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G. L.

HIPKISS

Illustriert

Titel des spanischen Originals: "La muerte navega".


Autorisierte Übersetzung von B. Pagel.

HPK 2022
In der Serie
»DER KAPUZENMANN«

B ereit s erschienen: In Vorbereitung:

1. Die rote Schlange 5. Menschenhandel


2. Der geraubte Millionär 6. Das Gangster-Nest
3. Nacht der Überraschungen 7. Händler des Schmerzes
4. Der Tod fährt zur See 8. Blut und Perlen
9. Die geheimnisvolle Insel
10. Der verzweifelte Ruf
11. Die Falle
12. Der Tod nimmt Maß
13. Die Dokumente des Anklägers
14. Die Mächte des Furchtbaren
15. Der Palast des Schattens
16. Die grüne Maske
17. Das verfluchte Schloß
18. Die Ernte des Todes
19. Eine entsetzliche Nacht
20. Das vorbestimmte Opfer
21. Die Hochzeit des Kapuzen-
mannes
22. Die Mission der ,Roten Schlange'
23. Die Hochzeitsfeier
24. Das Ende der Mission u. a.

Anmerkung: Die Namen der Personen und die Begebenheiten, die in


dieser Serie geschildert werden, sind vom Autor frei erfunden und be-
rechtigen nicht, irgendwelche Schlüsse auf mögliche Zusammenhänge
zu ziehen.

Printed in Austria
Copyright by E. Schwicker, Zeitschriften-Verlag, Linz a. d. D.
1. Kapitel

DER INSPEKTOR IST MISSTRAUISCHER DENN JE

"Maßgebende Kreise haben mir versichert", und mit diesen Worten ließ
sich Oliver Grimm händereibend seinem Freunde gegenüber in einen Sessel
fallen, "daß wir uns demnächst auf engstem Raum vereint, gegenseitig
mehrere Tage ertragen müssen."
"Auf der ,Caribbian Queen' etwa?" fragte ihn Milton Drake, die Augen-
brauen hebend.
Sein Gegenüber bejahte kopfnickend.
Der Oberkellner des Ballyrood-Klubs stellte unaufgefordert und schwei-
gend eine Flasche Whisky und ein Glas auf den Tisch. Er kannte die
Wünsche der Stammgäste genau, und so brauchte Grimm seinen gewohnten
Whisky gar nicht erst zu verlangen. Milton wartete, bis der Mann wieder
gegangen war; dann sagte er: .
"Ich muß doch den Eindruck gewinnen, hochzuverehrender Freund, daß
Sie Ihre Amtspflichten ganz sträflich vernachlässigen!"

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Der Inspektor hob die Augenbrauen.
"Und was, wenn ich fragen darf, berechtigt Sie zu dieser Meinung?"
"Ein Mann wie Sie", und damit z€ndete sich der Multimillion•r gem•ch-
lich eine Zigarette an, "ein Mann, dessen stadtbekannter Ehrgeiz nur darin
besteht, so gemeingef•hrliche Individuen wie den Kapuzenmann und die
,Rote Schlange' dingfest zu machen, kann sich doch eine Vergn€gungsreise
eigentlich kaum leisten. Die beiden laufen n•mlich immer noch frei herum;
und ohne Flei‚ kein Preis — wenn Sie mir das abgegriffene, deswegen aber
doch ungemein zutreffende Sprichwort nicht ver€beln wollen."
"Und doch", sagte Grimm darauf, "l•‚t sich oft das Angenehme mit dem
N€tzlichen verbinden." Nachdenklich stellte er sein Whiskyglas auf den
Tisch zur€ck.
"Auch hierbei, beispielsweise?" fragte Drake.
"Auch hierbei ... ... beispielsweise!" erwiderte Grimm mit besonderer
Betonung, und fuhr fort:
"Die Erfahrung lehrt mich, da‚ €berall dort, wo der Kapuzenmann auf-
taucht, auch die ,Rote Schlange' zu erscheinen pflegt. Offenbar k„nnen die
beiden voneinander nicht lassen."
Milton meinte mit leiser Ironie:
"Dann sind Sie also sicher, da‚ der Kapuzenmann beschlossen hat, ge-
rade jetzt eine Urlaubsreise zu unternehmen?"
"Wollen Sie etwa das Gegenteil behaupten?" fragte der Polizeibeamte mit
einem raschen Blick.
"Beim Barte des Propheten! Nein! Wie k•me ich dazu, etwas zu behaupten,
wovon ich nichts wei‚. Ich w•re aber recht neugierig zu erfahren, wie Sie
selber zu dieser Annahme kommen?"
Hierauf blickte Grimm seinem Freunde in die Augen und meinte doppel-
deutig: "Shandon hat mir gesagt, da‚ auch Sie sich unter seinen G•sten
befinden werden ... !"
"Ungemein €berzeugend!" bemerkte der andere. "Und weiter ...?"
"Immerhin ist der Kapuzenmann bisher immer dort aufgetaucht, wo Sie
sich — ganz zuf•llig nat€rlich — gerade auch aufgehalten haben!"
"Diese Gedankenverbindung macht Ihrem Scharfsinn Ehre, mein Guter.
Ob sie aber stimmt, erscheint mir sehr zweifelhaft. Mit anderen Worten:
Sie wollen damit andeuten, da‚ ich der Kapuzenmann, oder doch zumindest als
sein ,Lotsenfisch' zu betrachten bin?"
Mit einem L•cheln, das alles andere als gutgelaunt war, antwortete der
Inspektor:
"Der Vergleich ist treffend und originell. Er pa‚t auch zu unserem Fall,
denn allgemein nimmt man doch an, da‚ der Lotsenfisch den gro‚en Wal
seiner Beute zuleitet. Hier ist es nur kein kapuzentragendes S•ugetier des

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Meeres, sondern eine h€bsche Frau, die, wei‚ der Teufel warum, immer mit
einer roten Maske heruml•uft — und der Lotse sind Sie, mein Freund!"
"Oh, diese eint„nigen Anschuldigungen!" meinte Milton. "Ich verdanke
es nur der Tatsache, da‚ sie mir in den letzten Wochen so beharrlich vor-
getragen werden, da‚ meine Empfindsamkeit nicht st•rker leidet. Mit der
Zeit bekommt man eben ein dickes Fell." Er hob sein Glas zum Licht, und
betrachtete behaglich den „lig schimmernden Benediktiner darin. "Es ist aber
doch erstaunlich, wie selbst Leute von so ungew„hnlicher Intelligenz wie Sie,
hochgesch•tzter Freund, sich oft blind in den abseitigsten Aberglauben ver-
rennen k„nnen." Mit diesen Worten trank er sein Glas bed•chtig aus.
"Mein lieber Oliver", erg•nzte er dann, "so lange Sie sich darauf ver-
steifen, in mir den Kapuzenmann zu sehen, wird Ihnen der Kerl immer
wieder zwischen den Fingern durchrutschen; und an dem Tage, an dem Sie
ihn wirklich fangen — sofern Ihnen das €berhaupt je gelingen sollte —
d€rften Sie die gr„‚te Entt•uschung Ihres Lebens zu verzeichnen haben."
Die Augen des Inspektors glitzerten zornig:
"Soll mich freuen, Milton, wenn Sie recht behalten. Sie erinnern sich ja
der Geschichte mit Sonja. Sie wissen auch, wie nahe ich dieser Frau be-
freundet war. Und doch habe ich sie dann verhaften m€ssen! Es w•re schon
ein Schlag f€r mich, wenn ich nach der besten Freundin, auch noch den besten
Freund in Handschellen schlie‚en und auf dem Revier abliefern m€‚te.
Immerhin ... "
Und indem er sein Glas austrank, machte er eine kleine, wirkungsvolle
Pause:
" ... immerhin", wiederholte er, ohne dabei den Blick von Miltons Gesicht
zu lassen, "w€rde ich es mir keinen Augenblick €berlegen! Und damit ...
auf Wiedersehen, Milton!"
"Bis morgen, Oliver", antwortete der Multimillion•r mit einem versteck-
ten L•cheln. Er lie‚ sich wieder in seinen Sessel nieder und rief dem Weg-
gehenden nach: " ... und Hals- und Beinbruch!"

* *
*

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2. Kapitel

EIN DIAMANTENKOLLIER VERSCHWINDET SPURLOS

Wie eine in den Abgründen der Verdammnis irrende Seele, so tastete


sich der Vergnügungsdampfer "Caribbian Queen" durch die Finsternis der
Nacht. Seit er seinen Liegeplatz am Patapsco, gegenüber der Stadt Baltimore,
verlassen hatte, wollte sich das Wetter nicht bessern. Man war die Chesa-
peaka-Bucht hinabgefahren und auf den offenen Atlantik gekommen, aber
immer noch hing der Himmel voll tiefer Wolken. Nicht die mindeste Brise
rührte sich, und so «wollte auch der langersehnte Regen nicht fallen. Der
Mond konnte die Wolkendecke nicht durchbrechen, Nebelschwaden hingen
bis auf die See herab. Die Positionslichter mit grünen Blitzen an Steuerbord
und mit roter Leuchte an Backbord, milderte die Dunkelheit nur wenig; die
Lampen an Deck und im Steuerhaus konnte man nur wenige Meter weit
wahrnehmen, und die Vorhänge vor den Bullaugen ließen kein Licht aus dem
Innern des Schiffes dringen.
Milton Drake blieb einen Augenblick an der Tür des Promenadendeckes
stehen, und sah den beiden Männern zu, die an den Flaschenzügen eines
der Rettungsboote hantierten. Ein dritter Mann und ein Schiffsoffizier standen
schweigend dabei.
Der Multimillionär betrachtete das Schauspiel und wunderte sich etwas
über die für eine Bootsrevision ungewöhnliche Stunde. Die Klänge eines
Walzers drangen leise an sein Ohr. Im Salon vertrieben sich die Gäste
Shandons die Zeit mit Tanz und Unterhaltung.
Milton warf die halbgerauchte Zigarette weg, trat sie mit dem Fuß aus,
und öffnete die Tür. Der Raum war strahlend hell erleuchtet. Die jungen
Leute tanzten, während die älteren an den Tischen tranken, plauderten und
spielten. In den Ecken saßen Kartenspieler, die sich durch die Unruhe keinen
Augenblick in ihrer Bridge-Partie stören ließen.
Gerade bei den letzten Akkorden des Walzers kam eines der tanzenden
Paare in Miltons Nähe zu stehen, der eben die Tür hinter sich zugezogen
hatte.
Der Mann sagte zu ihm: "Ich dachte, Sie hätten sich schon hingelegt
Milton?"
"So faul bin ich nun wieder nicht, mein lieber Grimm", erwiderte Milton.
"Sie haben sich aber meine Abwesenheit gut zunutze gemacht und sich die
Königin des Schiffes ausgesucht! Dabei habe ich mir eingebildet, für diesen
Abend selbst der Prinzgemahl zu sein ...!"

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Die Angesprochene, eine wohlgestaltete, schlanke Blondine mit herr-
lichen blaugrauen Augen, lachte leise auf:
"Armer Milton", sagte sie, "wie haben sie dich verlassen!"
Dann wandte sie sich an den Inspektor: "Der Fall ist tragisch. Unser
guter Drake hält sich wahrhaftig für unwiderstehlich und er will es nicht be-
greifen, daß ihn eine Frau wegen eines andern stehen lassen kann".
"Mavis, es ist unerträglich, wie du mich verleumdest", erwiderte der
Multimillionär mit gespielter Bescheidenheit. "Ich bin zwar der unwürdigste
unter deinen Dienern, und dein Wunsch ist mir stets Befehl. Aber gerade
deswegen nährte ich in mir die Flamme der Hoffnung, daß du deine schönen
Augen zu mir herabläßt, dich meiner hoffnungslosen Vereinsamung erbarmst,
und mir die Gunst dieses Tanzes schenkst."
"Ein Tanz, mein Ritter, sei dir gewährt", lächelte das Mädchen, "wenn
du auch die Gnade nicht verdienst, du Schlingel. Ich habe alle Tänze ver-
geben. Nun muß ich einen anderen versetzen, um dir den Gefallen zu tun."
"Ich will aber nicht der Geschädigte sein!" warf Grimm ein.
"Und welche möglichen Folgen hätte dieser Fall?" forschte Mavis lachend.
"Die schändlichsten Mittel würde ich gebrauchen, ihm die Freude zu ver-
salzen", erwiderte der Inspektor. "Ich wäre sogar imstande, zu diesem Zweck
Doris und Lilian zu mobilisieren ... schau, schau", fügte er hinzu, "da
kommen sie ja schon, die lieben Mädchen. Der Himmel erhört alle meine
Wünsche."
Tatsächlich zwängten sich soeben, in Richtung auf unsere Freunde, Doris
Grading und Lilian Gordon durch die Menge der anderen Gäste. Grimm
schaute sich händereibend nach einem Versteck um, und Mavis wandte sich
lachend ab. Es gibt drei Arten der Liebe, die tödlich auf den Betroffenen
wirkt; derjenigen von Doris und Lilian konnte man sich nur durch Flucht
entziehen, Lilian war schon auf wenige Schritte an Milton herangekommen,
als dieser sich mangels besserer Ausflucht auf einen freien Stuhl am Tische
der Clarksons niederließ. Die Clarksons waren Verwandte und Pflegeeltern
von Mavis. Am gleichen Tisch saßen außerdem der Eigentümer des Schiffes,
Shandon, mit seiner Frau. Milton Drake hoffte, die beiden Mädchen würden
sich an ihn nicht herantrauen, wenn sie ihn in solch seriöser Gesellschaft
sitzen sähen. Leider half ihm alles nichts; von beiden Seiten fielen sie über
ihn her.
"Aber Milton, wo hast du bloß den ganzen Abend gesteckt?" fragte Lilian.
Und auf der anderen Seite säuselte Doris:
"Und du hast mir doch versprochen, heute abend mit mir zu tanzen! Hast
du das schon wieder vergessen?"
"Es tut mir furchtbar leid, Mädels", sagte Milton, und zog ein recht
jämmerliches Gesicht, "ich fühle mich schon den ganzen Abend nicht wohl;
ach glaube, ich bin seekrank. Erlaßt mir das Tanzen für heute Abend, ja?"

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"Oh, Milty, soll ich dir etwas bringen", fragte Doris besorgt. "Wenn Sie
seekrank sind Herr Drake". warf Frau Clarkson ein, "dann gehen Sie doch
lieber ein wenig an die frische Luft; das tut Ihnen sicher gut! An Deck ist
es auch nicht so furchtbar heiß, wie in diesem Saal. Kommen Sie mit, ich
will gerade auch ein wenig Luft schnappen."
"Ich komme mit, mein Schatz", fügte ihr Gemahl hinzu und stand auf.
"Solange das Gewitter nicht herunterkommt, werden wir die Hitze nicht
los! Gehen wir'"
Die Shandons waren gleicher Absicht, und Milton wäre gerne mit an
Deck gegangen, wenn er nicht hätte fürchten müssen, draußen seine beiden
Plagen womöglich noch schwerer loszuwerden, als im Saale.
Lilian ergriff seinen Arm: "Komm, Milton, laß' uns auch gehen. Frau
Clarkson hat ganz recht."
Aber der Multimillionär schüttelte den Kopf: "Nein, Lilian. Ich bin nicht
hergekommen, um wieder wegzulaufen. Wenn es nicht vorübergeht, lege ich
mich lieber zu Bett ... Hallo, Mavis!"
Das schöne Mädchen ging gerade am Tisch vorbei, und man konnte ihr
die Absicht ansehen, daß sie hatte gerade gerne entwischen wollen. Milton
ließ sie aber nicht so leichten Kaufes enteilen.
"Hallo, Milton", erwiderte sie mit spitzbübischem Lächeln, "ich weiß noch
immer nicht, welchen Tanz ich für dich freimachen kann."
"Aber er will doch gar nicht tanzen", rief Doris, "er ist doch seekrank!
Und dabei will er um keinen Preis aus dieser schlechten Luft hier heraus! Es
wäre doch wirklich besser für ihn ..."
"Besser?" warf hier der Inspektor ein, dem man seine schlechten Ab-
sichten an der Nasenspitze ablesen konnte. "Ich weiß, was das beste für
ihn wäre!"
"Na, was denn?" fragte Lilian.
"Recht viel Liebe, Sympathie ... und sorgsame Pflege."
Mavis lachte laut heraus. Milton schickte ihm einen mörderischen Blick zu:
"Oliver! ..." begann er, sprach aber seinen Satz nicht zu Ende. Von
draußen drang ein angstvoller, schriller Schrei an sein Ohr.
"Das war Frau Clarkson", rief er und sprang auf.
Der Inspektor sagte gar nichts; das Lächeln verschwand von seinen Lip-
pen; er drehte sich auf dem Absatz herum und lief der Tür zu. Auf Deck
lehnte Frau Clarkson schluchzend an einem der großen Ventilatoren. Frau
Shandon war über sie gebeugt und versuchte offenbar, sie zu trösten. Etwas
weiter weg, nach der Brücke hin, kniete Shandon neben dem bewegungs-
losen Körper des Steuermannes, während Clarkson über die Reeling hinweg
mit geballten Fäusten in die Nacht hinaus schimpfte. Grimm ließ Milton nach
den beiden Frauen sehen und ging zu Shandon.

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"Was ist passiert?" fragte er, "Ist der Mann tot?"
"Nur besinnungslos", antwortete dieser. "Er muß gleich wieder zu sich
kommen. Er hat soeben einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen."
"Von wem?"
"Der Kapuzenmann war's."
Überrascht blickte der Inspektor den andern an. Er konnte es nicht ver-
meiden, seinen Blick hinüber zu Milton wandern zu lassen.
"Sind Sie ganz sicher?" wollte er wissen.
"Ganz bestimmt! Ich hab' ihn selber gesehen."
Grimm verlor keine weitere Zeit mit unnützen Fragen. Die leer über die
Reeling nach unten hängenden Halteseile des Rettungsbootes, die Flaschen-
züge und das Geräusch eines sich entfernenden Bootsmotors beschrieben
ohnedies genau genug den Fluchtweg des unbekannten Täters. Er eilte zu
einem der anderen Boote und rief über die Schulter hinweg zurück: "Helfen
Sie mir, dieses Boot zu Wasser zu bringen, Clarkson! Wir müssen dem Kerl
nach!"
"Weg da! Das Boot bleibt an seinem Platz!" hörte man in diesem Augen-
blick aus dem Steuerhaus eine mächtige Stimme rufen.
Der Kapitän kam mit großen Schritten herbeigestürzt.
Grimm drehte sich um:
"Einer Ihrer Offiziere ist angegriffen worden, Kapitän. Der Täter ist mit
einem Boot geflohen. Ich muß dem Manne unter allen Umständen nach!"
Und Grimm begann, eines der Seile loszuwinden.
"Ich habe Ihnen gesagt, daß das Boot an seinem Platz bleibt", schrie der
Kapitän wütend. "Rettungsboote werden nur bei Schiffbruch benutzt."
"Das ist mir gleichgültig", erwiderte Grimm, "das Boot hat einen Motor,
und das entscheidet! Im übrigen bin ich Inspektor Grimm von der Staatlichen
Kriminalbehörde! Meine Ausweise kann ich Ihnen zeigen!"
"Ihre Ausweise kümmern mich einen Dreck, Herr!" schrie der immer
wütender werdende Kapitän dagegen. "Das Boot kommt nicht zu Wasser,
und wenn Sie der Präsident der Vereinigten Staaten selbst wären. Wir sind
auf hoher See, und da bin ich die einzige Autorität! Wenn Sie sich weigern,
meinen Befehlen nachzukommen, dann werde ich Sie einsperren lassen!!!"
Grimm zuckte die Achseln, und ließ von dem Boote ab. "Wie Sie wollen,
Kapitän", sagte er mit erzwungener Ruhe. "Jedenfalls lassen Sie damit einen
der größten Verbrecher entkommen, den wir in den Staaten haben ..."
Der Seemann hatte sich etwas beruhigt, als er seinen Befehl befolgt sah.
"Es tut mir leid, Inspektor, daß ich in diesem Ton zu Ihnen sprechen
mußte. Aber die Boote dürfen nun einmal nur bei Lebensgefahr verwendet
werden. Übrigens hätten Sie mit Ihren Versuch auch keinen Erfolg gehabt.
Der Mann hat unsere Barkasse benutzt, unser bestes und schnellstes Boot,

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das wir bei Landungen nehmen. Von den Rettungsbooten ist keines imstande,
es einzuholen. Aber was ist denn nun eigentlich vorgefallen?"
"Meine Frau ist beraubt worden", antwortete Clarkson erregt. "Ihr Dia-
mantenhalsband ist weg; stellen Sie sich den Schreck vor!"
"Beruhigen Sie sich, Clarkson", sagte der Inspektor, "und erzählen Sie
lieber der Reihe nach. Aus dem Salon habe ich Sie noch hinausgehen sehen.
Was geschah dann?"
Mühsam sich zur Ruhe zwingend, berichtete Clarkson:
"Die Shandons gingen voran? meine Frau und ich folgten. Meine Frau
blieb ein wenig zurück. Plötzlich hörte ich sie laut aufschreien. Ich drehe
mich um und sehe, wie gerade ein Mann mit einer Kapuze über dem Kopf
ihr das Halsband entreißt. Dann lief er auf die Brücke zu. Zuerst kümmerte
ich mich um meine Frau. Als dann Frau Shandon dazu kam, blieb diese bei
ihr, und ich machte mich mit Herrn Shandon auf die Verfolgung. An der
leeren Aufhängevorrichtung sahen wir den Steuermann stehen. Shandon rief
ihm zu, er solle den Kapuzenmann festhalten. Wir hatten aber bis dahin
nicht bemerkt, daß der Steuermann nicht alleine stand. Hinter ihm hob ein
anderer Mann die Hand und schlug ihm den Kolben einer Pistole schwer auf
den Kopf. Der Steuermann fiel um; der Mann machte Front gegen uns und hielt
uns mit der Waffe in Schach. Er würde schießen, wenn wir nur einen
Schritt weitergingen. Der Kapuzenmann war unterdessen über die Reeling
gestiegen und kletterte an einem der Seile nach unten. Dann hörten wir den
Motor der Barkasse. Sein Spießgeselle war ihm im letzten Augen-
blick auf dem gleichen Wege ins Boot gefolgt. Darauf liefen wir zur Reeling.
Aber das Boot war schon in der Dunkelheit verschwunden, und man hörte
nur noch seinen Motor. Ich blieb an der Reeling, Shandon sorgte für den
Steuermann ... dann kamen Sie, Herr Grimm."
Milton und die beiden Damen waren herangekommen und hatten den
Bericht mitangehört. Der Inspektor wandte sich ihnen zu:
"Haben Sie etwas hinzuzufügen, Frau Clarkson?" fragte er.
"Nur wenig", antwortete die Dame, die inzwischen den ärgsten Schreck
überwunden hatte. "Als ich aus dem Salon kam, spürte ich auf einmal, wie
jemand mir an den Hals faßte. Beim Umschauen sehe ich nur zwei glitzernde
Augen hinter den Ausschnitten einer Kapuze. Da schrie ich. An mehr kann
ich mich nicht mehr erinnern, vor lauter Schrecken."
Unterdessen waren die anderen Gäste auch auf Deck gekommen. Sie
standen vor der Treppe zum Vordeck, wohin der Kapitän bereits einen
Matrosen postiert hatte, der störende Neugierige fernhalten sollte.
Mit Shandons Hilfe hatte man den Steuermann aufgerichtet; er gab be-
reits wieder Lebenszeichen von sich. Ein Schluck Kognak brachte ihn vollends
zur Besinnung.
"Was ist Ihnen zugestoßen?" fragte Grimm.

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Der Mann warf einen Blick auf seinen Kapitän, gewahrte dessen Einver-
ständnis und sagte stockend, unter der Nachwirkung des erhaltenen Schlages:
"Vor einer ganzen Weile sah ich, wie sich zwei Männer an der Barkasse
zu schaffen machten. Ich ging hin, um nachzusehen und Ihnen zu befehlen,
sich da wegzuscheren. Der eine von ihnen hielt mir aber eine Pistole vor.
,Keine auffällige Bewegung', sagte er, ,oder du hast eine Explosivkugel in
der Statur!' Ich mußte also stehenbleiben und zuschauen; auch der Versuch
zu schreien, hätte mir das Leben gekostet. Was tun? Jede Bewegung wäre
Selbstmord gewesen, und gegen Explosivkugeln ist kein Kraut gewachsen.
Früher oder später würde sich schon eine Gelegenheit geben, den Spieß um-
zudrehen. Jemand von der Besatzung würde vorüberkommen und eingreifen,
hoffte ich. Die beiden Männer ließen die Barkasse zu Wasser. Der Dritte
blieb mit der Pistole neben mir stehen. Er stellte sich aber in einer Weise
hin, die es schwer machte, zu sehen, daß er mich unter Zwang hielt. Alle drei
trugen Masken. Sie sprachen kein Wort. Als das Boot im Wasser war, stieg
einer von ihnen hinein; der zweite zog eine Kapuze aus der Tasche und zog
sie übers Gesicht, trotzdem er bereits eine Maske trug. Dann ging er zum
Eingang des Salons und versteckte sich in der Nähe der Tür. Als die Herr-
schaften herauskamen, und ich den Schrei hörte, wußte ich sofort, daß irgend
etwas passiert sein müsse. Ich konnte mich aber nicht bewegen. Mein Tod
hätte auch niemandem etwas genützt; also wartete ich. Wie ich dann den
Mann mit der Kapuze zur Brücke rennen sah, wollte ich es darauf an-
kommen lassen. Das muß mein Wächter erraten haben, denn er versetzte
mir sofort den Kolbenschlag, der mich auf die Bretter schickte."
Der Kapitän wandte sich rasch um und rief einem der Matrosen zu:
"Laufen Sie zur Funkbude und sagen Sie dem Funker, er soll eine Be-
schreibung unserer Barkasse ,An Alle' herausgeben. Das nächste Schiff soll
das Boot an Bord nehmen und die Besatzung verhaften. Man soll uns Be-
scheid geben, wenn das Boot aufgefunden wird."
Der Matrose ging. Der Steuermann bemerkte:
"Die Leute werden mit der Barkasse nicht weit kommen, Kapitän."
"Wieso?"
"Weil fast kein Benzin mehr im Tank war! Morgen früh wollte ich nach-
füllen lassen, für alle Fälle."
"Das will nicht viel heißen", meinte Grimm skeptisch. "Möglicherweise
werden die drei von einem anderen Fahrzeug aufgenommen, das irgendwo
in der Nähe auf sie wartet. Außerdem müssen sie ja irgendwie an Bord ge-
kommen sein. Haben Sie heute Nacht ein verdächtiges Geräusch gehört?"
Kapitän und Steuermann verneinten.
"Ich will mal die Besatzung fragen", sagte der Kapitän.
"Und wenn sich unsere Freunde schon in Baltimore an Bord geschlichen
hätten ...?" warf Milton Drake ein.

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"Das ist natürlich auch nicht ausgeschlossen", stimmte Grimm bei.
"Haben Sie eine komplette Liste der Schiffsgäste, Shandon", fragte er
dann den Schiffseigner.
"Natürlich," antwortete dieser, "warum?"
"Weil die Kerle gewußt haben müssen, daß Frau Clarkson das Kollier
heute abend trägt. Offenbar haben sie damit gerechnet, daß sie im Laufe des
Abends einmal an Deck kommen würde, und bereiteten sich entsprechend
darauf vor. Waren sie schon vertraut an Bord, dann konnten sie leicht heraus-
kriegen, daß sich Frau Clarkson nicht gerne längere Zeit in geschlossenen
Räumen aufhält. Aber unter den Eingeladenen waren sie nicht. Außerdem
sind sie jetzt nicht mehr an Bord. Wir müßten gleich mal alle Namen auf-
rufen!"
"Richtig!" meinte Shandon, "Der Kapitän soll sich die Besatzung vor-
nehmen, ich visitiere die Gäste. Machen wir's gleich!"
Das Ergebnis der Untersuchung war kläglich. Die Besatzung war voll-
zählig, und alle Gäste befanden sich an Bord des Schiffes. Niemand wußte
sich zu erinnern, irgendwelche Personen gesehen zu haben, die er nicht
wenigstens von Angesicht kannte. Und Milton, der einzige, der die drei
Männer beim Losmachen des Bootes beobachtet hatte, war ihnen nicht nahe
genug gekommen, um ihre Masken oder sonstigen Einzelheiten erkennen zu
können. Kein Anzeichen ließ sich finden, das einen Schluß auf die Person
der Täter erlaubt hätte. Darum auch das Bedauern Grimms, als er später mit
Mavis über den Vorfall sprach:
"Ich muß leider zugeben, liebe Mavis, daß Ihre Frau Tante den Verlust
des schönen Kolliers vorerst verschmerzen muß. Außer, wenn ein Wunder
geschieht ...!"

* *
*

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3. Kapitel

SCHÜSSE IN DER NACHT

Die Gäste Shandons konnten keinesfalls zu den Frühaufstehern gerechnet


werden. Als Milton Drake nämlich am nächsten Morgen gegen neun Uhr das
Deck betrat, war weit und breit keine Menschenseele zu erblicken, mit Aus-
nahme des Inspektors Grimm, der mißvergnügt über die Reeling ins Wasser
starrte. Milton bot ihm eine Zigarette aus seinem Etui und begann das Ge-
spräch mit unverbindlichen Redensarten:
"Schauen Sie sich doch nur einmal diese graublauen Wolken an, Oliver!
Diese Ruhe ... diese Windstille ..., verdächtig, finden Sie nicht auch? Glau-
ben Sie, daß es heute ein Gewitter gibt?"
Der Inspektor wählte umständlich zwischen den angebotenen Zigaretten,
steckte eine davon nach vielem Gustieren und Beschauen ebenso umständ-
lich in den Mund und sah den Frager mit einem schrägen Blick an:
"Sie werden sicherlich nicht hergekommen sein, Milton, um mit mir
Wetterkunde zu betreiben. Dazu haben wir klügere Leute an Bord, meinen
Sie nicht auch?"
Milton lachte: "Warum sind Sie nur so empfindlich, verehrter Gönner?
Irgendwie muß man die Zeit doch totschlagen, oder ...? Außerdem fühle ich
mich seit kurzer Zeit in Ihrer Gesellschaft geradezu wohl, denn angesichts
der letzten Ereignisse dürften Sie Ihre Theorie zur Identität des Kapuzen-
mannes wohl einigermaßen berichtigt haben. Stimmt's?"
Über die Streichholzflamme hinweg musterte Grimm nachdenklich seinen
Freund.
"Milton ...", sagte er langsam, warf das Hölzchen ins Wasser und blies
bedächtig den Rauch in die Luft, "ein wirklich guter Detektiv vertraut nie-
mals dem Augenschein, ohne ihn zuvor nach allen Seiten hin geprüft zu
haben."
"Was wollen Sie damit sagen?" fragte der Multimillionär.
"Hätten Sie nicht in dem Augenblicke neben mir gestanden, als die Frau
schrie, dann würde ich Sie unbedingt für den Halsbandräuber halten ..."
"Tja ...", erwiderte Drake, "unglücklicherweise stand ich aber neben
Ihnen. Und damit ist bewiesen, daß ich der Kapuzenmann nicht sein kann."
"Nicht so voreilig, mein Lieber; weshalb nur diese Hast?" hielt ihm Grimm
entgegen. "Wir haben ja gar nicht von dem Kapuzenmann gesprochen, son-
dern nur von dem Raub des Diamantenhalsbandes."
"Das kommt doch auf dasselbe heraus!"
"Meinen Sie wirklich?"
Worauf Milton zurückfragte:
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"Zweifeln Sie etwa daran?"
"Ganz entschieden", war die Antwort Grimms.
"Aber die Zeugen stimmen doch alle €berein ..."
" ... stimmen darin €berein", unterbrach Grimm, "da‚ der Mann sich vor
dem Raub eine Kapuze €berzog. Gewi‚! Und gerade das ist einer der Haupt-
gr€nde, weswegen ich zweifle."
"Das verstehe ich nicht'"
"Dann beantworten Sie mir einmal eine einfache Frage: warum — wenn
der R•uber unser ber€hmter Kapuzentr•ger war — trug er dann seine Ka-
puze nicht von Anbeginn?"
"Leicht zu beantworten: weil er dann damit rechnen mu‚te, bereits vor
dem kritischen Zeitpunkt die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich habe
die drei M•nner ja ebenfalls gesehen; besonderes ist mir nicht aufgefallen.
Ein Kapuzentr•ger h•tte mich sicherlich veranla‚t, L•rm zu schlagen!"
"Wollen wir mal annehmen, Ihre Erkl•rung sei richtig. Warum hat er sich
dann €berhaupt eine Kapuze €bergezogen? Welche Notwendigkeit bestand
dazu? Konnte er den …berfall nicht ebensogut nur mit einer Halbmaske aus-
f€hren? Wozu erst der Firlefanz mit einer umst•ndlichen Kapuze?"
"Diese Fragen, lieber Grimm, sollte man einem erfahrenen Detektiv
eigentlich nicht zutrauen. Haben denn nicht alle Verbrecher ihre beson-
deren kleinen Eitelkeiten, ihren pers„nlichen Stil', auf den sie stolz sind,
und den sie auch immer wieder zu betonen suchen, damit man von ihnen
spricht. Das schmeichelt ihnen doch!"
"Da ist schon was dran", gab Oliver widerwillig zu, "aber in unserem
Falle stimmt es doch nicht so ganz. Die Frage der Kapuze ist auch nur eine
der Einzelheiten, die mich nachdenklich machen. Wenn es nur um die Kapuze
ginge, w€rde ich selbst auch an den Kapuzenmann als den Attent•ter glau-
ben. Ich denke aber an noch so mancherlei anderes ..."
"Zum Beispiel?"
"An die Tatsache, da‚ er in Begleitung von zwei anderen M•nnern war.
Bis jetzt hat er immer allein gearbeitet; allenfalls mit der ,Roten Schlange'
zusammen, dem „ffentlichen Feind Nummer Eins. Gewohnheiten legt man
nicht so rasch ab." Grimm blickte Milton scharf ins Gesicht und sagte dann
mit offenbarer Absicht: "Sie k„nnen mich nat€rlich gerne davon €berzeugen
und mir beweisen, da‚ eben der Kapuzenmann doch mit einer Bande zu-
sammenarbeitet !"
Milton lachte frei heraus:
"Sie sind doch ein unverbesserlicher alter Dicksch•del, Oliver. Wenn Sie
sich einmal etwas in den Kopf gesetzt haben, dann kann es Ihnen kein Gott
mehr ausreden. Eigentlich sollte ich mich jetzt •rgern — ich kann aber ihre
komischen Verd•chtigungen beim besten Willen nicht mehr ernst nehmen.
Und was den Beweis angeht, den brauche ich gar nicht erst zu erbringen,
denn die Ereignisse der letzten Nacht beweisen ja klar genug, da‚ der

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Kapuzenmann auch die Hilfe anderer in Anspruch nimmt, wenn er sie
braucht".
"Der Kapuzenmann", rief der Inspektor, "was wollen Sie denn immer mit
dem? Das Kollier hat ein anderer gestohlen, aber nicht er; ich glaube einfach
nicht daran ...! Wir wollen doch die Personen hübsch auseinanderhalten!"
Milton zuckte die Schultern und sah seinen Begleiter mit überlegener
Ironie an:
"Daß Sie den Kapuzenmann auch noch verteidigen würden, habe ich mir
nie träumen lassen!"
"Ich denke nicht daran, ihn zu verteidigen, gottbewahre", erwiderte
Grimm. "Aber ich bin gerecht und mag nicht jemanden einer Tat beschul-
digen, die ein anderer begangen hat." Grimm blickte plötzlich nach der Kiel-
linie. "Was ist los?" rief er; "ich glaube, wir wechseln den Kurs!"
Es war in der Tat so. Der Bug des Schiffes hatte eine scharfe Kurve be-
schrieben, die niemandem entgangen sein konnte.
"Guten Morgen, meine Herren!" sagte da eine Stimme, und Shandon
blieb bei ihnen stehen. Er bemerkte, daß Grimm das Schiffsmanöver beob-
achtete. Erklärend sagte er:
"Wir holen jetzt die Barkasse zurück, die wir vorige Nacht verloren
haben."
"Hat man sie angehalten?" fragte Grimm lebhaft.
"Aufgefunden hat man sie, was nicht dasselbe ist", antwortete der Schiffs-
eigentümer. "Ungefähr hundert Meilen von hier. Gerade ist der Funkspruch
durchgekommen."
"Und. hat man die Besatzung verhaftet?"
Shandon schüttelte den Kopf. "Das Boot war bereits verlassen!"
Mit einem mißgelaunten Seufzer wandte sich der Inspektor wieder dem
Wasser zu und knurrte: "Es war beinahe zu erwarten. Ein anderes Schiff
hat die drei Männer aufgenommen."
"So sieht es aus", stimmte Shandon bei; "aber trotzdem ist etwas Eigen-
tümliches zu berichten, denn das Ruder der Barkasse war mit einem Seil
festgezurrt."
"Sieh' mal einer an", bemerkte Grimm, "das beweist erst einmal, daß
man das Boot bald nach dem Abstoßen von unserem Schiff verlassen hat.
Die Ruderstange hat man angebunden, damit es geradeaus fährt, solange noch
Benzin im Tank ist. Ist ja klar: die Verbrecher fürchteten ihre Verfolger; in
der Dunkelheit konnte man das Boot nicht sehen, wohl aber hören. So wür-
den sich die Verfolger vom Motorgeräusch leiten lassen. Bis sie merkten, an
der Nase herumgeführt zu sein, waren unsere lieben Freunde schon längst
über alle Berge, wollte sagen, über alle Wässer."
"So wird es sein", meinte Shandon. "Und was tun wir jetzt?"
"Wir geben erst einmal einen Funkspruch an die Polizei auf, mit einem
ausführlichen Bericht und einer genauen Beschreibung des Diamantenkolliers.
Viel werden wir damit zwar nicht erreichen, denn die drei werden das Hals-

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band auch nicht gleich verkaufen; und wenn, dann verhökern sie es an
einen Hehler, der es nicht so bald auftauchen läßt. Was anderes können wir
aber im Augenblick nicht unternehmen! Und jetzt gehe ich frühstücken!
Kommen Sie mit, Drake?"
Shandon ging zur Funkbude, die beiden Freunde in den Speisesaal. Kaum
hatten sie sich hingesetzt, als auch die ersten Langschläfer auf der Bildfläche
erschienen, unter ihnen Mavis Donovan, die ungekrönte Schönheitskönigin
der ,Caribbian Queen'.
Milton fragte sie nach dem Wohlergehen ihrer Tante und Pflegemutter.
"Ich glaube, sie hat besser geschlafen, als mein Onkel", meinte das
Mädchen. "Sie werden übrigens beide bald erscheinen."
"Der Verlust ist ja auch keine Kleinigkeit", meinte Grimm.
"Sie hatten das Kollier hoch versichert", sagte Mavis. "Im Vertrauen,
es war viel höher versichert als sein wirklicher Wert. Der Verlust ist also
kein sehr schmerzlicher."
*

Der Rest des Tages verlief ohne weitere Ereignisse. Am frühen Nach-
mittag wurde die Barkasse an Bord genommen, die man fast genau an der
im Funkspruch angegebenen Stelle aufgefunden hatte. Der andere Dampfer
hatte inzwischen seinen Weg fortgesetzt. Als man das Boot an Bord hievte,
verbrachte Grimm eine lange Zeit damit, es nach irgendwelchen Spuren zu
durchsuchen.
Die Stunde des Abendessens kam heran, und wie gewöhnlich wurde an-
schließend getanzt. Milton hatte keine Lust, sich bei der schrecklichen Hitze
in den rauchigen Salon zu zwängen und nahm daher an der Unterhaltung
nicht teil. Er blieb an Deck und betrachtete die geheimnisvoll phosphoreszie-
renden Wellenkämme, die längs des Schiffskörpers vorbeifluteten. Er be-
schäftigte seine Gedanken mit den Ereignissen des letzten Tages und mit
den verschiedenen Theorien Grimms, die ihn nicht zu befriedigen vermochten.
Er mochte auch nicht mehr daran glauben, daß die Täter schon in Baltimore
aufs Schiff gekommen waren, denn alles wies darauf hin, daß sie erst unter-
wegs zugestiegen sein mochten. Wie aber waren die anderen Widersprüche
zu lösen?
Als er gerade bei diesem widerspenstigen Knotenpunkte seines Ge-
dankenknäuels angelangt war, ließ ihn ein entferntes "buummm" auffahren.
Alle seine Sinne spannten sich.
Noch einmal tönte es "buuummm!". Der Laut war ziemlich gedämpft;
trotzdem konnte er ihn sogleich als das erkennen, was er bedeutete. Ein
Schuß war gefallen! Und sogleich ein zweiter!!
Eine schreckliche Vorahnung ergriff ihn, die er mit Worten nur schwer
hätte erklären können. Den Laut hören, die Pistole ziehen und sich im Lauf-
schritt in Richtung auf die Kabinen auf den Weg machen, war für ihn eins!

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4. K a p i t e l

DIE ROTE SCHLANGE TRITT AUF

Nach wenigen Schritten gewahrte Milton bereits, da‚ er nicht als ein-
ziger die Detonationen vernommen hatte. Eine Person, die dem Orte n•her
gewesen sein mu‚te, drang n•mlich vor ihm in den Korridor ein und wies
ihm so den Weg. Im schwachen Licht der einzigen Birne glaubte er seinen
Freund Oliver zu erkennen. Seine Vermutung sollte sich gleich best•tigen.
Die dritte T€r stand offen; das aus der Kabine nach au‚en fallende Licht
warf den Schatten eines Mannes auf den Boden des Korridors. Schon wollte
er sich in die Kabine st€rzen, f€r den Fall, da‚ der Inspektor seiner Hilfe
bed€rfte, als ihn dessen triumphierender Ausruf einhalten lie‚:
"Endlich!" klang es, "endlich haben wir das rote Schl•nglein gefangen!!!"
"Keine Bewegung weiter! Durch das Bullauge k„nnen sie nicht raus, und
€ber mich wegspringen hat auch keinen Zweck!"— Die ,Rote Schlange' war
an Bord! Und gefangen!!!
F€r ein paar Augenblicke war der Multimillion•r ratlos. Bald aber raffte
er sich zusammen. Die ,Rote Schlange' brauchte seine Hilfe! Und schnell mu‚te
es gehen, wenn es nicht zu sp•t sein sollte. Sicherlich w€rde Grimm ihr
als erstes die Maske abrei‚en. Wenn ihm das gelang, dann war die Frau
f€r immer verloren, selbst wenn ihr jetzt die Flucht noch gelingen sollte. Aus
seiner Geheimtasche zog er eine Kapuze aus schwarzer Seide und st€lpte sie
€ber den Kopf. Langsam, ohne jedes Ger•usch, n•herte er sich der T€r.
Eine junge, blonde Frau, im scharlachroten Kleid, mit einer Gesichtsmaske
von gleicher Farbe, stand vor dem Bullauge. In der Rechten hielt sie eine
Pistole, aber der Arm hing an ihrer Seite herab. Ihr gegen€ber, mit dem
R€cken zur T€r, stand Oliver Grimm und legte seine Dienstpistole auf sie an.
Zwischen den beiden, in einer Blutlache, lag die Gestalt eines halbbeklei-
deten Mannes auf dem Boden.
Milton €bersah die Einzelheiten des Bildes wie mit der Linse einer Photo-
kamera. Mit der gleichen Deutlichkeit, als ob sein Gehirn eine photo-
graphische Platte sei, gruben sich die Dinge in sein Ged•chtnis ein. Alles
ging viel schneller, als es sich beschreiben l•‚t.
Grimm tat einen Schritt vorw•rts, als ob er €ber den K„rper des Mannes
hinweg auf die r•tselhafte Frau in Rot gehen wollte. Die ,Rote Schlange' be-
obachtete ihn aufmerksam, um die geringste Unvorsichtigkeit des Inspektors
zu ihrem Vorteil auszunutzen. Man sah ihr an, da‚ alle ihre Nerven in un-
ertr•glicher Spannung waren, und da‚ die kleine Hand, die den Revolver
umspannte, nur den Bruchteil einer Sekunde ben„tigen w€rde, sich zu heben

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und den Hahn abzuziehen. Den Kapuzenmann mu‚te sie sehen — sie lie‚
sich aber nichts anmerken.
Nun aber war f€r den Multimillion•r der Augenblick gekommen. Grimm
f€hlte pl„tzlich, wie ein harter Gegenstand zwischen seine Schulterbl•tter
gedr€ckt wurde, und wie ihm eine tiefe, unbekannte Stimme befahl:
"Machen Sie keinerlei Bewegung, Inspektor!"
Der Polizist blieb wie erstarrt stehen. Der drohende Ton der unheim-
lichen Stimme lie‚ keinen Zweifel aufkommen, da‚ er dem Befehl unverz€g-
lich nachzukommen hatte, wenn ihm sein Leben lieb war.
"Hand „ffnen! Revolver fallen lassen", hie‚ es weiter.
Er gehorchte.
"Gehen Sie in die rechte Ecke!"
Grimm setzte sich in Bewegung. Um sein Ziel zu erreichen, mu‚te er
eine Drehung ausf€hren. Er nahm diesen Augenblick wahr, um sich zu ver-
gewissern, wer ihn solcherart €berrascht hatte.
"Der Kapuzenmann!" rief er erstaunt aus.
"Jawohl, mein Lieber", best•tigte der andere, "wieder einmal der Ka-
puzenmann! Und Sie haben gleich ein Loch im Kopf, wenn Sie sich noch-
mals umdrehen!"
Der Inspektor nahm sich nicht die M€he, hierauf zu antworten, denn er
wu‚te, wie wenig damit zu gewinnen war. Der Kapuzenmann sprach aber-
mals:
" ,Rote Schlange'! Dein Weg ist frei! Mach schnell!"
Die Aufforderung war unn„tig. Das M•dchen hatte sich bereits in Be-
wegung gesetzt, sorgf•ltig vermeidend, in die Schu‚linie Miltons zu kommen.
An der T€r blieb sie stehen und nahm den Schl€ssel aus dem Schlo‚. Ihre
Absicht war leicht zu erraten.
"Nochmals, Inspektor", sagte Milton hinter seiner Kapuze, "keine un-
n€tzen Bewegungen, wenn ich bitten darf! Wir lassen Sie jetzt f€r eine
Weile allein. Gest„rt werden Sie nicht. Untersuchen Sie den Fall nur recht
gr€ndlich. So, und nun Gute Nacht!"
Mit diesen herzlichen Worten verlie‚ der Multimillion•r blitzschnell den
Raum und schlo‚ die T€r. Die ,Rote Schlange' hatte den Schl€ssel bereits
au‚en angesteckt. Milton schlo‚ ab und steckte Pistole und Kapuze ein. Die
Frau in Rot hatte aber nicht auf ihn gewartet; sie hatte bereits das andere
Ende des Korridors erreicht.
Das war nun nicht nach Miltons Geschmack. Die ,Rote Schlange' sollte
ihm nicht wieder auf so leichte Art entschl€pfen. Schlie‚lich hatte er sie
soeben aus einer gro‚en Gefahr errettet, und das mochte ihn doch berech-
tigen, endlich zu erfahren, wer sich hinter jener roten Larve eigentlich ver-
barg. Da‚ er sterblich in die sch„ne Fremde im roten Kleid verliebt war,
wagte er sich seit langem nicht mehr zu verheimlichen — unabl•ssig sah er
den geschmeidigen K„rper, das weizenblond gl•nzende Haar der Unbekann-
ten vor sich, den aufreizend roten Mund unter der Halbmaske.

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Er begann also, die Verfolgung der Geheimnisvollen aufzunehmen. Ihr
Ziel war leicht zu erraten, denn sie eilte einem Teil des Schiffes zu, der
vielerlei Deckaufbauten zeigte, wie Ventilatoren, Ladeluken, Hebeb•ume,
Kabeltrommeln und •hnliches; dazwischen konnte sie sich am ehesten der
Verfolgung entziehen und sich f€r eine Weile unsichtbar machen.
Mehrere Korridore waren noch zu durcheilen; sie hatte aber schon einen
zu gro‚en Vorsprung. Milton vermochte sie nicht mehr einzuholen. Gerade
sah er den Saum ihres roten Gewandes hinter einem der Ausg•nge ver-
schwinden. Er verlor sie kurz darauf einen Augenblick lang v„llig aus den
Augen und stand unentschlossen, ob er sich nach rechts oder links wenden
solle. Eine leichte Bewegung bei der Treppe, die zur Br€cke f€hrte, trieb
ihn jedoch neuerlich vorw•rts. Da verschwand die Frau im letzten der Korri-
dore. Als er hinkam, war der Gang leer. Er versuchte die Klinken der
beiden einzigen T€ren, die es dort gab. Sie waren abgeschlossen. Er horchte,
konnte aber im Innern der Kabinen kein Ger•usch vernehmen. Am andern
Ende des Ganges gelangte er wieder an Deck. Keine Menschenseele war zu
sehen. Zur rechten war die T€r zum Salon — einziges Schlupfloch an dieser
Stelle des Schiffes. Er warf einen Blick hinein. Drinnen hatte offenbar nie-
mand etwas Au‚ergew„hnliches bemerkt, denn die Paare tanzten ruhig zu
den Kl•ngen der Musik. Keine der anwesenden Frauen trug ein rotes
Kleidungsst€ck von jener auff•lligen Scharlachfarbe, welche die sch„ne Un-
bekannte bevorzugte. Mavis Donovan erblickte Milton, der mit ratlosem
Gesicht an der T€r stehengeblieben war. Tanzend dirigierte sie ihren Partner
zu ihm hin. Sie fragte:
"Suchst du wen, Milton?"
"Ja. Eine Frau suche ich, mit einem ganz und gar scharlachroten Kleid.
Sie mu‚ eben gerade hier hereingekommen sein!" antwortete der Multi-
million•r.
Das M•dchen machte gro‚e Augen. Auf dem Grunde der strahlenden
blaugrauen Pupillen konnte man sp„ttische Lichter zittern sehen, als sie er-
widerte:
"Was du nicht sagst! Eine Frau in Scharlachrot! Soviel schlechter Ge-
schmack sollte eigentlich bestraft werden! Was hast du denn getrunken?"
"Ich spreche v„llig im Ernst, Mavis, ich bitte dich! Gib mir doch eine ver-
n€nftige Antwort."
"Also, ich verkehre nicht mit scharlachroten Frauen, da‚ du's wei‚t. Und
ich habe auch keine gesehen, so lange ich auf der ,Caribbian Queen' bin!
Gen€gt dir das?"
Der Partner des M•dchens sch€ttelte den Kopf: "Ich auch nicht", sagte er.
"Ist dir irgendwas passiert, Milton?" fragte Mavis nun; "was soll denn
das f€r eine Frau sein? Hat sie dir etwas getan, die b„se, b„se Hexe? Pfui,
das schlechte Weib!"
"La‚ nur, Mavis, wenn du schon nicht ernst sein kannst, danke ich dir
sch„n ... bis sp•ter!"

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Mit diesen verlegenen Worten ließ er die beiden verwirrt zurück und
ging wieder an Deck. Es war nun aber schon zu spät, um noch herauszu-
bekommen, wohin die ,Rote Schlange' verschwunden sein mochte. Daß sie
in ihrer roten Robe nicht den Salon betreten würde, hätte er sich eigentlich
vorher sagen können; sie war doch eine Frau! Wahrscheinlich hatte sie sich
indessen in einen der vielen Winkel zwischen den Deckaufbauten verborgen,
und ihn ruhig vorüberlaufen lassen. Während er im Salon kostbare Zeit
verlor, war sie dann längst verschwunden.
Aber nun mußte er den armen Grimm aus seiner Gefangenschaft erlösen.
Das dort Geschehene war ernst genug. Wenn aber die ,Rote Schlange' wirk-
lich jene beiden Schüsse abgegeben hatte, dann war es sicherlich nicht ohne
gewichtigen Grund gewesen; dessen war sich Milton Drake aus der Über-
fülle seines verliebten Herzens bewußt. Ein vorsätzliches Verbrechen? Nein.
das konnte seine rote Freundin niemals begangen haben!
Nochmals rüttelte er an den Türen des benachbarten Ganges. Sie waren
noch immer abgeschlossen. Nichts zu machen. Also suchte er jetzt die Kabine
auf, in die er den Inspektor eingesperrt hatte. Schon von weitem hörte er
die dumpfen Schläge gegen die Türfüllung, mit denen der arme Grimm die
Aufmerksamkeit Vorübergehender auf sich zu ziehen versuchte Sonderbar
eigentlich, daß niemand ihn bisher gehört hatte.
"Ist dort jemand drinnen?" rief Milton. "Wollen Sie etwas?"
Ein wutverzerrtes Geheul war die Antwort: "Ob hier jemand drinnen
ist?!!! Machen Sie auf! Aufmachen! der Schlüssel steckt!"
Milton drehte umständlich den Schlüssel herum und bereitete sich seelisch
auf die Rolle vor, die er jetzt zu spielen hatte.
"Grimm!!" rief er in den höchsten Tönen des Erstaunens. "Man soll's
nicht für möglich halten! Wie konnte Ihnen das nur passieren?"
"Und das fragen Sie mich auch noch?" antwortete der Angeredete in
höchster Wut.
"Aber Oliver, was habe ich Ihnen denn getan?"
Der Inspektor war einem Schlaganfall nahe und beherrschte sich nur mit
Mühe.
"Gerade hatte ich die ,Rote Schlange' geschnappt ..." sagte er, "und ich
wollte ihr gerade die Maske abreißen ..."
"Die ,Rote Schlange'?" unterbrach ihn Milton Drake, "die wirkliche ,Rote
Schlange'?? Das glaube ich nicht! Das ist unmöglich!!!"
Grimm strafte ihn mit einem Blick abgrundtiefer Verachtung.
"Gerade wollte ich ihr die Maske abreißen", wiederholte er schwer-
atmend vor Erregung, "da kommen Sie mir dazwischen!"
"Iiiich?" flötete der Multimillionär.
"Jawohl Sie!" fauchte der Inspektor. "Glauben Sie denn im Ernst, ich
hätte Sie nicht wiedererkannt, nur weil Sie sich den armseligen Fetzen von
einer Kapuze vor die Visage hängen?"
Milton brach in Lachen aus.

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"Natürlich! Der Kapuzenmann", rief er; "unser berühmter Kapuzenmann!
Ihre fixe Idee und Ihr Spleen! Wie können Sie denn jetzt noch an dieses
Märchen glauben, wo doch der Mann gestern in der Barkasse geflohen ist?
Es ist doch heller Unsinn, anzunehmen, daß ich dieser Mann sein soll!"
"Der Mann ist zwar gestern geflohen, ganz recht; mit Kapuze und allem
Drum und Dran", sagte der Inspektor. "Der angebliche Kapuzenmann ist
geflohen ... und vor zehn Minuten hat mir sein Geist oder ein anderer
Kapuzenträger eine Pistole vor die Nase gehalten. Wie erklären Sie sich
das, Drake?"
Milton lachte abermals.
"Vorläufig überhaupt nicht. Jedenfalls muß hierherum ein größerer Aus-
verkauf in Kapuzen stattgefunden haben, denn sie sind Mode geworden!
Soll mich gar nicht wundern, Oliver, wenn die Besatzung Mann für Mann
Kapuzen in den Taschen hat."
"Mich auch nicht", stimmte der Polizist bei, "die Besatzung ... und viel-
leicht auch einige der Passagiere ..."
Wiederum quittierte der Multimillionär diese Worte mit belustigtem
Lachen, worauf ihn der Inspektor anknurrte:
"Dieses widerlich wohlgelaunte Gefeixe, mein Lieber, überzeugt mich
noch lange nicht. Es wird Ihnen jedenfalls sehr bald vergehen! Schauen Sie
mal hier herein!"
Mit diesen Worten trat er zur Seite und gab Milton den Blick in die
Kabine frei; dabei beobachtete er genau die Gesichtszüge seines Freundes,
um auf ihnen den Widerschein einer Schuld zu entdecken.
"Leading!" rief Milton, und er spielte das Entsetzen so wahrhaftig, daß
Grimm wiederum in Zweifel geriet, ob er es hier wirklich mit dem gleichen
Manne zu tun habe, der ihm vorhin bedroht hatte. Trotzdem ließ er jedoch
noch nicht von seiner Theorie ab. Wenn der gestrige Täter die Kapuze nur
übergezogen hätte, um damit dem echten Kapuzenmann zu gleichen, und auf
diese Art dessen Ruf und ,Berufsrenomé' zu benutzen? Alles war möglich!
"Ist der Mann tot?" fragte Drake.
Der Inspektor nickte: "Herzschuß!"
"Wer war's?"
"Die ,Rote Schlange'!"
"Ausgeschlossen!"
"Wieso ausgeschlossen?"
"Weil wir nichts von ihr wissen, um sie einer solchen kaltblütigen Schläch-
terei für fähig zu halten."
"Sie war es; ich habe sie doch überrascht, als sie mit der Pistole in der
Hand neben der Leiche stand. Zum Teufel, weshalb verteidigen Sie diese
Frau so unentwegt?"
"Sie haben sie also auf frischer Tat ertappt?"
"Das gerade nicht."
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"Also können Sie schwerlich behaupten, daß sie es war, die geschossen
hat", stellte Milton mit Nachdruck fest.
"Aber wer, beim Beelzebub, soll's denn sonst gewesen sein? Ich war
doch gleich hier, als die Schüsse fielen!"
"Die Schüsse ...!" Milton blickte, wie von einem plötzlich auftauchenden
Gedanken gezwungen, nach der Leiche hin, die aus der Brustwunde stark
geblutet hatte; andere Verletzungen waren keine zu sehen.
Grimm hob den Kopf, kniff die Augen wägend zusammen, und warf
seinem Freunde einen sonderbaren Blick zu:
"Sie haben recht", sagte er, "die Schüsse ...! Ein blindes Huhn findet
manchmal auch ein Korn, Milton. Diese verfluchte Schweinerei, daß man
mich einsperrte, hat mich zu sehr aufgeregt. Ich habe das Detail tatsächlich
übersehen. Machen Sie doch, bitte, mal die Tür zu, damit wir nicht gestört
werden. Ich will mir alles einmal in Ruhe ansehen."
Er beugte sich über den Toten. Die Weste Leadings war aufgeknöpft,
das Hemd zerrissen. Grimm, nach einer Weile des Überlegens, riß es vollends
auf, legte dessen blutdurchtränkten Teil zur Seite, schlitzte mit einem Ruck
auch das Unterhemd auf, so daß nun die Brust des Mannes freilag.
Der Anblick war wenig schön. In der Gegend der linken Brustwarze war
das Fleisch stark zerfetzt.
Grimm lächelte sein berühmtes Lächeln, in dem von Humor keine Spur
zu entdecken war:
"Ein Explosivgeschoß", sagte er nur. Darauf Milton:
"Der Steuermann ist gestern abend auch mit Explosivgeschossen bedroht
worden; erinnern Sie sich?" Grimm nickte.
"Nur eine einzige Wunde ist zu sehen", meinte er dann. Er bedeckte den
Toten und begann, die Taschen der Kleidungsstücke zu durchsuchen. Er fand
eine Brieftasche, ein Päckchen Zigaretten und ein Taschentuch. Die Hosen-
taschen waren leer.
"Sie haben zwei vergessen", machte ihn Milton aufmerksam. "Die Innen-
tasche der Weste und die Gesäßtasche."
Grimm fuhr mit der Hand in die Weste und zog sie überrascht wieder
zurück. Mit sonderbarer Betonung fragte er Milton:
"Sie haben diese Überraschung wohl beabsichtigt, wie?" Und an einem
Zipfel zog er vollends heraus, was er gefaßt hielt. Es war eine Kapuze aus
schwarzer Seide!
Milton stieß einen leisen Pfiff aus.
"Sieh an, eine Kapuze!" rief er.
"War es vielleicht Ihre Absicht, daß ich in dieser Tasche eine Kapuze
finden soll?" fragte der Inspektor mit mühsam unterdrückter Wut.
"Komische Frage", erwiderte Milton. "Woher soll ich denn das wissen?
Ich habe nur bemerkt, wie Sie die beiden Taschen übergingen. Mit dem glei-
chen Recht könnte ich Sie fragen, ob Sie die beiden Taschen absichtlich über-
gangen haben."

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"Helfen Sie mir mal, den Toten herumdrehen", sagte Grimm statt einer
Antwort, "wenn Sie schon so ... so €berraschende Feststellungen machen!"
Milton l•chelte €ber die Ratlosigkeit seines Freundes und half ihm. In
der Ges•‚tasche fand sich nichts. Beim Umdrehen des K„rpers ergab sich
aber eine andere wichtige Entdeckung, denn der Tote lag auf einem jener
Hohlg€rtel, die man am blo‚en Leibe tr•gt, um in ihnen Dokumente, Geld
oder Juwelen zu verstecken. Der G€rtel war leer.
Vorsichtig erfa‚te ihn Grimm mit einem Taschentuch und wickelte ihn ein,
"Zwei Sch€sse sind gefallen", sagte er dann. "Der eine traf Leading.
Fragt sich nur, wo der zweite hingegangen ist!"
Er untersuchte nochmals den Toten, und schlo‚ dann:
"Nach der Lage des K„rpers zu urteilen, mu‚ der Mann mit dem Gesicht
zur T€r gestanden haben, als der Schu‚ auf ihn abgegeben wurde. Das ist
doch logisch. Denn die ,Rote Schlange' wird ihn erschossen haben, gleich als
sie zur T€r hereinkam. Logisch ... und doch falsch. Grundfalsch, jawohl."
"Falsch?"
"Klar? den G€rtel hat man ihm doch abgenommen, als er noch aufrecht
stand."
"Sind Sie dessen sicher?"
"Es w•re sehr unwahrscheinlich, da‚ man einen Toten hochhebt, nur um
ihm einen G€rtel unterzulegen, meinen Sie nicht auch?"
"Sie sind doch ein kluger Knabe, Grimm! Und weiter?"
"Wenn Sie einem anderen einen vollen G€rtel abnehmen und dann leer-
machen, wohin werfen Sie ihn nachher?"
"In irgendeinen Winkel vermutlich."
"Aber doch nicht hinter Ihr Opfer, nicht wahr?"
"Kaum, wenn ich es mir nicht vorher so ausgedacht h•tte. Nein, ich h•tte
ihn wahrscheinlich irgendwo vorne fallen lassen,"
"Na eben, das glaube ich auch. Und vorausbedacht war das nicht, denn
ich k„nnte mir keinen vern€nftigen Grund daf€r vorstellen. Also m€ssen wir
annehmen, da‚ der G€rtel nach vorne oder seitlich fallen gelassen wurde."
"Und was wollen Sie damit beweisen?"
"Jedenfalls soviel, da‚ Leading trotz seiner schweren Wunde nicht augen-
blicklich tot war, denn er mu‚ noch Zeit gehabt haben, sich umzudrehen,
Und er hat sich auch nochmals umgedreht. Dann fiel er auf den G€rtel."
"H„rt sich ziemlich gut an, was Sie da sagen, Oliver."
"Damit entsteht aber ein anderes Problem. Nehmen wir einmal an, da‚
Leading mit dem R€cken zur T€r stand, als auf ihn geschossen wurde —
und er wurde von vorne erschossen — wie kann dann der T•ter nach der
anderen Kabinenseite gelangt sein, ohne von Leading, der ihm ja im Wege
stand, ebenfalls angegriffen zu werden?"
"Daf€r gibt es verschiedene Erkl•rungen", meinte Milton, "aber die eine
d€rfte gen€gen, da‚ Leading den T•ter eben genau kannte und ihn ohne
Mi‚trauen in die Kabine lie‚. Diese Erkl•rung gen€gt aus zwei Gr€nden:

23
erstens weil sie die naheliegendste ist, und zweitens, weil sich alle an Bord
befindlichen Personen ja ohnedies kannten, und wenn dies auch nur dem
Namen nach der Fall war."
"Gut spricht der junge Mann", stimmte der Detektiv zu,
"Und damit haben Sie", schloß der Multimillionär, strahlend vor Befrie-
digung, seine Rede, "zugegeben, daß die ,Rote Schlange' das Verbrechen nicht
begangen haben kann, das Sie ihr nachsagen!!"
Der Inspektor lachte trocken.
"Meinen Glückwunsch, Drake. Da haben Sie mich ganz schön in die Falle
gehen lassen. Aber Sie haben recht: wenn es sich um eine bekannte Person
handelte, dann kann es die Frau in Rot nicht gewesen sein; wenigstens ..."
und er vervollständigte zögernd seinen Gedankengang, " ... wenn Leading
nicht bereits vorher mit ihr in Verbindung gestanden hat und sie daher
kannte."
"Halt, halt, halt", rief da Milton; "trennen Sie sich doch endlich einmal
von Ihrer fixen Idee. Haben Sie denn noch nicht bemerkt, schätzenswerter
Meister, daß diese Annahme keineswegs schmeichelhaft für Leading wäre?"
"Na, wissen Sie, Milton, das beunruhigt mich wenig", meinte Grimm
zweifelnd, "denn nach all den Entdeckungen von heute Nachmittag wüßte
ich nicht recht mehr, warum man dem Ruf Leadings noch schmeicheln müßte."
"Haben Sie da etwas Bestimmtes im Auge?"
"Ja; es ist aber jetzt nicht so wichtig. Erst müssen wir einmal die Kugeln
finden, vor allem die zweite. Wenn Leading beim Fallen eine Kehrtwendung
machte, dann müßte das Projektil ungefähr bei der Tür eingeschlagen haben,
Hat er nur eine halbe gemacht, dann sollte es dort im Winkel zu finden
sein. Wollen Sie gleich einmal nachsehen, Milton?"
Trotz allem Suchen konnten sie jedoch die zweite Kugel nicht finden.
"Ich begreife das nicht", meinte Grimm ratlos. "Ein Explosivgeschoß reißt
doch beim Aufprall ein ziemliches Loch!"
"Tja", sagte der Multimillionär, "ich versteh's auch nicht. Aber vielleicht
wollen wir doch einmal die anderen Wände absuchen!"
Gesagt, getan. Und sie hatten auch noch nicht lange begonnen, als Milton
rief:
"Ich hab' sie, Oliver!"
Grimm kam herbei, und Milton zeigte ihm, nahe am Boden, ein kleines
Loch. Mit einem Taschenmesser gruben sie das Projektil aus, das Grimm auf
ein Stück Papier rollen ließ, ohne es mit den Fingern zu berühren.
"Schau'n Sie mal, Drake! Das ist gar keine Explosivkugel", sagte Grimm,
nachdem er sie von allen Seiten untersucht hatte. "Mit Ihrem Fund haben
wir, glaube ich, den geheimnisvollsten Teil des Verbrechens schon so ziem-
lich aufgeklärt!"
"Sie müssen sich näher erklären", bat Milton Drake. "So etwas geht über
meinen bescheidenen Horizont."
"Jetzt nicht, später, mein Lieber. Gegenwärtig habe ich keine Zeit für

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lange Geschichten. Soviel ist mir auf jeden Fall klar: wenn wir nicht schnell-
stens die Identität verschiedener Schiffsinsassen aufklären, dann haben wir
bald noch ein paar Tote mehr an Bord. Und jetzt, Milton, tun Sie mir, bitte.
den Gefallen, den Kapitän herbeizurufen. Der Arzt soll gleich mitkommen.
Sagen Sie ihnen, es sei eilig. Ich warte hier. Und ... daß niemand was merkt!"
"Natürlich nicht", sagte Milton, und er wollte schon gehen, als ihn der
Inspektor nochmals zurückhielt:
"Einen Augenblick, bitte! Sie müssen mir noch einen anderen Gefallen
tun."
"Gerne, was soll's sein?"
"Vor allen Dingen sagen Sie niemand, was hier los ist. Und dann, nach-
dem Sie den Kapitän gesprochen haben ... aber nein, da sind Sie vielleicht
doch nicht der richtige Mann dafür ..."
"Wofür denn?"
"Ich wollte Sie gerade bitten, mit aller Vorsicht herauszubringen, ob nie-
mand die ,Rote Schlange' heute Nacht gesehen hat. Aber da Sie nun mal
einen so verdammten Narren an dem Weibsbild gefressen haben, laufe ich
Gefahr, daß Sie alles, was Sie hierüber erfahren, mir umso eher ver-
schweigen. Die Frau muß Sie völlig behext haben, mein Lieber; kaum würden
Sie sie sonst derart in Schutz nehmen, wie Sie das bei jeder Gelegenheit tun."
"Ich glaube", sagte Milton daraufhin langsam, "daß es außer Ihnen nur
noch eine Person auf dem Schiff gibt, die die ,Rote Schlange' gesehen hat."
"Und wen meinen Sie damit?" "Mich selbst", sagte Milton einfach.
Als ob knapp neben ihm eine Bombe eingeschlagen hätte, sprang Grimm
auf und schrie: "Was??? Sie haben die Frau gesehen, Mann, und spielen mir
hier dieses scheinheilige Theater vor? Und warum sagten Sie dann, sie
glaubten nicht, daß die ,Rote Schlange' auf dem Schiff sei? Können Sie mir
das vielleicht beantworten?"
"Ich habe es eben einfach nicht fassen können!"
Grimm bezwang seine Wut mit Mühe, bevor er fortfuhr zu zetern:
"Sie sehen das Weib mit Ihren eigenen Augen, und dann erklären Sie
mir eiskalt, Sie hätten es einfach nicht fassen können? Sind Sie denn bei
Trost, Milton?"
"Wozu die Aufregung, Grimm? Detektive von Ihrer Bedeutung sollten
sich überhaupt nicht aufregen; das wissen Sie doch!"
Das war zuviel. Grimm brachte in seiner Wut nur noch ein unzusammen-
hängendes Gestammel über die Lippen, währenddessen Milton fortfuhr:
"Hören Sie mal vernünftig zu, Oliver! Erstens konnte ich ja wirklich nicht
vermuten, daß die ,Rote Schlange' wirklich auf dem Schiffe sei, auch trotz
Ihrer hartnäckigen Behauptung, daß der Kapuzenmann und die Frau in Rot
immer an der gleichen Stelle aufzutauchen pflegen ... Zweitens aber habe
ich das Mädchen von vorne nicht zu sehen bekommen; und somit bin ich bis

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jetzt nicht v„llig sicher, ob es auch die ,Rote Schlange' war, die ich da ge-
sehen habe. Ein rotes Kleid allein ist ja schlie‚lich noch kein Beweis."
"Wo war denn das?" wollte der Inspektor wissen.
"Backbords. Ich stand gerade an der Reeling und blickte auf die See hin-
aus, als ich hinter mir ein Ger•usch h„re. Ich drehe mich herum. Im Schatten
bewegt sich etwas. Wie ich darauf zugehe, verschwindet ein Etwas hinter
einem der Ventilatoren, die da stehen. Kurz darauf wieder eine Bewegung
im Halbdunkel — dann geht jemand in der N•he einer Lampe vorbei nach
r€ckw•rts. Es war eine Frau in einem roten Kleid. Aus der N•he habe ich
sie nicht zu sehen bekommen."
"Und was haben Sie dann getan?"
"Ich ging ihr nach. Sie war aber schon zu weit weg. Sie betrat einen der
Korridore. Bis ich hinkam, war niemand mehr drinnen, Auf der Steuerbord-
seite konnte ich auch nichts entdecken."
"Wissen Sie ganz genau, da‚ die Frau nicht etwa in eine der Kabinen
verschwunden ist?"
"Es gibt dort nur zwei: die eine geh„rt Shandon, die andere ist von
Clarksons belegt. Beide waren abgeschlossen, und drinnen war kein Ge-
r•usch zu h„ren. Schlie‚lich habe ich noch in den Salon geschaut. Ich fragte
Mavis, ob sie nicht die rotgekleidete Frau gesehen h•tte; nun, sie hat mich
f€r betrunken gehalten."
"Haben Sie sich davon €berzeugt, da‚ sich die Frau nicht irgendwo im
Schatten versteckt hielt?"
"Selbstverst•ndlich — aber ohne Erfolg."
"Vielleicht w•re es gescheiter gewesen, erst das Deck abzusuchen, und
dann in den Salon zu gehen."
"Das habe ich mir nachher auch gesagt, da war der Fehler aber schon
begangen. Wir k„nnen jedoch jetzt noch einmal gr€ndlich nachsehen!"
Aber Grimm sagte mi‚mutig: "Hat ja doch keinen Zweck mehr. Gehen
Sie jetzt lieber zum Kapit•n. Shandon sollten Sie auch gleich aufsuchen. Wir
m€ssen die Sache unbedingt klar kriegen, der Teufel soll's holen."

* *
*

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5. Kapitel

DRAMA AUF HOHER SEE

Der Arzt erhob sich vom Boden, bürstete den Staub von seinen Hosen-
beinen und blickte Grimm an:
"Das Geschoß ist auf das Brustbein aufgeprallt; dort wurde es abgelenkt
und explodierte im Brustkorb. Die Zerstörungen sind umfangreich. Der Tod
muß auf der Stelle eingetreten sein."
Der Inspektor bestätigte die Untersuchung des Mediziners: "Das war auch
mein Eindruck. Glauben Sie denn, daß man die Kugel herausholen kann?"
"Die Kugelsplitter, wollen Sie wohl sagen? Man kann Sie schon heraus-
schneiden; es ist aber keine schöne Arbeit. Die Stücke werden im Herzen
zu finden sein, in der Lunge, in der Halsschlagader, und an vielen anderen
Stellen des Körpers. Ich nehme an, daß Sie eine ballistische Untersuchung
anstellen wollen. Ich zweifle aber, ob ihnen die vielen Splitterchen dazu
verhelfen können. Soll ich sie herausschneiden?"
Grimm zögerte ein wenig mit der Antwort. Dann sagte er:
"Nein ... lieber nicht. Ich bin, entgegen Ihrer Ansicht, zwar der Meinung,
daß sich aus Ihnen doch noch allerlei herauslesen ließe; die Umstände raten
uns aber, den Versuch zu unterlassen. Bestatten wir den Toten lieber so
schnell wie möglich."
"Ich rate an", wandte er sich an den Kapitän, "das Geschehene so geheim
wie irgend möglich zu behandeln, damit sich unter den übrigen Fahrgästen
keine Panik verbreitet. Auch unsere weitere Suche nach dem Täter würde
durch diese Maßnahme wesentlich erleichtert werden."
"Einverstanden", meinte der Kapitän. "Im Moment mache ich also nur
einen kurzen Bericht ins Schiffstagebuch. Mit den Behörden gibts an Land
ohnehin noch genug zu tun Wann werden Sie übrigens die Leiche zur Be-
stattung freigeben?"
"Ich bin fertig", sagte Grimm; "das letzte Wort hat der Arzt."
"Wenn Inspektor Grimm auf die Extraktion der Kugelsplitter verzichtet,
dann hätte ich nur noch den Totenschein auszustellen. Das ist schnell ge-
macht."
"Dann gestatten Sie, daß ich mich jetzt um die Bestattung kümmere. Ich
hole zwei vertrauenswürdige Leute herbei und schärfe ihnen ein, daß sie vor
allem den Mund zu halten haben."
Als nach diesen Worten der Kapitän gegangen war, wandte sich Grimm
an den Arzt:

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"Wie ist eigentlich Ihr Schiffsrevier eingerichtet, Doktor?"
"Ganz gut", sagte der. "Besser, als man sonst auf Schiffen dieser Art die
Krankenstation ausr€stet."
K„nnen Sie mir sofort eine qualitative Analyse machen?"
"Freilich kann ich das."
"Ist auch ein Mikroskop da?"
"Auch das."*
Darauf zog der Polizist ein Papierkn•uel aus der Tasche und gab es dem
Arzt.
"Hier ist eine Kugel drin", sagte er, "die einen recht eigent€mlichen
Fleck aufweist. Nehmen Sie den doch, bitte, einmal unter die Lupe und ana-
lysieren Sie mir die Substanz. Geben Sie mir, bitte, recht bald Nachricht,
wenn Sie damit fertig sind."
Der Arzt steckte das Papierchen zu sich.
"Ich mache Ihnen die Analyse noch heute abend", versicherte er.
Der Kapit•n kehrte mit zwei •lteren Matrosen zur€ck, die ein Brett, ein
Segelleinen, Schn€re und Gewichte trugen. Der Leichnam wurde einge-
schlagen und auf das beschwerte Brett festgebunden.
"Ich gehe voraus und halte das Deck frei", sagte Grimm.
"Der Wachoffizier wei‚ Bescheid", bemerkte der Kapit•n. "Er pa‚t auf,
da‚ keine Neugierigen in der Gegend auftauchen. Wir gehen besser nach
Backbord — der Salon hat den Ausgang nach Steuerbord; also kann uns
dort niemand so leicht €berraschen."
Mit diesen Worten setzten sie sich in Bewegung, Grimm voran, dann die
beiden Matrosen, schlie‚lich der Arzt und Milton.
An der Reeling angekommen, legten die beiden Matrosen das eine Ende
des Brettes auf das Gest•nge und warteten. Der Kapit•n zog ein Buch aus
der Tasche und las im Scheine der Taschenlampe Milton Drakes die Toten-
gebete, w•hrend die anderen gesenkten Hauptes zuh„rten. Nach dieser Zere-
monie hoben die beiden Matrosen das Brett an einem Ende hoch, und lie‚en
es €ber Bord gleiten. Durch die Gewichte sank es sehr rasch. Mit leisem
Gurgeln verschwand der Leichnam in den „lig gl•nzenden Wellen.
Nachdem der Kapit•n noch Anweisungen f€r die S•uberung der Kabine
Leadings gegeben hatte, verabschiedete er sich; ebenso empfahl sich der
Arzt. Milton Drake und Oliver Grimm blieben allein zur€ck. Einige Minuten
betrachteten sie schweigend' die Oberfl•che der See. Die einfache Zeremonie
hatte ihren Eindruck auf die beiden M•nner nicht verfehlt, die gewi‚ ge-
wohnt waren, dem Tod ins Auge zu schauen. Der Gedanke an den letzten
Richter mochte sie bewegen, der das endg€ltige Urteil €ber Schuld und S€hne
f•llt und vollzieht.
W•hrend der letzten Stunde war eine b„ige Brise aufgekommen, und in

28
der Ferne sah man von Zeit zu Zeit ein schwaches Wetterleuchten aufzucken,
das den Horizont f€r Sekundenfrist in Flammen setzte.
„Das Gewitter will n•her kommen", sagte Milton. Und wie zur Best•ti-
gung seiner Worte vernahm man gleich darauf das erste schwache Donner-
grollen €ber die Wogen herankommen.
„H„chste Zeit, da‚ sich das Wetter endlich einmal austobt", antwortete
der Inspektor. Dann aber wechselte er sofort das Thema:
„Haben Sie eigentlich diesen Leading genauer gekannt, Milton?"
„Ich wei‚ sehr wenig von ihm", antwortete dieser. „Ein paar Mal habe
ich ihn in Gesellschaft getroffen, aber sonst ist er mir nicht n•her bekannt.
Ich denke, da‚ uns dar€ber Shandon bessere Auskunft geben d€rfte."

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Grimm nickte: "Morgen früh wollte ich ihn sowieso danach fragen. Sie
wissen auch nicht, welchen Verkehr Leading hier auf dem Schiff bevor-
zugte?"
"Leider habe ich ihn nicht genau genug beobachtet. Ich hatte bloß den
allgemeinen Eindruck, daß er mit aller Welt gute Freundschaft hielt."
"Ja, diesen Eindruck hatte ich auch", bekannte Grimm. "Immerhin möchte
ich ..."
Er sprach seinen Satz nicht zu Ende, denn mit dem nun stärker vernehm-
baren Gewitter begannen auch die ersten schweren Tropfen zu fallen.
"Mir scheint", murmelte Milton gedankenverloren, "daß wir hier eine
ausnehmend feuchte Gegend ansteuern."
"Na ja ...", ließ sich Grimm mit einem etwas gekünstelten Lachen ver-
nehmen, "es wird klüger sein, wenn wir jetzt unter Dach und unter Men-
schen gehen." Damit machte er sich auf den Weg zu den Kabinen; Milton
folgte ihm wortlos.
Wenige Schritte hatten die zwei Männer erst zurückgelegt, als beide wie
auf ein Kommando stehen blieben. Zwischen zwei Donnerschlägen hatten
sie ein Geräusch vernommen, das für das geübte Ohr keine Verwechslung
zuließ. Es war der Knall einer Feuerwaffe gewesen! Der Laut mußte aus
einem der Korridore gekommen sein. Sie wechselten einen raschen Blick
und begannen dann, in der Richtung auf die Kabinen zu laufen.
Als sie in den ersten Korridor stürzten, sahen sie vor der offenen Tür
einer der Kajüten eine Frau stehen. Ihr Kleid war scharlachrot, und vor
dem Gesicht trug sie eine rote Halbmaske!!!
"Die ,Rote Schlange'!" rief Grimm. "Na warte, mein Mädchen!" Gleich-
zeitig fuhr er mit der Hand in die Tasche nach seiner Pistole.
Die Frau in Rot wandte sich um und sah den beiden Männern entgegen.
Sie hob aber die Pistole nicht, die sie in der Hand trug, sondern lief den
Korridor hinunter. Der Inspektor bekam während des Laufens seine in der
Tasche verklemmte Pistole nicht frei und fluchte leise zwischen den Zähnen.
Milton war indessen der Frau ebenfalls nachgeeilt, weniger, um sie ein-
zuholen, als vor allem um zwischen sie und den Inspektor zu gelangen, so
daß dieser nicht schießen konnte.
So erreichten sie das Deck; der Polizist hatte seine Pistole nun endlich
in der Hand.
"Halt!" schrie er, "oder ich schieße!"
Im Lärm des inzwischen losgebrochenen Unwetters konnte man seine
Stimme kaum hören; seine Gebärde war aber deutlich genug. Die ,Rote
Schlange' fand ihren Weg verstellt, denn von der einen Seite kamen die
Matrosen aus der Kabine Leadings, die sie reinigen sollten. In den Händen
trugen sie volle Wassereimer. Auf der anderen Seite stand eine Gruppe von

30
Passagieren unter dem Vordach des Promenadendecks, die den Salon ver-
lassen hatten, um die K€hle des Regens zu genie‚en.
"Haltet die Frau fest!" br€llte Grimm.
Die Matrosen lie‚en ihre Eimer los und st€rzten auf die ,Rote Schlange'
zu, die Passagiere n•herten sich ihr im Halbkreis aus verschiedenen Rich-
tungen. Zu allem …berflu‚ verk€ndete ein lauter Ruf von der Br€cke, da‚
auch der Wachoffizier auf den Vorgang aufmerksam geworden war und zu
Hilfe kam.
Ohne auch nur f€r einen Augenblick die Fassung zu verlieren, blickte
das M•dchen im roten Kleid um sich. Zum zweiten Male in dieser Nacht
befand sie sich in Todesgefahr. Aber sie lie‚ sich nicht einsch€chtern, ob-
wohl die Situation verzweifelt war, und sich ihrem Auge kein Fluchtweg
mehr bot. Milton fragte sich bebend, weshalb sie in dieser bedr•ngten Lage
nicht von ihrer Pistole Gebrauch mache, um sich einen Weg zu erk•mpfen;
sie hielt sie ja noch immer in der Hand.
Der Kreis um sie begann sich zu schlie‚en. Grimm rief abermals "Halt!"
— da aber schien die rote Frau einen Entschlu‚ zu fassen und lief auf die
Reeling zu. Der Multimillion•r sah, wie Grimm im Begriff war zu schie‚en.
Alle Zur€ckhaltung aufgebend, rief er ihr zu: "Ergib dich! Ergib dich doch!"
Gleichzeitig berechnete er seinen Weg so, da‚ er im Moment des Ab-
dr€ckens mit dem Inspektor zusammenstie‚ und der Schu‚ fehlging. Grimm
stie‚ einen lauten Fluch aus; Milton lief weiter, sich mit Absicht in der
Schu‚linie des Polizisten haltend. Seine Taktik brachte aber keinen Erfolg.
Die ,Rote Schlange' hatte die Reeling erreicht und war mit einem Satze dar-
€ber hinweggesprungen. W•hrend einer Sekunde konnte man sie hochauf-
gerichtet sehen, der Wind zerrte an ihrem scharlachroten Kleid; dann ...!
Krach!!!
Der Inspektor hatte geschossen.
Die Frau taumelte, stie‚ einen Schrei aus, hob die Hand zur Brust und
fiel nach r€ckw•rts €ber Bord ...

* *
*

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6. Kapitel

KRISE DES HERZENS

Milton stieß einen Schrei aus, als er die ,Rote Schlange' fallen sah. Nur
die eiserne Faust Grimms hinderte ihn daran, der Verschwundenen nachzu-
springen.
"Sind Sie denn wahnsinnig geworden?" fauchte ihn der Inspektor an.
"Wollen Sie sich wirklich wegen dieser Frau um jeden Preis unglücklich
machen?"
Drake war vor Schmerz wie von Sinnen; er wußte kaum noch, was er
sprach. "Das Mädchen war anständiger als Sie", erwiderte er heftig, "denn
sie hätte ebensogut schießen können wie Sie, aber dabei wären Unbetei-
ligte zu Schaden gekommen. Sie dagegen schießen drauf los, ohne sich zu
überlegen, ob zu Recht oder zu Unrecht!"
"Das war meine Pflicht", sagte der andere rauh. "Ich hätte sie auch
lieber lebendig gefangen; bevor ich sie aber entfliehen lasse ..."
Die Wellen gingen infolge des Unwetters nun sehr hoch und machten
das Schiff stark schlingern und stampfen. Milton mußte sich bereits an den
Laufstangen festhalten, um nicht zu fallen. Unterdessen hatte eine eigen-
tümliche Ruhe auf dem Schiffe Platz gegriffen, obwohl das Gewitter noch
in voller Stärke tobte, und erst nach einer Weile wurden sich die an Deck
Versammelten der Tatsache bewußt, daß die Schiffsmaschinen aufgehört
hatten, zu laufen.
In diesem Moment sah man einige Matrosen an eines der Rettungsboote
herantreten, um es zu Wasser zu lassen. Als Milton das Manöver bemerkte,
rief er sofort: "Ich gehe mit!"
Wiederum hielt Grimm ihn fest.
"Das werden Sie gefälligst bleiben lassen", sagte er hart. "Die Leute
haben bei diesem Wetter mit sich selbst genug zu tun, um noch einen Ballast
mitzuschleppen"
Es war nicht leicht, das Boot bei der rauhen See zu Wasser zu bringen;
es gelang aber nach einigen Manövern doch und das Boot wurde flott.
Eine Stunde lang lag die ,Caribbian Queen' vor dem Schleppanker an
der gleichen Stelle, während die Seeleute unter Lebensgefahr die Wasser-
oberfläche nach der verschwundenen Frau im roten Kleide absuchten, die
sie doch nicht finden sollten.
Endlich, als man alle Hoffnung aufgeben mußte, kehrten sie zum Schiff

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zurück. Die Maschinen nahmen ihr eintöniges Werk wieder auf, und die
,Caribbian Queen' setzte ihren Weg fort.
"Leb' wohl, ,Rote Schlange'!" sagte der Inspektor ironisch, "ruhe in
Frieden!"
Dann wechselte er unvermittelt den Ton seiner Rede:
"Und trotzdem tut sie mir leid! Jetzt, nachdem alles vorüber ist, kann
ich es ja sagen: ich habe diese Frau bewundert!"
"Bewundert!" stieß Milton Drake mit Bitterkeit hervor. "Und das wagen
Sie auszusprechen, nachdem Sie die Frau wie einen tollen Hund niederge-
schossen haben ...!"
"Und was hätte ich nach Ihrer Meinung in diesem Falle anderes tun
sollen?" verteidigte sich der Inspektor achselzuckend.
"Sie hatten es doch überhaupt nicht nötig, zu schießen!" versetzte Milton
heftig. "Sie hätten sie ruhig ins Wasser springen lassen können. Dem Boot
vermochte sie nicht zu entfliehen, und damit war Ihnen Ihre Beute auf jeden
Fall sicher. Warum also mußten Sie schießen?"
Auf diesen Vorwurf des Multimillionärs fand Oliver Grimm keine Ant-
wort. Verkniffen wandte er sich ab und ging schweigend auf den Korridor
zu, aus dem soeben das bleiche und verängstigte Gesicht Shandons auf-
tauchte.
"Wir müssen sogleich nochmals die Gästeliste verlesen, Shandon", rief
ihm Grimm zu.
"Jetzt sofort?" fragte der Angerufene.
"Jawohl, jetzt sofort!" erwiderte Grimm. "Es ist ja wohl kein Zweifel
mehr möglich, daß sich die ,Rote Schlange' unter den Gästen befunden haben
muß. Auf diese Weise werden wir endlich herauskriegen, wer sie eigent-
lich war."
Sofort wurden daraufhin die Passagiere zusammengetrommelt und nach
der Liste aufgerufen. Es war rätselhaft! Alle Frauen waren vollzählig ver-
sammelt. Dagegen fehlten zwei Männer: Paul Leading und Robert Rothing.
Grimm verbarg seine Enttäuschung über das magere Resultat, so gut er
konnte; für das Rätsel selbst hatte er keine Erklärung. Leading war tot ...
aber Rothing? Wie mit einem Schlage erinnerte er sich in diesem Augen-
blick jenes anderen Schusses, der vorher die Veranlassung zur Jagd nach
der ,Roten Schlange' gewesen war. Im Wirbel der Aufregung war der Vor-
fall vergessen worden. Der Schuß ... die rote Frau vor der Kabinentür ...
da mußte man doch gleich ...
"Wo ist die Kabine von Rothing?" fragte er den Schiffseigner. Seine
Spannung war so stark, daß ihm seine eigene Stimme fremd vorkam.
"In Gang B, Kabine vier", war die Antwort.

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33
"Die Passagiere k„nnen jetzt gehen; ich brauche sie nicht mehr." Grimm
machte sich mit diesen Worten auf den Weg, und Milton folgte ihm mecha-
nisch. Er war so benommen, da‚ er kaum wu‚te, was er tat. Der Gang B
war der gleiche, wo sie vorher die ,Rote Schlange' angetroffen hatten. Die
T€r der Kabine vier stand noch immer offen. Das Kabineninnere lag im
Dunkel. Grimm z„gerte einige Augenblicke, bevor er eintrat. Sein sicherer
Instinkt sagte ihm, welchen Anblick er zu erwarten hatte. Mit einem Seufzer
knipste er den Lichtschalter an.
Da lag Rothing — oder das, was Rothings sterbliche H€lle war! Der
K„rper lag halb auf dem Bett, halb auf dem Boden. Vor dem Bett eine grau-
sige Blutlache. Der Hals des Mannes war in Fetzen gerissen, er mu‚te inner-
halb weniger Sekunden verblutet sein, so furchtbar war die Wunde. Wieder-
um ein Explosivgescho‚!
Die Kabine war in Ordnung-, nichts schien zu fehlen. Der Tote war mit
einem Pyjama bekleidet.
Langsam wandte Grimm sich um. Dann sagte er, mit einem an diesem
Manne ungewohnten, bitteren Ernst:
"Und sie trauern dieser Frau noch nach, Milton! Sehen Sie sich doch das
an! Zwei Verbrechen in einer Nacht! Und welch ungeheuerliche Verbrechen!
Dabei war es nur eine Schicksalsf€gung, da‚ sie nicht noch eine dritte Un-
tat begehen konnte. Ein Gl€ck f€r die Menschheit, da‚ die ,Rote Schlange'
endlich unsch•dlich gemacht worden ist!"
Milton blickte verst„rt drein; ihm fehlte jede Kraft, die Anklage Grimms
zu widerlegen. Der Inspektor sah, in welchem Zustand sein Freund sich be-
fand, und etwas weniger hart f€gte er hinzu:
"Gehen Sie jetzt zu Bett, Drake. Ich gestehe, es war ein wenig viel auf
einmal. Die schrecklichen Eindr€cke werden sich aber wieder verwischen,
wenn Sie ein wenig ruhen." Damit l„schte er das Licht und wollte Milton
am ‡rmel aus der Kabine ziehen.
Dieser sch€ttelte jedoch den Kopf und machte sich aus dem Griff seines
Freundes frei; mit m€der Stimme sagte er:
"Handeln Sie, wie Sie es f€r Ihre Pflicht halten. Im €brigen kann ich
jetzt unm„glich zu Bett gehen." Damit verlie‚ er den Inspektor und ent-
fernte sich €ber den Gang. Der Inspektor folgte ihm langsam ... Das Ge-
witter war auf seinem H„hepunkt angelangt. Schwere Brecher schlugen €ber
das Deck; der Wind fegte die Wassermassen bis in die letzten Winkel der
Aufbauten. Aber Milton schien das alles nicht zu bemerken. Er verharrte
an der Reeling. Ein Wasserschwall €berstr„mte ihn, so da‚ er sich mit aller
Kraft festhalten mu‚te, um nicht fortgesp€lt zu werden. Er lie‚ aber nicht
los — in schwere Gedanken versunken, blieb er an der Reeling stehen.
Oliver Grimm wandte sich achselzuckend ab. Er ging zur Kabine zur€ck,

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um dort eine genaue Untersuchung anzustellen. Als er sie beendet hatte,
schlo‚ er den Raum ab und machte sich auf die Suche nach dem Kapit•n.
Noch ein Begr•bnis auf hoher See, das man lange geheimhalten mu‚te!
Als er am Salon vorbeiging, rief ihn Mavis Donovan an:
"Was ist eigentlich mit Milton los, Oliver? Der Mann ist ja v„llig au‚er
sich! Ich habe ihn vorhin beim Listenverlesen beobachtet."
"Tja, das ist so eine Sache", antwortete der Inspektor. "Sehen Sie, Mavis,
da hat er einige Begegnungen mit dieser geheimnisvollen ,Roten Schlange'
gehabt, der Frau im scharlachroten Kleid, und nun ist er v„llig aus dem
H•uschen. Ich wei‚ nicht, ob diese Frau eine Hexe war, oder was sonst;
jedenfalls ist er ganz und gar von ihr besessen. Urteilen Sie, bitte, selber;
der Zusammensto‚ vorhin, als ich auf sie schie‚en wollte, war von ihm be-
absichtigt, um sie zu sch€tzen: er wollte meinen Schu‚ verhindern oder irre-
leiten. Ich habe es ihm aber weiter nicht €belgenommen ... Von allen Men-
schen, die ich kenne, sind Sie der einzige, Mavis, der einigen Einflu‚ auf
ihn hat. K€mmern Sie sich doch einmal um ihn. Wenn Sie ihn nicht tr„sten
k„nnen, dann kann es niemand."
"Wo ist er denn jetzt?" fragte Mavis.
"Dort dr€ben an der Reeling steht er. Er mu‚ bereits na‚ bis auf die
Knochen sein — es macht ihm aber offenbar nichts aus. Gehen Sie lieber
jetzt nicht zu ihm, sonst bleibt kein trockener Faden an ihnen."
"Ach, ich habe mich vorhin schon einmal umgezogen, als man das Wasser
absuchte, ich kann mich genau so gut auch ein zweites Mal umziehen. Auf
Wiedersehen, Grimm!"
Der Inspektor stieg zur Br€cke hinauf. Das tapfere M•dchen aber balan-
cierte €ber das spiegelglatte und schl€pfrige Deck, sich an der Reeling fest-
haltend, bis sie den Platz erreichte, wo Milton, noch immer in tiefes Br€ten
versunken, stand.
"St„re ich dich, Milton?" fragte sie ihn.
Er hob den Kopf: "Nein", sagte er.
Nach dieser lakonischen Rede blickte er wiederum auf das Wasser hin-
aus, und schien das M•dchen an seiner Seite vergessen zu haben. W•hrend
einiger Minuten fiel zwischen den beiden kein Wort. Da stampfte der Dam-
pfer einmal besonders stark. Mavis schwankte und suchte sich mit einem
unterdr€ckten "Oh!" an Milton festzuhalten.
Instinktiv umfa‚te der Mann ihre H€ften.
"Geh' lieber in deine Kabine", sagte er, "du holst dir sonst eine Er-
k•ltung."
"Ach, la‚ nur", antwortete sie darauf. "Warum willst du denn ausge-
rechnet hier drau‚en bleiben?"

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"Ich halte es in der Kabine nicht aus", war die Antwort, "ich muß nach-
denken. Aber du ...
"Ich werde dich doch mit deinen schwarzen Gedanken jetzt nicht allein
lassen", erwiderte das Mädchen.
"Schwarze Gedanken", fragte Milton, "warum schwarz?"
"Jawohl, ich weiß schon was ich sage ... Du darfst es aber Grimm nicht
übelnehmen ...!"
Der Multimillionär öffnete den Mund um zu antworten, tat es aber dann
doch nicht und schwieg weiter.
"Du weißt doch, wie Oliver ist", fuhr Mavis fort, "er tut doch nur das,
was er für seine Pflicht halten muß, und was er darunter versteht. Es fiel
ihm eben keine andere Lösung ein, als zu schießen, Milton ... Es tut mir wirklich
leid, hörst du, Milton?"
Auf diese teilnahmsvolle Ansprache mußte er antworten, und nun sagte
er: "Die ,Rote Schlange' hat das nicht verdient, Mavis."
"Sie stand aber doch außerhalb des Gesetzes", meinte das Mädchen ohne
jede Schärfe.
"Trotzdem war sie keine Verbrecherin", hielt ihr der junge Mann ent-
gegen, und seine Miene wurde lebhafter. "Beweisen kann ich es zwar noch
nicht, aber hier drinnen ..." und damit griff er an seine Brust, "hier drinnen
weiß ich es ganz gewiß, daß diese Frau niemals ein Verbrechen begangen
hat, und am wenigsten jene von heute Nacht."
"Jene von heute Nacht?" fragte die erschreckte Mavis. "Was willst du
damit sagen?"
Milton biß sich auf die Lippen, denn er begriff, daß er in seinem Eifer
zu weit gegangen war.
Er wollte seinen Fehler rasch wieder gutmachen:
"Ich wollte sagen, von gestern Nacht. Die Sache mit dem Diamantenhals-
band deiner Tante."
"Aber das soll doch der Kapuzenmann gewesen sein, und nicht die ,Rote
Schlange'", berichtigte ihn das Mädchen.
Milton erwiderte mit gekünsteltem Gleichmut darauf:
"Na ja, weil Grimm doch immer sagt, daß der Kapuzenmann und die
,Rote Schlange' meist zusammenarbeiten."
Mavis warf ihm nur einen verwunderten Blick zu, sagte aber nichts.
In diesem Augenblick raste der riesige Berg einer Woge auf die beiden zu.
"Vorsicht!" schrie Mavis, und verbarg angstvoll ihr Gesicht an der Brust
Miltons. Der Multimillionär preßte die blühende Gestalt fest an sich. Das
Wasser überströmte die beiden. Triefend standen sie da. Sie hob den Blick

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zu ihm; sie waren einander sehr nahe in diesem Augenblick. Er ließ sie nicht los
und zog sie schützend näher an sich.
"Mavis ...", sagte er stockend.
"Ja, Milton ...", erwiderte sie leise und weich.
"Ich muß dir etwas sagen."
"Sag's mir!" raunte ihm das Mädchen zu.
"Es ist ... ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll; dazu noch unter
diesen Begleitumständen. Du wirst mir keinen Glauben schenken. Ich kann
mich auch selber nicht verstehen ..."
"Versuche es doch ruhig einmal ..."
Einige Augenblicke blieb es still zwischen den beiden. Die wilden Be-
wegungen des Schiffes zwangen Milton immer wieder, sich von neuem an-
zuklammern. Nun wechselte er den ermüdeten Arm und hielt Mavis sicher
fest. Dabei vermied er es, dem Mädchen in das schöne Antlitz zu schauen,
wie um sich vor dem allzulebhaften Einfluß dieser blaugrauen Augen zu
schützen, die willfährig und mitleidvoll zu ihm aufschauten. Man sah Milton
den Aufruhr seiner Seele an, als er nun mit zuckendem Gesicht zu sprechen
anfing:
"Ich habe dich immer sehr lieb gehabt, Mavis ..."
Da sie stumm blieb, fuhr er fort:
" ... niemand und nichts hat dich bis jetzt aus meinem Herzen verdrängen
können." Und er schaute der Frau mit einem schweren Blick in die Augen,
um sich gleich darauf wieder dem Wasser zuzuwenden. " ... bis ich dieser
Frau im scharlachroten Kleid begegnete ... ihren wirklichen Namen weiß
ich nicht ..."
"Und die mehr vermag, als ich jemals für dich tun konnte", beendete
mit leiser Trauer das Mädchen den Satz. Ihre Stimme verriet in zitterndem
Versagen, wie schmerzlich bewegt sie war.
"Ja ..., Nein . . ., ach, ich weiß selber nicht mehr, was ich eigentlich will",
sagte Milton.
"Was hast du denn nur?" fragte Mavis zutraulich.
"Es ist wie ein Verhängnis", antwortete Milton. "Solange du in meiner
Nähe warst, hatte ich keinen anderen Gedanken als immer nur an dich.
Sowie ich aber dieser Frau begegnete, verschwandest du aus meinem Sinn,
als ob du nie darinnen gewesen wärest. Kam ich dann wieder zu dir, war
die andere Frau wie ausgelöscht. Immer konnte nur die von euch beiden
Gegenwärtige ein Gefühl in mir wecken ... die Abwesende unterlag ... Lange
habe ich über diese Erscheinung nachgedacht, habe mich entschließen
und entscheiden wollen ... ich vermochte es nicht. Nur ein Mittel gab es:
euch beide zusammenzuführen, zur gleichen Zeit, unddann zu wählen

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zwischen euch, wer die st•rkere Macht €ber mich h•tte. Aber das ist nun
nicht mehr m„glich, denn die ,Rote Schlange' ist nicht mehr. Die Sehnsucht
verzehrt mich — ich habe ein Gewicht auf der Seele, das mich nicht atmen
l•‚t. Und wenn du an Stelle der ,Roten Schlange' den Tod erlitten h•ttest, so
w•re meine Sehnsucht nach dir die gleiche, die mich jetzt nach der Unbe-
kannten qu•lt."
"Milton! Schau mich einmal an!" bat Mavis leise.
"Ich kann nicht ...", antwortete der Multimillion•r. "Denn wenn ich dich
jetzt ansehe, dann hast du gesiegt. So leicht aber darfst du nicht siegen ...
liebste Mavis."
Er lie‚ das M•dchen los und schob sie behutsam von sich.
"Geh' hinein, Mavis", bat er sie. "Noch nie haben wir so lange und
ernst miteinander gesprochen. Du hast mir aber sehr geholfen; die Krisis
ist vorbei. La‚' mich aber nun allein, ich bitte dich darum!"
"Gute Nacht, Milton", sagte das M•dchen nur. Mit einer stummen und
r€hrenden Einladung hob sie innig das Gesicht zu ihm auf ... Aber er be-
achtete sie nicht. Nur ein nachdenkliches "Auf Wiedersehen!" nahm sie als
Abschiedsgru‚ mit auf den Weg in ihre Kabine.

* *
*

38
7. Kapitel

TRAUM ODER WIRKLICHKEIT?

In den sp•ten Morgenstunden des n•chsten Tages wusch sich Milton, als
Oliver Grimm in seine Kabine trat.
"Na," fragte dieser, "wie haben Sie die Nacht verbracht?"
"Danke", kam die Antwort, "so gut, wie es bei diesem Wetter €berhaupt
m„glich ist!" Und als ob er die Frage erriete, die der Polizist auf den Lippen
hatte, f€gte er hinzu: "Machen Sie sich, bitte, um mich keine Sorgen mehr,
Oliver. Ich habe meinen Kummer so ziemlich €berstanden. …ber den Rest
wollen wir nicht mehr reden, wenn es Ihnen recht ist ..."
"Das freut mich wirklich", meinte Grimm, "und zwar haupts•chlich des-
wegen, weil ich Ihre Hilfe nochmals in Anspruch nehmen m„chte."
"Worum handelt es sich denn?"
"Nichts Besonderes! Sie sollen sich im Lauf des Tages an die Schiffs-
g•ste heranmachen und sie in Gespr•che verwickeln, bis ich jeweils ein
Zeichen gebe. Dann machen Sie sich an den n•chsten heran ... und so weiter.
Nat€rlich trennen Sie sich immer zwanglos von ihnen, und ohne Unh„f-
lichkeit von Ihrer Seite."
"Das ist wirklich nicht besonders viel, was Sie da wollen. Darf man auch
wissen, welchem Zweck dieses freundliche Gesellschaftsspiel dienen soll?"
"Sofern Sie Ihren guten Humor wiedergefunden haben, will ich Ihnen
das Geheimnis gerne anvertrauen. Sie sollen die Leute nur jeweils f€r die
Zeit festhalten, die ich brauche, um ihre Kabinen gr€ndlich zu besichtigen."
"Ich h„re wohl nicht recht?"
"Oh doch ... das Diamantenhalsband ist noch immer nicht gefunden",
sagte der Inspektor statt jeder anderen Erkl•rung. "Damit liegt der weit-
bekannte Hase im Pfeffer ..."
"Glauben Sie denn, da‚ das Kollier noch auf dem Schiff ist?"
"Ich bin fest davon €berzeugt; €brigens habe ich nun auch genug Daten
beisammen, um den Ablauf der Ereignisse mit einiger Sicherheit rekonstru-
ieren zu k„nnen. Der angebliche Kapuzenmann mu‚ Leading gewesen sein,
und Rothing war sein Helfershelfer. Den Dritten kennen wir noch nicht; und
eben der hat das Halsband — er mu‚ es haben! Als einziges wissen wir von
ihm lediglich, da‚ er ebenso wie seine Gesellen die ganze Zeit unter Todes-
drohung gestanden haben mu‚."
Milton war zwar zu •hnlichen Schlu‚folgerungen gelangt. Er hielt es

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aber f€r kl€ger, seinem Freunde den Eindruck m„glichst zu erhalten, da‚ er
nicht so klug sei wie dieser; daher sagte er nur:
"Ihnen scheint das klar zu sein, Oliver. F€r meinen Teil mu‚ ich be-
kennen, da‚ ich da geistig nicht ganz Schritt halten kann.
"Sie werden's gleich verstehen", unterbrach Grimm lebhaft. "Es ist doch
alles ganz einfach! Der Tod Leadings kl•rte alles auf! Die folgenden Ereig-
nisse best•tigen es Schritt f€r Schritt — und alles stimmt, was ich mir vor-
her zusammengereimt hatte und erraten konnte. Leading, Rothing und ein
Dritter, dessen wir unbedingt noch habhaft werden m€ssen, haben den Raub
miteinander verabredet. Leading spielte den Kapuzenmann, einer der beiden
anderen erledigte die Sache mit dem Steuermann, und der dritte wartete im
Boot."
"Aber die Flucht ...", warf Milton ein.
"Das ist es ja", triumphierte Grimm. "Die Flucht hat nie stattgefunden!
War eine glatte Finte! Und fein s•uberlich ausgeheckt war sie auch! Als
n•mlich die beiden M•nner von Deck an der Bordwand hinunterkletterten,
lie‚ der Dritte den Motor der Barkasse an. Das Ruder hatte er schon vorher
festgebunden. Dann stie‚ er das unbemannte Boot ab, und unsere Drei
schwammen wie muntere Fischlein um das Schiff herum zum Heck, wo sie
ein paar Seile ins Wasser geh•ngt hatten. Die Barkasse fuhr geradeaus,
so lange Benzin im Tank war, und die Dunkelheit machte die Flucht im Boot
glaubhaft. Mittlerweile stiegen aber die drei ganz gem•chlich wieder an
Deck. Wir andern waren ja alle an der Br€cke zusammengelaufen; so blieben
sie unbeachtet. Dann sind sie in ihre Kabinen gegangen, haben sich um-
gezogen, und als wir sp•ter die Namen der Passagiere verlasen, standen sie,
frisch gewaschen und gek•mmt, mitten unter der Gemeinde. Auf diese Weise
konnte auch nicht der Schatten eines Verdachtes auf sie fallen. Eine Zeit-
lang haben wir ja sogar mit dem Gedanken gespielt, sie k„nnten sich schon
in Baltimore an Bord versteckt haben. Und wenn die Barkasse gesunken
w•re ... umso besser f€r sie. Man h•tte angenommen, da‚ ihre Flucht voll-
st•ndig gelungen sei, und da‚ sie schon €ber alle Berge w•ren. Wie man
das Boot mit dem festgebundenen Steuerruder aufgefunden hatte, glaubte
ich erst f€r eine Weile, sie seien auf ein anderes Fahrzeug umgestiegen.
Aber das Licht ist mir dann doch bald aufgegangen."
"Wie aber erkl•ren Sie sich die Vorg•nge von gestern abend?" wollte
Milton Drake wissen.
"Hierf€r kann ich mir vorl•ufig nur mit Schlu‚folgerungen helfen — von
denen ich aber stark annehme, da‚ sie stimmen: Die ,Rote Schlange' war eben
ein bi‚chen schlauer als wir. Sie wu‚te auf jeden Fall, wer die Ver-
brecher waren, und hat sie vielleicht auch schon vorher gekannt. Sie be-
schlo‚, sich also selbst in den Besitz des Halsbandes zu setzen. Zu diesem
Zweck besuchte sie Leading und €berraschte ihn mit ihrer Drohung. Den
G€rtel ri‚ sie ihm ab und nahm das Kollier heraus. Vielleicht hat Leading

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auch versucht, sie anzugreifen — vielleicht hielt sie ihn nur als Mitwisser
f€r zu gef•hrlich. Deswegen brachte sie ihn um die Ecke. Aber Leading hat
geschossen, bevor er starb — und er hat sie auch leicht verwundet, und
zwar aller Wahrscheinlichkeit nach am Fu‚."
"Die rote Frau hatte aber doch keinerlei Wunden am Leib", gab der
Multimillion•r zu bedenken, "und wieso kommen Sie darauf, da‚ Leading
auf sie geschossen haben soll? Er hatte doch keinerlei Waffen bei sich?"
"Das Weibsbild ist nat€rlich so schlau gewesen, die Waffe sofort ver-
schwinden zu lassen; sie brauchte sie nur durchs Bullauge zu werfen. Leading
war ganz sicher bewaffnet. Sie erinnern sich doch an die Kugel, die Sie
selber in der Wand, nahe am Boden, gefunden haben? Die konnte nur von
ihm stammen. Die Gr€nde sind einfach: erstens war es im Gegensatz zur
ersten eine gew„hnliche Kugel, zweitens geht das aus der Einschlagstelle
und -richtung klar hervor."
"Alles zugegeben", meinte Milton, "wie aber wollen Sie wissen, da‚ er
die ,Rote Schlange' ausgerechnet ins Bein getroffen hat?"
"Ich habe das Untersuchungsergebnis des Arztes. Die Kugel trug erstens
Spuren menschlichen Blutes, ferner eine weitere Substanz, die der Doktor
noch nicht ganz klar hat festlegen k„nnen; sehr wahrscheinlich handelt es
sich aber um Strumpffasern. Das Gescho‚ war nahe am Boden in die Wand
eingedrungen; das beweist, da‚ Leading nicht einmal Zeit hatte, den Arm
zu heben — oder da‚ er dazu nicht mehr Kraft genug besa‚. Wenn die
Kugel also getroffen hat, dann konnte es nur am Bein gewesen sein."
"Alles, was Sie da sagen, Oliver, pa‚t wundersch„n eins ins andere.
Nur das mit der ,Roten Schlange' nicht. Wenn sie n•mlich verwundet war,
dann mu‚ten ihr Strumpf oder ihr Kleid blutig werden. Davon haben wir
aber beide nichts entdecken k„nnen, als die Jagd €bers Deck vor sich ging."
"Das will gar nichts hei‚en! Wir wu‚ten ja nichts von ihrer Verwundung, und
sahen ihr infolgedessen immer nur ins Gesicht. Au‚erdem soll man ja
Damen auch nicht andauernd auf die Beine gucken."
"Bleiben Sie ernst, Oliver! So sind nach ihrer …berzeugung Leading und
Rothing von der gleichen Hand gefallen?"
"Ohne Zweifel. Beide starben durch Explosivgeschosse — und beide Male
trafen wir die ,Rote Schlange' bei den Leichen an."
"Welches Interesse soll sie daran gehabt haben, auch Rothing umzu-
legen, wenn sie das Kollier ohnedies schon hatte?"
"Das kann man schwer sagen. Vielleicht glaubte sie sich ihres Lebens
nicht sicher, solange die beiden andern noch herumliefen. Aus diesem Grund
habe ich die ganze Zeit auch auf einen dritten Mord gewartet."
"Und ich glaube trotzdem noch, da‚ Sie sich irren, und da‚ die ,Rote
Schlange' an den Verbrechen unschuldig ist, die Sie ihr aufhalsen wollen.

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Aber streiten wir uns nicht deswegen ... wann wollen Sie nun mit der
Arbeit in den Kabinen anfangen?"
"Am besten gleich! Es sind sehr viele Kabinen, und ich werde eine ge-
raume Zeit für die Arbeit brauchen. Wen wollen Sie als erstes Opfer mit
Ihren geselligen Talenten beglücken?"
"Weiß noch nicht! Der erste, der mir über den Weg läuft, muß dran glau-
ben. Kommen Sie mit an Deck, dann werden Sie es selber sehen."
Die beiden gingen hinauf. Das Gewitter der letzten Nacht hatte sich
völlig ausgetobt, und in der gereinigten Luft glitzerte die Sonne im Wider-
schein der Wellen.
Das erste Opfer des Multimillionärs war Peter Slight, der große Lust
zeigte, unseren Freund in ein Gespräch über die Aufregungen zu verwickeln,
denen sein asthmatisches Herz ausgesetzt gewesen war. Da er nun einen
aufmerksamen Zuhörer gefunden hatte, konnte er seinem bedrängten Herzen
hemmungslos Luft machen, was ihm offenbar über die Maßen gefiel. Grimm
wartete eine Weile, bis er sah, daß der Fisch angebissen hatte, und ver-
schwand dann aus dem Blickfeld. Mit Engelsgeduld verbrachte Milton den
Rest des Tages damit, sich immer wieder dieselben Meinungen anzuhören,
und immer wieder dieselben beruhigenden Geschichten zum besten zu geben.
Bis zum Abend hatte Grimm jedoch in keiner der Kabinen etwas Ver-
dächtiges finden können, und ziemlich abgekämpft riet er seinem Freunde,
er solle doch noch ein wenig tanzen gehen.
Milton aber meinte: "Ich habe keine besondere Lust dazu, ich bin auch
zu müde und lege mich lieber schlafen."
Damit verabschiedete er sich von dem Inspektor und zog sich zurück.
Wenn er auch vor hatte, in Ruhe noch eine Weile über all das Geschehene
nachzudenken, so war seine Müdigkeit doch sehr groß. Kaum war er in
seine Koje gekrochen, als er auch schon in bleiernen Schlaf fiel.
Jedoch nicht für lange ...
Eine unbestimmte Warnung seines Instinktes ließ ihn auffahren und
alle seine Sinne anstrengen. Er stützte sich auf die Ellbogen und versuchte
vergeblich, mit Auge und Ohr die Dunkelheit der Kabine zu durchdringen.
Tiefe Ruhe überall. Und doch war Milton Drake sicher, nicht allein im Raum
zu sein. Ein lebendes Wesen mußte sich dicht in seiner Nähe aufhalten ...
Er segnete den Einfall, der ihn am Abend vorher seine Pistole hatte
unter das Kopfkissen schieben lassen. Nun tastete er geräuschlos und vor-
sichtig nach ihr, bis endlich zwischen den Laken seine Hand die beruhigende
Kühle des Stahles verspürte. Langsam ... langsam zog er sie hervor, sein
ganzer Körper war in unerträglicher Spannung ... vorsichtig hob er den
Arm, um den Lichtschalter über dem Bett zu erreichen, denn im Dunkel war
er wehrlos ... und wie ein Schlag durchzuckte ihn die Überraschung, als
in diesem Augenblick eine Stimme in seiner unmittelbaren Nähe sagte:

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"Mach' doch endlich einmal Licht, Milton! Du brauchst gar nicht so über-
vorsichtig zu sein! Der Schalter ist gleich neben dir!"
Diese Stimme! ... sie elektrisierte ihn, und das die Worte begleitende
Lachen ließ sein Herz wie rasend schlagen. Er machte Licht ...
Die plötzliche Helle blendete ihn zunächst. Dann aber glaubte er seinen
Augen nicht zu trauen ... war es Traum oder Wirklichkeit, was er da vor
sich sah?
Auf dem Drehstuhl, der unweit des Lagers am Boden festgeschraubt war,
saß eine Frau im scharlachroten Gewand, mit einer roten Maske vor dem
Gesicht ...!!
War das die ,Rote Schlange', oder war es ihr Gespenst?

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8. Kapitel

WENN DIE TOTEN REDEN

Offenen Mundes starrte der Multimillion•r seine Besucherin an; es


dauerte lange, bis er die Fassung wiedergewonnen hatte.
"Die Rote ...", sagte er nur, denn die Freude lie‚ seine Stimme ver-
sagen. "Die Rote ... !"
Schon wollte er aus dem Bett springen und auf das zauberhafte Wesen
zueilen, als ihn auch schon die kleine Pistole seiner maskierten Freundin
zur Ruhe wies:
"Sch„n brav im Bettchen bleiben, mein Freund!" rief sie. "Wo bleibt dein
Respekt im Umgang mit Gespenstern, die eigens dem Meeresgrund ent-
steigen, um dir Nachtbesuche zu machen?"
"Ein Gespenst! Ach!" rief er. "Wenn ich abergl•ubisch w•re, m„chte ich's
fast glauben." Er setzte sich auf die Kante des Bettes und blickte die Frau
unentwegt an. "Habe ich denn nicht selbst gesehen, wie du in die Brust
getroffen €ber Bord fielst? Eine geschlagene Stunde haben sie nach dir ge-
sucht — und da sitzt du nun munter und gesund vor mir, um mir zuzu-
schauen, wie ich in meinem einsamen Bett liege. Da soll einer nicht aber-
gl•ubisch werden!"
Sanft lachte die rote Frau auf.
"Im Dunkeln", sagte sie, "kann man zwar niemandem beim Schlafen zu-
sehen, aber ein gutes Geh„r habe ich, und das ist auch sehr viel wert. Als
ich n•mlich den Wechsel im Rhythmus deines Atems bemerkte, wu‚te ich,
da‚ du wach geworden warst. Danach hast du den Atem angehalten. Das
verriet mir, da‚ du horchtest und nach dem Lichtschalter f€hltest. Das €brige
wei‚t du selber ..."
"Nun sage mir aber doch erst, wie du aus dem Wasser herausgekommen
bist", unterbrach Milton, "das interessiert mich doch viel mehr," Unbewu‚t
hatte er mit den Blicken die wohlgeformte Brust und die schlanken Beine
des M•dchens abgesucht, ohne aber die Anzeichen einer erlittenen Ver-
wundung entdecken zu k„nnen: "Und wo sind deine Wunden?" fragte er
daher.
"Gib dir keine M€he", lachte sie. "Wenn ein Schiff so stark schwankt,
wie dies gestern abend die gute ,Caribbian Queen' tat, dann kann wohl nie-
mand einen sicheren Pistolenschu‚ abgeben, auch unser Freund Grimm nicht!
Seine Kugel hat mich nicht einmal gestreift. Ich tat nur so, als ob ich ge-
troffen w•re — und abzuspringen brauchte ich erst recht nicht, denn die
Bewegung des Schiffes warf mich von selbst von der Reeling. Ich tauchte
unter und wurde vom Wasser unter dem Schiff hindurch auf die andere

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Seite des Schiffsk„rpers gedr€ckt. Backbords hing kein Seil herab. Da‚ dein
Zusammensto‚ mit Grimm Absicht war, habe ich €brigens gesehen. So haben
das Unwetter und du mir das Leben gerettet. Wenigstens f€r den Augen-
blick ... Im €brigen war ich fest entschlossen, diesem feuchten Grabe zu
entrinnen. — Die Wellen schlugen von Zeit zu Zeit €ber die Deckaufbauten
des Schiffes hinweg. Das war meine Rettung, denn als ich gerade auf dem
Kamm einer Welle schwamm, legte das Schiff stark nach backbord €ber,
und ich lie‚ mich, auf die Gefahr hin, an irgendeine Wand geschlagen zu
werden, von der Woge auf das Schiff tragen. Ich hatte Gl€ck. Euer Rettungs-
boot war noch nicht im Wasser, als ich schon l•ngst wieder auf der an-
deren Seite an Deck stand. Kein Kratzerchen habe ich dabei davongetragen.
Es ist also ganz einfach, wie du siehst."
"Hast du Leading get„tet?" unterbrach Milton sie schroff.
"Nein!"
"Auch Rothing nicht?"
"Auch ihn nicht!"
"Wer aber war es denn?"
"Grimm ist nicht dumm. Hat er die Wahrheit noch immer nicht erraten?"
"Bis jetzt nur zum Teil."
"Erz•hle du mir erst einmal!"
Der Multimillion•r berichtete seiner geheimnisvollen Freundin nun in
allen Einzelheiten, was Grimm ihm am Morgen auseinandergesetzt hatte.
"Und was", so fragte ihn die Maskierte, als er seine Erz•hlung beendet
hatte, "ist nun deine eigene Ansicht zu dieser Sache?"
"Tja", meinte Milton Drake, "ich bin mit Grimm in allem einer Meinung,
was den Raub des Diamantenhalsbandes angeht. Im €brigen bin ich es nicht.
Auf der anderen Seite wei‚ ich aber auch nicht mit Sicherheit, welche Rolle
du selber in der ganzen Sache gespielt hast, wenn ich mir auch so meine
Gedanken dar€ber schon gemacht habe. Ich meine folgendes: Einer der
T•ter — und es war nicht der kl€gste von den dreien — mu‚ zu der An-
sicht gekommen sein, da‚ es doch eine Dummheit w•re, mit den andern
beiden die Beute zu teilen. Also fa‚te er den lobenswerten Entschlu‚, sich
selbst in den Besitz des Kolliers zu bringen, und wenn n„tig, die beiden
Helfer unsch•dlich zu machen. Er fing mit Leading an, der das Halsband bei
sich trug. Er nahm es ihm ab und scho‚ ihn nieder. Das gleiche wiederholte
er mit Rothing, den er als Mitwisser loswerden wollte. — Du hast nat€r-
lich gewu‚t, wer die R•uber des Schmuckes waren, und du bist in Leadings
Kabine offenbar wegen desselben Halsbandes gekommen. Du warst aber
zu sp•t daran, aber noch zu fr€h genug, um unserem lieben Oliver in die
weitge„ffneten Arme zu laufen. Genau dasselbe passierte dir in der Kabine

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von Rothing — und das hat dich beinahe das Leben gekostet. Sind meine
Vermutungen richtig?"
"Im gro‚en und ganzen schon", sagte das sch„ne M•dchen im roten Kleid.
"Warum aber glaubst du, da‚ der M„rder der d€mmste von den dreien war?"
"Weil seine Handlungen darauf hindeuten. Besonders deswegen, weil er
die Unvorsichtigkeit beging, das Kollier im G€rtel st•ndig bei sich zu
tragen — aber auch die vorget•uschte Flucht war ungeschickt genug. Blieb
er an Bord, mu‚te er doch der peinlichsten Nachsuche immer gew•rtig sein —
wozu das alles?"
"Du hast schon recht", pflichtete ihm die ,Rote Schlange' bei. "Ich kannte
die T•ter tats•chlich mit Namen, weil ich sie an Bord steigen sah, als ihr
noch an der Br€cke herumstandet. Ich ging auch in Leadings Kabine, um ihm
den Schmuck abzujagen. Aber leider kam ich zu sp•t, wie du ganz richtig
annimmst. Ich sah einen Mann den Gang hinunterlaufen, erreichte ihn aber
nicht mehr. Trotzdem begriff ich sofort, was hier gespielt wurde: einer der
T•ter wollte seine beiden Spie‚gesellen umbringen, um die Beute f€r sich
allein zu behalten. Leider wu‚te ich nicht, welcher von den beiden der Schul-
dige am Morde Leadings war. Das konnte ich nur dann herausbringen, wenn
ich wu‚te, wer nun das Halsband hatte. Ich durchst„berte die Kabine des
dritten und fand das Halsband. Damit wu‚te ich auch, da‚ von nun an
Rothing in Todesgefahr schwebte. Ich glaubte, noch genug Zeit zu haben, um
Rothing zu warnen. Seinen k€nftigen M„rder hatte ich gerade noch im
Salon stehen sehen. Ich wagte mich also in seine Kabine, in der Annahme,
der andere sei noch im Salon verblieben. Das war ein Irrtum. Als ich zu
Rothings Kabine kam, h„rte ich auch schon den Schu‚ — da ich nur wenige
Sekunden vor dir und Grimm die Kabinent€r erreicht hatte. Der M„rder war
noch drinnen. Nun lief ich wieder zur€ck, woher ich gekommen war, und
hoffte, ihr w€rdet zuerst die Kabine untersuchen. Da h•ttet ihr den M„rder,
der bis dahin zur Flucht keine Zeit hatte, sofort gefa‚t. Leider war das mein
zweiter Irrtum in dieser Nacht, und dieser w•re mir beinahe teuer zu stehen
gekommen. Ihr verfolgtet mich — und ich verschaffte dem wirklichen M„rder
damit die idealste Fluchtm„glichkeit, die er sich jemals h•tte w€nschen
k„nnen."
"Aber wer, um Gottes willen, ist nun dieser geheimnisvolle M„rder, nun
sage es doch endlich!"
"Johnny Seldon ist's", antwortete die ,Rote Schlange'. "Er bewohnt
€brigens die Kabine nebenan."
"Unm„glich!" rief Milton €berrascht.
"Da staunst du, nicht wahr?" l•chelte das M•dchen in Rot.
"Johnny, der elegante und allseits beliebte Johnny! Das ungetr€bteste
W•sserchen auf dem ganzen Schiff, und aller Welt bester Freund ... der

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war's? Da sieht man wieder einmal, wie wenig man im Grunde von seinen
Mitmenschen wei‚. Ich habe", kopfsch€ttelte Milton, "noch nie in meinem
Leben einen Menschen erlebt, der soviel sprach, und dabei von sich selbst
doch so wenig zu sagen verstand, wie dieser Seldon. Und ausgerechnet den
habe ich f€r dumm gehalten!!!"
"Und das ist er auch, Milton. Der Mann mag schlau sein, vielleicht auch
gerissen, aber wirklich klug ist er nicht."
"Hast du ihm eigentlich das Kollier abgenommen?"
"Nein", antwortete die Rote, "Grimm mu‚ es in die Hand bekommen,
denn ohne diesen Beweis kann er Johnny nicht verhaften."
"Und wer soll ihn auf die F•hrte hetzen?"
"Wer denn sonst, als der ber€hmte Kapuzenmann?" l•chelte das M•d-
chen. "Die ,Rote Schlange' ist nun einmal tot und f€r den Moment wollen wir
ihr die Grabesruhe lassen, um den Passagieren Unannehmlichkeiten zu er-
sparen. Wenn Grimm erf•hrt, da‚ ich noch lebe, dann stellt er das ganze
Schiff auf den Kopf und kein Mensch kommt mehr zur Ruhe — ohne da‚
damit der Sache gedient w•re."
"Gut also: der Kapuzenmann wird sich deshalb — gehorsam dem hohen
Befehl — um Grimm k€mmern."
"…brigens", sagte die Rote, "du hast mir doch erz•hlt, da‚ Grimm die
zweite Kugel mikroskopisch untersuchen lie‚. Jene Kugel, die ihr in Leadings
Kabine gefunden habt."
"Ja, allerdings."
"Dann wird er auch die Wunde finden, die dazu pa‚t ... an Johnnys
Bein. Die durchl„cherte Hose mu‚ in seinem Koffer sein. Schlie‚lich wird er
auch die Waffe dort finden ... mit Explosivgeschossen."
Mit diesen Worten erhob sich die ,Rote Schlange' von ihrem Stuhl. "Leb'
nun wohl, Milton", sagte sie. "Mach's gut!"
Der Multimillion•r war ihr aber mit einem Satz in den Weg gesprungen
und legte ihr beide H•nde auf die Arme:
"Nein", sagte er, "so kannst du nicht davongehen, Liebe! Wenn du w€‚-
test, was ich in den letzten Stunden um dich gelitten habe, so lange ich dich
habe totglauben m€ssen ... das kannst du mir nicht antun, wiederum sang-
und klanglos zu verschwinden!"
"Du bist schrecklich, Milton", l•chelte ihn das M•dchen hinter seiner
Maske an. "Ein furchtbarer Qu•lgeist bist du, und sehr verliebt dazu! Es
qu•lt dich, da‚ du nicht wei‚t, wer ich bin — es regt dich auf, und nun bildest
du dir ein, du m€‚test deshalb in mich verliebt sein ..."
"Ich gebe alles zu, leider aber ist meine Verliebtheit nicht mehr zu
kurieren. Leider ... denn sie scheint auf dich keinen Eindruck zu machen.

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Und nun mach mich nicht wahnsinnig, M•dchen! Nimm endlich diese Maske
ab, damit ich dich wenigstens einmal einen Augenblick lang sehen kann. Ich
kann dir doch tausendmal besser helfen, wenn ich wei‚, wer du bist!"
"Die Maske abnehmen? Das mu‚ ich ganz entschieden ablehnen", war
die Antwort, die er erhielt. "Ich m„chte dir deine Illusionen nicht rauben",
erg•nzte sie sp„ttisch.
"Das kannst du nicht", erwiderte Milton, "auch dann nicht, wenn du es
wolltest. Vom ersten Augenblick an habe ich dich f€r eine gute Seele ge-
halten, f€r eine selbstlose Frau, die den Schwachen vor dem Gesetz zu ihrem
Recht verhilft. Und ich habe mich in diese Seele verliebt und nicht in
irgendein Gesicht, das ich dazu noch nie zu sehen bekommen habe. Deine
fallende Maske k„nnte mich nicht abschrecken, denn dein Gesicht kann das
Antlitz deiner Taten nicht wandeln. Um deiner Seele willen liebe ich dich!
Du! Stelle mich doch auf die Probe! Nimm die Maske ab, und du wirst dich
€berzeugen ...!"
Aber die Maskierte sch€ttelte nur ihr Haupt.
"Unm„gliches verlangst du von mir, mein Freund", sagte sie weich.
"So soll ich dich niemals sehen, wie du wirklich bist?" war die fassungs-
lose Frage des Multimillion•rs.
"Niemals ...!" lachte die Frau in Rot, "das ist ein zu gro‚es Wort,
Lieber. Nein — irgendwann wird einmal der Tag kommen, da in deiner
Gegenwart die Maske f•llt", ein verhei‚ungsvoller Blick machte bei diesen
Worten den Mann erschauern, "aber noch habe ich meine Aufgabe nicht er-
f€llt — und die mu‚ erst ganz vollbracht werden!"
Mit einer raschen Bewegung hatte sie sich den H•nden Miltons ent-
wunden und war zur T€r hinausgeschl€pft, bevor er sie hatte halten
k„nnen ...

* *
*

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9. Kapitel

DAS DIAMANTENKOLLIER WIRD GEFUNDEN

Milton war gerade aufgestanden, hatte sich gewaschen und war mit dem
Rasieren fertig geworden. Als er seine Uhr vom Nachttisch nahm, entdeckte
er unter derselben einen Zettel, den er sich nicht erinnerte, vorher dort ge-
sehen zu haben. Er nahm ihn auf und las das einzige Wort, das drauf stand:
"Bullauge". Sonst nichts. Das Wort war mit roter Tinte geschrieben, dar-
unter eine kleine rote Schlange gezeichnet.
Verblüfft betrachtete er den Zettel. Was wollte sie mit diesem Wort
wohl sagen? Er entzündete nachdenklich das Papier an einem Streichholz
und ließ es zu Asche verbrennen. Bullauge ... Bullauge ... warum sie wohl
so mysteriös schrieb?
Auf dem Gang ließen sich Schritte vernehmen; man klopfte an die Tür.
"Herein!"
Es war der Inspektor.
"Sie sind aber früh auf den Beinen", begrüßte ihn der Multimillionär.
"Und wenn ich erst an andere Leute denke", antwortete Grimm, "die sich
halbe Nächte um die Ohren schlagen, nur um geheimnisvolle Briefe zu
schreiben ... Lesen Sie einmal den Wisch da!"
Mit diesen Worten warf er einen anderen Zettel auf den Tisch, den Milton
aufnahm, um ihn laut vorzulesen, obwohl er auf den Inhalt der Bot-
schaft bereits vorbereitet war. Die Worte standen im Telegrammstil abge-
faßt und lauteten folgendermaßen:
JOHNNY SELDON WUNDE AM BEIN STOP
DURCHLÖCHERTE HOSE IM KOFFER STOP
HALSBAND IN KABINE VERSTECKT STOP
ERMORDETE ROTHING STOP ROTE SCHLANGE
WUSSTE ALLES WOLLTE HALSBAND RETTEN
UND OPFER VERMEIDEN STOP ZU SPÄT
Als Unterschrift trug der Zettel eine schwarze Kapuze.
"Na," sagte Grimm, "was halten Sie davon?"
"Jedenfalls muß man der Sache gleich nachgehen. Die Erklärung zur Rolle
der ,Roten Schlange' in dem ganzen Drama leuchtet mir ein, sie über-
zeugt mich sogar mehr als alle Ihre Theorien zusammengenommen, Oliver",
antwortete Drake.
"Eine andere Antwort konnte man von Ihnen auch nicht gut erwarten",
entgegnete der Kriminalist geringschätzig. "Haben Sie eine Pistole?"
"Ich glaube ja."
"Wo ist sie?"
"Unterm Kopfkissen, wo die Pistole eines ehrbaren jungen Mannes hin-

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gehört", antwortete Milton lachend, und beugte sich über sein Lager, um
sie hervorzuholen.
"Haben Sie auch eine Kapuze in der Tasche?" fragte Grimm mit eigen-
tümlicher Betonung und beobachtete dabei aufmerksam das Gesicht seines
Freundes.
"Pech gehabt, Oliver", antwortete dieser. "Da müssen Sie mir schon eine
leihen, wenn Sie mich unbedingt als Kapuzenmann erleben wollen."
Die Antwort Grimms bestand in einem wenig freundlichen Grunzen.
"Stecken Sie mal Ihre Knarre in die Tasche und kommen Sie mit", sagte
er dann.
"Wohin?"
"In die Kabine nebenan."
"Ist's dazu nicht zu früh? Wenn der liebe Johnny noch schläft?"
"Keine Angst! Ich habe ihn gerade im Frühstückszimmer mit Shandon
gesehen."
Grimm ging voraus. Die Tür der anliegenden Kabine war aber abge-
schlossen, wozu Milton murmelnd bemerkte:
"Immerhin ist er mißtrauisch, der gute Junge. Genau so, als ob er ein
schlechtes Gewissen hätte."
"Ich habe schon einen Duplikatschlüssel vom Kapitän bekommen", sagte
der Kriminalist und schloß auf. In der Kabine angelangt, sperrte er von
innen zu und erklärte:
"Nur damit unser Liebling keinen Schreck bekommt, sobald er seine Tür
offen findet; sonst könnte er scheu werden. Wenn er uns in der Kabine an-
trifft, soll's mir gleich sein; der Rückzug wird ihm nicht leicht gelingen.
Fangen wir jetzt an!"
Sie begannen die Kabine genau zu durchsuchen und hatten auch nach
wenigen Augenblicken zwei der gesuchten Gegenstände gefunden: die durch-
löcherte Hose und eine Schachtel mit Explosivgeschossen; die Pistole mußte
Johnny in der Tasche haben.
"Wo ist aber bloß der Schmuck?" fragte Grimm. "Ich kann mir nicht
vorstellen, daß er den ständig mit sich herumschleppt. Ich fange an zu glau-
ben, daß unser liebenswürdiger Kollege, der Kapuzenmann, uns zuvor ge-
kommen ist, und das Kollier schon für sich selbst geangelt hat. Wir haben
doch alles abgesucht! Was meinen Sie, Milton? Machen Sie doch mal einen
vernünftigen Vorschlag!"
Milton blickte sich schweigend um, bevor er antwortete. Wenn die ,Rote
Schlange' das Halsband hier gesehen hatte, warum sagte sie dann nicht, wo?
Da aber durchfuhr ihn der Gedanke an den sonderbaren Zettel. Das Bull-
auge! Er hätte früher draufkommen können! Natürlich hatte sie in der Eile
das Versteck nicht angegeben und ihm deswegen den zweiten Zettel zu-
gesteckt.
"Was ist denn das?" rief er nun und zeigte auf das Bullauge der Kabine.
Grimm folgte der Richtung seines Fingers.

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"Eine Schnur", rief er.
In der Tat, da hing eine d€nne Schnur, besser ein Faden, den man ge-
rade noch sehen konnte.
"Sie glauben doch nicht ...?"
Aber der Inspektor h„rte nicht auf ihn. Mit einem Satz war er am Bull-
auge, schraubte es auf und klappte die Scheibe nach innen. Dann zog er
an der Schnur. Am andern Ende erschien ein Netzbeutel mit einem zwei-
farbigen Badeanzug — von verd•chtigem Gewicht! Er nahm das Badetrikot
aus dem Beutel; in ihm eingewickelt fand sich ein kleines Paket. Er brauchte
es nur an einer Ecke anzurei‚en, um jeder weiteren Suche enthoben zu sein:
in seinen H•nden hielt er das Diamantenhalsband der Mrs. Clarkson!!!
"Sieh mal einer an!!!" rief er, "schau, schau, schau! Ein Beutel mit Bade-
anzug h•ngt zum Trocknen auf dem Balkon!!! Nicht schlecht, die Idee! Kein
Mensch denkt sich was dabei! Ei, ei, ei ... jetzt m„chte ich nur noch ..."
Seiner wortreichen Verwunderung €ber das genial ausgedachte Versteck
vermochte er keinen weiteren Ausdruck mehr zu verleihen, denn soeben
h„rte man Schritte auf dem Gang. Vor der T€r kamen sie zum Stehen. Ein
Schl€ssel drehte sich im Schlo‚. Blitzschnell stellte sich Milton neben die
T€r an die Wand. Die T€r „ffnete sich und Johnny Seldon betrat die Kabine.
Als er den Inspektor sah, erriet er sofort, da‚ er entdeckt war. Mit erstaun-
licher Besonnenheit stie‚ er ruhig die T€r hinter sich mit dem Fu‚e zu.
"Wollen Sie mir erkl•ren, was Sie hier zu suchen haben, Grimm?" Gleich-
zeitig hatte er seine Pistole mit solcher Geschwindigkeit in Anschlag ge-
bracht, da‚ Grimm ihm nicht mehr zuvorkommen konnte.
"Ich habe mir nur einige Erinnerungsst€cke gesammelt", antwortete der
Kriminalist mit Seelenruhe; "h€bsche Erinnerungsst€cke an Ihre bunt-
bewegte Laufbahn als erfolgreicher Verbrecher, lieber Johnny! Haben Sie
irgend etwas zu sagen, bevor ich Ihnen die Handschellen anlege?"
"Mir Handschellen anlegen?" lachte der elegante Johnny, der freilich die
Anwesenheit Miltons noch nicht bemerkt hatte, "ich glaube, Sie €bersch•tzen
Ihre Lage ein wenig, Inspektor! Sie erinnern sich doch noch an die Wunde
in Leadings Brust, oder nicht ...?"
"Doch, doch", best•tigte der Inspektor, "ich kann mich des unerfreu-
lichen Anblicks noch recht gut entsinnen."
"Sie werden gleich noch viel h•‚lichere Erfahrungen machen, wenn Sie
nicht mit mir verhandeln wollen ... diese Pistole ist n•mlich mit acht wunder-
sch„nen Explosivk€gelchen geladen ... das ergibt pr•chtige L„cher in dicke
Dummk„pfe ...!"
"Sie geben also zu, Leading und wohl auch Rothing erschossen zu haben?"
war die schnelle Gegenfrage Oliver Grimms.
"Aber sicher! Von meinem Gest•ndnis werden Sie ohnehin keinen Ge-
brauch machen k„nnen — wenn Sie nicht vorziehen, schleunigst zu ver-
gessen, was Sie hier gesehen haben."
"Was habe ich denn davon, wenn ich es vergesse?"

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"Das Leben ist einmalig und kostbar, lieber Grimm; Sie sollten es nicht
leichtfertig wegwerfen. Aber Sie sollen auch ein paar sch„ne Diamanten zum
Andenken an Ihren dankbaren Johnny kriegen! Na, wie ist's?"
"Darauf lie‚e sich vielerlei antworten. Zun•chst aber einen selbstlosen
Rat eines •lteren Freundes: wenn Sie das n•chste Mal in ein Zimmer kommen,
schauen Sie lieber erst hinter die T€r, bevor Sie Ihr Liedchen singen!!"
"Diese Pistole n•mlich ...", sagte eine drohende Stimme an Johnnys
Ohr, und ein k€hles Eisen an seinem Nacken jagte ihm einen Schauer €bers
R€ckgrat, "diese Pistole ist nicht mit Explosivgeschossen geladen. Aber das
macht fast gar nichts; wenn ich jetzt losdr€cke, dann ist der Effekt fast genau
der gleiche!"
Die …berraschung traf den Mann wie ein Schlag. Er wurde bla‚ und be-
gann zu zittern.
"Lassen Sie Ihre Pistole los!" befahl der Inspektor.
Johnnys Finger „ffneten sich; die Pistole fiel zu Boden. Die Beine ver-
sagten ihm, und er fiel hin. Ebenso unerwartet war er aber auch wieder
auf den Beinen und hatte die Pistole in der Hand. Er feuerte sofort. Der
Trick der gespielten Schw•cheanwandlung hatte ihn richtig der Drohung
Miltons entzogen. Es gelang ihm, die beiden M•nner so zu verwirren, da‚
er f€r ein paar Sekunden die Lage beherrschte und die waren genug. Eine
knatternde Serie von Sch€ssen schlug in die Wand um Inspektor Grimms
Standort. Milton Drake, der sich nun wieder gefa‚t hatte, wollte sich auf
Seldon werfen, doch jener entwickelte eine erstaunliche Wendigkeit. Mit
einem Fu‚ suchte er Stand zu halten, w•hrend der andere Milton in die
Weichen fuhr, da‚ dieser st„hnend zu Boden ging.
Mit einem Hechtsprung st€rzte sich Seldon der T€re entgegen, scho‚
noch einmal und schlug sie hinter sich zu. Knirschend sperrte der Schl€ssel,
w•hrend sich drinnen Drake •chzend vom Boden erhob und Grimm aus
seiner Deckung kroch.
"Zum Teufel noch mal — Milton, ich k„nnte Sie erschie‚en. M€ssen Sie
immer alle entwischen lassen?" Mit diesen Worten sprang Grimm auf die
T€re zu und suchte verzweifelt in seinen Taschen den Nachschl€ssel. Endlich
hatte er ihn in der Hand und versuchte aufzusperren. Doch drau‚en steckte
der andere Schl€ssel, und der Inspektor drohte zu zerspringen. Mit den
F•usten h•mmerte er wild auf die T€re los. Milton Drake hatte sich mittler-
weile vollends erhoben und kam nun langsam auf Grimm zu. Seine Miene,
noch vom Schmerz verzerrt, verhie‚ nichts Gutes. Er fa‚te kurzerhand Grimm
an der Schulter, drehte ihn mit hartem Griff zu sich herum, und seine Augen
funkelten in hellem Zorn.
"Mein lieber Oliver — jetzt reicht es mir aber endg€ltig. Ich habe es
satt, von Ihnen andauernd als dummer Idiot oder bl„dsinniger Verbrecher
hingestellt zu werden. Wenn Sie versagen, schreien Sie mir die unfl•tigsten
Beschimpfungen an den Kopf. Von nun an machen Sie sich ihre Sorgen allein
und lassen mich gef•lligst in Ruhe, bis Sie wieder einmal einen klaren

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Kopf haben sollten." Heftig atmend beschlo‚ Milton seine Rede, drehte sich
auf dem Absatz herum und stelzte auf das Bullauge zu. Dort blieb er stehen
und tat, als g•be es f€r ihn keinen Seldon und keinen Grimm mehr.
Grimm schluckte ein paarmal heftig, sein Gesicht lief rot an, dann wuch-
tete er mit einem unartikulierten Aufschrei seine ganze Wut gegen die T€r.
Doch es n€tzte ihm nichts, sie gab keinen Zoll nach. Nun beschr•nkte sich
Grimm wieder auf heftiges Pochen. Erst nach einiger Zeit wurde es am Gang
drau‚en laut. Grimm br€llte: "Sofort „ffnen — schnell „ffnen!" Seldon hatte
die Kaltbl€tigkeit besessen, trotz der bedrohlichen Situation die T€re ab-
zusperren. Dies zeigte Grimm, welchen Gegner er vor sich hatte.
Als sich endlich die T€re „ffnete, jagte Grimm wie von Furien gehetzt
mitten durch die auseinanderstiebende Ansammlung und wandte sich sofort
dem Aufgang zum Deck zu. Doch mitten im Lauf hemmte ihn der soeben er-
scheinende Kapit•n und forderte Aufkl•rung. Grimm sah ein, da‚ im Augen-
blick nur ruhige Besonnenheit weiter n€tzen konnte und nahm den Kapit•n
kurzerhand mit auf Deck.
Dort berichtete er ihm den ganzen Vorfall und meinte:
"Wir haben zwischen zwei M„glichkeiten zu w•hlen. Entweder alarmieren
wir das ganze Schiff — €brigens", unterbrach er sich selbst heftig, "K•ptn,
so schnell wie m„glich alle Rettungsboote besetzen lassen. Bewaffnen Sie
Ihre Leute und geben Sie Befehl, da‚ jeder, der sich einem Boot n•hert,
ohne Gnade und Ausnahme erschossen wird." Der Kapit•n brummte etwas
von "verdammter Schweinerei" vor sich hin und sauste davon. Grimm rief
ihm noch nach: "Und bitten Sie alle Passagiere in den Salon."
Nein, es gab keine zwei M„glichkeiten mehr, war es ihm klar geworden.
Der Mann war zu gef•hrlich, um noch mit verdeckten Karten spielen zu
k„nnen. Erregt schritt Grimm auf und ab und formte einen Plan. Ja, nur so
konnte es gehen. Rasch begab er sich zur Befehlsbr€cke, wo er den Kapit•n,
mit lauter Stimme die gew€nschten Weisungen gebend, antraf.
Eilig entfernten sich die Mannschaften, um vom Steuermann die Waffen
zu empfangen. "Ich habe bereits Befehl gegeben, die Leute ohne Ausnahme
im Salon zusammenzurufen, Inspektor", berichtete der Kapit•n. "Was ge-
denken Sie jetzt zu tun?"
Grimm nahm wortlos das Glas Whisky, das ihm der Kapit•n entgegen-
hielt, und leerte es mit einem Schluck.
"Wir m€ssen uns mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zum Kampf
gegen diese Bestie vereinigen, Kapit•n. Sie, die Mannschaft — ja sogar die
Passagiere — und ich m € s s e n so rasch wie m„glich mit ihm fertig werden.
Er wei‚, da‚ es um sein Leben geht, und wird bis zur letzten Patrone
k•mpfen. Postieren Sie den Rest ihrer Leute an allen Zug•ngen zum Innern
des Schiffes und geben Sie unbedingten Schu‚befehl, dann kommen Sie,
bitte, in den Salon nach. Ich brauche gerade Sie sehr dringend, da Sie ja
das Schiff am besten kennen."
Grimm entfernte sich im Eilschritt und hastete dem Salon zu. Lautes und

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aufgeregtes Stimmengewirr schlug ihm entgegen, als er die T€re „ffnete.
Im Nu war er von gestikulierenden und wirr durcheinanderschreienden Passa-
gieren umringt. Er sog tief Luft ein und br€llte dann mit voller Kraft:
"Ruhe — bitte!"
Langsam verebbte der L•rm und er wartete, bis es ganz still geworden
war. "Es tut mir leid, Sie in Ihrem Vergn€gen gest„rt zu haben, meine Damen
und Herren, doch befindet sich auf dem Schiff ein gemeiner, r€cksichtsloser
M„rder — und er befindet sich noch in Freiheit. Zwei Passagiere, Mr. Leading
und Mr. Rothing, seine Komplizen, wurden bereits von ihm ermordet. Diese
drei waren es, die das Diamantenkollier raubten und sich auf raffinierte
Weise wieder in das Schiff zur€ckbegeben konnten." Allseits wurden Rufe
laut und es drohte die Stimmung im Salon wieder auf Sturm zu gehen. Doch
im selben Augenblick erschien Milton in der T€r und trat erstaunt n•her.
"Hallo, Inspektor, was bedeutet denn das?" fragte er mit nicht beson-
ders geistreichem Gesicht.
Die augenblickliche Ruhe ausn€tzend, f€hrte der Inspektor, ohne auf
Milton weiter zu achten, aus: "Ich m„chte die Herrschaften bitten, unbe-
dingte Disziplin zu wahren, da ich auf Ihre Mithilfe angewiesen bin. Die Herren
m„chte ich bitten, falls sie Waffen besitzen und freiwillig dazu bereit
sind, an der Auffindung des M„rders mitzuarbeiten. Der Rest der Passagiere
mu‚ leider im Salon, als dem einzigen sicheren Ort, solange festgehalten
werden, bis der Verbrecher unsch•dlich gemacht ist."
Grimm hob die Rechte um den wieder einsetzenden Debatten entgegen-
zutreten. "Wollen, bitte, die Herren, die sich zu einer freiwilligen Mitarbeit
entschlossen haben, an meine Seite treten." Ohne Ausnahme kamen sie
alle auf ihn zu. Nur Milton blieb reglos, als w•re er an dem allen unbe-
teiligt, stehen. Grimm musterte ihn erstaunt. "Ausgerechnet Sie schlie‚en
sich aus", meinte er mit sichtbarer Entt•uschung in der Stimme.
"Ich habe keine Lust, von Ihnen noch l•nger wie ein Schuljunge behan-
delt zu werden. Ich schlie‚e mich nicht aus, aber werde auf eigene Faust
versuchen, n€tzlich zu sein."
Grimm l•chelte ironisch. "Wenn Sie unbedingt bald in den Himmel kom-
men wollen, so habe ich nichts dagegen." Sofort wieder ernst werdend, teilte
Grimm die •ltesten Herren ein, die drei Zug•nge zum Salon zu bewachen.
Wer herein will, habe zuerst durch den T€rspalt seine Pistole abzuliefern,
befahl er.
Mit den restlichen Leuten begab sich Grimm, ohne sich um die mehr
oder weniger hysterischen ‡u‚erungen der Damen zu k€mmern, an Deck.
Der Kapit•n postierte eben die letzten Matrosen. Sich an Grimm wendend,
fragte er:
"Und wann soll der Angriff beginnen, Inspektor?"
Aber ehe der Inspektor antworten konnte, h„rte man pl„tzlich aus der
Richtung der vorderen Mannschaftsluke Sch€sse.
Grimm ri‚ seine Pistole heraus und br€llte:

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"Jetzt beginnt er, Kapitän!" Ehe er davonstürmte, befahl er einigen
Männern, diesen Durchgang, an dem sie sich befanden, zu bewachen und
den restlichen, ihm zu folgen.
Wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm eilten sie davon und rissen im
Laufen ihre Pistolen heraus. Die Sicherungsflügel knackten, und schon waren
sie heran, aber zu spät.
Quer vor der Luke lag ein Matrose in seinem Blut und ein zweiter wälzte
sich stöhnend den Anstürmenden entgegen. Seine ausgestreckte Hand zeigte
zum Eingang des Mannschaftslogis. Grimm beugte sich über ihn.
"Was ist geschehen? Können Sie sprechen? Rasch, Kapitän, den Arzt."
Der Verwundete sank in sich zusammen, so daß sich Grimm weit nieder-
beugen mußte, um seine Worte zu verstehen.
Abgerissen berichtete der Matrose. "Kam von hinten, schoß, ehe wir ihn
sahen, hat unsere Waffen, und verschwand im Logis."
Da kam auch schon der Arzt heran.
Grimm richtete sich toternst auf. "Meine Herren, Sie sehen, mit welchem
Gegner wir es zu tun haben. Bitte, überlegen Sie sich Ihre Hilfe noch ein-
mal." Doch keiner rührte sich. Ihre Mienen waren ernst und tödlich ge-
worden. Sie wußten, daß sie es nicht nur dem Inspektor zuliebe, sondern in
Verantwortung ihren Frauen gegenüber taten.
"Kapitän, wieviele Ausgänge hat das Mannschaftslogis?"
"Zwei aufs Deck, einen in den Frachtraum mit einem weiteren zum Heck-
logis, von dort wiederum auf Deck, und einen in den Maschinenraum."
"Verdammt", fluchte Grimm, "da hat er ja das ganze Schiff für sich." Eine
kleine Weile sinnierte er vor sich hin, dann entschied er: "Sie, Kapitän,
gehen vom Heck aus mit der Hälfte der Leute vor. Postieren Sie bei jeder
Abzweigung ein paar Mann. Wir müssen das ganze Schiff absperren. Ich
werde hier eindringen. Rufparole ist, na, sagen wir ,Farmer'."
Grimm wartete, bis sich der Kapitän entfernt hatte, dann wandte er sich
noch einmal an den ihm verbliebenen Rest der Leute.
"Es wird ohne Anruf geschossen. Sie kennen den Mörder gut genug.
Also los!"

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10. Kapitel

AUF LEBEN UND TOD

Milton Drake war im Salon geblieben und ging, nachdem Grimm ihn ver-
lassen hatte, auf Mavis zu. Sie sah ihm erwartungsvoll entgegen.
"Was hattest du mit Grimm, Milton? Warum lehntest du dich vorhin
gegen ihn auf?"
"Nun, das ist nicht so einfach zu erklären, liebe Mavis", antwortete
Milton und blickte sie forschend an. "Grimm hat die Gewohnheit, mich an-
dauernd zu schulmeistern und auf mich wütend zu sein. Nun, ich vertrage
es eben nicht immer und halte mich seiner dummen Suchaktion fern."
"Warum nennst du sie dumm, Milton. Er macht doch das einzig Mög-
liche und Richtige."
"Nein, Mavis, es ist sogar sehr falsch, was er macht. Er opfert sinnlos
Leute und wird nur Erfolg haben, wenn er Glück hat. Ich kann mir nicht
vorstellen, was es heißt, auf einem Schiff dieser Art jemanden suchen zu
wollen, und ewig kann er euch ja nicht hier halten. Aber wozu das viele
Reden. Ich möchte dich nur bitten, Mavis, falls du unbedingt aus dem Salon
heraus wollen solltest, tu es nicht ohne meine Begleitung. Ich werde hin und
wieder hier hereinschauen. Ja, versprichst du mir das?"
"Du willst fort, Milton? Ich dachte du ..."
"Nein, Feigling bin ich keiner, nur gehe ich gerne meinen eigenen
Methoden nach. Also, bitte, nicht ohne mich da hinaus!"
Sie trat dicht auf ihn zu und ihre blitzenden Augen sahen ihn ernst an.
"Bitte, gib auf dich acht, Milton." Sie hatte es ganz leise gesagt und
Milton hörte dieser Stimme noch nach, als er schon auf dem Wege zu seiner
Kabine war. Dort angekommen, steckte er eine starke Blendlaterne und
einige Magazine Munition zu sich. Dann wanderte er, laut und falsch pfei-
fend, den Korridor entlang, dem Achterdeck zu. Er mußte immerfort an
die ,Rote Schlange' denken und er wußte das Gefühl, wenn er an sie dachte,
nicht von leisem Schmerz und stillem Glücklichsein zu unterscheiden. Und
gerade als er den Korridor durchwanderte, hörte er die Schüsse, allerdings
nur gedämpft und ferne, die die beiden Matrosen niederstreckten. Einen
Augenblick blieb er stehen und sein Gesicht nahm einen unerbittlichen und
beinahe grausamen Ausdruck an. Er murmelte vor sich hin. "Na warte,
Seldon, ich krieg dich schon!"
Auf dem Deck vernahm er hastende Schritte. Es mußte eine größere
Gruppe sein. Ach so, die wollen wohl an die Luke im Achterdeck. Nun,
ich kenne das Schiff auch und kann mir denken, wohin der Kerl will. Doch
als Milton schon auf der ersten Stufe der Treppe nach oben stand, hörte er
plötzlich am anderen Ende des Ganges einen gellenden weiblichen Schrei.
Wie der Blitz raste er den Gang zurück und hörte ziemlich weit vorne sich
entfernende Schritte. Dann schlug eine Tür und Milton konnte, am Ende des

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Ganges angekommen, nicht mehr feststellen, durch welche der drei Seldon
denn nur um den konnte es sich handeln, verschwunden war. Er erinnerte
sich, daß er Mavis versprochen hatte, ab und zu in den Salon zu kommen.
An der Türe wurde ihm die Pistole abverlangt, erst dann konnte er ein-
treten. Die Frauen saßen oder standen herum und debattierten erregt. Der
Steward servierte Likör und Sandwiches, doch waren sie alle viel zu sehr
in Aufregung, um etwas zu nehmen. Milton blickte sich suchend um, aber
er sah Mavis nicht unter den Anwesenden. Er forderte einen Augenblick
Schweigen, dann fragte er, ob Mavis den Raum verlassen hätte. Niemand
wußte etwas zu erwidern. Sie waren wohl alle viel zu sehr mit den eigenen
Sorgen beschäftigt. Milton fragte die Türposten ebenfalls, doch auch die
wußten nichts von Mavis zu berichten. Da bemerkte Milton, wie Shandon
zusammenfuhr. Er ging auf ihn zu und fragte ihn eindringlich.
"Shandon, wenn Sie etwas wissen, so sagen Sie es mir. Ich hörte vor-
hin einen Frauenschrei und vermute, daß es Seldon war, der eine Frau über-
fiel. Es könnte sich nur um Mavis handeln."
Shandon gestand nun, über und über errötend: Ja, sie sei vor einigen
Minuten hinausgeschlüpft, und zwar gerade in dem Moment, wo die an-
deren Männer seiner Tür zu einem Whisky gegangen seien. Aber er sollte
gerade ihm, Milton, nichts sagen.
Milton warf dem Mann einen vernichtenden Blick zu und begab sich wie-
der auf den Korridor. Man sah es ihm nicht an, wie sehr ihn der Gedanke
an das Schicksal Mavis' aufwühlte. Für ihn stand fest, daß dies der beste
Schachzug Seldons war. Solange sich Mavis in seinen Händen befand, hatte
er nichts zu befürchten. Milton begab sich ebenfalls an das Achterdeck und
trat auf die Luke zu. Die Matrosen standen immer noch dort. Milton
fragte sie:
"Gibt es was neues, Jungs; habt ihr unten nichts gehört?"
"Nein, Mister Drake!"
Milton duckte sich, als er die Treppe hinunterstieg, in sich zusammen
und versuchte, jedes Geräusch zu vermeiden. Seldon hatte bewiesen, daß
er lautlos sein konnte. Also mußte man sich seiner Technik anpassen. Un-
klar war es Milton nur, auf welchem Wege er vorne, und noch dazu unge-
sehen, in den Korridor gelangen konnte. Dumpfe, verbrauchte Luft schlug
Milton entgegen. Die Gänge lagen im Halbdunkel und völlig still vor ihm.
Langsam pirschte er weiter, seine Ohren bis zum äußersten auf Geräusche
konzentriert. Nun hörte er weit vorne leises Murmeln. Aha, die andere
Gruppe. Jetzt kam er zum Abstieg zu den Maschinenräumen, Kohlenbunkern
und den Kammern um das Mittelschot. Auf den eisernen Stufen ließen sich
die Geräusche schwer vermeiden. Es hallte jeder Schritt von den Wänden
zurück.
Es wurde zusehends wärmer, und jetzt sah Milton Feuerschein vor sich.
Nun, dort brauchte er nicht zu suchen. Gleich rechts zweigte ein schmaler
Gang ab. Der mußte wohl zur Pumpanlage führen. Einem plötzlichen Impuls

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folgend, bog Milton ein. Es war zwar unwahrscheinlich, Seldon hier zu
finden, doch was f€r die anderen unwahrscheinlich schien, mu‚te f€r ihn
besonders anziehend sein. Immer enger wurde der Gang. An der Decke
zogen sich eine Reihe dicker Rohre hin und es war vollkommen finster. Jetzt
kam eine Ecke. Milton pirschte sich ganz langsam an sie heran und machte
seine Lampe wieder aus. Die schu‚bereite Pistole in der rechten Hand, blieb
er jetzt stehen. Sein Instinkt sagte ihm, da‚ hier irgendwo Gefahr an ihn
herantrat. Er hielt den Atem an und horchte gespannt. Doch nur das Pochen
des Blutes in den Schl•fen glaubte er zu h„ren. Er wollte schon entspannt
freier atmen, als er einen ganz schwachen Seufzer h„rte. Woher er kam,
lie‚ sich nicht feststellen. Unendlich langsam, Millimeter f€r Millimeter,
schob Milton seinen Kopf vor und konnte jetzt mit dem linken Auge um
die Ecke schauen. Doch es herrschte absolute Dunkelheit. Nun gab er den
Kopf ganz frei, doch im selben Augenblick peitschte ein Schu‚ daher. Milton
sah noch das grelle M€ndungsfeuer, etwa sechs bis sieben Meter aus dem
Dunkel aufflammen, dann sp€rte er einen harten Schlag gegen die Schl•fe,
da‚ er taumelte und in den Gang zur€cksank. Allerdings konnte er sich mit
den H•nden vor einem schweren Fall bewahren. An der Schl•fe zuckte
brennender Schmerz. Milton tastete vorsichtig mit der Hand an den Kopf
und f€hlte es warm und klebrig in die Finger tropfen. Er atmete erleichtert
auf. Gott sei Dank, nur eine Schramme. Dann wischte er sich mit dem
Taschentuch die Schl•fe ab und legte sich auf den Boden. Am Bauch rutschte
er Zentimeter f€r Zentimeter der Ecke zu. Der Seufzer konnte nur von Mavis
gekommen sein. Ich mu‚, und wenn es mich das Leben kostet, an diesen
Burschen heran. Jetzt hatte er den Kopf €ber die Ecke hinausgeschoben und
dr€ckte sich noch flacher zu Boden. Er sp•hte angestrengt nach der Seite hin
und vermeinte jetzt, einen geduckten Schatten wahrzunehmen, der hinter
irgendeinem gr„‚eren Maschinenger•t Deckung suchte. Schie‚en durfte Milton
nicht, da er nicht wu‚te, wo Seldon Mavis hingebracht hatte. Au‚erdem
mu‚te es unbedingt Querschl•ger geben.
Was jetzt? Ratlos verharrte er eine Weile und suchte fieberhaft nach
einer L„sung. Doch die Lage, in der sich Mavis befand, schien aussichtslos
zu sein. Da kam Milton ein Einfall, der ihn allerdings in eine unbedingt
lebensgef•hrliche Situation bringen mu‚te. Der Million•r zog sich ganz lang-
sam wieder zur€ck, erhob sich hinter der Ecke und kramte in seiner Tasche.
Dann beugte er sich ein St€ck vor und sprach fl€sternd, aber deutlich ver-
nehmbar: "Hallo, Seldon — hallo, h„ren Sie mich?"
"Ja, zum Teufel, ich h„re sie. Was wollen Sie, wer sind Sie? Versuchen
Sie nur nicht, mich anzugehen. Ich m€‚te Ihnen und der sch„nen Lady hier
ein Doppelbegr•bnis bezahlen!"
"Reden Sie nicht so viel, Seldon, Sie wissen genau, wie kostbar die Zeit
f€r Sie ist. Ich bin der Kapuzenmann, der echte Kapuzenmann! Will Ihnen
aus der Patsche helfen. Habe kein Interesse daran, da‚ Sie das protzige Pack
auf den elektrischen Stuhl bringt."

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Drüben blieb es eine Weile still, dann kam es gezwungen ironisch zurück:
"Wenn Sie mich verulken wollen, hätten Sie bei Nacht kommen sollen,
am Tag bin ich nicht abergläubisch!"
"Reden Sie keinen Stumpfsinn, Seldon. Ich habe einen Weg zum Boot.
Es ist mir selbst der Boden heiß unter den Füßen und wenn wir das hübsche
Fräulein mitnehmen, kann das einen schönen Haufen Geld einbringen. Los,
sagen Sie mir, daß Sie einverstanden sind und ich hole Sie hier heraus.
Machen halbpart. Los, reden Sie, ehe die anderen kommen!"
Milton stand der Schweiß auf der Stirne. Er wußte, daß es jetzt um
Mavis Leben ging.
Drüben rührte sich nichts. Ein paar Sekunden tropften langsam und er-
regend dahin. Dann atmete Seldon drüben einmal heftig und rief leise zurück:
"Okay, Kapuzenmann. Kannst kommen, mir das Frauenzimmer tragen
helfen. Aber eines sage ich dir; ist die Sache faul, dann nehme ich euch
beide mit."
Milton löste sich von der Wand und trat zögernd vor. Über seinen Kopf
hatte er die schwarze Kapuze gezogen. Sein Herz schlug dröhnend und hart
an die Rippen. Jetzt geht es um das Ganze, wußte er, aber er zögerte keine
Sekunde, sein Leben für Mavis einzusetzen. Nun sah er, daß sich Seldon
aufgerichtet hatte.
Langsam ging er auf diesen zu, es war totenstill im engen Gang, und
Milton merkte, daß er sich vorne verbreitern mußte. Sie standen sich jetzt
dicht gegenüber und Seldon blickte ihm forschend in die Augen, die als ein-
ziges sichtbar waren. In der Hand hielt er die Pistole, die auf Miltons Brust
angeschlagen war.
"So, Seldon, da wäre ich. Es ist höchste Zeit. Wir müssen vorne die
Pumpen öffnen, daß Wasser austritt, dann haben wir solange Zeit, bis die
Kesseln gelöscht sind und man mit dem Wasser fertig geworden ist. Hab
einen guten Weg hinaus."
"Mir scheint, du hast nicht nur Stroh statt Hirn", brummte Seldon und
senkte die Pistole etwas. "Na, dann komm und faß mal mit an. Du gehst v
orne und wehe! Also, faß mit an, hier liegt sie, ist noch nicht aufgewacht,
das hübsche Ding." Hinter Seldon sah Milton am Boden ein lebloses Bündel
liegen und bückte sich ebenfalls. Sollte er jetzt schießen oder erst versuchen,
Seldon hier herauszulocken? Jetzt würde er nur Mavis gefährden. Seldon
bückte sich, behielt aber Milton im Auge und nahm Mavis bei den Füßen.
Milton griff nach ihren Händen und spürte im selben Augenblick einen
leichten Druck ihrer Finger, als möchte sie sagen, ich weiß, daß du da bist,
will aber noch als bewußtlos gelten. Milton mußte sogar lächeln. Soviel Kalt-
blütigkeit hätte er Mavis nicht zugetraut. Nun ergriff er sie unter den Schul-
tern und hob sie an. Die Pistole hatte er eingesteckt. Langsam, denn der
Gang war für diese Prozession etwas eng, trugen sie Mavis um die Ecke.
Zu diesem Zweck mußte Milton sich mit der Seite zur Wand drücken, denn
Mavis lag schwer in seinen Armen. Plötzlich fühlte er ihre Hände an seinen

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Beinen emportasten und blitzhaft durchzuckte ihn die Erkenntnis ihres
Planes. Er hob sie noch weiter an, daß sie beinahe an seiner Brust lag, und
er fühlte, wie ihre Hände in die Tasche, in der er die Pistole hatte, fuhr
und sie langsam herauszog. Zum Teufel noch einmal, das Mädel hatte Mut.
Da brummte Seldon schon ungehalten!
"Was treibst du denn, willst du denn an diesem verdammten Eck über-
nachten? Los, mach schon, biege halt die Dame ein wenig zurecht."
Milton ließ Mavis wieder tiefer sinken und trabte weiter. Jetzt kamen
sie auf einen breiteren Gang und es wurde heller. Milton konnte sehen, daß
das Haar Mavis blutverkrustet war. Er biß die Zähne zusammen. Jetzt geht
es dir an den Kragen, du mordende Bestie. Er legte schwer seufzend die
Last zu Boden und dem aufschauenden Seldon sagte er:
"Muß noch ein wenig Kraft sammeln, denn jetzt gehts los. Die Pumpen
öffnen, wird keine Kleinigkeit."
Seldon legte seine Last ebenfalls zu Boden und strich sich mit der Rechten
über die Stirne, um sich den Schweiß abzutrocknen. Die Pistole zeigte so
steil nach oben, und das war die Chance für Milton. Mit einem mächtigen
Satz sprang er auf Seldon zu und schlug ihm von unten her die Faust an
das Kinn. Doch Seldon hatte ihn im letzten Augenblick noch erspäht und
wich etwas zurück, so daß der Schlag nicht allzu heftig ausfiel. Seine Rechte
parierte zurück und wuchtete von oben her auf Miltons Haupt. Milton
schwankte und Seldon hob die Pistole, während er höhnisch brüllte: "Fahr
zum Teufel, dreckiger Verräter."
Vor Miltons Augen zuckte ein greller Blitz auf, dann noch einer, und dann
öffnete er sie verwundert wieder. Der Kopf brummte ihm ganz ge-
waltig, als er sich fassungslos erhob und Seldon am Boden liegen sah. Der
Mann rührte sich nicht mehr, und neben ihm bildete sich eine kleine Blut-
pfütze. Blaß und mit entsetzten Augen an die Wand gelehnt, bemerkte er
Mavis, und sie hielt seine Pistole in der herunterhängenden Hand. Und all-
mählich begriff er, was hier vorgefallen war. Rasch zog er die Kapuze vom
Kopf, denn von ferne kamen eilende Schritte näher. Kurz entschlossen steckte
er sie dem am Boden Liegenden in die Tasche des Jacketts. Langsam ging
er auf Mavis zu, ihre Augen begegneten sich und er hätte sie am liebsten
in die Arme genommen. Doch da brauste schon der Kapitän daher und nun
war er daran, fassungslos zu sein. Dann polterte er los:
"Ja, zum Teufel, hier haben wir ja ganz vergessen, zu suchen. Während
ich von meinen Leuten die Laderäume buchstäblich umkrempeln lasse, knallen
Sie mir den Mann weg. Na, Gott sei Dank, das wäre vorüber. Nun aber
wieder an die Arbeit, ihr Bande, möchte euch so passen, auf Großwildjagd
zu gehen."
Den sich davontrollenden Matrosen befahl er, den Inspektor sofort her-
zuschicken. Eine Weile blieb es stumm zwischen den dreien. Mavis hatte
sich abgewandt, Milton die Pistole wieder zu sich genommen und der Kapitän
strich nervös an seinem Bart herum.

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"Ausgerechnet auf meinem Kasten muß das alles passieren. Na, werde
Shandon schon reinen Wein einschenken über seine Gäste."
Da polterte der Inspektor schon die Stufen herunter.
"Hallo, stimmt das, daß ihr ihn umgelegt habt?" schrie er schon von
weitem. Doch als er jetzt Milton erblickte, verstummte er sofort. Er trat ganz
nahe an den Toten heran, betrachtete ihn aufmerksam, dann bückte
er sich nieder und begann seine Taschen zu durchsuchen. Nun zog er aus
der Tasche des Jacketts die Kapuze und pfiff laut vor sich hin, während er
sich langsam umdrehte und Milton ansah.
"Was halten Sie davon, Drake? Es wimmelt ja auf diesem Schiff gerade-
zu von Kapuzenmännern. Übrigens, wer hat ihn erwischt?"
Milton schwieg und sein Blick wanderte weiter zu Mavis. Sie gab ihm
den forschenden Blick kaltblütig zurück und antwortete dann in bestimm-
tem Ton:
"Milton hat ihn zur Strecke gebracht und Sie sollten endlich Ihre klein-
liche Art bezähmen, Inspektor!" In ihren Augen blitzte Trotz und Zorn.
Milton wollte schon berichtigen, da sah er in ihren Augen die Bitte, es bei
ihrer Aussage bewenden zu lassen.
"Na also, Milton, da danke ich Ihnen herzlichst im Namen aller Passa-
giere und nehme verschiedenes zurück. Na, geben Sie mir schon Ihre Pfote,
Sie Dickkopf; müssen doch nicht immer aufeinander böse sein."
Mit festem Griff umschlossen sich die Hände der beiden und der Kapitän
schaute sie verwundert der Reihe nach an.

Groß war die Erleichterung der Passagiere, als sie erfuhren, daß nun
jede Gefahr beseitigt sei. Und bei dem Bankett am Abend wurde Milton
Drake so sehr gefeiert, daß er sich bald zurückzog. Er lag auf seinem Bett
und starrte zur Decke empor. Von den widerstreitendsten Empfindungen
bewegt, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Sie kreisten in einemfort
um Mavis und die ,Rote Schlange'. Beide hatten sie tief in sein Leben ein-
gegriffen und er wußte nicht, wohin mit seinen überströmenden Gefühlen.
Es mußte die Entscheidung fallen und zwar bald. Dieser Zustand war auf
die Dauer unerträglich. An der Türe hörte er ein scharrendes Geräusch und
dann sah er, wie unter ihr ein Brief zum Vorschein kam. Mit einem mäch-
tigen Satz war er auf den Beinen, eilte mit ein paar mächtigen Sprüngen
zur Türe und riß sie auf. Doch der Korridor lag leer und ruhig da. Resig-
niert kehrte er in sein Zimmer zurück. Er wußte, daß alles weitere Suchen
vergebens sein würde. Er hob den Brief auf und öffnete ihn bedächtig.
Dann las er:

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Treuer Freund!

Du hast Dich wunderbar benommen heute, und ich will nicht die
gleichen Lobeshymnen anstimmen wie die anderen. Ich möchte
Dir nur sagen, daß ich Dich sehr, sehr schätze. Dank
die ,Rote Schlange'

Milton Drake lag noch lange wach diese Nacht und wußte noch weniger
mit sich anzufangen als zuvor.

In Miami ankerte man für einige Tage, um die notwendigen Formalitäten


zu erledigen und den Passagieren ein wenig Abwechslung zu bieten. Milton
Drake nützte die Unterbrechung der Reise auf seine Art. Er mietete einen
Wagen und fuhr jeden Nachmittag an jene Stelle, wo ihm seine Liebste, in
ihrem scharlachroten Kleide, zum ersten Male entgegengetreten war. *) An
der Landstraße von Tamiami war es gewesen, in einem stillen Winkel, unter
Palmen und zwischen blühenden Gräsern, die damals allerdings ein jäher
Tornado ihres duftenden Schmuckes beraubt hatte. Und es war, als wieder-
hole er mit diesen Fahrten die Pilgerreisen des Gläubigen, der immer wieder
zu jenem Heiligtum zurückkehrt, in dem er die größte Offenbarung fand.

ENDE

*) Siehe Band 1 dieser Serie.

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Verleger. Herausgeber und für den Inhalt verantwortlich: E. Schwicker, Linz. a. D., Pfarrgasse 11.
Auslieferung für die Wiener Trafiken: Firma A. Fröhlich, Wien XX, Pasettistr. 45, Tel. A 45-5-10,
für die Kolporteure: Firma F. Hofmann, Wien X, Knöllgasse 27/23, Telephon U 49-5-26.
Druck: Ernst Pelda, Wien XII, Gaudenzdorfer Gürtel 83.

62
"EL COYOTE"
ˆDER KAPUZENMANN‰
ˆM‡NNER AUS DEM WESTEN‰

Die besten Kleinb€cher der Gegenwart, die bisher in 13 Staaten erschienen


sind, erhalten Sie im Abonnement p€nktlich und portofrei zugesandt.
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3 B•nde S 7.— 6 B•nde S 14.— 12 B•nde S 28.—

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"EL COYOTE", ab Nr. f€r 3, 6, 12 B•nde .


"Der Kapuzenmann", ab Nr. " 3, 6, 12 "
"Männer aus dem Westen", ab Nr. " 3, 6, 12 "

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Kennen Sie schon

"El Coyote"
"Männer aus dem Westen"?
die besten Sammlungen von historischen Begebenheiten aus dem sogenannten
"Wilden Westen", der in diesen Seiten wieder zu neuem Leben erwacht.
"El Coyote"
erscheint bereits in 16 Staaten und in Österreich in immer größeren Auflagen! ! Ist
das nicht das beste Zeichen für die Güte und Beliebtheit dieser Bände?
Drei Sonder-Nummern der EL COYOTE-Bände erscheinen noch in diesem Jahre.
Die 1. SONDERNUMMER ist bereits unter dem Titel

"Die Justiz des Coyoten"


erschienen!!!

Sie haben die Möglichkeit, diesen Band durch Ihren Buch- bzw. Zeit-
schriftenhändler oder direkt durch den Verlag zu beziehen.
Die Sammlung

"Männer aus dem Westen"


bringt die abenteuerlichsten Lebensgeschichten berühmter Männer, Pioniere
des Westens, die diesen erschlossen und erkämpft haben.
Jeb Rand, Billy Dixon, der berühmte Büffeljäger und Indianerkämpfer, Clay
Hardin, Eddy Vernon, Jesse James, einer der berüchtigsten Revolver-
helden des Westens, Simon Girty, der weiße Indianer, Buffalo Bill und
Pancho Villa, der revolutionäre Yaki-Indianer, sind die Helden, deren Taten
wieder der Vergessenheit entrissen werden.
Die in München erscheinende Zeitschrift "Quick", Nr. 7. Jhrg. 1950, vom
12. Februar, bringt unter dem Titel "Portraits der W oche" folgende
Notiz:
"Historiker. Es ließ ihm keine Ruhe, dem 102jährigen J. Frank
Dalton aus dem "Wilden Westen" Amerikas. Im Bett hielt er Pressekonferenz
und gab kund: "Ich bin nicht Dalton, ich bin Jesse James!" James war vor
Jahrzehnten der berüchtigste Räuber Amerikas, den man längst für tot hielt,
von einem Polizisten erschossen. Dalton alias James aber widerlegte das;
zwei alte Revolverhelden (109 und 90 Jahre alt) bestätigten an seinem Bett
diese Angaben. Jetzt hat Dalton endlich Ruhe: Er hält die Annalen der
Geschichte berichtigt."

Versäumen Sie daher keinen Band der Sammlung


"Männer aus dem Westen"

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