertens innerhalb einer Gesellschaft, in der Weg-
werfen normal geworden war. Mit öffentlicher Unterstützung entstanden in
vielen europäischen Ländern soziale Unternehmen zur Reparatur und Wieder-
verwertung von Produkten wie Elektrogeräten und Möbeln. Diese verbinden
betriebswirtschaftliche mit gemeinnützigen Zielsetzungen wie der Reintegra-
tion von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt. Ein Beispiel ist RUSZ, ein
Reparaturzentrum in Wien, in dem Elektrogeräte günstig repariert werden und
damit Elektroschrott reduziert wird. In Belgien und England gibt es ähnliche
Initiativen, die in Netzwerken zusammenarbeiten. Alle diese Initiativen waren
in den 1980er und 1990er Jahren soziale Innovationen „von unten“, die ökolo-
gische mit sozialen Zielen verbanden.
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In den vergangenen Jahren wurde die Idee der Wiederverwertung auch auf
europäischer Ebene aufgegriffen. 2018 verabschiedete die EU ein Maßnahmen-
paket zur Förderung der Kreislaufwirtschaft. Diese versteht sich als ökologische
Form des Wirtschaftens, die sich vom herkömmlichen linearen Produktions-
prozess verabschiedet: Extraktion natürlicher Ressourcen –> Verarbeitung und
Produktion –> Konsum –> Abfall –> Entsorgung. Dieser Gegenentwurf zur
„Wegwerfgesellschaft“ basiert auf dem Prinzip der Wiederverwertung. Abfall
wird zum kostbaren Rohstoff. In einer Kreislaufwirtschaft können Ressourcen
entweder über einen technischen oder einen biologischen Kreislauf wiederge-
nutzt werden. Dies erfolgt durch Strategien der Wiederverwendung, Reparatur,
Wiederaufbereitung oder (in letzter Instanz) Recycling, das heißt der Um-
wandlung von Abfällen in neue Materialien und Objekte. Die EU-Strategie
fördert Ressourceneffizienz in nachhaltigen Produktionsketten, wobei Müll-
vermeidung und Wiederverwendung von Plastik prioritär sind. Aber auch das
Potential von Recycling ist begrenzt, da eine 100-prozentige Rückgewinnung
aller Materialien aus fertigen Produkten in den allermeisten Fällen technisch
nicht möglich ist. Auch in der Kreislaufwirtschaft sind in den letzten Jahren
vermehrt Großunternehmen aktiv, ökonomische Effizienz gewinnt an Bedeu-
tung, soziale Zielsetzungen treten in den Hintergrund.

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(4) Soziale Innovationen experimentieren auch mit neuen Arbeitsweisen, denn


nachhaltig zu wirtschaften ist ohne ein neues, breiteres Verständnis von Arbeit
nicht möglich. Das Konzept der Mischarbeit von Beate Littig und die Vier-in-
Einem-Perspektive von Frigga Haug zeigen, dass neben der Erwerbsarbeit auch
andere Arbeiten und Tätigkeiten zentral sind: Beispielsweise Hausarbeit, Pfle-
gearbeit, ehrenamtliche Arbeit, Engagement in der Nachbarschaft und der
Politik. Es gibt private Versorgungsarbeit (z. B. Sorge um Kinder und Kranke),
Gemeinschaftsarbeit (z. B. Mitarbeit im Sportverein oder der Feuerwehr) sowie
neue gemeinschaftliche Lebens- und Arbeitsprojekte (z. B. Baugruppen, dezen-
trale Pflegegemeinschaften und Intergenerationenwohnen). Sorgen für, Sorge
um und Vorsorge sind wichtige Grundlagen zukunftsfähigen Wirtschaftens,
verstanden als nachhaltige und gerechte Organisation der Lebensgrundlagen.
Das beinhaltet auch eine gerechte geschlechtliche Arbeitsteilung. Teilhabege-
rechtigkeit für beide Geschlechter ist nachhaltig leichter mit einer Verkürzung
der Erwerbsarbeitszeit für beide Elternteile umsetzbar.
Zeitpioniere als Öko-Entrepreneure sind Pioniere des Wandels, die ein ge-
nussvolleres Leben und sinnstiftende Tätigkeiten mit weniger Konsum und
weniger (Erwerbs-)Arbeit anstreben. Es geht nicht vorrangig um die Anhäu-
fung materieller Güter, sondern darum selbst zu entscheiden, wie man seine
Zeit verbringt. Das bedeutet nicht nur weniger Überstunden und kürzere Pen-
delwege zur Arbeit, sondern auch eine gut organisierte Freizeit, die nicht mit
Verpflichtungen verplant ist. Kommerziell erfolgreich ist die Slow-Food-Bewe-
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gung, die sich als Nische in der Gastronomie etablierte. Durch langsames und
genussvolles Essen stellt sie sich gegen den Trend der Beschleunigung, insbe-
sondere Fast Food.

Die vorgestellten sozialen Innovationen zeigen das bunte Bild an Alternativen


zur herkömmlichen Art des Wirtschaftens. Doch gibt es bei diesen Alternativen
eine Reihe von Problemen: sie bleiben zumeist klein und in Nischen, oder sie
werden oft von großen MarktteilnehmerInnen vereinnahmt. Die Idee sozialer
Innovation wurde insbesondere vom Leitbild der radikalen sozialökologischen
Transformation und dem marktliberalen Leitbild aufgegriffen. Bei allen ideo-
logischen Unterschieden eint sie der staatskritische Ansatz „von unten“. Ein
abschließendes Urteil über ihre Wirksamkeit steht aus. Bewertungen werden
von Fall zu Fall neu und vermutlich unterschiedlich vorgenommen werden
müssen. Im Folgenden wird deshalb das Potential systemischer Innovations-
ansätze untersucht, die auf andere Weise Antworten auf die Herausforderungen
einer sozialökologischen Transformation suchen.

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Systemische Innovationen

Das Potential sozialer Innovationen, systemische Veränderungen anzustoßen,


ist umstritten. Ein weiterer Innovationsansatz versucht, Veränderungen „von
unten“ mit denen „von oben“, insbesondere dem Staat und der Wissenschaft,
zu verbinden. So soll vermieden werden, dass Eigeninitiativen ein Nischenphä-
nomen bleiben. Systemische Innovationsansätze basieren auf dem Zusammen-
spiel mächtiger privater und öffentlicher Einrichtungen. Systemische Innova-
tionen, die oftmals durch den Staat angestoßen oder finanziert werden, sind im
derzeitigen Wirtschaftssystem der dominante Weg. Die Entstehung des Inter-
nets zeigt die Bedeutung öffentlicher Technologiepolitik. Aufbauend auf einem
Datennetzwerk öffentlicher Universitäten und der öffentlich geförderten Ent-
wicklung des HTML-Codes am Kernforschungszentrum CERN entstand das
Internet, das heute grundlegende Infrastruktur von Märkten und unternehme-
rischer Initiative ist. Dies ist kein Einzelfall, denn Grundlagenforschung, die
nicht direkt kommerziell nutzbar ist, wird weitgehend öffentlich finanziert. In
den USA wurden 2011 57 Prozent der nicht direkt kommerziell verwerteten
Grundlagenforschung öffentlich und nur 18 Prozent durch den privaten Sektor
finanziert. Auch von den dreizehn Bereichen technologischen Fortschritts, die
für die Entwicklung des iPhones unerlässlich waren, sind elf – einschließlich
Mikroprozessoren, GPS und Internet – wesentlich auf staatliche, zumeist mili-
tärische Innovationsförderung zurückzuführen. Staaten tragen mit Steuergel-
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dern den Großteil des Risikos, während private Unternehmen wie Google und
Apple den Löwenanteil der Gewinne erzielen.
Langfristige staatliche Innovationsinitiativen und -strategien sind bei syste-
mischen Innovationen von besonderer Bedeutung, da private Unternehmen
alleine aus verschiedenen Gründen oftmals davor zurückscheuen grundlegende
Veränderungen herbeizuführen. Beispielsweise sind (1) Neuerungen immer
teuer und mit Unsicherheit behaftet, weshalb bestehende Marktführer Verän-
derungen oft blockieren. Hingegen weisen erprobte Produktions- und Ver-
triebswege tendentiell stabile Gewinnerwartungen auf. Elektroautos gelten seit
Jahrzehnten als „die“ Zukunftstechnologie; „Energiesparen“ wird seit der Öl-
krise 1973 propagiert. Außerdem spiegeln (2) Marktpreise oft nicht die aktuelle
Knappheit wider, wie sich am europäischen Emissionshandelssystem zeigt,
dessen CO2-Preis trotz sich verschärfender Klimakrise nach 2010 bis vor kur-
zem sogar gefallen ist. Das fördert Zurückhaltung beim Umstieg auf nicht-fos-
sile Energieträger. Weiters erschwert (3) der sogenannte Lock-in-Effekt Inno-
vation. Unternehmen halten oft so lange wie möglich an alten Technologien
fest, da sie hohe Summen in diese investiert haben und mit deren Anwendung
vertraut sind. Je weiter man einen Weg geht, desto weniger möchte man wieder
umkehren. Verbrennungsmotoren sind als ausgereifte Technologie besonders
rentabel. Schließlich (4) wehren sich transnational agierende Unternehmen oft

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erfolgreich gegen alle Entscheidungen, die ihren Handlungsspielraum für


kurzfristige Gewinnmaximierung einschränken. Machtverhältnisse beeinflus-
sen, wie und in welcher Form sich Innovationen durchsetzen und entfalten.
Der Verkehrs- und der Energiesektor liefern hierfür Beispiele. In beiden gibt es
bis heute einen einflussreichen Machtkomplex, dem Öl- und Gasproduzenten,
Automobil- und Luftfahrtindustrie, energieintensive Industrien sowie ihnen
nahestehenden Politikern und Medien angehören. Empirische Forschung zur
Energiewende im Vereinigten Königreich zeigt die enge Verbindung von wirt-
schaftlicher, medialer und politischer Macht. Der „Drehtüreffekt“ (vgl. Teil 2
Finanzialisierung und Finanzkrisen) beeinflusst die Energiepolitik ebenso wie
CSR, Spenden, Werbung und der starke Einfluss von etablierten Unternehmen,
den „Platzhirschen am Markt“, auf kommerzielle Medien.
Auch in Deutschland und Österreich sind die Kräfteverhältnisse in Energie-
und Mobilitätsbereich unterschiedlich: Im Energiesektor gibt es eine starke
Umweltbewegung, die im Widerstand gegen Atomkraftwerke und heute auch
gegen den Kohleabbau an Einfluss gewonnen hat. In den letzten zwanzig Jahren
forderten sie durch Protest und Unternehmensgründungen die Marktmacht
der Marktführer heraus. Im Mobilitätsbereich gibt es jedoch wenig Verände-
rung. Die Automobilindustrie als deutsche Leitindustrie setzte bis vor kurzem
weiterhin auf den Verbrennungsmotor sowie teure Autos mit hohem Material-
verbrauch. Fortschritte bei der Einführung von E-Autos stagnierten in den
vergangenen 30 Jahren: Innovationspolitik ist auch Machtpolitik.
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Am Beispiel der deutschen Energiewende lässt sich zeigen, dass es Rahmen-
setzungen braucht, damit lokale Initiativen über den geschützten Raum der
Nische hinauskommen. Es gibt in Deutschland seit Jahrzehnten eine starke
Umweltbewegung, die in der kritischen Zivilgesellschaft und „vor Ort“ veran-
kert ist. Viele dieser Initiativen leisteten lange Zeit Widerstand gegen die gro-
ßen Energiekonzerne wie RWE und Vattenfall, die eng mit der Atomwirtschaft
kooperierten. Die Bundespolitik unterstützte diese Initiativen durch das im Jahr
2000 eingeführte Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), welches langfristige
Festpreise garantierte. Die so geschaffenen nachhaltigen Rahmenbedingungen
verringerten die Unsicherheit bei der Einführung neuer Technologien und
erhöhten die Planbarkeit. Dies führte zu einem Boom erneuerbarer Energieträ-
ger, allen voran Windenergie und Photovoltaikanlagen.
Zivilgesellschaftliche Kreativität muss also ergänzt werden durch nachhal-
tige und gerechte Rahmenbedingungen. Soziale Innovationen können leichter
wirksam werden, wenn sie „von unten vernetzt“ die Unterstützung durch de-
mokratische EntscheidungsträgerInnen, öffentliche Verwaltungen und aufge-
schlossene Unternehmen gewinnen.
Daniel Hausknost und Willi Haas entwickelten auf diesen Überlegungen
aufbauend eine Strategie für Umweltinnovationen. Durch politische Entschei-
dung müssen Optionen, die nicht nachhaltig und gerecht sind, eliminiert wer-

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den. Das Verbot von FCKW bekämpfte das Ozonloch, das Verbot von DDT
machte Lebensmittel gesünder. Für Klimapolitik, die mit Dekarbonisierung
ernst macht, hieße dies, Entscheidungen darüber zu treffen, welche Infrastruk-
turen weiterhin öffentlich finanziert werden: fossile Infrastrukturen wie den
Ausbau von Flughäfen oder nachhaltige Infrastrukturen wie den Ausbau des
öffentlichen Verkehrs.
Politische Entscheidungen hin zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise zu
treffen, ist aber überhaupt nur möglich, wenn politische Handlungsspielräume
vorhanden sind. Doch genau diese wurden in der neoliberalen Globalisierung
eingeengt. Im folgenden Kapitel werden Strategien untersucht, politische
Handlungsspielräume durch eine zukunftsfähige Weltordnung zurückzuge-
winnen.

Zukunftsfähige Weltordnung

In den letzten 200 Jahren haben die Wellen der Globalisierung Wirtschaften
und auch unser Alltagsleben durch Handel sowie Kommunikations- und
Transporttechnologien weltweit verbunden. Ökonomische Ungleichheiten
zwischen unterschiedlichen Nationen haben sich verringert und viele hunderte
Millionen Menschen konnten vor allem in Indien und China der schlimmsten
Armut entkommen. In vielen Weltregionen hat sich der Lebensstandard ver-
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bessert. Diese Erfolgsgeschichte kapitalistischer Marktwirtschaften hatte aller-
dings immer auch Schattenseiten. Imperialismus und Kolonialismus, der
Kampf um geopolitische Einflussnahme und Ressourcen sowie ökologische
Zerstörung waren stete Begleiter. Nach Jahrhunderten westlicher Vorherrschaft
beansprucht heute vor allem Asien erneut seinen legitimen Anteil am „Kuchen“
des globalen Reichtums, an Ressourcen und Marktanteilen. Die Verschiebung
weltweiter Raumhierarchien zulasten des Westens führt zu verstärkten politi-
schen Unsicherheiten.
Im Folgenden stellen wir (1) das Globalisierungstrilemma von Dani Rodrik
vor. Auf diesem aufbauend präsentieren wir drei politische Alternativen, wie
dieses aufgelöst werden kann: (2) den Neoliberalismus, (3) den Globalismus
und (4) die planetarische Ko-Existenz. Dabei loten wir aus, inwiefern die jewei-
ligen Strategien geeignet sind, die Weltordnung zukunftsfähig zu gestalten.

Das Globalisierungstrilemma

Globalisierung betrifft die ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und


ökologischen Lebensgrundlagen. Über deren Zusammenhänge entwickelte

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Dani Rodrik aus einer sozioökonomischen Perspektive sein Globalisierungstri-


lemma. Dieses sagt aus, dass (1) Hyperglobalisierung, (2) (liberale) Demokratie
und (3) nationale Selbstbestimmung nicht gleichzeitig erreicht werden können.
Zumindest eines der drei Ziele muss dem Trilemma gemäß in politischen Ent-
scheidungsprozessen geopfert werden. Betrachten wir zunächst die drei Seiten
des Trilemmas.

(1) Hyperglobalisierung (neoliberale Globalisierung) beschreibt eine Weltwirt-


schaft, in der Handel weitgehend ohne Transaktionskosten betrieben werden
kann. Es gibt keine marktbeschränkenden Grenzen, die Handel oder Investitio-
nen unterbinden. Hyperglobalisierung unterscheidet sich von Globalisierung
durch eine tiefe wirtschaftliche Integration, bei der es vor allem um die Aufhe-
bung von nicht-tarifären Handelshemmnissen geht. So werden neben Import-
quoten auch technische Normen, Präferenzen in der staatlichen Aufgabenver-
gabe und sogar Sozial- und Umweltstandards als potentiell handelshemmend
abgelehnt. Dies geht weit über den freien Handel mit Waren hinaus und legt die
Regeln auch für die nationale Wirtschaft fest. Die Hyperglobalisierung engt
damit nationale Entscheidungsfindung auf marktliberale Instrumente zur Un-
terstützung von Märkten und Eigentumsrechten ein. Sie befördert Finanziali-
sierung und Kommodifzierung und eröffnet transnationalen Unternehmen und
Investoren Möglichkeiten der Gewinnmaximierung zu Lasten nationaler und
demokratischer Entscheidungsspielräume.
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(2) Demokratie in ihrer liberalen Form ist ein historisch gesehen junges Phä-
nomen (vgl. Teil 2 Eine kurze Geschichte sozialen Fortschritts). Liberale Demo-
kratie gibt der Bevölkerung die Möglichkeit, sozial- und wirtschaftspolitische
Entscheidungen zu beeinflussen, Märkte zu regulieren und wirtschaftliche
Handlungsfreiheiten gegebenenfalls einzuschränken. Im Wohlfahrtskapitalis-
mus war die liberale Demokratie nationalstaatlich organisiert. In der neolibe-
ralen Globalisierung waren nationale Regierungen in ihrem Bestreben, die
nationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, transnational agierenden Investo-
ren oftmals stärker rechenschaftspflichtig als der eigenen Bevölkerung.

(3) Nationale Selbstbestimmung folgt der Idee, dass Nationen das Recht haben,
politische Entscheidungen zu treffen, in die sich andere Nationen oder trans-
nationale Akteure nicht einmischen. Kernbereiche nationaler Selbstbestim-
mung (Souveränität) betrafen im 19. Jahrhundert vor allem Fragen der Kultur,
der Sprache und der Regelung von Migration. Im Zuge der Demokratisierung
weitete sich dies auf Wirtschafts- und Sozialpolitik aus. Parlamentarische De-
mokratie, wie sie Hans Kelsen, Architekt der österreichischen Bundesverfas-
sung von 1920, definierte, ist eine Form liberaler Demokratie im nationalen
Territorium, in dem sich StaatsbürgerInnen als politische Subjekte konstituie-

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ren. Historisch gingen Parlamentarismus und Nationalstaat Hand in Hand.


Doch war die reale Souveränität der Nationalstaaten durch wirtschaftliche und
politische Verflechtungen immer eingeschränkt.

Die im Folgenden dargestellten Strategien lösen die Zielkonflikte des Globali-


sierungstrilemmas unterschiedlich: (1) der Neoliberalismus opfert die Demo-
kratie, (2) Globalismus den Nationalstaat und (3) die planetarische Ko-Existenz
die Hyperglobalisierung.

Neoliberalismus

Der Neoliberalismus verbindet Hyperglobalisierung mit einem starken Natio-


nalstaat. Er orientiert sich am marktliberalen Leitbild und beschränkt den Spiel-
raum demokratischer Regelsetzung. Erwünscht sind jene Regelwerke, die die
Markt- und Eigentumsordnung sichern. Da Märkte die bestmögliche Wirt-
schaftsordnung schaffen, sollten sie politischen Eingriffen weitgehend entzogen
werden. Dies gilt auch, ja insbesondere, dann, wenn diese demokratisch legiti-
miert sind. Demokratien würden totalitär, wenn sie sich mit Mehrheitsent-
scheidungen ins Alltagsleben des Menschen als Individuum einmischen. Hayek
und Kelsen waren Zeitgenossen und hatten heftige Auseinandersetzungen. Das
Hayek’sche Ideal einer marktgerechten Demokratie steht in offenem Wider-
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spruch zum offeneren, relativistischen Zugang Kelsens. Dessen Verständnis von
Demokratie beinhaltet ausdrücklich das Recht zur demokratischen Gestaltung
der Wirtschaftsordnung. Die Wirtschaftsverfassung einer Demokratie sei eine
gemischte Wirtschaftsordnung. Bei Hayek hingegen hat sich Wirtschaftspolitik
ausdrücklich darauf zu beschränken, die gegebene Marktordnung weiterzuent-
wickeln.
Die Idee der Volkssouveränität, wonach das Recht vom Volk ausgeht, wird
von Neoliberalen abgelehnt. Volkssouveränität leistet der Vorstellung Vor-
schub, einzelne ExpertInnen oder tagesaktuelle Mehrheiten verfügen über mehr
Wissen als die Informationsverarbeitungsmaschine Markt. Dies führt rasch
dazu, dass auf demokratischem Weg eine falsche Wirtschaftspolitik gemacht
wird, die Märkte beschränkt. Deshalb sollen Eigentumsrechte und Vertrags-
freiheit völkerrechtlich verbindlich festgelegt und durch internationale, euro-
päische und supranationale Gerichte auch gegen nationale Rechtsordnungen
durchgesetzt werden. Diese Form der tiefen Wirtschaftsintegration findet ihren
Ausdruck in Handels- und Investitionsabkommen wie TTIP und CETA, in
denen Handel und Investitionsschutz detailliert geregelt werden.
Der Neoliberalismus höhlt zwar demokratische Verfahren aus, nicht aber
zwangsläufig politische Handlungsspielräume, um bestmögliche Rahmenbe-
dingungen für Märkte und Konkurrenz zu schaffen. Der Nationalstaat wird zu

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einem nationalen Wettbewerbsstaat ausgebaut, um im internationalen Wettbe-


werb möglichst attraktive Bedingungen für Investoren zu schaffen. Privatisie-
rungen und Liberalisierungen sollen die nationale Wettbewerbsfähigkeit stär-
ken. So könnten Steuern, Sozialleistungen und öffentliche Investitionen niedrig
gehalten, und privater Konsum und Investitionen erhöht werden.
Diese Strategie verstärkt Finanzialisierung, außenwirtschaftliche Ungleich-
gewichte und Ungleichheit. So kritisiert heute selbst der Internationale Wäh-
rungsfonds bestimmte Aspekte der neoliberalen Agenda. In Südeuropa haben
die Maßnahmen der Troika, die prozyklisch auf eine weitere Senkung der öf-
fentlichen Ausgaben insistierten, die Wirtschaftskrise unnötig verlängert, was
zu hohen sozialen Kosten führte. Das Versprechen des sogenannten Trickle-
Down-Effekts – also die Vorstellung, dass Einkommenszuwächse der Vermö-
gensbesitzenden (z. B. transnational agierender Investoren und Unternehmen)
letztendlich auf andere Gesellschaftsschichten (z. B. Mittelschicht und Arbeiter-
schaft) durchsickern – hat sich zumeist als Trugschluss erwiesen.
Neoliberale betonen immer auch das Recht auf Selbstbestimmung in nicht-
ökonomischen Politikfeldern, insbesondere in der Kultur- und Migrationspoli-
tik. Somit wird gerade der wichtigste Markt – der Arbeitsmarkt – von ihrer
globalen Marktordnung ausgenommen. Ihre Einschätzung internationaler und
supranationaler Institutionen ist jedoch differenziert. Jene Institutionen, die
eine Rechtsordnung zum Schutz von Eigentum und Marktzugang schaffen,
werden begrüßt: Zum Beispiel die Welthandelsorganisation (WTO) und
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Schiedsgerichte (ISDS – Investor-state dispute settlement, ein Streitbeilegungs-
verfahren zwischen Firmen und Staatenn). Diejenigen Institutionen, die demo-
kratische Handlungsmöglichkeiten erweitern und Vereinbarungen zu Men-
schenrechten sowie Umwelt- und Sozialstandards beinhalten, werden abgelehnt
und offen bekämpft. Dies gilt insbesondere für die UNO, wo durch die Regel
„ein Land, eine Stimme“ der Globale Süden potentiell über großen Einfluss
verfügt. Und heute beäugen Neoliberale auch die WTO vermehrt skeptisch,
eine Institution, in der ebenfalls das Prinzip, „ein Land, eine Stimme“ gilt.
Aktuell transformieren sich Teile der Neoliberalen. Nationalistische, reakti-
onäre und autoritäre Aspekte des Neoliberalismus gewinnen an Bedeutung.
Eine nationalistische Variante grenzt sich von den kulturellen Aspekten der
gegenwärtigen Globalisierung ab, allen voran von Migration und damit auch
von globalen Arbeitsmärkten. So boykottierten die USA unter Donald Trump
nicht nur globale Regelsetzungen zu Migration, sondern auch zu Klimaschutz
und friedlichen Konfliktlösungen. Ähnliche Politikmuster finden sich bei Pre-
mierminister Boris Johnson im Vereinigten Königreich und bei Premierminis-
ter Shinzō Abe in Japan. Besonders reaktionär ist der Neoliberalismus unter
Präsident Jair Bolsonaro in Brasilien, wo eine radikal marktliberale Agenda von
Privatisierung und Liberalisierung einhergeht mit einem reaktionären Abbau
von Menschenrechten und einem Raubbau an der Natur, der vor kurzem noch

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für unmöglich gehalten wurde. Die Abholzung des brasilianischen Regenwal-


des, auch als „Lunge des Planeten“ bezeichnet, schreitet rasant voran, weil die
Großlandwirtschaft neue Anbauflächen und Minenunternehmen Zugriff zu
kostbaren Mineralien wollen.
Damit einhergehend ist weltweit eine neue Form autoritären Regierens am
Vormarsch. In einem schleichenden Prozess werden Zivilgesellschaft, Opposi-
tion und kritische Medien zuerst denunziert und dann entmachtet. Zumeist
werden weiterhin Wahlen durchgeführt. Die Regime orientieren sich vermeint-
lich am Prinzip von Mehrheitsentscheidungen, de facto werden andere Mei-
nungen und Interessen systematisch marginalisiert, der Handlungsspielraum
von Zivilgesellschaft und Opposition eingeschränkt.
Der nationale Neoliberalismus ist aktuell vielleicht die größte Bedrohung
für eine wirksame Umweltpolitik. Er zerstört nicht Demokratie an sich, wohl
aber die auf Kompromisse ausgerichtete Form liberaler Demokratie, wie sie von
Kelsen vertreten wird. Das vermeintlich irrationale Verhalten des demokratisch
gewählten brasilianischen Präsidenten Bolsonaro, angesichts des brennenden
Regenwalds im August 2019, ist nur zu verstehen, wenn man das Bündnis aus
Marktliberalen und Klimawandelskeptikern kennt. Dieses wird von mächtigen
Interessen des fossilen Machtkomplexes finanziell und medial unterstützt. In
den USA sind die bekanntesten Financiers von Studien, die den menschenge-
machten Klimawandel banalisieren oder leugnen, die Brüder Koch, zwei US-
amerikanische Milliardäre. Im Kern geht es ihnen aber um etwas anderes:
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Staatliche Eingriffe jeder Art und vor allem öffentliche Investitionsprogramme
sollen verhindert werden. So gibt es mittlerweile zahlreiche neoliberale Think-
tanks, die ebenso intensiv für Marktfreiheiten lobbyieren wie gegen strengere
Umweltgesetze. Beispiele sind in den USA das Cato Institute und in Österreich
das Hayek Institut.

Globalismus

Der Globalismus verbindet Hyperglobalisierung mit dem Ausbau einer global


organisierten Demokratie. Die sich daraus ergebende Schwächung des Natio-
nalen wird auf zweierlei Art begründet: (1) Die Wirksamkeit nationaler Politik
ist in Zeiten zunehmender globaler Vernetzung und Arbeitsteilung nicht länger
gegeben. Nationale Wirtschaftspolitik wird von transnationalen Unternehmen
und Finanzmarktakteuren unterlaufen. Der Nationalstaat verliert im 21. Jahr-
hundert seine Existenzberechtigung, zur Hyperglobalisierung gibt es keine
Alternative („TINA“ im Sine des Marktliberalismus). (2) Der Nationalstaat ist
definitionsgemäß ausgrenzend. Er hat Nationalismus befördert und ist daher
moralisch überholt. Daher braucht es mehr globale politische Steuerung. Glo-
bale Probleme müssen auf globaler Ebene geregelt werden.

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Der Globalismus vertritt eine kosmopolitische Weltordnung, in der Welt-


bürgerInnen an die Stelle von StaatsbürgerInnen, Weltoffenheit an die Stelle
von nationaler Verbundenheit treten. Eine liberale Markt- und Eigentumsord-
nung ist wichtig, denn sie hilft, die wohlstandssteigernden Vorteile internatio-
naler Arbeitsteilung zu nutzen. Über den ökonomischen Bereich hinaus
braucht es aber global durchsetzbare Menschenrechte sowie die institutionelle
Stärkung von liberaler Demokratie und Grundrechten. Das utopische Ziel ist
die Schaffung einer universalistischen liberalen Weltordnung in Bezug auf alle
Aspekte des wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und sozialen Lebens.
Eine Welt im engen Kontakt, in Austausch und Kooperation hat viele Vor-
teile: Individuelle Freiheitsrechte, grenzenlos einkaufen zu können und unbe-
schränkt zu migrieren. Individuelle Selbstbestimmung wäre in vielerlei Hinsicht
gestärkt. Es geht den Globalisten darum, eine umfassende liberale Ordnung mit
wirtschaftlichen und politischen Freiheiten zu schaffen. Freihandel, Frieden
und Demokratie würden sich gegenseitig befördern. Globale Arbeitsmärkte
sind wünschenswert, ebenso die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte.
Diesbezüglich ist der Globalismus konsequenter als das neoliberale Modell, das
wirtschaftliche Freiheiten auf Kosten politischer ausweitet. Neben einer tiefen
wirtschaftlichen Integration, in der internationale Institutionen wie die WTO
bindende Entscheidungen treffen, sollen auch andere Institutionen gestärkt
werden. Auf wirtschaftliche Freiheit muss politische folgen. Die Vorstellung
von Demokratie ist dabei eine sehr unmittelbare, mehr auf die Ermächtigung
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Einzelner ausgerichtet als auf die Stärkung demokratischer Repräsentation:
Mehr Transparenz bei Verhandlungen, Einbindung der Zivilgesellschaft in Ent-
scheidungsprozesse durch öffentliche Konsultationen und Konferenzen. All
diese neuen Formen von Beteiligung und Demokratie sind aber weit weniger
wirksam als demokratische Politik im Wohlfahrtskapitalismus. Diese ermög-
lichte, durch Kompromisse grundlegende Interessenskonflikte zu verhandeln.
Wie sollte dies auf globaler Ebene möglich sein, wo es heute oftmals selbst in
kleinen Nationalstaaten schwierig ist, Kompromisse zu schließen?
Tatsächlich ist die Bilanz von Global Governance bescheiden. Seit dem Ky-
oto Abkommen 1998 hat die globale Umweltpolitik wenig Erfolge vorzuweisen.
Marktwirtschaftliche Instrumente wie der Emissionshandel und diverse globale
Initiativen der Grünen Ökonomie haben bis heute ihr Ziel verfehlt, durch öko-
logische Preissignale eine Trendwende im Ausstoß von Treibhausgasen und im
Ressourcenverbrauch einzuleiten. Global Governance strebt eine umfassende
liberale Weltordnung an, wohingegen aktuelle erfolgreiche Varianten des Ka-
pitalismus nicht demokratisch organisiert sind und keine weltoffenen Gesell-
schaften sein wollen. Nicht nur Chinas Staatschef Xi Jinping, auch Ungarns
Premierminister Viktor Orbán zweifelt, ob eine liberale Demokratie mit starken
individuellen Grundrechten noch zeitgemäß sei.

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Es ist zu vermuten, dass sich das westliche Politikmodell in den kommen-


den Jahrzehnten nicht weltweit durchsetzen wird, wohl aber kann es gegenüber
anderen Gesellschaftsmodellen verteidigt werden. Statt das eigene Modell der
liberalen Demokratie mit starken Grundrechten auf andere Weltregionen aus-
zuweiten, ist es schon ein Erfolg, innerhalb der EU diese Regierungsform gegen
autoritäre Tendenzen durchzusetzen.
Dies führt zu mehr Bescheidenheit. Wir meinen, Globalismus als Verbin-
dung von Hyperglobalisierung und Demokratie ist aus zwei Gründen heute
keine Option: (1) Mächtige Akteure arbeiten dagegen und unterbinden ver-
stärkte internationale Zusammenarbeit. (2) Die Möglichkeit, Demokratie global
zu organisieren, ist sehr beschränkt. Es braucht neue Politikmodelle, die globale
Prozesse mit nationalen und regionalen verbinden. Ein erfolgversprechender
Ansatz sind die SDGs. Sie sind ein Beispiel von Global Governance, insofern
sich alle Regierungschefs 2015 verpflichteten, gemeinsame Schritte zu setzen,
dass für alle BewohnerInnen des Planeten ein gelungenes Leben in Würde
möglich wird. Umgesetzt werden die Zielvorgaben der SDGs jedoch national.
Während ein Teil der Maßnahmen darin besteht, globale Probleme durch glo-
bale Kooperation zu lösen, sind die Lösungen für einen Großteil der Heraus-
forderungen auf nationaler und lokaler Ebene zu suchen: Wälder schützen,
Infrastrukturen bauen oder Ungleichheiten verringern sind klassische national-
staatliche Aufgaben. Die Strategie planetarischer Ko-Existenz setzt auf Maß-
nahmen, die globale Probleme auf mehreren Ebenen bearbeiten.
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Planetarische Ko-Existenz

Die Strategie der planetarischen Ko-Existenz verbindet nationale mit demokra-


tischen Handlungsspielräumen. Um diese wiederzuerlangen, muss auf Hyper-
globalisierung verzichtet werden. Im Unterschied zum Neoliberalismus und
Globalismus ist die Strategie planetarischer Ko-Existenz nicht universalistisch.
Sie verallgemeinert kein Modell, sondern erlaubt eine Vielzahl an politischen
und wirtschaftlichen Modellen. Dieser Ansatz wird heute von Rodrik vertreten,
dessen Ideen von Polanyi inspiriert sind. Ihr Demokratieverständnis lehnt sich
stark an Kelsen an, denn es braucht die politische Freiheit zur Gestaltung des
eigenen Gemeinwesens. Liberale Demokratien mit starken Grundrechten sollen
die Möglichkeiten haben, gegebenenfalls auch wirtschaftliche Freiheiten zu
beschränken. Im Unterschied zu Neoliberalismus und Globalismus sieht diese
Strategie den nationalen Wohlfahrtskapitalismus als Erfolgsgeschichte. Das
Bretton-Woods-Regime akzeptierte einen Pluralismus an nationalen Entwick-
lungswegen. Einzelne Länder konnten sich für unterschiedliche Wirtschafts-
verfassungen entscheiden, die nebeneinander Bestand hatten. Bereits Polanyi
hoffte 1945 auf eine solche Weltordnung: Gemischte Wirtschaftsformen mit

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einer Vielzahl unterschiedlicher Institutionen innerhalb einzelner Volkswirt-


schaften sollten ergänzt werden durch ein legitimes Nebeneinander von Wirt-
schaftsblöcken, insbesondere der kapitalistischen Marktwirtschaft im Westen
und der Zentralverwaltungswirtschaft im Osten.
Kooperation kann nicht verordnet, Konflikte können nicht völlig vermieden
werden, aber sie können durch Regelwerke zivilisiert werden. Die Politikwis-
senschaftlerin Chantal Mouffe schlägt vor, antagonistische Auseinandersetzun-
gen, in denen der Feind vernichtet werden muss, in Richtung agonistischer
Konfliktsituationen zu verändern. Aus Feinden, die sich vernichten wollen,
werden Gegner, die konkurrieren. Kompromiss wird zur Form, Konflikte zu
regeln. Das Gegenüber, zum Beispiel Nordkorea oder der Iran, wird zu einem
Gegner, dessen Existenz als legitim anerkannt wird. Oberstes Ziel der Weltdip-
lomatie ist demnach die Vermeidung destruktiver Konflikte bis hin zum Krieg.
Deshalb habe eine zukunftsfähige Weltordnung nach innen unterschiedlich
organisierte Nationalstaaten zu akzeptieren, auch wenn diese wechselseitig
kritisch gesehen werden. Die Schwäche dieser Strategie: Sie kann nicht klar
benennen wo die Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten endet. Bei
Atomwaffenprogrammen? Bei Menschenrechtsverletzungen? In Libyen 2011
oder in Hongkong 2019? Grundsätzlich tendiert diese Strategie zur Zurückhal-
tung, insbesondere bei militärischen Interventionen – auch wenn zum Schutz
der Menschenrechte jeder Einzelfall sorgfältig abzuwägen ist.
Das Ziel friedlichen Zusammenlebens in einer Welt unterschiedlicher Men-
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schen, Kulturen und Gesellschaften erfordert internationale Zusammenarbeit
vor allem in den Bereichen, in denen planetarische Verantwortung weltweite
Zusammenarbeit notwendig macht. Die SDGs sind ein Beispiel gemeinsamer
globaler Zielsetzung ohne tiefe Integration. Es braucht mehr derartige globale
Koordinierung zum Schutz globaler Gemeingüter, die gleichzeitig lokal unter-
schiedliche Implementierungsmöglichkeiten zulassen – besonders in Bereichen,
in denen die Gefahr von Loose-loose-Situationen groß ist wie in der Klima-
und Friedenspolitik. Doch genau in diesen Politikfeldern stockt die internatio-
nale Zusammenarbeit, wie im Abschnitt zu Globalismus gezeigt wurde.
Planetarische Ko-Existenz zielt darauf ab, nationale Handlungsspielräume
zurückzugewinnen. Über die Bereiche unbedingt notwendiger globaler Koordi-
nierung hinaus soll sich politische Gestaltung zurück zur nationalen Politik
verlagern. Auf nationaler Ebene gibt es erprobte Demokratiemodelle, die es zu
bewahren und weiterzuentwickeln gilt. Nationale EntscheidungsträgerInnen
könnten demokratisch legitimiert eigene Entwicklungspfade beschreiten, un-
ternehmerische Stärken fördern sowie lokale Innovationen unterstützen. So
könnten vor allem in Ländern des Globalen Südens neue lokale Industrien vor
ausländischer Konkurrenz geschützt werden. Handels- und Investitionsab-
kommen könnten so gestaltet werden, dass sie nicht vorrangig den Interessen

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transnationaler Unternehmen und Investoren dienen, sondern auch den öko-


nomischen, sozialen und ökologischen Zielsetzungen der lokalen Bevölkerung.
Wie schon unter dem Bretton-Woods-Regime wären dies Maßnahmen hin
zu einer Form von Globalisierung, die Weltoffenheit nicht mit Finanzialisie-
rung und tiefer Integration gleichsetzt. Die internationale Koordinierung bei
Steueroasen und Steuerpolitik, die Regulierung digitaler Plattformen sowie
Sozial- und Umweltstandards, Kapitalverkehrskontrollen und -beschränkungen
können der Finanzialisierung Grenzen setzen. Dies ist notwendig, um außen-
wirtschaftliche Ungleichgewichte und Angriffe auf nationale Währungen zu
verhindern. Systematisches Kapitalverkehrsmanagement kann langfristige Di-
rektinvestitionen fördern und kurzfristige Spekulation unterbinden.
Diese selektive ökonomische Deglobalisierung kann zur Dekonzentration
von Macht beitragen, wie dies der Wohlfahrtskapitalismus vorübergehend
ermöglichte: In der UNO beschränkte das Prinzip „ein Land, eine Stimme“ den
Einfluss der Supermächte USA und Sowjetunion. In der Weltwirtschaft be-
schränkten Kapitalverkehrskontrollen die Konzentration von Vermögen. In der
nationalen Wirtschaftspolitik beschränkte die Sozialpartnerschaft den Einfluss
von Unternehmensinteressen. Die derzeitige Globalisierung, insbesondere
durch globale Finanzmärkte und eine globale Transportinfrastruktur, führt zur
Konzentration von Macht in vorher nicht gekanntem Ausmaß. Erweiterte poli-
tische Handlungsspielräume sind nur möglich, wenn der Einfluss des fossilen
und finanzwirtschaftlichen Machtkomplexes begrenzt wird. Eine strenge Regu-
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lierung der Finanzmärkte und ein Rückbau der globalen Transportinfrastruk-
tur, die auf fossilen Energieträgern beruht, kann lokale und regionale Wirt-
schaftskreisläufe und produzierende Unternehmen vor Ort stärken. Auf diese
Weise erleichtert die Strategie planetarischer Ko-Existenz auch eine sozialöko-
logische Transformationsstrategie.
Die Strategie planetarischer Ko-Existenz kann nicht nur nationale, sondern
auch regionale und kontinentale Wirtschaftsräume stärken. Die 2019 gegrün-
dete AfCFTA, African Continental Free Trade Agreement, kann den Handel
innerhalb Afrikas stärken, wie dies die südamerikanische Freihandelszone Mer-
cosur lange Zeit für Lateinamerika ermöglichte. Derartige Abkommen fördern
die Arbeitsteilung unter den nationalen Unternehmen und tragen zu Wohl-
fahrtsgewinnen bei. Die regionalen Integrationsprojekte können zwei unter-
schiedliche Zielsetzungen verfolgen: (1) Sie können den regional gemeinsamen
Markt als Sprungbrett für den Weltmarkt sehen. Dann sind sie vereinbar mit
Neoliberalismus und Globalismus. (2) Sie können aber auch als supranationales
Territorium verstanden werden, dass auf regionaler Ebene Handlungsfähigkeit
gewinnt, die national verloren gegangen ist. Diese regionalen Integrationspro-
jekte sind mit planetarischer Ko-Existenz vereinbar. An die Stelle nationaler
Demokratie treten neue Formen supranationaler Demokratie oder werden

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durch diese ergänzt. Im Unterschied zum Globalismus aber mit klaren Außen-
grenzen.
Dies kann anhand der europäischen Integration gezeigt werden. Die EU
schafft eine supranationale politische Ordnung auf einem im Weltmaßstab
kleinen Subkontinent, dessen Fläche gerade halb so groß ist wie die Brasiliens.
Die Vielzahl kleiner Nationen wäre in Europa ohne internationalen Handel
nicht lebensfähig. Die Vertreter von Variante (1) sehen die EU als eine konti-
nentale Variante des Globalismus, da sie vom selben Anspruch des Kosmopoli-
tismus und der Weltoffenheit getragen ist. Tatsächlich geht es um den Aufbau
einer supranationalen Ordnung. Und doch handelt es sich um Variante (2), da
die europäische Integration ein territoriales, das heißt räumlich begrenztes,
Projekt ist. Daher ist die von Rodrik vorgenommene Zuschreibung als „euro-
päische Variante des Globalismus“ irreführend. Die EU ist eine innovative
Form des Regierens, in der sich Mitgliedsstaaten supranational zusammen-
schließen und eine neue politische Ordnung mit Außengrenzen schaffen. Das
ist grundverschieden von einer den gesamten Globus umspannenden nicht-
territorialen Ordnung. Die EU schafft keine grenzenlose Welt, sondern löst nur
interne Grenzen auf, um neue, aktuell sehr rigide Außengrenzen zu schaffen.
1993 trat der gemeinsame europäische Markt mit seinen vier Freiheiten –
Freiheit des Waren-, Personen- und Kapitalverkehrs sowie von Dienstleistun-
gen – in Kraft. Auf diesen sollte, so das Ziel des damaligen Kommissionspräsi-
denten Jacques Delors, eine Stärkung der politischen und sozialen Zusammen-
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arbeit folgen. Dazu zählt unter anderem eine Harmonisierung der Sozial- und
Steuerpolitik. Hierzu wäre keine Vereinheitlichung der national unterschiedli-
chen Steuersysteme und Wohlfahrtsmodelle notwendig, wohl aber eine Koor-
dinierung und bestimmte Mindeststandards, die Steuer- und Sozialdumping
ausschließen. Dies ist bis heute nur ansatzweise geschehen. Die wirtschaftliche
und rechtliche Integration hat sich vertieft, auch nicht-ökonomische Institutio-
nen haben sich europaweit vereinheitlicht: Zum Beispiel arbeiten Justiz und
Polizei jenseits nationaler Grenzen zusammen. Doch die politische Integration
gemeinsamer demokratischer Entscheidungsfindung ist ins Stocken geraten,
das Vereinigte Königreiche wird die EU voraussichtlich verlassen. Gleichzeitig
ist die Rückfalloption in die Ko-Existenz europäischer Nationalstaaten mit
erneuten Personen- und Warenkontrollen an allen nationalen Grenzen kein
attraktives Szenario. Eine stärkere europäische Integration bleibt erstrebens-
wert. Zu klein sind die Nationalstaaten, zu gewalttätig war die Geschichte des
Nationalismus. Eine realistische Strategie für die Stärkung eines europäischen
Gemeinwesens fehlt allerdings: Dies liegt wesentlich daran, dass das Trilemma
von politischen EntscheidungsträgerInnen innerhalb der EU ignoriert wird. Es
wird so getan, als wäre die Propagierung von Hyperglobalisierung, Freihandel
und Finanzialisierung in der europäischen Außenwirtschaftspolitik vereinbar
mit Demokratie und der fortbestehenden zentralen Rolle der Nationalstaaten.

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Roosevelt überwand mit dem New Deal in den USA der 1930er Jahre nicht
nur die Wirtschaftskrise. Er koppelte das Land, insbesondere den Finanzmarkt,
auch teilweise von der Weltwirtschaft ab. Heute würden wir sagen, er verab-
schiedete sich von der Hyperglobalisierung. Dies ging einher mit der Stärkung
nationaler Institutionen: So gab es beispielsweise vor Roosevelt weder soziale
Sicherungssysteme noch eine mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattete
Bundespolizei. Vielleicht ist eine selektive ökonomische Deglobalisierung, ähn-
lich derjenigen Roosevelts, notwendig, um wirksame Schritte hin zu den Verei-
nigten Staaten von Europa zu setzen: zum Beispiel durch europaweites Kapital-
verkehrsmanagement und einem europaweiten Schutz vor Sozial- und Um-
weltdumping. Ist diese Annahme richtig, müssten Europas Entscheidungsträ-
gerInnen die Dominanz des marktliberalen Leitbilds in Frage stellen. Doch, wie
bereits in Ein New Deal für das 21. Jahrhundert diskutiert, scheint selbst der
ambitionierte Green Deal der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von
der Leyen die marktliberale Einseitigkeit nicht zu überwinden. Bleiben Europas
EntscheidungsträgerInnen bei dieser Sichtweise, wird die EU weiter vorrangig
ein europäischer Markt bleiben und zu keiner politischen Union werden.
Gäbe es einen ernsthaften Willen zu einer politischen Union, dann müsste
sich die Europäische Union zu einer Solidargemeinschaft weiterentwickeln:
Alle für eine/n, einer/eine für alle. Dann hätten aber in der Schuldenkrise nach
2008 Gläubiger und Schuldner die Verantwortung für die Eurokrise gemeinsam
tragen müssen. Zum Beispiel durch die Einführung von Eurobonds, das heißt
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gemeinsamen Staatsanleihen mehrerer EU-Mitgliedstaaten, oder einem Euro-
päischen Währungsfonds, der bei Leistungsbilanzproblemen Kredite vergibt.
Tatsächlich wurde die Krise nach 2008 zugunsten der Gläubiger und ihrer
kurzfristigen Interessen gelöst. Doch hat dies die europäischen wirtschaftlichen
Ungleichgewichte zwischen dem Zentrum, zu dem Deutschland und Österreich
gehören, und der Peripherie, zu der Spanien und Griechenland gehören, ver-
stärkt (vgl. Teil 2 Wirtschaftliche Ungleichgewichte und Wirtschaftskrisen). Eine
ähnliche Vorgangsweise im Umgang mit Italien könnte fatale Folgen bis hin zur
Desintegration haben.
Soll der europäische Zusammenhalt nachhaltig gestärkt werden, müsste sich
ein New Deal für das 21. Jahrhundert vom New Deal der 1930er Jahre umfas-
send inspirieren lassen und gleichzeitig über diesen hinausgehen, um ökologi-
sche Aspekte mit zu berücksichtigen. Nachhaltigkeit muss mit Gerechtigkeit
verbunden werden. Politisch bräuchte es eine Kombination aus Bewahren und
Verändern. Kelsen entwarf Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Verbindung
von parlamentarischer Demokratie und Grundrechten eine politische Ord-
nung, auf die der Wohlfahrtskapitalismus mit seiner gemischten Ökonomie
aufbaute. Damals wie heute in Opposition zur marktgerechten Demokratie des
Neoliberalismus. Alternativen zur neoliberalen Globalisierung können (1) di-
rekt an Kelsen anschließen und die Stärkung ebendieser nationalen Demokratie

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fordern. Oder sie können sich (2) von Kelsen inspirieren lassen für eine neue
territoriale Ordnung auf EU-Ebene. Dies wäre weniger ein kosmopolitisches
Projekt, sondern vielmehr eine Adaptierung nationaler Institutionen auf euro-
päischer Ebene. Eine Aufwertung des Europäischen Parlaments wäre ein erster
Schritt, ebenso ein erweitertes EU-Budget und eine stärker koordinierte Geld-
und Fiskalpolitik. Die Grundrechte sind in der EU mit der Charta der Grund-
rechte der Europäischen Union rechtlich gut verankert. Probleme treten hier
im Vollzug auf – wie sich an den aktuellen Konflikten der Europäischen Kom-
mission mit Polen und Ungarn zeigt.
Doch hin zu einer europäischen Demokratie ist noch ein weiter Weg. Dabei
steht zumeist die Frage im Zentrum, wie die politischen Kompetenzen inner-
halb eines europäischen Gemeinwesens aufgeteilt sind. Zweifel bestehen, ob
eine zentralisierte europäische Demokratie wünschenswert ist. Der Kern der
Auseinandersetzung zwischen Hayek und Kelsen war aber ein anderer: Steht
die Marktordnung über der Demokratie oder umgekehrt? Im Sinne Kelsens
bräuchte es eine europäische Wirtschaftsverfassung, in der auch die derzeitige
Marktordnung auf demokratischen Weg verändert werden kann. Demokrati-
sche Politik stünde dann erneut wie im Wohlfahrtskapitalismus über der
Marktordnung. Die EU könnte dann das politische Gemeinwesen sein, das in
der derzeitigen Hyperglobalisierung wirksamer als nationale Regierungen die
Marktmacht transnationaler Unternehmen und globaler Finanzmärkte be-
schränkt: Zum Beispiel kann eine Finanztransaktionssteuer kaum in Österreich
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alleine eingeführt werden, wohl aber europaweit. Transnationale Unternehmen
können den österreichischen Markt ignorieren, nicht aber den europäischen.
Somit würde die EU einen geschützten Raum schaffen, in dem nationale, regio-
nale und lokale Besonderheiten nicht an Bedeutung verlieren. In diesem Sinne
bedeutet eine Stärkung der EU nicht Zentralisierung. Nationalstaaten mit ihren
demokratischen und sozialstaatlichen Institutionen bleiben in diesem europäi-
schen Mehr-Ebenen-Modell wichtig; Städte und Regionen werden aufgewertet,
da sie durch die Einschränkung der Marktmacht transnationaler Unternehmen
eigene Entwicklungsstrategien verfolgen können. Es ist fraglich, ob politische
EntscheidungsträgerInnen und nationale Bevölkerungen bereit sind, diesen
Weg zu gehen. Und es ist fraglich, ob die derzeitige Globalisierung mit ihren
viel weitergehenden Verflechtungen politisch ähnlich gestaltbar ist wie dies im
Rahmen des Bretton-Woods-Modells möglich war.
Die stockende europäische Integration zeigt, wie ambitioniert selbst das
Projekt einer supranationalen Union in einem kleinen, historisch verbundenen
Teil der Welt ist. Deshalb ist davon auszugehen, dass auf globaler Ebene die
gemeinsame Werte- und Interessensbasis nur sehr „dünn“ ist. Es braucht in der
internationalen Kooperation mehr Bescheidenheit und Respekt vor Vielfalt.
Dem trägt eine weniger hierarchische und damit multipolare Weltordnung
Rechnung. Kompetitive Formen der Krisenbearbeitung wie der Kampf um

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Rohstoffzugang und Währungskriege könnten durch eine weniger ökonomie-


zentrierte Weltpolitik ersetzt werden. Noch kann Europa aus einer Position der
Stärke heraus zu dieser weniger hierarchischen Weltordnung beitragen. Die
zahlreichen militärischen Konflikte in Europas Nachbarschaft, die zu massiven
Fluchtbewegungen führten und instabile Staaten geschaffen haben, zeigen, wie
wichtig derartige Initiativen wären. Dies beinhaltet für Europa, dessen Einfluss
weltweit stagniert, durchaus auch Chancen. Der kleine europäische Subkonti-
nent könnte in einer multipolaren Weltordnung sein Zivilisationsmodell mit
dessen vielfältigen Vorzügen beibehalten. Europa könnte sein Verständnis von
Demokratie und individuellen Freiheitsrechten absichern, auch wenn andere
Weltregionen mit anderen Gesellschaftsmodellen wirtschaftlich aufholen. Doch
muss man umgekehrt akzeptieren, dass andere Weltregionen ihre eigenen
Wege in die Zukunft gehen. Und dass diese bevölkerungsreichen Regionen für
sich einen größeren Anteil an Ressourcen und Einfluss beanspruchen – und
sich nehmen werden.
Die Strategie planetarischer Ko-Existenz fördert Kleinräumigkeit, regionale
Ökonomien und einen Fokus auf die alltäglichen wirtschaftlichen Aktivitäten.
Dies eröffnet Chancen, Wohlbefinden weniger ressourcenorientiert zu ermögli-
chen. Im Folgenden werden institutionelle Voraussetzungen für eine zukunfts-
fähige Gesellschaft untersucht. Dabei geht es um die Möglichkeit, Routinen an-
ders und ressourcenschonender zu organisieren.
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Zukunftsfähige Gesellschaft

Westliche Konsumgesellschaften sind wohlhabend, Wohlstand und Lebens-


standard haben sich in den vergangenen 200 Jahren dramatisch erhöht. Auch
erhöht hat sich allerdings die Ungleichheit und das im Wohlfahrtskapitalismus
geschaffene hohe Wohlfahrtsniveau ging mit einem exponentiell wachsenden
Ressourceneinsatz einher. Dies ist die große Schwachstelle des westlichen Zivi-
lisationsmodells. Nachhaltigkeitspolitik, die sich gleichermaßen mit sozialen,
wirtschaftlichen und ökologischen Fragen auseinandersetzt, hat deshalb eine
ganz besondere Bedeutung. Es ist eine große Herausforderung, diese Nicht-
Nachhaltigkeit unseres Zivilisationsmodells und seine deshalb notwendige
Transformation konstruktiv, demokratisch und friedlich zu bearbeiten – das
heißt möglichst gemeinsam und nicht auf Kosten weniger einflussreicher
Gruppen. Dabei hilft die Orientierung an den in Teil 1 Wohlstand im Wandel
dargestellten neuen Wohlfahrtskonzepten, die statt von Wohlstand vermehrt
von Wohlbefinden sprechen. Eine bessere Lebensqualität kann so von Wirt-
schaftswachstum entkoppelt werden. Wohlbefinden statt Wohlstand ins Zen-
trum zu stellen, klingt radikal. Doch auch in Hinsicht auf derzeitige Prioritäten

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der Europäischen Union steht Wohlbefinden im Zentrum der Debatte. So


möchte Finnland, das den Ratsvorsitz noch bis Dezember 2019 inne hat, eine
Ökonomie des Wohlbefindens (economy of wellbeing) fördern – allerdings mit
dem expliziten Ziel, dadurch Wirtschaftswachstum voranzutreiben.
Angelehnt an die Theorien von Aristoteles, Sen und den Erkenntnissen der
Selbstbestimmungstheorie geht es bei zukunftsfähigen Gesellschaftsmodellen
vor allem um das vernünftige Abwägen menschlicher Grundbedürfnisse. Im
HDI sind dies materieller Wohlstand, Bildung und Gesundheit, in der Selbstbe-
stimmungstheorie Selbstbestimmung, Kompetenz und Dazugehören. Das fol-
gende Kapitel stellt Maßnahmen und Modelle dar, die eine neue Balance aus
effizienten Wirtschaftsstrukturen und Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und
Dazugehören sowie sozialem Zusammenhalt und ökologischer Nachhaltigkeit
anstreben. Untersucht werden (1) eine sozialökologische Steuerreform, (2) inno-
vative neue Wohlfahrtsmodelle, (3) der konkrete Ansatz der Alltagsökonomie
sowie (4) sozialökologische Infrastrukturen.

Sozialökologische Steuerreform

Steuern sind ein wirksames Instrument, Wirtschaft und Gesellschaft zukunfts-


fähig zu machen. Der Steuerstaat verfügt über öffentliche Mittel, um öffentliche
Aufgaben wahrzunehmen, wie Forschung, Innovation und Wohlfahrtspolitik.
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Die dafür benötigten Mittel sollen zur besseren Akzeptanz möglichst gerecht
eingehoben werden. Das bedeutet je nach Konzept von Gerechtigkeit Unter-
schiedliches: tendentiell niedrige Steuern, wenn Markt- und Leistungsgerech-
tigkeit im Vordergrund stehen, tendentiell höhere, wenn öffentliche Leistungen
Bedürfnis- und Teilhabegerechtigkeit sowie Generationengerechtigkeit herstel-
len sollen. Mit Steuern kann aber auch gesteuert werden: Es können damit
Weichen Richtung Zukunftsfähigkeit gestellt werden. Und auch das bedeutet
für die verschiedenen Leitbilder nicht dasselbe.
Eine ökologische Steuerreform müsste die Subventionierung fossiler Brenn-
stoffe abbauen (vgl. Umweltpolitische Instrumente). Das erscheint aus verschie-
denen Perspektiven wünschenswert. Marktliberale sehen darin eine Chance,
Marktverzerrungen zu beseitigen und Externalitäten zu berücksichtigen. Dass
zum Beispiel Fliegen billiger ist als Bahnfahren, zeugt von Marktversagen: Die
Preise spiegeln nicht die ökologischen Kosten wider. Und aus der Perspektive
der sozialökologischen Transformation ermöglicht eine ökologische Steuerpo-
litik Schritte hin zu geänderten gesellschaftlichen Naturverhältnissen. Aus die-
ser Perspektive darf sich Nachhaltigkeitspolitik allerdings nicht auf Marktin-
strumente beschränken. Bloß Ressourcen höher zu besteuern, führt zu unge-
rechten Verteilungseffekten: Ökosteuern sind Verbrauchssteuern. Diese wirken
regressiv, da sie das Haushaltsbudget von Geringverdienenden anteilsmäßig

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besonders stark belasten. Dass damit gesellschaftlicher Widerstand einhergehen


kann, wurde nicht zuletzt durch die französischen „Gelbwestenproteste“ offen-
sichtlich, die sich an einer höheren Besteuerung fossiler Kraftstoffe (insbeson-
dere Diesel) entzündeten. Es braucht daher gleichzeitig soziale Entlastungs-
maßnahmen. Das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) hat vorgeschlagen,
wie eine ökologische Steuerreform sozial gestaltet werden kann: In Österreich
entstünden durch eine Steuer von 120 Euro je Tonne CO2 (auf Benzin, Diesel,
Gas, Kohle und Heizöl) sowie der Abschaffung des Dieselprivilegs zusätzliche
Steuereinahmen von ungefähr vier Milliarden Euro. Das WIFO schlägt vor,
diese Einnahmen unter anderem für einen Ökobonus von 519 Euro pro Person
und Jahr für die unteren drei Einkommensquintile (60 Prozent aller Haushalte)
zu nutzen. Innerhalb eines Jahres könnte eine solche Strategie energiebedingte
Treibhausgasemissionen um mehr als sieben Prozent reduzieren, wobei das
Einkommen der Haushalte in der niedrigsten Einkommensgruppe um mehr als
drei Prozent wachsen, hohe Einkommen um 1% sinken würden. Auch auf
Beschäftigung und BIP hätte eine solche sozialökologische Steuerreform posi-
tive Auswirkungen (+0,6 Prozent bzw. +0,1 Prozent). Es ist möglich, ökologi-
sches Umsteuern mit sozialen und ökonomischen Zielen zu verbinden.
Marktliberale treten generell für steuerliche Entlastung der Besserverdie-
nenden ein, da sie aus dieser Sicht per definitionem die gesellschaftlichen Leis-
tungsträgerInnen sind. Ohne deren hoch produktive Arbeit, gebe es keinen
Wohlstand, der auf die ärmeren Bevölkerungsschichten „durchsickern“
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(„trickle-down“) könnte. Daher ist die höhere Besteuerung der Besserverdie-
nenden unfair, sie verletzt das Prinzip der Markt- und Leistungsgerechtigkeit
und demotiviert.
Folgt man den Leitbildern des Wohlfahrtskapitalismus und der sozialökolo-
gischen Transformation, kommt man zu anderen Annahmen für ein zukunfts-
fähiges Steuerwesen. Eine hohe Steuerquote, die aufgrund der gesamtwirt-
schaftlichen Produktivität möglich ist, ist ein Merkmal aller wohlhabenden
Staaten. Es braucht ein Steuersystem, in dem Personen und Unternehmen ge-
mäß ihrer Leistungsfähigkeit zahlen. Dies heißt zum einen ein progressives
Steuersystem, das Geringverdienende mit niedrigeren Steuersätzen belastet als
gut Verdienende. Bestimmte Ungleichheiten sind mit Leistungsgerechtigkeit
nicht zu erklären, sondern nur mit Marktgerechtigkeit. Nur so kann es sein,
dass die Leistung von ElementarpädagogInnen gering, die von im Ölhandel
oder im Finanzsektor tätigen ManagerInnen hoch entlohnt wird. Hohe Grenz-
steuersätze – das heißt eine höhere Steuerbelastung für jeden zusätzlich ver-
dienten Euro, der über einen Grundfreibetrag hinaus geht – schaffen Anreize,
weniger im Beruf zu arbeiten und dadurch Zeit zu gewinnen für andere Le-
bensbereiche: Zum Beispiel für Ehrenamt, Sport, Politik, Familie und Freun-
dInnen. Dies erhöht Wohlbefinden und stärkt den sozialen Zusammenhalt.

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Und es braucht auch mehr Steuergerechtigkeit bei der Unternehmensbe-


steuerung. Die neoliberale Globalisierung hat Machtverhältnisse zugunsten des
mobilen Produktionsfaktors Kapital verschoben. Die derzeitige supranationale
Marktordnung befördert den globalen Steuerwettbewerb, was zu sinkenden
Unternehmenssteuern und Erleichterungen für TopmanagerInnen führt. Zum
Beispiel sank aus Angst vor Standortverlagerungen der durchschnittliche ge-
setzliche Körperschaftsteuersatz weltweit von 49% (1985) auf 24% (2018). Feh-
lende Kapitalverkehrskontrollen fördern diverse Formen von Steuerbetrug und
Steuervermeidung, insbesondere die Verlagerung der Gewinnbesteuerung in
Steueroasen wie Irland, die Niederlande, die Schweiz, Singapur oder die Kari-
bik. 40 Prozent der Gewinne transnationaler Unternehmen werden jährlich in
Niedrigsteuerländer und Steueroasen verlagert. Ein globales Finanzregister, das
die Eigentümer von Vermögenswerten erfasst, könne Datentransparenz schaf-
fen, Steuervermeidung erschweren und Steuerbetrug eindämmen. Zwar gibt es
schon lange Grundbücher, doch andere Formen von Vermögen wie Wertpa-
piere und Aktien werden weniger systematisch erfasst. Außerdem hat sich der
Standort, an dem Gewinne versteuert werden, durch globale Finanzverflech-
tungen von jenen Orten entkoppelt, an denen konsumiert wird. Ein Vorschlag
ist, Steuern auf Basis der erwirtschafteten Umsätze zu berechnen, sodass Unter-
nehmen dort Steuern zahlen, wo sie ihre Produkte oder Dienstleistungen ver-
kaufen. Verkauft beispielsweise Apple 20 Prozent seiner Produkte in den USA,
wären dort 20 Prozent seiner weltweiten Gewinne steuerpflichtig. Steuerverla-
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gerung wäre schwieriger. Mehr internationale Zusammenarbeit der Steuerbe-
hörden wäre außerdem wünschenswert, um gemeinwohlbedrohende Ge-
schäftszweige wie illegalen Drogen-, Menschen- und Waffenhandel zu be-
kämpfen.

Innovative neue Wohlfahrtsmodelle

Die Jahrzehnte des Wohlfahrtskapitalismus erhöhten nicht nur den materiellen


Wohlstand, sondern brachten auch Teilhabechancen für (fast) alle. Die Her-
stellung gleichwertiger Lebensverhältnisse wurde 1949 im deutschen Grundge-
setz als politisches Oberziel festgehalten. In Deutschland und Österreich gab es
den sogenannten „antifaschistischen Konsens“, dass große soziale Krisen das
friedliche und demokratische Zusammenleben gefährden. Die sozialen Infra-
strukturen des Wohlfahrtskapitalismus – leistbares Wohnen, öffentliche Schu-
len, Spitäler, Bibliotheken und Verkehrsmittel – wurden zu großen Gleichma-
chern, die die vitalen und existenziellen Ungleichheiten reduzierten. Gleicher
Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung reduzierte Ungleichheiten der
Herkunft, viele Kinder ungebildeter HilfsarbeiterInnen stiegen in die Mittel-
schicht auf. Selbst im Vereinigten Königreich, Kernland des liberalen Wohl-

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fahrtsregimes, wurde das National Health Service (NHS) eingeführt, das allen
BewohnerInnen, nicht nur den StaatsbürgerInnen, Gesundheitsversorgung
kostenlos zur Verfügung stellt.
Doch war die Nachkriegszeit kein Paradies. Bis in die 1960er Jahre domi-
nierten starre Rollenbilder in Familie, Schule und am Arbeitsplatz. Der Sozial-
staat wurde nationalstaatlich verwaltet und tendierte zur Verbürokratisierung.
Mittels Zentralisierung sollten durch ein einheitliches Angebot gleichwertige
Lebensbedingungen hergestellt werden. Dies förderte den Paternalismus und
erschwerte die Beteiligung der BürgerInnen. Lokale Besonderheiten und unter-
schiedliche Präferenzen konnten nur eingeschränkt berücksichtigt werden. So
wuchs der Wunsch nach größerer Autonomie und einem vielfältigeren Ange-
bot an sozialen Dienstleistungen.
Das Versprechen des Neoliberalismus, durch die Privatisierung von Diens-
ten und Infrastrukturen, die Selbstbestimmung der BürgerInnen als Konsu-
mentInnen zu stärken und ein vielfältigeres Angebot herzustellen, war in die-
sem Kontext für viele attraktiv. Die Folge waren größere Unterschiede in der
Qualität der Leistungen, weil zahlungskräftige Bevölkerungsgruppen soziale
Leistungen (z. B. Bildung, Krankenversicherung) in besserer Qualität direkt am
Markt erwerben konnten.
Individuelle Selbstbestimmung kann aber nicht nur über den Markt herge-
stellt werden. Sie ist auch mit erweiterter Teilhabe vereinbar. Ein Beispiel dafür
ist „Housing First“, eine soziale Innovation, die unter Wohnungslosigkeit mehr
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versteht als das Fehlen eines „Dachs über dem Kopf“. Der konventionelle An-
satz der Wohnungslosenhilfe besteht darin, eigene Einrichtungen für Woh-
nungslose zu schaffen, die das Symptom, die Wohnungslosigkeit, wirksam
bekämpfen. Doch diese Großinstitutionen haben mit einer Reihe von Proble-
men zu kämpfen, allen voran relativ hohe Kosten und die geringe Ermutigung
zu Eigeninitiative. Bei Housing First steht die eigene Wohnung nicht am Ende
einer erfolgreichen erneuten Integration, sondern am Anfang. Mit einer eige-
nen Wohnung wird es einfacher, bei weitergehenden sozialen Unterstützungen
auf die aktive Mitarbeit der ehemals Wohnungslosen zu setzen: Angelehnt an
Theorien des Wohlbefindens ist zu beobachten, dass Menschen der Woh-
nungslosigkeit nur dann nachhaltig entkommen, wenn sie es wollen. Sie brau-
chen intrinsische Motivation. Diese wird wesentlich durch das soziale Umfeld,
Familie, Freunde, Schule und Beruf bestimmt. Wohnungslose haben hierbei
oftmals negative Erfahrungen gemacht. Daher braucht es neben dem „Dach
über dem Kopf“ ein soziales Umfeld, das Sicherheit gibt, Vertrauen schafft und
ermächtigt. Sich um die eigene Wohnung zu kümmern, selbstbestimmt Kon-
takte zu knüpfen und einen privaten Rückzugsraum zu haben, fördert Auto-
nomie, Kompetenz und Bezogenheit.
Housing First führt zu guten Ergebnissen bei der Re-Integration von Woh-
nungslosen. Diverse Pilotprojekte sind mittlerweile zu fixen Bestandteilen der

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Sozialpolitik geworden, ihre Vorzüge sind mittels Evaluierungen dokumentiert.


In Wien arbeitet die NGO Neunerhaus eng mit öffentlichen Einrichtungen
zusammen und stellt über private Spenden eine ganze Reihe innovativer Ange-
bote bereit: So gibt es zum Beispiel nicht nur Gesundheitsangebote für woh-
nungslose Menschen, sondern auch eine eigene Tierklinik für ihre Tiere.
Marktliberale begrüßen, dass Kosten gespart werden und Eigeninitiative
gefördert wird. Und auch Fachleute, die dem marktliberalen Leitbild kritisch
gegenüberstehen, unterstützen solche Modelle als Schritt hin zu mehr Bedürf-
nis- und Teilhabegerechtigkeit. Der systemische Erfolg derartiger sozialer Inno-
vationen hängt wesentlich vom lokalen und nationalen Wohlfahrtsregime ab, in
das sie eingebettet sind. In Schweden wird Housing First vor allem unterstützt,
weil es öffentliche Ausgaben senkt. In Ungarn ist Housing First zivilgesell-
schaftlich organisiert und kommt ohne öffentliche Unterstützung aus. Hier soll
Privatinitiative das Fehlen öffentlicher Verantwortung kompensieren, was zu-
meist zum Scheitern verurteilt ist. Das Wiener Modell basiert auf der Zusam-
menarbeit privater und öffentlicher Organisationen, lokale und nationale So-
zialleistungen unterstützen beim Wiedereinstieg ins gesellschaftliche Leben.
Innovative neue Wohlstandsmodelle können aus den Erfahrungen von
Housing First lernen, insbesondere vom Wiener Pilotprojekt. Dieses ist eine
zivilgesellschaftliche Initiative, die aber vernetzt ist mit der lokalen und natio-
nalen Verwaltung und mit privaten Unternehmen zusammenarbeitet. Das war
wesentlich für ihren Erfolg. Der Wissensaustausch mit anderen Organisationen
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der Wohnungslosenhilfe erleichterte es, Veränderungen ins öffentliche Wohl-
fahrtsmodell zu integrieren. Mit einer Mischung aus öffentlicher, privater und
zivilgesellschaftlicher Bereitstellung von Leistungen können nämlich lokale
Besonderheiten besser berücksichtigt werden. Das gilt auch für andere Berei-
che: So gibt es innovative Beispiele für dezentrale, manchmal genossenschaft-
lich organisierte Pflegeangebote und Kinderbetreuungseinrichtungen. Alle die-
se Innovationen müssen sich jedoch der vorherrschenden Markt- und Macht-
struktur bewusst sein. Es besteht sonst die Gefahr, dass Kooperationen mit pri-
vaten Anbietern dazu führen, dass kurzfristige Renditen wichtiger werden als
die qualitativ hochwertige und leistbare Bereitstellung sozialer Dienste. Diesen
Herausforderungen und darauf aufbauenden neuen Lösungsansätzen widmet
sich der folgende Abschnitt.

Alltagsökonomie

Das Foundational Economy Collective, ein Zusammenschluss von europäi-


schen ForscherInnen mit einem Schwerpunkt in England und Wales, hat das
Konzept der foundational economy (Fundamentalökonomie oder Alltagsöko-
nomie) erarbeitet. Ihre Kernthese ist, dass es große Teile der Wirtschaft gibt, die

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anders funktionieren als globale Märkte für Waren und Dienstleistungen: Vom
Einzelhandel, der InstallateurIn, dem Buchhandel, dem Kaffeehaus bis zu Arzt,
Wasser, Strom, Gas und Straßenbahn. Diese Sektoren repräsentieren mehr als
ein Drittel des BIPs. Gleichzeitig gibt es dafür wenig wirtschaftspolitische Auf-
merksamkeit und kaum theoretische Analysen.
Die Theorie der Alltagsökonomie versteht Wirtschaften als die Organisation
der Lebensgrundlagen: Wie essen, wohnen und erholen sich Menschen? Wie
bewegen sie sich fort, bilden und pflegen sich? Es geht also um die nachhaltige
Bereitstellung der Lebensgrundlagen „vor Ort“, im Dorf, in der Region, der
Nachbarschaft und der Stadt. Dieser Wirtschaftsbereich hat eine infrastruktu-
relle Grundlage, die zwei Bereiche umfasst: (1) Die materielle Infrastruktur
umfasst die Netzwerkinfrastruktur sowie Nahversorgung. Zur Netzwerkinfra-
struktur zählen Gas-, Strom- und Wasserleitungen, Telefon-, Straßen- und
Bahnnetz sowie Abfallentsorgung, öffentliche Räume und Grünräume. Diese
materielle Infrastruktur entstand in Grundzügen im 19. und beginnenden
20. Jahrhundert und wird heute oftmals als selbstverständlich vorausgesetzt –
zumindest bis einmal der Strom ausfällt oder die Straßenbahn nicht fährt. Und
doch muss sie regelmäßig erneuert und angepasst werden: Technologische Ver-
änderungen machen den Zugang zu digitalen Plattformen zu einer wichtigen
Voraussetzung für Teilhabe, die Klimakrise erfordert den Umbau städtischer
Infrastrukturen, um sich vor bedrohlichen Extremwettersituationen wie Hitze
und Starkregen besser schützen zu können. Die Nahversorgung umfasst Einzel-
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handelsangebote, vor allem Lebensmittelläden, Supermärkte und Märkte in der
Nachbarschaft, aber auch der Zugang zu anderen Diensten, die man regelmäßig
braucht, wie Post und Banken. (2) Die soziale Infrastruktur umfasst im Kern
Bildung, Gesundheit und Pflege und wird, je nach Wohlfahrtsregime, unter-
schiedlich organisiert.
An die im deutschen Sprachraum verwendeten Begrifflichkeiten angelehnt
kann Alltagsökonomie auch als Daseinsvorsorge plus (die weiter oben schon
beschriebene) Nahversorgung definiert werden. Beide Begriffe gibt es im Engli-
schen nicht. Daseinsvorsorge (services of general interest) ist ein juristischer
Schlüsselbegriff. Dabei geht es um die Bereitstellung von als für die Sicherung
der Lebensgrundlagen notwendig erachteten Gütern und Dienstleistungen vom
Verkehr, über Wasser- und Elektrizitätsversorgung bis zu Bildungseinrichtun-
gen, Müllabfuhr und Friedhöfen. Was dies genau bedeutet, ist wesentlich kultu-
rell bestimmt, verändert sich im Zeitablauf und ist daher umstritten: Sind
Volksschulen Teil der Daseinsvorsorge, Möglichkeiten der beruflichen Weiter-
bildung nicht? Ist ein Internetanschluss und der Zugang zu digitalen Plattfor-
men heute notwendig für die gesellschaftliche Teilhabe? Der Staat kann diese
Leistungen selber bereitstellen oder andere beauftragen. Daseinsvorsorge ist ein
Bereich, der in letzter Zeit vermehrt durch Handels- und Investitionsabkom-
men geregelt wird (vgl. Teil 2 Historische Phasen wirtschaftlicher Entwicklung).

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Dies führt zu Kontroversen, ob und inwiefern die Bereiche der Daseinsvorsorge


denselben marktwirtschaftlichen Kriterien unterliegen sollen wie herkömmli-
che Güter. Die aktuellen Handels- und Investitionsabkommen sehen geson-
derte Regelungen für den Bereich der Daseinsvorsorge vor, teilweise um vor
Kommodifzierung zu schützen, teilweise, um diese zu ermöglichen.
Die Forschungen des Foundational Economy Collective begannen als be-
triebswirtschaftliche Analysen: Sie untersuchten, ob es im Vereinigten König-
reich durch Privatisierungen zu den erhofften Effizienzsteigerungen und in der
Folge sinkenden Preisen kam. Im Fall des privatisierten britischen Bahnwesens
beispielsweise zeigten sie in Fallstudien, dass die private Bereitstellung sowohl
den KonsumentInnen als auch der öffentlichen Hand teuer kommt. Die Kun-
den zahlen teure Tarife, die öffentliche Hand finanziert einen Gutteil der pri-
vaten Investitionen über Kredite. In einzelnen Fällen erhielten private Betreiber
öffentliche Zuschüsse, die sie dann zum Großteil für Dividendenausschüttung
verwendeten. Die damit verbundene Kurzfristorientierung gerät in Konflikt mit
der Notwendigkeit, Infrastrukturen langfristig zu planen und bereitzustellen.
Diese Investitionen werden entweder nicht getätigt oder nur dann, wenn sie
von der öffentlichen Hand subventioniert werden. In manchen Fällen, insbe-
sondere im Bereich kommunaler Wasserversorgung, hat diese Logik mittler-
weile zu Rekommunalisierungen geführt. Das bekannteste Beispiel ist Paris, wo
die große Unzufriedenheit mit privaten Anbietern dazu führte, dass die Was-
serversorgung nach den Privatisierungen der 1980er Jahre seit 2010 wieder
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durch die Stadt bereitgestellt wird.
Aus der Kritik folgten Vorschläge, wie Alltagsökonomie anders funktioniert
als die Wirtschaftssektoren mit handelbaren Gütern wie Computer und Ma-
schinen. Alltagsökonomie ist demgegenüber weitgehend lokal und regional
organisiert. Sie fand historisch immer vor Ort statt. Kaufmannsläden waren
immer auch ein Ort des Tratsches und sozialer Treffpunkt. Dies änderte sich
zuerst durch die Automobilisierung (Stichwort Einkaufszentren) und zuletzt
durch die Digitalisierung (Stichwort Onlinehandel). Erzielbare Effizienzsteige-
rungen durch Skalenvorteile, die sich aus zentralisiertem Angebot ergeben,
haben soziale und ökologische Kosten, die oft erst langfristig sichtbar werden.
Stadtzentren und Ortskerne veröden, weil der Einzelhandel an den Stadtrand
oder größere Orte abwandert. In vielen Ortschaften gibt es oftmals keine Ge-
schäfte mehr, ja manchmal nicht einmal mehr ein Gasthaus. Heimat als kon-
kreter Ort des Zuhause-Fühlens geht verloren, die Jungen wandern ab, die
Zurückgebliebenen fühlen sich alleine gelassen. In Städten werden Stadtteile zu
reinen Schlafstätten, mit dem wirtschaftlichen verschwindet auch das soziale
Leben. Problemgebiete entstehen. Oftmals ist in diesen Gegenden, in denen
sich die VerliererInnen der Globalisierung konzentrieren, die Unterstützung
für populistische oder reaktionäre Parteien besonders groß.

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Die Theorie der Alltagsökonomie analysiert nicht nur, aus ihr leiten sich
auch wirtschaftspolitische Vorschläge ab, wie Wohlfahrt und Wohlbefinden
durch eine Stärkung der Alltagsökonomie anders gefördert werden können als
durch monetäre Besserstellung:

(1) Die BewohnerInnen sollen vermehrt eingebunden werden, wenn es um die


Ausgestaltung sozialer und materieller Infrastrukturen geht. Nicht nur die Ein-
schätzung der ExpertInnen, auch die Wünsche, Ängste und Vorstellungen der
Betroffenen, sollen berücksichtigt werden; zum Beispiel: Wie sollen ältere Men-
schen in unserem Dorf betreut werden – in einer technisch bestens ausgestat-
teten Einrichtung in der Bezirkshauptstadt oder in dezentralen Einheiten im
Ort? Ein Beispiel: 2015 beschloss die Waliser Regierung einen Report, um das
Wohlbefinden zukünftiger Generationen zu fördern. Das Vorsorgeprinzip
anzuwenden, ist Ausgangspunkt der Politikempfehlungen. Doch weder Ver-
waltungen noch ExpertInnen können allein entscheiden, was Wohlbefinden
konkret bedeutet. Wohlbefinden zu messen, gehe nur unter breiter Beteiligung
der Bevölkerung. Was Wohlbefinden ist, unterscheidet sich von Kontext zu
Kontext: In ländlichen Räumen sehnen Jugendlichen den 18. Geburtstag herbei,
um endlich selbst Auto fahren zu können, in Städten machen junge Erwachsene
immer seltener den Führerschein. Dementsprechend können politische Emp-
fehlungen nur eingeschränkt „von oben“ vorgegeben werden.
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(2) Soziale Lizenzen (Konzessionen) sollen sicherstellen, dass in der Alltags-
ökonomie tätige Unternehmen ihre gesellschaftliche Verantwortung durch
rechtlich verpflichtende Vereinbarungen wahrnehmen: durch die Übernahme
der Kosten für die Ausbildung junger Menschen, die Errichtung einer Grünan-
lage bei Bauprojekten oder die Entrichtung einer Abgabe für entstandene öf-
fentliche Infrastrukturkosten (z. B. für die Errichtung von Straßen oder öffent-
licher Verkehrsmittelanbindung).

(3) Eine zeitgemäße Steuerreform muss nicht nur Arbeit geringer und Ressour-
cen höher besteuern. Es braucht auch wirksame Maßnahmen gegen Steuerbe-
trug sowie eine Besteuerung von Aufwertungsgewinnen bei Immobilien, die die
Ungleichheit von Vermögen und Einkommen erhöhen. Es braucht diese Steu-
ereinnahmen dringend, um die für den Zusammenhalt notwendige Infra-
struktur zu finanzieren.

(4) Der Staat ist oft nicht der beste Anbieter von Dienstleistungen und Infra-
strukturen. Sogenannte intermediäre Organisationen aus dem Zwischenbereich
zwischen Staat und Privatsphäre – also Einrichtungen und Unternehmen, die
weder marktwirtschaftlich-profitorientiert noch staatlich organisiert sind (z. B.
Vereine, Stiftungen und privatrechtliche Einrichtungen mit gemeinnützigen

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Zielsetzungen) – können Wohlfahrt und Wohlbefinden manchmal besser be-


reitstellen. Sie binden die Betroffenen ein und kennen den jeweiligen Kontext.
Housing First ist ein derartiges Beispiel innovativer Bereitstellung sozialer
Dienstleistungen.

Sozialökologische Infrastrukturen

Es braucht gute Infrastrukturen, die ein gelungenes Leben mit geringerem Res-
sourcenverbrauch ermöglichen. Sozialökologische Infrastrukturen sind nach-
haltige, allen zugänglichen soziale und materielle Infrastrukturen, die ermögli-
chen, das Wohlbefinden zu steigern. Sie umfassen viel von dem, was sich Men-
schen mit Geld nicht leisten können: Von Begrünung in der Straße über die
Bücherei bis hin zum öffentlichen Schwimmbad. Nachhaltig bereitgestellte
öffentliche Verkehrsmittel, Grünräume sowie ein erschwinglicher Zugang zu
nachhaltiger Energieversorgung, Wasser, Wohnen, Gesundheit, Pflege und
Bildung helfen, die Bedeutung von Geld und Konsum für die Befriedigung von
Bedürfnissen einzuschränken. Damit haben diese Infrastrukturen als Sachleis-
tungen Vorteile gegenüber anderen sozialpolitischen Maßnahmen, vor allem
Geldleistungen wie einem bedingungslosen Grundeinkommen. Dieses kann
wirksam Not lindern und die individuelle Selbstbestimmung stärken. Doch
haben sozialökologische Infrastrukturen ein größeres Potential, ressourcen-
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schonende Strukturen zu schaffen. Sind sozialökologische Infrastrukturen vor-
handen, können sich Lebensstile ändern. Funktioniert Nahversorgung, kann
das Alltagsleben auch ohne Autobesitz organisiert werden – wie es in dicht
verbauten Stadtteilen heute schon möglich ist. Am Stadtrand und im ländlichen
Raum braucht es noch öffentliche Investitionen in sozialökologische Infra-
strukturen, um neue Alltagspraktiken zu ermöglichen: Wenn es bequeme
Bahnverbindungen für PendlerInnen gibt, kann auf das Pendeln mit dem Auto
verzichtet werden und neue Routinen entstehen, die nachhaltige Wirkung ha-
ben.
Leistbare sozialökologische Infrastrukturen für alle bereitzustellen, bietet
Lösungen für diverse Zielkonflikte zwischen sozialen, ökologischen und wirt-
schaftlichen Zielsetzungen. Sie vermitteln Sicherheit, bieten Raum für individu-
elle Lebensgestaltung, stärken den sozialen Zusammenhalt und schaffen res-
sourcenschonende Gemeingüter. In Parks, im öffentlichen Raum und dem Bus
bringen sie tagtäglich Menschen miteinander in Kontakt, deren Lebenswelten
unterschiedlich sind. Fehlen derartige verbindende öffentlichen Räume und ist
das Schulsystem klar nach sozialen Schichten getrennt, erhöht sich die Gefahr
von Polarisierung und gesellschaftlicher Spaltung.
Konkrete politische Entscheidungen legen fest, welche Möglichkeiten Men-
schen haben. Das gilt insbesondere für Infrastrukturentscheidungen, die auf-

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grund ihrer Langfristigkeit in erheblichem Ausmaß die Wege in die Zukunft


bestimmen. Daher sind die Instandhaltung und vor allem die Schaffung neuer
Infrastrukturen umkämpft. Sie sind Ausdruck unterschiedlicher Interessen und
Leitbilder. Hier zwei Beispiele:

(1) Lange wurde in den konservativen Wohlfahrtsregimen Deutschland und


Österreich der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen abgelehnt, weil sie
die familiäre Erziehung untergraben würden. In den letzten Jahren wurden sie
dann in beiden Ländern ausgebaut, auch um die Beteiligung von Frauen am
Arbeitsmarkt zu erhöhen. Tatsächlich ist die Erwerbsquote der Frauen in Ös-
terreich stark gestiegen, jedoch vor allem in Form von Teilzeitbeschäftigungen.

(2) Nachhaltige Mobilität braucht sozialökologische Infrastrukturen, die die


Routinen von Menschen, aber auch die Logistik der Unternehmen in Richtung
Ressourcenschonung verändern. Weil Platz beschränkt ist, kommt es vor allem
in Städten zu regelmäßigen Konflikten, sei es beim Ausbau der Radinfrastruk-
tur oder bei Maßnahmen der Parkraumbewirtschaftung. Oft ist die öffentliche
Bereitstellung von Mobilität ineffizient, da parallele, öffentlich finanzierte Infra-
strukturen für motorisierten Individualverkehr (Straßen und Flughäfen) sowie
öffentlichen Verkehr (insbesondere Bahn) weit verbreitet sind. Aktuell werden
auf der Strecke von Wien nach Klagenfurt zwei große Bahntunnel gebaut, die
Autobahn ständig modernisiert und erweitert, und nun sollen auch die Flug-
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häfen in Wien und Klagenfurt ausgebaut werden. Die Bilanz der CO2-Emissio-
nen ergibt sich zurzeit aus den Wahlentscheidungen der Einzelnen: nehme ich
die Bahn sind die Emissionen gering, fahre ich mit dem Auto sind sie hoch,
fliege ich, dann sind sie nochmals höher. Wenn es keine politische Entschei-
dung in Richtung der Dekarbonisierung von Mobilitätssystemen gibt, dann
lastet die Verantwortung für eben diese auf den Einzelnen. Persönlich kennen
wir viele umweltbewusste KollegInnen, doch nur einen Wissenschaftler, der auf
Fliegen verzichtet. Wir kennen PendlerInnen in abgelegenen Regionen, die sich
um die Klimakrise sorgen, und trotzdem mit dem Auto zur Arbeit fahren. Es
liegt weder am Bewusstsein noch am individuellen Willen. Es fehlt unter den
derzeitigen Rahmenbedingungen offensichtlich an Problemlösungskompetenz,
das eigene Wollen, Können und Tun näher zusammenzubringen. Der gleich-
zeitige Ausbau sozialökologischer und der Rückbau fossiler Infrastrukturen ist
notwendig, um Praktiken und Routinen nachhaltig zu verändern.

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Die Kunst des Abwägens

Zukunftsfähigkeit ist eine individuelle und gesellschaftliche Fähigkeit. Indivi-


duell ist die Problemlösungskompetenz, die Fähigkeit, auftretende Probleme zu
lösen – nachhaltig und gerecht. Als Gesellschaft erfordert Zukunftsfähigkeit
passende Institutionen zu schaffen – wie Gesetze und Infrastrukturen – um in
einer Zeit großer Umbrüche Probleme zu lösen. Dafür gibt es keinen „Königs-
weg“, wohl aber gangbare Wege. Mit Hilfe der Kompetenz, zwischen Sichtwei-
sen abzuwägen und Kompromisse schließen zu können, fällt es Einzelnen und
Gesellschaften leichter, wirksame erste Schritte hin zu nachhaltigen Verände-
rungen in Beruf, Politik und Alltag zu setzen.
In Teil 2 Eine Welt im Umbruch wurden konkrete empirische Entwicklun-
gen und Umbrüche unserer Zeit in verschiedenen Dimensionen beschrieben.
Wir zeigten, wie verwoben die Problematiken sind. Die derzeitige Wirtschafts-
weise erwies sich als wesentliche Ursache für fehlende ökologische Nachhaltig-
keit und fehlenden sozialen Zusammenhalt. Sie zu ändern ist schwierig, weil
kapitalistische Marktwirtschaften in vielerlei Hinsicht ein Erfolgsmodell sind
und große soziale und wirtschaftliche Errungenschaften gebracht haben. Es gibt
daher viele beharrende Kräfte, die sich von dieser in der Vergangenheit erfolg-
reichen und vertrauten Lebens- und Produktionsweise nicht verabschieden
wollen. Gleichzeitig legen vielfältige Analysen nahe, dass grundlegende Verän-
derungen, allen voran im Energiesystem, unausweichlich sind. In der aktuellen
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Umbruchszeit ist das einzig Sichere, dass Veränderung passiert. Die Frage ist,
ob und wie sie gestaltet werden kann.
Um Veränderungen zu gestalten, muss man verstehen, warum bestimmte
Entwicklungen stattfinden. Dazu reicht die bloße Beschreibung der gegenwärti-
gen Umbrüche nicht aus. Es braucht Theorien als Erklärungsmodelle, die die
Wirklichkeit aus einer bestimmten Perspektive interpretieren. Sie helfen, Rea-
lität zu ordnen und zu verstehen. In Teil 1 Zukunftsfähige Denkweisen haben
wir vier Leitbilder vorgestellt, die wirtschaftliche Entwicklungen unterschied-
lich interpretieren und erklären: das marktliberale Leitbild sowie jene des
Wohlfahrtskapitalismus, der pragmatischen und der radikalen sozialökologi-
schen Transformation. Das marktliberale und das wohlfahrtskapitalistische
Leitbild verfügen über ein jeweils unterschiedliches, aber in sich kohärentes
Verständnis der Funktionsweise des derzeitigen Wirtschaftssystems. Erfahrun-
gen mit jenem des Wohlfahrtskapitalismus zeigen, dass Kapitalismus und so-
zialer Zusammenhalt unter bestimmten Bedingungen vereinbar sind. Aller-
dings hängt dabei Wohlstand ganz wesentlich von Wirtschaftswachstum und
hohem Ressourcenverbrauch ab. Da beides zentrale Treiber der ökologischen
Krise sind, ist die bloße Kopie des Wohlfahrtskapitalismus im 21. Jahrhundert
nicht nachhaltig.

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Nur das Leitbild der sozialökologischen Transformation stellt sich der Auf-
gabe, die notwendigen weitreichenden wirtschaftlichen Veränderungen einzu-
leiten. Es sieht die Notwendigkeit eines Übergangs hin zu neuen Produktions-
und Lebensweisen vor, die sich wesentlich von der derzeitigen Wirtschaftsweise
unterscheiden. Pragmatische VertreterInnen dieses Leitbilds sehen die Mög-
lichkeit, im bestehenden System mit Hilfe von Grünem Wirtschaftswachstum
sozialen Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit zu erreichen. Bis heute
gibt es allerdings weltweit keine absolute Entkopplung von Wirtschaftswachs-
tum und Ressourcenverbrauch. Die Widersprüche zwischen sozialer, ökologi-
scher und ökonomischer Entwicklung bleiben bestehen. In radikalen Versionen
einer sozialökologischen Transformation liegt der Fokus auf grundlegenden
Alternativen, welche aber allzu oft in Nischen verharren. Es fehlt in der Regel
die Idee, wie unter den gegebenen Machtverhältnissen der Übergang zu einer
anderen Wirtschafts- und Lebensweise auf demokratischem Weg erfolgen
kann.
Kein Leitbild bietet alleine die Lösung. Die Phänomene, die wir in diesem
Buch beschrieben haben, sind zu komplex und zu widersprüchlich für einfache
Antworten. In einem Denkkollektiv gefangen zu bleiben oder einzig einem
Leitbild zu folgen, greift auf jeden Fall zu kurz. Anderen Sichtweisen überhaupt
die Legitimität abzusprechen, führt zu Dogmatismus und untergräbt Zu-
kunftsfähigkeit. Wichtige Aspekte der Wirklichkeit werden nicht berücksich-
tigt, was sich langfristig rächt – wie dies im Wohlfahrtskapitalismus mit ökolo-
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gischen Problemen passierte. Diese Gefahr wird durch die Tendenz unterstützt,
in „Blasen“ Gleichgesinnter zu verharren. Demgegenüber ist Zukunftsfähigkeit
die Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven und Positionen zu kennen, ernst
zu nehmen, abzuwägen und danach Entscheidungen zu treffen. Dieser Ent-
scheidungsprozess läuft in vier Phasen ab: (1) Nicht alle Perspektiven sind legi-
tim – das zeigt die Diskussion um Klimawandelskepsis. Es ist Aufgabe demo-
kratischer Gemeinwesen, in demokratischer Willensbildung und mit Hilfe der
Wissenschaft die Grenze zwischen legitimen und nicht-legitimen Sichtweisen
zu ziehen. (2) Mehrere legitime Perspektiven zu berücksichtigen, erweitert den
Horizont und schafft Raum für Neues. Doch nicht alle Theorien sind gleich
relevant für alle Fragestellungen. Minskys Theorie der Finanzkrisen hilft bei-
spielsweise nicht, den Reboundeffekt zu erklären. Sie beschäftigt sich einfach
mit anderen Themen. Es gilt daher, für eine bestimmte Fragestellung nicht-
relevante Theorien auszuscheiden. (3) Die diversen Perspektiven müssen vor
dem Hintergrund empirischen und theoretischen Wissens bewertet werden.
Unsere Analyse der Finanzialisierung zeigte, dass in diesem Kontext Minskys
Theorie gut geeignet ist, die Instabilitäten auf globalen Finanzmärkten zu erklä-
ren. Sie kann dies zum Beispiel besser als die Markteffizienzhypothese. (4) Auf
Grundlage der Bewertung des Erklärungsgehalts unterschiedlicher Theorien
und Modelle können konkrete individuelle, unternehmerische oder politische

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Entscheidungen getroffen und Lösungen umgesetzt werden. Unterschiedliche


Theorien legen unterschiedliche Handlungsoptionen nahe, die für unterschied-
liche Gruppen unterschiedliche Konsequenzen bedeuten: zum Beispiel können
Finanzmärkte streng reguliert oder möglichst weitgehend liberalisiert werden –
letzteres stärkt Vermögende, destabilisiert jedoch das Finanzsystem und kann
in Folge durch Krisen zu sozialen Verwerfungen führen; Bildung kann kom-
modifiziert oder als öffentliches Gut verstanden werden – letzteres ermöglicht
soziale Mobilität und Teilhabe, ersteres fördert Elitenbildung.
Entscheidungsprozesse sind Prozesse des Abwägens. Die Kunst des Abwä-
gens besteht darin, die empirischen Fakten, die zur Analyse einer konkreten
Situation, eines Problems, zur Verfügung stehen, zu nutzen. Und zwar in den
oben angesprochenen vier Schritten. Innehalten und Reflektieren hilft, keine
vorschnellen Schlüsse zu ziehen, mehrere Meinungen zu hören, erst einmal
über ein Problem nachzudenken, sich zu informieren und Orientierungswissen
zu sammeln. Zumeist dient das Aneignen von Wissen nicht dem Aufstellen
universell gültiger Theorien, sondern soll konkrete Probleme erklären und zu
ihrer Lösung beitragen. Es soll in bestimmten Kontexten handlungsfähig ma-
chen. Welches Wissen dafür nützlich ist, hängt dann wesentlich vom jeweiligen
Problem ab, das es zu lösen gilt: zum Beispiel dem Umgang des Unternehmens
mit seinen Zulieferern aus dem brasilianischen Regenwald, den Vorschlägen
zur Verkehrsberuhigung in der Nachbarschaft oder dem Umgang der Univer-
sität mit Themen der Nachhaltigkeit. Es gilt, je nach Kontext und Problem die
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Entscheidungsspielräume auszuloten und Handlungsoptionen zu identifizieren:
Was sehe ich als problematisch? Was trägt zu dieser Entwicklung bei? Wie kann
ich mit meiner Entscheidung Einfluss nehmen? Wessen Interessen dienen be-
stimmte Entscheidungen? Und wie werden Handlungsspielräume einge-
schränkt? Dort, wo man selbst für sich den sinnvollsten Handlungsspielraum
sieht, soll die eigene Verantwortung wahrgenommen werden, sei es beim Ein-
kaufen, an der Universität, im Beruf oder im Ehrenamt. Es kommt auf je-
den/jede Einzelne/n an, denn auch die Lösung „kleiner“ Probleme kann einen
Beitrag hin zu großen Veränderungen leisten.
Marktliberale sind optimistisch, dass die individuellen Leidenschaften, ja
sogar Laster und Privilegien, in Marktgesellschaften zum Allgemeinwohl bei-
tragen. Selbst wenn Einzelne eigennützig agieren, kommt es durch eine „un-
sichtbare Hand“ zu einem gesamtgesellschaftlich wünschenswerten Ergebnis.
Doch sie kann auch in ausgeprägtem Egoismus enden, wie Blühdorn für aktu-
elle Entwicklungen hin zu einer „zweiten Emanzipation“ zeigt, in der Eigenver-
antwortung als Selbstbezogenheit und Egoismus missverstanden wird. Dann
wird aus dem hohen Gut der Selbstbestimmung ein Problem. Unter den gege-
benen Umständen, in einer Zeit der neoliberalen Globalisierung, hat das
marktliberale Leitbild die Aufmerksamkeit ganz auf individuelle Strategien
sowie marktfördernde wirtschaftspolitische Instrumente gelegt.

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Die aktuellen Transformationen brauchen jedoch systemische Veränderun-


gen – und dazu braucht es andere Schwerpunktsetzungen. Ein sozioökonomi-
scher Zugang, wie er den Leibildern des Wohlfahrtskapitalismus und der so-
zialökologischen Transformation zugrunde liegt, untersucht in erster Linie
nicht individuelle Strategien, sondern die vielfältigen Institutionen und Routi-
nen, die zu regelmäßigen und dauerhaften Praktiken führen: Die allermeisten
Menschen nehmen in der Früh immer das gleiche Verkehrsmittel, sie wählen
nicht täglich neu. Die allermeisten Menschen haben ihr Energieversorgungs-
unternehmen, und nehmen nicht täglich Preisvergleiche vor. Dieser sozioöko-
nomische Fokus auf Institutionen ist wichtig, um Möglichkeiten und Grenzen
von Handlungsspielräumen zu erkennen. In Zeiten rasanter Veränderung ist
die Fähigkeit einer Gesellschaft, passende Institutionen, allen voran Gewohn-
heiten und Infrastrukturen, zu schaffen, besonders bedeutsam.
Der Ausbau der sozialökologischen Infrastruktur ist eine besonders zu-
kunftsfähige Strategie. Sie kompensiert nicht nur monetäre Ungleichheiten,
sondern schafft auch neue Gemeinsamkeiten. Statt auf nachhaltigen Konsum
und damit das Wählen am Markt zu setzen, ermöglichen Infrastrukturen die
Veränderung von Routinen. Sie wirken ökologisch und sozial. Die Alltagsöko-
nomie schafft eine für alle gleiche Infrastruktur und bringt Menschen zusam-
men. Alle profitieren von funktionierenden Nachbarschaften und regionalen
Wirtschaftskreisläufen: belebte Dorf- und Stadtteilzentren, mit Pflege- und
Erholungsangeboten nahe am Wohnort – das ist ein Bild zukunftsfähigen Wirt-
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schaftens. Die Stärkung des Gemeinsamen, die Bildung von Nachbarschaften
und Gemeinschaften, zu denen Menschen dazugehören und in denen sie sich
wohlfühlen, schafft sozialen Zusammenhalt.
Die Klimakrise, die Regulierung der globalen Finanzmärkte und das Ver-
meiden militarisierter geopolitischer Auseinandersetzungen sind kollektive
Herausforderungen, die durch individuelles Handeln alleine nicht bearbeitet
werden können. Sie brauchen gemeinschaftliches Handeln. Individuelles Wäh-
len am Markt ist reversibel: Ich kann mich heute für dieses und morgen für
jenes Produkt entscheiden. Die Entscheidung für bestimmte Routinen, Prakti-
ken, Institutionen und Infrastrukturen ist hingegen in viel größerem Ausmaß
irreversibel. Das gilt vor allem für Infrastrukturen, die Jahrzehnte Bestand ha-
ben. Investitionsentscheidungen, die begrenzte Mittel verteilen, bestimmen,
welche Wege in die Zukunft eingeschlagen werden. Hier vier Beispiele: Die
Entscheidung, weiterhin in fossile Infrastrukturen wie Flughäfen und Autobah-
nen zu investieren, bindet Ressourcen, die für den Ausbau von Bahn und Stadt-
kernerneuerung fehlen (vgl. Zukunftsfähige Umwelt). Die Entscheidung der
Europäischen Union, einen gemeinsamen Währungsraum ohne wirtschaftspo-
litische Koordinierung zu schaffen, führt zu langfristigen ökonomischen Insta-
bilitäten und sozialen Verwerfungen (vgl. Zukunftsfähige Wirtschaft). Weitere
detaillierte Wirtschaftsabkommen, wie die derzeit verhandelten Handels- und

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Investitionsabkommen engen die Möglichkeit nationaler Entscheidungsträger-


Innen ein, eigene Entwicklungswege zu beschreiten (vgl. Zukunftsfähige Welt-
ordnung). Die Entscheidung, Bildung als Ware zu betrachten, untergräbt lang-
fristig den sozialen Zusammenhalt (vgl. Zukunftsfähige Gesellschaft).
Entscheidungen schaffen Rahmenbedingungen. Zukunftsfähige Entschei-
dungen schaffen neue Möglichkeiten für den/die Einzelne, indem sie erst die
Freiheit eröffnen, Dinge anders – nicht nur schneller, besser und effizienter – zu
machen: Im ländlichen Raum macht zum Beispiel erst ein passendes Angebot
den Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel möglich; erfolgreiche regionale
Unternehmen und Grenzen für Sozial- und Umweltdumping ermöglichen eine
regionale Kreislaufwirtschaft, die Transportwege verkürzt.
Bei allen Veränderungen gibt es in der Regel auch Widerstand von jenen,
die vom Status Quo profitieren. Daher braucht es Analysen von Machtverhält-
nissen. Wir identifizierten zwei Machtkomplexe als besonders einflussreich:
den fossilen und den finanzwirtschaftlichen. In den vergangenen Jahrzehnten
versuchte die Nachhaltigkeitspolitik, zusammen mit diesen Lösungen zu fin-
den. Die Bilanz ist bescheiden, wenn nicht negativ: Der fossile Machtkomplex
blockiert die Energie- und Mobilitätswende, der Machtkomplex der Finanz-
wirtschaft die Stärkung einer sozial gerechten Realwirtschaft. Es ist zu befürch-
ten, dass es bei der derzeitigen Konzentration von wirtschaftlicher, politischer
und medialer Macht schwer bleibt, nachhaltige und gerechte Rahmenbedin-
gungen für eine zukunftsfähige Wirtschaftsweise zu schaffen. Es braucht eine
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Beschränkung dieser Machtkonzentration durch Gesetze, Steuern und andere
Maßnahmen, um ihre Einflussnahme auf langfristige Entscheidungen zu ver-
ringern. Und es braucht Unterstützung für jene Branchen, die alternative,
nachhaltige Geschäftsmodelle entwickeln, die zwar geringere, dafür aber län-
gerfristige Renditen ermöglichen.
Doch nicht nur Machtkomplexe, auch breite Bevölkerungsschichten ver-
halten sich konservativ, das heißt bewahrend. Die Sorge vor unkontrollierbaren
und gefährlichen Veränderungen ist groß, besonders, wenn diese rasant voran-
gehen. Es gibt Angst vor Verlust, Veränderung wird als Bedrohung erlebt. Da-
her müssen gerade in Zeiten des Umbruchs neue soziale Sicherheiten geschaf-
fen werden. Die VerliererInnen der Globalisierung brauchen monetäre Unter-
stützung und andere Förderungen, um ihre gesellschaftliche Teilhabe zu ge-
währleisten. Nur so entsteht die Bereitschaft, Veränderungen mitzutragen und
Neues zu wagen. Gibt es gesellschaftliche Akzeptanz für eine Kultur des Expe-
rimentierens, dann können Pioniere des Wandels und regionale Wirtschafts-
kreisläufe gefördert sowie wirtschaftspolitische Instrumente wie CO2-Steuern
und Kapitalverkehrsmanagement ausprobiert werden.
Karl Polanyi hat das Spannungsverhältnis von Verbesserung und Beheima-
tung untersucht, welches Transformationsprozesse in Marktgesellschaften be-
gleitet. Rasante wirtschaftliche Veränderungen führen zu kulturellen Umbrü-

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chen wie neue Geschlechterrollen, Digitalisierung und Kommodifizierung. Als


Gegenbewegung verstärkt sich das Bemühen, das Bestehende zu schützen und
die gewohnte Lebensweise beizubehalten. In einer zunehmend individualisier-
ten Welt will man weiterhin irgendwo dazugehören. Familie, Freunde und die
bekannte Umgebung geben Sicherheit, wenn der Arbeitsplatz gefährdet und der
eigene Lebensstil, das Einfamilienhaus, Auto und Konsumverhalten in Frage
gestellt wird. Konservatives Denken gewinnt in solchen Situationen oftmals an
Bedeutung, kulturelle und religiöse Traditionen erleben eine Renaissance.
Gleichzeitig sind Veränderungen unvermeidlich. Problemlösungskompetenz
heißt, diesen Widerspruch zu bearbeiten. Die BefürworterInnen von Verände-
rung wohnen überwiegend in Städten, sind individualistisch ausgerichtet, welt-
offen und haben ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein – und sie verbrauchen
überdurchschnittlich viele Ressourcen. Die BewahrerInnen wohnen oftmals im
ländlichen Raum. Ihr Leben ist kleinräumiger strukturiert, ihre Solidarität ist
auf die Umgebung ausgerichtet und ihr Bemühen ist, hart Erkämpftes nicht
aufgeben zu müssen. Umweltschutz ist weniger wichtig – ihr Fußabdruck ist
trotzdem oftmals geringer als der der kosmopolitischen Mittelschicht. Diese
kulturellen Milieus leben in getrennten Welten, sie kommunizieren selten.
Verteilungskämpfe werden heftiger. Deshalb braucht es neue Ansätze des Mit-
einanders, die von mehr Bescheidenheit und Respekt ausgehen: Sätze wie „So
haben wir es immer schon gemacht, deshalb ist es gut“, müssen ebenso hinter-
fragt werden, wie die BefürworterInnen von Veränderung mehr Empathie für
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den Wert des Bewahrens in Zeiten „großer Beschleunigung“ brauchen. Verän-
derungsbereitschaft setzt voraus, sich sicher fühlen zu können. Die Bedeutung
einer nachhaltigen Gewährleistung sozialer Absicherung wurde lange Zeit in
der Umweltpolitik unterschätzt. Wir meinen, dass eine neue Balance aus Ver-
ändern und Bewahren gelingen kann, wenn sich die gesellschaftliche Aufmerk-
samkeit der Absicherung des sozialen Zusammenhalts, dem Respekt vor kultu-
reller Verschiedenheit und ökologischer Nachhaltigkeit zuwendet. Ökonomie
muss wieder in Gesellschaft und Natur eingebettet werden. Institutionelle
Schritte in diese Richtung sind zum Beispiel strikte Regeln für Finanzmärkte,
ein Rückbau der fossilen Infrastruktur und eine Abkehr von einer Globalisie-
rung, die lokale und politische Handlungsspielräume beschränkt.
Immer wieder sind wir im Laufe des Buches auf die Herausforderung gesto-
ßen, einseitige Sichtweisen zu überwinden. (1) Wir begannen unsere Überle-
gungen mit dem Dilemma, dass der Erfolg des derzeitigen Wirtschaftssystems
zu einem zentralen Problem zu werden droht. (2) Wir zeigten, wie der Wohl-
fahrtskapitalismus die Schwäche des liberalen Kapitalismus behob, und kapita-
listisches Wirtschaften mit sozialem Zusammenhalt vereinbar machte. Und wie
dieses Modell angesichts der fehlenden ökologischen Nachhaltigkeit an Gren-
zen stieß. (3) Doch auch die Ansätze für eine sozialökologische Transformation
entkommen der Einseitigkeit nicht. Einer oftmals klaren Problemanalyse stehen

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fehlende pragmatische Ansätze gegenüber, wie der Übergang zur vorgeschlage-


nen zukunftsfähigen Wirtschaftsweise von statten gehen soll.
Kein Leitbild, kein Denkkollektiv, keine Perspektive bietet „die“ Lösung.
Und trotzdem gibt es drei konkrete Ansatzpunkte, mit denen wir dieses Buch
schließen: (1) Sowohl in Wissenschaft als auch Gesellschaft braucht es mehr
Räume des Dialogs und der Debatte, um Brücken zwischen Denkkollektiven zu
bauen. Dies könnte Mitglieder von Denkkollektiven offener machen, die vorge-
stellten Leitbilder schärfen und vielleicht auch neue entwickeln. (2) Gesell-
schaftlich ist eine neue Kunst des Abwägens gefragt zwischen Individualität
und Solidarität, zwischen Vielfalt und Gleichheit. (3) Und schließlich braucht
es einen neuen wirtschaftspolitischen Fokus, weg von Themen des nachhaltigen
Konsumierens hin zu Fragen der Gestaltung sozialökologischer Infrastruktu-
ren.

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