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E R W O R T U N G

Von der Kunst,


Kunst
(nicht) beim Wort
zu nehmen
Kunst ist ein Menschenrecht. Nicht alle sind daran
interessiert, von diesem Recht Gebrauch zu machen,
aber es ist die Aufgabe von Museen, Sammlungen,
Galerien und zuallererst der Kunst- und Kultur­-
Credit: Laura Nitsche

vermittlung, diesen Zugang zu ermöglichen. Das ist


gar nicht so einfach, denn dazu braucht es das Wort.
Text: Sandra Kettinger

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SCHWER
PUNKT

Aus der Einkaufsliste aufs Gemälde. Künstlerin Laura


Nitsche ist der Kontext von Wort und Bild wichtig.

„Geht es um moderne
Kunst, scheitern wir
schnell mit dem Zugang
sehen – erfassen – Bezug
herstellen.“

K
ennen Sie diese Situation, lers in einer bestimmten Epoche ausge- Menschen persönliche Anknüpfungs-
wenn jemand – oder auch sehen hat, was der Anlass für das Werk punkte zu liefern – z. B. über Ästhetik,
Sie selbst – vor einem Bild, war oder was er damit ausdrücken Alltag und Humor.“
einer Skulptur oder Installation steht möchte. Braucht es diesen Kontext? In den Bildern von Linda Partaj kom-
und so gar nichts damit anfangen Wolfgang Tunner wusste schon, men immer wieder Textpassagen vor.
kann? Fehlen Ihnen ab und an die rich- dass die Sprache mit ihren Regeln Ein- „Dadurch entsteht eine weitere Ebene,
tigen Worte? Braucht es diese Worte, fluss auf die Kunstbetrachtung nimmt, eine andere Form von ‚Bildinforma-
das Ausformulieren und Beschreiben, weil unsere Sprache mehr auf Beurtei- tion‘ wird lesbar“, erklärt die Absol-
um Kunst verstehen zu können? len als auf Sehen eingestellt ist. „Das ventin der Angewandten, die mit An-
Wort greift ein, bevor noch Empfin- fang 30 schon auf ein beeindruckendes
Sehen ist nicht gleich Erkenntnis dung Zeit hat, sich zu entfalten.“ Portfolio blicken kann.
Sehen, das haben wir von Geburt an Geht es aber um moderne Kunst,
gelernt, heißt, Objekte in ihrer Grund- scheitern wir schnell mit dem gelern- Kontext versus Selbstpreisgabe
bedeutung wahrzunehmen. Wir sehen ten Zugang sehen – erfassen – Bezug Linda Partaj empfindet es als spannen-
etwas und unser Gehirn sagt: „Das ist herstellen. „Der Zugang zu moderner, de, aber auch schwierige Gratwande-
ein Vogel.“ Innerhalb von Millisekun- abstrakter Kunst ist sehr altersspezi- rung, abzuwägen, wie viel sie über die
den wissen wir, was das Gesehene be- fisch“, erzählt Laura Nitsche. „Kinder künstlerische Arbeit hinaus preisge-
deutet. „Aber es genügt nicht, nur zu bis 12 sind da sehr offen, danach sind ben möchte: „Meine Werke sind sehr
erkennen, was die Dinge für sich be- andere Identifikationsebenen wichti- persönlich und es steckt sehr viel an
deuten“, schreibt Wolfgang Tunner im ger. Ab diesem Alter geht es los mit ,Ist eigener Geschichte darin. Vieles davon
Standardwerk „Psychologie und Kunst. das Kunst? Das kann ich auch!‘.“ möchte ich nicht aussprechen, son-
Vom Sehen zur sinnlichen Erkenntnis“. Die Künstlerin und Kunstvermittle- dern in Bildern verarbeiten, was eine
„Man will auch ihren Zusammenhang rin, die in Wien und Niederösterreich andere Sprache ist und auf einer ande-
verstehen.“ lebt und arbeitet, hat viele Jahre lang ren Ebene gelesen werden kann.“
Betrachten wir realistische Darstel- Gruppen durch Ausstellungen geführt.
Credit: Laura Nitsche

lungen, so können wir die (zumindest „Die Beschreibung von Kunst kann den Ein Buch zur Serie
oberflächliche) Bedeutung schnell erfas­- Horizont erweitern, neue Perspektiven Wie geht Laura Nitsche mit dem Kon-
sen, auch wenn wir oftmals keine Ah- eröffnen, transdisziplinäre Zugänge text zu ihrem eigenen Werk um? „Für
nung haben, wie das Leben des Künst- schaffen – sofern ich es schaffe, für die mich ist der Kontext sehr wichtig,

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auch wenn ihn die Menschen bei mei- das entspannt sie, weil sie das Gefühl
nen Bildern vielleicht gar nicht brau- haben, es zu verstehen. Selbst Men-
chen würden, weil manches selbstevi- schen mit hohen Bildungsabschlüs-
dent ist. Ich greife da vor, zuletzt hab sen aus anderen Fachbereichen ha-
ich zu meinen Bildern, basierend auf ben Angst davor, etwas zur Kunst zu
Einkaufslisten, ein eigenes Buch mit sagen, aus Scham, nicht zu verstehen,
sehr spannenden Essays herausge- zu wenig zu wissen, kulturell nicht
bracht, die das Thema ‚Einkaufsliste‘ salonfähig zu sein.“ Dem Kunstbe-
und die dargestellten Lebensmittel aus trieb wirft sie vor, diese Kluft zwi-
unterschiedlichen Blickwinkeln be- schen „Wissenden und Unwissenden“
trachten: Wo kommen die Dinge her, dezidiert zu fördern. Sie sagt: „Kata-
die wir kaufen? Was hat unser Konsum
mit Kolonialismus zu tun, woran be-
logtexte können einen erschlagen.
Manchmal habe ich das Gefühl, es
ZWISCHEN
dient sich das Design und die Wer- wäre Sinn und Zweck, die Leute zu
bung? Seit wann sind wir Konsumen-
ten? Schreiben wir Einkaufslisten
verunsichern, nur ja viele Fremdwör-
ter zu verwenden, um sich damit läs-
TÖNE
noch mit der Hand oder in eine App? tige Fragen vom Hals zu schaffen.“ Edgar Niemeczek
Bestellt bald der Kühlschrank die feh- Lassen Sie sich beim nächsten Be-
lenden Dinge? such in einer Ausstellung also Zeit, „Träume und Gedanken
wenn Sie Kunst auf sich wirken las- kennen keine Schranken.“
Keine Scheu vor Fragen sen. Fühlen Sie Ihre Emotion, bevor (Sprichwort)
Bei Vernissagen oder Künstler:in- Sie versuchen, diese zu beschreiben.
nen-Gesprächen gibt es die Möglich-
keit, Fragen zu stellen – was sehr oft
nicht passiert. Laura Nitsche hat dazu
Das meint auch Linda Partaj, wenn
sie feststellt: „Emotionen bei der Be-
trachtung von Kunst sind etwas ganz
M anche Gedanken ähneln nächtli-
chen Träumen: Sie tauchen
kaum vorhersehbar auf und enden
unterschiedliche Erklärungen. Sie be- Essenzielles. Traurig ist es eher, wenn meist irgendwo, also ohne konkrete
schreibt, dass viele Leute sich nach du einem Werk völlig gleichgültig ge- Erinnerungen zu hinterlassen. Aller-
gegenständlichen Darstellungen seh- genüberstehst, es dich kalt lässt und dings bewegen beide die menschliche
nen würden. „Das imponiert ihnen, weder positiv noch negativ berührt.“ Gefühlswelt, können in der Folge ein
intensiveres Nachdenken auslösen und
die Kreativität beflügeln. Derart mag
die eine oder andere bedeutende Leis-
tung ihren Anfang genommen haben,
ob bei künstlerischen Arbeiten, als Vo-
Credit: LindaPartaj, The Graphic Society

raussetzung für die Umsetzung wirt-


schaftlicher Erfolgsmodelle oder bei
der Verwirklichung politischer Ziele.
Hilfreich und geradezu essenziell am
Weg von der gedanklichen Initialzün-
dung bis zum fertigen Ergebnis ist der
Dialog, der mitunter aus gedanklichen
Sackgassen führt und oft neue Aspekte
liefert. In diesem Sinne kann auch
Heinrich von Kleists Aufsatz „Über die
allmähliche Verfertigung der Gedanken
beim Reden“ verstanden werden. Die
Idee komme beim Reden, meinte Kleist,
als er im Gespräch mit seiner Schwes-
ter eine algebraische Aufgabe lösen
konnte. Gute Kommunikation zwingt
förmlich dazu, Gedanken zu strukturie-
ren und zu einem plausiblen Ende zu
bringen, wobei gezielte Zwischenfra-
gen den Weg der Erkenntnis meist be-
reichern. Freude beim Denken schafft
jedenfalls eine konstruktive und anteil-
(li.o.) „When a child was a child“, Malerei,
Acryl auf Leinwand, 150 x 150 cm, 2022 nehmende Gesprächsbasis, ausgehend
(li.u.) „Ich seh’, ich seh’, was du nicht siehst“, von einer alten Binsenweisheit, wo-
Kugelschreiber auf Papier, 60 x 80 cm, 2023
nach große Gedanken von Kopf und
Credit:

(re.) „No more surprises, please“ , Malerei,


Acryl auf Leinwand, 150 x 100 cm, 2023 Herz zugleich geboren werden.

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