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Produktbeschreibung
Nichts ist geheimnisvoller für uns Menschen, als unter die Erdoberfläche zu schauen: Die Höhlen, die
Bergwerke, die Abraume - alles eine verwunschene Landschaft, die die Phantasie bewegt. Aber nicht
selten können solche Sehnsuchtsorte auch mit viel Schmerz, mit Verlust und mit Beschädigungen der
menschlichen Würde verbunden sein. Und davon erzählt Clemens Meyer in seinem neuen Buch. Und,
wie immer bei ihm, mit zum Teil ungehörigen Wendungen und unvermuteten Ausgängen.Der Ausgabe
sind atmosphärisch gefärbte Bilder des renommierten Fotografen Bertram Kober beigegeben. Nicht
die Erzählungen zu illustrieren, war seine Absicht, sondern der literarischen Stimme einen weiteren
Echoraum zu geben.
Produktdetails
Verlag: Faber & Faber, Leipzig
Seitenzahl: 126
Erscheinungstermin: Oktober 2021
Deutsch
Abmessung: 218mm x 142mm x 17mm
Gewicht: 277g
ISBN-13: 9783867301589
ISBN-10: 3867301581
Artikelnr.: 61528161
Rezensionen
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.10.2021
Innere
Abraumhalden
Drei Erzählungen und ein Essay in
Clemens Meyers Band „Stäube“
Es gibt Zeiten, in denen es nötig ist, das Selbstverständliche zu sagen. Clemens Meyer tut das zwischen
zwei Klammern. Es sei ihm vollkommen egal, ob es sich bei einem Autor um Mann oder Frau handele,
schreibt er, ob weiß, schwarz, jung, alt, schwul oder hetero, denn es gehe in der Literatur doch „um ein
Werk, das auch, wenn der Autor anonym wäre, wirken und bestehen muss“. Meyers Bekenntnis findet
sich in dem Essay „Wozu Literatur“, der einen schmalen Band mit drei Erzählungen abrundet.
Die uralte Wozu-Frage geht Meyer weniger theoretisch an, als dass er sich als emphatischer Leser
zeigt, der von denen, die er bewundert, viel gelernt hat. Balzac, Joseph Roth, Michail Scholochow, Isaak
Babel, Fred Wander, Bernhard Traven, Hemingway, ja sogar der jüngere Thomas Mann wären da vor
allem zu nennen, aber auch die Arbeiter im Bergwerk der Literatur: Wolfgang Hilbig, Werner Bräunig
und Franz Fühmann. Alles Männer, sehr wohl, aber eben auch Werke.
So ein Bergwerksarbeiter ist auch der in Leipzig lebende Clemens Meyer. Er kennt die
Braunkohlereviere seiner Heimat und ist fasziniert davon einzufahren. „Der Bergmann fährt“, sagt so
einer, „all unsere Bewegungen unter Tage sind ein Fahren in den Berg.“ In seinem Essay berichtet
Meyer, wie er als Dozent am Leipziger Literaturinstitut seinen Studenten den Auftrag gab, eine
Kurzgeschichte über einen im Berg eingeschlossenen …mehr
Rezensentin Nicole Henneberg nimmt Clemens Meyer den angry young Schriftsteller ab. Wie Meyer
sich mit existenziellem Schreiben gegen Wohlfühlliteratur positioniert, findet sie nicht nur glaubwürdig,
sondern auch unterhaltsam. Über seine poetologische Position klärt der Autor die Rezensentin in
einem Essay auf, die Praxis liefern die drei ebenso im Band enthaltenen drei Kurzgeschichten. Meyer
kann Räume und Figurenkonstellationen mit wenigen Strichen genau vermitteln, meint Henneberg, er
erkundet "hochkonzentriert" Tiefenschichten seiner Figuren und entwirft Zeitbilder. So muss Literatur
sein, findet die Rezensentin.
Der archäologische Blick des Autors: Mit seinem packenden Erzählungsband "Stäube" sucht Clemens
Meyer im Untergrund Glücksmomente und Enttäuschungen der ostdeutschen Vergangenheit.
Ein Mann steigt aus einem Zug. Es ist Heiligabend, er geht auf das einsame Bahnhofsgebäude zu,
schaut durch das Fenster in die Gaststätte und sieht einen Jungen, der verzweifelt auf einen alten
Mann einredet. Clemens Meyer schildert diese Szene und den dazugehörigen Raum so präzise und
eindringlich, dass sofort ein düster leuchtendes Bild vor unseren Augen entsteht - es erinnert in seiner
Melancholie an Edward Hoppers Gemälde.
"Die Glocken" heißt diese Geschichte, sie eröffnet den schmalen, hochkonzentrierten und sehr
persönlichen Erzählband "Stäube". Seine drei Kurzgeschichten werden abgerundet von einem
biographischen Essay, in dem der Schriftsteller, aufgewachsen in einer christlich geprägten Familie in
Halle und seit frühester Jugend leidenschaftlicher Leser, erzählt, wie er zu dem wurde, der er heute ist.
Als Lieblingsfeindin hat er sich hier seine gleichaltrige englische Kollegin Zadie Smith erwählt, die ihr
Schriftstellerleben entspannt genießt, der es Spaß macht, zu schreiben, und die ihre Tätigkeit mit dem
fröhlichen Backen von Bananenbrot vergleicht.
"Vielleicht arbeite ich ja in einem anderen Universum", entgegnet Meyer empört, in dem "Heizer
schreiben, Figuren wie Bräunig aus der Wismut steigen, Franziska Linkerhand auf den Baustellen ihre
Illusionen von einem neuen guten Land verlieren, wo Brüche Montage sind, das Ringen um Stoff und
Form zu spüren ist." Er bekennt sich als existenzieller Autor, der beim Schreiben keine Wahl hat, was
die Stoffe angeht, und der in seinen Texten die Ränder und Abgründe des Menschlichen zu ergründen
versucht. Das nennt er seinen "archäologischen Blick", mit dem er lebt, seit sein Großvater, der
Bergmann, ihn für unterirdische Stollen und die "Königin der Tiefe" begeisterte.
In der zentralen Geschichte des Bandes durchwandert, genauer: durchkriecht ein Mann immer wieder
die unterirdische Welt, seien es Keller unter Städten oder stillgelegte Bergwerke. Zeit- und
Erinnerungsebenen verrutschen und vermischen sich, wie in Fieberträumen, immer wieder werden
Rettungstrupps nach ihm ausgeschickt, denen er entflieht. Er versucht nicht nur in die Unterwelt
einzudringen - mit all ihren mythologischen Implikationen -, sondern auch in die Tiefen seines
Bewusstseins und der Sprache. Das liest sich eindrucksvoll und verstörend, aber auch mitreißend, denn
Meyer versucht nichts weniger, als ein Zeitbild zu entwerfen, von den Neunzigerjahren bis heute. Die
Missverständnisse und Abstürze, die winzigen Glücksmomente und die vielen enttäuschten
Hoffnungen seiner Generation, der in den Siebzigerjahren in der DDR Geborenen, geistern durch die
Stollen und Schächte wie "verirrtes Licht", das den Kriechenden, zuletzt durch Steinschlag schwer
Verwundeten, narrt und vorwärts lockt. Ein dunkles Märchen erzählt der Autor, von einem, der auszog,
das Leben und Lieben und Vergessen zu lernen, und in unbekannten Welten aufwacht, im Krieg
irgendwo, in einem Keller, in einem unterirdischen Militärcamp, doch immer gelingt es ihm,
weiterzukommen. In seinen Abenteuern spielt die Realität eine ganz eigene, subversive Rolle, als würde
der Kriechende in einen zerbrochenen Spiegel schauen, in dem immer neue Zerrbilder erscheinen.
Das einzig Tröstliche sind seine Wahrnehmungen, sein Tast- und Geruchssinn, er spürt das Pulsieren
der Steine unter seiner Hand, schmeckt das Wasser. Die eindrucksvollen Fotografien von Bertram
Kober zeigen die Räume dieser Geschichten, auch die aufgerissene Erde und die Schaufelbagger des
Braunkohletagebaus. Zerstörte Welt und Zauberwelt in einem sind diese Räume an der Schwelle
zwischen Ober- und Unterwelt, und so heißt eine Geschichte "Wo die Drachen wohnen": Sie handelt
von einem durch den Tagebau zerstörten Dorf, in das die kindliche Erzählerin wegen des Geruchs
immer wieder zurückkehrt. "Es gibt so viele verschiedene Sorten Staub, ganz feinen weißen, auch
schwarzen aus Kohle, mancher schmeckt bitter, anderer süß, als ich ganz klein war, kannte ich sie alle."
Jetzt führt sie Touristen durch Zwickau, zeigt ihnen die Orte, an denen Uwe Mundlos und Beate
Zschäpe lebten, ansonsten hängt sie mit ihrer gewalttätigen Clique am Hauptbahnhof herum und
sorgt sich um deren Opfer.
Als angehender Schriftsteller hat sich Clemens Meyer gerne als angry young man stilisiert, während
seines Studiums am Leipziger Literaturinstitut musste er eine Strafe in der Jugendarrestanstalt Zeithain
absitzen. Als die Mauer fiel, war er achtzehn und beobachtete in den folgenden Jahren mit
verzweifelter Sorge die Selbstzerstörung seiner Freunde, davon erzählt er in seinem Debüt "Als wir
träumten" (2006). Schon damals war sein Ideal eine existenzielle Literatur, die etwas wagt, eine
radikale, artifizielle Form des Realismus, die keine Berührungsängste mit Surrealem und
Märchenhaftem hat, eine vielschichtige Reise ans Ende der Nacht und zurück an ihren Anfang ("Wozu
Literatur?" Ein Nachsatz). Was er sich vorgenommen hat für die Geschichte "Dem Grund zu" - einen
Mann in einem Raum zu zeigen, in seiner ganzen Körperlichkeit, "der den Raum gefüllt mit seinem
Leben, seinem Sterben" -, das ist ihm mit Bravour gelungen. Dazu gibt es Literatur, könnte man
hinzufügen, denn "Bananenbrote haben wir doch genug". NICOLE HENNEBERG.
Mit Fotografien von Bertram Kober. Verlag Faber & Faber, Leipzig 2021.
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Von Gerrit Bartels
26.11.2021, 15:45 Uhr
Am Ende dieses kleinen Kurzgeschichtenbandes sinniert Clemens Meyer
in einem sogenannten Nachsatz unter anderem darüber, was eine
Kurzgeschichte ausmacht. Er zitiert einen seinen Lehrer am Deutschen
Literaturinstitut in Leipzig, Josef Haslinger, der meint, eine solche sei
einfach eine Geschichte, die man in einem Zug durchlesen könne.
Er spricht davon, dass das Wesentliche einer Kurzgeschichte ihr Kern sei,
„um den wir kreisförmig unsere Sätze ziehen“. Und er erwähnt etwa Ernest
Hemingway, dem es in seinen besten Short stories gelang, „mit scheinbar
geringen Mitteln einen magischen Raum“ zu schaffen.
Natürlich fragt man sich nach der Lektüre sogleich, ob die drei
Geschichten von „Stäube“, wie Meyers Band betitelt ist, (Verlag Faber
und Faber, Leipzig 2021. 128 S., 22 €) diesen Kriterien standhalten. Die
Geschichte über einen Mann, der seine alte Mutter in einem aufgegebenen
Braunkohle-Dorf besucht; jene über ein junges Mädchen und einen von ihr
bewunderten älteren Jungen; schließlich eine dreigeteilte Story über einen
Mann, der in einen Stollen „einfährt“, aus Gründen der Erinnerung, um
nachzuforschen, wie das für die Bergleute von einst gewesen ist.
Ostdeutsche Befindlichkeit
Oder da steht, wie in „Wo die Drachen wohnen“, auf einmal das
abgebrannte Haus der NSU-Terroristen im Mittelpunkt. Die Stimmung
hier, mutmaßlich Zwickau, ist aufgeladen, aggressiv, hier am Rand, ganz
unten in Ostdeutschland.
Es zieht gleichermaßen eine schöne Melancholie und eine gegenwärtige
ostdeutsche Befindlichkeit durch diese zwei Meyer-Stories. Ihre Farbtöne
changieren zwischen schwarz, grau und anthrazit, Autoren wie Wolfgang
Hilbig oder Franz Fühmann winken freundlich herüber, die aufgegebenen
Bergwerke und stillen Abraumhalden sind Sinnbilder für den allgemeinen
Zustand der Region, die Zeit ist verloren und lässt sich nicht wiederfinden.
„Stäube“ bildet da keine Ausnahme. Zumal der Band nicht nur Bertram
Kobers wunderbare Fotos von Steinen, Halden und Höhlen enthält,
gewissermaßen als eigene Geschichte zum Thema Abraum, sondern auch
eben jenen autobiografischen Essay am Ende.
Hauptsächlich geht Meyer darin dem Sinn und Zweck von Literatur nach,
seiner Faszination für die Literatur. Dabei stellt er seine Ahnenreihe vor,
von Franz Werfel über Hemingway bis zu B. Traven; und er positioniert
sich als ein Autor, der aus einem anderen Milieu kommt als die Zadie
Smiths und Daniel Kehlmanns dieser Welt.
Oder als einer, der sich mit dem Gendern in der Literatur nicht anfreunden
mag und dann auch mal von der „Weiberlosigkeit“ spricht, die ihm sein
Debüt „Als wir träumten“ leichter von der Hand gehen ließ.
Clemens Meyer über die Zeit vor und nach der Wende Und über
Bitterfeld brannte der Himmel
Meyer erzählt aber auch von seinen Eltern und Großeltern oder wie er als
Junge dem Schriftsteller Fred Wander begegnet ist und ein, zwei Jahre
später mit den Eltern in Wanders Dorf zieht – nur ist dieser schon
weitergezogen. Zu erzählen, das spürt man bei diesem Essay, hat Clemens
Meyer noch sehr viel. Das in Klammern gesetzte „wird fortgesetzt“ am
Ende wirkt wie ein Versprechen auf eines Tages wieder Größeres.