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Als wir träumten

Quelle: Literaturkritik

Unter Straßenkötern
Clemens Meyers Roman "Als wir träumten"
Von Kai Sina
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
"Weißt Du noch?" Im Zentrum von Clemens Meyers über 500 Seiten starkem
Debütroman steht eine knappe, aber weitreichende Frage. Der Ich-Erzähler Daniel
Lenz erinnert sich in bruchstückhaft zusammenhängenden Episoden an seine
Jugendjahre zwischen DDR und BRD, zwischen FDJ und BMW. Es sind die Jahre im
Nahbereich "der großen Wende", von denen hier die Rede ist. Eine Zeit, in der Daniel
mit seinen Freunden "Kontakt zu den bunten Autos und zu Holsten Pilsner und
Jägermeister" aufnimmt.

Dabei erinnert er sich an die immer gleichen Geschichten mit den immer gleichen
Freunden an den immer gleichen Orten: Wie sie nächtelang durch den Südosten
Leipzigs gestreunt sind, billigen Fusel getrunken und sich mit den "Glatzen" geprügelt
haben, wie sie Ablenkung im Bordell gesucht, Autos geknackt und sie zu Schrott
gefahren und naive Rentner ausgenommen haben. Und zwischendurch bleibt immer
wieder einer der Freunde auf der Strecke - sei es im Gefängnis, durch Drogen oder
einen tödlichen Autounfall -, worauf man sich wiederum mit literweise "Leipziger
Premium Pils" oder billiger "Goldkrone" betäubt. Es sind "seltsam traumartige
Flugnächte", von denen Daniel hier berichtet, sie enden meist "in der
Ausnüchterungszelle oder auf dem Flur des Polizeireviers Südost, mit Handschellen an
die Heizung gekettet." Obwohl der Erzähler und seine Freunde "eine Menge Spaß
damals" hatten, räumt er doch ein: Da war "eine Verlorenheit in uns, die ich schwer
erklären kann."

Um diese "Verlorenheit" geht es dem Erzähler. Er will sie durch seine Erinnerungen
ergründen, denn ihn quält die Frage, "warum das alles so gekommen ist." Wie es
gekommen ist, scheint zunächst unklar, doch es gewinnt im Laufe des Romans immer
mehr an Kontur. Die Elternhäuser Daniels und seiner Freunde sind durch Alkohol und
Gewalt zerrüttet oder schlicht nicht existent, Arbeit ist Mangelware, "Chemie Leipzig"
steigt ab ("runter in die Amateur-Oberliga"), und die große Politik des ausgehenden
20. Jahrhunderts bleibt draußen vor der Kneipentür. Was Daniel und seinen Freunden
neben dem Alkohol bleibt, ist nur die trotzige Flucht in eine bierselig-verklärte
Vergangenheit, in eine idealisierte Lausbubenwelt als junge "Thälmannpioniere" und
in bessere Zeiten, in denen man, zumindest sportlich, "groß in Form" war: "Da is
Geschichte dran, verstehste, da haben wir die Bonzen geschlagen, da waren wir die
Größten."

Für die Teilnahme an einem der historischen Leipziger Montagsmärsche - "ich bin
auch das Volk, verstehste" - dient den Freunden "ein großer dreieckiger
Pionierwimpel" als Demonstrationsplakat: Es zeigt auf beiden Seiten das
Pionieremblem, und darunter steht in sozialistischem Rot: "Wir marschieren mit, für
den Frieden und die Solidarität zwischen den Völkern." Weltanschauungen sind
austauschbar, das wird hier deutlich, und dementsprechend liefern sie den Freunden
keinen Halt in einer sich rasant verändernden Welt. Die "große Wende" macht sich im
Südosten Leipzigs lediglich durch neue Drogen, ein ausdifferenzierteres
Spirituosenangebot und bislang unbekannte, dumpfe Technorhythmen bemerkbar. Sie
ist allerdings nicht der Nährboden, auf dem die entwurzelten Existenzen gedeihen, von
denen hier so umfangreich, direkt und unverhohlen erzählt wird.

Stattdessen werden Daniel und seine Freunde durch die Wiederkehr des
Immergleichen zu dem, was sie sind: Nach einem ersten 'Initiationsbesuch' Daniels in
der Stammkneipe seines Vaters, der "Silberhöhe", ist seine Mutter außer sich: Die
Kneipe habe schon seinen Vater kaputtgemacht, und sie schreit ihren Jungen an:
"Warum gehst Du dahin, warum lügst du mich an, warum machst du... dein Vater!"
Doch Daniel will nicht hören, die Kneipe ist ihm Zuhause und Familienersatz
gleichermaßen: "Die 'Silberhöhe', glaub's mir, die 'Silberhöhe' ist Gold!" Und die
Mutter verliert nach ihrem Ehemann auch noch den einzigen Sohn an die Kneipe ums
Eck. Es kommt, wie es kommen muss, und für den ersten Gefängnisaufenthalt ihres
Sohnes hat die Mutter nur noch einen bescheidenen Wunsch: "Hoffentlich geht es dir
nicht schlecht."

Entscheidend ist der allabendliche Promillerausch und sonst nichts. Die


Wiedervereinigung bleibt nur ein zweitrangiges Phänomen in diesem Roman, doch
gerade in seiner Zweitrangigkeit ist es bedeutsam. Denn die zwischen 'Ost' und 'West'
vermittelnde und geradezu einheitsstiftende Kraft einer Weltsicht, die mehr Pilsner als
Politik ist, wird erst auf den zweiten Blick deutlich: Torkelt nicht auch im Westen ein
heimatloser 'Herr Lehmann' durch die Straßen Berlin-Kreuzbergs und vertrinkt den
Mauerfall in seiner Stammkneipe? Könnten die Worte Lehmanns - "Man könnte auch
noch einen trinken, dachte er, irgendwo" - nicht auch Daniels Mund entstammen?
Zugegeben: Die beiden Romane sind so unterschiedlich wie ihre beiden Protagonisten.
Die Heimat- und Orientierungslosigkeit, die bei Lehmann noch unschuldig und
feuchtfröhlich ist, gerät bei Daniel und seinen Freunden schließlich vollkommen außer
Kontrolle und mündet in Gewalt und Drogenexzess. Trotz aller Unterschiedlichkeiten
scheint es dennoch, als habe Herr Lehmann in Daniel Lenz sein zerstörtes und in
"Verlorenheit" geratenes Pendant gefunden - und Clemens Meyer mit diesem
wichtigen Roman dem westdeutschen Underdog der ausgehenden 80er Jahre sein
ostdeutsches Gegenstück der angehenden 90er Jahre zur Seite gestellt.

Drugi Kriticari itd:


Clemens Meyer
Als wir träumten
Roman
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006
ISBN 9783100486004
Gebunden, 524 Seiten, 19,90 EUR

Gebraucht bei Abebooks

KLAPPENTEXT
Sie träumen vom Aufstieg ihrer Fußballmannschaft, von einer richtigen Liebe und davon, dass irgendwo ein besseres Leben wartet.
Rico, Mark, Paul und Daniel wachsen auf im Leipzig der Nachwendejahre, in einem Viertel, dessen Mittelpunkt die Brauerei ist.
Jede Nacht ziehen sie durch die Straßen. Sie feiern, sie randalieren, sie fliehen vor den Glatzen, ihren Eltern und der Zukunft. Sie
kämpfen mit Fäusten um Anerkennung und schlagen die Zeit tot. Sie saufen, sie klauen, sind cool und fertig und träumen vom
eigenen Leben. Alle ihre Fluchtversuche enden auf den Fluren des Polizeireviers Südost.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 14.09.2006


Recht unausgegoren scheint Rezensentin Dorothea Dieckmann dieser Roman über eine Jugend im Leipzig der
Nachwendezeit, den Clemens Meyer vorgelegt hat. Dabei bestreitet sie keineswegs, dass der junge Autor schreiben kann. Sie
hält ihm nur vor, nicht gelernt zu haben, Unnötiges wegzulassen. Die 518 Seiten des Romans sind für sie mindestens 300
zuviel. Der im jugendlichen Kleinkriminellenmilieu zwischen Schule und Strasse, illegaler Disco und Swingerclub, Knast
und Kneipe angesiedelte Roman liest sich für Dieckmann wie eine locker verbundene Sammlung von Kurzgeschichten. Eine
große erzählerische Gesamtkomposition kann sie beim besten Willen nicht erkennen. Dennoch gibt es auch Lob: die Kapitel
über den ehemaligen Stasi-Werklehrer oder den Außenseiter mit der Hasenscharte etwa bestechen nach Ansicht Dieckmanns
durch "intensive szenische Porträts". Geradezu "atemberaubend" findet sie schließlich das Kapitel "In der Silberhöhe", in
dem betrunkene Stammtischler dem kleinen Daniel die Festnahme seines Vaters kundtun.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 16.03.2006


Als wirksames Mittel gegen "verklemmte Realismusdebatten" empfiehlt Kolja Mensing Clemens Meyers Debüt "Als wir
träumten". Der Roman sei zwar durchaus dazu angetan, eine "3-Tage Depression" hervorzurufen. Das liegt allerdings nicht an
einem etwaigen erzählerischen Unvermögen Meyers, sondern schlicht an der packenden Geschichte, die aus dem trostlosen
und gleichwohl ereignisreichen Alltag einer Jugendclique im Leipziger Osten der Nachwendezeit schöpft. "Soviel
beschädigtes Leben war lange nicht mehr in der deutschen Gegenwartsliteratur", meint der Rezensent. Erfreulich sei, dass
Meyer gänzlich auf verständnisheischende Gesten und pädagogische Fingerzeige verzichtet. Vielmehr entwirft Meyer das
Panorama eines Alltags, der zwar aus den Fugen geraten ist und sich allzu oft zwischen Dosenbier, Autoklau und Arrestzellen
abspielt, der aber dennoch manchmal "so golden leuchten kann wie der Apfelkorn", den die Jungs trinken. Und angesichts der
erzählerischen und sprachlichen Präzision, so Mensing, lasse sich auch der gewaltige Umfang von mehr als 500 Seiten
verschmerzen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 15.03.2006


Ina Hartwig kann den Debütroman von Clemens Meyer gar nicht genug loben: Ein "großartiges Buch" habe dieser
geschrieben, ein Werk von "dunklem Zauber", das thematisch an Jean Genets "Wunder der Rosen" und sprachlich an J. D.
Salinger erinnert. Meyer erzählt in seinem Roman die Geschichte einer Jungenclique in der Zeit nach der Wende. Die Jungs
wachsen in Leipzig auf, verbrennen das eine oder andere rote Pioniertuch und sind zunächst vollauf begeistert von den neuen
Freiheiten. Schnell aber kommt der Absturz in die Hölle aus Knast, Drogen und Gewalt. Eine Wende, die man von Anfang an
ahnt und gespannt erwartet, meint die Rezensentin. "Ausladend und schnell, brutal und sehnsüchtig" findet sie die
Geschichte; die erzählerische Kunstfertigkeit Meyers, der seinen Roman nicht einfach nur "abschnurrt", sondern "elegant"
durch die Chronologie springt, schreibt sie dessen bewegtem Leben auf der "Unterseite der Gesellschaft" zu. Sein Vokabular
sei deshalb entsprechend brutal, aber gut gewählt. Die Rezensentin ist überzeugt, dass das nicht das letzte Buch Meyers
gewesen sein kann. Denn sein Debütwerk ist einfach eine "Sensation".

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 09.03.2006


Hier habe man es mit einem Debütroman des 1977 in Halle geborenen Autors zu tun, der packend und frei von Posen mit
einem "unverstellten Blick auf menschliche Befindlichkeiten" zu erzählen weiß, so Eberhard Falcke. Und schiebt gleich
hinterher, die in den späten Achtzigern verortete Geschichte einer Clique aus der Leipziger Vorstadt vorschnell mit dem
Etikett "Wenderoman" zu belegen, sei fraglich. Einerseits erwecken die kriminellen Beschäftigungen der Jugendlichen keine
Sympathien, andererseits sei es der Ton des Autors, der abseits vom lockeren Zeitgeist eine existenzielle Stimmung zu
erzeuge. Das Gleichmaß des "kleinen, gemeinen Lebenskampfes" sei hier "größer und ewiger dargestellt, als alle historischen
Umbrüche". Es gelinge dem Autor die Momente zwischen Aufbruch und Resignation, zwischen DDR-Kindheit und BRD-
Jugend, festzuhalten, die sich in den Außenseiter Lebensläufen in einer Art "Zwischenwelt" in Boxringen, Strip-Bars oder in
der Jugendhaftanstalt manifestieren. "Geschlagene Helden als Menschen und Zeitfiguren" wie Falke resümiert und dem
Autor einen "großartigen Talentbeweis" bescheinigt.

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Mi.Ch.vor 8 Jahren
Auch ich bin einer der Jugendlichen aus diesem Roman und jetzt sind wir sogar ein Film,
an dem Millionen verdient werden, und ich sitze hier in einer Ein-Zimmer-Wohnung in
der es im Winter zieht.
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Roneranzavor 11 Jahren
guten tag, ich bin auch einer der jugendlichen aus dem buch, und kenne auch den herrn
c.m. 
und es gibt huderte andere ähnliche schicksale in leipzig-ost, leipzig west und sonstwo. 
also alles eine frage der sicht. das ist keine doku sodern ein roman. 


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Danib-1980vor 11 Jahren
hallo auch ich bin eine von den jugendlichen aus diesem buch ich denke es ist an der zeit
das wir uns zu wort melden um das die leute wissen wessen geschichte dies ist . es war
unsere zeit unsere geschichte unser virtel ..... 
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DT
Dz T Svor 11 Jahren
guten tag ich bin einer der jugendlichen aus diesem buch und finde es unter alles sau das
man unser leben unsere geschichte so ausblutet ohne einen von uns gefragt zu haben ob
wir das überhaupt wollen.
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