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Götz Lechner

Soziologie des Scheitems - ein romantisch


archäologischer Versuch

I. Das Scheitern ist wieder da

Scheitern, dieser Begriff war lebensweltlich und somit alltagssprachlich in den letzten
Dekaden sichtbar auf dem Rückzug, allenfalls Ehen und Elfmeterschützen konnten noch
scheitern. Scheitern als Begriff adelt darüber hinaus noch ab und an institutionelle Unzu-
länglichkeiten: so scheitern regelmäßig EU-Gipfel, obwohl ihr Erfolg institutionell präfor-
miert mehr als unwahrscheinlich erscheint.
Seit einiger Zeit scheint das "Scheitern" allerdings eine Art Renaissance zu erleben:
"Scheitern für Gescheite" überschrieb Susanne Rehlein im "Magazin" vom August 2002
einen Bereicht über ein "Scheitern SIam" in Berlin. Ebenfalls im August dieses Jahres
rückte der "Spiegel" unter der Überschrift "Jung erfolgreich entlassen" gescheiterte Karrie-
ren in der Mittelschicht in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Auch wenn diese Frage in diesem Band oft gestellt wird, sei sie hier wegen des Zun-
genschlags nochmals wiederholt: Was bedeutet eigentlich Scheitern? Man kann sich dem
Begriff phänomenologisch und etymologisch nähern und dann weitere Umschreibungen zu
benennen: ausgehend vom "Scheit" meint "scheitern" in Stücke gehen, zerschlagen wer-
den, um dann umgangssprachlich mit keinen Erfolg haben, mit kentern, aus dem Gleis
laufen, keine Chance mehr haben, keine Wiederholung mehr leisten können, alles verloren
haben, endgültig aus der Bahn geworfen worden verbunden zu werden. Diese Reihung
macht klar, dass das "Scheitern" hier als endgültig, ausweglos begriffen wird.
Kulturhistorisch wird der Beitrag zeigen, wie und warum sich dieses Scheitern von
exklusiven Vergnügen der der Normalwelt entrückten Heroen zum alltäglichen Problem
für entwickelt hat. Gleichzeitig verbindet sich mit dem Scheitern eine gewisse Unerträg-
lichkeit - im Prozess seiner Generalisierung und Demokratisierung muss das Scheitern im
gleichen Atemzug aus dem Alltag verbannt werden - auch diesem Mechanismus versucht
dieser Beitrag auf den Grund zu gehen.
Diese letztlich paradoxe Entwicklung lässt sich empirisch an einigen Beispielen aufs
beste belegen: Exemplarisch kann hier die Erfindung des Privatkonkurses im deutschen
Rechtssystem stehen: um das individuelle ökonomische Scheitern von Privatpersonen zu
"heilen" - bis zur Einführung des Privatkonkurses hatten Forderungen über 30 Jahre be-
stand, rund 2,5 Mio. überschuldete Haushalte waren somit für den Rest ihrer Tage auf ein
Leben an der Pfandungsfreigrenze festgelegt - kann eine Restschuldbefreiung für redliche
Schuldner erteilt werden. Ökonomisches Scheitern als Massenphänomen musste aber erst
noch erfunden werden: auf der einen Seite musste im Wirtschaftsystem die Möglichkeit

M. Junge et al. (eds.), Scheitern


© VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004
34 Soziologie des Scheiterns - ein romantisch archäologischer Versuch

geschaffen werden, sich hinreichend durch Privat- oder Ratenkredite zu verschulden, auf
der anderen Seite musste normativ die Grundlage gelegt werden, überhaupt Schulden zu
machen. Nun also eine Restschuldbefreiung rur redliche Schuldner: diese Redlichkeit muss
paradoxerweise durch Wohlverhalten über einen Zeitraum von sechs Jahren dokumentiert
werden, der Nachweis der "Redlichkeit" wird somit erst angetreten, wenn die Schulden
nicht mehr bedient werden können. Redlichkeit steht hierbei rur eine modeme Verantwor-
tungsethik, das Faktum der Überschuldung rur eine Vermehrung der individuellen Mög-
lichkeitsspielräurne ohne normativ-strukturelle Rahmung: anything goes kommt vor Wohl-
verhalten. Die Erweiterung der Handlungsspielräume rur breite Schichten der Bevölkerung
erhöht somit das Risiko des Scheiterns, die gesellschaftlich offensichtlich notwendige
Bewältigung des Scheiterns beschwört seltsame Paradoxien herauf.
Allerdings wäre der naheliegende Dreischritt: Die Vermehrung der Möglichkeiten
wirft ständig neue Räume rur das Scheitern auf, diese Vermehrung der Möglichkeiten ist
eine Folge der Rationalisierung der Welt und diese Rationalität muss geradezu naturwüch-
sig diese unangenehmen, unbeabsichtigten Nebenfolgen beherrschen, soziologisch kurz-
sichtig.
Er beantwortet vor allem die Frage nicht, wieso das Scheitern aus der allgemeinen
Wahrnehmung verschwand und ebenso unvermittelt wieder auftauchen konnte. Der vorlie-
gende Beitrag will dieser Frage in einer Form (alltags-) kultureller Archäologie nachgehen
- eine Geschichte von tragischen Helden und Erfolg.

11. Die Moderne, Helden und das Scheitern - die Helden


starben dreimal

"An diesem Tag habe ich alles gelernt, was man über das Scheitern wissen muß'" (Moers
1999, S. 24) stellt Käpt'n Blaubär fest, als er an einem Versuch der Zwergpiraten teilhat,
ein ausgewachsenes Handelsschiffzu kapern. Das Scheitern liegt hier in der Tatsache, dass
diese Piraten gerade mal das Format eines durchschnittlichen Daumens erreichen und
somit irgendwie im Bereich der physikalischen Tatsachen auftauchen - gleichwohl sich
diese Piraten unablässig ihrer Heldentaten rühmen: Anglerlatein scheint im Gegensatz zu
diesen Geschichten geradezu axiomatisch. Auch Käpt'n Blaubär ist vielen als sonntäglicher
Lügenbär bekannt und doch steht er hier rur den Prototyp des modemen Helden. In der
Beschreibung seiner 13 Y, Leben führt Moers den Lesern keine Eulenspiegelein oder
Münchhausenritte auf Kanonenkugeln vor, er möbliert eine "echte" Fantasy-Welt indem er
"modernes" Leben mit mythischen Versatzstücken rückwärts transformiert2• Die Leben des
Käpt'n Blaubär finden ausschließlich literarisch statt, nichts desto trotz oder gerade deswe-

Für den Piratenhinweis danke ich Sabine Sterken.


Transformationen von Mythen sind aus der Strukturalen Anthropologie eines Claude Levi-
Strauss geläufig.

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