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Bonn Do, Sep 15th 2022, 19:27

Anselm Haverkamp
Never but. Little void. 
Becketts Negativität, Adornos kleinste Differenz

Becketts späte Prosastücke sind nicht übersetzbar im üblichen Sin-


ne des Übersetzens, und seine Gewohnheit, sie zuerst auf Franzö-
sisch, dann auf Englisch zu schreiben, belegt die Unmöglichkeit
des Übersetzens im üblichen Sinne. Das ist in dieser Phase gra-
vierender als für die frühen Romane, in denen die Narration über
die darunterliegende, gründlichere Differenz der Sprachen hinweg-
täuscht. Was in diesem Neu- oder Parallel-Schreiben passiert, ist
nicht so leicht vorab und generell zu sagen, weil es erst sichtbar
wird in dem, was in der Doppelnatur dieser Texte jeweils anders
auf- und vorgeführt wird. Ich beschränke mich bei Lessness, einem
der kurzen Texte, die Beckett nach der Verleihung des Nobelpreises
1965 programmatisch, wie ein Siegel auf sein der Vollendung ent-
gegensehendes Gesamtwerk veröffentlicht hat, auf den englischen
Text. Das verlagstechnische »originally published in French« ist
grob irreführend; es erweckt den Eindruck, die englische Fassung
sei bei aller offenbaren Titeldifferenz von Sans und Lessness sekun-
där.1 Ich will nicht umgekehrt behaupten, der französische Text
sei nur ein Vorlauf für die englische End-Fassung; eher erscheint
er im Lichte dieser wie ein Negativ zum Positiv. Was hieße, dass
beide in eine weitere Sprache zu übersetzen ein Unding an Syn-
these erforderte. Der Grund für das in sich komplexe Verhältnis
der zweisprachigen Ausführung erschließt sich erst im Rückblick
von der zweiten, englischen Fassung – welche die Übersetzung der
ersten nur überlagern könnte. Auf sie beschränke ich mich deshalb

1 Samuel Beckett, Sans, Paris 1969; ders., LESSNESS, London 1970 (Reihe Signa-
ture 9), im Folgenden nach Seitenzahlen dieser Ausgabe im Text zitiert. Die deut-
sche Übersetzung von Elmar Tophoven trägt den Titel Losigkeit und erschien als
Hörspiel (Ursendung WDR 1. 1. 1971, Regie Martin Esslin), Frank­furt/M. 1971.
Unbeschadet der Autorisierung trägt die deutsche Übersetzung zur folgenden
Analyse nur indirekt bei. Die erfolgreiche Sammlung The Complete Short Prose
1929-1989, New York 1995, S. 197-201, normalisiert das Original durch das standar-
disierte Schriftbild irreführend.

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in einem ersten Schritt, ohne die Rücksicht auf den Entwurf des
französischen Sans einzuschließen.

I.
Das englische Lessness, in der Originalausgabe von Calder & Boyars
durch Kapitalisierung des Titels LESSNESS ent-grammatisiert, be-
zeichnet einen Stand gesteigerter, in und auf sich zurückgezogener
Negativität durch emphatische, suggestive Unbegrifflichkeit. Es ist
eine metasprachliche Geste, mit der die Ȇbung der Dekompo-
sition«, die J. M. Coetzee in diesem Text erkannt hat, die proto-
grammatische Reduktion der Sprachmaterie in ihrer Begrenztheit
überspannt und qua Überspannung in der Begrenztheit festhält.2
Dass dieses Fest-Halten (in existentialistischer Emphase ein Aus-
Halten) den sprachlichen Schreib-Hang der Negativität als einen
relativen, gemilderten, statt des üblicherweise absoluten erweist,
bewahrt Lessness vor der Allegorie, in die Adorno Becketts Endgame
»überspringen« sah – in einer Bewegung, die er in Benjamins Trau-
erspiel vorfand und die ihn in der durch die barocke Provokation
geprägten Ästhetik der zwanziger Jahre – in der Ästhetischen Theorie
unter dem Stichwort »Situation« verhandelt – befangen hielt.3 Die
verdoppelte, in der Dekomposition zurückgespiegelte Negativität
ist eine in sich zurückgenommene, in der Rücknahme zwar durch-
aus (quasi) dialektische Negativität, aber keine auf Fortdauer der
Dialektik gestellte, sondern in der Auf-Dauer-Stellung – ohne Um-
schlag – festgehaltene (Benjamins »Dialektik im Stillstand«).
Coetzee hat Lessness als »exercise in decomposition« formal be-
wiesen: als de-komponierte Form, welche die Form in der Zurück-
nahme gleichwohl, reduziert, bewahrt. Im Unterschied zu der für
den modernen Roman insgesamt charakteristischen Tendenz zur
elliptischen, auf Unendlich gestellten Öffnung der Syntax, in der
minimalste Narrativität mit der alltäglichen Sprache abgleichbar

2 J. M. Coetzee, »Samuel Beckett’s Lessness: An Exercise in Decomposition«, in:


Computers and the Humanities 7:4 (1973), S. 195-198.
3 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften,
Bd. I.1., hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frank­furt/M.
1974, S. 203-430, hier S. 406. Adornos Benjamin-Lektüre prägt seine Einschätzung
Becketts als Summe moderner Poetik bis in die Ästhetische Theorie, Frank­furt/M.
1970, S. 36 f.

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bleibt, exponiert, pointiert, insistiert Lessness auf einer wohlkal-
kulierten Endlichkeit, in der eine begrenzte Anzahl von Wörtern
der ersten Hälfte des Textes in der zweiten Hälfte exakt wiederholt
wird: »Die Wörter 770-1538 stellen sich als keine anderen heraus als
die Wörter 1-769.«4 Wobei zu bedenken ist (deshalb bedarf es des
Nachrechnens), dass die rechnerisch erste Hälfte von der zweiten
in keiner Weise abgetrennt auftritt. Ihre Wiederholung ist nicht
explizit markiert, sie über-pointiert nur, was im ungeschieden wei-
terlaufenden Text quasi ana-grammatisch unter-markiert geblieben
ist, allein in zusätzlicher, forcierter Reflexion (quasi an-ästhetisch)
feststellbar ist und in dieser unkenntlichen Positivität mit einer zu-
sätzlichen, mathematischen Pointe aufwartet: 769 ist nämlich eine
Primzahl. Was in Becketts früherem Werk existentielle Negativität
ausstrahlte (womöglich ein Missverständnis irischen Humors), er-
scheint nach Imagination Dead Imagine (1965) auf einen Sprach-
zustand zurückgebracht, der einer phänomenologischen Redukti-
on gleicht. Für den Phänomenologen Wolfgang Iser indiziert sie
eine Tieferlegung der allfälligen psychohistorischen Motive, die
den Roman der Moderne beherrschen. Unterhalb dieser von der
Menge bemühter Interpreten eruierten Motivlage in Becketts Werk
brächte die späte Prosa die phänomenalen Konstitutionsbedingun-
gen ihrer Wirkung mit an den Tag.5 So dass sich die interpretative
Crux, exemplarisch die des Endspiels, auf einen Spagat ausweitete
zwischen Aspekten existentieller Betroffenheit auf der einen Seite
und purem aleatorischem Spiel auf der anderen Seite. In der einen
Hinsicht, der bekannten Schwierigkeit, »das Endspiel zu verste-
hen«, lässt sich der Wirkungsmodus in allen psychoanalytischen
Abschattungen nachvollziehen, in der anderen Hinsicht lässt sich
die unabsehbare Menge der Möglichkeiten qua random permuta-
tion zu einem Computer-Spiel von »possible lessnesses« erweitern
(was obendrein auch noch neurologische Grundlagen offenbaren
können soll).6

4 Coetzee, »Samuel Beckett’s Lessness«, S. 195 [Übers. A. H.].


5 Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer An-
thropologie, Frank­furt/M. 1991, S. 416-425; ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhe-
tischer Wirkung, München 1976, S. 343-347.
6 Elizabeth Drew, Mads Haahr, »Lessness. Randomness, Consciousness and Mean­
ing«, Dublin 2002, 〈https://www.random.org/lessness/paper/〉, letzter Zugriff
22. 3. 2018; die darauf beruhende Website »Possible Lessnesses« ist aus Copyright-

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Nun lässt sich bei aller abstrakten Nachkonstruierbarkeit der
in diesem Text genutzten und gegen die hergebrachten narrativen
Teleologien gewandten, diese dekomponierenden Wort-Konstella-
tionen ein beträchtlicher Aufwand an semantischen, ja sogar moti-
vischen Resten nicht leugnen. Er überlagert die aleatorische Ober-
fläche und negiert den Zufall der depotenzierten Wortaufkommen
zugunsten des irreduziblen Falls all-fälligen Endens. Schon die
in Endgame (1958) ins Werk gesetzte »Inversion von Manifestem
und Latentem« zeigte das in Imagination Dead Imagine explizit ge-
machte und zur Vorstellung gebrachte meta-poetische Gerüst in
seiner vollen Ausprägung, wobei der »latente Grund der sich im
Bewußtsein manifestierenden Vorstellungen des Zuschauers vom
Ende« zum tragenden Thema geworden war.7 Lessness führt die
proto-syntaktische Konstitution dieses in Endgame thematisch ge-
machten Hangs zur Negation als in der negierten Negation selbst
liegenden, in ihr konstitutiv latenten Sprachhang vor. Latenz wäre
– so das Fazit der Sprach-Übung Lessness – der proto-grammatisch
manifeste Sprachhang der Negation. Doch ich greife vor.
Zunächst, der kategorisch einschneidenden Maxime »Vor-
stellung tot, stell Dir vor« gemäß, zum Titel-Gegenstand, dem
Wortbildungsrest -lessness. Schon der erste Abschnitt lässt an dem
exemplarischen, der emblematischen Funktion des Titels entspre-
chenden Paradigma der ausgebreiteten Varianten von lessness kei-
nen Zweifel: »All sides endlessness« steht im zweiten Satz, wobei
nur wegen der Satz-Schlusszeichen (Punkte) hier überhaupt von
Sätzen gesprochen werden kann. Kommata, so nötig und nützlich
sie wären, kommen nicht vor. Schon die programmatische Rei-
hung von Imagination Dead Imagine konnte nur noch in einem
sehr kolloquialen Verständnis die unter ihr verblassende Syntax in
Erinnerung halten; von »shattered articulation« sprach Christopher
Ricks in seiner Bestandsaufnahme von Beckett’s Dying Words.8 Diese

Gründen nur mit eingeschränktem Zugriff zugänglich: 〈https://www.random.


org/lessness/〉, letzter Zugriff 22. 3. 2018.
7 Gabriele Schwab, Samuel Becketts Endspiel mit der Subjektivität. Entwurf einer Psy-
choästhetik des modernen Theaters, Stuttgart 1981, S. 111.
8 Christopher Ricks, Beckett’s Dying Words, Oxford 1993, S. 45; eine der wenigen Er-
wähnungen der späten Prosa. Ich zitiere Ricks’ brillante, einfallsreiche Studie, weil
sie mit ihrer weithin geteilten Mainstream-Pointe auf eine charakteristische Weise
in die Irre geht. Kein Wort stirbt bei Beckett, im Gegenteil, sie leben fröhlich fort.

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Art der Dramatisierung will der mit Ricks bekannte, von ihm aber
offenbar hinreichend genervte Beckett in Lessness (einem Text, mit
dem Ricks seinerseits nicht viel anzufangen wusste) nicht bestä-
tigen. Denn weder in Imagination Dead Imagine noch in Lessness
wird Syntax zerstört, sondern als völlig intakte, idiomatisch mit
der größten Perfektion getunte Form auf einen präzisen, phänome-
nologisch nachvollziehbaren Grundriss reduziert. Lessness offenbart
die Reduktion im negativen Zug der phänomenologischen Opera-
tion als eine sprachliche Bedingtheit, die genauerhin proto-gram-
matischer, Grammatik formierender Natur ist.
So hat schon das erste Wort, das emblemartig isolierte anfäng-
liche »Ruins«, wiewohl es und indem es den Abbau thematisch in
die Wege leitet, das Zeug zur ausgewachsenen Allegorie, ja es zitiert
einen Inbegriff von Allegorie: Umgeben – »All sides« im nächsten,
zweiten Abschnitt – von »endlessness« (S. 7, wiederholt S. 20), ruft
es in wenigen Strichen die klassische Form der tota allegoria auf
den Plan, um diese sodann einschließlich des ihr eigenen Endes zu
destruieren. Ein wohl bekanntes Bild deutet sich an, aber die An-
deutung leidet an keiner sprachlichen oder imaginären Beeinträch-
tigung; im Gegenteil wird sie von einer Flut von phänomenalen
Merkmalen begleitet, an denen die sprachliche Seite des Bildes als
ein Moment von Begriffs-Bildung fassbar wird. Dabei bleibt das
Gros der übrigen Elemente des Textes ohne weitere syntaktische
Hilfestellung durch Satzzeichen, besteht es kaum je in mehr als
Wort-Paaren, in denen zwei minimal aufeinander bezügliche oder
beziehbare Wörter die aus der Aleatorik herausragenden Kompo-
sita von lessness präparieren und durchspielen. So folgt gleich am
Ende des ersten Abschnitts »issue-less«, was einen idealtypischen
allegorischen Sekundärrahmen, die continuatio Quintilians, auf-
ruft, und die daraus abgeleiteten contracta Baumgartens noch dazu
(dessen wird sich Beckett kaum klar gewesen sein), nämlich: kon-
tinuierlich durchgeführte lessness als das gegenstandsfreie Prinzip
syntaktischer Verkürzung.
Die gegenstandslose – issueless – Assoziation der Worte legt in
der syntaktischen Verkürzung qua lessness eine unbestimmte Men-
ge sekundärer, syntaktisch noch nicht oder nicht mehr manifester
Bezüge frei: sie suggeriert latente Bezüge. Die Allegorie der Ent-
Leerung indessen ist absolut, lückenlos und wiederholungsresis-
tent; sie füllt sich nicht (mehr) durch quer einlaufende, seien es
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zufällige oder strategische Manipulationen an der lexikalischen Ma-
terie. Aber der fingierte Zufall hat nicht verhindert, ja er zeigt sich
nun erneut imstande (und beweist sich auf die Weise als Fiktion),
dass zwei syntaktisch ergiebigere, über die durchgehende minimale
Selbst-Kontextualisierung hinausführende Wort-Passagen aus dem
Assoziationsfluss auftauchen und die phänomenale Spurenlese der
minimalen Bild-Fragmente bei weitem übertreffen und sie womög-
lich hinterrücks neu motivieren. Es sind zwei unschwer aufeinander
bezügliche Passagen, welche die Frage aufwerfen, wie und zu wel-
chem Ende die aleatorisch entleerte, bis auf spärlichste syntaktische
Verankerungsreste abgebaute Form der »Losigkeit« die Nachbilder
allegorischer Fülle, die sie aufruft, intendiert. Adorno traute ihnen
nicht, und wer wollte es noch, nachdem Becketts Ernst in der Sache
– Endgame trägt diesen Ernst ostentativ im Titel – überzeugt hat.

II.

Endgame ist der offenbare, qua »end-lessness« identifizierbare Be-


zugstext für Lessness. Eine erste der beiden kurzen (in der zweiten
Hälfte unmodifiziert wiederholten) Einlagen macht den Bezug un-
ausweichlich, indem sie ein von Stanley Cavell in Endgame erkann-
tes und stark gemachtes biblisches Motiv aufgreift (hätte Cavell
Lessness damals gelesen, hätte er es zweifellos wiedererkannt), Noah
und seine Arche: »He will curse God again as in the blessed days
face to the open sky the passing deluge« – ein ausgepichter Satz, wie
er im Buche steht (S. 8, wiederholt S. 20, am Ende des Abschnitts).
»He« ist Noah, und die Arche das mythen-reife Paradigma des
primordialen Raum-Konstrukts, das Imagination Dead Imagine
als Imaginationsgrund herauspräpariert hatte. »He« – das einzige
Personalpronomen im Text – bahnt den ersten zu syntaktischer
Normalform gediehenen Satz an, mit dem der dritte Abschnitt
von Lessness die in den beiden vorangegangenen Absätzen mit Fleiß
durchkreuzte Assoziationserwartung normgerechter Satzfolgen für
diesen einen Satz zurücknimmt. Nach dieser Einlage fällt der Text
umgehend in die offene Wortfolge zurück, worin der manifeste Be-
zug auf nicht mehr als zwei Wörter schrumpft, hier: »Little body
grey face […]« (ohne Zeichensetzung).
Was ist Noahs Punkt, der aus der Flut der lessness auftaucht wie
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Land nach der Sintflut? Nach Imagination Dead Imagine kann es
nur die (dort ungenannte) Arche sein, deren Rolle von Hamm,
­Noahs mythischem Sohn im Endspiel, erläutert wurde. Cavell hatte
in Noah den Rest einer Theodizee mit desaströsem Ausgang er-
kannt: »Something has happened in the ark during those days and
nights of world-destroying rain and the months of floating […].
Hamm has seen something in the ark of the covenant. I imagine it
this way.« Cavell, ganz kongenialer Beckett-Leser, antizipiert, ext-
rapoliert (oder kannte doch schon) Imagination Dead Imagine aus
dem selben Jahr wie seine Interpretation (1965). »The covenant is a
bad bargain«, verdeutlicht er die von Hamm ad acta gelegte Theo-
dizee, und sein Fazit ist: »What must end is the mutual dependence
of God and the world: this world, and its god must be brought
to a conclusion.«9 Becketts Schluss in Endgame, Hamm und mit
ihm Ham-let zitierend, sei folglich phänomenologischer, transzen-
dentaler Natur, schließt Cavell wie Iser. Imagination Dead Imagine,
der Grundriss, zeitigt in Lessness eine fundamentale poetologische
Konsequenz, und die wäre grammato-logischer Art.
Wie diese poetologische Konsequenz sich in den grammato-lo-
gischen Weiterungen von Lessness negativ-ästhetisch entfaltet, zeigt
Beckett in einer zweiten, buchstäblich (und das ist keineswegs zu-
fällig) idyllischen Einlage: »Never but imagined the blue in a wild
imagining the blue celeste of poesy« (S. 13, wiederholt S. 19). Das
letzte Wort des eigenwilligen, keinesfalls unklaren Satzes, »poesy«
(wie in Puttenhams Arte of English Poesie von 1589), bringt stellver-
tretend für alle Poetik das ewige Palaeonym poetischer Imaginati-
on in Erinnerung und dessen Wahrnehmungsgrund, das Blau des
himmelblauen Himmels, das keiner Theodizee und keines Regen-
bogens je bedurfte. Reines celeste tönt im nächsten Satz, das Nichts
der Reduktion, das Zentrum des in Imagination Dead Imagine
vorgestellten Ur-Raumes: »Little void mighty light four square all
white« (in vier aneinander angrenzenden Wort-Paaren). Imaginati-
on Dead Imagine ließ allerdings »no question now of ever finding
again that white speck lost in whiteness.«10 Lessness erinnert mit dem
 9 Stanley Cavell, »Ending the Waiting Game. A Reading of Beckett’s Endgame«,
in: ders., Must We Mean What We Say? A Book of Essays, Cambridge 1969, S. 107-
150, hier S. 138, 140.
10 Samuel Beckett, Imagination Dead Imagine, London 1965, S. 14; vgl. Iser, Das
Fiktive und das Imaginäre, S. 421.

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Ur-Raum der Arche und der Brüchigkeit des mythischen covenant
an die dieser kargen szenischen Vorgegebenheit ein-geschriebene
ur-poetische Urszene von des Himmels Bläue (Hölderlins »In lieb-
licher Bläue«) in ihrer alt-latinaten celesten, von Puttenham neu
gefassten Umprägung der Poetik.11 Never the less impliziert, nahe-
liegend, Becketts »never but«, eine zwar ungewöhnliche, aber nicht
unmögliche, hyperbolische Wort-Kombination. Genauer besehen
erinnert Lessness nicht – »never but« –, sondern zitiert die schon in
Endgame beschlossene, in Krapp’s Last Tape kurz darauf (ebenfalls
1958) aufgerufene, an Hölderlin anknüpfende sprachliche Erinnert-
heit als die entscheidende syntaktische Errungenschaft der Dichter
(sie »stiften die Dichter« in Hölderlins Andenken).12 Becketts Poetik
löst sie aus der kryptischen Schale, in der sie ähnlich verborgen
liegt wie ihr mathematisches Analogon, die in der Krypsis der Text-
Teilung beschlossene Primzahl.
»Little void« bringt »poesy« mit sich, zieht sie unmittelbar nach
sich im nächsten Satz-Ansatz, und so erhellt sich (und zwar ohne
dass man dem narrativen Sog der Assoziationen wie dem Gesang
der Sirenen in der Dialektik der Aufklärung erliegen müsste, dort
Urszene der Kunst) die konditionale Zeitlichkeit des syntaktisch
variablen »Never but« am Anfang des Imaginations-Satzes (S. 13
und 19). Dieser lässt sich nun hinterrücks – »never but« – als in die
kleine Lücke – »little void« der Latenz – zurückgetretener Musen-
Anruf identifizieren. Was auf der Text-Oberfläche als ein Nachbild
fragmentierter Narration auftritt, offenbart an den Rändern, in den
mit aufgerufenen Resten des motivischen Untergrunds, die poeto-
logische Verankerung der Wörter in einer proto-grammatischen
Synthesis, die von weit her kommt. Adorno hat auf ihr bestanden
als eigengesetzlicher »Logik des Produziertseins« und sich mit der
Wortwahl der »Logik« der alten prä-grammatischen Metaphorik
angeschlossen, durch die sein Vorbild Valéry die Avantgarde (in der
11 In der Beckett bekannten Übersetzung des Hölderlin-Fragments aus Martin
Heideggers Interpretation »dichterisch wohnet der Mensch (1951)«, in: ders.,
Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 187-204 (frz. Essais et conférences, übers.
v. André Preau, Paris 1958, S. 224-245), lautet der Gedichtanfang »Dans un azur
délicieux«. Beckett hatte diesen Text 1951 auf Anregung von Blanchot selbst zu
übersetzen versucht. In der französischen Version Sans steht unbeeindruckt da-
von wie im Englischen »celeste«.
12 Vgl. Dieter Henrich, Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und
Hölderlin, München 2016, S. 29-38.

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Beckett zu stehen kam) mit der Poetik der Alten versöhnen wollte.
»Als einzige Hoffnung dämmert«, schrieb Adorno anlässlich Be-
cketts unter dem Stichwort »Nihilismus« gegen Ende der Negativen
Dialektik, »daß nichts mehr sei«. Aber, so setzte er nach: »Auch
die verwirft er«.13 Das lässt sich mit dem späten Beckett genauer
sagen, als es Adorno, der Lessness nicht mehr gelesen hat, konnte.
Zwar hätte er Becketts »little void« unschwer als den »Spalt der In-
konsequenz« erkannt, aus dem »die Bilderwelt des Nichts als Etwas
hervor[tritt], die seine Dichtung festhält.« Aber wenn im Negati-
ven der Inkonsequenz »lautlos geschrien [werde], daß es anders sein
soll«, so bezeichnet die »kleinste Differenz zwischen dem Nichts
und dem zur Ruhe Gelangten« doch »die Zuflucht der Hoffnung«
als ein »Niemandsland zwischen den Grenzpfählen von Sein und
Nichts«. Hamlets letztes Wort »the rest is silence« (die Frage »Sein
oder Nichtsein« klingt unfehlbar mit an) hatte vom »Rest« gleich-
lautend mit der »Ruhe« gesprochen, die er semantisch impliziert.
Adorno trifft, sei es nachtwandlerisch, mit der »kleinsten Diffe-
renz« auf »the little void« von Lessness, von »lessness« als »kleinster
Differenz«. Aber er schüttet das Kind mit dem Bade aus, wenn er
Beckett die poetische Hoffnung, die er selbst »die einzige« nennt,
doch wieder nur »verwerfen« sieht. Dass »es anders sein soll«, heißt
ja nicht, dass es – »never but« – je anders sein werde (werden kön-
ne). Revolution ist proto-grammatisch, selbst grammato-logisch,
nicht zu avisieren; sie ergibt sich, so oder so, nicht (ihr U-topos ist
grammatisch per definitionem nicht erfasst).
Adornos Negativität ist eine doppelte, aber der allegorische
Kurzschluss, zu dem ihn Beckett verleitet, ist ein mit viel Kunst,
und allein durch sie, durchkreuzter. Er ist nicht nur überflüssig
und irreführend (irregeleitet wie die existentialistische Beckett-
Konjunktur insgesamt).14 Ihr im strengen Sinne Ästhetisch-Werden
liegt auf einer anderen, zweiten Ebene, nicht in dem allegorische
Evidenz erheischenden Schein mehr oder minder offenbarer Sozial­
verhältnisse, sondern in der als Dialektik durchkreuzten Negati-
vität der Kunst, Beckett nennt sie Lessness. Er präzisiert Adornos
ästhetische Negativität als grammatische »lessness« gegenüber aller
13 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frank­furt/M. 1966, hier und im Fol-
genden S. 371 f.
14 Vgl. Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach
Adorno und Derrida, Frank­furt/M. 1988, S. 92.

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– und das zwangsläufig – ideologisch infizierten Narrativität (die
der Sirenen inklusive). Der Theorie, ästhetischer Theorie, bedarf
diese Negativität als eines paradoxen Erkennens, das sich nicht als
ein sokratisches, besserwissendes Nichtwissen gerieren darf, wie
­Adorno, ratlos, feststellt. Beckett gibt nicht etwa zu wissen, dass wir
nicht wissen, was wir untergründig, durch Erfahrung und, zuneh-
mend, Erfahrungsschwund (im Verlust als Verlust) wissen müssten
(und also gar nicht anders als wissen können). Beckett gibt zu lesen,
zwingt im Lesen nach-zuvollziehen, was in der Negativität ästheti-
scher Erfahrung (die deshalb keine Erfahrung mehr ist und auch
das ästhetische Phantom voller, erfüllter Erfahrung in der Kunst ab-
weist) bleibt. Der von Beckett geschätzte Hölderlin sagte: das stiften
die Dichter; der von ihm zitierte (mit Hamm an-zitierte) Ham-let
hinterließ: der Rest ist Schweigen. Er wird von Beckett beim letzten
Wort genommen, denn das Schweigen ist die verschwiegene Im-
plikatur des syntaktischen Grundes der Latenz, welche Lessness im
»never but« (mit never the less als syntagmatischer Mitgift) offenlegt.
Ästhetisch, mithin, ist die Mit-Gegebenheit der Latenz (Baum-
garten), die in der Negativität, sprachlich abgeschwächt, ein- und
innehält, nicht dialektisch proliferiert (Benjamin). Als »profane Er-
leuchtung« – »himmelblauer Himmel, nachmittags um vier« – mag
sie abfärben und auf ihre geminderte Weise einen attraktiven, den
erträglichsten Modus von Erfahrung mimen.15 Die poetologische
Pointe dagegen, die Beckett seinem Werk in Lessness nachschickt
und deren Adorno sich (Negative Dialektik hin oder her) glücklich
schätzen dürfte, ist die sprachlich »gerettete Hoffnung« (Dialektik
der Aufklärung geschenkt), die aus der diachronen Latenz der Spra-
che in der Synchronie des gegenwärtigen Sprechens die unleugbare
Gegenwart der Tragödie ausmacht und die Kraft der Kunst – never but,
never the less – begründet: »eine Tendenz, ein Trieb, eine Kraft, die
sich gegen die Grenzziehungen richtet, auf denen die normativen
Ordnungen, in den Künsten wie außerhalb von ihnen, beruhen.«16

15 Mimesis durchkreuzt den Ausdruck, dem sie auf die Beine hilft; erfahrbar ist
an der »profanen Erleuchtung« nur, »daß der Eingriff durch Mimesis mißlang«
(Adorno, Ästhetische Theorie, S. 169). Das archaische Palaeonym der Mimesis,
dem Adorno sein durch und durch historisches Recht lassen möchte, steht für
die Substitutionslogik eines »quid pro quo«, mit dem er die proto-grammatische
Konstitution der syntaktischen Synthesis (kurz auch nur: die Sprache) benennt.
16 Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 117.

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