William Somerset Maugham:
Die Ramsays waren
Die Ameise und die Grille
Als ich ein sehr- kleiner Junge war, musste ich
gewisse Fabeln von La Fontaine auswendig
lernen, und die Moral einer jeden wurde mit
sorgfältig erläutert. So lernte ich unter anderem
die Geschichte von der Ameise und der Grille, die
der Jugend die nützliche Lehre vermitteln soll,
dass in einer unvollkommenen Welt Fleiß belohnt
und Leichtfertigkeit bestraft wird. In dieser
bewundernswerten Fabel (ich bitte um
Entschuldigung, wenn ich etwas erzähle, von dem
höflicher-, aber unzutreffenderweise angenommen
wird, dass jeder es kennt) verbringt die Ameise
einen arbeitsreichen Sommer mit dem Einsammeln
ihrer Wintervorräte, während die Grille, auf einem
Grashalm in der Sonne sitzend, sich ein Liedchen
singt. Der Winter kommt, und die Ameise ist wohl
versorgt, aber die Grille hat eine leere
Speisekammer: Sie geht zur Ameise und bittet um
ein wenig Nahrung. Nun gibt die Ameise ihre
klassische Antwort:
„Was hast du während des Sommers getan?“
„Ich habe gesungen, mit Verlaub zu sagen,
gesungen Tag und Nacht.“
„Gesungen, so! Dann geh und tanze!“
Ich führe es nicht auf Verderbtheit, sondern eher
auf die Gedankenlosigkeit der Kindheit mit ihrem
mangelnden moralischen Sinn zurück, dass ich
mich mit dieser Lehre niemals ganz einverstanden
erklären konnte. Meine Sympathien gehörten der
Grille, und eine Zeitlang konnte ich keine Ameise
sehen, ohne sie mit dem Fuß zu zertreten. Auf
diese summarische (und, wie ich seither entdeckt
habe, durchaus menschliche) Art und Weise suchte
ich meiner Missbilligung für Umsicht und Vernunft
Ausdruck zu verleihen.
Ich musste unwillkürlich an diese Fabel denken,
als ich neulich in einem Restaurant George
Ramsay erblickte, der allein an einem Tisch saß
und seinen Lunch verzehrte. Nie habe Ich einen
Menschen düsterer dreinschauen gesehen. Er
starrte vor sich hin. Er sah aus, als ob die Last der
ganzen Welt auf seinen Schultern ruhe. Er tat mir
leid: Ich vermutete sofort, dass sein
unglückseliger Bruder wieder einmal etwas
angestellt hatte. Ich ging zu ihm hin und begrüßte
ihn.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte ich.
„Nicht gerade glänzend“, antwortete er.
„Ist es wieder Tom?"
Er seufzte: „Ja, es ist wieder einmal Tom."
„Warum lassen Sie ihn nicht laufen? Sie haben für
ihn getan, was Sie nur konnten. Eigentlich müssten
Sie nun schon wissen, dass es völlig hoffnungslos
mit ihm ist.“
Ich nehme an, jede Familie hat ihr schwarzes
Schaf. Tom hatte der seinen durch zwanzig Jahre
so manche Nuss zu knacken gegeben. Seine
Anfänge waren ziemlich normal gewesen: Er war
Geschäftsmann geworden, hatte geheiratet und
besaß zwei Kinder.
außerordentlich respektable Leute, und es bestand
guter Grund, anzunehmen, dass Tom Ramsay eine
ersprießliche und ehrenvolle Laufbahn beschieden
sein würde. Aber eines Tages verkündete er, ohne
vorherige Warnung, dass er eine Abneigung gegen
die Arbeit habe und für die Ehe nicht geschaffen
sei. Er wolle das Leben genießen. Er blieb taub
gegen alle Vorstellungen. Er verließ seine Frau und
seinen Posten. Er hatte etwas Geld und verbrachte
zwei glückliche Jahre in den verschiedenen
Hauptstädten Europas. Gerüchte über seine
Lebensweise drangen von Zeit zu Zeit zu seinen
Angehörigen und schockierten sie aufs tiefste. Er
amüsierte sich zweifellos vortrefflich. Seine
Verwandten schüttelten die Köpfe und fragten sich,
was geschehen würde, wenn er mit seinem Geld
zu Ende sein werde. Das sollten sie bald erfahren:
Er lieh sich neues. Er war charmant und skrupellos.
Ich habe nie jemanden gekannt, dem man
schwerer ein DarIehen abschlagen konnte als ihm.
Er verschaffte sich ein ständiges Einkommen von
seinen Freunden, und es fiel ihm leicht,
Freundschaften zu schließen. Aber er erklärte
stets, dass er es langweilig finde, Geld für die
Notwendigkeiten des Lebens auszugeben,
wirklichen Spaß machte ihm das Geldausgehen
bloß, wenn es sich um Luxus handelte. Was er
dafür brauchte, holte er sich bei seinem Bruder
George. Ihm gegenüber ließ er seinen Charme aus
dem Spiel. George war ein ernster Mensch und
Verführungskünsten unzugänglich. George war ein
Ehrenmann. Ein- oder zweimal fiel er auf Toms
Beteuerungen, sich zu bessern, herein und gab
ihm, um ihm zu einem neuen Start zu verhelfen,
beträchtliche Summen; für diese kaufte Tom sich
ein Auto und ein paar sehr schöne
Schmuckgegenstände. Aber als George schließlich
einsah, dass sein Bruder gar nicht daran dachte,
seine Lebensweise zu ändern, und er ihm seine
Unterstützung entzog, fing Tom ohne die
geringsten Skrupel an, ihn zu erpressen. Es war
nicht gerade angenehm für einen angesehenen
Rechtsanwalt, plötzlich hinter der Bar seines
Lieblingsrestaurants seinen Bruder Cocktails mixen
oder ihn als Taxichauffeur vor seinem Klub warten
zu sehen. Tom erklärte, in einer Bar angestellt zu
sein oder ein Taxi zu fahren, wären höchst
anständige Berufe, doch wenn George ihm mit ein
paar hundert Pfund beispringen wollte, so hätte er
nichts dagegen, sie der Familie zuliebe
aufzugeben; George zahlte.
Einmal kam Tom beinahe ins Gefängnis. George
war außer sich. Er ging der unerfreulichen
Angelegenheit auf den Grund. Tom war tatsächlich
zu weit gegangen. Er war hemmungslos,
unbedacht und egoistisch, aber bisher hatte er nie
etwas Unehrenhaftes begangen - worunter Tom
etwas gegen das Gesetz Verstoßendes verstand -,
und wenn er verklagt würde, würde er sicherlich
verurteilt werden. Aber man kann seinen Bruder
unmöglich ins Gefängnis sperren lassen. Der
Mann, den Tom betrogen hatte - er hieß Cronshaw
-, war ein rachsüchtiger Mensch. Er war
entschlossen, die Sache vors Gericht zu bringen; Hände geraten war. George konnte sich kaum zum
er erklärte, Tom wäre ein Gauner und sollte Sprechen aufraffen.
bestraft werden. Es kostete George unendliche „Sie werden nicht bestreiten, dass ich mein Leben
Mühe und fünfhundert Pfund, um die lang arbeitsam, ehrlich und anständig gewesen bin.
Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Und nie Nach vielen Jahren des Fleißes und der
habe ich ihn so wütend gesehen wie an dem Tag, Sparsamkeit darf ich einem friedlichen und
an dem er erfuhr, dass Tom und Cronshaw, sofort gesicherten Lebensabend entgegensehen. Ich
nachdem sie den Scheck einkassiert hatten, habe stets meine Pflicht getan, an der Stelle, an
miteinander nach Monte Carlo gefahren waren. Sie die mich einzusetzen es der Vorsehung gefallen
verbrachten dort einen glücklichen Monat. hat.“
Zwanzig Jahre lang wettete Tom beim Rennen, „Stimmt.“
spielte, poussierte mit den hübschesten Mädchen, „Und Sie können nicht leugnen, dass Tom ein
tanzte, aß in den teuersten Restaurants und zog fauler, nichtsnutziger, ausschweifender und
sich großartig an. Er sah stets aus wie aus dem Ei ehrloser Schuft gewesen ist. Wenn es nur eine
geschält. Obgleich er sechsundvierzig Jahre alt Spur von Gerechtigkeit gäbe, müsste er längst im
war, hätte man ihn höchstens für fünfunddreißig Zuchthaus sein.“
gehalten. Er war ein äußerst amüsanter „Stimmt.“
Gesellschafter, und wusste man auch genau, dass George wurde rot im Gesicht.
er nichts wert war, so machte es einem doch Ver- „Vor ein paar Jahren hat er sich mit einer Frau
gnügen, mit ihm beisammen zu sein. Er besaß verlobt, die dem Alter nach seine Mutter hätte sein
Temperament, eine nie versagende Heiterkeit und können. Und jetzt ist sie gestorben und hat ihm
unglaublichen Charme. Ich konnte ihm niemals alles hinterlassen, was sie besaß. Eine halbe
böse sein wegen der regelmäßigen Kontributionen, Million Pfund, eine Jacht, ein Haus in London und
die er mir auferlegte, um seine Bedürfnisse zu ein Haus auf dem Lande.“
befriedigen. Bei jedem Fünfzigpfundschein, den ich George schlug mit der geballten Faust auf den
ihm lieh, hatte ich das Gefühl, eigentlich sein Tisch.
Schuldner zu sein. Tom Ramsay kannte jeden, und „Es ist nicht fair, sage ich Ihnen, es ist einfach nicht
jeder kannte Tom Ramsay. Man konnte sein fair.“
Verhalten nicht billigen, aber man musste ihn gern Ich konnte mir nicht helfen. Ich brach in brüllendes
haben, ob man wollte oder nicht. Gelächter aus, als ich Georges wütendes Gesicht
Der arme George, der nur ein Jahr älter war als sah, ich wälzte mich auf meinem Stuhl, ich fiel fast
sein nichtsnutziger Bruder, sah aus wie sechzig: Er auf den Boden. George hat es mir nie verziehen.
hatte seit einem Vierteljahrhundert nie mehr als Aber Tom lädt mich oft zu ausgezeichneten
vierzehn Tage Urlaub genommen. Jeden Morgen Dinners in sein entzückendes Haus in Mayfair ein,
um neun Uhr dreißig war er in seinem Büro und und wenn er sich gelegentlich eine Kleinigkeit von
ging nie vor sechs wieder nach Hause. Er war ehr- mir ausleiht, so führe ich das bloß auf die Macht
lich, fleißig und rechtschaffen. Er hatte eine gute der Gewohnheit zurück. Es ist nie mehr als ein
Frau, der er niemals, auch nur in Gedanken, untreu Pfund.
gewesen war, und vier Töchter, denen er der beste
Vater war. Er machte es sich zum Prinzip, ein
Drittel seines Einkommens beiseite zu legen, und
sein Plan war, sich mit fünfundsechzig in ein
kleines Haus auf dem Lande zurückzuziehen, wo
er seinen Garten pflegen und Golf spielen wollte.
Sein Leben war untadelig. Er war froh, dass er alt
wurde, weil gleichzeitig auch Tom alt wurde. Er rieb
sich die Hände und sagte: "Das ging alles, solange
Tom noch jung war und gut aussah, aber er ist nur
ein Jahr jünger als ich. In vier Jahren wird er
fünfzig sein. Dann wird er das Leben nicht mehr so
leicht finden wie bisher. Wenn ich einmal fünfzig
bin, werde ich dreißigtausend Pfund beisammen
haben. Seit fünfundzwanzig Jahren prophezeie ich,
dass Tom im Rinnstein enden wird. Und dann wird
man ja sehen, wie ihm das gefällt. Dann wird man
ja sehen, was rentabler ist: zu arbeiten oder zu
faulenzen."
Der arme George. Ich hatte Mitleid mit ihm. Und als
ich mich nun zu ihm hinsetzte, fragte ich mich, was
für eine Untat Tom diesmal begangen haben
mochte. George war sichtlich aufgeregt.
„Wissen Sie das Neueste?", fragte er.
Ich war auf das Schlimmste gefasst. Ich dachte
mir, dass Tom vielleicht wirklich der Polizei in die