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Der Graf von Saint-Germain und das

Wunder der Diamanten

(Aus dem Buch "Die Welt der Illusionen" von


Gerard Majax; ISBN: 3-404-60427-X)

"Dies, Monsieur, sind die sechs kleinen Diamanten, von denen wir neulich sprachen.
Ob es Euch wohl möglich wäre, sie hier und jetzt ein wenig zu vergrößern?"
Der Graf von Saint-Germain nimmt die Diamanten vorsichtig aus der Hand des
Königs und legt sie nebeneinander auf eine kleine Decke aus blauem Samt. Er
begutachtet sie, als wollte er sich ihrer Reinheit vergewissern, nickte dann zufrieden
und beginnt unverstandlich alchimistische Formeln zu murmeln.
Ludwig XV. blickt sich unterdessen um. Er hat die Wohnung, die er dem Grafen vor
einem Jahr bewilligte, heute zum erstenmal betreten. Das Schloß in Chambord zu
verlassen und das Nebengebäude aufzusuchen, komt einem Verstoß gegen das
Protokoll gleich und ist daher eine äußerst heikle Angelegenheit. Aber schließlich
siegte seine Neugier. Er will unbedingt wissen, wie es bei einem Alchimisten
aussieht, der im Ruf steht, unsterblich zu sein. Die Enttäuschung ist groß:
kein Ofen, kein Destillierapparat, keine Retorten. Darauf angesprochen, erwidert der
Graf von Saint-Germain lächelnd, er habe im Lauf der Jahrhunderte in so vielen
Alchimistenkabinetten gearbeitet, daß er über ausreichend Metalle und Elixiere
verfüge. Die etwa zwanzig Kisten und Kästchen enthielten allesamt alchimistische
Zauber- und Wundermittel. Er greift nach einer mit Schnitzereien verzierten
Holzkassette und öffnet sie.

Der König wirft einen Blick hinein: Sie enthält glitzernden Metallstaub.
"Das ist ein Pulvermetall mit besonderen Eigenschaften. Da es kalt verarbeitet
werden kann, kann man auf sämtliche Verfahren, die für das Zustandekommen des
Großen Magisteriums der Wärme bedürfen, verzichten."
Die Theorie genügt dem König nicht, er wünscht eine Demonstration. Da öffnet der
Graf eine Schatulle aus dunklem Metall und entnimmt ihr ein rundes
Buchsbaumdöschen mit flachem Deckel. Nachdem er die sechs Diamanten des
Königs hineingelegt hat, bestäubt er sie mit Feilicht, verschließt die Dose wieder und
schüttelt sie etwa zwei Minuten lang. Dann zieht er vorsichtig den Deckel ab und
späht hinein. Ein strahlendes Lächeln geht über sein Gesicht. Er hält die Dose dem
König hin. Auf dem Boden liegt ein Diamant von reinstem Wasser, so groß wie die
sechs Steine zusammen! Der König wagt nicht, ihn anzufassen, aber Saint-Germain
ermutigt ihn:
"Er gehört Euch, Sire, das sind Eure sechs Diamanten in einem
zusammengefaßt." Der Monarch nimmt ihn heraus und bewundert mit Kennerblick
Form und Farbe.
»Ich danke Euch, Monsieur. Dieser Stein ist in der Tat ein würdigerer Schmuck für
das Dekollete Madame de Pompadours.«
Der Graf verbeugt sich höflich. Schweigend hält der König den Diamanten gegen das
Licht und betrachtet gedankenverloren die Brechung der Sonnenstrahlen. Er glaubt
nicht an Zauberei. Die kleine Buchsbaumdose ähnelt in allen Einzelheiten jener, die
ein Taschenspieler vergangenes Jahr bei seiner Darbietung benutzte. Er war so
freundlich gewesen, Seiner Majestät den Mechanismus zu erklären. Mit Hilfe eines
doppelbödigen Deckels kenn man kleine Gegenstände »verschwinden« lassen
und einen größeren, bereits vorher im Innern versteckten "hervorzaubem". Auf diese
Weise verwandelte der Zauberkünstler Weizenkörner in Perlen - sehr zum Erstaunen
der Hofgesellschaft. Ludwig XV. ist überzeugt, daß der Graf mit der gleichen
Methode arbeitet. Er schätzt ihn seines umfangreichen Wissens und seiner guten
Laune wegen, doch an seine magischen Kräfte glaubt er nicht.
>Sagt, wo habt Ihr diesen wunderschönen Diamanten aufgetrieben?« fragt er listig.
>Wie ich Euch bereits sagte, Sire, ist er aus Euren eigenen Steinen
zusammengefügt<, erwidert Saint-Germain ungerührt.
>Na ja... Eines Tages werdet Ihr uns verraten müssen, woher Euer Reichtum stammt.
Wie dem auch sei, Ihr geht jedenfalls überaus großzügig damit um. Das sollte uns
genügen, wäre da nicht unsere Neugier, und so geben wir die Hofinung nicht auf, daß
Ihr uns irgendwann...<
Leutselig faßt der Monarch den Grafen am Arm und lenkt seine Schritte zu den
königlichen Gemächern, wo die Höflinge ihn erwarten.

Seit mittlerweile zehn Jahren, seit 1750, begeistert der Graf von Saint-Germain ganz
Frankreich. Niemand weiß Näheres über ihn, sicher ist nur, daß er weder ein Graf ist,
noch Saint-Germain heißt; nicht einmal sein Vorname ist bekannt. Die wildesten
Gerüchte kursieren über ihn. Er spricht fließend Französisch, wenngleich mit einem
leichten Akzent, sowie Englisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch.
Die einen halten ihn für den Bastard einer spanischen Königin, die anderen für einen
portugiesischen Jesuiten, einen deutschen Spion oder einen Juden aus Bordeaux. Und
weil seine wahre Identitat nicht zu klären ist, hat man ihm den Beinamen "der
Wundermacher" gegeben. Er scheint in der Tat Dinge aus längst vergangenen Zeiten
zu wissen und Unsterblichkeit erlangt zu haben. Er spricht über Herrscher von einst,
als hätte er sie persönlich gekannt; er läßt die Geschichte so präzise und anschaulich
lebendig werden, daß niemand an seinen Fähigkeiten zweifelt,durch die Zeit zu
reisen, ohne jemals zu altern. Die Marquise de Pompadour wird nicht müde, ihn über
die Vergangenheit auszufragen:
>Was für ein Mensch war Franz 1.? Als König hätte er mir gefallen...«
>Er war von äußerst liebenswürdigem Wesen«, entgegnete Saint-Germain, >aber
leider zu heißblütig. Hätte er auf mich gehört, wäre ihm manches Unglück erspart
geblieben...«
>Und sein Hofstaat?<
>Er war von großer Eleganz. Der seiner Enkel übertraf ihn jedoch noch bei weitem.
Und unter Maria Stuart und Margarethe von Valois glich er einem verzauberten
Land, einem Tempel der sinnlichen und geistigen Genüsse. Beide Königinnen waren
sehr gebildet, sie schrieben Gedichte, und es war eine Lust, sie zu hören ...<
>Das klingt, als wart Ihr dabei gewesen«, bemerkte die schöne Marquise voller
Entzücken.
Saint-Germain spielt so gut wie nie auf seine Unsterblichkeit an. Darauf
angesprochen, wehrt er energisch ab, aber mit solcher Bescheidenheit und einem
ironischen Funkeln in den Augen, daß man den Eindruck hat, man habe ihm ein
großes Geheimnis entrissen.
>Ich habe sehr viel über französische Geschichte gelesen und verfüge über ein
ausgezeichnetes Gedächtnis<, entgegnet er bescheiden. >Zuweilen mache ich mir
einen Spaß daraus, mein Gegenüber in dem Glauben zu lassen, ich hätte bereits in
einer früheren Zeit gelebt...«
Der Graf von Saint-Germain umgibt sich gekonnt mit der Aura des Geheimnisvollen.
Darin besteht seine eigentliche Genialität. Seine Kenntnisse schreibt er in Versform
nieder, und die rätselhafte Sprache läßt den Alchimisten erkennen:

Den wachsamen Blick auf die Natur gerichtet,


erkannte ich Wesen und Ende der Einheit.
Ich sah im Erze das goldene Lichte,
ich effaßte den Stoff und entdeckte den Keim.

Alles, was er sagt, was er schreibt, was er tut, läßt mehr als eine Deutung zu, und so
erweckt er den Anschein, als trüge er so schwer an einem schrecklichen Geheimnis,
daß ihm unwillkürlich immer wieder ein Stückchen entschlüpft. Sein Lebensstil ist
bescheiden und unauffällig, was man von seinem Äußeren nicht behaupten
kann: Zahllose Diamanten schmücken Kleidung, Hut, Stock und die langen,
feingliedrigen Finger. Da er sie mühelos selbst herstellt, wundert sich allerdings
niemand darüber.
Ludwig XV. lädt Saint-Germain häufig zu den intimen Soupers mit der Pompadour
im Kleinen Trianon ein. Der Graf trinkt keinen Wein und kostet kaum von den
Speisen; er halte strenge Diät, behauptet er. Er bringt sich stets sein eigenes Getränk
mit, seinen "lebensverlängernden Tee", wie er ihn nennt, eine Mischung aus
Sennesblättern, Fenchelkörnern und Sandelholz. Er ist ein begabter Erzähler, der die
Gäste unterhält und den Abend kurzweilig gestaltet. Nichtsdestoweniger beschäftigt
den König nach wie vor die Frage, woher der Reichtum des Grafen stammt; er ordnet
sogar eine geheime Untersuchung an. Saintm-Germain zieht unterdessen weiterhin
seine Zuhörer in seinen Bann. Er scheint ihnen eine Paralleiwelt zu erschließen mit
seinen Geschichten und Erinnerungen, zu denen auch die folgende zählt:

»Ein junger Mann vornehmer Herkunft aus einer Stadt im Norden hatte so viele
Frauen geliebt, daß er ihrer überdrussig wurde und nach etwas Neuem, etwas
Aufregendem suchte.
>Ein übersinnliches Wesen, das ist das, was ich brauche! Heute nacht werde ich auf
den Friedhof gehen und die Toten beschwören<, sagte er zu seinen Freunden.
Sie flehten ihn an, den törichten Plan aufzugeben, aber er hörte nicht auf sie. Gegen
Mitternacht schlich er auf den Friedhof, malte einen magischen Kreis auf den Boden,
trat hinein und versuchte mit gräßlichen Verwünschungen die Ruhe der Toten zu
stören. Plötzlich erklang ein Lied in der nächtlichen Stille. Es wurde von einer
lieblichen Frauenstimme gesungen, die den jungen Mann bezauberte. Als er in die
Richtung eilte, aus der sie kam, fand er eine schöne Frau. Er streckte die Arme nach
ihr aus und wollte sie an sich reißen, doch sie entzog sich ihm.
>Ich gebe mich nur einem Mann hin, der mich zur Frau nimmt.<
>So sei es, ich heirate dich<, antwortete der junge Mann, dessen Sinne verwirrt
waren. >Hier hast du meinen Ring, gib mir deinen, dann sind wir verlobt.<
Die Liebenden legten sich auf ein Grab nieder und blieben bis zum nächsten Morgen
zusammen. Als die Sonne aufging, nahmen sie Abschied, versprachen einander
jedoch, sich in der kommenden Nacht am selben Ort zu treffen.
Aber der junge Mann hatte seine Lust befriedigt, und so vergaß er sein Versprechen.
Am Abend ging er wie gewohnt nach Hause und legte sich schlafen. Gegen
Mitternacht hörte er, wie die Tür aufging und jemand das Zinnner betrat. Eine
eiskalte Gestalt schlüpfte zu ihm ins Bett. Von da an fand er keine Ruhe mehr. Das
Gespenst folgte ihm überall hin.<
>lch machte rein zufällig die Bekanntschaft des jungen Mannes<, berichtete Saint-
Germain weiter. >Ich sagte ihm, er solle dem Herrn danken, daß Er mich zu ihm
gescickt habe, und befahl ihm, sich bis Mitternacht ins Gebet zu vertiefen. Eine
Viertelstunde vor dem Tages-wechsel malte ich ein Sonnendreieck auf den Fußboden,
besprengte es mit duftenden Ölen und wies den leichtsinnigen Bräutigam an, sich
hineinzustellen und nicht vom Fleck zu rühren, was auch geschehe. Als es
Mitternacht schlug, öffnete sich die Tür, und das Gespenst schwebte herein. Es hielt
vor dem Dreieck inne.
>Er ist mein Mann<, sagte die Gestalt. >Er hat mich geheiratet.<
>Weil du ihn getäuscht hast! Denn.du bist kein Bewohner dieser Welt. Gib den Ring
zurück!<
>Nicht hier. Er bekommt ihn dort zurück, wo er ihn mir gegeben hat.<
>Also gut, gehen wir.<«
Am Tisch herschte atemlose Spannung.
>~Die Schilderung des nun folgenden Kampfes werde ich Euch ersparen<, fährt
Saint-Germain fort. »Wichtig ist, daß ich Sieger blieb. Der junge Mann und das
Gespenst setzten sich auf ein Grab und gaben einander die Ringe zurück.
Danach trennten sich unsere Wege. Am anderen Morgen erhielt ich eine Nachricht.
Der junge Mann war in der Nacht nicht nach Hause gegangen, sondern hatte
Zuflucht in einem Kloster gesucht, das von seinen Vorfaren gegründet worden war.
Er wurde Mönch und führte bis zu seinem Tode fünfunddreißig Jahre später ein
gottgefälliges Leben.<

Vermutlich hätte Saint-Germain noch viele solcher und ähnlicher Geschichten erzählt
und seinen Zuhörern einen wohligen Schauer über den Rücken gejagt, hätte der
König nicht das beunruhigende Untersuchungsergebnis hinsichtlich des gräflichen
Vermögens erhalten. Eines Abends, nachdem er die Tafel aufgehoben hat, wendet er
sich dem Grafen zu und fragt scheinbar beiläufig:
>Da Ihr so viele Dinge über diese Welt und die andere wißt, Monsieur, könnt Ihr mir
nicht etwas über den Verbleib von Maitre Dumas sagen?<
Der nie um eine Antwort verlegene, stets gelassene Saint-Germain erblaßt und
schweigt betreten.
Der Fall Dumas erregte seinerzeit großes Aufsehen: Es geschah im Jahr 1700.
Derneunzigjährige Maitre Dumas, ein ehemaliger Staatsanwalt und ein sehr
vermögender Mann, stand bei seinen Nachbarn im Verdacht, Magie zu treiben. Er
hatte sein prachtvolles Haus in der Rue de l'Hirondelle um ein Türmchen
erweitert, das jenem ähnelte, von dem Nostradamus einst die Gestirne beobachtet
hatte. Dort pflegte sich der Greis mit seinen Zauberbüchern und Pergamenten
einzuschließen, um Zaubertränke herzustellen und Zaubersprüche zu reimen,
Horoskope anzufertigen und in den Sternen zu lesen.
Sein Tagesablauf war genau geregelt. Freitags zum Beispiel zog er sich um drei Uhr
nachmittags in seine Kammer zurück. Und jeden Freitag um dieselbe Zeit hallte das
Klappern von Hufen in der kleinen Straße wider Ein hochgewachsener Reiter auf
einem ungewöhnlich großen, schwarzen Maultier hielt vor Maltre Dumas' Haus. Er
stieg ab, betrat das Haus und eilte geradewegs in das Laboratorium hinauf. Viele
Jahre ging das so. Die Menschen im Viertel fürchteten sich vor dem Unbekannten
mit dem stolzen, kalten Blick und seinem Reittier, das an der Seite eine offene,
eiternde Wunde hatte. Der Reiter trug drei feuerrote Male auf der Stirn, und die
Frauen tuschelten, das seien glühende Kohlen. Er blieb jedesmal ungefähr eine
Stunde. Einige besonders mutige Männer waren ihm ein paarmal gefolgt, aber in der
Nähe des Friedhofs Saints-lnnocents hatten sie seine Spur verloren. Tier und Reiter
waren in aller Munde, man machte sich so seine Gedanken, nicht nur über den
mysteriösen Fremden, sondern auch über das jugendliche Aussehen des Greises, an
dem die Zeit spurlos vorübergegangen zu sein schien...
Eines Tages jedoch wurde das starre Ritual überraschend durchbrochen. Der 31.
Dezember 1700 war nämlich ein Mittwoch, und es war zehn Uhr morgens, als das
Maultier in der Rue de l'Hirondelle einbog. Der Reiter stieg in den Turrn hinauf, und
kurz darauf war ein gräßlicher Schrei zu hören. Unmittelbar danach verließ der
Fremde das Haus wieder. Das Maultier trug ihn noch schneller als gewöhnlich davon.
Als der Greis an diesem Abend zum Essen herunterkam, erschraken sein Sohn und
seine Tochter, so sehr hatte er sich verändert:
Er ging gebeugt, seine zitternden Beine wollten ihn kaum tragen, der Tod blickte aus
seinen erloschenen Augen. Er werde heute nicht mit ihnen essen, sagte er zu seinen
Kindern, er wolle wieder ins Laboratorium hinauf. Aber er war so schwach, daß sie
ihn stützen mußten. Da er nicht in der Lage sein würde, die Treppe allein
hinunterzusteigen, bat er seine Kinder, ihn um vier Uhr zu holen, weil er Besuch von
einem befreundeten Richter erwarte. Als dieser kam, ging er gemeinsam mit dem
Sohn nach oben, um dem Greis zu helfen. Doch in der Kammer war niemand.
Maitre Dumas blieb verschwunden. Die wochenlange Suche verlief ergebnislos. Die
Maurer und Ingenieure, die die Wände nach einem geheimen Durchlaß absuchten,
konnten nichts entdecken. Auch das schwarze Maultier und sein Reiter waren wie
vom Erdboden verschluckt, so als hätte es sie nie gegeben. Da wurde Anklage gegen
die beiden Kinder erhoben, und sie mußten in langwierigen, kostspieligen Prozessen
ihre Unschuld beweisen. Die Jahre vergingen, die Kinder starben, und das Rätsel
blieb ungelöst.

Erst viel später, 1743 nämlich, besucht der Graf von Saint-Germain zum erstenmal
Paris, und zwar auf Einladung von Marschall de Belle-Isle, dem französischen
Botschafters in Frankfürt, wo er den jungen Mann auch kennenlemt. Der Marschall,
der sich für Zauberei jeglicher Art begeistert, findet den Grafen äußerst
interessant, scheint er doch in alle großen Geheimnisse der Schöpfüng eingeweiht zu
sein. Saint-Germain zieht in sein Haus im Faubourg St. Antoine ein. Ein Labor wird
eingerichtet, in welchem die beiden Männer halb wissenschaftliche, halb esoterische
Experimente zur Lichtreflexion durchführen. Mit Hilfe eines Spiegelsystems und
einiger Spielereien gelingt es Saint-Germain, seinem Gastgeber weiszumachen, er
könne das Spiegelbild von Gegenständen oder Personen aus dem Jenseits zur Erde
lenken. Belle-Isles Vertrauen in die Fähigkeiten des Grafen ist so groß, daß er ihn ans
Krankenbett der Herzogin Marie-Anne de Chateauroux führt, im festen Glauben,
Saint-Germain werde sie gesund machen. Die siebenundzwanzigjährige Mätresse des
Königs leidet unter einer schweren, vermutlich durch Pilze hergerufenen Vergiftung.
Saint-Germain mustert die Kranke nur kurz und erklärt dann:
>Es ist zu spät, viel zu spät, Madame de Chateauroux wird vor ihrem Schöpfer
erscheinen...>
Einige Tage später stirbt sie tatsächlich. Der Mißerfolg schadet dem Ansehen des
Grafen jedoch keineswegs. >Ich konnte sie nicht heilen<, verkündet er gelassen,
»denn hätte ich es getan, wären die Folgen für mich verhängnisvoll gewesen. Bei
jeder Vergiftung hätten die Leute ein Wunder von mir erwartet, aber wehe, wenn ich
versagt hätte!<
Eine sonderbare Erklärung, aber niemand nimmt Anstoß daran. Vielleicht kann der
Tod der schönen Herzogin dem König nicht ungelegen: Er war ihrer offensichtlich
überdrüssig geworden.
Der Marschall erzählt seinem Freund auch die alte Geschichte von Maitre Dumas.
Sie ist ganz nach Saint-Germains Geschmack, er ist sofort Feuer und Flamme. Er
beschafft sich alle Informationen, die er bekommen kann, und versucht, das
Geheimnis zu lüften. Er ahnt, daß etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist; hat
er nicht selbst unzählige Male die Mächte der Finsternis beschworen, hat
Geheimtüren und -gänge benutzt, um auf wundersame Weise zu verschwinden?
Eines Nachts dringt er heilich in das verlassene Haus in der Rue de l'Hirondelle ein
und steigt in die Kammer hinauf. Nachdem er stundenlang die Wände abgetastet und
den Fußboden untersucht hat, entdeckt er schließllch einen unter dem Parkett
verborgenen Mechanismus. Er setzt ihn in Gang, und eine Wendeltreppe kommt zum
Vorschein. Sie führt in ein unterirdisches Gewölbe, das vom Haus aus nicht
zugänglich ist, und dort, in einem stockfinsteren, ungezieferverseuchten Keller, liegt
der verweste Leichnam des alten Dumas. Eine zerbrochene Achatschale und
verstaubte, mit Spinnweben bedeckte astrologische Instrumente sind die letzten,
unbedeutenden Überbleibsel einer okkulten Wissenschaft. Saint-Germain leuchtet
rasch den Raum aus. Sein Blick heftet sich auf eine Ebenholzkassette. Er bricht sie
auf und glaubt seinen Augen nicht zu trauen: Sie ist bis zum Rand gefüllt mit
funkelnden Diamanten. Er klappt den Deckel zu und steckt die Kassette ein. In der
Kammer oben im Turm verschließt er sorgfältig die Geheimtür und achtet darauf,
keine Spuren zu hinterlassen. Er ist ein gemachter Mann! Vorausgesetzt, niemand
erfährt, woher sein Reichtum stammt. Was also ist zu tun? Er muß lediglich einige
Diamanten verschenken, um glaubhaft zu machen, er könne sie selbst herstellen. Die
großzügige Unterstützung, die ihm der König für weitere "Experimente" gewährt,
ermöglicht ihm über Jahre ein sorgloses Leben am französischen Hof.

Damit scheint es nun vorbei. Es sieht ganz so aus, als stünde sein Lügengebäude kurz
vor dem Einsturz.
>Könnt Ihr uns nichts über den Verbleib von Maitre Dumas sagen?«
Ist der König nur neugierig, oder will er ihm eine Falle stellen? Hat man
herausgefunden, daß er den toten Greis beraubte? Saint-Germain ist verunsichert.
>Doch, Sire... ich... ich könnte schon... aber...<
>Aber was?< unterbricht ihn die Pompadour gereizt.
>Ich fürchte, ich würde Euer Majestät - und Euch ebenfalls, Madame -
möglicherweise in Gefahr bringen, wenn ich enthülle, was ich über diese ernste
Angelegenheit weiß.<
Saint-Germain hat sich blitzschnell wieder gefaßt. Er wird seine Geschichte mit
dunklen Anspielungen ausschmücken und soviel Hokuspokus einflechten, daß selbst
den Mutigsten die Lust zu weiteren Nachforschungen vergehen wird. Die Pompadour
zuckt jedoch gleichgültig die Schultern.
>Das ist doch törichtes Zeug! Sprecht, Monsieur, ich bitte Euch<, drängt sie.
>ja, erzählt uns, was Ihr wißt, Monsieur de Saint-Germain<, fordert auch der Konig
ihn auf.
Der Graf zögert noch einige Sekunden, als müßte er sich überwinden, dann scheint er
sich einen Ruck zu geben.
>Wie Ihr befehlt, Sire. Erlaubt jedoch, daß ich vorher die notwendigen Maßnahmen
ergreife, um mir die Mächte des Jenseits gewogen zu machen.<
Er bittet um ein Blatt Papier, auf dem er einige gerade Linien zieht; auf die Linien
wiederum malt er sonderbare Symbole und astrologische Figuren. Dann legt er die
Feder weg und konzentriert sich, Unverständliches murmelnd, ganz auf seine
Zeichnungen. Der Monarch und seine Geliebte beobachten ihn; ihre anfängliche
Belustigung schlägt schnell in Beklommenheit um, als sie er- kennen, daß sein
eigenartiges Verhalten dazu dient, unbekannte Wege zu erschließen, in verborgene
Welten einzudringen. Nach etwa zehn Minuten schaut der Graf auf, bohrt seinen
Blick in den des Königs und sagt:
>Es gibt zwei Möglichkeiten, Sire: Entweder handelten die Ingenieure, die das
Verschwinden von Maitre Dumas untersuchten, im Auftrag von Leuten, die sehr
daran interessiert waren, daß die Suche ergebnislos blieb, oder aber sie verstanden
herzlich wenig von ihrem Handwerk. In einer Ecke nahe der Tür befindet sich
nämlich unter einer Holzplatte im Fußboden eine Treppe, die in ein Kellergewolbe
hinabführt. Maitre Dumas nahm einen kräftigenden Trank ein, so daß er in der Lage
war, die Treppe hinunterzusteigen. Im Keller schluckte er ein starkes
Betäubungsmittel, schlief ein und wachte nicht mehr auf.<
Die Erklärung stellt den König nicht ganz zufrieden. »Und wer war der Mann, der
ihn regelmäßig besuchte? Der Teufrl?<
>Sire, tretet der Bruderschaft der Rosenkreuzer [Anm.d. Webm.: die haben aber auch
überall ihre Finger mit im Spiel :-)] bei, und ich werde das Geheimnis vollends
lüften. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann ich Euch jedoch keine Antwort auf Eure
Frage geben, da ich mich sonst größter Gefahr aussetzen würde.<
Saint-Germain sagt nicht, daß er der Geheimloge angehört, denn das ist den
Mitgliedern streng verboten. Die hineingestreute Bemerkung, verbunden mit dem
geheimnisumwitterten Namen der Bruderschaft, genügt aber, um zu suggerieren, der
Fall Dumas zähle zu den großen Rätseln des esoterischen Universums. Die lästigen
Frager hat er damit zum Schweigen gebracht. Madame de Pompadour indes veranlaßt
eine neuerliche Durchsuchung des Hauses in der Rue de l'Hirondelle; sie will wissen,
ob die Angaben des Grafen der Wahrheit entsprechen. Polizeioffizier de Sartine und
seine Männer entdecken in der Tat die bewegliche Holzplatte, die Treppe, den
Kellerraum und die Leiche von Maitre Dumas. Bei der Untersuchung der
zerbrochenen Achatschale werden Spuren von Opium gefunden.

Obgleich die Geschichte damit endgültig abgeschlossen scheint, setzt sich Saint-
Germain wenig später nach London ab. Das Risiko, daß der Fall noch einmal
aufgerollt und er möglicherweise vor Gericht gestellt wird, ist ihm zu groß. Man
sollte die Gutgläubigkeit seiner Zeitgenossen nicht überstrapazieren! Saint-Germain
wird nie mehr nach Frankreich zurückkehren. Von England reist er nach Rußland,
und danach hält er sich in mehreren deutschen Fürstentümern auf. Er ist ein
gutaussehender Mann geblieben, dem das Alter offenbar nichts anhaben kann, was
seiner legende den Anstrich von Wahrheit verleiht. Es geht das Gerücht, er sei
unsterblich, und auch er selbst berichtet jetzt plötzlich von seinen persönlichen
Begegnungen mit Homer und Alexander dem Großen, mit der Jungfrau von Orleans
und Heinrich IV. Er hat Anhänger in ganz Europa, die in ihm so etwas wie eine
Kultfigur sehen. Um seinem neuen Gönner Karl von Hessen nahe zu sein, zieht er
sich zu guter letzt in das dänische Herzogtum Schleswig zurück. Der Landgraf
braucht das Rätselhafte und die Astrologie wie die Luft zum Atmen, und Saint-
Germain versorgt ihn mit der notwendigen Dosis.
Er ist froh, einen Zufluchtsort gefunden zu haben. Überall in Europa hat nämlich die
Jagd auf die llluminaten begonnen. Ein neuer Wind weht, der Wind der Vernunft.
Diese rationalistische Strömung erreicht einen Höhepunkt im Jahr 1774, als in
Leipzig ein Betrüger namens Schrepfer überführt werden soll. Der ehemalige
Schankwirt behauptet seit Jahren, Kontakt zu den Geistern von Toten aufzunehmen,
und veranstaltet gegen Entgelt spiritistische Sitzungen. Unter seinen Anhängern
befinden sich so bedeutende Männer wie der Herzog von Chartres und der Herzog
von Braunschweig. Beide sind Freimaurer. Schrepfer soll in ihrem Auftrag den
Zusammenschluß der Geheimlogen und des vom Papst aufgehobenen Ordens der
Gesellschaft Jesu herbeiführen. Da laßt Schrepfer das Gerücht verbreiten, er sei im
Besitz des Ordensvermögens, und verspricht denjenigen, die ihn unterstützen werden,
einige Millionen Taler. Verschiedene Leipziger Bankinhaber stellen Schrepfer
daraufhin beträchtliche Summen zur Verfügung, die der Schwindler für seinen
aufwendigen Lebensstil dringend benötigt.
Als sich bei den Finanziers Zweifel einstellen und sie Beweise fordern, läßt Schrepfer
ihnen einen versiegelten Umschlag zustellen mit der Anweisung, ihn nicht zu öffnen,
und bestellt sie in eine Frankfurter Bank, in der besagtes Vermögen deponiert sein
soll. Wer nicht erscheint, ist Schrepfer. Daraufhin öffnen die Herren den Umschlag:
Er enthält nichts als unbeschriebenes Papier...
Schrepfer hat inzwischen in Leipzig seine letzten Getreuen um sich geschart.
>Heute nacht werden wir wach bleiben, denn morgen früh, noch vor Sonnenaufgang,
werde ich euch etwas ganz und gar Ungewöhnliches zeigen<, verkündet er.
Nach einem Schlemmermahl sitzen sie bis kurz vor Tagesanbruch zusammen. Dann
wandern sie zu einem Park am Stadtrand. Unterwegs zieht Schrepfer eine Pistole aus
der Tasche. >Die wird mich berühmt machen. Ich werde euch beweisen, daß ich kein
Hanswurst bin!<
Er befiehlt seinen Anhängern, auf ihn zu warten, und verschwindet hinter einigen
Büschen. Gespannt starren seine Begleiter auf das Gebüsch, um das angekündigte
Wunder nur ja nicht zu verpassen. Plötzlich fällt ein Schuß. Als sie nachsehen, ist
Schrepfer bereits tot: Aus Angst vor Strafe und Spott hat er sich eine Kugel in den
Kopf gejagt.
Das tragische Ende war vermutlich mit ein Grund dafür, daß sich Saint-Germain
völlig aus der Öffentlichkeit zurückzog und sich von da an mit Weissagungen und
Ratschlägen für den engsten Freundeskreis begnügte.

Als sich 1785 die Nachricht vom Tod des unsterblichen Grafen verbreitet, ist die
Bestürzung groß Er wird in Eckernförde begraben, und der Pfarrer notiert im
Kirchenregister:
Der Mann, der sich Graf von Saint-Germain nannte, sonstige Angaben fehlen, ist
nach einer stillen Messe in der Kirche unserer Stadt beigesetzt worden.
Einige Wochen später wird die Leiche auf Anordnung Karls von Hessen exhumiert,
weil der Tote nach Schleswig überführt werden und dort seine letzte Ruhestätte
finden soll. Doch der Leichnam verschwindet. Im darauffolgenden Jahr nimmt Saint-
Germain gemeinsam mit Cagliostro an einem Konvent der europäischen Freimaurer
in Deutschland teil. Sein Auftritt beruhigt seine Schäfchen: Der Meister ist also nicht
tot, er hat sich lediglich an einer paradiesischen Stätte jenseits der sichtbaren Welt
erneuert.
Drei Jahre später wird er in Wien gesehen. Als Baron Linden und sein Freund Rudolf
Gräffer, beide begeisterte Anhänger des Okkultismus, eines Tages das Laboratorium
des Barons betreten, bleiben sie wie vom Donner gerührt stehen: Am Tisch sitzt
Saint-Germain! Er legt das Buch weg, in dem er geblättert hat, steht auf und sagt:
>Ich wußte, daß Sie um diese Zeit kommen würden.<
Eilfertig legt der Baron ein Gedeck auf, bietet seinem berühmten Gast Gebäck an und
will einen guten Tropfen aus dem Keller holen. Saint-Germain lächelt nur:
<Ich frage Sie, hat man mich jemals essen oder trinken sehen?>
Der Graf hat tatsächlich nie Nahrung zu sich genommen. Angeblich reinigt er sich
nur mit Samenhüllen des Sennesstrauchs; der Methode soll er seine Unsterblichkeit
verdanken. Er bittet um Schreibzeug, und man reicht ihm Papier, Tintenfaß und zwei
Federn. Er reißt das Blatt in der Mitte durch, legt die beiden Hälften nebeneinander
und nimmt in jede Hand eine Feder. Nachdem er beide Blätter beschrieben hat, setzt
er seinen Namen darunter. An den Baron gewandt, sagt er:
>Sie sammeln doch Autogramme, Monsieur, also suchen Sie sich ein Blatt aus, es
spielt keine Rolle, welches Sie nehmen, auf beiden steht das gleiche.<
>Das ist Zauberei< entfährt es den beiden Wienern. >Diese Übereinstimmung... das
ist ja unglaublich<
Saint-Germain legt die Seiten aufeinander und hält sie gegen das Licht: Die Schrift
auf dem unteren Blatt deckt sich vollkommen mit der des oberen, so als wäre es ein
einziger Bogen. Der >Wundermacher< läßt die Blätter auf den Tisch schweben.
>Ich werde jetzt gehen<, sagt er. >Besuchen Sie mich nicht mehr, und suchen Sie
auch nicht nach mir. Ich werde Europa verlassen und in den Himalaja reisen. Ich muß
mich unbedingt ausruhen. Wir sehen uns in fünfundachtzig Jahren wieder, auf den
Tag genau. Leben Sie wohl, ich liebe Sie beide.<
Er bittet die Freunde, ihn allein zu lassen. Draußen geht jedoch ein heftiges Gewitter
nieder, und so kehren sie wieder um. Als sie die Tür zum Laboratorium öffnen, ist
Saint-Germain verschwunden.

>In fünfundachtzig Jahren<, sagte der Graf... Das führt uns ins Jahr 1875. Ein Mann
zumindest rechnet mit der Rückkehr des >Wundermacher<: Kaiser Napoleon III. Auf
seinen Wunsch wurde ein umfangreiches Dossier über den seltsamen Grafen von
Saint-Germain angelegt, und der Kaiser bewahrt diese Unterlagen, Briefe,
Zeugenaussagen, Prophezeiungen, in einer grünen Pappschachtel in seiner
Privatbibliothek im Tuilerienpalast auf. Doch sein Wunsch, die Rückkehr des Grafen
mitzuerleben, soll sich nicht erfüllen. Der Niedergang des Zweiten Kaiserreiches,
Exil und Tod machen den Traum zunichte. 1871 stecken aufgebrachte Anhänger der
Pariser Kommune den Palast in Brand; die Bibliothek wird völlig zerstört. Auch das
Archiv, das möglicherweise Aufschluß über einen geheimnisvollen Unbekannten
hätte geben können, wird ein Raub der Flammen. Geblieben ist nur der Name, der
ganze Generationen verzauberte: der Graf von Saint-Germain.

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