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Bernhard Schlink

Die Frau
auf der Treppe
Roman
Umschlagillustration (Ausschnitt): Francis Picabia,
›Les Pins, Effet de Soleil, St. Tropez‹, 1909
Copyright © Francis Picabia/
2014, ProLitteris, Zürich

Alle Rechte vorbehalten


Copyright © 2014
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 06909 9 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60439 9
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum
genannten Buchausgabe.
[5] ERSTER TEIL

Vielleicht sehen Sie das Bild eines Tages. Lange verschwunden, plötzlich
aufgetaucht – alle Museen werden es zeigen wollen. Karl Schwind ist derzeit
nun einmal der berühmteste und teuerste Maler weltweit. Als sein siebzigster
Geburtstag war, begegnete er mir in allen Blättern und auf allen Kanälen.
Allerdings musste ich lange hinschauen, bis ich im alten Mann den jungen
wiedererkannte.
Das Bild erkannte ich sofort wieder. Ich betrat den letzten Hof der Art
Gallery, und da hing es und berührte mich wie damals, als ich den Salon des
Hauses Gundlach betrat und das Bild zum ersten Mal sah.
Eine Frau kommt eine Treppe herab. Der rechte Fuß tritt auf die untere
Stufe, der linke berührt noch die obere, setzt aber schon zum nächsten
Schritt an. Die Frau ist nackt, ihr Körper blass, Schamhaar und Haupthaar
sind blond, das Haupthaar glänzt im Schein eines Lichts. Nackt, blass, blond
– vor einem graugrünen Hintergrund verschwommener Treppenstufen und -
wände kommt die Frau dem Betrachter mit schwebender Leichtigkeit
entgegen. Zugleich hat sie mit ihren langen Beinen, runden, vollen Hüften und
festen Brüsten sinnliche Gewichtigkeit.
Ich ging langsam auf das Bild zu. Ich war verlegen, auch [6] das wie
damals. Damals war ich verlegen, weil mir die Frau, die mir am Tag davor in
meinem Büro in Jeans, Top und Jacke gegenübergesessen hatte, im Bild nackt
gegenübertrat. Jetzt war ich verlegen, weil mich das Bild an das erinnerte,
was damals geschehen war, worauf ich mich damals eingelassen und was ich
alsbald aus meinem Gedächtnis verbannt hatte.
»Frau auf einer Treppe« stand auf dem Schild neben dem Bild und dass es
sich um eine Leihgabe handele. Ich fand den Kurator und fragte ihn, wer das
Bild der Art Gallery geliehen habe. Er sagte, er dürfe den Namen nicht
nennen. Ich sagte, ich kennte die Frau auf dem Bild und den Eigentümer des
Bilds und könnte ihm voraussagen, dass es Streit um das Eigentum am Bild
geben werde. Er runzelte die Stirn, blieb aber dabei, er dürfe den Namen nicht
nennen.
[7] 2

Mein Rückflug nach Frankfurt war für Donnerstagnachmittag gebucht.


Nachdem die Verhandlungen in Sydney am Mittwochvormittag abgeschlossen
waren, hätte ich auf Mittwochnachmittag umbuchen können. Aber ich wollte
den Rest des Tags im Botanischen Garten verbringen.
Ich wollte dort zu Mittag essen, im Gras liegen und am Abend im
Opernhaus Carmen hören. Ich mag den Botanischen Garten, an den im
Norden eine Kathedrale und im Süden das Opernhaus grenzen, in dem die Art
Gallery und das Konservatorium stehen und von dessen Hügeln der Blick auf
die Bucht geht. Der Garten hat einen Palmen-, einen Rosen- und einen
Kräutergarten, Teiche, Lauben, Statuen und viel Rasen mit alten Bäumen,
Großeltern mit Enkelkindern, einsamen Frauen und Männern mit ihren
Hunden, Gruppen beim Picknick, Liebespaaren, Lesenden, Schlafenden. Auf
der Loggia des Restaurants in der Mitte des Gartens ist die Zeit
stehengeblieben: alte eiserne Säulen, ein altes eisernes Geländer und ein Blick
in Bäume mit Flughunden und auf einen Brunnen mit Vögeln mit buntem
Gefieder und langen krummen Schnäbeln.
Ich bestellte das Essen und rief meinen Kollegen an. Er hatte den
Unternehmenszusammenschluss auf australischer [8] Seite vorbereitet, ich auf
deutscher. Wir waren, wie das bei Unternehmenszusammenschlüssen ist,
sowohl Partner als auch Gegner. Aber wir waren im gleichen Alter, beide
Senior einer der letzten großen Kanzleien, die noch nicht von Amerikanern
oder Engländern übernommen sind, beide Witwer und mochten uns. Ich
fragte ihn nach der Detektei, deren sich seine Kanzlei bediente, und er nannte
sie mir.
»Gibt es ein Problem, bei dem wir helfen können?«
»Nein, nur eine alte Neugier, die ich befriedigen möchte.«
Ich rief die Detektei an. Wem das Bild von Karl Schwind in der Art Gallery
of New South Wales gehöre, ob einer Irene Gundlach oder einer Irene
ehemals Gundlach und ob eine Frau dieses Namens in Australien lebe. Der
Chef der Detektei hoffte, es mir in ein paar Tagen sagen zu können. Ich bot
eine Prämie, wenn er es mir am nächsten Morgen sagen würde. Er lachte.
Entweder er komme bei der Art Gallery heute an die Informationen oder es
dauere ein paar Tage, Prämie hin, Prämie her. Er werde sich melden.
Dann kam das Essen, und zum Essen bestellte ich eine Flasche Wein, die
ich nicht austrinken wollte und doch austrank. Manchmal wachten die
Flughunde auf, alle zugleich, flogen rauschend aus den Ästen und um die
Bäume, hängten sich wieder in die Äste und hüllten sich wieder in ihre Flügel.
Manchmal stieß einer der bunten Vögel am Brunnen einen Schrei aus.
Manchmal schrie auch ein Kind oder bellte ein Hund oder klang das Reden
einer Gruppe von Japanern wie das Zwitschern eines Vogelschwarms zu mir
herüber. Manchmal hörte ich nur das Zirpen der Zikaden.
Am Hang unterhalb des Konservatoriums legte ich mich ins Gras. In
meinem Anzug – die Vorstellung, später in [9] einem knittrigen, vielleicht
fleckigen Anzug herumzulaufen, die mich sonst geschreckt hätte, schreckte
mich nicht. Dann wurde mir auch gleichgültig, was mich in Deutschland
erwartete. Es gab nichts, auf das ich nicht verzichten konnte, nichts, bei dem
man nicht auf mich verzichten konnte. Bei allem, was vor mir lag, war ich
ersetzbar. Nicht ersetzbar war ich nur bei dem, was hinter mir lag.
[10] 3

Eigentlich hatte ich nicht Rechtsanwalt werden wollen, sondern Richter. Ich
hatte die entsprechende Examensnote, wusste, dass Richter gesucht wurden,
war bereit, dahin zu ziehen, wo man mich brauchte, und hielt das
Einstellungsgespräch im Justizministerium für eine Formalie. Es war an einem
Nachmittag.
Der Personalreferent war ein alter Herr mit gütigen Augen. »Sie haben mit
siebzehn Abitur gemacht, mit einundzwanzig das erste und mit
dreiundzwanzig das zweite Examen – ich hatte noch nie einen so jungen und
selten einen so guten Bewerber.«
Ich war stolz auf meine guten Noten und meine jungen Jahre. Aber ich
wollte einen bescheidenen Eindruck machen. »Ich wurde vorzeitig
eingeschult, und die Umstellungen beim Schulbeginn, einmal von Frühjahr auf
Herbst und dann noch mal von Herbst auf Frühjahr, haben zwei halbe Jahre
gebracht.«
Er nickte. »Zwei geschenkte halbe Jahre. Ein weiteres geschenktes halbes
Jahr, weil Sie nach dem ersten Examen nicht warten mussten, sondern sofort
Referendar wurden. Sie haben eine Menge Zeit gut.«
»Ich verstehe nicht…«
[11] »Nein?« Er sah mich milde an. »Wenn Sie nächsten Monat anfangen,
werden Sie zweiundvierzig Jahre lang über andere richten. Sie werden oben
sitzen und die anderen unten, Sie werden ihnen zuhören, mit ihnen sprechen,
ihnen auch einmal zulächeln, aber am Ende von oben herab entscheiden, wer
im Recht ist und wer im Unrecht und wer seine Freiheit verliert und wer sie
behält. Wollen Sie das – zweiundvierzig Jahre lang oben sitzen,
zweiundvierzig Jahre lang recht haben? Meinen Sie, das tut Ihnen gut?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ja, mir hatte die Vorstellung
gefallen, als Richter oben zu sitzen und gerecht mit den anderen zu
verhandeln und gerecht über sie zu entscheiden. Warum nicht zweiundvierzig
Jahre lang?
Er schloss die Akte, die vor ihm lag. »Natürlich nehmen wir Sie, wenn Sie
wirklich wollen. Aber ich nehme Sie heute nicht. Kommen Sie nächste Woche
wieder, mein Nachfolger soll Sie einstellen. Oder kommen Sie in eineinhalb
Jahren wieder, wenn Sie Ihr Guthaben genutzt haben. Oder in fünf Jahren,
wenn Sie sich die Welt des Rechts als Rechtsanwalt oder Justitiar oder
Kriminalkommissar von unten angeschaut haben.«
Er stand auf, und ich stand auch auf, verwirrt und sprachlos, sah ihm zu,
wie er den Mantel aus dem Schrank holte und über den Arm legte, ging mit
ihm aus dem Zimmer, den Gang entlang, die Treppe hinab und stand
schließlich mit ihm vor dem Ministerium.
»Spüren Sie den Sommer in der Luft? Nicht mehr lange, und wir haben
heiße Tage und laue Abende und warme Gewitter.« Er lächelte. »Seien Sie
Gott befohlen.«
Ich war gekränkt. Die wollten mich nicht? Dann wollte [12] ich sie auch
nicht. Ich wurde Rechtsanwalt nicht wegen des Rats des alten Herrn,
sondern gegen ihn. Ich zog nach Frankfurt, trat bei Karchinger und Kunze
ein, einer fünfköpfigen Kanzlei, schrieb neben der Arbeit als Rechtsanwalt
eine Doktorarbeit und wurde nach drei Jahren Partner. Ich war der jüngste
Partner in einer Frankfurter Kanzlei und war stolz darauf. Karchinger und
Kunze waren Schul- und Studienfreunde, Kunze ohne Frau und Kinder,
Karchinger mit einer rheinisch fröhlichen Frau und einem Sohn in meinem
Alter, der eines Tages einen Platz in der Kanzlei finden sollte, sich durchs
Studium kämpfte und von mir aufs Examen vorbereitet wurde. Wir kamen
und kommen zum Glück gut miteinander aus. Heute ist er Senior, wie ich,
und hat, was ihm an juristischer Kompetenz fehlt, durch soziales Geschick
wettgemacht. Er hat wichtige Mandate beschafft. Dass wir heute siebzehn
junge Partner und achtunddreißig angestellte Mitarbeiter haben, ist auch sein
Verdienst.
[13] 4

In den ersten Jahren bekam ich die Fälle, an denen Karchinger und Kunze
kein Interesse hatten. Ein Maler, der einen Auftrag erledigt hatte, dafür bezahlt
worden war und jetzt mit dem Auftraggeber im Streit lag – das gab der
erfahrene Büroleiter an mich, ohne Karchinger oder Kunze auch nur zu
fragen.
Karl Schwind kam nicht allein. Mit ihm, Anfang dreißig, kam eine Frau,
Anfang zwanzig, und während er mit strubbeligem Haar und Latzhose in den
Sommer 1968 passte, wirkte sie in ihrer Makellosigkeit an seiner Seite wie ein
Fremdling. Sie bewegte sich gelassen, musterte mich kühl, und wenn der
Maler sich ereiferte, legte sie ihm die Hand auf den Arm.
»Er will mich keine Aufnahmen machen lassen.«
»Sie…«
»Mein Portfolio ist zerstört, und von manchen Bildern muss ich neue
Aufnahmen machen. Ich weiß, wer sie gekauft hat, rufe die Käufer an, und
sie lassen mich vorbeikommen und die Bilder aufnehmen. Sie freuen sich über
meinen Besuch. Er lehnt ab.«
»Warum?«
»Er sagt nicht, warum. Ich habe ihn angerufen, er hat [14] aufgelegt, und
als ich ihm geschrieben habe, hat er nicht geantwortet.« Er hob und senkte,
spreizte und ballte die Hände. Er hatte große Hände, wie alles an ihm groß
war, Gestalt, Gesicht, Augen, Nase, Mund. »Ich hänge an meinen Bildern.
Ich kann kaum ertragen, dass ich sie verkaufen muss.«
Ich erklärte ihm, dass das Gesetz dem Maler, der Vervielfältigungen
herstellen will, ein Recht auf Zugang zu seinem Bild gibt. »Wenn er ein
berechtigtes Interesse daran hat und keine berechtigten Interessen des
Eigentümers entgegenstehen. Gibt es etwas, das der Eigentümer Ihnen
entgegenhalten könnte?«
Der Maler schob das Kinn vor, presste die Lippen aufeinander und
schüttelte den Kopf. Ich sah die Frau fragend an, und sie zuckte lächelnd die
Schultern. Er gab mir den Namen des Eigentümers des Bilds, Peter Gundlach,
und die Adresse in bester Lage am Hang des Taunus.
»Wie ist Ihr Portfolio zerstört worden? Nicht dass es darauf ankäme, aber
wenn ich erklären kann, warum…«
Wieder unterbrach er mich, und ich nahm es mir übel, wie ich mir damals
immer übelnahm, wenn ich mich nicht so durchsetzte, wie ich es von mir
erwartete. »Ich hatte einen Unfall, und das Portfolio ist mit dem Auto
verbrannt.«
»Ich hoffe…«
»Mir ist nichts passiert. Aber Irene war eingeklemmt und hat sich«, er legte
seine Hand auf ihr Bein, »Verbrennungen geholt.«
»Das tut…«
Er winkte ab. »Nichts Ernstes und lange verheilt.«
[15] 5

Ich schrieb an Gundlach, der sofort antwortete. Er sei missverstanden


worden. Natürlich könne der Maler vorbeikommen und das Bild aufnehmen.
Ich gab die Antwort an Schwind weiter und hielt die Sache für erledigt.
Aber eine Woche später war Schwind wieder da. Er war außer sich.
»Hat er Ihnen den Zugang verweigert?«
»Das Bild ist beschädigt. Am rechten Bein – es sieht aus, als wäre er mit
dem Feuerzeug drübergegangen.«
»Er?«
»Ja, Gundlach. Es sei einfach passiert, sagt er. Aber es ist nicht einfach
passiert, sondern mit Absicht. Ich sehe so was.«
»Was wollen Sie jetzt?«
»Was ich jetzt will?« Die Frau war wieder dabei und legte ihm wieder die
Hand auf den Arm. Aber er wurde trotzdem laut. »Was ich jetzt will? Es ist
mein Bild. Ich habe es verkaufen müssen, und es hängt bei ihm, aber es ist
mein Bild. Ich will es wieder richten.«
»Haben Sie ihm angeboten, das Bild zu reparieren?«
»Er lässt mich nicht. Er habe kein Problem mit dem kleinen Schaden, er
wolle mich nicht im Haus haben, und aus dem Haus komme ihm das Bild
nicht.«
[16] Ich fand die Geschichte ein bisschen grotesk, aber die beiden sahen
mich ernsthaft an, und so erklärte ich ihnen ernsthaft, dass die Lage rechtlich
nicht einfach sei. Dass eine Entstellung vorliegen müsse, dass die Entstellung
die Interessen des Urhebers gefährden müsse, dass die Interessen des
Urhebers nur schutzwürdig seien, wenn ein größerer Personenkreis das
entstellte Werk zu sehen bekomme, und dass der Eigentümer mit dem Werk,
wenn es nur in seinem Privatbereich zu sehen sei, machen könne, was er
wolle. »Ich kann Gundlach wieder schreiben und das eine und andere
rechtliche Argument bringen. Aber wenn wir vor Gericht gehen müssen,
sieht’s nicht gut aus. Was zeigt das Bild eigentlich?«
»Eine Frau, die eine Treppe herabkommt.« Er sah sich in meinem Büro um.
»Es ist ein großes Bild. Sie sehen die Tür? Das Bild ist ein bisschen größer.«
»Eine bestimmte Frau?«
»Sie ist…«, sein Ton wurde trotzig, »sie war Gundlachs Frau.«
[17] 6

Wieder antwortete Gundlach sofort. Er bedauere das erneute Missverständnis.


Natürlich sei er mit der Restaurierung durch den Maler einverstanden. Was
könne ihm Besseres passieren, als dass der Künstler selbst das beschädigte
Kunstwerk restauriere. Außer Hause dürfe er das Bild nicht geben, er würde
sonst den Schutz der Versicherung verlieren. Der Maler könne in sein Haus
kommen, wann immer er wolle. Ich gab die Antwort wieder weiter.
Ich war neugierig geworden, ging in eine Buchhandlung und fragte nach
Literatur über Karl Schwind. Der Frankfurter Kunstverein hatte vor einigen
Jahren eine Ausstellung veranstaltet und einen kleinen Katalog veröffentlicht –
das war alles. Ich verstehe nichts von Kunst und konnte nicht beurteilen, ob
die Bilder gut oder schlecht waren. Es waren Bilder mit Wellen, mit Himmel
und Wolken, mit Bäumen; die Farben waren schön, und alles war in derselben
Unschärfe gemalt, mit der ich die Welt sehe, wenn ich die Brille nicht trage.
Vertraut und doch entrückt. Der Katalog erwähnte die Galerien, in denen
Schwind ausgestellt, und die Preise, die er gewonnen hatte. Er schien kein
gescheiterter Künstler zu sein, auch kein etablierter, vielleicht ein kommender.
Von der Rückseite des Katalogs schaute er mich [18] an, zu groß für den
Anzug, den er trug, zu groß für den Stuhl, auf dem er saß, zu groß für die
Rückseite.
Es dauerte keine Woche, bis er wieder bei mir war, wieder mit der Frau. Er
war wirklich groß, größer, als ich bei seinem ersten Besuch registriert hatte.
Ich bin eins neunzig, schlank und war damals wie heute gut in Form, und er
war nicht größer als ich, aber so kräftig und knochig, dass ich mich neben
ihm beinahe klein fühlte.
»Er hat es wieder gemacht.«
Ich ahnte, was geschehen war, aber ich greife meinen Mandanten nicht
vor. »Was hat er gemacht?«
»Gundlach hat das Bild wieder beschädigt. Ich habe zwei Tage am Bein
gearbeitet, und als ich es am dritten fertigmachen wollte, war ein Säurefleck
auf der linken Brust. Die Farbe ist verlaufen, aufgequollen, hat Blasen
geworfen – ich muss abtragen, neu grundieren und neu malen.«
»Was hat er gesagt?«
»Ich müsse es gewesen sein. Er habe in meinen Sachen ein Fläschchen
gefunden, und die Flüssigkeit stinke, wie der Fleck stinke. Er besteht darauf,
dass das Bild restauriert wird, auf meine Kosten, aber nicht von mir. In mich
habe er kein Vertrauen mehr.« Er sah mich verstört an. »Was soll ich
machen? Ich lasse keinen anderen an mein Bild.«
»Sind Sie bereit, auch die neue Stelle auszubessern?« Ich wusste immer
weniger, was ich von der Geschichte halten sollte.
»Stelle? Es ist nicht eine Stelle. Es ist die linke Brust!« Er griff der Frau, die
neben ihm saß, an die linke Brust.
Ich war irritiert, aber sie lachte, nicht verschämt, nicht verlegen, sondern
fröhlich, der Mund ein bisschen schief und [19] ein Grübchen in der Wange.
Sie war blond, und ich hätte ein helles Lachen erwartet. Aber ihr Lachen war
dunkel und rauchig, und so war auch ihre Stimme. Sie sagte »Karl«, und sie
sagte es liebevoll, wie zu einem übereifrigen, ungeschickten Kind.
»Ich habe ihm angeboten, das Bild wieder zu richten. Ich habe ihm sogar
angeboten, es zurückzukaufen, wenn es sein muss, für den doppelten Preis.
Aber er will nicht. Er will mich nicht mehr sehen, hat er gesagt.«
[20] 7

Diesmal rief ich Gundlach an. Er sprach freundlich, bedauernd. »Ich weiß
nicht, wie ihm das Missgeschick passiert ist. Aber dass er darunter leidet und
das Bild wieder in seiner ursprünglichen Schönheit sehen will, steht außer
Frage. Das will auch ich, und kein anderer kann es besser restaurieren als er.
Ich habe ihm auch weder Vorwürfe gemacht noch das Vertrauen entzogen. Er
ist besonders sensibel.« Er lachte. »Jedenfalls für Menschen wie Sie und
mich. Für einen Künstler ist er vielleicht normal.«
Schwind war zugleich erleichtert und bedrückt. »Hoffentlich geht alles
gut.«
Drei Wochen hörte ich nichts von ihm. Drei Wochen malte er eine neue
linke Brust. Als er für die letzten Arbeiten kam, war das Bild in der Nacht
umgestürzt, auf den kleinen eisernen Tisch aufgeschlagen, auf dem er Pinsel
und Farben abgelegt hatte, und hatte einen Riss abbekommen.
Gundlach rief mich an und war außer sich. »Zuerst die Säure, jetzt das – er
mag ein großer Künstler sein, aber er ist entsetzlich nachlässig. Ich kann ihn
nicht zwingen, das Bild noch mal zu restaurieren. Aber ich habe einigen
Einfluss und werde dafür sorgen, dass er keinen Auftrag kriegt, bis er das
Bild restauriert hat.«
[21] Der Drohung hätte es nicht bedurft. Schwind, der am selben Tag in die
Kanzlei kam, war bereit, das Bild zu richten, auch wenn es ihn wieder
Wochen kosten würde. Aber er war verzweifelt. »Was, wenn er es danach
wieder macht?«
»Sie meinen…«
»Oh, ich weiß, dass er es war. Denken Sie, ein Maler kann ein Bild nicht so
an die Wand lehnen, dass es stehen bleibt? Nein, er hat es umgeworfen, und
den Riss hat er mit dem Messer gemacht. Die Kanten des Tischs sind zu
stumpf, sie können keinen so scharfen Riss ins Bild machen.« Er lachte bitter.
»Wissen Sie, wo der Riss ist? Hier.« Diesmal fuhr er mit der Hand nicht der
Frau, die ihn wieder begleitete, sondern sich selbst über Bauch und Scham.
»Warum sollte er das tun?«
»Aus Hass. Er hasst das Bild, das seine Frau zeigt, er hasst seine Frau, die
ihn verlassen hat, und er hasst mich.«
»Warum sollte er Sie…«
»Er hasst dich, weil ich ihn für dich verlassen habe.« Sie schüttelte den
Kopf. »Er hasst nicht das Bild. Es ist ihm völlig gleichgültig. Er will dich
treffen, und er trifft dich, wenn er das Bild beschädigt.«
»Statt es mit mir auszutragen, zerstört er das Bild? Was für ein Mann ist
das?« Vor lauter Empörung über Gundlach, lauter Verachtung für ihn stand er
auf. Dann setzte er sich wieder und ließ die Schultern hängen.
Ich versuchte, mir einen Reim auf das zu machen, was ich gerade gehört
hatte. Sie hatte dem Maler Modell gestanden und war mit ihm durchgebrannt?
Hatte den alten Mann gegen den jungen getauscht? Hatte bei der Scheidung
aus dem alten rausgepresst, was sich rauspressen ließ?
[22] Aber sie war nicht meine Aufgabe, er war es. »Lassen Sie ihn und das
Bild. Rechtlich hat er nichts gegen Sie in der Hand, und die Drohung mit
seinem Einfluss würde ich nicht ernst nehmen. Schreiben Sie das Bild ab,
auch wenn es Sie schmerzt. Oder malen Sie es noch mal – ich hoffe, das ist
für einen Maler kein kränkender Vorschlag.«
»Es ist kein kränkender Vorschlag. Aber ich kann das Bild nicht
abschreiben. Und vielleicht…« Er saß still da, und der Ausdruck seines
Gesichts veränderte sich, verlor alles Verzweifelte, Empörte und Verächtliche,
wurde kindlich, und der große Mann mit dem großen Gesicht und den großen
Händen sah uns zuversichtlich an. »Wisst ihr, vielleicht war der Schaden am
Bein wirklich ein Zufall. Als Gundlach den Schaden sah, hat er das
beschädigte Bild zuerst nicht mehr gemocht. Dann hat er gedacht, dass der
Schaden ihm die Erinnerung vom Leib hält und dass er ohne die Erinnerung
leichter lebt. Deshalb hat er das Bild die nächsten Male selbst beschädigt.
Aber wenn er es wieder in seiner ursprünglichen Schönheit sieht, liebt er es
wieder.«
»Mir macht Gundlach nicht den Eindruck, als lasse er sich von Kunst
verführen.« Ich sah fragend zu ihr, aber sie sagte nichts, nickte nicht,
schüttelte nicht den Kopf, sondern sah ihn verwundert und verliebt an, als
sehe sie beglückt in sein kindliches Gemüt. Ich versuchte es noch mal. »Sie
geben sich in seine Hand. Er kann das Bild wieder und wieder beschädigen.
Sie kommen gar nicht mehr zu Ihren eigenen Sachen.«
Er sah mich traurig an. »Ich habe im letzten halben Jahr kein einziges Bild
gemalt.«
[23] 8

Ein bis zwei Monate hatte er für die Restaurierung des Bildes veranschlagt,
und ich war sicher, dass ich ihn danach wieder in meinem Büro sehen würde.
Aber der Sommer ging vorbei, und er kam nicht. Im Oktober hatte ich einen
großen Fall und dachte nicht mehr an ihn.
Bis mir der Büroleiter eines Morgens Irene Gundlach meldete. Sie kam in
Jacke, Top und Jeans, und zuerst dachte ich, sie sei für den Herbsttag zu
leicht angezogen, aber dann sah ich aus dem Fenster, und der Morgennebel
war verdampft, der Himmel war blau, und die Blätter der Kastanie leuchteten
golden in der Sonne.
Sie gab mir die Hand und setzte sich. »Ich komme in Karls Auftrag. Er
würde Ihnen gerne selbst danken. Aber er ist in einer Phase, in der er sich
von nichts ablenken lassen will. Gundlach war in den letzten Monaten in den
USA, hat nicht gestört, und Karl hat nicht nur mein Bild restauriert, sondern
auch ein neues angefangen.« Sie lachte. »Sie würden ihn nicht
wiedererkennen. Nachdem die Last meines Bilds von ihm gefallen ist, ist er
ein neuer Mensch.«
»Das freut mich.«
Sie stand nicht auf, sondern schlug die Beine übereinander. »Schicken Sie
die Rechnung bitte mir. Karl hat kein [24] Geld, er müsste sie mir ohnehin
geben.« Sie sah die Frage in meinem Gesicht, noch ehe ich sie gedacht hatte.
»Es ist nicht Gundlachs Geld. Es ist mein eigenes.« Sie lächelte. »Wie mag
unsere Geschichte auf Sie wirken? Reicher alter Mann lässt seine junge Frau
von einem jungen Maler malen, und die beiden verlieben sich und brennen
durch. Ein Klischee, nicht wahr?« Sie lächelte weiter. »Wir lieben die
Klischees, weil sie stimmen. Obwohl… Ist Gundlach schon ein alter Mann?
Ist Karl noch ein junger Maler?« Sie lachte, und wieder wunderte ich mich
über das dunkle Lachen der Frau mit dem blonden Haar und der blassen Haut
und dem hellen Blick. Sie kniff beim Lachen die Augen zusammen.
»Manchmal frage ich mich, ob ich noch eine junge Frau bin.«
Ich lachte mit. »Was sonst?«
Sie wurde ernst. »Zum Jungsein gehört das Gefühl, alles könne wieder gut
werden, alles, was schiefgelaufen ist, was wir versäumt, was wir verbrochen
haben. Wenn wir das Gefühl nicht mehr haben, wenn Ereignisse und
Erfahrungen unwiederbringlich werden, sind wir alt. Ich habe das Gefühl
nicht mehr.«
»Dann war ich nie jung. Meine Mutter starb, als ich vier war – wie sollte
das wieder gut werden? Meine Großmutter hat die Mutter nicht
wiedergebracht.«
Sie sah mich mit ihrem hellen Blick direkt an. »Sie haben noch nie geliebt,
nicht wahr? Vielleicht müssen Sie älter werden, um jung zu werden. Um in
einer Frau alles zu finden, alles wiederzufinden: die Mutter, die Sie verloren
haben, die Schwester, die Sie vermisst haben, die Tochter, von der Sie
träumen.« Sie lächelte. »Das alles sind wir, wenn wir richtig geliebt werden.«
Sie stand auf. »Sehen wir uns [25] wieder? Ich hoffe es nicht – verstehen Sie
mich nicht falsch, bitte nicht. Wenn wir uns wiedersehen, ist alles aus den
Fugen. Denken Sie auch manchmal, dass Gott uns unser Glück neidet und es
daher zerstören muss?«
[26] 9

Ich wollte, was sie sagte, als Geschwätz und sie als Schwätzerin abtun. Ob
Gundlachs Geld oder ihres – sie schien genug davon zu haben und nichts
verdienen, nichts arbeiten zu müssen. Ein Nichtsnutz. Aber sie ließ sich nicht
abtun. Sie saß in meinem Kopf – mit übereinandergeschlagenen Beinen, engen
Jeans und engem Top, hellem Blick und dunklem Lachen, gelassen,
herausfordernd, verwirrend. Ich war schon verwirrt, während wir uns
gegenübersaßen. Ich war es vollends, als ich am nächsten Tag in Gundlachs
Haus kam und das Bild sah.
Nein, dachte ich, als Gundlach mir entgegenkam und mich begrüßte, das
ist kein alter Mann. Er mochte vierzig sein, war schlank, hatte volles
schwarzes Haar und graue Schläfen, bewegte sich energisch und redete
energisch. »Ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Ihr Mandant und ich tun uns
schwer miteinander, und ich bin sicher, wir beide tun uns leichter.«
Von mir aus wäre ich nicht zu Gundlach in den Taunus gefahren. Ich hätte
darauf bestanden, dass er, der etwas von mir wollte, zu mir käme. Aber
Gundlach hatte beim Büroleiter angerufen, und der Büroleiter hatte meinen
Besuch zugesagt. »Gundlach einen Besuch abschlagen? Sie müssen [27] noch
viel lernen.« Er erzählte mir von Gundlachs Unternehmen, Vermögen und
Einfluss. Also fuhr ich hin, wurde vom Butler empfangen, musste im Foyer
warten und rang mit meinem Stolz.
Auch dass Gundlach mich beim Arm nahm, verletzte meinen Stolz. Er
führte mich in den Salon. Rechts eine Fensterfront mit Blick in die Ebene,
links eine Bücherwand, vor mir auf weißer Wand das Bild. Ich blieb stehen,
ich konnte nicht anders, und Gundlach ließ meinen Arm los. Sie haben noch
nicht geliebt… wenn wir richtig geliebt werden… das Glück, das Gott uns
neidet – alles, was sie am Tag davor gesagt hatte, versprach sie, indem sie
nackt die Treppe herabkam.
»Ja«, sagte Gundlach, »ein schönes Bild. Aber es ist, als läge ein Fluch auf
ihm. Bein, Brust, Scham, ein Schaden nach dem anderen.« Er schüttelte den
Kopf. »Ist jetzt mit den Schäden Schluss? Ich bin mir nicht sicher. Sind
Sie’s?«
»Ich…«
»Was, wenn mit den Schäden nicht Schluss ist? Soll Schwind wieder und
wieder kommen? Ich möchte ihn nicht mehr im Haus haben, und er würde
lieber neue Bilder malen als das alte restaurieren. Aber er muss, er kann nicht
anders. Und ich muss ihn zum Restaurieren ins Haus lassen, weil das Recht
es verlangt. So ist es doch?«
Er sah mich an, freundlich, spöttisch. Er hatte seine Anwälte und wusste,
dass Schwinds rechtliche Position schwach war. Er wusste aber auch, dass
ich so tun musste, als sei sie stark. Ich konnte meinen Mandanten nicht
verraten. Ich konnte Gundlach nicht sagen, er spiele mit meinem Mandanten
ein niederträchtiges Spiel. Ich nickte.
[28] »Schwind hätte das Bild gerne zurück. Er hat das Gefühl, solange das
Bild bei mir ist, kommt es nicht zur Ruhe, es nicht und er auch nicht. Und
meinen Sie nicht auch, dass alles einen Ort hat, an den es gehört? Wenn es
nicht ist, wohin es gehört, kommt es nicht zur Ruhe. Bilder kommen nicht
zur Ruhe, und Menschen kommen nicht zur Ruhe.«
»Wenn nicht nur meinem Mandanten an der Ruhe liegt, sondern auch Ihnen
– er kauft das Bild gerne wieder zurück.«
»Das hat er mir auch gesagt. Aber damals ist mehr aus der Ruhe geraten
als nur das Bild. Sehen Sie, wie sie die Treppe herabsteigt? Gesammelt,
gelassen, ruhig? Als sie unten ankam, war es um ihre Ruhe geschehen. Weil
sie da, wo sie ankam, nicht hingehört.«
»Ihre Frau macht mir nicht den Eindruck, als…«
»Unterbrechen Sie mich nicht!« Er brauchte einen Moment, sich von seiner
Erregung über meine Dreistigkeit zu erholen. »Eindrücke täuschen. Macht
nicht das Bild einen guten Eindruck, obwohl ein Fluch auf ihm liegt? Was
zählt, ist nicht der Eindruck, den meine Frau macht, sondern dass sie ihre
Ruhe verloren hat. Und dass sie sie wiederfindet.«
Ich wartete, ob er weiterreden würde. Aber er stand da und sah das Bild
an. »Ich verstehe nicht, was…«
Er wandte sich mir zu. »Morgen kommt Schwind zu mir. Ich soll das
restaurierte Bild gewissermaßen abnehmen. Wenn dem Bild bis morgen etwas
geschieht, wenn Schwind dann zu Ihnen kommt, wenn er ohne meine Frau
kommt, wenn er Sie bittet, ein ungewöhnliches Geschäft vorzubereiten –
machen Sie’s. Auch wenn das Ungewöhnliche dazu neigt, uns zu verstören –
manchmal ist es das Richtige. [29] Leben wir nicht in einer ungewöhnlichen
Zeit? Und ein Geschäft ist manchmal ein wichtiges Geschäft, auch wenn es
nicht eingeklagt und nicht vollstreckt werden kann.«
Ich verstand ihn nicht, mochte aber nicht noch mal sagen, dass ich ihn
nicht verstand. Er sah es mir an, lachte, nahm wieder meinen Arm und führte
mich zurück ins Foyer. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber Juristen sind oft
ein bisschen gewöhnlich. Ich merke mir, wenn ich einen treffe, der sich
ungewöhnlichen Herausforderungen stellt.«
[30] 10

Auf der Heimfahrt wusste ich, dass ich mich in Irene Gundlach verliebt hatte.
Ich wusste es, obwohl ich in der Liebe keine Erfahrung hatte. Unsere
Mathematiklehrerin hatte mir gefallen, eine kleine Frau mit munteren Augen,
klarer Stimme und kurzen Röcken. Einmal habe ich heimlich eine rote Rose
auf den Gepäckträger ihres Fahrrads geklemmt. Dann gab es eine
Mitschülerin, die ich immer anschauen musste und bei der ich, wo immer ich
in der Stadt war, hoffte, ich würde ihr begegnen, würde sie, was ich in der
Schule nicht wagte, ansprechen, und sie würde mir freudig antworten.
Manchmal konnte ich Tag um Tag an nichts anderes denken als an sie, was
sie gerade machen mochte, was ich tun könnte, von ihr bemerkt zu werden
und ihr zu gefallen, wie es wäre, wenn sie und ich zusammen wären. Aber als
eine schwierige Mathematikarbeit anstand, für die ich mich gründlich
vorbereiten musste, beschloss ich, bis zur Arbeit nicht mehr an sie zu denken,
und danach war der Bann gebrochen. Als ich studierte, gab es in der
juristischen Fakultät noch kaum Studentinnen, und den Studentinnen der
anderen Fakultäten bin ich nicht begegnet. In den Semesterferien habe ich
mein Studium in einem Lager für Ersatzteile verdient, in dem außer [31] den
Gabelstaplerfahrern und anderen Studenten nur Frauen arbeiteten. Sie rissen
Zoten über uns Männer und machten uns obszöne Avancen, die mich in
Verlegenheit brachten und zu denen ich mich nicht zu verhalten wusste. Eine
Arbeiterin gefiel mir, stiller als die anderen, jung, mit dunklen Haaren und
seelenvollen Augen, und am letzten Tag wartete ich vor dem Tor des Lagers
auf sie. Als sie herauskam, ging sie geradewegs auf einen jungen Mann zu,
der auf der anderen Straßenseite an einem Baum lehnte.
Vielleicht lernt man das mit den Frauen und der Liebe besser, wenn man
eine Mutter und eine Schwester hat. Als meine Mutter gestorben war, gab
mich mein Vater zu seinen Eltern, die mich vermutlich gerne verwöhnt hätten,
wie Großeltern ihre Enkelkinder eben verwöhnen, aber nicht aufziehen
mochten. Diese Aufgabe hatten sie mit den eigenen vier Kindern abgetan, sie
konnten ihr bei mir nichts mehr abgewinnen und erledigten sie sachlich und
bündig. Nicht dass sie es an etwas hätten fehlen lassen. Ich hatte
Klavierunterricht und Tennistraining, ging in die Tanzstunde und in die
Fahrschule. Aber die Großeltern ließen mich wissen, dass es damit sein
Bewenden hatte und sie im Übrigen von mir in Ruhe gelassen werden wollten.
Das Verlieben hatte ich mir so vorgestellt, dass ich eine Frau kennenlerne,
wir uns gefallen, treffen, immer mehr gefallen, immer wieder treffen, immer
näher kommen und schließlich verlieben. So war es auch ein paar Jahre
später mit meiner Frau. Sie kam als Referendarin in die Kanzlei, war tüchtig
und fröhlich, ließ sich von mir zum Essen, in die Oper und ins Museum
einladen, zuerst einmal in der Woche, dann mehrmals, wir kamen uns näher
und heirateten, nachdem sie [32] das zweite Examen bestanden hatte. Es ist
zehn Jahre her, dass sie starb. Sie war, als die Kinder größer waren, in die
Kommunalpolitik gegangen und Stadträtin geworden. Wenige Tage nach ihrer
Wiederwahl hatte sie einen Autounfall. Ich begreife bis heute nicht, wie sie am
frühen Nachmittag 1,6 Promille Alkohol im Blut haben und auf der Landstraße
gegen einen Baum fahren konnte. Ob sie Alkoholikerin gewesen sei, hat mich
die Polizei gefragt. Warum hätte meine Frau Alkoholikerin sein sollen?
Die Wucht, mit der mich damals das Verlangen nach Irene Gundlach
überfiel – nichts hatte mich darauf vorbereitet, und zum Glück ist es mir
danach auch nicht wieder passiert. Ich fuhr zurück nach Frankfurt und
musste anhalten und aussteigen, weil ich so benommen war. Das gab es also
– ein Glück, von dem ich mir nicht hatte träumen lassen, für das es nur diese
eine Frau brauchte, ihre Nähe, ihre Stimme, ihre Nacktheit. Noch hatte sie
den letzten Schritt von der Treppe ihres alten Lebens in ein neues Leben nicht
gemacht – wenn sie ihn in mein Leben machen würde! Und wenn sie jeden
Morgen wieder so in mein Leben treten würde und in meine Arme!
[33] 11

Nachdem der Chef der Detektei mich bis Mittwochabend nicht angerufen
hatte, rief ich ihn am Donnerstagmorgen an. Ein paar Mal vergebens – erst
nach zehn erreichte ich eine Sekretärin, die mich mit dem mobilen Telefon des
Chefs verband. Ich hatte gedacht, eine gute Detektei hätte eine Zentrale, die
rund um die Uhr oder doch vom frühen Morgen an besetzt ist.
»Ich sagte Ihnen, es kann ein paar Tage dauern.«
»Ich muss heute zurück nach Deutschland.«
»Ich habe Ihre Telefonnummer. Geben Sie mir auch Ihre E-Mail-Adresse?
Ich benachrichtige Sie sofort, wenn ich etwas habe.«
»Soll ich noch mal hierherfliegen?«
Er lachte. »Das liegt bei Ihnen.«
Er lachte behaglich, und ich stellte mir einen älteren Herrn mit Bauch und
Glatze vor. Soll ich noch mal hierherfliegen – was für eine törichte Frage. Ich
gab meine E-Mail-Adresse an und legte auf. Dann stand ich am Fenster und
sah auf den Hafen, das Opernhaus mit den geblähten Segeln aus Beton, die
blaue Bucht mit kleinen und großen Schiffen und am Ende der Bucht den
grünen Streifen Land, hinter dem das offene Meer lag. Die Sonne schien. Ich
konnte das [34] Frühstück ausfallen lassen, im Restaurant im Botanischen
Garten früh zu Mittag essen und mich danach wieder ins Gras legen. Ich
konnte in dem Leder- und Koffergeschäft, an dem ich unweit des Hotels
vorbeigegangen war, einen kleinen Rucksack, in der Buchhandlung ein Buch
und in der Weinhandlung eine Flasche Rotwein kaufen und lesen und trinken
und einschlafen und aufwachen.
Ich dachte an den Flug, den ich am Nachmittag nehmen sollte, an die
Ankunft am nächsten Morgen, die Fahrt nach Hause, das Aufschließen, das
Auspacken, das Duschen, die Lektüre der Post im Hausmantel, das Rasieren
und Anziehen, die Fahrt in die Kanzlei und die Begrüßung durch das Personal.
Ich dachte an die Worte, die ich mit dem Fahrer wechseln würde, seine
Frage, ob ich eine angenehme Reise gehabt hätte, und meine, ob in Frankfurt
etwas passiert wäre. Ich dachte an die Blumen, die meine Sekretärin auf
meinen Schreibtisch stellen würde.
Ich dachte an das Ritual des Heimkehrens, und es machte mich traurig. Ich
hatte es all die Jahre getreulich befolgt, und die Jahre selbst waren ein
getreulich befolgtes Ritual geworden, Fall um Fall, Mandant um Mandant,
Vertrag um Vertrag. Unternehmenszusammenschlüsse und -übernahmen – das
war, worin ich gut war, wofür die Mandanten zu mir kamen und worum es in
den Verträgen ging. Ich hatte über die Jahre die Punkte gelernt, die es zu
bedenken, die Fragen, die es zu stellen galt. Ich bedachte immer wieder
dieselben Punkte und stellte immer wieder dieselben Fragen. Probleme gab es
nur, wenn die andere Seite zu tricksen versuchte. Aber ich hatte auch die
Tricks gelernt.
Ich rief den Chef meiner Frankfurter Reiseagentur an. Es [35] war viel zu
spät, ihn im Büro zu erreichen, aber ich erreichte ihn zu Hause. Er könne
meinen Flug verschieben, aber nur auf ein anderes Datum. Wann ich denn
fliegen wolle? Ich wisse es noch nicht? Dann verlege er ihn einfach um zwei
Wochen, er könne ihn jederzeit weiter nach hinten oder wieder nach vorne
verschieben. Er wünsche mir eine gute Zeit.
Ich zog den Anzug an, den ich gestern getragen hatte, knittrig und mit
Gras- und Erdflecken. Plötzlich machte mir meine Entscheidung, nicht zu
fliegen, Angst. Plötzlich erschienen mir die Rituale, denen ich beim Arbeiten
und beim Heimkehren und beim Aufbrechen und in meiner Freizeit folgte, als
das Einzige, was mein Leben zusammenhielt. Wie sollte ich ohne sie leben?
Sollte ich – aber ich machte die Verschiebung meines Flugs nicht rückgängig.
[36] 12

Ich konnte den Tag nicht im Botanischen Garten verbringen, ohne in die Art
Gallery zu gehen. Wieder stand ich vor dem Bild, und wieder machte die Frau
mich verlegen. Nicht, weil sie nackt war, und nicht, weil sie mich an das
erinnerte, was damals geschehen war. Sondern weil ich eine andere sah als
die, der ich damals begegnet war und die ich bisher gesehen hatte. Wo hatte
ich meine Augen gehabt?
Die Frau kommt auf dem Bild nicht die Treppe herab, um Klavier zu spielen
oder Tee zu trinken, und auch nicht, weil ihr Geliebter sie unten freudig
erwartet. Sie kommt die Treppe mit geneigtem Kopf und niedergeschlagenen
Augen herab, als werde sie dazu gezwungen, habe sich aber dareingeschickt.
Als habe sie widerstanden, den Widerstand aber aufgegeben, weil der, der
Gewalt über sie hat, zu mächtig ist. Als könne sie nur noch mit Sanftmut,
Verführung und Hingabe um Schonung werben. Wobei sie gewärtigen muss,
einfach genommen zu werden. Oder möchte sie das sogar? Ohne es dem
anderen oder auch nur sich selbst einzugestehen?
Ich habe einmal in einem Museum Bilder des neunzehnten Jahrhunderts
von weißen Sklavinnen in arabischen oder türkischen Harems gesehen.
Säulen, Marmor, Polster, Fächer, [37] die Frauen nackt, in lasziver Haltung
und mit unergründlichen Augen. Kitsch, fand ich. War auch die Frau, die die
Treppe herab- und mir entgegenkam, Kitsch? Ich weiß es nicht. Das
Durcheinander von Gewalt und Verführung, Widerstand und Hingabe machte
mich verlegen. Es war kein Terrain, auf dem ich Frauen jemals begegnet bin.
Es passte nicht zu dem, wie ich Irene Gundlach damals erlebt hatte. Oder
hatte ich damals alles falsch verstanden?
Ich mochte nicht darüber nachdenken. Zum Glück hatte ich das Buch und
den Rotwein dabei. Ich lese keine Romane, sondern Bücher über Geschichte.
Was wirklich geschehen ist, ist doch etwas anderes, als was Menschen sich
ausdenken. Wenn wir von der Geschichte lernen, lernen wir von der
Wirklichkeit, nicht von manchmal genialen, oft albernen Hirngespinsten. Und
wer meint, Romane seien farbiger als Geschichte, strengt seine Phantasie
nicht an und stellt sie sich nicht vor: Cäsar, der Brutus wie einen Sohn liebt
und von ihm erdolcht wird, die Azteken, die von den Krankheiten der Weißen
heimgesucht und dezimiert werden, ehe sie ihnen im Kampf begegnen, die
Frauen und Kinder, die im Gefolge von Napoleons Armee beim Übergang
über die Beresina in den Schnee getrampelt oder ins eisige Wasser gestoßen
werden. Tragödien und Komödien, Glück und Pech, Liebe und Hass, Freude
und Trauer – die Geschichte bietet alles. Romane können nicht mehr bieten.
Ich las über die Geschichte Australiens, die Sträflinge in Ketten, die Siedler,
die Landentwicklungsgesellschaften, die Goldgräber, die Chinesen. Die
Aborigines starben zuerst, weil sie angesteckt und dann, weil sie massakriert
wurden, und schließlich nahm man ihnen die Kinder weg. Das [38] war gut
gemeint, brachte aber viel Leid über die Eltern und die Kinder. Meine Frau
pflegte zu sagen, das Gegenteil von gut sei nicht böse, sondern gut gemeint,
und hätte sich bestätigt gefunden. Aber das Gegenteil von böse ist nicht böse
gemeint, sondern gut.
[39] 13

Wie Gundlach vorausgesagt hatte, kam einen Tag später Schwind in die
Kanzlei. Er kam direkt von Gundlach und saß mit gesenktem Kopf und
gefalteten Händen auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch. Er blieb so lange
stumm, dass ich ungeduldig wurde. Auch als er anfing zu reden, hob er nicht
den Kopf und löste nicht die Hände.
»Als ich kam, hing das Bild an der Wand. Ich zeigte Gundlach, was ich
gemacht hatte, und er sah und lobte es. Dann holte er ein Taschenmesser
hervor, klappte es auf, machte einen Schnitt in das Bild, klappte das Messer
zu und steckte es in die Tasche. Ich hätte dazwischenfahren können; er
machte alles mit großer Ruhe. Aber ich war wie gelähmt. Dann sagte er
lächelnd: ›Das bringen Sie rasch wieder in Ordnung.‹ Er hat recht, der
Schnitt ist klein und in der Treppe. ›Aber zur Ruhe kommen Sie erst, wenn
Sie das Bild wiederhaben und ich wiederhabe, was mein ist. Gehen Sie zu
Ihrem Anwalt, und lassen Sie ihn einen Vertrag machen.‹ Ich fragte: ›Einen
Vertrag?‹ Er sagte: ›Es muss alles seine Richtigkeit haben.‹«
Er sah auf und sah mich an. »Können Sie das? Einen Vertrag machen, dass
ich das Bild wiederkriege und er Irene?«
Ich sagte nichts, aber er las in meinem Gesicht mein Entsetzen.
[40] »Ich muss das Bild wiederhaben, ich muss. Meinen Sie, ich lasse es
Gundlach, dass er es wieder beschädigt? Oder dass er es zerstört? Ich hätte
es ihm nicht verkaufen dürfen, ich hätte, als Irene und ich miteinander
anfingen, die Anzahlung zurückgeben und das Bild mitnehmen sollen. Ich war
dumm, mein Gott, war ich dumm. Ich weiß jetzt, ich kann nur malen, wenn
ich auch entscheiden kann, was mit meinem Bild geschieht. Manche Bilder
habe ich zerstört. Weil sie nicht gestimmt haben. Dieses Bild stimmt. Eines
Tages wird es im Louvre oder im Metropolitan Museum oder in der Eremitage
hängen. Sie glauben mir nicht? Sie haben recht, vielleicht brauche ich Geld
und bin froh, wenn ich das Bild nach Berlin oder München oder Köln
verkaufen kann. Dann wird eben ein anderes Bild von mir im Metropolitan
Museum hängen. Und eines Tages wird es in New York eine Ausstellung mit
meinen größten Werken geben, für die Berlin das Bild nach New York
ausleihen wird.« Er redete immer aufgeregter, hob und senkte, spreizte und
ballte wieder die Hände. Plötzlich lachte er. »Vielleicht komme ich zur
Eröffnung der Ausstellung und erinnere mich an Sie, wenn ich das Bild sehe.«
Er lachte weiter und schüttelte den Kopf.
Dann regte er sich wieder auf. »Aber das Bild kommt nicht nach New
York, ohne dass Berlin mich fragt, ob ich einverstanden bin. Ich verkaufe nie
mehr ein Bild, ohne mir die Entscheidung vorzubehalten, was mit ihm
geschieht, an wen es verkauft, an wen es ausgeliehen wird. Sie denken,
darauf lassen sich die Käufer nicht ein? Die Käufer werden sich um meine
Bilder reißen und auf alles einlassen, was ich verlange. Sie glauben mir nicht,
ich weiß. Sie glauben nicht, dass eine kleine Skizze, die ich Ihnen auf Ihren
Block zeichne, [41] Sie eines Tages reich machen würde. Sie lassen sich lieber
von Irene bezahlen. Sie halten mich für einen, der nicht begabt genug ist oder
nicht beharrlich genug, oder Sie finden mich zu verschroben für den
Kunstmarkt.« Ich wollte widersprechen, aber er ließ sich nicht unterbrechen
und winkte ab. »Wenn er abstrakt malen würde, denken Sie, oder wenigstens
so wie Warhol. Suppendosen oder Colaflaschen oder Marilyn Monroe – das
gefällt Ihnen, geben Sie’s zu, das gefällt Ihnen. Hier im Büro haben Sie alte
Stiche hängen, und zu Hause haben Sie Warhols Goethe oder Beethoven, weil
Sie zeigen wollen, dass Sie Bildung haben, aber nicht altmodisch sind,
sondern aufgeschlossen für alles Moderne. Ist es nicht so?«
Sein Ton war verächtlich, sein Blick feindselig. Ich wollte erklären, was für
Bilder in meiner Wohnung hingen und warum, aber dann fand ich, es gehe ihn
nichts an und er könne von mir halten, was er wolle. »Ihr Bild ist Ihnen
wichtiger als Ihre Freundin?«
»Sie haben keine Ahnung, wovon Sie reden. Was verstehen Sie von
meinem Bild? Was verstehen Sie von der Frau? Nichts, vom Bild nichts und
von der Frau nichts. Vielleicht möchte sie wieder zurück zu ihrem Mann. Zu
dem Komfort, den er ihr bietet, mit Bediensteten, Reisen, Reiten, Tennis,
Geld. Haben Sie sich das gefragt? Was macht sie, wenn ihr Geld
aufgebraucht ist und meine Bilder noch nichts bringen? Als Bedienung
arbeiten? Als Putzfrau? In der Fabrik? Und was geht Sie das alles überhaupt
an?«
»Ich soll einen Vertrag machen. Einen abartigen Vertrag. Sie fragen, was
mich das angeht?«
»Nun mal langsam. Irene Gundlach ist eine erwachsene [42] Frau. Was
immer Sie aufschreiben, was immer ihr Mann und ich unterschreiben – sie
kann machen, was sie will. Wenn ich ihr sage, dass es aus ist, und wenn er
ihr sagt, dass sie wieder ihm gehört, kann sie ihm sagen, dass er zum Teufel
gehen soll, und mir, dass sie mir nicht glaubt. Nein, erzählen Sie mir nichts
von abartig. Zwei Männer sind in ein Schlamassel geraten und wollen es in
Ordnung bringen, und ob es tatsächlich gelingt, liegt in der Hand der Frau.
Eine alte Geschichte.«
Über den letzten Sätzen hatte er sich beruhigt. Er war schroff, aber
beherrscht. Er stand auf. »Ich bin mit allen Modalitäten einverstanden. Lassen
Sie ihn entscheiden, wann und wo und wie geschehen soll, was geschehen
muss. Sie wissen, wie Sie mich erreichen.«
[43] 14

Wenn heute ein Mandant mit einem solchen Ansinnen zu mir käme, würde ich
ihm die Tür weisen. Damals wusste ich nicht, was ich sagen sollte, und sah
stumm zu, wie Schwind aus dem Zimmer ging.
Sollte ich mit einem der beiden Senioren reden? Aber mein Ansehen in der
Kanzlei hatte auch damit zu tun, dass ich nie um Rat gefragt, sondern alle
Probleme alleine gelöst hatte. Mir fiel der Richter ein, bei dem ich als
Referendar angefangen und zu dem ich ein besonders vertrautes Verhältnis
gehabt hatte. Aber ich konnte mir denken, was er sagen würde.
Das Telefon klingelte, und der Bürovorsteher hatte Gundlach am Telefon.
Hatte Gundlach einen Detektiv angestellt, der Schwinds Wegen folgte und
sein Betreten und Verlassen der Kanzlei gemeldet hatte?
»Sie überlegen, was Sie aufsetzen sollen. Ich habe Ihnen nicht ins
Handwerk zu pfuschen. Aber erlauben Sie mir einen Hinweis zur Abwicklung.
Am besten kommen Schwind und Irene zu mir. Wir reden ein bisschen,
Schwind bringt das Bild ins Auto, um gleich wiederzukommen und Irene
abzuholen, fährt aber mit dem Bild davon. Wenn ich Irene dann erkläre, dass
Schwind sie gegen das Bild getauscht hat, weiß sie schon, zu wem sie
gehört.«
[44] »Was, wenn sie’s nicht weiß?«
Er lachte. »Lassen Sie das meine Sorge sein. Ich kenne sie. Als sie mich
verließ, hatten wir eine schwierige Zeit, und sie dachte, sie fände die wahre
Liebe nicht bei mir, sondern bei ihm. Nach dem Tausch weiß sie es besser.«
Ich sagte nichts. »Hallo? Sie glauben mir nicht und fragen sich, was passiert,
wenn sie’s nun doch nicht weiß? Keine Angst, ich lege sie nicht in Ketten und
sperre sie nicht in den Keller. Wenn sie eine Taxe will, kriegt sie eine Taxe.«
Sein Ton wurde herrisch. »Also machen Sie den Vertrag, lassen Sie Schwind
und mich unterschreiben, und setzen Sie das Treffen an.« Er legte auf.
In Ketten legen und in den Keller sperren? Nein, so nicht. Aber was, wenn
er sie irgendwohin entführte? In sein Haus auf dem Land oder auf seine Insel
in der Ägäis? Er betäubt sie, und sie wacht auf seiner Jacht oder in seinem Jet
auf, und weil sie nur noch gute Miene zum bösen Spiel machen kann,
schreibt sie mir eine Postkarte, dass sie mit Gundlach zweite Flitterwochen
genießt?
Ich stellte mir das Gespräch, das Gerangel und die Betäubung vor. Macht
Gundlach es alleine? Oder hält der Butler sie fest, während Gundlach den
Lappen mit dem Chloroform auf ihr Gesicht drückt? Tragen sie sie zusammen
in den Wagen? Fährt Gundlach selbst? Dann kam mir eine andere Wendung
des Geschehens in den Sinn. Wie, wenn Schwind Gundlach betrügt? Wenn er
ihr alles sagt? Wenn sie ihm hilft, das Bild zu kriegen, um danach mit ihm zu
fliehen? Gundlach lässt sich das nicht bieten und hat Leute, die die beiden
jagen und Schwind bestrafen und sie entführen. Oder ist er so wütend auf
sie, dass er sie nicht [45] entführen, sondern auch bestrafen lässt? Verprügeln,
vergewaltigen, entstellen? Nein, Schwind musste wissen, dass er Gundlach
nicht betrügen konnte. Es würde zum Tausch kommen.
[46] 15

Gundlach hat sich erst vor wenigen Jahren zur Ruhe gesetzt und die Leitung
des Unternehmens seiner Tochter übergeben. Er war ein begnadeter
Unternehmer, hat erfolgreich nach Osteuropa, Amerika und China expandiert,
hat Kohl und Schröder in den Wirtschaftsfragen der Wiedervereinigung
beraten und hätte, wenn er gewollt hätte, Präsident des Bundesverbands der
Deutschen Industrie werden können. Gelegentlich sind wir uns
gesellschaftlich begegnet. Aus dem Versprechen, er werde, wenn ich ihn und
Schwind miteinander ins Geschäft brächte, an mich denken, wurde nichts.
Ja, ich brachte Gundlach und Schwind so miteinander ins Geschäft, wie
sie es wollten. Ich setzte den Vertrag auf, legte darin die Übergabe
entsprechend Gundlachs Vorschlag fest und ließ den Vertrag von beiden
unterschreiben. Die Übergabe sollte am Sonntag um 17 Uhr stattfinden.
Außerdem beschloss ich, Irene Gundlach zu warnen. Sollte ich sie in die
Kanzlei bestellen? Sie auffordern, alleine zu kommen? Aber wenn Schwind sie
doch begleiten würde? Oder wenn sie meine Aufforderung seltsam fände und
nicht käme? Ich wusste, wo sie und Schwind wohnten, nahm den Tag frei
und parkte das Auto so, dass ich den Eingang des mehrstöckigen alten
Mietshauses im Auge hatte. Ich musste [47] nicht lange warten; um 9 Uhr trat
sie aus der Tür, ging die Straße entlang, und ich folgte ihr auf der anderen
Straßenseite. Wir nahmen die U-Bahn in die Innenstadt, und im Getümmel des
Aussteigens ergab sich eine hinreichend zufällig wirkende Begegnung.
»Wie schön, dass wir uns treffen. Der Fall nimmt eine Wendung, über die
ich mit Ihnen reden wollte. Haben Sie einen Moment?«
War sie überrascht? Sie reagierte gelassen, lächelte und sagte: »Ich muss
über den Fluss. Begleiten Sie mich?«
Wir gingen durch die Altstadt und über die Brücke und redeten von der
Veränderung des Stadtbilds, den bevorstehenden Wahlen und dem schönen
Herbst. Über dem Fluss hing noch der Morgennebel, aber die bunten Blätter
der Bäume leuchteten schon in der Sonne. Ich erinnerte sie daran, dass auch
bei ihrem Besuch in der Kanzlei die Sonne geschienen und die Blätter
geleuchtet hatten.
Wir setzten uns auf eine Bank, und ich erzählte ihr von meinem Besuch bei
Gundlach, von Schwinds Besuch in meiner Kanzlei und von dem Vertrag, den
ich aufgesetzt und den beide unterschrieben hatten. Ich erzählte ihr auch von
meiner Angst, was Gundlach ihr antun könnte, wenn sie nicht mitspielte. Ich
wusste nicht, wie sie, was ich ihr erzählte, aufnahm. Ich sah sie nicht an. Ich
sah über den Fluss auf die Stadt, sah den Nebel dünner werden, sich in
Schwaden zerteilen und auflösen. Als ich zu reden anfing, war die Stadt vom
Nebel verhüllt, als ich fertig war, lag sie in der Sonne.
Als ich sie schließlich ansah, hatte sie Tränen in den Augen, und ich sah
rasch wieder weg. »Ist schon gut«, sagte sie [48] mit einer Stimme, der die
Tränen nicht anzumerken waren, »sind nur ein paar Tränen.« Dann fragte sie:
»Warum der Vertrag? Was bringt er den beiden?«
»Ich denke, Gundlach wollte der Absprache Förmlichkeit und
Verbindlichkeit geben, auch wenn es keine rechtliche sein kann. Früher hätte
er Schwind zum Duell gefordert.«
»Und Sie? Was bringt der Vertrag Ihnen?«
»Wenn ich ihn nicht aufgesetzt hätte, hätte Gundlach einen anderen Anwalt
gefunden. Und ich wüsste nicht, was er und Schwind mit Ihnen vorhaben.«
»Dürfen Sie das als Anwalt eigentlich? Zuerst den einen meiner beiden
Männer vertreten, dann mit dem anderen paktieren und dann mir alles
erzählen?«
»Das ist mir egal.«
Sie nickte. »Am Sonntag also… Nein, eine Jacht oder einen Jet hat mein
Mann nicht und auch keine Insel. Aber er hat ein Landhaus. Brächte er fertig,
mich zu betäuben und zu verschleppen? Ich weiß es nicht.«
»Ihr Mann? Sind Sie nicht geschieden?«
»Er will nicht, und seine Anwälte verzögern die Scheidung.« Ihre Stimme
bekam einen gereizten Ton, ich wusste nicht, ob wegen meiner Neugier oder
wegen Gundlachs Widerstands.
»Es tut mir leid…«
»Sie müssen sich nicht ständig entschuldigen.«
»Ich…« Ich wollte sagen, ich entschuldigte mich doch gar nicht ständig.
Aber dann ließ ich es bleiben. Ich saß da und wusste nicht, wie ich ihr sagen
sollte, was ich ihr sagen wollte: dass ich ihr gerne helfen würde, dass ich alles
für sie zu tun, alles für sie zu geben bereit sei, dass ich sie liebte.
[49] »In was bin ich mit meinen beiden Männern geraten! Der eine will
mich verkaufen, der andere vielleicht verschleppen.« Sie lachte. »Und Sie?
Was wollen Sie?«
Ich wurde rot. »Ich… ich war daran beteiligt, dass Sie in die Situation
reingeraten sind, und möchte tun, was ich kann, damit Sie aus der Situation
wieder rauskommen. Wenn ich Ihnen… wenn Sie mich…«
Sie sah mich an – verwundert, gerührt, mitleidig? Ich konnte den Blick
nicht deuten. Dann lächelte sie, strich mir mit der Hand über Kopf, Nacken
und Schulter und drückte mich kurz. »Ich bin unter üble Kerle geraten, aber
ich bin nicht verloren. Ein tapferer Ritter kommt und rettet mich.«
»Machen Sie sich über mich lustig? Ich meine nicht, dass ich etwas
Besonderes bin. Ich bin… Ich liebe dich.«
[50] 16

Ich liebe dich – ich merkte sofort, dass »dich« nicht richtig klang. Aber »ich
liebe Sie« hätte auch nicht richtig geklungen. Vermutlich sollte man, wenn
»ich liebe dich« nicht richtig klingt, den Mund halten. Aber wes das Herz voll
ist, des geht der Mund über. Jetzt wollte ich mich über das falsche »dich« in
ein richtiges reden, indem ich ihr meine Liebe erklärte.
»Es ist passiert, als du allein in die Kanzlei kamst. Du hast von der Liebe
gesprochen und davon, was eine Frau ist, wenn sie richtig geliebt wird,
Geliebte, Mutter, Schwester, Tochter, und von dem Glück der Liebe, das so
groß ist, dass Gott es uns neidet. Du hast dabei gelächelt, ein glückliches,
schmerzliches, weises Lächeln, in dem ein Versprechen lag… Nein, du hast
mir nichts versprochen, es gibt nichts, worauf ich mich berufen und woran
ich dich festhalten wollte, um Gottes willen, dein Versprechen war ein… ein
kosmisches Versprechen, ich weiß, du hast über die Liebe und die Frauen
schlechthin gesprochen. Aber… du bist für mich die Frau schlechthin, und
dich lieben und von dir geliebt werden – es wäre…«
»Schschsch«, sie legte mir wieder den Arm auf die Schulter und zog mich
an sich, »schschsch.« Ich hörte auf zu [51] reden, hoffte, die Umarmung
werde nicht enden, und schloss die Augen. »Wenn du mir wirklich helfen
willst…«
»Was?« Ich machte die Augen auf. »Was?«
»Du kannst…« Sie sprach nicht weiter, nahm den Arm von meiner
Schulter und setzte sich aufrecht hin. Auch ich setzte mich aufrecht hin.
Schließlich begann sie zu reden, zuerst zögernd, dann immer bestimmter.
»Wenn wir am Sonntag zu Gundlach fahren… Karl wird nicht mit meinem
Wagen fahren wollen, sondern mit seinem VW-Bus. Ich kann… ich kann dir
meinen Schlüssel zum Bus geben, und wenn wir in Gundlachs Haus gegangen
sind, schleichst du dich in den Bus und versteckst dich hinter dem Steuer.
Wenn Karl das Bild aus dem Haus getragen und in den Bus gelegt und die Tür
geschlossen hat… Alles kommt darauf an, dass du sofort losfährst. Dass du
sofort weg bist. Schafft Karl, eine der Türen aufzureißen und in den Bus zu
springen, ist es aus. Wenn nicht… Ich bin sicher, Karl denkt, Gundlach habe
ihn betrogen, kommt zurück ins Haus, beschuldigt Gundlach, und während
die beiden streiten, kann ich davonrennen. Unterhalb von Gundlachs Haus
macht die Straße eine Kurve. Da endet der Garten, da wartest du, ich klettere
über die Mauer und steige zu dir in den Bus.«
Ich versuchte, so kaltblütig zu reagieren, wie sie ihren Plan entwickelt
hatte. »Parkt Schwind so, dass ich nicht erst wenden muss?«
Sie nickte. »Dafür sorge ich. Du musst dir auch wegen des Tors keine
Gedanken machen; es wird erst für die Nacht geschlossen.« Sie lächelte mich
an. »Wenn du losfährst, sobald die Tür ins Schloss fällt, und wenn ich
losrenne, sobald [52] meine beiden Männer sich in die Haare kriegen, muss es
klappen.«
Ich mochte nicht, dass sie von ihren beiden Männern redete, sagte aber
nichts. Ich stellte mir das abfallende Gelände vor Gundlachs Haus vor, die
Zufahrt vom Tor zum Haus, den Bewuchs, den Parkplatz. Ja, ich müsste
mich in den Bus schleichen können. Ich wusste nicht, was passieren würde,
wenn die Sache schiefginge, ich überschritt eine Linie, die ich bisher nie
überschritten hatte. Aber ich war entschlossen. »Wenn du zu mir ins Auto
gestiegen bist – wohin fahren wir dann?«
Sie strich mir noch mal mit der Hand über den Kopf. »Wohin wohl?«
[53] 17

Was konnte es anderes bedeuten als zu mir? Ich war glücklich. Wir gehörten
zusammen. Wir würden gemeinsam vorgehen, gemeinsam gewinnen,
gemeinsam fliehen. Wir mussten nicht einmal fliehen, sondern konnten bleiben
– was sollte man ihr, was mir vorwerfen? Ich träumte von unserem
gemeinsamen Leben. Ob wir eine große Wohnung oder ein kleines Haus
nehmen würden, ob sie gärtnerte, ob sie kochte, was sie eigentlich von
morgens bis abends machte, ob sie gerne reiste und wohin, ob sie gerne las
und was, ob sie…
»Ich muss los.« Sie riss mich aus meinem Traum und stand auf.
Ich stand auch auf. »Kann ich dich begleiten?«
»Es sind nur ein paar Schritte.« Sie zeigte zum Museum für
Kunsthandwerk.
»Du…«
»Ich arbeite dort. Design.«
Ich bekam plötzlich Angst. Die schöne Frau, mit der ich das Leben
träumte, hatte bereits ein Leben. Sie hatte einen Beruf, sie hatte Geld verdient
oder geerbt, sie hatte Männer gehabt, Gundlach und Schwind waren nicht ein
Versehen gewesen, sondern eine Entscheidung. »Design« – sie sagte [54] es
kurz und knapp und als wolle sie mich nicht mehr über sich wissen lassen als
nötig.
»Wann gibst du mir den Schlüssel?«
»Ich werfe ihn in deinen Briefkasten. Wo wohnst du?«
Ich gab ihr meine Adresse. »Du musst klingeln. Die Briefkästen hängen im
Hausflur. Wann kommst du?«
»Ich weiß nicht. Wenn du nicht da bist, klingele ich, bis jemand aufmacht.«
Dann war sie weg. Sie ging die Uferpromenade entlang, überquerte die
Straße und betrat das Museum. Als sie die Straße überquerte und sich nach
links und rechts vergewisserte, dass kein Auto kam, hätte sie zu mir
zurücksehen und mir winken können. Aber sie sah nicht zurück.
Ich setzte mich wieder auf die Bank. Sollte ich in die Kanzlei gehen und aus
dem angebrochenen Tag noch einen Arbeitstag machen? Ich mochte nicht.
Als ich mich im Botanischen Garten an den Morgen am Fluss erinnerte,
merkte ich, dass ich das danach nie wieder gemacht habe: einen Tag einfach
verplempern. Natürlich gab es mit meiner Braut und dann Frau und dann mit
meinen Kindern Tage, an denen ich nicht arbeitete. Aber an ihnen machte ich,
was ich Braut, Frau und Kindern schuldete und was der Gesundheit oder
Bildung oder Stärkung des Zusammenhalts diente. Schöne Unternehmungen,
gewiss, und angenehme Abwechslungen von der Arbeit. Aber einfach sitzen
und schauen und in die Sonne blinzeln und träumen, Stunde um Stunde, dann
ein Restaurant finden mit gutem Essen und gutem Wein, dann ein bisschen
spazieren und wieder einen Platz zum Sitzen und Schauen und Blinzeln und
Träumen finden – ich habe es damals gemacht und danach erst wieder in
Sydney.
[55] Ich frage mich, wovon ich damals geträumt habe. Sicher vom Leben
mit Irene. Aber sicher nicht nur. Wie ich jetzt an die Vergangenheit denke,
habe ich vielleicht auch damals an die Vergangenheit gedacht. Vielleicht bekam
sie, weil ich drauf und dran war, mein Glück zu finden, ein neues Gesicht.
Vielleicht fand ich meine Kindheit bei den Großeltern nicht mehr lieblos,
sondern einen Weg zur Freiheit, spürte bei meinem beruflichen Weg nicht
mehr den Druck, sondern das Geschenk des Erfolgs und sah in meinen
unerfüllten Begegnungen mit Frauen nicht mehr das Scheitern, sondern ein
Versprechen.
Ich klage nicht darüber, dass ich alt bin. Ich neide der Jugend nicht, dass
sie das Leben noch vor sich hat; ich will es nicht noch mal vor mir haben.
Aber ich neide ihr, dass die Vergangenheit, die hinter ihr liegt, kurz ist. Wenn
wir jung sind, können wir unsere Vergangenheit überschauen. Wir können ihr
einen Sinn geben, auch wenn es immer wieder ein anderer ist. Wenn ich jetzt
auf die Vergangenheit zurückschaue, weiß ich nicht, was Last und was
Geschenk war, ob der Erfolg den Preis wert war und was sich in meinen
Begegnungen mit Frauen erfüllt und was sich mir versagt hat.
[56] 18

Ich habe das Bild auch am Freitag wieder besucht. Die Art Gallery war voller
Schüler und Schülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen. Ich mochte das Geräusch
der vielen durcheinanderredenden und -rufenden Stimmen; es erinnerte mich
an Pausen auf dem Schulhof und Sommertage im Schwimmbad. Vor dem
Bild standen ein paar Halbwüchsige und diskutierten die Figur der Frau.
Waren die Hüften zu breit, die Schenkel zu dick, die Füße zu klein und saßen
die Brustwarzen falsch? Ich stellte mich nicht dazu, stand aber nahe genug,
dass ihnen meine Anwesenheit unangenehm wurde und sie weitergingen.
Ich fand keinen Makel an der Frau. Aber ich sah sie auch nicht so, wie ich
sie beim letzten Mal gesehen hatte. Ja, sie war Sanftmut, Verführung und
Hingabe. Sie leistete keinen Widerstand mehr. Und hatte ihn doch nicht
wirklich aufgegeben. In der Haltung ihres Kopfes, in der Art, wie sie die
Augen niedergeschlagen und den Mund geschlossen hatte, lagen geheimer
Widerstand, Verweigerung, Trotz. Sie würde dem, in dessen Gewalt sie war,
nie gehören. Sie würde mitspielen. Aber sie würde sich letztlich entziehen.
Hätte ich das damals schon sehen und dann wissen können, wie alles
weitergehen würde? Ich war nur kurz in [57] Gundlachs Salon, musste ihm
zuhören und konnte das Bild nicht richtig anschauen. Wie, wenn ich es länger
hätte betrachten können? Hätte ich es dann gewusst?
Am Abend des Tages, an dem wir uns getroffen hatten, kam sie nicht. Ich
nahm auch den nächsten Tag frei; ich wollte zu Hause sein, wenn sie käme
und den Schlüssel brächte. Ich ging früh einkaufen und schaute, als ich
wieder zurückkam, ängstlich in den Briefkasten. Sie hatte den Schlüssel noch
nicht eingeworfen. Ich bin ein ordentlicher oder sogar ein pedantischer
Mensch und musste die Wohnung für Irene Gundlach nicht aufräumen. Aber
ich habe Blumen in die Vase gestellt und Obst in die Schüssel gelegt. Weil ich
Angst hatte, dass sie pedantische Menschen nicht mögen würde, ließ ich ein
paar Äpfel von der Schüssel auf den Tisch rollen, verteilte Bücher und
Zeitschriften neben dem Sessel auf dem Boden und breitete auf meinem
Schreibtisch das Manuskript eines Aufsatzes aus.
Sie kam am Samstag. Sie klingelte, und ohne aus dem Fenster zu sehen,
wusste ich, dass sie es war, drückte nicht auf den Knopf, rannte die Treppe
hinunter und machte die Haustür auf.
»Ich wollte nur…« Sie hatte den Schlüssel in der Hand.
»Komm kurz hoch. Wir müssen reden.«
Sie ging vor mir die Treppe hinauf, mit schnellem Tritt, und ich sah auf ihre
Füße in flachen Schuhen, ihre bloßen Waden, ihre Schenkel und ihren Po in
enger Hose, die unter dem Knie endete. Ich hatte meine Wohnungstür offen
gelassen, und sie ging hinein, langsam, sah sich um, aber ging hinein, als
verstehe es sich von selbst. Sie ging in das große Zimmer, das ich als Arbeits-
und Wohnzimmer nutzte, [58] trat zuerst ans Fenster, sah auf die Straße, dann
an den Schreibtisch und sah auf das Manuskript. »Was schreibst du?«
»Der Bundesgerichtshof hat eine Entscheidung zum Urheberrecht…« Ich
konnte nicht weitersprechen. Ich hatte sie unten nicht in die Arme genommen
und hätte es jetzt gerne getan, kam mir aber so falsch vor, mein Lächeln ohne
Charme, meine Arme zu lang und Hände zu groß, meine Bewegungen sperrig,
dass ich mich nicht traute.
»Urheberrecht… Worüber müssen wir noch reden?«
»Willst du dich nicht setzen? Magst du Tee oder Kaffee oder…«
»Nichts, danke, ich muss gleich wieder weg.« Aber sie setzte sich auf den
Sessel, den ich mit Büchern und Zeitschriften umgeben hatte, und ich setzte
mich auf den Sessel gegenüber.
»Wenn ich morgen zu Gundlachs Haus gehe… Es ist ein reiches Viertel.
Fällt mein Auto auf, wenn ich es in einer Straße parke? Falle ich auf, wenn
ich durch die Straßen laufe? Kennen sich die Leute und merken sie sich einen
Fremden?«
»Lass das Auto im Dorf, durch das du musst, wenn du zu Gundlach willst.
Von dort läufst du eine halbe Stunde, nicht mehr. Hast du Angst?« Sie sah
mich prüfend an.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin froh. Dass du und ich… Was ich vor
zwei Tagen gesagt habe… Ich habe dich damit überfallen. Ich würde es gerne
noch mal und diesmal besser sagen, aber ich fürchte, dass ich dich damit
wieder überfallen würde, und warte lieber, bis wir alle Zeit der Welt haben.
Nein, ich habe keine Angst. Du?«
[59] Sie lachte. »Dass es nicht gelingt? Dass ich beschimpft werde? Dass
ich verschleppt werde?«
»Ich weiß nicht. Was hast du mit dem Bild vor?«
»Nichts, solange ich es noch nicht habe.« Sie stand auf. »Ich muss los.«
Wohin, hätte ich gerne gefragt, und ob sie mich auch liebe oder doch eines
Tages lieben werde und ob sie noch mit Karl Schwind schlafe und wie es am
Sonntag gehen werde, wenn wir mit dem Bild im Auto säßen. Ich fragte sie
nichts davon. Ich stand auf und nahm sie in die Arme, und sie schmiegte sich
nicht an mich, sträubte sich aber auch nicht, und als sie sich von mir löste,
küsste sie mich auf die Backe und strich mir über den Kopf. »Du bist ein
guter Junge.«
[60] 19

Ich hatte wirklich keine Angst. Ich wusste, dass ich mich auf ein Vergehen
einließ und, sollte ich gefasst werden, als Rechtsanwalt erledigt war. Es war
mir egal. Irene und ich würden ein anderes, besseres Leben finden. Wir
konnten nach Amerika gehen, ich würde nachts kellnern und tags studieren
und bald wieder obenauf sein, als Jurist oder Mediziner oder Ingenieur.
Sollten die Amerikaner keinen verurteilten Rechtsanwalt haben wollen –
warum nicht nach Mexiko? Ich hatte in der Schule ohne Schwierigkeit
Englisch und Französisch gelernt, ich würde auch Spanisch ohne
Schwierigkeit lernen.
Aber vor dem Einschlafen schüttelte es mich und schlugen meine Zähne
aufeinander. Ich zitterte auch noch, als ich alle Decken aufs Bett gelegt hatte,
die ich finden konnte. Schließlich schlief ich ein. Am Morgen wachte ich
schweißnass im schweißnassen Bett auf.
Es ging mir wieder gut. Mir war leicht, und zugleich spürte ich eine
unbändige Kraft, der nichts würde widerstehen können. Es war ein
wunderbares, ein einzigartiges Gefühl. Ich erinnere mich nicht, davor oder
danach noch mal so gefühlt zu haben.
Es war Sonntag. Ich frühstückte auf dem Balkon, die [61] Sonne schien, in
der Kastanie sangen die Vögel, und von der Kirche klangen die Glocken
herüber. Ich dachte ans Heiraten, ob Irene in der Kirche geheiratet hatte und
in der Kirche würde heiraten wollen und ob ihr die Kirche etwas bedeutete.
Ich träumte unser gemeinsames Leben in Frankfurt, zuerst auf diesem
Balkon, dann auf dem Balkon einer großen Wohnung am Palmengarten, dann
in einem Garten unter alten Bäumen am anderen Ufer. Dann träumte ich uns
an der Reling des Schiffs, das uns über den Atlantik brachte. Ich nahm von
allem Abschied, von der Kanzlei, der Stadt, den Menschen. Es war ein
Abschied ohne Schmerzen. Ich fühlte für mein altes Leben nur freundliche
Gleichgültigkeit.
Ich fuhr früh los und war doch nicht zu früh. Das Dorf feierte ein Fest,
Marktplatz und Hauptstraße waren gesperrt, und der Verkehr quälte sich
durch die Nebenstraßen. Ich parkte am Friedhof, fand einen Weg durch die
Weinberge, den ich für eine Abkürzung hielt, der aber keine Abkürzung war,
und traf in einem Wald auf die Straße, die zu dem Viertel mit Gundlachs Haus
führte. Als mich das erste Auto überholte, fiel mir ein, dass auch Schwind
diese Straße nehmen würde und mich nicht sehen durfte; von da an folgte ich
der Straße unter den Bäumen und durchs Gebüsch.
Ich hatte mich unauffällig angezogen, Jeans, beiges Hemd, braune
Lederjacke, Sonnenbrille. Aber als ich aus dem Wald in das Viertel mit
sonntäglich leeren Straßen und gelegentlich einer Familie auf einer Terrasse
unter einem Sonnenschirm kam, fühlte ich alle Augen auf mich gerichtet, die
der Familien auf den Terrassen und die hinter den Fenstern. Kein anderer
Fußgänger war unterwegs.
[62] Ich mied den direkten Weg durch das Viertel, auf dem Schwind mich
hätte sehen können, verirrte mich in den gewundenen Parallel- und
Seitenstraßen und erreichte Gundlachs Haus um wenige Minuten nach 17 Uhr.
Der Parkplatz vor der Garage war leer. Ich drückte mich beim Haus
gegenüber zwischen die Mülleimerbox und einen Fliederbusch und wartete.
Ich sah die Zufahrt, das Haus, die Garage mit einem offenen und einem
geschlossenen Tor, in der Garage einen Mercedes stehen und auf der Zufahrt
eine Katze in der Sonne liegen. Auf der von der Straße zum Haus abfallenden
Wiese wuchsen ein paar kleine Kiefern, und ich plante das Zickzack, in dem
ich von Baum zu Baum über die Wiese zum Auto rennen würde. Wenn
jemand vorbeikäme, wenn jemand aus dem Haus gegenüber hinuntersähe –
ich musste so schnell hinter dem Auto verschwunden sein, dass er sich nicht
sicher wäre, mich tatsächlich gesehen zu haben.
Ich hörte Schwinds VW-Bus von weitem; der Auspuff war kaputt. Der Bus
fuhr schnell, hustend, knatternd, bog rasant von der Straße auf die Zufahrt,
verscheuchte die Katze und bremste abrupt vor dem Eingang. Niemand stieg
aus, und nach einer Weile stieß der Bus zurück, machte auf dem Parkplatz
einen weiten Bogen, stieß noch mal zurück und stand schließlich so vor dem
Eingang, dass er für die Rückfahrt nicht mehr gewendet werden musste.
Dann gingen die Türen auf, beide stiegen aus, sie schweigend, er schimpfend,
ich hörte »was soll das« und »du und deine Ideen«. Dann ging die Tür auf,
und Gundlach begrüßte seine Gäste und bat sie ins Haus.
Jetzt, sagte ich mir. Wen Schwinds lautes Auto ans Fenster geholt hatte,
der wandte sich jetzt wieder seiner [63] Beschäftigung zu. Ich rannte über die
Straße, versteckte mich hinter der ersten Kiefer, rannte weiter, stolperte,
stürzte, kroch hinter die nächste Kiefer, stand auf und rannte, hinkte, hüpfte
mit schmerzendem Fuß an den letzten Kiefern vorbei zum VW-Bus. Ich
machte die Tür auf, kauerte mich so auf den Sitz, dass ich von außen nicht
gesehen werden, allerdings auch nicht nach außen sehen konnte, und steckte
den Schlüssel ins Zündschloss. Ich wartete.
Der Fuß tat vom Sturz weh und der Rücken vom Kauern. Aber ich spürte
immer noch die Leichtigkeit und die Kraft des Morgens und zweifelte keinen
Moment, dass, was ich tat, stimmte. Dann hörte ich die Haustür aufgehen
und Schwind schimpfen; der Butler, der ihm half, war ihm nicht schnell und
nicht aufmerksam und nicht folgsam genug, und ihm passte nicht, dass er um
den Bus herumgehen musste und dass er die Schiebetür nur mit Mühe
aufbekam. Aber er bekam sie auf, legte schimpfend das Bild auf die
Ladefläche, schob die Tür zu, und während sie scheppernd ins Schloss fiel,
drehte ich den Zündschlüssel.
Der Motor sprang sofort an, und als Schwind begriff und schrie und gegen
den Bus schlug, fuhr ich schon, und als er losrannte, fuhr ich schon so
schnell, dass er noch nach der Beifahrertür greifen und sie aufreißen, aber
nicht mehr hineinspringen oder auch nur hineinsehen konnte. Ich sah ihn im
Rückspiegel dem Bus hinterherrennen, kleiner und kleiner werden und
schließlich stehen bleiben.
[64] 20

Ich fuhr zur Kurve unterhalb von Gundlachs Haus. Nach einer Weile stieg ich
aus und ging um den Bus, öffnete und schloss die Schiebetür, schloss auch
die Beifahrertür, die ich, nachdem Schwind sie aufgerissen hatte, nicht richtig
hatte zuziehen können. Das Bild mochte ich nicht ansehen, ich weiß nicht,
warum.
Dann stand ich und wartete. Ich sah auf die Mauer, über die Irene kommen
wollte; sie war zwei Meter hoch, weiß getüncht mit einer Krone aus roten
Ziegeln. Ich sah auf die dichte und hohe Koniferen-Hecke des Nachbarn, die
wie eine grüne Mauer an die weiße Mauer anschloss. Ich sah auf den Zaun
des Grundstücks im Inneren der Kurve; auch er war hoch und völlig von
Efeu überwachsen und abweisend wie eine Mauer. Ich sah den blauen
Himmel und hörte Vögel in den Gärten und einen Hund in der Ferne; alles war
sonntäglich friedlich. Und doch war mir auf einmal eng zwischen den
Mauern, und ich fror wieder, wie in der Nacht, und hatte Angst, aber wusste
nicht, wovor. Dass Irene nicht käme?
Dann war Irene da. Sie saß auf der Mauer, hell, leuchtend, lachend, raffte
ihr Haar, schob es hinter die Ohren und sprang. Ich nahm sie in die Arme und
dachte, jetzt wird alles [65] gut. Ich war glücklich und dachte, sie sei’s auch.
Tatsächlich war sie außer Atem, ließ mich sie halten, bis sie sich beruhigt
hatte, gab mir einen kurzen Kuss und sagte: »Wir müssen los.«
Sie wollte fahren. Und weil im Dorf das Fest sei und wir steckenbleiben
und die anderen uns nachfahren und einholen könnten, sei es besser, vor dem
Dorf die Straße in die Berge zu nehmen und einen Bogen zu machen und von
Osten in die Stadt zu kommen. Und weil die anderen mein Auto nicht im Dorf
finden sollten, sollte ich vor dem Dorf aussteigen und mein Auto in die Stadt
fahren.
»Wie sollen sie mein Auto erkennen?«
»Wir wollen kein Risiko eingehen.«
»Risiko? Wenn ich auf ein Dorffest gehe, Wein trinke, das Auto stehen
lasse und eine Taxe in die Stadt nehme?«
»Tu’s mir zuliebe, bitte, mir ist einfach wohler.«
»Wann sehen wir uns? Was ist mit deinen Sachen? Müssen wir sie nicht
holen? Ehe Schwind zurückkommt? Und das Bild aus dem Auto nehmen und
das Auto abstellen, ehe er bei der Polizei…«
»Schschsch«, sie legte mir die Hand auf den Mund. »Ich passe auf. Und
die paar Sachen, die bei ihm sind, brauche ich nicht.«
»Wann kommst du?«
»Nachher, wenn ich fertig bin.«
Sie setzte mich mit einem Kuss vor dem Dorf ab, und ich holte mein Auto
und fuhr nach Hause. Den Bogen fahren, das Bild an den Ort bringen, den sie
vorbereitet haben musste und mich nicht wissen lassen wollte, den VW-Bus
abstellen, eine Taxe nehmen – es mochte zwei Stunden dauern, bis sie [66] zu
mir käme. Aber schon vor dem Ablauf der zwei Stunden war ich beklommen;
ich ging in meiner Wohnung auf und ab und sah alle Augenblicke aus dem
Fenster und machte Tee und vergaß, die Blätter aus der Kanne zu nehmen,
und vergaß es bei der nächsten Kanne wieder. Wie wollte sie mit dem Bild
zurechtkommen? War es nicht viel zu schwer? Half ihr noch jemand? Wer?
Oder konnte sie es gerade noch tragen? Warum traute sie mir nicht?
Nach zwei Stunden fand ich eine Erklärung, warum sie noch nicht da war,
und ich fand eine nach drei und eine nach vier. Die ganze Nacht fand ich
Erklärungen und versuchte, meine Angst zu beruhigen, ihr sei etwas
zugestoßen. Mit dieser Angst versuchte ich, die andere Angst zu verdrängen,
sie komme nicht, weil sie nicht kommen wolle. Die Angst, ihr sei etwas
zugestoßen – so ängstigen sich Liebende umeinander, der Freund um den
Freund, die Mutter um das Kind.
In der Angst war ich Irene nahe, und als ich, bevor der Morgen dämmerte,
die Krankenhäuser und Polizeistationen anrief, verstand sich für mich von
selbst, dass ich mich als ihr Mann ausgab.
Mit der Morgendämmerung kam die Einsicht, dass Irene nicht kommen
würde.
[67] 21

Am Montag rief Gundlach an. »Sie mögen es schon von Schwind gehört
haben. Der guten Ordnung halber will ich es bestätigen. Meine Frau ist
verschwunden, und das Bild ist es auch. Meine Leute finden heraus, ob
Schwind ein doppeltes Spiel mit mir gespielt hat. Wie auch immer, Ihre
Dienste werden nicht mehr benötigt.«
»Ich stand nie in Ihren Diensten.«
Er lachte, sagte: »Wenn Sie meinen«, und legte auf. Einige Wochen später
bekam ich von ihm die Nachricht, er habe keinen Beweis, dass Schwind ein
doppeltes Spiel gespielt habe. Ich fand anständig, dass er mich
benachrichtigte. Schwind ließ nichts mehr von sich hören.
Ich fand heraus, dass Irene nach dem Tag, dessen Morgen wir zusammen
verbracht hatten, nie mehr im Museum für Kunsthandwerk gearbeitet hat,
obwohl ihr Volontariat noch nicht zu Ende war. Ich fand auch heraus, dass
sie neben der Mietwohnung, in der sie mit Schwind gewohnt hatte, noch eine
Eigentumswohnung hatte, von der auch ihre Freunde und Freundinnen nichts
wussten – ein Versteck. Die Nachbarn konnten sich nicht erinnern, wann sie
Irene das letzte Mal gesehen hatten; es sei lange her.
Ich war verletzt, traurig, wütend. Ich sehnte mich nach [68] ihr, und wenn
ich meinen Briefkasten aufschloss, dachte ich manchmal, ob wohl ein Brief,
eine Karte von ihr in der Post wäre. Aber sie schrieb nicht.
Einmal, zwei Jahre später, dachte ich, ich sähe sie. Im Westend war nahe
der Kanzlei ein Haus von Studenten besetzt und von der Polizei geräumt
worden. Die folgende Demonstration, an der Tausende teilnahmen, führte an
der Kanzlei vorbei, und ich stand am Fenster und sah hinunter. Ich wunderte
mich, wie fröhlich die Demonstranten waren – wo doch ein vermeintliches
Unrecht sie auf die Straße trieb. Wie freudig sie ihre Fäuste reckten, wie stolz
sie ihre Parolen riefen, wie sie lachten, wenn sie die Arme unterhakten und in
Trab fielen. Es waren keine schlechten Gesichter, Väter mit Kindern auf den
Schultern und Mütter mit Kindern an der Hand, viel junges Volk, Schüler und
Studenten, ein paar Arbeiter im Blaumann, ein Soldat in Uniform, ein Mann
mit Anzug und Krawatte. Dann sah ich sie oder meinte doch, sie zu sehen,
und rannte aus dem Büro die Treppe hinunter auf die Straße und lief neben
dem Zug her und suchte sie und meinte ein paar Mal, ich hätte sie, aber sie
war’s nicht, und dann fand ich ein Gesicht, das ihrem ähnlich war, und
dachte, dieses Gesicht hätte mich beim Blick aus dem Fenster getäuscht, und
wollte aufgeben, gab aber nicht auf und suchte weiter. Bis eine Gruppe von
Demonstranten ein leeres Haus aufbrach und besetzte und die Polizei anrückte
und die Situation eskalierte.
Irgendwann vernarben Verletzungen. Aber gerne habe ich an die Sache mit
Irene Gundlach nie zurückgedacht. Zumal nachdem ich begriffen hatte, wie
lächerlich ich mich gemacht hatte. Wie konnte ich nicht sehen, dass kein
gutes Ende [69] nehmen würde, was mit einer Lüge begann, dass ich nicht an
das Steuer eines gestohlenen Autos gehörte, dass Frauen, die ihren
Ehemännern und Liebhabern davonliefen und -kletterten, nichts für mich
waren, dass ich mich hatte benutzen lassen. Jeder Mensch mit gesundem
Verstand hätte es gesehen.
Die ganze Lächerlichkeit, die ganze Peinlichkeit meines Verhaltens empfand
ich besonders intensiv, wenn mir in Erinnerung kam, wie ich am Fuß der
Mauer wartete, ob Irene kommen und mich wollen oder ob sie mich nicht
wollen und nicht kommen würde, mit meiner Sonnenbrille, meinem
Schüttelfrost, meiner Angst, und wie ich sie umarmte und glücklich war und
dachte, sie sei auch glücklich. Mir wurde die Erinnerung körperlich
unangenehm.
Ich habe mich immer wieder mit dem Gedanken getröstet, dass ich, wenn
ich mich hier nicht so verrannt hätte, die Ehe mit meiner Frau nicht so
erfolgreich durchgezogen hätte. Jedes Schlechte hat auch ein Gutes, sagte
meine Frau gerne.
Ändern lässt sich an der Vergangenheit nichts mehr. Damit habe ich schon
lange meinen Frieden gemacht. Nur schwer mache ich meinen Frieden damit,
dass die Vergangenheit immer wieder keinen rechten Sinn macht. Vielleicht
hat jedes Schlechte ein Gutes. Aber vielleicht ist jedes Schlechte auch nur
schlecht.
[70] 22

Am Samstag nahm ich das Boot zum Ende der Bucht, zum grünen Streifen
Land, hinter dem das offene Meer liegt. Nicht dass ich vom Botanischen
Garten genug gehabt hätte. Ich dachte, ich dürfte mich nicht Tag um Tag mit
diesem kleinen Lebenskreis bescheiden. Ich habe mich auch nie damit
begnügt, im Urlaub am Meer in der Sonne zu liegen, sondern immer die
Umgebung erkundet und die Orte am Meer so ausgesucht, dass es eine
Umgebung zu erkunden gab.
Die Fahrt ging an einer kleinen Insel vorbei, vor langer Zeit für einen
imaginären Krieg mit einem imaginären Feind befestigt, an grau und rostig
dümpelnden Kriegsschiffen, an Häusern am Wasser, in denen das Leben leicht
und heiter sein musste, an Wäldern und gelegentlichen Badestränden und
Jachthäfen. Die Sonne, der Wind, der Geruch des Meers – es war ein
fröhlicher Morgen, und die Kinder rannten während der Fahrt unermüdlich
vom Vorder- aufs Hinter- und wieder aufs Vorderdeck, wo ihnen der Wind
besonders erregend ins Gesicht blies. Mich fror, aber ich war zu stolz, mich
zu den alten Leuten in die Kabine zu setzen.
Als das Boot gelandet und ich ausgestiegen und über eine Erhebung ans
Meer gelaufen war, sah es nicht anders aus als [71] der Atlantik oder der
Pazifik. Aber mich berührte die Vorstellung, dass es sich von hier in der einen
Richtung bis Chile, in der anderen bis zur Antarktis erstreckte. Ich fühlte die
Weite und Tiefe, und gleich sahen das Blau des Meers dunkler und die Wellen,
die sanft an den Strand rollten, bedrohlicher aus.
Ich ging den Strand entlang, bis ich der Straße und des Verkehrs, die den
Strand begleiteten, müde war und an den Ausgangspunkt zurückging, wo es
Liegestühle und Sonnenschirme zu mieten gab. Ich hatte wieder eine Flasche
Rotwein in meinem Rucksack, ein paar Äpfel und das Buch über australische
Geschichte.
Die australische Geschichte ist kurz, und so kam das Buch bald in der
Gegenwart an und berichtete über Klima und Bodenschätze, Landwirtschaft,
Industrie und Außenhandel, Verkehr, Kultur und Sport, Schulen und
Universitäten, Küche, Verfassung und Verwaltung, Bevölkerungsdichte und -
entwicklung, geographische und soziale Mobilität, Berufe und Freizeit,
Männer und Frauen, Scheidungsraten.
Immer wenn ich in einem fremden Land bin, frage ich mich, ob ich hier
glücklicher wäre. Wenn ich durch die Straßen laufe und an einer Ecke
Menschen zusammenstehen und reden und lachen sehe, denke ich, wenn ich
hier lebte, stünde ich jetzt auch fröhlich mit anderen an dieser Ecke. Wenn ich
an einem Straßencafé vorbeikomme und ein Mann an einen Tisch tritt, an dem
eine Frau sitzt, und beide einander freudig begrüßen, denke ich, hier würde
ich noch mal eine Frau treffen, die sich auf mich freut und auf die ich mich
freue. Und wenn an den Abenden die Lichter in den Fenstern angehen! Jedes
Fenster verspricht zugleich Freiheit und [72] Geborgenheit, Freiheit vom alten
Leben und Geborgenheit in einem neuen. Jetzt weckte sogar die bloße Lektüre
meine Sehnsucht nach einem anderen Leben in einer anderen Welt.
Nicht dass ich mich in meinem Leben gefesselt gefühlt hätte. Meine Frau
und ich waren ein gutes Team, in dem jeder seine Freiheit hatte. Sie hätte
arbeiten können, wenn sie gewollt hätte; wir hätten uns eine Kinderfrau leisten
können. Aber sie wollte nicht, und ohne ihren Einsatz wären die Kinder nicht
geworden, was sie geworden sind, und ich vielleicht auch nicht. Als sie sich
dann entschloss, in die Kommunalpolitik zu gehen, wäre sie ohne meinen
Einfluss nicht so weit gekommen, wie sie kam. Nein, gefesselt war ich nicht.
Ich hätte nicht von heute auf morgen alles verlassen können, Haus, Familie
und Kanzlei, und anderswo neu anfangen. Aber die Kollegen und Freunde, die
irgendwann aus Ehe und Beruf ausstiegen und eine neue, jüngere Frau und
einen anderen, moderneren Job fanden, eine zweiunddreißigjährige
Eventmanagerin statt der fünfzigjährigen Hausfrau und eine Stellung als
Mediator und Therapeut statt als Rechtsanwalt, waren nach ein paar Jahren
im neuen Leben da, wo sie im alten gewesen waren, im Zank mit der Frau
und mit Verdruss bei der Arbeit. Nein, ich war an mein Leben nicht gefesselt,
sondern habe es mit Bedacht gewählt und mit Bedacht daran festgehalten. Es
ist auch nicht so, dass ich keine neue, jüngere Frau hätte finden können. Ich
bin kein Beau, aber ich halte mich in Form und kann mir was leisten und einer
jüngeren Frau was bieten. Aber ich wollte nicht.
Seltsam, wie zwangsläufig mein Leben war und zugleich wie zufällig. Die
Entscheidung für den Beruf, die Entscheidung für die Frau, die Entscheidung
für ein Kind und noch [73] eines und noch eines, die Entscheidung für die
große Kanzlei – sie ergaben sich von selbst. Die Entscheidung für den Beruf
fiel aus Trotz, geheiratet habe ich, weil es keinen Grund gab, nicht zu
heiraten, und das eine führte dann zur großen Kanzlei und das andere zu den
drei Kindern.
[74] 23

Am Montag rief mich der Chef der Detektei an. Ob ich noch in Sydney sei?
Ob ich vorbeikommen wolle? Es rede sich von Angesicht zu Angesicht doch
besser als am Telefon.
Ich hatte den Sonntag im Zimmer im Hotel verbracht. Ich weiß nicht,
warum ich in der Nacht von Samstag auf Sonntag nicht schlafen konnte,
warum ich die Filme ansah, die der Fernsehapparat im Hotelzimmer gegen
Entgelt zeigte, Actionfilme, eine Liebesromanze und eine Familienkomödie,
einen pornographischen Film, warum ich dazu Whisky trank, wo ich doch
sonst bei Bier und Wein bleibe. Es ist, als hätte ich mich betrinken wollen.
Jedenfalls war ich, als ich am Morgen aufwachte, betrunken. Ich blieb im
Bett und dämmerte durch den Tag. Ich hatte meine Kinder anrufen wollen,
aber zuerst war es zu früh und dann zu spät.
Ich erinnere mich nicht, jemals betrunken gewesen zu sein, geschweige
denn mich jemals absichtlich betrunken zu haben. Natürlich habe ich
manchmal Betrunkene erlebt; auch mein Partner Karchinger, von der Mutter
in rheinischer Fröhlichkeit aufgezogen, konnte bei Betriebsausflügen über den
Durst trinken und über die Stränge schlagen und die Lehrmädchen belästigen.
Ich habe dafür immer ein bisschen auf ihn herabgesehen. Ich habe auch auf
meine Frau ein [75] bisschen herabgesehen, wenn sie betrunken war. Zwar
kann sie von ihren Charaktereigenschaften und Lebensumständen her keine
Alkoholikerin gewesen sein; ich habe das nach ihrem Unfall nicht nur
gegenüber der Polizei, sondern auch gegenüber den Kindern klargestellt, die
mir sogar Vorwürfe machten – als sei die Erschütterung meines Lebens durch
ihren Tod nicht schlimm genug gewesen. Aber manchmal habe ich Alkohol in
ihrem Atem gerochen und waren ihr Gang und ihre Rede unsicher. Wenn sie
nachts so nach Hause kam oder ich sie so zu Hause fand, schlief ich in
meinem Arbeitszimmer. Ihr lautes Schnarchen war dann unerträglich.
Als ich gegen Abend aufstand, schämte ich mich. Ich ging in den
Gymnastikraum, lief auf dem Laufband und stemmte Gewichte. Ich war
alleine und fand zuerst den Schalter, der die Musik ausmachte, und dann den,
der die Jalousie hochfuhr. So hatte ich den Hafen und die Bay noch nie
gesehen. Der Himmel war dunkel, voller Wolken, die sich zu Bergen und
Gebirgen schichteten. Dazwischen gewitterten Blitze, manchmal vor den
Wolken und manchmal dahinter, manchmal zitternde Schrift und manchmal
grünlicher oder bläulicher oder weißer Wolkenrand. Auf dem schwarzen Meer
tanzten weiße Schaumkronen; kein Boot, kein Schiff war unterwegs.
Ich duschte, zog mich an, fuhr mit dem Lift in die Lobby und trat vor das
Hotel. Wie die Bay waren auch die Straßen leer. Ein Krankenwagen mit Sirene
und blinkenden Lichtern fuhr vorbei, als habe der Sturm ein erstes Opfer
gefordert. Sonst war es still. Kein Wind wehte. Die Wellen auf dem Meer –
nicht der Sturm peitschte sie auf, sondern das Meer kochte sie hoch.
[76] Ich fand die Ruhe vor dem Sturm bedrückend und sein endliches
Einsetzen befreiend. Er fegte durch die Straßen und über den Platz vor dem
Hotel und trieb Papier und Becher und Tüten und Dosen vor sich her –
wirbelnde Knäuel, die einander jagten und überholen wollten. Die Luft wurde
kalt, und dann brach das Eis vom Himmel, Hagelkörner, die lärmend auf das
Dach über dem Eingang schlugen, als wollten sie es platzen lassen. Ich trat
zurück in die Lobby und sah zu, wie der Hagel den Platz und die Straßen
bedeckte, eine weiße Schicht, von den neu aufschlagenden Körnern in
ständiger Bewegung gehalten.
Bedienstete und Gäste des Hotels redeten über das große Hagelgewitter
1999, die Millionen von Hagelkörnern, deren Durchmesser, die Schäden, die
Opfer. Was ich sah, war nur ein kleines Hagelgewitter.
Als der Hagel aufhörte und der Regen einsetzte, ging ich hinaus. Der Regen
fiel dicht, und nach wenigen Minuten war ich nass und war mir klamm. Aber
durch die Hagelkörner schlurfen, die der Regen schmolz, und in das Wasser
stapfen und platschen, dass die Tropfen spritzten – es war ein solches
Vergnügen, dass mich die nassen, kalten Füße nicht störten und nicht der
Schmerz in der Seite, als ich ausrutschte und hinfiel. Ich stand auf und ging
zum Hafen, wo der Regen und das Meer und das Land und der Himmel
ineinander verschwammen. Es war überwältigend. Eine Sintflut.
Dann wurde mir ungemütlich in der Kälte und Nässe, und ich ging zurück
zum Hotel. Ich habe den Sonntag vernünftig beendet, ruhig geschlafen und
den Montag vernünftig begonnen. Als der Chef der Detektei mich anrief,
nahm ich eine Taxe und fuhr hin.
[77] 24

Eine Sekretärin führte mich zu ihm, er kam hinter dem Schreibtisch hervor,
begrüßte mich, bot mir den Stuhl vor dem Schreibtisch an und zog sich
wieder hinter den Schreibtisch zurück. Er war, wie ich ihn mir vorgestellt
hatte: ein älterer Herr mit Bauch und Glatze. Wie alle Herren meines Alters mit
Bauch und Glatze machte er mich stolz darauf, dass ich keinen Bauch und
keine Glatze habe.
»Wir haben sie gefunden.« Er setzte sich bequem zurecht und wartete auf
eine Äußerung der Anerkennung.
Ich kenne das von Kollegen. Sie machen, was sie zu machen haben, womit
sie beauftragt wurden, wofür sie bezahlt werden, und können es nicht einfach
abliefern, sondern wollen gehätschelt und getätschelt werden. Manchmal
versuchen sie auch noch, es spannend zu machen, und lassen sich, was sie
abzuliefern haben, wie Würmer aus der Nase ziehen. Den Kollegen in meiner
Kanzlei habe ich solche Unarten ausgetrieben. Dem Chef der Detektei würde
ich sie nicht austreiben können. Ich nickte anerkennend und fragte gespannt:
»Wo ist sie?«
»Es war nicht einfach. Sie lebt zwar seit zwanzig Jahren hier. Aber…« Er
machte eine Pause, schüttelte den Kopf und fuhr erst fort, als ich fragend
wiederholte: »Aber?« – »Aber [78] sie ist illegal. Sie ist als Touristin eingereist
und hat sich um nichts gekümmert, Aufenthaltsgenehmigung,
Arbeitserlaubnis, Einbürgerung, Krankenversicherung, nichts. Wir haben nicht
verfolgt, wo sie in den zwanzig Jahren war und was sie gemacht hat. Heute
lebt sie an der Küste, nördlich von hier, drei, vier Stunden entfernt. Sie muss
Geld in Deutschland haben, sie bezahlt mit deutscher Kreditkarte. Deshalb ist
sie auch durch alle Maschen geschlüpft; wenn sie hier gearbeitet und ein
Bankkonto eröffnet und eine Kreditkarte bestellt hätte, hätte sie Papiere
vorlegen müssen, die sie nicht hat.«
»Unter welchem Namen ist sie hier?«
»Irene Adler. Ihr Mädchenname und ein Name, der in beiden Sprachen gut
klingt, Englisch wie Deutsch. Ihr Englisch soll perfekt sein.«
»Was wissen Sie über ihre Verbindung zur Art Gallery?«
»Sie hat dem Kurator ihr Bild angeboten, und er hat angenommen. Er hat
recherchiert und keine Probleme gesehen; das Bild wird in einem frühen
Werkverzeichnis von Karl Schwind erwähnt und nicht in der Liste weltweit
gestohlener Bilder geführt. Inzwischen signalisieren andere Museen Interesse,
und in dieser Woche bringt die New York Times einen großen Artikel über das
wiedergefundene Meisterwerk.«
Alles klang, als hätten seine Detektive jemanden in der Art Gallery
gefunden, der das Vertrauen des Kurators missbraucht und in dessen Akten
gesehen hatte, als hätten sie dann Einblick in die Akten der Einreisebehörde
genommen und sich schließlich ein bisschen da umgesehen und umgehört,
wo Irene Gundlach lebte. Ich hatte mehr erhofft. Ich [79] hatte gehofft, ich
erführe, wie sie gelebt hatte, wie sie jetzt lebte, wer sie jetzt war. Zugleich
wusste ich, dass die Hoffnung töricht war; ich hatte nicht danach gefragt,
sondern nur, ob das Bild ihr gehörte und ob sie in Australien lebte.
Ich bekam die Adresse, Red Cove in Rock Harbour, bedankte mich und
bezahlte. Auf dem Weg zum Hotel kaufte ich ein Paar Baumwoll- und ein Paar
Leinenhosen, Shorts und Hemden. Das Hotel besorgte mir einen Mietwagen,
und nachdem ich gepackt und auch hier mich bedankt und bezahlt hatte, fuhr
ich los.
[80] 25

Ich hätte es noch am Montag nach Rock Harbour schaffen können. Nachdem
ich die eine und andere heikle Situation beim Ab- und Einbiegen und
Überholen bestanden und mich an den Linksverkehr gewöhnt hatte, fuhr ich
beschwingt zuerst auf dem sechsspurigen Highway und dann auf der
zweispurigen Straße, die mal in größerem, mal in kleinerem Abstand der
Küste folgte. Bis mich auf einmal aller Mut verließ.
Ich fuhr an den Straßenrand, hielt an und stieg aus. Was wollte ich bei
Irene Gundlach oder Irene Adler? Ihr sagen, dass ich immer noch gekränkt
war? Ihr endlich in Person sagen, was ich ihr damals in Gedanken gesagt
hatte? Dass man Menschen nicht benutzt und dann fallenlässt? Dass ich zu
einfältig und zu ungeschickt für sie gewesen war, sie aber geliebt hatte und
dass man mit der Liebe eines anderen nicht spielt? Dass sie mir immerhin
einen Brief hätte schreiben können, eine Erklärung geben und die Kränkung
mildern?
Ich würde mich nur wieder blamieren. Vierzig Jahre war alles her, und sie
würde lächerlich finden, dass mich die Vergangenheit nicht losließ. Ich selbst
fand lächerlich, wie gegenwärtig sie mir war. Mir war, als wäre ich gestern
mit Irene auf der Bank am Main gesessen, als hätte ich sie gestern [81] mit
dem VW-Bus erwartet, als hätte sie mich gestern vor dem Dorf abgesetzt.
Und als würde ich, wenn ich mit ihr auf einer Bank säße, wieder der sein, der
ich damals war.
Geht das so mit den Dingen, die nicht zu Ende gekommen sind? Aber
Dinge kommen nicht zu Ende, man bringt sie zu Ende. Ich hätte die damalige
Episode zu Ende bringen, ich hätte ihr einen Sinn geben müssen. Dass es
ohne Irene mit meiner Frau nicht so erfolgreich gelaufen wäre – ich hatte es
mir einreden wollen, aber es stimmte nicht. Ich habe die Schulzeit und die
Zeit auf der Universität, die tote Mutter und den Vater, der mich noch ein paar
Mal bei den Großeltern besucht hat, dann nach Hongkong gezogen und dort
gestorben ist, zu den Akten gelegt als etwas, das war, wie es war, und nicht
anders hätte sein können. Warum bestand etwas in mir darauf, dass es mit
Irene anders hätte laufen können, als es gelaufen war?
Ich hatte auf einer Höhe angehalten. Nach Westen zogen sich Berge mit
Gestrüpp und Gesträuch und aufrechten und krüppeligen Bäumen, die
aufrechten Bäume mit hellen Stämmen, ohne Rinde, wie nackt, wie krank. Im
Osten begann hinter zwei Bergzügen das Meer. Ich ging über die Straße und
setzte mich auf die Böschung. Das Meer war scheckig, grau und blau, glatt
und rauh. In der Ferne machten zwei Schiffe Fahrt und schienen doch nicht
vom Fleck zu kommen.
Fahrt machen und nicht vom Fleck kommen – so fühlte ich mich. Dann
sagte ich mir, dass es nur so schien, als kämen die Schiffe nicht vom Fleck.
Vielleicht kam auch ich vom Fleck, obwohl es mir nicht so schien. Die
Flecken auf meinem Anzug kamen mir in den Sinn, und ich musste lachen.
[82] Die Flecken, die mich früher geschreckt hätten und seit dem Nachmittag
im Botanischen Garten nicht mehr schreckten! Doch, ich war vom Fleck
gekommen. Würde ich mich bei Irene Gundlach oder Irene Adler blamieren,
wär’s auch nur ein Flecken auf dem Anzug.
Die Sonne schien. Es roch nach Kiefer und Eukalyptus. Ich meinte, auch
das ferne Meer zu riechen, einen schwachen, feuchten, salzigen Hauch. Ich
hörte die Zikaden zirpen und manchmal im Tal den Motor einer Säge
aufheulen. Nein, ich würde mir keine Sorgen mehr machen. Ich würde am
nächsten Tag nach Rock Harbour fahren und heute am Meer ein Hotel finden
und auf der Terrasse dem Schauspiel des Einbruchs der Nacht zuschauen. In
Australien ist eben noch Tag, binnen Minuten wird der helle blaue Himmel
tiefblau, dann wird er schwarz, und es ist Nacht.
[83] 26

Rock Harbour hatte vier Straßen, einen kleinen Hafen mit ein paar Jachten
und Booten, ein Geschäft mit Café und Postschalter, ein Immobilienbüro und
einen eisernen Soldaten auf einem steinernen Sockel, der an die Gefallenen der
Weltkriege, des Korea- und des Vietnamkriegs erinnerte. Ich fuhr die Straßen
ab; sie waren leer, nicht wegen der frühen Stunde, wie ich zuerst dachte,
sondern weil die Sommerhäuser noch ohne Sommergäste waren. Ich fand
weder eine Straße noch ein Haus mit dem Namen »Red Cove«. Ich ging ins
Geschäft und fragte.
»Sie wollen zu Airien?« Der Mann mit weißer Haut, weißen Haaren und
rosa Augen, der neben der Theke auf einem Stuhl saß, legte ein Buch aus der
Hand und stand auf. Airien? Irene, drei kurze Silben, drei helle Vokale, drei
Töne eines Lieds, drei Walzerschritte – ein Name, der gesungen, der getanzt
werden will. »Airien« zieht sich wie ausgelutschtes Kaugummi. »Sie wohnt
eine Stunde von hier. Haben Sie ein Boot?«
»Ich bin mit…«
»Sie können nur mit dem Boot hin. Sie können hier auf sie warten, aber sie
kommt alle zwei Wochen und war gestern hier. Anrufen geht auch nicht, sie
hat keinen Empfang.«
[84] »Gibt es Schiffe, die an der Küste…«
Er lachte. »Eine Küstenschifffahrtslinie? Nein, gibt es nicht. Mein Junge
kann Sie mit dem Boot hinbringen. Er kann Sie auch abholen, wenn Sie
wissen, wann Sie abgeholt werden wollen.«
»Anrufen, wenn ich…«
»Nein, anrufen geht nicht.«
»Kann Ihr Junge mich gleich hinbringen? Und heute Abend abholen?«
Diesmal hatte der Mann mich ausreden lassen.
Er nickte und lud mich ein, an einem der Tische unter dem Vordach auf
seinen Sohn Mark zu warten. Ich setzte mich und hörte ihn telefonieren, dann
brachte er zwei Bier, setzte sich zu mir und stellte sich vor. Er hatte in Sydney
gelebt, genug von der Stadt gehabt und war vor sieben Jahren
hierhergezogen. Er liebte das Meer, die Ruhe, das Aufwachen des kleinen
Orts zur Saison, den Trubel der Sommermonate, die Nachsaison, in der sich
Künstler und Schriftsteller gerne für ein paar Wochen billig einmieteten, die
Rückkehr der Ruhe. Alle kamen zu ihm, die jungen Familien, die Großeltern,
die Teenager, die Künstler.
»Da leben, wo sie lebt, wäre nicht meine Sache. Es ist dort schön. Aber
Schönheit alleine… weit und breit keine Menschenseele… Was bringt Sie zu
ihr?«
»Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Ich weiß.« Er lachte. »Sonst hätten Sie mich schon getroffen. Wann
haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Vor vielen Jahren.«
Er ließ es gut sein. Mark kam, brachte mich zum Boot, einer altertümlichen
Barkasse, warf den Motor an und legte [85] ab. Er stand in der Kajüte und
steuerte, ich saß auf der Bank vor der Kajüte und hielt mein Gesicht in die
Sonne und den Wind. Die Berge und Buchten der Küste sahen alle gleich aus,
in sanftem Gleichmaß hob und senkte sich das Boot und klatschte auf das
Wasser, und in ebenso ruhigem Gleichmaß tuckerte der Motor. Ich schlief
ein.
[87] ZWEITER TEIL

Ich wachte auf, als Mark den Motor abstellte. Das Boot trieb in eine Bucht
und auf eine Mole zu. Kurz bevor wir sie erreichten, warf Mark den Motor
noch mal an, steuerte das Boot an das Ende der Mole und legte an.
»Heute Abend um sechs?«
»Ja.« Ich sprang aus dem Boot. Mark legte ab und fuhr davon. Ich sah ihm
nach, bis er um die Spitze der Bucht gefahren und nicht mehr zu sehen war.
Dann drehte ich mich um.
Das Haus am Strand war einstöckig, aus Stein, das Vordach von steinernen
Säulen getragen und das Dach mit steinernen Ziegeln gedeckt. Es sah aus, als
stünde es schon lange da und wolle auch da bleiben. Als hätten mit ihm Kultur
und Zivilisation einen Ort in der Wildnis erobert, den sie behaupten und
verteidigen würden.
Als ich über die Mole auf das Haus zuging, sah ich noch ein Haus, aus
Holz, zweistöckig, so an den Hang gebaut, dass der Blick in die Weite des
Meeres ging, und so zwischen den Bäumen versteckt, dass man es aus der
Ferne nicht sah. So endgültig das eine Haus auf dem Strand saß, so vorläufig
hing das andere am Hang. Das untere Geschoss stützte sich auf Stämme, die
so schief standen, dass das Auge erschrak. Dach und Balkon hingen durch,
und manche [88] Fensterfassungen waren so verzogen, dass die offenen
Fenster unmöglich zugezogen werden konnten. Alle Fenster, alle Türen
standen auf. Aus einem der Fenster flatterte ein Vorhang.
Die Tür des Hauses am Strand war zu. Ich klopfte, wartete, ging
schließlich hinein und trat in einen großen Raum mit einem alten eisernen
Ofen und einem alten eisernen Herd, einer Anrichte, einem Tisch und ein paar
Stühlen und durch eine Tür in einen zweiten, kleinen Raum mit einem Bett,
einem Nachttisch und einem Schrank. Die Räume sahen unbewohnt aus –
wohnte Irene in der warmen Jahreszeit oben und nur in der kalten hier? Aus
dem großen Raum führte eine weitere Tür hinter das Haus zu einer
Wasserpumpe und einem Klohäuschen.
Ich sah zum anderen Haus hoch. Nichts hatte sich verändert, immer noch
standen alle Fenster und Türen auf und flatterte der Vorhang im Wind. Ich
spürte, dass ich Irene auch oben nicht finden würde. Ich könnte von Zimmer
zu Zimmer gehen, »Irene« rufen, sehen, wie sie wohnte, Schlüsse ziehen, wie
sie lebte, aber das wollte ich nicht. Am Hang hatte sie eine Terrasse gebaut
und einen Garten mit Salat, Tomaten- und Bohnenstauden und
Himbeersträuchern angelegt. Er musste gegossen werden.
Auf einmal sah alles leblos aus. Verlassen. Als sei, wer hier gewohnt hatte,
überstürzt aufgebrochen, um nicht zurückzukehren. Mochte der Wind durch
das Haus fegen, der Regen in die Zimmer dringen, mochten die Böden faulen
und die Stützen brechen. Der flatternde Vorhang erinnerte mich an
Ruinenbilder, bei denen eine Bombe die Seite eines Hauses weggerissen und
die Wohnungen mit Möbeln und Bildern und Vorhängen entblößt hat.
[89] Die Sonne verschwand hinter den Wolken, vom Meer wehte ein kühler
Wind, und das Wasser der Bucht lag grau und kalt. Ich zog den Pullover an,
den ich über die Schultern gehängt hatte, und fror immer noch. Auf dem Bett
fand ich eine muffig riechende Wolldecke, schlug sie um mich, setzte mich
auf die Bank unter dem Vordach, lehnte den Kopf an die Wand und wartete.
[90] 2

Ich hörte Irenes Boot nicht kommen. Ich war wieder eingeschlafen. Ich hörte
Irene erst, als sie neben mir saß und sagte: »Mein tapferer Ritter!«
Ich ließ die Augen geschlossen. Ihre Stimme klang wie damals, dunkel und
rauchig, und wie damals wusste ich nicht recht, was in ihrer Stimme
schwang. Machte sie sich über mich lustig? Schon wollte ich mich empören,
aber empört wollte ich doch nicht anfangen. »Tapfer? Der Ritter ist müde, er
ist hungrig und durstig. Gibt es bei dir etwas zu essen und zu trinken?« Ich
machte die Augen auf und sah sie an.
Sie lachte und stand auf. Auch das Lachen erkannte ich wieder, im Ton
und im Gesicht, in den zusammengekniffenen Augen, dem Grübchen in der
Wange, dem schiefen Mund. Als sie ernst wurde, sah ich, dass ihre Augen
graublau waren – ich hatte damals nur registriert oder mir jedenfalls gemerkt,
dass sie hell waren. Ich sah auch die vielen Falten auf der Stirn und in den
Wangen, die schweren Lider, die welke Haut und das dünne Haar. Irene war
alt geworden, und ich weiß nicht, ob ich sie wiedererkannt hätte, wenn wir
uns auf der Straße begegnet wären. Aber wie die Stimme und das Lachen
erkannte ich auch die Geste wieder, mit der sie ihr Haar raffte und hinter die
Ohren schob, und die Art, [91] wie sie ihren Kopf hielt. Um die Taille war sie
schwerer geworden, und ich fragte mich, ob die Schüler und Schülerinnen
recht hatten und schon immer Irenes Hüften ein bisschen breit und ihre
Schenkel ein bisschen dick waren. Sie trug Jeans, ein T-Shirt und darüber,
wie eine Jacke, ein wollenes kariertes Hemd. Sie hatte einen Eimer mit
Fischen, die sie gefangen hatte, neben sich abgestellt; ich nahm ihn und folgte
ihr zum oberen Haus.
Als es den Berg hinauf ging, zuerst auf einem Pfad und dann auf einer
hölzernen Treppe, wie sie von Dünen an den Strand führen, atmete Irene
schwer, stützte sich auf meinen Arm und musste mehrmals stehen bleiben.
»Vielleicht ziehe ich wieder ins untere Haus«, sagte sie, als wir im Haus
waren, »im Winter ist es kalt, aber im Sommer schön kühl.«
»Es hat einen Ofen.«
Sie sah mich an, ich wusste nicht, ob noch prüfend oder schon enttäuscht,
wusste aber, was sie dachte. Der Rechtsanwalt, dachte sie, der nicht einfach
zuhören kann, sondern mich belehren muss, dass ich einen Ofen habe, als
wüsste ich es nicht selbst.
»Das war eine dumme Bemerkung.«
Sie lächelte. »Hier oben braucht es im Winter meistens keine Heizung. Aber
unten speichern die Steinmauern die Kälte. Es war eine Poststation, vor mehr
als hundert Jahren für die Farmen im Hinterland gebaut. Es gibt die Farmen
schon lange nicht mehr; der Boden ist schlecht, und die Farmer haben einer
nach dem anderen aufgegeben. Heute ist das Hinterland ein
Naturschutzgebiet. Ich glaube, das letzte Postboot kam Weihnachten 1951.«
Sie machte mit dem Arm eine [92] ausholende Bewegung, die dem Raum galt,
in dem wir standen, der schiefen Tür, den schiefen Fenstern, den schiefen
Pfosten, die das obere Geschoss trugen, und der schiefen Treppe, die
hinaufführte. »Du musst mir nicht sagen, dass alles bald zusammenbricht.
Ich weiß es selbst. Aber noch ist es nicht so weit.«
Der Raum, zugleich Küche, Ess- und Wohnzimmer, nahm das ganze untere
Geschoss ein. Mit einem Herd mit sechs Kochstellen, einem Esstisch für
zwölf Personen und drei Sofas war er für Irene viel zu groß. Ich versagte mir
die Frage, was es damit auf sich hätte, ließ mir zeigen, wie man Fische
entschuppt, schälte Kartoffeln, wusch Salat und machte eine Salatsoße. Ich
kann nicht kochen, aber mir gelingen Salatsoßen. Irene fragte mich, was ich
in Sydney gemacht hätte, was ich in Frankfurt machte, fragte mich nach
Frau und Kindern und ob ich mit meinem Leben zufrieden sei. Ich wollte
eigentlich von mir nicht mehr preisgeben als sie von sich, aber sie wendete
meine wenigen Fragen, die ich zwischen ihren vielen stellen konnte, sogleich
in Rückfragen und gab nichts von sich preis. Und doch war, als wir
schließlich auf dem Balkon saßen und aßen, ein bisschen Vertrautheit
entstanden – durch das Kochen und das Reden und die Berührungen, die sich
ergaben, weil ich sie hielt, als sie auf eine kleine Leiter trat und eine Flasche
Öl aus einem hohen Schrank holte, und weil ich ihr beim verstopften Abfluss
und bei einer klemmenden Schublade half.
Ich sah das Boot, ehe ich es hörte. Ich hatte die ganze Zeit nicht auf die
Uhr geschaut. Als das Tuckern des Bootes zu hören war, sagte Irene: »Du
bist doch nicht nur so gekommen. Wann willst du reden?«
»Ich komme morgen wieder.«
[93] »Du kannst hierbleiben. Oben gibt’s sechs freie Zimmer. Ich finde
einen Schlafanzug für dich und frische Wäsche und einen Overall, damit du
dich nicht schmutzig machst, wenn du mir morgen hilfst.«
Also ging ich an die Mole und redete mit Mark. Er fragte mich, ob ich ihm
nicht den Autoschlüssel geben wolle. Dann könne er morgen mein Gepäck
mitbringen. Falls ich noch länger bliebe.
[94] 3

Als ich wieder auf dem Balkon war, hatte sie den Tisch abgeräumt und eine
Flasche Rotwein aufgemacht.
»Wollte Schwind alle seine Bilder behalten oder nur das mit dir?« Ich wollte
nicht mit der Tür ins Haus fallen.
»Er wollte die Bilder behalten, über die er sich als Künstler definierte. Er hat
nicht mal dieses Bild gemalt und mal jenes. Er wollte Antworten geben auf die
heutigen Fragen der Malerei: was sie als gegenständliche und als abstrakte
leistet, wie sie zur Fotografie steht, wie sich Schönheit und Wahrheit
zueinander verhalten.«
»Das Bild mit dir…«
»Es sollte Marcel Duchamps widerlegen. Kennst du den ›Akt, eine Treppe
herabsteigend‹? Eine kubistische Gestalt, in die Momente des Herabsteigens
aufgelöst, ein Wirbel von Beinen, Gesäßen, Armen und Köpfen? Duchamps
Bild galt als das Ende der Malerei, und Schwind wollte beweisen, dass eine
nackte Frau, die Treppe herabsteigend, nach wie vor gemalt werden kann.«
Ich verstand nicht. »Wie soll, was Duchamp gemalt hat, das Ende der
Malerei sein?«
Sie lächelte. »Du bist gekommen, um endlich moderne Kunst zu
verstehen?« Sie lächelte freundlich. Aber hinter [95] der Freundlichkeit
verbarg sich etwas, das ich nicht deuten konnte. War es Verachtung,
Abweisung, Müdigkeit? Dass man, wenn man sehr müde ist, sagt, man sei
todmüde, fiel mir ein, und dass man, wenn man todmüde ist, doch voller
Leben ist, und wenn man lebensmüde ist, schon dem Tod nahe.
»Ich will verstehen, was damals war. Ich habe es dir leicht gemacht. Aber
du hast mich benutzt und es mich dann auch noch deutlich spüren lassen. Du
hättest anrufen oder einen Brief oder eine Karte schreiben können. Warum
hast du, wenn du meintest, mich benutzen und verletzen zu müssen, es
nicht…«
»… freundlich verpacken können?« Jetzt sprach sie mit offener
Verachtung. »Für Gundlach war ich die junge, blonde, schöne Trophäe, bei
der nur die Verpackung zählte. Für Schwind war ich Inspiration, auch dafür
langte die Verpackung. Dann kamst du. Die dritte blöde Frauenrolle; nach dem
Weibchen und der Muse die bedrohte Prinzessin, die vom Prinzen gerettet
wird. Damit sie nicht in die Hände der Schufte fällt, nimmt der Prinz sie in
seine Hände. Denn in eines Mannes Hände gehört sie nun einmal.« Sie
schüttelte den Kopf. »Nein, nach freundlichem Verpacken war mir damals
nicht.«
»Ich habe dir keine Rolle aufgenötigt. Als ich dich damals angesprochen
habe, hättest du mich freundlich abweisen und deiner Wege gehen können.«
»Freundlich abweisen…«
»Du hättest mich auch unfreundlich abweisen können. Jedenfalls musstest
du mich nicht benutzen.«
Sie nickte müde. »Rollen machen dich berechenbar, [96] austauschbar,
benutzbar. Der Prinz, der die Prinzessin rettet – du hast mich ebenso benutzt
wie Gundlach und Schwind.«
Wir beschäftigen in unserer Kanzlei mehr Frauen, als der statistische
Durchschnitt verlangt. Wir unterhalten zusammen mit dem Steuerberater
unter und dem Wirtschaftsprüfer über uns einen eigenen Kindergarten. Ich
habe die Karriere meiner Frau gefördert und meiner Tochter nach dem
Kunstgeschichts- noch ein Jurastudium bezahlt. Mir hat niemand
feministische Lehren zu erteilen.
»Willst du mir weismachen, du hättest nur zwischen Trophäe, Muse und
Prinzessin wählen können? Zwischen dem, was Gundlach, Schwind und ich
von dir wollten? Mit deinem Geld und deinem Beruf hattest du jede Chance,
dich selbst zu erfinden. Schiebe die Verantwortung…«
»Verantwortung? Du willst gar nicht verstehen, du willst verurteilen.« Sie
sah mich ungläubig an. »Ist es das, was für dich zählt? Dass du mich
verurteilen kannst? Dass du dir nichts vorwerfen musst? Die Summe deines
Lebens kann doch nicht dein Freispruch sein! Du hast gearbeitet, geliebt,
geheiratet, Kinder…«
Ich verstand nicht. »Ich wollte nur sagen…«
»Wird man so, wenn man ein Leben lang mit dem Recht zu tun hat? Es
geht nicht mehr darum, wer man ist, sondern dass man im Recht ist? Und der
andere im Unrecht?«
Ich verstand noch immer nicht, was sie von mir wollte. Es war Nacht
geworden, wieder binnen Minuten. Aber die Nacht war nicht schwarz, der
Mond ließ die Blätter der Bäume silbern leuchten und das Meer glitzern. Er
schien auf Irenes Gesicht und zeichnete jede Falte, jede welke Stelle, jeden
müden Zug so mitleidslos deutlich, dass ich Mitleid [97] mit ihr bekam – und
mit mir. Wir waren alt, es war alles lange her. Was plagte ich sie, was plagte
ich mich mit der alten Geschichte!
Aber so leicht konnte ich von der alten Geschichte doch nicht lassen.
Gerade als ich es mir eingestand, sagte sie: »Es tut mir leid, dass ich dich
damals verletzt habe. Ich fühlte mich so eingesperrt, dass ich nur ausbrechen
wollte und mir alles andere egal war. Wenn ich zurückdenke… was für ein
Kind du noch warst.«
[98] 4

Wenn ich damals noch ein Kind war, was war ich jetzt? Als ich im Bett lag,
ließ Irenes Bemerkung mich nicht schlafen. Natürlich weiß ich viel mehr als
damals über die Menschen und wie man ihnen begegnet, was man ihnen
schuldet und was man sich von ihnen nicht bieten lassen darf, wie es bei
Verhandlungen zugeht und wie vor Gericht. Aber im Ansatz habe ich das auch
damals gewusst, und wie ein Kind habe ich mich dabei nicht gefühlt.
Das kleine Zimmer, das Irene mir gegeben hatte, ging zum Meer. Wenn ich
aufmerkte, hörte ich in der Stille die Wellen am Ufer; sie rauschten auf den
Strand und strömten beim Zurückfließen klirrend durch die Kiesel. Im
Zimmer war es mondhell; deutlich sah ich Schrank, Stuhl, Spiegel.
Wenn ich aufmerkte, meinte ich, auch Irenes Atem zu hören. Eigentlich
konnte das nicht sein; zwischen ihrem und meinem Zimmer lag noch eines.
Aber wenn ich nicht ihren Atem hörte, dann hörte ich den Atem des Hauses,
und das konnte erst recht nicht sein. Ein stetes, schweres Ein- und
Aushauchen. Dann hörte ich draußen ein Tier schreien, ein Gellen, das
abbrach, als erwache das Tier aus einem Albtraum oder erstarre vor etwas
Furchtbarem.
Oder es war vor dem Wind erschrocken, der plötzlich [99] aufkam. Er
kündigte sich nicht an; wie aus dem Nichts blies er um das Haus und rüttelte
an ihm, dass das Gebälk knarrte. Ich stand auf und ging ans Fenster und
erwartete erste Tropfen. Aber der Himmel war klar, und der Mond schien.
Der Wind brachte keinen Regen, sondern beugte nur die Bäume und ließ das
Haus ächzen.
Er war mir unheimlich. Er brachte keine Wolken und keinen Regen, hatte
kein Recht, sich aufzuspielen, aber spielte sich auf. Er blies mich nicht an und
fuhr doch um mich und durch mich und ließ mich meine Hinfälligkeit spüren,
wie er das Haus seine Zerbrechlichkeit spüren ließ. Dann wurde mir noch
unheimlicher. Auf dem Balkon hockte eine Gestalt und wandte mir das
Gesicht zu. Ein Junge mit dunkler Haut, kurzen Haaren, breiter Nase und
breitem Mund, die Füße auf dem Boden, die Knie gebeugt und das Gesäß über
dem Boden. Ich würde rücklings umfallen, dachte ich, wenn ich so hocken
würde, und dass seine Augen tief liegen mussten, weil ich das Weiße in ihnen
nicht sah. Ich sah, dass er seinen Blick auf mich gerichtet hatte, unbeweglich,
unergründlich.
Sollte ich Irene wecken? Aber dass der Junge uns zu überfallen plante,
alleine oder gemeinsam mit anderen, oder dass er das Haus anzünden wollte –
es passte nicht zu dem ruhigen Hocken und dem hellen Mond und dem
Rauschen des Windes. Mir war nicht unheimlich, weil ich Angst hatte. Mir
war unheimlich, weil ich nicht begriff, was es mit allem hier auf sich hatte,
dem Jungen, dem Wind, dem, was Irene gesagt hatte, dem, was mich hier
hielt.
[100] 5

Als ich aufwachte, war der Himmel noch blass. Ich hörte ein lautes
Rauschen, trat ans Fenster und sah einen Schwarm schwarzer, flatternder
Vögel, der über den Bäumen kreiste, nah und laut oder fern und leise, und
wenn er fern und leise war, hörte ich die anderen Vögel, die immer wieder die
gleichen zwei oder drei Töne sangen oder immer wieder den gleichen kurzen
Krächzer ausstießen oder immer wieder das gleiche zitternde Stakkato
piepsten, mit, so klang es mir, verzweifelt aufgesperrten Schnäbeln, bis der
Schwarm wieder heranwogte und sie übertönte.
Auf dem Stuhl lag ein Overall, wie gestern auf dem Bett der Schlafanzug
gelegen hatte. Ich hörte Irene langsam die Treppe hinuntergehen und sich in
der Küche zu schaffen machen und zog mich an.
Beim Kaffee erklärte mir Irene, ihr Jeep habe einen platten Reifen, die
Kurbel des Wagenhebers sei gebrochen, ich müsse den Jeep anheben, damit
sie einen Stein drunterschieben und das Rad wechseln könne.
»Mir wurde gesagt, zu dir führt keine Straße.«
»Als das Gebiet unter Naturschutz gestellt wurde, wurden seine Straßen
aufgegeben. Da, wo sie in das Straßennetz mündeten, wurden sie abgesperrt.
Aber für einen Jeep [101] genügen die alten Spuren, und die Absperrungen
kann man umfahren. Wir hier drin wissen, wie wir rauskommen, die da
draußen zum Glück nicht, wie es reingeht.«
»Wir?«
»Es gibt noch zwei Höfe. Ich muss nachher hin.«
Der Jeep war zu schwer für mich. Die Holzstange, die ich als Hebel
benutzen wollte, brach. Schließlich fand ich ein eisernes Rohr, konnte den
Jeep hochhebeln, und Irene schob einen Stein darunter. Der Rest war einfach,
auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, wann ich das letzte Mal ein Rad
gewechselt hatte.
Auf der Fahrt fragte ich Irene nach dem Jungen, der nachts auf dem
Balkon gehockt hatte. Kari habe früher bei ihr gewohnt und komme
manchmal vorbei und sehe nach dem Rechten. Sie merkte, dass ich mehr
wissen wollte.
»Ich habe früher verlassene, streunende, drogen- oder alkoholabhängige
Kinder bei mir aufgenommen. Nicht offiziell, nicht übers Sozial- und
Jugendamt, ich bin ja selbst nicht offiziell hier, sondern weil es sich unter den
Kindern herumsprach. Manche kamen für ein paar Tage oder Wochen, um ein
bisschen auszuruhen, manche blieben ein, zwei Jahre. Ein paar haben danach
den Absprung zurück auf die Schule oder in eine Stelle geschafft. Andere
kamen später wieder vorbei und waren schlimmer dran als davor. Wenn sie
noch nicht achtzehn waren, habe ich sie wieder aufgenommen. Niemand über
achtzehn, das war die eiserne Regel.«
»Wie viele Kinder hattest du?«
»Das Haus hat sieben Zimmer, und in jedem wohnte ein Kind, selten zwei.
Ich wohnte unten.«
»Wovon habt ihr gelebt?«
[102] »Wir hatten Hühner und Ziegen, haben allerlei angebaut, die Höfe
haben geholfen, und manchmal haben die Kinder gestohlene Sachen
mitgebracht. Sie haben gelernt, dass man teilen muss und nicht für sich
stehlen darf, nur für die Gruppe.«
Es war ein holpriges Gespräch. Irene fuhr schnell und sicher, über Stock
und Stein, durch ausgewaschene Bachbetten und ausgetrocknete Tümpel,
manchmal mitten durchs Gestrüpp; immer wieder verlor sich die Spur, immer
wieder fand sie sich. Es warf mich hoch und hin und her, ich stemmte den
Fuß gegen die Seite und hielt mich am Sitz fest und hätte mich wohler
gefühlt, wenn der Jeep ein Dach oder auch nur eine Tür gehabt hätte. Aber er
war offen, ein alter Jeep wie aus einem Kriegsfilm.
»Woher hast du den Jeep?«
Sie lachte. »Gestohlen. Am Anfang haben wir alles schleppen müssen.
Eines Tages brachten Arunta und Arthur den Jeep, den ein Sammler in der
Garage stehen hatte. Sie waren ein Jahr bei mir gewesen und achtzehn
geworden und wussten, dass sie nicht bleiben konnten. Aber sie wollten uns
anderen das Leben leichter machen.« Sie lachte wieder. »Ich halte nichts vom
Sammeln. Du?«
Dann erreichten wir ein Tal mit einem kleinen Fluss, der kaum noch
Wasser führte, und Wiesen und Bäumen und Kühen, die sich im Schatten
einer Weide gesammelt hatten, wie auf dem Gemälde eines Holländers aus
dem 17. Jahrhundert. Am Ende des Tals lag der erste Hof. Ein großes
Holzhaus, zwei Scheunen, ein paar junge Männer und Frauen, viele Kinder,
Schweine und Hühner – ich wurde kurz begrüßt und nicht weiter beachtet.
Irene ging ins Haus, und nach [103] einer Weile folgte ich ihr. Ich fand sie in
der Küche; sie nahm einem Mädchen einen Verband von der Schulter,
untersuchte die Wunde, tat aus einem Döschen eine Salbe drauf und legte
einen neuen Verband an. »Sie wollte mit der Schulter durch die Wand«, sagte
sie, als sie mich sah, »sie macht es nicht noch mal. Nicht wahr, du machst es
nicht noch mal?« Das Mädchen schüttelte den Kopf.
Der andere Hof wirkte verlassen. Die alte Frau, die die Tür aufmachte,
warf mir einen misstrauischen, feindseligen Blick zu, nahm Irene bei der
Hand, zog sie ins Haus und machte die Tür wieder zu. Ich saß im Jeep, sah
auf das verkommene Haus, die verfallene Scheune und das verrostete Gerät
und wehrte mich gegen die Trübsal, die über dem Hof lag und sich auch über
mich legen wollte.
[104] 6

»Er macht es nicht mehr lange«, sagte Irene, als sie wieder neben mir saß.
»Und dann?«
Sie fuhr los. »Dann macht auch sie es nicht mehr lange, und die jungen
Leute vom anderen Hof übernehmen hier endlich. Sie hätten es schon lange
getan und würden sich auch um die Alten kümmern, aber die wollen nicht.
Sie sind gehässig geworden.« Sie zuckte die Schultern. »Wir hier sind nicht
besser als ihr draußen. Am Anfang dachte ich es, aber es stimmt nicht.«
»Bist du Ärztin geworden?«
»Krankenschwester. Für das meiste reicht es. Wenn es Geräte braucht,
würde mir auch nicht helfen, wenn ich Ärztin wäre.«
Ich stellte mir die Situationen vor, den entzündeten Blinddarm, den
Herzinfarkt, den Krebs. Ich fragte mich, wie die Kinder unterrichtet wurden
und wie Stifte und Papier und Bücher hierherkamen. Was mochten die
Menschen hier sonst noch von draußen brauchen? Was verband die
Menschen auf dem ersten Hof? Waren es junge Familien, die einfach im
selben Haus wohnten, eine Kommune, eine Sekte? Was hatte Irene hier
gesucht, was gefunden?
[105] »Ich habe andere schlimmer benutzt als dich.«
»Hast du sie um ihr Geld gebracht? Um ihren guten Ruf? Um ihr Leben?«
Ich sagte es leichthin, das eine kam mir so absurd vor wie das andere.
Sie lachte.
Ich mochte ihr Lachen nicht. Sie lachte, wie man über einen schlechten
Witz lacht oder über einen üblen Streich oder über ein Unglück, über das man
eigentlich weinen müsste.
Sie sagte nichts. Ich wusste auch nichts zu sagen. Obwohl die Fahrt durch
das Gelände nicht nach Konversation verlangte, stand das Schweigen laut
zwischen uns. Als wir angekommen waren und sie geparkt hatte, blieb sie
sitzen.
»Hilfst du mir in mein Zimmer? Ich schaffe es alleine nicht.«
Der Jeep hatte seinen Platz oberhalb des Hauses, und auf dem Weg nach
unten stützte sie sich zuerst auf meinen rechten Arm, dann musste ich beide
Arme um sie legen und sie halten und führen. Die Treppe im Haus war steil
und eng; Irene meinte, weil sie alleine oft wie ein Hund hochgehe, auf allen
vieren, könne sie sich von mir auch wie ein Hund hochtragen lassen. Ich
nahm sie auf, trug sie hoch und legte sie in ihrem Zimmer aufs Bett.
»Es tut mir leid«, sagte sie, »ich habe mich übernommen. Wenn ich alles
ruhig und langsam mache, geht’s. Aber ich kann das schlecht. Ich übernehme
mich, und dann machen meine Beine schlapp und wollen mich nicht mehr
tragen, und manchmal will auch mein Kopf nicht mehr.«
Ich holte den Stuhl und setzte mich ans Bett. »Was hast du?«
»Mein tapferer Ritter«, sie lächelte, »nichts, wovor du [106] mich retten
könntest. Lass mich einfach ein bisschen schlafen.«
Sie schloss die Augen. Ihr Atem wurde gleichmäßig, manchmal flatterten
die Augenlider, manchmal fuhren die Hände über den Bauch, in den
Mundwinkeln sammelte sich Spucke. Sie roch krank, anders krank als meine
Kinder rochen, wenn sie ihre Kinderkrankheiten und später Grippe, Erkältung
oder Bauchweh hatten. Irene roch streng, fremd, abstoßend.
Was machte ich noch hier? Ich wusste, was ich hatte wissen wollen. Ihr
tat sogar leid, dass sie mich damals benutzt hatte – was wollte ich mehr?
Ich stand leise auf und ging aus dem Zimmer und aus dem Haus und
hinunter an den Strand. Auf der Mole lag mein Gepäck, im Reißverschluss
meiner Reisetasche steckte ein Zettel. Mark war am Vormittag gekommen,
weil er am Nachmittag und Abend verhindert war; er habe mich nun nicht
angetroffen und abholen können, aber immerhin das Gepäck mitgebracht.
[107] 7

Ich setzte mich wieder auf die Bank unter dem Vordach des Hauses am
Strand. Während ich an Irenes Bett gesessen hatte, waren Wolken
aufgezogen. Regenwolken? Ich fror und holte die muffige Decke. Wieder hier
sitzen, wieder frieren, wieder die muffige Decke riechen – mir war, als stehe
die Zeit still und ich mit ihr.
Nein, Irene würde nicht hier und nicht so leben, wenn sie jemanden um
sein Geld gebracht hätte. Um den guten Ruf – wenn sie jemanden um den
guten Ruf gebracht und keine Zeitung darüber berichtet hatte, konnte es nicht
schlimm sein. Um das Leben – auch darüber hätte ich in der Zeitung gelesen.
Oder hatte sie den perfekten Mord begangen? Irene?
Ich hatte noch nie den Wunsch, jemanden umzubringen, nicht
Konkurrenten oder Gegner, weder Kinderschänder und -mörder noch
Pinochet oder Kim Jong-il. Nicht dass ich den Wert des Lebens so hoch
ansetzte. Er bleibt für mich ein Rätsel. Wie kann man richtig bewerten, was
der, der es verloren hat, nicht vermisst? Aber ich verabscheue
Gewalttätigkeit, und auf jemanden einschlagen oder einstechen, bis er stirbt –
es ist einfach abscheulich. Dass einer, statt auf sein Opfer einzuschlagen oder
einzustechen, aus Distanz [108] die Bombe zündet, die das Opfer zerfetzt, ist
nicht weniger abscheulich. Vielleicht ist es sogar abscheulicher: eine
Gewalttätigkeit, die sich aller Regungen und Hemmungen, die aus der Nähe
der Menschen zueinander resultieren, entledigt hat.
Ich hatte auch noch nie mit Mördern zu tun. Meine Kanzlei übernimmt
keine Strafverteidigungen. Aber ich konnte mir Irene als Mörderin
schlechterdings nicht vorstellen. Sie wusste sich zu beherrschen, sie wusste
sich durchzusetzen. Nichts fiel mir ein, das sie zu einem Mord hätte treiben
können. Wenn auch ihr zweiter Mann in ihr nur eine Trophäe gesehen hätte,
wie ihr erster, wenn auch ihr nächster Geliebter sie wieder hätte benutzen
wollen, wenn der Vorgesetzte, dessen Avancen sie abgewiesen hatte, sie
zurückgesetzt oder der Nachbar sie im Treppenhaus belästigt hätte – gegen
alles hätte Irene sich zu helfen gewusst. Wenn ein Überfall oder ein Anschlag
auf Irene den Angreifer das Leben gekostet hätte, wäre es Notwehr gewesen,
nichts, was man ihr vorwerfen könnte und sie sich vorwerfen müsste.
Wovon also hatte sie geredet?
Ich machte den gleichen Fehler wie damals. Damals meinte ich zu wissen,
wer sie war, und wusste doch nichts. Unsere Nähe hatte nur in meiner
Phantasie existiert. Und schon wieder meinte ich, ich könnte mich in sie
hineindenken und hineinfühlen. Sie sei mir nah. Warum? Nur weil sie nackt in
mein Leben getreten war? Auf einem Bild?
Ich stand auf, faltete die Decke, ging hinauf zum Haus am Hang und in die
Küche. Im Vorratsschrank fand ich Spaghetti, Dosen mit Tomaten und ein
Glas mit Oliven, im Gewürzregal Anchovis und Kapern. Das Kochen ging mir
[109] nicht leicht von der Hand, aber ich hatte keine Eile. Als ich Irene
aufstehen und zur Treppe gehen hörte, war der Tisch gedeckt und das Essen
fertig. Ich half ihr die Treppe hinunter, führte sie an den Tisch und tat ihr auf.
Sie sah mir zu; ich war stolz, und sie sah meinen Stolz und lächelte.
»Du bist noch da.«
»Das Boot kam, als wir unterwegs waren, hat mein Gepäck abgestellt und
ist zurückgefahren. Jetzt musst du mich nach Rock Harbour bringen.«
»Wann?«
Ich zuckte die Schultern. »Morgen?«
»Wann du willst.«
[110] 8

Das ärgerte mich. Hätte sie nicht sagen können: Du musst noch nicht gehen,
du kannst noch bleiben? »Musste es eigentlich damals zwischen uns laufen,
wie es gelaufen ist? Hätte es auch anders laufen können?«
Sie sah mich erstaunt an. »Mein tapferer…«
»Lass den tapferen Ritter. Ich habe dich geliebt. Du hast mir damals
gesagt, ich hätte noch nie geliebt, erinnerst du dich, und so war es, ich hatte
noch nie geliebt. Mit dir war es das erste Mal, und ich habe mich nicht
besonders geschickt angestellt, ich weiß, ich beschwere mich nicht, das wäre
albern. Ich will nur wissen, ob ich damals etwas besser hätte machen können
und ob es dann zwischen uns geklappt hätte.«
»Du meinst, ob ich dein Frankfurter Leben mit Kanzlei und guter
Gesellschaft und Tennis und Golf und Opernabonnement hätte teilen können?
Ich kann…«
»Wir hätten nach Amerika ziehen können, USA oder Brasilien oder
Argentinien, und ich hätte mit Schwung neu angefangen und die Sprache und
das Recht gelernt und dort…«
»…auch bald eine gutgehende Kanzlei gehabt und zur guten Gesellschaft
gehört…«
»Was ist daran falsch?«
»Hast du jemals normale Menschen vertreten, Arbeiter, [111] Mieter,
Patienten, die um ihre Gesundheit gebracht, Frauen, die von ihren Männern
geschlagen wurden? Hast du jemals den Staat verklagt, die Polizei, die Kirche?
Hast du politische Angeklagte verteidigt? Hast du jemals irgendetwas riskiert?
So einen habe ich gesucht. Einen, der etwas riskiert und mit dem ich etwas
riskiere. Sogar das Leben. Was hast du gestern gesagt?
Unternehmenszusammenschlüsse und -übernahmen? Wen interessiert, wer
sich mit wem zusammenschließt und wen übernimmt? Es kann nicht einmal
dich interessieren. Du genießt nur, dass du es kannst, dass die anderen nicht
mit dir spielen, aber du mit ihnen. Du genießt das Geld, das du verdienst, und
die guten Hotels und die Flüge in der ersten Klasse. Hast du dich jemals dafür
interessiert, ob es in der Welt gerecht zugeht?«
»Auch bei Unternehmenszusammenschlüssen und -übernahmen kann es
gerecht und ungerecht zugehen. Als ich jetzt…«
»Hast du nie von mehr geträumt? Von Gerechtigkeit für die Ausgebeuteten
und Erniedrigten? Sag, dass du nicht immer so warst!«
Mir war nicht wohl unter ihrem Blick. Ich stocherte in meinen Spaghetti
und fing an zu essen. Auch sie aß, hatte aber ihre Augen auf mich gerichtet
und wartete auf meine Antwort. Was sollte ich sagen? Ich war auf meinen
Sinn fürs Machbare stolz, und die extravaganteste Phantasie meines Lebens
war gewesen, mit ihr nach Buenos Aires zu ziehen und nachts zu kellnern und
tags zu studieren – um bald wieder obenauf zu sein. Wenn das nicht geklappt
hätte und ich in Buenos Aires auf Dauer mit Irene in einem Loch gewohnt
und mich mit kleinen Fällen durchgeschlagen und für [112] abstruse politische
Sachen engagiert hätte – ich mochte es mir nicht vorstellen.
»Doch, ich war immer so. Ich habe davon geträumt, mit dir nach Buenos
Aires zu gehen und tags zu studieren und nachts zu kellnern, und ich wäre für
ein neues Leben mit dir auch Gaucho geworden oder hätte in New York Teller
gewaschen oder in den Rocky Mountains Bäume gefällt. Aber am Ende des
Traums stand ein gutes Leben. Die Ausgebeuteten und Erniedrigten – sie
müssen selbst sehen, wie sie zurechtkommen.«
Sie sah aufs Essen. »Es schmeckt gut.« Wir aßen, ich tat ihr noch mal auf
und schenkte Wein und Wasser nach. Nach einer Weile sagte sie: »Du musst
dir keine Gedanken machen. Du hättest damals nichts anders machen können.
Du hättest ein anderer sein müssen.«
[113] 9

Als ich abgedeckt und abgewaschen hatte und wieder zum Tisch zurückkam,
hatte Irene die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme gelegt und
schlief. Als ich sie das letzte Mal in ihr Zimmer getragen hatte, hatte sie sich
leicht gemacht, diesmal lag sie schwer in meinen Armen. Ich legte sie aufs
Bett, zog ihr die Schuhe, die Jeans und das dicke Hemd aus, zerrte die Decke
unter ihr hervor und deckte sie zu.
Der Regen, den ich erwartet hatte, war ausgeblieben, und ich setzte mich
auf den Balkon. Der Mond kam manchmal zwischen den Wolken hervor und
ließ das Meer glitzern. Sonst war es dunkel. Die Zikaden waren so laut wie
ein Baum voller Vögel.
Irene nahm sich eine Menge heraus. Ich hätte ein anderer sein müssen? Ich
hätte von Gerechtigkeit für die Ausgebeuteten und Erniedrigten träumen und
vermutlich nicht nur davon träumen, sondern dafür leben müssen?
An der Kathedrale der Gerechtigkeit arbeiten viele Steinmetze, die einen
hauen Quader, andere Sockel und Simse, wieder andere Ornamente und
Statuen. Für das Ganze des Baus ist das eine so wichtig wie das andere, das
Anklagen und Verteidigen so wichtig wie das Richten, das Abfassen [114] von
Miet-, Arbeits- und Eheverträgen so wichtig wie das Gestalten von Mergers
und Acquisitions, der Anwalt für die Reichen so wichtig wie der
Armenanwalt. Ja, die Kathedrale würde auch ohne meine Arbeit wachsen. Sie
würde auch ohne dieses Sims und jenes Ornament wachsen. Und doch
gehören sie dazu.
Mir fiel ein, was Irene spöttisch fragen würde. Woher ich wisse, dass ich
an einer Kathedrale mitbaute und nicht an einem Mietshaus, einem Kaufhaus,
einem Gefängnis.
Mir fiel noch etwas ein. Ich hatte gerade bei Karchinger und Kunze
angefangen, als ich die Verteidigung eines ehemaligen Mitschülers und -
studenten vor Gericht übernahm. Er war in unsere alte Schule gegangen,
hatte einige Schüler und Schülerinnen überredet, an einer Demonstration
teilzunehmen, und ging gerade mit ihnen vom Schulhof, als ein Lehrer
dazwischentrat und es ein Gerangel gab, in dem der Lehrer stürzte und sich
verletzte. Hatte mein ehemaliger Kamerad kein Geld für einen Verteidiger?
Forderte er mich heraus, mit seiner Verteidigung sei ich wohl überfordert?
Schmeichelte er mir, für seine Verteidigung sei ich besonders geeignet?
Jedenfalls übernahm ich seinen Fall. Ich tat es umsonst, informierte nur den
Büroleiter, nicht Karchinger und Kunze. Aber sie erfuhren davon und waren
wütend. Ich verteidigte jemanden, der Landfriedensbruch begangen hatte –
was sollten die Mandanten aus Industrie und Handel denken? Ich musste die
Verteidigung abgeben, und obwohl ich einen Ersatz fand, kam es zur
Verurteilung. Dass ich die Verteidigung abgab, gerade nachdem der Lehrer
wieder ins Krankenhaus eingewiesen worden war und neben einer
Verurteilung wegen einfachen auch eine wegen schweren
[115] Landfriedensbruchs in Betracht kam, wirkte, als distanzierte ich mich
von meinem ehemaligen Kameraden. Es machte seine Verteidigung nicht
leichter.
Hätte ich einen Freispruch erreicht? Ich war zuversichtlich; ich wollte
meinen ersten und vermutlich einzigen Strafprozess gewinnen und hatte einen
privaten Ermittler eingeschaltet und herausgefunden, dass der empörte
Hausmeister das Gerangel begonnen und der Lehrer früher epileptische
Anfälle gehabt hatte. Ich hatte das dem Ersatzverteidiger auch gesagt, aber er
war nicht gut genug. Vielleicht wäre ein anderer besser gewesen – und teurer.
Ich hatte meinem ehemaligen Kameraden versprochen, die Kosten zu
übernehmen.
Er hätte sich nicht einmal den Anwalt leisten können, den ich ihm als Ersatz
besorgt hatte, geschweige denn einen besseren. Ich schuldete ihm nichts. In
der Schule und in den ersten Semestern auf der Universität waren wir
Freunde, aber das war lange her. Er war ein ewiger Student, ich wollte mein
Leben nicht verbummeln, und so verband uns bald nichts mehr. In politischen
Strafsachen waren die Urteile damals drakonisch, und er bekam Gefängnis
ohne Bewährung. Vielleicht war das nicht so schlimm für ihn, vielleicht
machte es für ihn keinen großen Unterschied, ob er draußen oder im
Gefängnis bummelte. Ich habe ihn im Gefängnis nicht besucht, und er hat
sich danach nicht gemeldet. Was aus ihm geworden sein mag?
Ich schulde niemandem etwas. Ich muss auch niemandem dankbar sein.
Wenn ich etwas bekomme, vergelte ich es. Wenn jemand mir gegenüber
großzügig ist, bin ich es umgekehrt doppelt und dreifach. Ich kann sagen,
dass es in meinen [116] Freundschaften und Bekanntschaften nur
ausgeglichene Bilanzen gibt. Im Beruf ist es anders, aber da verdankt man den
Bilanzvorteil auch nicht der Großzügigkeit des anderen, sondern der eigenen
Tüchtigkeit.
Es regnete. Ich konnte nicht auf dem Balkon bleiben, stellte mich in die Tür
und hörte dem Rauschen des Regens zu. Bis oben etwas seltsam klang und
ich hochging. In Irenes Zimmer hatte der Wind den Vorhang aus dem Fenster
geweht und klatschte den nassen Stoff gegen die Hauswand. Ich holte den
Vorhang rein und schloss mit Mühe das verzogene Fenster.
Irene schlief unruhig. Ich machte die Kerze an, die neben dem Bett stand,
und sah wieder ihre fahrigen Hände und flatternden Augenlider und den
Schweiß auf der Stirn und über der Lippe; manchmal murmelte sie etwas, das
ich nicht verstand. Ich wischte ihr den Schweiß vom Gesicht. Als ich die
Decke besser über sie breiten wollte, sah ich, dass T-Shirt und Slip
durchgeschwitzt waren. Einen Schlafanzug und ein Handtuch finden, ihr die
nassen Sachen ausziehen, sie abtrocknen und ihr den Schlafanzug anziehen –
das war jetzt zu tun. Aber ich stand und sah sie an und dachte, was habe ich
mit dieser Frau zu schaffen.
Ich tat dann doch, was zu tun war. Ich fand im Schrank Schlafanzüge und
im Badezimmer Handtücher. Als ich Irene anhob und ihr das T-Shirt auszog,
legte sie ihre Arme um meinen Hals, ohne zu reden, ohne die Augen
aufzuschlagen, ohne aufzuwachen, und als ich ihr die Schlafanzugjacke
anzog, tat sie es wieder. Sie wollte mir wohl nur das Anheben leichter
machen, wie sie es als Schwester gelernt und ihre Kranken gelehrt hatte, aber
es berührte mich als kindliche, [117] zärtliche Geste. Ich zog ihr T-Shirt und
Slip aus und den Schlafanzug an. Dazwischen trocknete ich sie ab, die
Schultern, die Brust, den Bauch, die Schenkel. Sie musste früher schwerer
gewesen sein; die Haut war zu groß für den Körper. Wieder roch ich den
Geruch der Krankheit.
Manchmal sehe ich meinen nackten Körper im Spiegel und habe Mitleid mit
ihm. Was er alles erlebt, wie er sich angestrengt, wie er sich abgeplagt hat!
Ich habe kein Selbstmitleid, das verachte ich. Das Mitleid galt nicht mir,
sondern meinem Körper. Oder dem Vergehen überhaupt. Jetzt galt es Irenes
Körper. So hinfällig, verletzlich, bedürftig, so zutraulich beim Legen der Arme
um meinen Hals, er dauerte mich. Trotzdem ärgerte mich, dass sie mich nicht
eingeladen hatte, länger zu bleiben.
[118] 10

Beim Frühstück redete Irene über ihre Pläne für den Tag. Sie musste dem
alten Mann eine Spritze geben. Sie wollte mit den jungen Leuten Brot backen;
Donnerstag war Backtag. Sie bot nicht an, mich nach Rock Harbour zu
bringen, und ich bat sie nicht darum. Als ich sie zum Jeep begleitete, sagte
sie: »Ich bin um die gleiche Zeit zurück wie gestern, hoffentlich in besserer
Verfassung. Kochst du wieder?«
Wieder setzte ich mich auf die Bank unter dem Vordach. Anders als an den
beiden letzten Tagen schien die Sonne, ich fror nicht und brauchte keine
Decke. Und doch war mir wieder, als stünde die Zeit still und ich mit ihr.
Ich musste Entscheidungen treffen. Ich musste die Kanzlei anrufen. Ich
musste Aufgaben übertragen. Eine gute Kanzlei läuft wie eine Maschine, bei
der jedes Rad im rechten Moment anläuft und im rechten Moment anhält und
bei der, wenn ein Rad ausfällt, ein anderes anspringt. Lange dachte ich, ich sei
der Treibriemen, und ohne Treibriemen laufe die Maschine noch ein bisschen,
dann knirsche sie, dann stocke sie und dann stehe sie still. Aber es gibt keinen
Treibriemen, sondern nur Räder, und sogar ein großes Rad ist bald ersetzt,
sei’s durch ein anderes großes Rad, sei’s durch ein paar kleine. Wenn ich
länger ausfiele, würde die Kanzlei nicht stillstehen. Aber es gehört sich nicht,
einfach wegzubleiben. Wenn [119] der Senior nicht so tut, als sei er
unersetzlich, fühlen sich auch die Partner entbehrlich und verlieren die
Motivation.
Eigentlich wäre richtig, wenn jeder arbeiten müsste, aber den Zeitpunkt, zu
dem er mit dem Arbeiten aufhört, selbst bestimmen könnte. Ab diesem
Zeitpunkt sollte ihm die Gesellschaft drei Jahre lang zahlen, was er zu einem
ihm angemessenen, angenehmen Leben braucht. Dann muss er sich aus dem
Leben verabschieden, kann aber selbst bestimmen, wie.
Ich weiß, es wird sich nicht durchsetzen lassen. Aber es würde nicht nur
die Probleme unserer alternden Gesellschaft lösen. Es würde auch jedem die
Kontrolle über sein Leben geben. Wer mit sechsundzwanzig nicht mehr
arbeiten und die letzten Jahre seiner Jugend zu den letzten Jahren seines
Lebens machen und in vollen Zügen genießen will, darf mit sechsundzwanzig
zu arbeiten aufhören, und wer von der Arbeit nicht lassen will, darf arbeiten,
solange er will, und riskiert lediglich, dass er eines Tages über der Arbeit zu
alt geworden ist, um seine drei freien Jahre noch genießen zu können.
Ich jedenfalls erhebe nicht auf mehr Anspruch als auf drei Jahre nach dem
Ende meines Arbeitslebens. Ich begreife die Rentner und Pensionäre nicht, die
nach China reisen und zwei Tage in Shanghai, drei in Peking, einen an der
Großen Mauer und fünf Tage am Strand von Qingdao verbringen. Sie sehen
auf Fernreisen nicht mehr als beim Fernsehen. Was sie zu Hause anderen
Rentnern und Pensionären von der Ferne erzählen, wissen die schon. Was sie
ihren Kindern erzählen, wollen die nicht wissen. Wollen sie sich an ihren
Erinnerungen freuen, weil sie nicht mehr reisen können, haben [120] sie sie
vergessen. Alt werden, um endlich die Welt zu sehen – wie töricht. Auch alt
werden, um die Weltgeschichte weitergehen oder die Enkel heranwachsen zu
sehen, ist töricht. Warum sich an die Lektüre eines Buchs machen, wenn man
weiß, dass man es nicht zu Ende lesen kann, sondern in der Mitte zuschlagen
und weglegen muss?
Drei Jahre voller solcher Torheiten sind ausreichend. Drei Jahre! Ich
dachte nach, aber mir fiel nicht ein, mit welchen Torheiten ich drei Jahre
füllen sollte. Mir fiel aber auch nicht ein, warum ich mich noch mal um
Mergers und Acquisitions kümmern sollte. Dieser doppelte Befund
beunruhigte mich. Bis ich einschlief, sonnenwarm und sonnenmüde.
[121] 11

Der Hubschrauber weckte mich auf. Er kam nicht über den Berg, sondern
entlang der Küste, bog in die Bucht und kreiste über Strand und Mole. Dann
bog er aus der Bucht, wie er gekommen war. Er flog tief, war laut, und die
knatternden und zischenden Rotorblätter wühlten das Meer auf.
Er trug keine Aufschrift und war nicht als Polizei- oder Rettungs- oder
Fernsehhubschrauber kenntlich. Das glänzende Metall, die spiegelnden
Fenster, der laute, tiefe Anflug über das aufgewühlte Meer – es war wie ein
Angriff. Ich stand auf, erschrocken und mit wirren Gedanken. Der
Geheimdienst? In was war Irene verstrickt? Sie war illegal im Land, aber
darum schickte der Geheimdienst keinen Hubschrauber, aber vielleicht war es
nicht der Geheimdienst, sondern das organisierte Verbrechen, so oder so
musste sie etwas Schlimmes getan haben. Oder saßen im Hubschrauber
Investoren und planten die Entwicklung der Bucht zum Ferienort? Nein, die
Bucht war Naturschutzgebiet, im Hubschrauber saßen keine Investoren,
sondern Agenten oder Mafiosi, in Anzug oder Lederjacke, mit Laptop oder
Pistole oder beidem. Sollte ich Irene warnen? Würde ich den Weg finden?
Ich spürte, dass ich nicht mehr alleine unter dem Vordach [122] stand. Ich
sah mich um; ein paar Schritte weiter stand der Junge, der zwei Nächte davor
auf dem Balkon gehockt hatte, den Blick seiner tiefen, dunklen Augen auf
mich gerichtet. Kari. Die Züge seines Gesichts waren mir so fremd, dass ich
sein Alter nicht schätzen konnte. Er musste älter als achtzehn sein, alt genug,
Irene zu warnen.
»Kannst du Irene finden?«
»Was wollen die?«
»Ich weiß nicht. Aber sie sollte wissen, dass der Hubschrauber hier war.«
Er nickte, drehte sich um und lief los, zügig, gleichmäßig, mühelos. Ich sah
und hörte ihm nach, bis er am Berg zwischen den Bäumen verschwand.
Einen Augenblick war es still. Ich hörte wieder die Wellen klirrend durch die
Kiesel zurück ins Meer fließen. Ich blinzelte in die Sonne.
Dann kam der Hubschrauber zurück. Zuerst hörte ich ihn, dann sah ich
ihn. Er flog auf das alte Haus zu, unter dessen Vordach ich stand, hing in der
Luft, sank nieder und setzte sich auf die Mole. Wieder wühlte er das Meer
auf. Dann erstarb der Motor, und der Hubschrauber ließ die Rotorflügel
hängen. Der Pilot stieg aus und half dem Passagier aussteigen. Ein alter,
hagerer Mann mit Stock, aber vollem weißem Haar, aufrechter Haltung und
sicheren Bewegungen. Gundlach.
[123] 12

»Hat Schwind Sie geschickt? Vertreten Sie ihn wieder? Er will das Bild haben,
nicht wahr?« Er sah mich, kam auf mich zu, auf den Stock gestützt und
zugleich voller Energie, und redete los. Dann stand er vor mir.
Ich ärgerte mich über ihn. Ich hatte ihn nicht gemocht, als er seinerzeit bei
meinem Besuch in seinem Haus meinen Arm genommen hatte, ich hatte ihn
bei unseren gesellschaftlichen Begegnungen immer herablassend gefunden
und fand ihn jetzt grob. »Haben Sie ihm das Bild nicht gegeben? Wofür er
Ihnen Irene gebracht hat? Die Sie nicht halten konnten?«
Er schnaubte verächtlich. »Das waren Kindereien. Das Bild gehört mir. Es
war weg, jetzt ist es wieder da. Hat Ihr Mandant…«
»Schwind ist nicht mein Mandant.«
»Und was machen Sie hier?«
»Geht Sie das was an?«
Er winkte ab. »Sie waren immer schon empfindlich. Eigentlich erstaunlich,
dass Sie als Anwalt reüssiert haben. Wann kommt Irene zurück?«
Ich zuckte die Schultern.
»Dann schaue ich mir das hier mal an. Sie hat sich einen [124] schönen
Fleck ausgesucht, niemand kommt, niemand stört sie, und dabei gehört es ihr
gar nicht. Ich muss für so was hart arbeiten.«
Er ging, drehte sich aber gleich wieder um und musterte mich. »Sie
hier…« Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte Sie immer im Verdacht, aber
mochte nicht glauben, dass Sie sich als Anwalt trauen würden.« Dann lachte
er. »Jedenfalls hatten Sie eine gute Nase, eine bessere als ich. Wenn ich
geahnt hätte, dass das Bild eines Tages mehr als zwanzig Millionen wert sein
würde…«
Ich sah ihm nach, wie er in das untere Haus trat, wieder herauskam, die
Treppe zum oberen Haus hochstieg und darin verschwand. Er setzte seinen
Stock hart auf die Treppenstufen und die Dielen des Hauses; als ich ihn nicht
mehr sah, hörte ich noch eine Weile das Klack, Klack seines Stocks. Dann
war es still. Der Pilot hatte sich auf den Rand der Mole gesetzt, ließ die Beine
baumeln und rauchte eine Zigarette.
[125] 13

Ich ging Irene entgegen, so weit ich die Spuren erkennen konnte, die zu den
Höfen führten. Dann setzte ich mich auf einen Stein und wartete. Wieder war
die Luft erfüllt vom Geruch von Kiefer und Eukalyptus und vom Zirpen der
Zikaden. Trotz des Regens am Tag davor war alles trocken, Gras und
Gesträuch waren braun, und die Bäume streckten verdorrte Äste in den
Himmel. Ich hörte den Jeep von weitem.
Irene sah wieder erschöpft aus. Ich sagte ihr, Gundlach sei da, und sie war
nicht entsetzt, wie ich erwartet hatte, sondern wurde lebhaft; ihre Augen
strahlten, ihre Wangen bekamen Farbe, ihre Stimme wurde kräftig. Sie wollte
wissen, worüber er und ich geredet hatten, und ich berichtete. »Ja«, sagte sie
lachend, »so ist er.«
»Du hast ihn erwartet?«
Sie nickte.
»Du hast das Bild an die Art Gallery gegeben, um ihn hierherzulocken?«
Sie zuckte die Schultern, ausweichend, zustimmend, ablehnend, vielleicht
ärgerlich über den Ausdruck »locken«.
»Kommt Schwind auch?«
»Ich hoffe.«
[126] »Hast du, als du das Bild an die Art Gallery gegeben hast, auch an
mich gedacht?«
»Wollte ich auch dich hierherlocken? Ich wollte Peter und Karl noch mal
sehen. An dich habe ich nicht gedacht.«
Ich wusste, dass ich kein Recht dazu hatte, war aber gekränkt. Sie merkte
es trotz der rauhen Fahrt und legte mir die Hand auf den Arm. Ich legte sie
zurück. »Ist schon gut, du brauchst beide Hände am Steuer.«
»Ich will wissen, was geblieben ist. Und was damals… War ich wirklich
nur Trophäe und Muse für sie? Was waren sie für mich? Ich denke, ich muss
das Unbedingte in ihnen geliebt haben, die Rückhaltlosigkeit, mit der Peter
immer reicher und immer mächtiger werden und Karl das perfekte Bild malen
wollte. Sie waren beide Besessene, und ich suchte nach etwas, das auch von
mir Besitz ergreift. Ich hatte geerbt, meine Mutter ließ mich machen, was ich
wollte, sie wollte nur, dass ich sie auch machen ließ, ich hatte
Kunstgeschichte studiert, arbeitete im Museum und dachte… Ich dachte
wirklich, mit dem richtigen Mann würde ich das richtige Leben finden. Ein
Leben, in dem etwas Großes von mir Besitz ergreift, wofür ich alles geben
mag.«
Warum hatte sie keine Kinder gekriegt, statt sich später Kinder von der
Straße zu suchen? Stattdessen fragte ich, was denn geblieben sein könnte.
»Dass Gundlach immer noch reicher und mächtiger werden will? Dass
Schwind immer noch das perfekte Bild malen will?«
Sie hielt an. »Ich weiß nicht.«
»Dass sie dich immer noch lieben?«
»Das wäre dumm.« Sie schwieg und redete dann langsam und zögernd.
»Ich wäre schon froh, wenn ich sie [127] wiedererkennen würde. Und in mir
wiederfinden würde, warum ich sie geliebt habe. Warum ich sie verlassen
habe. Du hattest ein gleichmäßiges Leben. Mein Leben fühlt sich wie eine
Vase an, die auf den Boden gefallen und in Stücke zersprungen ist.«
[128] 14

Zur Begrüßung umarmten Irene und Gundlach sich. Sie überhäuften sich mit
Fragen, bis sie lachend merkten, dass es zu viele und zu große waren. Es
blieben die einfachen. Schlief er hier? Der Pilot auch? Hatten sie Hunger?
Gundlach bot an, ein Abendessen einfliegen zu lassen, freute sich aber auch
auf alles, was Irene auf den Tisch brächte. Während Irene und ich kochten,
stand er neben uns, auf den Stock gestützt, und erzählte von dem Artikel in
der New York Times und den anschließenden Berichten in den deutschen
Medien. Das Bild »Frau auf einer Treppe«, das seinen festen Platz in
Schwind-Bildbänden hatte, aber nie ausgestellt wurde und zu dessen Verbleib
Schwind sich immer ausweichend äußerte, hatte eine geheimnisvolle Aura, die
seine Ausstellung ausgerechnet in der Art Gallery of New South Wales zur
Sensation machte.
Gundlach rief den Piloten zum Essen und schickte ihn danach wieder weg.
Er hätte auch mich gerne weggeschickt. Als Irene Kerze und Rotwein auf den
Tisch stellte, fragte er: »Können wir unter vier Augen reden?« Sie lächelte und
sagte: »Ich habe vor ihm keine Geheimnisse.« Es machte mich glücklich,
auch wenn es nicht stimmte.
Gundlach erzählte von seinen Erfolgen und seinen [129] Kindern, von seiner
Sorge um die Zukunft des Unternehmens und des Landes, von seinem Stolz
auf das, was er im Leben geleistet hatte. Ich hörte nichts Besessenes, sondern
die selbstzufriedene Bilanz eines selbstzufriedenen Bürgers. Wie bei mir
wendete Irene auch bei ihm die Fragen nach ihrem Leben in Rückfragen und
gab nichts von sich preis. Es schien ihn nicht zu stören; ich fragte mich, ob
er wie ich zu höflich war, seine Irritation zu zeigen, oder ob er nicht
insistierte, weil er über sie ohnehin wusste, was er wissen wollte. Er lächelte
jedesmal, wenn sie einer Frage auswich.
Dann redete er über seine Ehe. Er sei glücklich, seine Frau sei eine gute
Frau, eine erfolgreiche Maklerin und zugleich für ihn da, wenn er sie brauche.
Aber sie sei so jung, dass er sich oft alt fühle. Er sah Irene an. »Du warst
auch jung, aber mit dir habe ich mich nicht alt gefühlt. Ich weiß, ich war
jünger, und der Altersunterschied war kleiner. Aber das war nicht alles. Als
ich dich jetzt im Bild sah, fühlte ich mich wieder jung.« Er lächelte. »Wir
haben Bilder, um den Lauf der Zeit anzuhalten. Ich habe dich damals malen
lassen, damit du jung bleibst und ich mit dir.« Gundlach beugte sich vor und
nahm Irenes Hand. »Ich habe damals alles falsch gemacht. Du konntest nicht
mit mir leben. Aber lass mir dein Bild.«
Irene sah aufs Meer. Ihr Gesicht hatte alle Frische und alle Farbe verloren,
es war nur noch Erschöpfung, nur noch Müdigkeit. Der Urlaub von ihrer
Krankheit, über die sie nicht mit mir reden wollte, war vorbei. Sie fuhr
Gundlach mit der Hand über den Kopf, wie man einem Hund, der sich neben
einen setzt, angelegentlich über den Kopf fährt, und stand auf. Sie hielt sich
kaum auf den Beinen, aber als ich [130] aufstehen und ihr helfen wollte, warf
sie mir einen Blick zu, der es mir verbot. Sie wollte vor Gundlach nicht
schwach sein. »Gute Nacht.« Sie ging langsam zur Treppe und die Treppe
hoch; vor jedem Schritt sammelte sie in langer Pause die Kraft für die nächste
Stufe, für noch eine und noch eine. Es tat mir weh zuzusehen.
»Was hat sie?«, flüsterte Gundlach.
»Fragen Sie sie selbst.« Dann konnte ich mir’s nicht verkneifen. »Sie
haben ziemlich dick aufgetragen. Eigentlich erstaunlich, dass Sie in Wirtschaft
und Politik so erfolgreich waren. Ich dachte, dafür braucht man doch auch
eine gewisse Sensibilität.«
»Sie sehen die Menschen zu schlicht. Ein lyrisches Herz und der Kopf
eines Kaufmanns – ich will mich nicht mit Rathenau vergleichen, aber beides
geht zusammen, und dass ich mit dem Bild leben und zugleich die Millionen
haben möchte, die mir zustehen, ist kein Widerspruch.«
»Sie haben Rathenau gelesen?«
»Ja, ich habe Rathenau gelesen und Weber und Schumpeter und Marx, falls
Ihnen die Namen etwas sagen. Ich habe nicht nur Bilanzen und Kurse im
Kopf. Und wenn ich recht habe und Sie Irene damals geholfen haben und ich
das im Prozess zur Sprache bringe, sind Sie als Anwalt erledigt. Sie sollten
beten, dass ich um das Bild keinen Prozess führen muss, nicht gegen
Schwind und nicht gegen Irene.«
Er war immer lauter geworden. Ich bat ihn, leise zu sein, Irene wolle
schlafen.
»Sie kann gerne hören, was ich zu sagen habe. Hier scheinen ohnehin alle
alles zu wissen; ich kann nicht mit Irene reden, ohne dass Sie dabeisitzen.
Machen Sie morgen einen [131] Spaziergang, einen schönen, langen
Spaziergang. Haben Sie mich verstanden?«
Als ich noch überlegte, ob ich nicken sollte, nur damit Gundlach wieder
leise würde, trat Kari aus dem Dunkel. Er machte keine bedrohliche Geste
und wirkte doch bedrohlich. Er sah Gundlach an und legte die Hand auf den
Mund. Gundlach starrte Kari an wie ein Gespenst. Dann war Kari
verschwunden, und Gundlach holte tief Luft und schüttelte den Kopf. »Ich…
ich gehe ins Bett.«
[132] 15

Am nächsten Morgen stand Irene nicht auf. Ich wachte vom Klack, Klack
auf, mit dem Gundlach den Stock auf die Treppenstufen setzte, zog mich an,
trat ans Fenster und sah ihn am Strand stehen und aufs Meer sehen. Der Pilot
musste ganz leise aufgestanden und gegangen sein. Er saß wieder auf der
Mole, ließ die Beine baumeln und rauchte.
Rief Irene? Ich klopfte an ihre Tür, und sie rief schwach »herein«. Sie lag
im Bett, Kopf und Kissen an die Wand gelehnt, und sah so schlecht aus, das
Gesicht bleich, die Wangen eingefallen, die Haare schweißnass, dass ich sie
am liebsten sofort im Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen hätte. Ich
setzte mich auf den Bettrand und nahm ihre Hand.
»Was hast du?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast doch keine Geheimnisse vor mir.«
Sie lächelte. »Nur ein paar.«
»Mit dem Hubschrauber ist es…«
»Ich komme schon hoch. Heute… Bringst du mir einen starken Kaffee?«
Was ich auch tat, war falsch. Sie gegen ihren Willen in den Hubschrauber
tragen und ins Krankenhaus fliegen war falsch. Ihr helfen, sich mit Kaffee
hochzuputschen, durch den Tag [133] zu hetzen und bis zum Abend zu
erschöpfen, war falsch. Sie im Bett lassen und versorgen, bis es ihr wieder
besser ging, würde sie nicht wollen. Sie im Bett lassen und mich nicht um sie
kümmern konnte ich nicht.
»Was, wenn Karl heute kommt? Ich kann mich ausruhen, wenn Peter und
Karl weg sind, morgen oder übermorgen. Jetzt muss ich auf die Beine
kommen. Hilfst du mir? Bitte!«
Also machte ich starken Kaffee, brachte ihr Kanne und Tasse ans Bett,
brachte ihr aus dem Schrank auch einen ledernen Beutel, aus dem sie einen
kleinen Spiegel, ein weißes Pulver, eine Rasierklinge und ein gläsernes
Röhrchen holte, und sah zu, wie sie das Kokain in die Nase zog. Auf dem
Weg ins Badezimmer musste ich sie noch stützen. Dann brauchte sie meine
Hilfe nicht mehr; sie kam aus dem Badezimmer mit schwerem, aber festem
Schritt und klarem Blick. Sie war lebhaft, wie gestern nach Gundlachs
Ankunft.
»Es ist schon spät. Ich richte das Frühstück. Holst du die anderen?«
Auf dem Weg zum Strand sah ich das Boot um die Spitze der Bucht biegen,
und als ich Gundlach erreichte, hatte er es auch gesehen. Das Boot kam
näher, und vor der kleinen Kajüte stand Schwind, und wie er für uns
deutlicher und deutlicher wurde, mussten wir für ihn deutlicher und
deutlicher werden. Schwind und Gundlach hatten Zeit, sich aufeinander
vorzubereiten. Ich wünschte beide zum Teufel.
[134] 16

Schwind stieg aus dem Boot, mit dem auch ich gekommen war. Er nickte
Gundlach und mir zu, sah sich prüfend um und ging entschlossen hinauf zum
Haus am Hang. Er war immer noch groß, sperriger als damals in Haltung und
Bewegungen, wuchtiger mit dem kahlen Schädel, und strahlte eine große
Kraft aus.
Als Gundlach und ich in die Küche kamen, hielt Schwind Irene in den
Armen. »Wo warst du? Ich habe dich gesucht, immer habe ich dich
gesucht.« Dann sah er uns, ließ Irene los, trat zur Tür, griff nach ihr und fuhr
uns an. »Raus!«
Irene lachte. »Setzt euch. Das Frühstück ist gleich fertig.« Sie schien alles
zu genießen, Schwinds Umarmung, seinen Ausbruch, die Spannung im
Raum.
»Was wollen wir hier noch? Lass uns fahren, das Boot wartet. Wir können
in Rock Harbour frühstücken und in Sydney den Nachtflug nach New York
nehmen. Ich habe mit der Art Gallery gesprochen; ein Wort von dir, und sie
bringen das Bild auf den Weg nach New York, rechtzeitig zur Werkschau.
Erinnerst du dich, wie wir davon geträumt haben? Von der Ausstellung im
MoMA?«
Irene nickte.
»Wir haben von der Eröffnung geträumt, von den [135] Rednern, die in
meinen Bildern Meisterwerke und in mir den Meister sehen, von der
Bewunderung der Gäste. Wir haben vom Heimweg durch den Central Park
geträumt, von der Nacht im Hotel, vom Champagner, von der großen
Badewanne, vom großen Bett mit Blick auf die Stadt. Endlich ist es so weit.«
Irene lächelte freundlich, amüsiert, distanziert. »Das klingt schön.«
Gundlach hielt es nicht mehr aus. »Unsinn! Sie hatten Ihre erste große
Ausstellung in New York vor Jahren. Von der haben Sie vielleicht noch
geträumt. Von der Werkschau, die schon in Berlin und Tokio war und jetzt
nach New York kommt, träumen Sie doch nicht mehr! Träumen Sie
überhaupt noch? Ein Kollege beschreibt Sie als kalkulierenden Kopf, der mit
dem Publikum und dem Kunstmarkt und den Preisen spielt. Ich bin
Geschäftsmann, ich habe damit kein Problem. Aber erzählen Sie Irene keine
Märchen!«
Schwind hatte nur Augen für Irene. Er sah sie mit dem kindlichen,
zuversichtlichen Blick an, den ich von damals kannte. »Auf keiner meiner
Ausstellungen warst du dabei, nicht dein Bild und nicht du. New York nächste
Woche – es wird die erste Ausstellung, bei der alles stimmt.«
»›Es wird die erste Ausstellung, bei der alles stimmt‹« – Gundlach äffte
Schwind nach. »Sie wollen das Bild, sonst nichts.«
»Was redet er?« Schwind sah Irene an, als hörten sie beide einen
Dummkopf plappern. »Ich habe mit dem Kustos gesprochen und ihm erklärt,
dass du lange über mein Bild gewacht hast und dass ich verstehe, dass er es
nicht ohne ein Wort von dir auf den Weg nach New York bringen kann.
[136] Was geht das ihn an?« Er zeigte mit dem Kopf zu Gundlach.
Ehe Gundlach Schwind erklären konnte, was es ihn anging, erinnerte Irene
ans Frühstück. »Der Kaffee ist heiß, der Speck wird kalt, die Eier müssen in
die Pfanne.« Sie sagte zu mir: »Holst du den Piloten? Und fragst Mark, ob er
auf einen Kaffee kommt?«
[137] 17

Als ich mit beiden zurückkam, herrschte Waffenstillstand. Gundlach fiel ihm
nicht ins Wort, als Schwind Irene von seinen abstrakten Arbeiten erzählte,
und Schwind unterbrach ihn nicht, als Gundlach über Nachfolgeregelungen
bei der Unternehmensführung redete. Irene thronte zwischen beiden und auch
über uns, dem Piloten, Mark und mir, die über die erste und die letzte
Zigarette in unserem Leben redeten. Ich hatte sie, seit ich bei ihr war, noch
nie so lebhaft, so strahlend, so schön gesehen. Wie lange mochte ein Kokain-
Hoch anhalten?
Nach dem Frühstück fuhr Mark mit dem Boot zurück. Irene oder ich
würden Schwind nach Rock Harbour bringen, wenn es so weit war. Der Pilot
bot an, ihn dann zu fliegen, aber Gundlach fuhr ihn an, er habe den
Hubschrauber gemietet und brauche ihn in Bereitschaft, der Pilot solle gehen
und sich darum kümmern, dass das Ding auch fliege, wenn es gebraucht
werde.
Dann sah Gundlach in die Runde. »Lasst uns vernünftig miteinander reden.
Der letzte beurkundete Eigentümer des Bildes bin ich. Sie, Schwind, müssten
das Bild von mir erworben haben – wie das? Aufgrund des Vertrags? Der
Vertrag taugte nichts. Wo ist er überhaupt? Ohnehin wollen Sie [138] nicht vor
Gericht darauf bestehen und dann in der Presse lesen, Sie hätten das Bild im
Tausch für die Frau gekriegt, weil Ihnen das Bild mehr wert war als die Frau.
Sie…«
»Die Presse frisst mir aus der Hand. Ich werde ihr die Geschichte schon
so präsentieren, dass die Leute sich das Maul über Sie zerreißen, nicht über
mich. Der Vertrag… der Vertrag war sittenwidrig, das weiß ich inzwischen,
aber ich weiß inzwischen auch, dass, was aufgrund eines sittenwidrigen
Vertrags geleistet wurde, nicht zurückverlangt werden kann. Sie haben mir
das Bild im Haus übergeben…«
»Übergeben? Das Bild war noch auf meinem Gelände, noch in der Hand
meines Butlers und sollte erst in Ihren Besitz übergehen. Das klappte nicht;
das Auto, in das das Bild gelegt wurde, war nicht mehr in Ihrem Besitz,
sondern im Besitz des Diebs – der Diebin, wie wir jetzt wissen, und ihres
Helfers.«
»Wenn Sie meinten, das Bild gehörte noch Ihnen – warum haben Sie den
Verlust nicht gemeldet? Warum steht das Bild nicht im Art-Loss-Register?«
»Warum ich den Verlust nicht gemeldet habe? Ich hatte damals schon den
Verdacht, dass Irene das Bild gestohlen hat, und wollte ihr nicht schaden.«
»Wie sollte eine Meldung beim Register Irene schaden? Und wenn Sie Irene
damals nicht schaden wollten, warum wollen Sie es heute?«
»Ich will ihr nicht schaden. Sie soll nur bei der Art Gallery klarstellen, dass
es sich um mein Bild handelt. Es kann auch noch eine Weile in der Art Gallery
hängen. Sie können es auch als Leihgabe auf Ihrer Werkschau zeigen.«
[139] Gundlach wandte sich zu Irene. »Aber du musst dem Spuk ein Ende
machen.«
Er sah sie verletzt an, und plötzlich verstand ich, worum es ihm ging. Auch
um das Bild, auch um das Geld. Aber wichtiger war etwas anderes. Gundlach
fühlte sich der lachenden Irene unterlegen, so unterlegen wie damals, als sie
ihn verließ und er sie nicht wiedergewinnen konnte. Vielleicht hatte er sich
schon davor der Frau nicht gewachsen gefühlt, die ihm gegenüber
Widerstand, Verweigerung und Trotz nie aufgegeben hatte. Irene war die
Niederlage seines Lebens, und er war gekommen, die Niederlage
wettzumachen.
Dann lachte er. Es war ein hässliches, hämisches Lachen. »Also noch mal,
eines nach dem anderen. Wenn er«, Gundlach zeigte mit dem Kopf zu mir,
»den Vertrag noch hat, wird er den Teufel tun und ihn heraussuchen. Einen
solchen Vertrag setzt man nicht auf, auch nicht als junger Anwalt, und als
alter will man ihn nicht aufgesetzt haben. Nein, Schwind, der Vertrag hilft
Ihnen nicht. Wenn Sie denken, Sie haben Irene als Zeugin – Irene hilft Ihnen
auch nicht. Du gehst nicht als Zeugin vor Gericht, Irene. Du wirst…«
»Du hast recht. Ich gehe nicht vor Gericht.« Sie stand auf. »Das Bild…«
Aber Gundlach ließ sich nicht um seinen Triumph bringen. »Du wirst in
Deutschland gesucht und würdest auch hier gesucht, wenn man wüsste, dass
du hier bist. Ich weiß nicht, warum niemand dich erkannt hat. Weil du nie
verhaftet und nie, wie heißt es, erkennungsdienstlich behandelt wurdest? Weil
die Polizei kein gutes Fahndungsbild von dir hat, sondern nur eine Fotografie
von einer Radarfalle, auf [140] der du gefärbte Haare hast und eine
Sonnenbrille trägst und den Kopf senkst? Aber ich habe dich auf dem
Fahndungsplakat wiedererkannt, und wenn du dich wieder zeigst, erkennen
dich auch andere wieder.«
[141] 18

Irene antwortete nicht. Sie sah Gundlach zweifelnd an, als wisse sie nicht,
was sie von seiner Offenbarung oder von ihm oder von sich zu halten habe.
Dann zuckte sie lächelnd die Schultern. »Willst du mich anzeigen?«
»Was hast du damals getan? Du wusstest, wie wir lebten, wie wir
wohnten, wo wir fuhren – deine Freunde konnten dich gut brauchen.«
»Wir?« Irene sah Gundlach spöttisch an.
»Ich kenne dich. Deinen Trotz, deinen Widerstand, dein Aufbegehren. Du
wolltest nicht nur mich treffen und ihn«, er zeigte mit dem Kopf zu Schwind,
»und ihn«, er zeigte zu mir, »du wolltest mit allen abrechnen. Wie weit bist du
gegangen? Wolltest du eines Tages an der Tür klingeln, als sei alles wieder
gut? Und dann zuerst Hannes erschießen und dann mich?« Gundlach redete
sich in Rage. »Hannes mochte dich, er war mein Butler, aber er mochte dich
mehr als mich, und er hätte dich selbstverständlich reingelassen und du
hättest ihn ganz leicht… oder zuerst mich und dann ihn…« Gundlach sah
Irene an, als bedrohe sie ihn auch jetzt.
»Du glaubst, ich wollte dich erschießen?«
»Wenn du nicht, dann deine Freunde, mit deiner Hilfe. Du meinst, ich
erinnere mich nicht mehr? Ich erinnere mich an [142] alles, deinen Hass auf
unser Leben, deinen Traum vom vollen Einsatz für eine große Sache. Da
mitmachen, wo die Gegenwart am intensivsten ist – erinnerst du dich? Und
als ich dich gefragt habe, was du mit diesem Motto unter Hitler oder unter
Stalin gemacht hättest, hast du trotzig geschwiegen. Dann hast du gedacht,
der Künstler wär’s, und dann war’s die Revolution. Den Mann umbringen,
den du ohnehin verlassen hast – für die Revolution ist das doch nicht zu viel
verlangt!«
»Niemand wollte dich umbringen. Niemand fand dich so wichtig. Du…«
Gundlach sprang auf. Er stützte die Hände auf den Tisch, beugte sich zu
Irene und fuhr sie an: »Und wenn deine Freunde mich wichtig genug
gefunden hätten? Was dann? Hättest du mitgemacht? Hättest du geschossen?«
Ich bin immer langsam, aber auch Schwind tat nichts und sah zu. Kari
griff ein. Wo immer er gewesen war, er hatte Gundlachs Erregung gehört und
Irene bedroht gewähnt, war leise gekommen und hinter Gundlach getreten,
nahm ihn bei den Oberarmen und setzte ihn auf seinen Stuhl. Gundlach war
bleich, zitterte und rang nach Luft – ich weiß nicht, wie ein Herzinfarkt
aussieht, so stelle ich ihn mir vor.
Irene stand auf, trat zu Gundlach, nahm seine Hand, maß seinen Puls und
schüttelte den Kopf: nichts. Sie legte die Arme um ihn.
[143] 19

Keiner mochte reden. Schwind sah mit gerunzelter Stirn zu, wie Irene
Gundlach in den Armen hielt. Das Meer strömte durch die Kiesel, und ein
Vogel sang vier Töne, immer wieder.
»Ich hätte dir nichts getan. So verrückt das Leben war, so verrückt ich
war…« Irene schüttelte den Kopf. »Ich war aus den Fugen, frei von allem,
was mich begrenzt – und allem, was mich gehalten hatte. Ein Leben wie eine
Sucht. Danach war ich wie auf Entzug, mit Schlaflosigkeit, Herzjagen,
Schweißausbrüchen. Bis auch das vorbei war und es nur noch eine große
Leere gab; alles war weit weg, die Farben stumpf, die Geräusche schwach,
und ich fühlte meine eigenen Gefühle nicht mehr. Bis auf den Ärger. Ich hatte
nicht gewusst, dass ich so ärgerlich werden konnte, schreien, mit der Faust
auf den Tisch und an die Wand schlagen und schließlich weinen, vor Ärger
weinen…«
Sie ließ Gundlach los, der sich wieder gefasst hatte, sah uns an, einen nach
dem anderen, und merkte unsere Verwirrung über ihr plötzliches Bekenntnis.
Sie setzte sich und lachte. »Nun, in der DDR waren die Farben auch stumpfer
als im Westen. Der Verputz, braungrau wie der Sand Brandenburgs, die alten
steinernen Gebäude, nie gereinigt, die abgenutzten [144] grünen Züge der
Reichsbahn, die ausgeblichenen roten Fahnen und Spruchbänder. Aber das
Leben dort war meine Rettung. Nach den verrückten Jahren war es wie der
Aufenthalt in einem Sanatorium, in dem es vieles nicht gibt, aber Ruhe. Es
gibt keine Farben, die ins Auge stechen, keine Musik, die unter die Haut geht,
keine erotischen Verheißungen an jeder Plakatwand, keine Schnäppchen, die
gejagt werden müssen. Und im Sanatorium verändert sich nichts, jedenfalls
nicht wirklich, und sind die Abläufe tagein, tagaus die gleichen.«
Gundlach machte eine wegwischende, abweisende Handbewegung. »Du
willst uns doch nicht…«
»Ich will euch nichts weismachen. Die Gängelungen, der Schlendrian, der
Mangel – das weiß ich alles. Aber ich habe nicht darunter gelitten. Es war…
es war, wie wenn ich bei den Amischen zu Besuch wäre. Die Amischen
können weglaufen, was dort nicht ging, aber streng und karg geht es auch bei
ihnen zu, und weglaufen wollte ich nicht. Der Stillstand der Zeit, die Ruhe,
das Fehlen von Sensationen – es hat mir wohlgetan. Die fertige Datsche
feiern, für die das Material mit List und Mühe beschafft worden war und an
der die Familie und die Freunde mitgebaut hatten, mit der Belegschaft nach
Berlin in die Oper fahren, in den Ferien mit Zelt und Boot durch den
Spreewald paddeln, die Klassiker lesen, die leicht, und die anderen Bücher, die
schwer zu kriegen waren – mir hat es genügt.«
Schwind lachte spöttisch. »Ein Biedermeier-Idyll?«
»Vielleicht«, Irene lachte mit, »vielleicht ist der Vergleich nicht schlecht.
Politische Freiheit gab es im Biedermeier auch nicht.«
[145] »Aber schöne Möbel, Reisen nach Frankreich, und wer genug hatte,
ging nach Amerika.«
»Ich brauche keine schönen Möbel. Ich muss nicht reisen«, sie lachte
wieder, »es sei denn, ich muss. Ich habe die Landschaften geliebt, die heitere
an Saale und Unstrut, die melancholische in Mecklenburg und Pommern und
sogar die geschundene des Braunkohletagebaus. Ich habe auch den
lauwarmen sommerlichen Nieselregen in Bitterfeld geliebt, einen Nebel aus
Nässe und Rauch und Chemie. Und den Frühlingsregen, der die kaputten
Straßen hinunterspült und den Dreck des Winters aus Löchern und Rissen
wäscht. Ich habe die Straßenbahnen geliebt, schäbig, aber sie durften einfach
Straßenbahn sein und mussten nicht für Coca-Cola und schlanke Beine
werben.«
»Der Schmuddel dort war nicht besser als der Nazi-Pomp und -Prunk.«
Gundlach war empört. »Es gibt politische Wahrheiten…«
»Ich habe mit einem Maler gelebt. Überall steckt der Alltag nicht nur voller
Glück und Unglück und Recht und Unrecht, sondern gibt es Schönheit. Auch
Hässlichkeit, aber ich habe mich an der Schönheit gefreut, die es dort gab und
nie mehr geben wird.«
»Warum bist du nicht dort geblieben?«
»Das weißt du doch. Ab 1990 gab es ›dort‹ nicht mehr. Es gab nur noch
›hier‹ und das Bild der Frau mit gefärbten Haaren und Sonnenbrille.«
»Warum wurdest du nicht gefasst?«
»Wie die anderen? Weil ich gleich, als die Mauer fiel, gegangen bin. Ich
hatte meine alten Sachen bei meiner Mutter, auch meinen alten Pass, 1980
ausgestellt und bis 1990 gültig, [146] gerade lange genug, es hierher zu
schaffen. Ich wurde nie unter meinem richtigen Namen gesucht, bis zur
Wende nur als Bild und danach unter dem Namen, mit dem ich gelebt hatte.«
Sie stand auf. »Ich muss mich hinlegen, seid mir nicht böse. Treffen wir uns
um fünf zum Aperitif und essen dann zusammen? Lässt du heute das Essen
einfliegen, wie du es gestern angeboten hast? Hilfst du mir die Treppe hoch?«
[147] 20

Ich half ihr die Treppe hoch und ins Bett. Ich konnte sie nach einem Blick in
den ledernen Beutel beruhigen; sie hatte genug Kokain für den heutigen Abend
und den nächsten Morgen und sogar darüber hinaus. Sie schlief, noch ehe ich
das Zimmer verlassen hatte.
Ich erinnerte mich an die Fahndungsplakate, die eine Zeitlang in Behörden
und Postämtern hingen und im Fernsehen nach den Nachrichten eingeblendet
wurden. Ich habe sie nie aufmerksam angeschaut. Unter der Überschrift
»Terroristen« Irene? Mit gefärbten Haaren, Sonnenbrille und gesenktem
Kopf? Gesucht wegen Beteiligung an Morden, Sprengstoffverbrechen und
Banküberfällen? Mit einer Warnung vor Schusswaffen? Mit dem Versprechen
einer Belohnung? Nein, ich erinnerte mich nicht.
Meine Frau tat sich mit Gesichtern schwer; Prosopagnosie ist, wie ich
inzwischen gelernt habe, eine psychische Disposition wie Dyslexie und
Dyskalkulie, die einen Gesichter nicht richtig wahrnehmen und auch nicht
richtig wiedererkennen lässt. In der Politik ist sie ein schweres Handicap; es
hat meine Frau viel Energie und viel Disziplin gekostet, die Menschen, denen
sie in der Kommunalpolitik begegnete, nicht vor den Kopf zu stoßen. Weil sie
noch nicht wusste, dass es sich um [148] eine psychische Disposition handelt,
hat sie sich auch noch Vorwürfe gemacht und fühlte sich als schlechter
Mensch, der für seine Mitmenschen nicht die gehörige Aufmerksamkeit hat.
Ich hatte mit Gesichtern nie Probleme.
Ich fand Schwind und Gundlach nicht in der Küche und nicht auf dem
Balkon. Dann hörte ich ihre Stimmen vom Strand, verstand sie aber schlecht.
Sie mussten auf der Bank unter dem Vordach des Hauses am Strand sitzen.
Sie stritten nicht mehr miteinander. Sie klangen, als leckten sie ihre
Wunden. War Irene wie für Gundlach auch für Schwind die Niederlage seines
Lebens? Hatte er damals gedacht, er könne beides haben, das Bild, weil
Schwind es ihm schuldete, und Irene, weil sie ihm gehörte? Und dann hatte
Irene ihn um beides gebracht, hatte ihm das Bild weggenommen und war
nicht zu ihm zurückgekommen?
Mir fiel mein Großvater ein, der manchmal erzählte, er habe wieder vom
Abitur geträumt. Ich mochte damals nicht glauben, dass ein frühes Ereignis,
über das ein langes Leben hinweggegangen ist, noch so gegenwärtig sein
könnte. Mein Großvater hatte sein Abitur ohne Schwierigkeit bestanden,
Medizin studiert, eine Praxis eröffnet und erfolgreich geführt – und träumte
vom Abitur? Schwind war der berühmteste und teuerste zeitgenössische
Maler, von Schülern verehrt, von Kritikern hofiert, von Frauen umschwärmt
– und litt unter einer jahrzehntealten lächerlichen Niederlage? Und Gundlach,
vielfach erfolgreich und viele Millionen schwer, Vater zweier geratener Kinder,
glücklich verheiratet, verwand nicht, dass die widerstrebende Irene ihn
seinerzeit verlassen hatte?
Oder sind es gerade die kleinen Niederlagen, über die wir [149] nicht
hinwegkommen? Der erste kleine Kratzer am neuen Auto schmerzt mehr als
die späteren größeren. Die kleinen Splitter sind schwerer zu entfernen als die
großen, und manchmal hilft alles Stochern mit der Nadel nicht, und wir
müssen warten, bis sie herauseitern. Die frühen großen Niederlagen lenken
unser Leben in eine neue Richtung. Die frühen kleinen verändern uns nicht,
aber begleiten und quälen uns, stete kleine Stachel im Fleisch.
Dann lockt die Chance, sie wettzumachen, sie scheint zum Greifen nahe
und ist doch nur Lug und Trug – ich begann, Gundlach und Schwind zu
verstehen. Nicht dass ich mich ihnen verwandt gefühlt hätte. Was ich mit
Irene damals erlebt habe, hat mit dem, was sie mit ihr erlebt haben, nichts
gemein.
[150] 21

Als ich zu ihnen an den Strand ging, redeten sie über ihre Kinder und Enkel.
Wie viele sie hatten, wie sie in der Welt zurechtkamen, wessen Kinder und
Enkel erfolgreicher waren – den Bruchteil eines Augenblicks war ich
versucht, mich dazuzusetzen und mit meinen Kindern und Enkeln anzugeben.
Ich fragte Schwind, was mich seit seiner Ankunft beschäftigt hatte.
»Haben Sie sich tatsächlich bei allen Ihren Bildern die Entscheidung
vorbehalten, was mit ihnen geschieht, an wen sie verkauft und an wen sie
ausgeliehen werden?«
»Was?« Er sah mich verständnislos an.
»Sie haben mir damals gesagt, was Ihnen mit Irenes Bild passiert ist,
würde Ihnen nie wieder mit einem Bild passieren. Sie würden über alle Ihre
Bilder die Kontrolle…«
Er schüttelte den Kopf. »Das soll ich gesagt haben? Es passt eher zu
jemandem wie Ihnen, der über alles juristisch Buch führt. Ich brauche nicht
die Kontrolle über meine Bilder.« Er lachte. »Es reicht, dass meine Bilder die
Kontrolle über die Betrachter haben.«
Gundlach fiel mit verächtlichem Lachen ein.
Ich wusste nicht, ob Gundlachs Verachtung Schwind oder mir galt. Ich
wollte mich nicht über ihn ärgern. »Es ist ein [151] Uhr, und um fünf treffen
wir uns zum Aperitif. Wollen Sie Ihren Piloten nicht losschicken?«
Gundlach machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wollen Sie sich ums
Essen kümmern? Er soll’s im Hotel auf meine Rechnung setzen lassen.«
Ich flog mit. Es ging entlang der Küste, unter uns das Meer, kleine Wellen
mit weißen Kronen, gleißend im Licht der Sonne und stumpf im Schatten der
Wolken, rechts Felsen und Sand, grünes und braunes Land, Orte und
Straßen. Wir sahen Sydney schon von weitem; die Stadt wucherte die Küste
hinauf. Der Flug war laut, trotz der Kopfhörer mit Ohrenschutz, aber nach
dem Gespräch beim Frühstück über die erste und die letzte Zigarette fiel uns
auch nichts mehr ein. Ich schaute ohnehin am liebsten hinunter. Aus der Höhe
sah alles gefällig aus, die Häuser, die Gärten, die Autos, die Parks, die
Strände, die Jachten mit prallen bunten Segeln, die Menschen. Dann flogen
wir über die Sehenswürdigkeiten der Stadt, die Hafenbrücke, das Opernhaus,
den Botanischen Garten. Auf der großen Wiese neben dem Konservatorium
lagen Leute im Gras – einer davon könnte ich sein.
Wir landeten nicht auf dem Dach eines Hochhauses, wie ich mir vorgestellt
hatte, sondern am Rand des Flughafens. Auf der Fahrt in der Taxe entpuppte
der Pilot sich als Hobbykoch, klärte mich über das Fleisch von Barramundi,
Krokodil und Känguru auf, über australische Süßspeisen und über die
Rebsorten und Anbaugebiete australischer Weine und stellte begeistert das
Abendessen zusammen. Kaviar, Barramundi mit Shiitakepilzen, Känguru mit
Macadamianüssen, Pavlova mit Passionsfrucht, dazwischen Granny-Smith-
Sorbet, dazu Champagner, Sauvignon Blanc und eine [152] Assemblage von
Cabernet Sauvignon, Merlot und Shiraz. Was wir nicht vorbereiten lassen
könnten, weil es kalt würde, würde er in Irenes Küche zubereiten – mir war
alles recht. Ich ließ ihn mit dem Koch verhandeln, setzte mich auf die
Terrasse des Hotels und sah auf den Hafen.
Ich musste anrufen. Auch wenn sich meine Kinder keine Sorgen um mich
machten und vermutlich auch keinen Gedanken an mich wandten, sollten sie
doch wissen, wo ich war. In Europa war es zwischen fünf und sechs Uhr, zu
früh, um eines von ihnen zu wecken. In unserer Familie hatten und haben die
Dinge ihre Ordnung; keine lauten Kräche und keine Liebes- und
Freudenorgien, kein faules Nichtstun, so viel Arbeit wie möglich, so viel
Erholung wie nötig, und Tag ist Tag und Nacht ist Nacht. Die Kinder sollten
schlafen. Aber ich konnte den Bürovorsteher anrufen; er ist auch zu Hause
für die Kanzlei da.
Er war wach, als sei heller Tag. »Sie sind krank? Sie wissen noch nicht,
wann Sie fliegen können? Der Arzt meint, es gebe keinen Grund zur Sorge?
Sie sind schwer erreichbar?« Die Verbindung war schlecht, und er
vergewisserte sich mit seinen Fragen, dass er mich richtig verstanden hatte.
»Ihre Kinder anrufen?« Er wollte auch das erledigen und war sicher, er dürfe
mir in Antwort auf meine Grüße an die Kollegen und Kolleginnen deren Grüße
ausrichten.
Ich schaltete das Telefon aus. Ich hatte oder wollte nie ein Boot; das Meer
und neue Küsten und fremde Häfen waren nie eine Verlockung für mich. Aber
jetzt hatte ich das gute Gefühl, als hätte ich mit dem Anruf ein Seil gekappt,
mit dem mein Boot festgebunden war.
[153] 22

Der Pilot übernahm die Küche. Die Pilze und Nüsse mussten nur aufgewärmt,
der Barramundi und das Känguru mussten zubereitet werden. Ich deckte auf
dem Balkon den Tisch, richtete den Kaviar mit Sauerrahm, Zitrone, Zwiebeln
und Eiern an, fand einen Krug, der als Kübel taugte und in den ich den
Champagner mit Eiswürfeln aus der Kühltasche des Hotels stellte. Auf dem
Weg vom Hotel zum Flughafen hatte ich einen Strauß mit Rosen gekauft,
roten, gelben, weißen. Ich zog meine neue Leinenhose und ein neues Hemd
an, und als ich um Viertel nach fünf auf dem Balkon stand, kamen Gundlach
und Schwind, der eine aus der einen, der andere aus der anderen Richtung.
Dann kam Irene. Sie hatte mich nicht um meine Hilfe gebeten, und ich
hatte sie nicht angeboten; dies war ihr Abend, ihr Auftritt. Sie trat gelassen
auf den Balkon, schwarzes Top und langer schwarzer Rock, die Haare
hochgesteckt, die Lippen geschminkt und eine graue Perlenkette doppelt um
den Hals geschlungen. Sie strahlte, lächelte, genoss unsere Bewunderung, ließ
sich von Gundlach ein Glas reichen, von mir einschenken und von Schwind
mit einer Sicherheitsnadel, die er aus der Tasche zauberte, eine weiße Rose
am Top festmachen. Der Kaviar war perlig, der Barramundi [154] saftig, das
Känguru zart, und das Gespräch plätscherte von Belanglosigkeit zu
Belanglosigkeit.
Bis ich Irene fragte: »Weißt du es jetzt? Was geblieben ist? Erkennst du sie
wieder? Findest du wieder, was du in ihnen geliebt hast? Warum du sie
verlassen hast?«
Ich konnte nicht deuten, wie Irene mich ansah. Als risse ich sie aus einem
Traum? Als könnte sie nicht fassen, dass ich mich einmischte? Gundlach und
Schwind waren offensichtlich verblüfft, und ich verstand sie; ich hatte, seit
sie da waren, kaum etwas gesagt.
»O ja.« Sie lächelte. »Ich erkenne Karls Füße wieder, seine großen,
kräftigen Füße, auf denen er sicher in der Welt steht. Ich erkenne seine
Poltrigkeit und seine Zuversicht wieder und dass ich dachte, zwischen beidem
sei ich behütet. Ich erkenne Peters Willen und Kraft wieder, und jetzt, wo er
den Stock braucht, klingt sein Auftreten mit dem Stock wie früher sein
Auftreten mit den Schuhen, unter die der Schuster Eisen nageln musste. Ich
erinnere mich, wie ehrgeizig beide waren. Damals habe ich mich oft zu jung
für sie gefühlt, als ihre Tochter statt als ihre Partnerin. Jetzt fühle ich mich
fast als ihre Mutter. Ich sehe, dass sie sich in der Welt getummelt haben und
Erfolg hatten, und freue mich. Und es war richtig, dass ich sie damals
verlassen habe. Wenn die Kinder groß werden, muss die Mutter gehen.«
»Die Mutter…«
Irenes Blick bat mich, nicht weiterzureden, keine ungläubigen Fragen nach
ihren Rollen zu stellen, der neuen Rolle als Mutter neben den alten als Trophäe
und Muse. Wollte sie einfach schön sein und bewundert werden und den
Abend genießen?
[155] »Du hast uns doch damals nicht verlassen, weil du Mutter uns Kinder
in die Welt entlassen wolltest. Du hast uns doch nicht hierhergelockt, um dich
an seine Füße und an meine Schuhe zu erinnern. Was hat er gefragt?«
Gundlach deutete mit dem Kopf auf mich. »Was geblieben ist? Hast du
wirklich wissen wollen, was von unseren gemeinsamen Jahren geblieben ist?
Und von denen mit ihm?« Jetzt deutete er mit dem Kopf auf Schwind. »Eine
Episode, was sonst. Sie begann zufällig – wenn du damals nicht gerade im
Städel gewesen wärst, als die Japaner eine Führung wollten und der Führer
ausfiel… Und wenn der andere Maler nicht nach Rom gegangen wäre und ich
statt seiner nicht ihn«, er deutete noch mal auf Schwind, »beauftragt hätte…
Und wenn er«, er deutete wieder auf mich, »nicht alles
durcheinandergebracht hätte… Die Episode begann zufällig, sie endete
zufällig, sie liegt lange zurück, und das Leben ist weitergegangen. Was soll…«
»Sehen Sie Ihr ganzes Leben so? Als eine Folge von Episoden?«
Gundlach war von der Frage überrascht, sah Schwind prüfend an und
entschied, dass sein Interesse echt war. »Natürlich nicht. Mein Vater hat aus
einer Werkstatt eine Fabrik und ich habe aus der Fabrik ein Unternehmen
gemacht. Mein Leben hatte ein Ziel. Die Begegnungen, die am Weg und am
Ziel nichts ändern, mögen noch so schön sein, sie bleiben Episoden.«
»Ihre Frauen, Ihre Kinder, Ihre Enkel…«
»Sie sind Teil des Ziels. Was ich geschaffen habe, soll Dauer haben – das
geht Ihnen doch nicht anders. Sehen Sie, ich war Flakhelfer, habe bei der
Deutschen Bank als Lehrling [156] angefangen und als Assistent von Abs
aufgehört, habe während der ersten Ölkrise die Fabrik übernommen, war
schon vor der Wiedervereinigung in Amerika und bin seit der
Wiedervereinigung auch in Osteuropa und China. Wir müssen nicht mehr
wachsen. Aber obwohl sich unsere Welt nicht mehr ändert, bleibt sie in
Bewegung, und wenn wir unseren Platz halten wollen, müssen wir auch in
Bewegung bleiben. Ob meine Kinder und Enkel das schaffen… Der Genpool
eines Familienunternehmens ist beschränkt.«
Schwind fragte lächelnd: »Das Ende der Geschichte?«
»Die Geschichte geht weiter. Aber unsere Welt ändert sich nicht mehr.
Nichts bedroht sie mehr, kein Kommunismus, kein Faschismus, keine jungen
Leute, die alles anders haben wollen. Seit dem Ende des Kalten Kriegs gibt es
zu unserer Welt keine Alternative mehr. Nennen Sie mir ein Land, das nicht
unter dem Gesetz des Kapitals lebt – es fällt Ihnen keines ein, auch Chinas
Kommunismus ist Kapitalismus geworden. Das Gesetz des Propheten, für das
Muslime töten und sterben, ist keine Alternative, nur eine Aufgabe für Polizei
und Geheimdienste. Sie machen sich Sorgen wegen der Armen? Solange der
Fernseher läuft und Bier auf dem Tisch steht, sind sie keine Bedrohung, und
dafür langt es allemal.«
[157] 23

»Das klingt…« – Schwind suchte nach dem richtigen Wort – »bleiern.«


»Ist Ihre Kunst bleiern? Ich verstehe nicht viel von Kunst, aber nachdem
wir uns damals begegnet sind…«
»Eine Episode?«
»Eine Episode, genau, nach der ich verfolgt habe, was Sie gemalt haben
und wie Sie berühmt und teuer wurden. Das Gegenständliche, das Abstrakte,
die Fotografie als Material, das Glas als Gegenstand und als Bild, die
Strukturen und die Farben – Sie haben mit allem gespielt, wie ein kleines
Kind, das nach einem langen Tag, an dem seine großen Geschwister hiermit
und damit gespielt haben, inmitten des Spielzeugs sitzt und mal dieses und mal
jenes Stück greift. Sie sind der Künstler, dem alles zu Gebot steht und der von
allem Gebrauch macht und zu dessen Kunst es keine Alternative mehr gibt.«
Irene lächelte Schwind an. »Bist du das?«
»Ich…«
»Ich bin gleich zu Ende. Sie sind es, weil die Welt sich nicht mehr ändert.
Sie bleibt in Bewegung, aber die Bewegungen in Wirtschaft und Finanzen und
Kultur und Politik wiederholen sich nur noch, sie ändern die Welt nicht mehr.
Auch [158] Ihre Kunst ist in Bewegung, manchmal in ein und demselben
Werk. Deshalb ist sie schön. Aber sie ändert nichts.« Er wurde ernst. »Ja, ich
will Irenes Bild wieder bei mir zu Hause haben.«
»Was soll die Kunst ändern? Ich habe gemalt, was ich gesehen habe.
Manchmal habe ich gesehen, was es nicht gibt, was es aber geben könnte,
und auch das gemalt. Ich habe so gut gemalt wie möglich. Das ist alles.«
»Ich weiß. Sie wollten nicht der Künstler werden, zu dessen Kunst es keine
Alternative gibt. Aber so, wie die Welt und die Kunst sind, verlässlich,
alternativlos, überschaubar, kann, wer sich auf sie einlässt, nichts anderes
werden. Er kann einen Gag präsentieren oder einen Skandal produzieren. Aber
auch das ist immer wieder das Gleiche.«
»Was bringt das Blei zum Schmelzen?«
»Ich weiß nicht. Ein Atomkrieg, ein Meteoriteneinschlag, eine andere
Katastrophe, die die Welt auslöscht, die wir kennen. Aber ich finde die Welt
nicht bleiern. Ich mag sie so, wie sie ist, und Sie mögen sie auch. Sie ist
wieder, wie sie immer war, bis Kommunismus und Faschismus sie
durcheinandergebracht haben. Es gibt die Reichen und die anderen, und die
Reichen kümmern sich, und die anderen schicken sich.«
»Kümmern sich…«
Gundlach lachte. »Kümmern sich darum, dass sich nichts ändert.«
Ich sah zu Irene und bekam Angst. Die Wirkung des Kokains ließ nach. Ihr
Gesicht zeigte ihre Erschöpfung und ihre Verzweiflung darüber, dass die
Krankheit sie wieder in ihre Gewalt nahm. Sie sah meinen Blick, ihr Ausdruck
[159] wurde trotzig, und sie stand auf. Sie ging mit schwerem Schritt zur
Treppe und die Treppe hoch.
»Ich erinnere mich an die Frauen«, Schwind war bei der Hoffnung und
dem Aufbruch der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, »die schönen,
klugen Frauen aus gutem Haus, die sich damals zu den Linken geschlagen
haben, aus politischer Überzeugung und weil sie spürten, wo die Avantgarde
ist, wo es lebendig und prickelnd zugeht. Noch ehe ich Irene bei Ihnen
begegnet bin, habe ich sie bei einer Diskussion in der Universität erlebt. Sie
hat nur dagesessen und zugehört, aber wie sie dasaß und zuhörte – es war
klar, dass hier die Zukunft verhandelt wurde.«
»Die Zukunft?« Gundlach lachte verächtlich.
Der Pilot kam, wir räumten den Tisch ab, trugen den Nachtisch auf und
spülten danach dann ab, ich immer mit dem Ohr in Richtung Treppe. Als wir
in der Küche fertig waren, nahm der Pilot eine Flasche Rotwein und ging. Ich
sah ihm nach, sah ihn sich auf die Mole setzen und trinken und rauchen.
Seine Zigarette glühte. Es war dunkel geworden.
[160] 24

Dann kam Irene die Treppe hinunter. Hatte sie die Dunkelheit abgewartet? Als
ich zwei Kerzen auf den Balkon bringen wollte, bedeutete sie mir, eine
genüge.
Ich war Gundlachs und Schwinds Gespräch nicht gefolgt. Es war kurz
laut geworden, dann wieder ruhig. Als Irene saß, fragte Gundlach: »Du hast
noch immer nicht gesagt, was du damals getan hast.«
»Ob ich einen umgebracht habe? Meinst du das? Ich war eben dabei. Ich
wusste noch nicht, dass sich nichts ändert. Niemand wusste es. Wir dachten,
wenn es den Westen und den Osten gibt, kann es auch etwas geben, das
besser als beide ist. Jetzt, wo es die beiden Welten nicht mehr gibt… Ich
verstehe, was du sagst. Vielleicht verstand ich es schon, als ich in der DDR
lebte. Sie war erledigt. Erschöpft von den ideologischen Übertreibungen, den
leeren Ritualen, den Anstrengungen, die zu nichts geführt hatten.«
»Warum so traurig?«
»Kennt ihr das? Das Gefühl, wenn es so weit ist, müsstet nicht nur ihr
sterben, sondern mit euch ginge die Welt unter? Man könnte meinen, wenn
man tot ist, macht es keinen Unterschied, ob die Welt weiterbesteht oder
untergeht. Aber es macht einen.«
[161] Gundlach hatte keinen Sinn für den Tod des Einzelnen und das Ende
der Welt. »Wie lebst du hier illegal?«
»Mein Aufenthalt hier… Es ist nicht schwer, wenn man in Deutschland
Geld auf dem Konto hat und hier mit Kreditkarte bezahlt und Geld abhebt und
den Staat nicht braucht. Ein bisschen schwierig war, das Bild hierher
mitzubringen. Wer reist schon mit solchem Gepäck.«
Schwind hatte Gundlach und Irene mit sichtbarer Ungeduld zugehört. »Das
Ende der Welt, das Ende der DDR – alles schön und gut. Ich will endlich
wissen, wie ich zu meinem Bild komme. Zu meinem Bild – ich habe es
gemalt, habe es gerichtet, als er es zerstört hat«, Schwind zeigte mit dem
Finger auf Gundlach, »habe dafür bezahlt…«
»Dafür bezahlt?« Gundlach war empört. »Sie hatten genug von Irene und
haben sie mir gebracht – das nennen Sie bezahlt? Ich weiß, warum Sie das
Bild wollen – Sie haben nie wieder so gemalt wie damals. Seitdem sind Sie
epigonal und gefällig durch die Kunstgeschichte spaziert.«
»Ich bin…«
»Sie sind ein ausgebrannter Maler, der seinen Anfängen nachweint. Weinen
Sie sich anderswo aus. Hier haben Sie nichts zu melden, nicht moralisch und
nicht juristisch. Sie haben kein Recht auf das Bild, das Sie verkauft, und kein
Recht an Irene, die Sie verraten haben. Packen Sie Ihre Sachen, und lassen
Sie sich von ihm«, er zeigte mit dem Kopf zu mir, »zurückbringen.«
»Was für ein arrogantes Arschloch Sie sind! Alles wegen Ihrem blöden
Geld? Das Ihnen die Frau nicht kaufen konnte und nicht mal das Bild? Sie
haben es so sinnlos gesammelt wie Bierdeckel. Sie sind ein
Bierdeckelsammler, und die Welt [162] ohne Alternative, von der Sie geredet
haben, ist die Welt der Bierdeckel. Begreifen Sie nicht? Was zählt, können Sie
mit Geld nicht kaufen!«
»Ha«, Gundlach lachte höhnisch, »der Maler des globalen Kapitalismus
offenbart sich als Kapitalismuskritiker. Warum verkaufen Sie Ihre Bilder für
Millionen? Warum verschenken Sie sie nicht an die Museen?«
Irene wollte etwas sagen, kam nicht zu Wort, und so unterbrach ich den
Streit der beiden. »Können…«
»Unser Anwalt…« Gundlach winkte ab. »Er«, er zeigte mit dem Kopf zu
Schwind, »hat immerhin ein Œuvre zustande gebracht und ein Vermögen
zusammengemalt, ich habe gemacht, was ich gemacht habe, aber Sie? Teure
Kanzlei, ich weiß, große Fälle, aber immer für andere die Drecksarbeit
erledigen – Sie sind ein Lakai. Zuerst waren Sie seiner«, wieder die
Kopfbewegung zu Schwind, »dann meiner, dann ihrer«, jetzt zu Irene. »Sie
halten am besten den Mund.«
»Was erlauben…« Ich wollte das nicht auf mir sitzen lassen.
»Ein Lakai«, Schwind lachte laut, »ein Lakai. Wie die Butler, die meinen, sie
seien etwas Besseres, auch nur Lakaien sind. Ich erinnere mich an Ihren
Butler. Eine servile Seele, die…«
»Er war ein besserer Mensch als Sie. Er hat es nie gesagt, aber auch er hat
das Bild vermisst, und es tut mir leid, dass er es nicht wieder an seinem Platz
sehen kann. Irene«, er redete mit der freundlichen Geduld, mit der man zu
einem störrischen Kind redet, »ich will dich in Ruhe lassen, keine Polizei,
keinen Strafprozess, auch keinen Prozess um das Bild. Wir können nicht
mehr alles in Ordnung bringen, was damals [163] schiefgelaufen ist. Aber das
Bild muss wieder dahin, wohin es gehört.«
»Jetzt geht die Leier wieder los!« Schwind hob und senkte seine großen
Hände, wie damals. »Alles hat einen Ort, an den es gehört, und wenn es nicht
ist, wohin es gehört… Hören Sie auf, Gundlach. Es reicht. Irene soll
entscheiden, und dann soll gut sein. Wenn sie das Bild Ihnen gibt, sollen Sie
es haben, und wenn sie…«
Gundlach schüttelte den Kopf. »Es gibt für Irene nur eine Entscheidung,
das wissen Sie so gut wie ich. Fragen Sie unseren Lakaien. Dass Sie sich bei
Irene einschmeicheln, hilft Ihnen nicht und ihr nicht.«
»Mit diesem Arschloch warst du verheiratet? Diesem gierigen…«
»Gierig? Sie wollen das Bild doch ebenso wie ich. Mit Ihrer weichen Tour,
mit ›Irene soll entscheiden‹ machen Sie mir nichts vor und ihr auch nicht.
Sie…«
Irene stand auf. Sie sah erbärmlich aus, alt, krank, müde. »Ich habe das
Bild vor Wochen der Art Gallery geschenkt. Ich kann es euch nicht mehr
geben, keinem von euch. Ich wollte euch nur noch mal sehen.« Sie sah zu
mir, und ich legte den rechten Arm um sie und stützte sie mit dem linken und
half ihr zur Treppe und die Treppe hoch. Sie legte sich angezogen aufs Bett,
ich zog die Decke unter ihr hervor und breitete sie über sie. Ehe ich die Tür
hinter mir schloss, schlief sie schon.
[164] 25

Als ich auf den Balkon kam, hatten Gundlach und Schwind die Sprache
wiedergefunden. »Kann sie verschenken, was ihr nicht gehört?«
»Sie hätten das Bild beim Art-Loss-Register melden müssen. Ich bin sicher,
die Art Gallery hat dort nachgefragt, und weil das Bild nicht verzeichnet war,
ist sie gutgläubig Eigentümerin geworden. Wenn Sie es genau wissen wollen,
fragen Sie Ihre Lakaien.«
»Das Theater mit der Leihgabe nur, um uns hierherzulocken? Was wollte
sie von uns?« Gundlach schüttelte den Kopf. »Frauen! Sie verstehen nicht,
dass, was vorbei ist, vorbei ist. Dass man, wenn man vorwärts gehen will,
das Vergangene hinter sich lassen muss. Die alten Lieben und alten
Freundschaften immer mit sich schleppen… Man wächst aus ihnen heraus
wie aus alten Kleidern. Nach Jahr und Tag riechen sie muffig.«
Gundlach mochte recht haben. Aber er reizte mich. »Wollten Sie nicht den
Lauf der Zeit anhalten? Wollten Sie das Bild nicht wiederhaben, damit Sie mit
der jungen Irene jung bleiben?«
»Das hat er gesagt?« Schwind lachte.
»Um mit dem Bild der jungen Irene jung zu bleiben, muss [165] ich nicht die
alte sehen. Sie haben uns übrigens noch immer nicht gesagt, was Sie hier
verloren haben.«
Ich stand auf. »Was spielt das für eine Rolle?« Ich ging, setzte mich an den
Strand, hörte Gundlach und Schwind mutmaßen, was ich hier verloren hatte,
und ihre vergeblichen Reisen hierher in erzählbare kleine Abenteuer
verwandeln. Dann prahlte Gundlach mit der nach seinem Vater benannten
Hans-Gundlach-Stiftung, die sich um die Restaurierung von Dorfkirchen in
Brandenburg und Mecklenburg kümmerte. Schwind fand, Stiftungen seien
etwas fürs Testament und das, was nach Frauen und Kindern übrig bleibe,
redete von seinen fünf Kindern aus vier Ehen, von Demokratisierung und
Banalisierung der Kunst und mokierte sich über Maltherapie für Behinderte
und Malwettbewerbe für Kinder.
Ich legte Schuhe und Socken ab. Das Meer war warm, ich zog mich aus
und schwamm in die mondhelle Nacht, bis ich das Reden auf dem Balkon
nicht mehr hörte und das Licht der Kerze nicht mehr sah. Am Ende der Bucht
neigte sich ein Felsen zum Wasser. Er war ganz glatt. Ich streckte mich aus,
der Stein hatte die Sonne des Tages gespeichert und wärmte meinen Rücken,
und der laue Wind strich mir über Gesicht und Brust und Bauch.
Hatte Irene wieder die werden wollen, die sie für Gundlach und Schwind
damals gewesen war? Ihr Kokettieren in der Rolle der Mutter, ihre Freude an
der Bewunderung der beiden und ihr Lachen bei deren Scherzen, ihre brave
Darstellung ihres Lebens – sie war den beiden zu Gefallen gewesen. Um sie
hervorzulocken? Damit sie besser sähe, wer die beiden waren? Oder blieb sie
ihnen gegenüber einfach [166] die Irene von damals, wie Menschen erzählen,
dass sie ihren Eltern gegenüber auch dann noch Kind bleiben, wenn sie groß
und die Eltern alt sind?
Es ging mich nichts an. Ich habe ein gutes Gefühl dafür, ob eine Sache
mich etwas angeht oder nicht, und ich wusste, dass alles, was hier lief,
Irenes und Gundlachs und Schwinds Angelegenheit war, nicht meine. Irene
konnte sich präsentieren, Gundlach und Schwind konnten sich produzieren,
wie sie wollten. Ich war nur ein zufälliger Zuschauer. Ich weiß nicht, warum
ich mich auf einmal schuldig fühlte – nicht weil ich Irene damals geholfen
hatte, das Bild zu stehlen, oder weil ich mich heute in das Spiel zwischen ihr
und den beiden anderen eingemischt hatte oder weil meine Frau mit dem Auto
gegen einen Baum gefahren war oder weil ich meine Kinder lange nicht
gesehen hatte. Meine Kinder sind groß, meine Frau war es auch, ich hatte
heute meistens den Mund gehalten und damals nichts getan, wofür Irene
nicht auch andere Helfer hätte finden können. Mein Schuldgefühl galt nichts
Bestimmtem. Es war wie eine Angst, obwohl nichts droht, eine Trauer,
obwohl nichts passiert ist. Es war ein körperliches Gefühl, und obwohl ich
mir sagte, dass der Körper sich nur gut oder schlecht, aber nicht schuldig
fühlen kann, war es ein Schuldgefühl. Ich fror und schwamm zurück.
Das Haus lag ruhig und dunkel. Am Fuß der Treppe hockte Kari; wir
nickten uns zu, und ich lächelte ihn an, aber er lächelte nicht zurück. Auf dem
Balkon standen noch Gläser und offener Wein, ich schenkte mir ein und
setzte mich. Ich konnte am nächsten Tag von Rock Harbour die Kanzlei
anrufen und einen Kollegen herausfinden lassen, wessen die [167] Terroristin
mit gefärbten Haaren, Sonnenbrille und gesenktem Kopf beschuldigt wurde.
Aber vielleicht hatte Gundlach recht. Dann war, was immer Irene getan hatte,
Teil einer vergangenen Welt, mit der unsere Welt nichts gemein hat.
Als ich im Bett lag, horchte ich auf das Rauschen der Wellen und Klirren
der Kiesel. Es war schwach, ich konnte es kaum hören. Ich konnte auch den
Atem des Hauses nicht hören. Es war eine eigentümliche Unruhe im Haus, als
halte Irene Hände und Beine nicht still, als wälze Gundlach sich im Bett, als
murmele Schwind im Schlaf und gehe der Pilot im Zimmer rauchend auf und
ab. Als zittere das Haus, nicht vom Wind oder einem Beben geschüttelt,
sondern unter der Last der Beherbergung der unverträglichen Menschen. Ich
lag ganz still.
[169] DRITTER TEIL

Am nächsten Morgen klopfte der Pilot leise an die Tür und streckte den Kopf
ins Zimmer. Ob ich mitfliegen wolle? Schwind komme auch mit. Sie könnten
mich bis Sydney mitnehmen oder in Rock Harbour absetzen. Nein? Er winkte
und machte die Tür sanft wieder zu. Ich hörte die drei auf der Treppe des
Hauses und auf der Treppe zum Strand; sie redeten nicht und traten behutsam
auf. Sie stehlen sich davon, dachte ich, sagte mir aber gleich, dass das ein
dummer Gedanke sei. Dann dröhnte der Motor, die Rotorblätter knatterten
und zischten, der Hubschrauber hob ab, wurde leiser und wieder lauter, als
mache er eine Kurve über Bucht und Haus, und flog davon. Er hatte die Vögel
aufgescheucht; sie rauschten, flatterten, zwitscherten, krächzten aufgeregt.
Als Irene um zehn noch nicht aufgestanden war, lauschte ich an ihrer Tür,
hörte nichts, klopfte, hörte wieder nichts und ging in ihr Zimmer. Es roch
nicht nur nach Krankheit. Es stank nach Kot und Urin, trotz des offenen
Fensters, ein dumpfer, strenger Geruch. Irene lag mit offenen Augen im Bett
und sah mich beschämt und abweisend an.
»Geh. Ich stehe gleich auf. Ich bin nur etwas schwach.«
»Soll ich ein Bad einlaufen lassen? Oder willst du duschen?«
[170] Sie weinte. »Es ist mir noch nie passiert. Ich wollte aufstehen und
rübergehen, aber ich kam nicht hoch und blieb liegen und konnte es nicht
halten.«
»Ich hole dich gleich.« Ich ging ins Badezimmer, ließ Wasser in die Wanne
laufen, tat Badeöl ins Wasser und achtete auf die rechte Temperatur und das
rechte Maß an Schaum. Ich wartete, dass die Wanne voll würde. Als Kind
habe ich gerne gebadet; die Wanne wurde von einem Ofen mit Boiler gespeist,
und ich schnippte Wasser gegen den heißen Boiler und hörte es zischen. Seit
Jahrzehnten dusche ich nur noch. Baden ist Zeitverschwendung. Aber Irene
hatte Zeit, und es würde ihr guttun, nach der Dusche in der Wanne zu liegen,
bis ich das Bett gerichtet hatte. Überhaupt gab es auf einmal viel Zeit.
Ich holte sie; sie legte den Arm um meine Schultern und ließ sich halb
führen, halb tragen. Vor der Dusche zog ich sie aus, unter der Dusche wusch
ich sie, während sie sich am Wasserhahn festhielt. Ich habe meine Kinder
nicht gewindelt und gewickelt und wusste nicht, wie hartnäckig
eingetrockneter Kot an der Haut haftet. Als ich Irene gesäubert hatte, trug ich
sie in die Wanne. Sie hielt während der ganzen Prozedur die Augen
geschlossen und sagte kein Wort. Ich sagte auch nichts. Ich konzentrierte
mich darauf, sie sauberzukriegen und nicht nass zu werden. Ich wurde
trotzdem nass.
Aber ich wollte mich nicht umziehen, solange ich nicht alles in Ordnung
gebracht hatte. Ich weichte die Bettwäsche zuerst ein und steckte sie dann
mit dem Schlafanzug in die Propangaswaschmaschine. Ich schleppte Irenes
Matratze auf den Balkon, wusch sie ab und legte sie in die Sonne, brachte
[171] eine Matratze aus einem anderen Zimmer in ihr Zimmer und bezog ihr
Bett. Ich machte Tee und Porridge und stellte ihr beides bereit. Dann
trocknete ich sie ab und trug sie in ihr Bett; wieder sagte sie nichts.
»Ich komme gleich wieder, ich ziehe mich nur um.«
»Die anderen sind weg?«
»Ja.«
Ich stand in der Tür und sah sie an, bis sie lächelte und sagte: »Schau nicht
so ernst!«
»Was hast du?«
»Gleich. Zieh dich zuerst um.«
Aber als ich wieder in ihr Zimmer kam, war sie eingeschlafen, und als sie
aufwachte, wollte sie nicht über ihre Gesundheit reden. Sie trank den
lauwarmen Tee und aß das lauwarme Porridge und wollte zu den beiden
Höfen gefahren werden, wegen der Einkäufe und weil künftig Meredene vom
ersten Hof dem Mann auf dem zweiten die Spritzen geben müsse.
Ich legte Irene einen Mantel um, band sie mit dem Gürtel am Sitz fest und
fuhr sie im Jeep zu den Höfen. Wo sich die Spur verlor, wies sie mir den
Weg, und ich versuchte, mir die Bachbetten und Tümpel und Baumgruppen
und Felsen einzuprägen, an denen der Weg vorbeiführte. Das nächste Mal
würde ich vielleicht alleine fahren müssen.
Bei beiden Höfen blieb Irene im Jeep sitzen. Sie ließ mich Meredene holen,
erklärte ihr, sie müsse jetzt die Spritzen geben, auch wenn sie es lieber nicht
täte, und trug ihr Einkäufe auf. »Wie wäre es mit…«, setzte ich an, und Irene
wusste, was ich sagen wollte, und sagte: »Ja, ich brauche noch Windeln.«
Auf dem anderen Hof nahm die alte Frau brummig, ohne [172] Frage und ohne
Dank, zur Kenntnis, dass Irene nicht mehr könne und dass statt ihrer künftig
Meredene komme.
Irene sah ihr nach. »Ihrem Mann verdanke ich das Haus am Meer, und ich
wollte es ihm vergelten, indem ich ihn bis zum Tod versorge. Jetzt überlebt er
mich.« Sie spürte meinen fragenden Blick. »Bauchspeicheldrüsenkrebs. Noch
ein paar Wochen oder auch nur eine, genau kann man das nicht sagen.«
[173] 2

Irene wollte lieber auf dem Balkon liegen als in ihrem Zimmer. Ich ging von
Zimmer zu Zimmer, bis ich ein hinreichend leichtes Bettgestell fand, das ich
auf den Balkon tragen konnte. Die Matratze, die ich gewaschen hatte, war
trocken und roch nach Sonne.
»Du hättest mit den anderen gehen sollen«, sagte Irene, als sie lag. »Jetzt
musst du bleiben bis zuletzt.« Sie lächelte.
»Wer hat die Diagnose gestellt?«
»Die Ärzte im Sydney Cancer Centre.«
»Haben sie gesagt, dass man nichts mehr machen kann?«
Sie lachte. »Glaub mir, wenn sie noch etwas zu machen gewusst hätten,
hätten sie’s gemacht. Sie leben davon.«
»Hast du eine zweite Meinung eingeholt?«
»Ich habe eine zweite Meinung eingeholt und mich über Behandlungen
informiert und sogar die wundersamen Heilungen recherchiert, von denen
berichtet wird. Und ich möchte nicht von dir verhört werden.«
Ich war gekränkt, weil ich es gut gemeint, und ärgerte mich, weil ich es
dumm angestellt hatte. Irene sah es und sagte: »Ich weiß. Wenn ich könnte…
Ich würde lieber nicht sterben.«
Jetzt erst traf es mich. Irene würde sterben. Ein Kollege [174] aus der
Kanzlei hatte sich letztes Jahr in den Ferien so lust- und appetitlos gefühlt,
dass er nach seiner Rückkehr zum Arzt ging, der ihn zur Untersuchung ins
Krankenhaus überwies; drei Wochen später war er tot. Bei meinem Zahnarzt
dauerte es von der Diagnose bis zum Tod zwei Monate. Wenn mir jemand
von einem plötzlichen Tod erzählt, frage ich inzwischen
»Bauchspeicheldrüse?« und liege richtig. Der bösartigste, schnellste,
tödlichste Krebs. Allerdings habe ich auch gelernt, dass man, wenn man
Glück hat, nicht von Schmerzen, Thrombosen oder Atemnot geplagt wird,
sondern sich nur schwach und schwächer fühlt. Der Körper stellt einfach
seine Arbeit ein, verweigert sich, verabschiedet sich. Wenn man Glück hat,
schläft man ein und wacht nicht mehr auf.
»Möchtest du etwas? Kann ich dir etwas bringen?«
»Ein weiteres Kopfkissen.«
Ich brachte ihr das Kopfkissen. Als ich gehen wollte, sagte sie: »Holst du
einen Stuhl und setzt dich zu mir?«
»Ich muss die Wäsche aufhängen.«
»Kommst du, wenn du sie aufgehängt hast?«
Was mochte sie von mir wollen? Auch meine Frau wollte, als sie einmal
eine Lungenentzündung hatte, dass ich an ihrem Bett sitze und dass ich ihre
Hand halte. Aber sie hat mich nichts gefragt und auf meine Fragen einsilbig
geantwortet, und ich wusste nicht, was ich an ihrem Bett sollte. Ich habe
dann Akten mitgenommen und bearbeitet. Irene hatte ein Regal mit Büchern in
ihrem Zimmer. Ob ich unter den Büchern ein interessantes fände?
Aber als ich saß, fragte sie: »Erzählst du mir, wie es geworden wäre?«
[175] Ich verstand nicht.
»Wie es geworden wäre, wenn ich damals zu dir gekommen wäre?«
[176] 3

Manchmal habe ich meinen Kindern Geschichten erzählt. Meistens kam ich so
spät nach Hause, dass sie schon schliefen. Aber wenn ich früher kam und sie
noch wach waren, bestand meine Frau darauf, dass ich mich zu ihnen setzte
und mit ihnen redete. Aber was sollten wir miteinander reden, ein
Rechtsanwalt um die vierzig und ein Mädchen und zwei Jungen zwischen
neun und zwölf? Zum Glück mochten sie meine Geschichten, die Abenteuer
eines Jungen im Dreißigjährigen Krieg, und ich hatte Spaß daran, sie mir
auszudenken. Die Kanzlei hatte damals einen Wagen angeschafft und einen
Chauffeur angestellt, und ich saß im Fond, fuhr nach Hause, fand den Faden
der Geschichte wieder und spann ihn weiter. Aber was Irene jetzt wollte –
wie sollte ich das leisten? Über sie reden, über mich, über uns, Fiktion, aber
Fiktion, in der wir vorkamen, wie wir wirklich waren.
»Ich weiß nicht…«
Sie sagte nichts, sah mich nur aufmerksam und erwartungsvoll an.
»Ich brauche einen Moment.«
Sie nickte und sah mich weiter an.
»Ich… « Ich machte die Augen zu und suchte die alten Bilder: Irene auf
der Mauer, ihr Lachen, ihr Sprung, Irene in [177] meinen Armen, Irene am
Steuer, Irene, die mir sagt, dass ich aussteigen soll, die mich mit einem Kuss
verabschiedet und absetzt, die davonfährt. Ich mochte die alten Bilder nicht.
Ich weiß nicht, warum ich mich auf Irenes Bitte einließ.
»Ich holte im Dorf mein Auto und fuhr nach Hause. Hattest du am
Samstag gemerkt, dass ich die Wohnung in einen Zustand gebracht hatte, von
dem ich hoffte, er würde dir gefallen? Ich lief auch am Sonntag wieder durch
die Wohnung und nahm hier etwas weg und legte dort etwas hin, schuf hier
und dort ein bisschen Durcheinander, damit du nicht gleich sähest, was für
ein Pedant ich bin, sondern mich für einen kreativen, souveränen Menschen
hieltest. Ich hatte Angst, du würdest nicht kommen, sah alle Augenblicke aus
dem Fenster, machte eine Kanne Tee, vergaß, die Blätter rauszunehmen, und
vergaß es bei der nächsten Kanne wieder.
Aber du kamst. Du kamst zu Fuß, ich sah dich von weitem, deine
aufrechte Haltung, deinen leichten, festen Gang – habe ich dich überhaupt
jemals schlendern gesehen? Du kamst über die Straße, ich rannte hinunter,
machte dir auf und wollte dich wieder in die Arme nehmen, merkte aber, dass
das jetzt nicht passte, dass es dir nicht passte.
Über dem Tee fragtest du: ›Kann ich ein paar Tage hierbleiben? Wie die
Schwester beim Bruder? Ich habe eine Wohnung, aber Karl und Peter wissen
von ihr, und ich will dort nicht von ihnen gesucht werden. Ich will auch nicht
von Peter in einem Hotel gefunden und gestellt werden; er kann seine Leute
alle Hotels absuchen lassen. Ich könnte verreisen, aber ich möchte morgen
wieder arbeiten.‹
›Bei der Arbeit finden sie dich nicht?‹
[178] ›Nicht wenn ich dem Direktor sage, dass ich nicht gefunden werden
möchte.‹
›Und auf dem Weg zur Arbeit? Wenn du ins Museum…‹
›Ich weiß schon, dass ich mich nicht lange verstecken kann. Ich will nur
ein paar Tage nichts von den beiden sehen.‹
Wir saßen mit dem Tee auf dem Balkon. Hier hatte ich am Morgen vom
gemeinsamen Leben auf dem Balkon geträumt, auf diesem und auf einem
größeren und schöneren, und vom Leben in einem Garten mit alten Bäumen
und vom Heiraten. Ich hätte darin, dass du bei mir unterschlüpfen wolltest,
gerne ein Versprechen gesehen, wusste aber, dass du keines gabst. Ich dachte
an Filme, in denen der Held die Frau einfach in die Arme nimmt und sie zuerst
nicht will und dann doch, ihm zuerst mit den kleinen Fäusten gegen die breite
Brust schlägt und ihn dann zärtlich hält. Wusstest du, dass ich das nicht
versuchen würde? Dass ich dazu nicht fähig war? Dass du bei mir sicher
warst? Verachtetest du mich dafür?
Das beunruhigte mich, bis mich die Freude überwältigte, dass du bleiben
würdest. Immerhin ein paar Tage Gemeinsamkeit. Zusammen kochen, essen,
reden, die Zeitung oder ein Buch lesen, fernsehen, einkaufen, Spaziergänge
machen. Ich lachte dich an, und du lachtest zurück, erleichtert, dass ich nicht
drängte und bettelte und es kein Drama gab. Du erzähltest mir von Karls Wut,
als das Bild weg war, vom Streit zwischen Karl und Peter, davon, dass sie
dich nicht beachteten und erst nach dir riefen, als du schon im Garten warst.
Du erzähltest es als komische Geschichte, und zugleich klangst du
unglücklich – über die beiden, über dich, vielleicht auch über mich, weil du
von Männern einfach genug hattest. So fing unser Alltag in Frankfurt an.
Wir…«
[179] »Wo habe ich geschlafen?«
»In meinem Bett.«
»Und du?«
»Auf der Couch.«
Sie nickte. »Du gingst morgens in die Kanzlei, und ich ging ins Museum?
Und am Abend haben wir zusammen gekocht? Und am Sonntag…«
[180] 4

»Nicht so schnell. Am Dienstag wurde in deine Wohnung eingebrochen. Der


Hausmeister rief dich im Museum an, und weil nichts fehlte, nahm man an,
die Einbrecher seien überrascht worden. Du wusstest, dass sie das Bild
gesucht und nicht gefunden und sonst nichts gewollt hatten. ›Vielleicht
brechen sie morgen bei dir ein‹, sagtest du beim Abendessen. ›Wenn sie
inzwischen herausgefunden haben, dass ich bei dir wohne. Möchtest du, dass
ich das Bild zurückgebe?‹«
»Nein, das habe ich nicht gefragt.«
»Es war keine echte Frage. Du hast die linke Braue hochgezogen, so, wie
du sie jetzt hochziehst. Wir haben überlegt, ob wir den Einbruch verhindern
können. Aber wenn sie nicht morgen kämen, kämen sie übermorgen oder
nächste Woche. Am besten war, das zusätzliche moderne Schloss nicht
abzuschließen, damit sie die Tür mit dem Dietrich öffnen könnten.
So machten wir es, nicht nur am Mittwoch, sondern auch am Donnerstag
und Freitag, und weil die Tür nicht aufgebrochen werden musste, haben wir
nicht erfahren, ob sie die Wohnung tatsächlich durchsucht haben. Es fehlte
nichts. Und ja, du gingst ins Museum, warst dort morgens besonders früh
und abends besonders spät, damit Karl oder Peter dich [181] nicht abpassen
konnten, und ich ging in die Kanzlei, und abends haben wir zusammen
gekocht. Am Sonntag haben wir auf dem Balkon gefrühstückt. Es war ein
goldener Herbsttag, wir hatten die Woche ohne Schaden überstanden und
dachten, es werde alles gut. Du wolltest bald ausziehen. Aber inzwischen
wusste ich, dass du Opern liebst, und hatte dich zu La Bohème eingeladen,
und du hattest zugesagt.«
»Ich habe nicht genörgelt? Ich war die liebe kleine Frau in deiner
harmonischen kleinen Welt?«
»Ich kann auch aufhören.«
Sie lachte. »Nein, aber wir können unser Leben doch nicht wie ein altes
Paar auf dem Balkon verbringen!«
Ich hätte es gekonnt, aber sie nicht. »Am Montag riefen mich Karchinger
und Kunze zu sich. Es tue ihnen leid, aber wir müssten uns trennen. Das
Gerücht, ich hätte Parteiverrat begangen, sei nur ein Gerücht, und sie wollten
gerne glauben, dass sich, wenn aus dem Gerücht eine Anklage und ein
Verfahren würden, meine Unschuld erweise. Aber das alles könne sich
hinziehen, und währenddessen sei ich eine Belastung für die Kanzlei, ich
müsse das verstehen. Schon jetzt sehe ein wichtiger Mandant seine Vertretung
durch die Kanzlei gefährdet, wenn ich in der Kanzlei bliebe. ›Gundlach?‹ Sie
zögerten und sagten mir dann, sie könnten keinen Namen nennen, auch das
müsse ich verstehen.«
»Was ist Parteiverrat?«
»Wenn man in einer Rechtssache für beide Parteien arbeitet. Gundlach
hatte ein paar Fäden gezogen. Aber nicht nur bei mir. Auch dein Volontariat im
Museum war zu Ende. Der Direktor redete von Mittel- und Raumproblemen
und davon, dass er nur noch die Volontäre und Volontärinnen [182] behalten
wolle, die er im Anschluss beschäftigen könne, und zu denen gehörtest du,
anders, als er zunächst angenommen und dir mitgeteilt hätte, zu seinem
großen Bedauern nicht.«
»Also saßen wir am Montagabend auf dem Balkon und…«
»Nein, wir saßen nicht auf dem Balkon, sondern gingen ins ›Sole d’Oro‹
oder wie das beste Restaurant damals hieß und feierten, dass uns nichts mehr
in Frankfurt hielt und wir unsere Möbel dem Trödler geben, unsere Koffer
packen und in die Welt ziehen konnten. Wir waren frei.«
[183] 5

»Das gefällt mir.«


»So haben wir es denn auch gemacht. Wir haben unsere Möbel dem
Trödler gegeben und unsere Koffer gepackt. Das Bild…«
»…stand bei meiner Mutter.«
»Das Bild stand bei deiner Mutter, und während ich mich noch fragte, ob
wir nach New York oder Buenos Aires reisen und mit dem Schiff fahren oder
fliegen sollten, hattest du schon die Tickets für den Flug nach New York
gekauft.«
Irene hatte die ganze Zeit ruhig gelegen, die Hände unter der Decke, den
Kopf auf den beiden Kissen und die Augen auf mich gerichtet. Jetzt richtete
sie sich auf, setzte die Füße auf den Boden und versuchte aufzustehen.
»Warte, ich helfe dir.«
»Wie lange sitzen wir schon hier? Ich muss…« Sie redete nicht weiter,
sondern sah mich fragend an.
»Du musst gar nichts. Habe ich zu lange geredet? Ich höre auf und mache
das Abendessen. Wir haben das Mittagessen vergessen.«
»Ich muss… Wenn ich nur nicht so müde wäre.« Wieder sah sie mich
fragend an, und wieder verstand ich die Frage nicht und wusste auch nicht,
ob ich ihr aufhelfen oder [184] zureden sollte liegen zu bleiben. Aber dann
fielen ihr die Augen zu, sie rutschte von der Bettkante, und ich fing sie auf
und legte sie wieder aufs Bett.
Es war spät, noch hell, aber die Sonne war schon hinter den Bergen
verschwunden, und bald würde es Nacht werden. Ich fand unter der
Terrasse einen Wasseranschluss und eine Gießkanne und goss Irenes welken
Garten; vielleicht würde er sich bis morgen erholen und einen Salat abgeben.
Heute hatten wir an den Resten von gestern genug. Irene war ohnehin nicht
hungrig. Verschlafen und wortlos aß sie ein paar Bissen und ließ sich dann
von mir aufs Klo bringen und ins Bett hochtragen.
»Wir müssen morgen zu Meredene.«
»Wegen der Einkäufe? Ich kann fahren.«
»Die Windeln…«
Während des Tages hatte sie die Kontrolle über ihre körperlichen
Funktionen behalten, aber sie hatte Angst vor der Nacht. Ich wusste
inzwischen, wo die Bettwäsche und die Handtücher waren, rief mir in
Erinnerung, wie meine Frau unsere Babys gewickelt hatte, und wählte ein
vom Lauf der Zeit dünn gewordenes Frottiertuch, riss einen Streifen ab und
machte so das Tuch zum Quadrat, faltete das Quadrat zum Dreieck, legte es
ihr unter und band es ihr um.
»Gelernt ist gelernt.« Sie versuchte zu scherzen.
Ich zuckte mit den Schultern. Sie musste nicht wissen, dass ich mich um
meine Kinder nicht so gekümmert hatte, wie das von modernen Vätern
erwartet wird. Aber dann sagte ich es doch. »Ich war ein altmodischer Vater.
Das mit den Windeln und dem Wickeln hat meine Frau besorgt.«
Sie nickte. »Immerhin hast du manchmal zugeschaut und [185] aufgepasst.
Hast du deinen Kindern gute Nacht gesagt?« Sie sah mich an, ein bisschen
beschämt und abweisend, ähnlich wie am Morgen, aber zugleich behaglich,
als sei ihr wohl im frischbezogenen Bett.
»Gute Nacht, Irene.« Ich beugte mich über sie und zog die Decke hoch,
und sie legte die Arme um meinen Hals, wie vor ein paar Tagen, und wieder
rührte mich die zutrauliche Geste, und ich stand auf und ging rasch raus,
sonst wären mir, ich weiß nicht, warum, die Tränen gekommen.
[186] 6

So gingen die nächsten Tage dahin. Irene schlief in den Morgen, dann bettete
ich sie auf dem Balkon. Manchmal bewältigte sie die Treppe selbst, manchmal
trug ich sie. Manchmal bewältigte sie sogar die Treppe vom Balkon an den
Strand und lief bis zu den Felsen am Ende der Bucht, mit Freude am Sand
unter den bloßen Füßen und am Wasser um die nackten Waden.
Sie wollte zuerst nicht, ließ mich schließlich aber alleine zu Meredene
fahren. Meredene und ich fuhren über eine ausgewaschene und
zugewachsene Straße bis zu der Stelle, an der die Straße in den Highway
gemündet hatte, umfuhren die Absperrung und erreichten nach einer halben
Stunde einen Ort mit einem Supermarkt. Der üppige Einkauf für Meredene
und für mich, den ich mit meiner Kreditkarte bezahlte, war wohl mit dem
Ethos des Lebens in der Natur nicht vereinbar; Meredene verpflichtete mich
zum Stillschweigen gegenüber ihren Leuten und riet mir dazu auch gegenüber
Irene. Sie lud ihren Einkaufswagen mit großer Begeisterung und schlechtem
Gewissen voll.
Ich hatte kein schlechtes Gewissen. Aber ich fühlte mich fremd in dem Ort
zwischen Geschäften, Reklamen, Restaurants, Autos, und im Supermarkt
störten mich das helle, kalte [187] Licht, die breiten, leeren Gänge, der
Überfluss an Waren. Ich rechnete nach; vor vierzehn Tagen war ich in der
Art Gallery Irenes Bild begegnet, vor acht war ich bei Irene angekommen.
Mir war, als seien Wochen vergangen.
Manchmal kümmerte ich mich vormittags um Irenes Garten oder wusch
Wäsche oder versuchte, kaputte Sachen zu reparieren, eine gebrochene Stufe,
einen tropfenden Hahn, das Reserverad des Jeeps. Ich ließ mir dabei Zeit und
dachte über die Fortsetzung unserer Geschichte nach. Aber es kam auch vor,
dass Irene die Fortsetzung schon vormittags hören wollte und ich
improvisieren und strecken, verlangsamen und ausschmücken musste. Dann
ließen wir das Mittagessen ausfallen, und ich saß bis in den späten
Nachmittag an ihrem Bett auf dem Balkon und erzählte.
Ich erzählte vom Flug über den Atlantik und dass wir beim Blick aus dem
Fenster in der Ferne ein anderes Flugzeug sahen, wie einem in der Weite des
Meers ein anderes Schiff begegnen kann – ein Gruß aus der fremden Welt, zu
der man auf dem Weg ist. In New York mieteten wir uns im ›Waldorf
Astoria‹ ein und genossen die Stadt wie reiche Touristen, bis unser Geld
knapp wurde. Wir waren auf dem Empire State Building und an der
Freiheitsstatue, im Metropolitan-, im Guggenheim- und im Frick-Museum,
wir liefen im Central Park nach Norden, bis es gefährlich wurde, und noch
ein Stück weiter, wir wagten uns nach Harlem und in die Bowery, wir aßen
im Café des Artistes und im Russian Tea Room und in der Gramercy Tavern.
Irene war nie in New York gewesen, hatte schon lange keine Filme mehr
gesehen und ließ sich gerne erzählen, wovon heute jeder aus Filmen oder von
Besuchen in der Stadt eine Anschauung hat. In [188] unserem Zimmer im
›Waldorf Astoria‹ standen zwei Betten, und Irene wollte wissen, ob ich oder
sie vorgeschlagen hatte, zusammen in einem Bett zu schlafen. Aber sie liebte
mich nicht, sie mochte mich nur, und so fand ich, dass die beiden Betten ihre
Richtigkeit hatten.
Wie unsere Tage abliefen, wann Irene ruhte und wir aßen und ich erzählte,
richtete sich danach, wie es ihr ging. Sie brauchte keine Windeln; das
Missgeschick der ersten Nacht nach der Abreise von Gundlach und Schwind
wiederholte sich nicht. Aber oft war ihr übel und sie erbrach, was sie gerade
gegessen hatte. Ohnehin hatte sie keinen Appetit. Sie lobte meine Spaghetti
Carbonara, meinen Risotto mit Pilzen und meine Kartoffeln mit Gulasch, aber
nur mein Salat schmeckte ihr wirklich.
Das selbstverständliche Gleichmaß unserer gemeinsamen Tage war ein
bisschen so, wie ich damals unser gemeinsames Leben in Frankfurt geträumt
hatte. Einmal ließ ich mich hinreißen, es Irene zu sagen.
»Ja«, lächelte sie, »aber es ist das Leben zum Tod.«
[189] 7

Von Tag zu Tag wurde es heißer. Der Wind vom Meer blieb aus, und die Luft,
die uns sonst als ein Nichts umgibt, umfing uns wie ein warmer Stoff. Die
Vögel stellten das Fliegen und das Singen ein, und im Garten verdorrten die
Pflanzen. Irene verbot mir zu gießen. »Bald wird das Wasser knapp.«
»Willst du ins untere Haus ziehen?«
»Vielleicht morgen.«
Am nächsten Tag sagte sie wieder »vielleicht morgen«, und dann war es im
unteren Haus so heiß wie im oberen. Nachts war es sogar heißer; der Stein
strahlte die Hitze aus, die er tags gespeichert hatte. Die Nächte brachten keine
Kühle.
Ich erzählte ihr vom August in New York, von der feuchten Hitze, die uns
wie ein feuchtes, heißes Tuch einhüllte, wenn wir aus einem klimatisierten
Gebäude auf die Straße traten. Unser Geld ging zu Ende, und wir suchten
Arbeit. Wir zogen auch aus dem ›Waldorf Astoria‹ aus. Das billige Hotel, das
wir fanden, lag an einer Straße am Hudson; jeweils zwei Zimmer teilten sich
ein Badezimmer, und wenn der Nachbar vergaß, die Tür zu unserem Zimmer,
die er während der Benutzung abschloss, nach der Benutzung wieder
aufzuschließen, mussten wir an seine Tür klopfen oder, wenn [190] er
ausgegangen war, den missmutigen Portier dazu bringen, hochzukommen und
aufzuschließen. Wir hatten nur ein Bett.
»Und?«
»Ich schlief auf dem Boden. Es war so heiß, dass ich keine Decke
brauchte. Wenn ich nicht schlafen konnte, stieg ich aus dem Fenster, setzte
mich auf den Absatz der Feuerleiter und sah auf die laternenhelle Straße und
den nachtschwarzen Fluss. Manchmal setztest du dich dazu.«
»Was haben wir geredet?«
»Du hattest in Brooklyn eine Stelle als Bedienung und ich eine bei
McDonald’s gefunden. Wir erzählten einander von unserer Arbeit. Wusstest
du, dass McDonald’s eine eigene Universität hat? The Hamburger University?
Wenn ich meine Arbeitserlaubnis bekäme und mich bewährte, stünde mir der
Weg an die Universität offen, wurde mir bei der Einstellung versprochen. Ich
war schon froh, als ich aus der Küche an die Theke versetzt wurde.«
Irene lachte. »Du kannst es nicht lassen, du musst Karriere machen.«
»Aber nicht bei McDonald’s. Ich wollte wieder Anwalt werden und hatte
herausgefunden, dass ich das nötige Examen nicht in New York, aber in
Kalifornien auch ohne Studium ablegen konnte. Also wollte ich nach
Kalifornien. Zugleich mochten wir New York; wir entdeckten, wie viel die
Stadt auch denen zu bieten hat, die wenig Geld haben, lernten Leute kennen,
hatten Aussicht auf eine Wohnung. Aber dann…«
Ich wusste nicht mehr, ob ich erzählen sollte, was mir auf einmal
eingefallen war. Es war mir nicht einfach eingefallen; bei meiner ersten Reise
nach New York, als ich mir noch kein [191] Hotel leisten konnte und in
Brooklyn bei Freunden von Freunden unterkam, war ich tatsächlich eines
Morgens auf der Suche nach einem Kaffee in das Restaurant geraten, in dem
ich mir Irene auf einmal als Bedienung vorstellte. Es war ein Restaurant wie
andere, es gab das übliche Angebot und den üblichen Football auf dem
Fernsehschirm über dem Tresen, die Bedienung war von der üblichen
ruppigen Freundlichkeit und die Atmosphäre ohne jede Erotik.
»Dann?«
»Dann besuchte ich dich eines Tages im Restaurant und sah, dass du mit
bloßem Busen bedienen musstest, und holte dich raus und nahm dich mit, und
wir kauften ein gebrauchtes Auto und fuhren am nächsten Tag los.«
»Du kannst doch nicht… Es war meine Stelle, oder? Wenn ich nichts dabei
fand… Warst du eifersüchtig?«
»Denk, was du willst. Ich erzähle die Geschichte. In unserem Zimmer
muss ich wegschauen, und im Restaurant sollen dich alle sehen?«
»Verstehe.« Irene lächelte. Spöttisch? Freundlich? Mitleidig? Mit welchem
Recht lächelte sie mitleidig? Aber ich war selbst schuld. Ich hatte gespürt,
dass die Wendung der Geschichte heikel war, und hätte sie lassen sollen. Ich
wollte nicht eifersüchtig sein. Ich wollte gut dastehen. Ich hätte Irene gerne
im Central Park vor einem Vergewaltiger gerettet oder auf einem Zebrastreifen
vor einem betrunkenen Autofahrer oder auf der Fifth Avenue vor einem
Taschendieb. Ich wäre gerne ein Held gewesen. Aber mir fiel keine Tat ein,
die nicht abgeschmackt geklungen hätte, so, als wollte ich mich wichtig
machen.
»Magst du Autos? Unseres war alt, ein Chevrolet Bel Air [192] von 1956,
grün mit weißem Dach, weißen Heckflossen und Weißwandreifen. Seine
Kühlerfigur, ein Zwischending zwischen Flugzeug und Rakete, flog uns
voran; wir mussten nur hinterherfahren.«
[193] 8

Als ich Irene an diesem Abend ins Bett getragen hatte, rückte sie an die eine
Seite und deutete auf die andere. Ich sollte mich setzen.
»Weißt du noch, warum Parzival nichts gefragt hat?«
»Hatte ihn seine Mutter nicht gelehrt, keine unnötigen Fragen zu stellen?
Was er dann wörtlicher nahm, als sie es gemeint hatte?«
»Warum fragst du nichts?«
»Am ersten Abend bist du meinen Fragen ausgewichen, und ich dachte…«
»Der erste Abend ist lange her.«
Ich zuckte die Schultern. »Meine Großeltern haben mir nur die nötigsten
Fragen gestellt. Willst du Klavier lernen? Tennis? Tanzen? Und ich habe sie
nur das Nötigste gefragt. Ich möchte gerne ins Theater oder in die Oper oder
in den Ferien mit Freunden nach Spanien – gebt ihr mir das Geld? Bis sie
eines Tages mein Taschengeld so bemessen haben, dass ich sie auch nicht
mehr nach Geld fragen musste. Sie waren wirklich großzügig.«
»Wie war es in deiner Familie? Mit deiner Frau und deinen Kindern? Hast
du sie viel gefragt?«
Mir wurde unter Irenes Fragen unbehaglich. »Ich dachte, [194] ich soll
mehr fragen. Stattdessen fragst du mir Löcher in den Bauch.«
»Tut mir leid.« Sie legte ihre Hand auf meine. »Schlaf gut!«
Ich setzte mich auf die Bank unter dem Vordach des Hauses am Strand und
sah auf das Wasser. Es war so glatt, dass es die Sichel des Monds wie ein
Spiegel zeigte und nicht in den Kieseln rauschte. Ich vermisste das Geräusch,
und ich hätte den Mond lieber auf den Wellen tanzen gesehen. Ich ärgerte
mich. Wollte Irene mich analysieren? Therapieren? Was ging es sie an, wie
viel ich meine Frau und Kinder gefragt habe? Es gibt eben Familien, in denen
mehr, und Familien, in denen weniger gefragt und geredet wird. Bei unseren
Kindern hat meine Frau das Fragen und Reden übernommen. Und bei ihr –
das Schöne war, dass wir uns fraglos verstanden. Sie lebte ihr Leben und ich
meines, und wenn sie mich brauchte, war ich für sie da. Dafür sollte ich
Irene Rechenschaft ablegen? Wie kam ich dazu?
Parzival. Ich erinnerte mich, dass er bei einem ersten Besuch auf der Burg
den Alten nicht nach seinem Leiden fragte und nicht von seinem Leiden
erlöste und deshalb unter einer Art von Fluch lebte, bis er bei einem zweiten
Besuch die erlösende Frage stellte. Woher wusste er jetzt, dass er die Frage
zu stellen hatte? Woher sollte ich wissen, was für Fragen Irene gestellt haben
wollte? Anders als Parzival den Alten hatte ich sie immerhin nach ihrer
Krankheit gefragt.
[195] 9

Am nächsten Tag fuhren wir nach Westen. Manchmal führte uns der
Highway auf langen Brücken und in vielen Schleifen über und unter anderen
Highways durch die Hinterhöfe der Städte, und wir sahen nur aufgeplatzte
Straßen, verödete Parkplätze, verrammelte Häuser, Abfall und dahinter eine
Silhouette von Hochhäusern. Manchmal entließ er uns mitten in der Stadt auf
eine Kreuzung mit Ampeln, hupenden Autos und drängelnden Fußgängern,
Geschäften und Büros. Übers Land zog er sich als breites, flaches oder
sachte ansteigendes und abfallendes Band, weitab von den Städten und
Dörfern, die auf den Schildern genannt waren, weitab auch von Fabriken
oder Farmen. Wir sahen Wald, Maisfelder, Weideland, auf dem Weideland
vielleicht ein paar Rinder, hinter den Maisfeldern vielleicht einen Silo oder
einen rauchenden Schlot oder einen dampfenden Kühlturm. Bis wir am dritten
Tag nur noch Getreidefelder sahen. Sie reichten unter dem großen Himmel bis
zum Horizont; das Auge verlor sich mit ihnen in der Ferne. Zugleich wandelte
sich die Musik, die aus dem Radio kam; wir hörten Banjo und Geige,
Akkordeon und Harmonika, eingängige Lieder um Frauen und Liebe, einfache
Balladen um Kampf und Tod. Die Nachrichten berichteten von Rodeos,
Streitigkeiten und [196] Schlägereien, Geburten, Todesfällen, Schul- und
Kirchfesten, überfahrenen Hunden und entlaufenen Katzen, falschen Alarmen
und auch, dass Jesus uns liebt. Aus dem vielspurigen Highway war eine
zweispurige Straße geworden, und über dem Asphalt flimmerte die Hitze.
Wir fuhren langsam, und Irene kurbelte die Fenster runter, stellte die Lehne
zurück und streckte die Füße raus. Nach der ersten Strophe kannte sie die
Melodie eines Lieds und summte die weiteren Strophen mit. Manchmal reizte
eine Meldung in den Nachrichten ihre Phantasie, und sie schmückte sie zu
einer Geschichte aus. Wie John Dempsey den größten Fisch des Sommers
fing. Worüber die Gäste des Crossroads Café in Streit gerieten. Warum
Catalina Fisk nicht die Ambulanz rief und starb, obwohl sie hätte gerettet
werden können.
»Hast du Angst vor dem Tod?«
Irene dachte so lange mit geschlossenen Augen nach, dass ich mich fragte,
ob sie meine Frage vergessen hatte oder eingeschlafen war. Es geschah
manchmal, dass sie sich mitten im Gespräch an andere Gedanken verlor oder
auch an die Müdigkeit, ihre ständige Begleiterin. »Was ich versäumt habe…
Ist das Angst vor dem Tod? Weil es dann endgültig ungesagt, ungetan,
ungelebt bleibt? Aber eigentlich ist es das schon jetzt, schon lange. Ich kann
es schon lange nicht mehr in Ordnung bringen.«
Sollte ich weiterfragen? Hat Parzival dem Alten nach der einen Frage noch
weitere gestellt? Wo hört das Mitgefühl auf und fängt die Aufdringlichkeit an?
»Was würdest du gerne in Ordnung bringen? Was du mit gefärbten Haaren
und Sonnenbrille gemacht hast?«
[197] Sie öffnete die Augen und sah mich an. »Ach, das… Nein, ich würde
meine Tochter gerne noch mal sehen oder doch wissen, wie es ihr geht, was
sie macht.« Sie sah die Frage in meinem Gesicht. »Ich habe in der DDR
geheiratet und unerwartet, ich war eigentlich schon zu alt, eine Tochter
bekommen. Ich wollte sie meinem Mann nicht wegnehmen. Dass ich spurlos
verschwand, muss schlimm genug für ihn gewesen sein, aber auch noch
Julia… Auf seine pedantische Art hat er uns beide sehr geliebt.«
Warum hast du gerade so einen gewählt, hätte ich gerne gefragt. Ich hätte
auch gerne gewusst, warum sie Mann und Tochter zurückgelassen und
keinen Kontakt zu ihnen hergestellt hatte und was sie nach ihrer Zeit mit
gefärbten Haaren und Sonnenbrille eigentlich zu befürchten hatte. Hatte sie
doch jemanden umgebracht? Was hatte sie Gundlach gesagt? Sie sei eben
dabei gewesen. Das ließ alles offen. »Ich kann nach Rock Harbour fahren
und meine Kanzlei anrufen und rausfinden lassen, was mit Julia ist.«
»Machst du es nach meinem Tod? Und schaust, ob sie etwas braucht? Und
sorgst, dass sie kriegt, was von dem Erbe meiner Mutter übrig ist?« Sie nahm
meine Hand.
Mir war nicht wohl. Was, wenn Julia tatsächlich etwas brauchte? Eine
Ausbildung? Eine Behandlung, die die Krankenkasse nicht zahlte? Eine
Psychotherapie? Eine Entziehungskur? Was, wenn sie nicht nur
drogenabhängig war, sondern auch mit Drogen handelte oder auf den Strich
ging, um die Drogen zu finanzieren, oder kleine Delikte beging – oder sogar
große? Das Geld für den Verteidiger oder die Behandlung oder die Ausbildung
aufwenden war das eine. Aber würde ich sie in Berlin auf dem Strich suchen
müssen, [198] Nacht um Nacht, und schließlich eine ordinäre, dumme Person
finden und mich darum kümmern müssen, dass aus ihr etwas Rechtes
wurde? Ich hatte selbst bei guten Freunden abgelehnt, Patenonkel ihrer Kinder
zu werden, weil mir die Verantwortung zu groß war. Ich nickte.
»Ja?«
»Ja.«
»Sie war ein liebes Kind. Ich ging, als sie in die Trotzphase kam, in der sie
nicht eigentlich trotzig wurde, sondern schmollte, mit aufgeworfenen Lippen
und feuchten Augen, und wenn ich ihr erklärte, warum sie nicht haben
konnte, was sie haben wollte, hörte sie sofort auf.«
Irene weinte. Zuerst hörte ich sie leise wimmern, dann laut heulen, und
dann erkannte ich ihr Gesicht kaum wieder, die zerfurchte Stirn, den
aufgerissenen Mund, sie warf den Kopf von Seite zu Seite, bis sie das Gesicht
im Kissen vergrub.
Weinen – diese billige Tour, auf die Frauen uns ins Unrecht setzen! Ich
kann’s nicht ertragen, und ich rechne meiner Frau hoch an, dass sie es in
unserer Ehe bald gelassen hat, weil sie begriffen hat, dass das Spiel mit den
Tränen nicht fair ist, dass es mich abstößt, dass ich mich ihm verweigere. Ich
kann mit Stolz sagen, dass auch meine Kinder nicht geweint haben; meine
Älteste hat sich mit acht den Arm gebrochen, ist mit dem gebrochenen Arm
vom Spielplatz nach Hause gelaufen und mit meiner Frau und mir ins
Krankenhaus gefahren, ohne eine einzige Träne.
Aber wie sollte ich Irene erklären, dass ich für ihren Kummer nicht
verantwortlich und für ihre Tränen der falsche Adressat war? Sie hörte nicht
auf zu weinen und hielt weiter [199] meine Hand, so dass ich auch nicht
einfach gehen konnte. Schließlich konnte ich ihr Weinen, ihr ins Kissen
gepresstes Gesicht, ihre zuckenden Schultern und mein täppisches
Danebensitzen nicht mehr aushalten und nahm sie in die Arme und wiegte sie
und machte tröstende Geräusche, bis sie einschlief.
Als sie in meinen Armen aufwachte, sah sie mich freundlich oder sogar
freudig an, lächelte und sagte »danke«. Ich verstand nicht, wofür sie mir
dankte, wollte aber auch nicht in Frage stellen, was ihr anscheinend Freude
bereitete, und lächelte zurück.
[200] 10

Dann begann auf den Feldern des Mittleren Westens die Ernte. Irene hatte
einmal Bilder von Mähdreschern gesehen, die in Reih und Glied über
Getreidefelder fuhren, und fragte: »Wo sind die Maschinen?« In ihrer
Erinnerung wehten auf den Mähdreschern Fahnen, und die Traktoristen und
Traktoristinnen lachten fröhlich – eher sowjetische Propaganda als
amerikanische Wirklichkeit, aber ein paar Fahnen auf den Mähdreschern des
Mittleren Westens schadeten nicht, und die Gesichter der Fahrer und
Fahrerinnen konnten wir vom Auto nicht sehen. So fuhren wir denn viele
Stunden, in denen immer wieder Mähdrescher auftauchten, manchmal
mehrere in Reih und Glied, meistens einzelne Ungetüme, alle mit Fahnen.
Wir übernachteten in Motels. Die Zimmer, immer groß, hatten zwei Betten
und einen Fernsehapparat, unter der Decke an die Wand geschraubt, beim
Empfang gab es einen Automaten mit Cola und Sprite und Eiswürfeln, und
vor dem Einschlafen lagen wir auf den Betten, tranken Bier und aßen Chips,
im letzten Ort gekauft, und sahen fern.
»Mich beschäftigte, was uns in San Francisco erwarten würde und wie
wir dort zurechtkämen. Ich wollte darüber reden, aber du wolltest nicht; du
wolltest nicht planen, [201] sondern sehen, wie’s kommt. Ich glaube, du
fandest mich kleinkariert – warum hast du dir eigentlich einen pedantischen
Mann gesucht?«
Sie sah mich wieder so an.
»Nicht dass du denkst, ich wäre eifersüchtig. Mich interessiert einfach,
warum du gemacht hast, was du gemacht hast. Werden dir meine Fragen
schon zu viel? Eben noch wolltest du mehr gefragt werden.«
»Nein, sie werden mir nicht zu viel. Helmut war wie die DDR. Seine
Verlässlichkeit tat mir gut, seine fürsorgliche, vormundschaftliche Art. Wie
ich dich fand – ich weiß es nicht mehr. Bist du kleinlich?«
Was für eine Frage! Ich nehme alles ernst, manchmal wohl zu ernst, bin in
allem genau, manchmal wohl zu genau, verstehe immer wieder nicht, warum
Menschen in schwierigen Situationen emotional werden, statt die Probleme
rational zu lösen, und finde, dass es oft die Kleinigkeiten sind, über die
Menschen stolpern und an denen sie scheitern. Aber ich bin weder spitzfindig
noch nachtragend noch geizig. Kleinlich? Lächerlich.
So ließ ich die Frage unbeantwortet und fuhr mit Irene über die Rocky
Mountains. Wir sahen viel Wald, ruhige und wilde Flüsse, Wasser, das von
hohen Felsen in die Tiefe fiel, aus der Ferne ein feiner silberner Strahl und aus
der Nähe ein stürzendes, sprühendes Tosen, den Schnee auf den Gipfeln, die
raschen Wechsel des Wetters und die wüsten Gewitter, deren Echo von den
Bergen widerhallte wie der Lärm einer Schlacht. Ich hätte Irene gerne vor
einem Bären gerettet, aber wir trafen keinen, und ich hätte auch nicht
gewusst, wie. Dafür lief uns auf einem Rastplatz ein vergessener oder
[202] ausgesetzter Hund zu, ein schwarzes Wesen, Schnauze, Brust und
Pfoten weiß mit schwarzen Flecken, zugleich ängstlich und zutraulich
fordernd, das uns auf allen Wegen gesellig begleitete, umsprang, umkreiste.
Wenn wir fuhren und die Fenster aufhatten und Irene die Füße aus dem
vorderen Fenster streckte, streckte er den Kopf aus dem hinteren und konnte
sich an der Welt nicht sattriechen.
»Wie hieß der Hund?«
»Ich weiß nicht. Sag du’s!«
»War es ein Hund oder eine Hündin?«
»Eine Hündin.«
Irene schlief ein, ehe sie mir den Namen sagen konnte. Es wurde Abend,
blieb aber heiß – die trockene, glühende, dörrende Hitze, mit der wir seit
Tagen aufwachten und einschliefen. Ich machte eine Gazpacho aus
Dosentomaten, von der Irene ein paar Löffel aß, ehe sie wieder einschlief. Ich
ließ sie auf dem Balkon schlafen und brachte auch für mich eine Matratze auf
den Balkon. Es war nicht kühler als im Haus, atmete sich aber freier.
Mitten in der Nacht wachte ich auf und erinnerte mich. Ich hatte den
Hund beschrieben, den die Kinder eines Tages nach Hause brachten. Sie
hatten ihn auf dem Sportplatz gefunden, auf dem sie sich nachmittags mit
Freunden und Freundinnen trafen; er gehörte niemandem, trug jedenfalls
keine Hundemarke, und sie hatten ihn ins Herz geschlossen. Er war in der Tat
gesellig, meine Frau mochte, wenn sie auf dem Sofa saß und er sich neben
sie legte, den Kopf auf ihrem Bein, und nannte ihn ihr kleines warmes
Päckchen. Ich habe damals verhindert, dass wir ihn behielten. Mich störte der
Dreck, den er ins Haus brachte, und das Durcheinander, [203] wenn die
Kinder mit ihm spielten, und der Schaden am Biedermeiersofa, an dem er,
wenn meine Frau nicht darauf saß, manchmal leckte und biss, und die
Aussicht, ihn ausführen zu müssen, wenn die Kinder den Spaß an ihm
verlieren würden. Niemand hat sich beschwert, als er nicht mehr da war.
Ich habe mich immer als großzügigen Ehemann und Vater gesehen. Meine
Frau hatte alle Hilfe im Haus, die sie haben wollte, und überdies ein eigenes
Auto, und was die Kinder für ihre Entwicklung brauchten, bekamen sie, auch
wenn sie nur meinten, sie bräuchten es, und dann doch nicht brauchten. War
ich in Kleinigkeiten vielleicht doch manchmal ein bisschen kleinlich? Woher
wusste ich, dass meine Kinder den Spaß am Hund verlieren würden? Woher,
dass sein Verlust meine Frau und Kinder nicht schmerzte? Haben sie sich nur
nicht beschwert, weil bei uns nicht viel geredet wurde? Was ist bei uns sonst
noch ungesagt geblieben?
Der Unfall meiner Frau kam mir in den Sinn. Ich lag auf dem Rücken, die
Arme hinter dem Kopf verschränkt, und sah in den Himmel. Ich kannte das
Kreuz des Südens von der australischen und der neuseeländischen Flagge; ich
suchte es, fand es aber nicht. Die Milchstraße ließ mich an meine Mutter
denken, an die ich fast keine Erinnerung habe, von der ich aber weiß, dass sie
mich durch Kaiserschnitt zur Welt gebracht und mir nicht die Brust gegeben
hat, weil die Ärzte damals nach einem Kaiserschnitt davon abrieten. Ein
kleiner heller Punkt zog seine Bahn über den Himmel; ich folgte ihm mit den
Augen und schlief darüber ein.
[204] 11

Irene mochte die Fahrt von den Rocky Mountains zum Pazifik. Das helle
Licht, das trockene Gras, braun, aber im Morgen- und Abendlicht golden
leuchtend, die Obstbäume, Reihe um Reihe so akkurat gepflanzt, dass ihr
Schatten am Abend im Takt über unser Auto wischte, die Weinstöcke, die
nicht an den Hängen, sondern in den Tälern wuchsen, die Ortsnamen, die von
Spaniern und Russen kündeten, die einmal da gesiedelt hatten. Irene stellte
sich die Menschen aus Sewastopol vor und wie sie den Weg von der Krim
nach Kalifornien gefunden und dort Sebastopol gegründet hatten, die kalten
Nächte, in denen die Öfen glühten, die zwischen den Weinstöcken standen,
den Frühling, in dem die Obstbäume rosarot blühten. Bevor wir an den Pazifik
kamen, ging es über eine letzte Bergkette, von deren Höhe wir den Nebel
sahen, der in den Tälern und über dem Meer hing, so dicht, als könne keine
Sonne ihn auflösen. Es war später Vormittag, und wir setzten uns ins braune
Gras, den Hund zu unseren Füßen, und tranken den Rotwein, den wir
unterwegs in einer Weinkellerei gekauft hatten. Wir wurden müde, dösten,
schliefen, wachten auf, und der Nebel war verschwunden, und der Pazifik
flimmerte in der Mittagssonne.
»Ich blieb still liegen. Während wir schliefen, hattest du [205] dich zu mir
gewandt und mir den Arm über die Brust gelegt.«
Irene lächelte. »Du wirst mutig.«
»Du hast mir den Arm über die Brust gelegt, nicht ich dir.«
Sie lachte. »Verstehe. Und was dann?«
»Du bist aufgewacht, hast deinen Arm noch einen Moment auf meiner
Brust liegen lassen, hast dich aufgerichtet und auf den Pazifik geschaut. Ich
habe mich auch aufgerichtet, und du hast deine Schulter an meine gelehnt.«
»Wie hast du dich gefühlt mit meinem Arm auf deiner Brust und meiner
Schulter an deiner?«
Dass Frauen immer hören müssen, was man fühlt! Sie müssen es hören –
es zu wissen reicht nicht. Es ist wie beim Militär, wo es nicht genügt, dass
man treu dient, sondern jeden Morgen zum Fahnenappell antreten und seine
Treue bekennen muss. Es ist ein Vereinnahmungs- und Unterwerfungsritual,
auf das ich mich bei meiner Frau nicht eingelassen habe und das sie
irgendwann auch aufgegeben hat. Irgendwann hat sie aufgehört, mich zu
fragen, was ich fühle.
»Gut«, sagte ich, und wir fuhren hinunter an die Küste und an der Küste
entlang nach San Francisco. Irene hatte Die Vögel gesehen, und in Bodega
zeigte ich ihr das Schulhaus aus dem Film. Dann gingen wir an den Strand
und am Meer entlang, und ich erzählte ihr von den Wellen, die sich
überraschend aus dem ruhigen Wasser aufbäumen und den, der zu nahe am
Wasser läuft, wegreißen und nicht mehr hergeben.
Auf einmal hatte ich Angst um sie. Sie hatte keine Wahl, sie musste nahe an
der Gefahr laufen, und der Krebs würde sie wegreißen und nicht mehr
hergeben.
[206] Als wir über die Golden-Gate-Brücke fuhren, ging die Sonne unter.
Sie tauchte in den Nebel ein, und von einem Moment auf den anderen lag der
Pazifik grau, unbarmherzig, abweisend. Aber die Stadt leuchtete noch, und
ich hätte gerne gehabt, dass im Radio das Lied spielt, das ich einmal gehört
und gemocht habe und in dem es um San Francisco oder Kalifornien oder
beides geht, kam aber nicht auf den Titel und erinnerte mich nur noch an
Bruchstücke der Melodie. Ich sang sie Irene vor, und auch sie kannte das
Lied, erinnerte sich aber auch nicht mehr an den Titel. Aber sei’s drum – wir
waren angekommen.
»Wir sind da.« Ich lächelte Irene an.
»Ja«, lächelte sie zurück, »wir sind da.«
[207] 12

Ich war in meinem Leben nicht oft krank. Wenn ich es war, habe ich mich so
verhalten, wie meine Großeltern es mich gelehrt haben: möglichst wenig
Arbeit machen, möglichst wenig brauchen, möglichst wenig wünschen. Es ist
schlimm genug, dass man, wenn krank, nicht funktioniert; das Funktionieren
der anderen soll dadurch nicht mehr als nötig beeinträchtigt werden. So haben
meine Frau und ich es auch in unserer Familie gehalten. Und haben wir nicht
allen Grund, zufrieden und dankbar zu sein, wenn wir krank im Bett liegen
dürfen, statt, wie die Menschen im Krieg, krank in nassen Schützengräben
kämpfen oder in Schnee und Eis fliehen oder in kalten Kellern auf die Bomben
warten zu müssen?
Anfangs war Irene ähnlich. Sie bat mich nur, wenn sie anders tatsächlich
hilflos war, und war dann sichtlich verlegen, entschuldigte sich und bedankte
sich. Mit jedem Tag wurde meine Hilfe selbstverständlicher und hatte Irene
mehr Bedürfnisse und mehr Wünsche. Statt dreier großer Mahlzeiten viele
kleine, statt der Alternative des Betts im Schlafzimmer und des Betts auf dem
Balkon auch das Bett auf dieser und auf jener Seite des Balkons und unter
dem Vordach des Hauses am Strand und unter der Akazie neben der Treppe,
statt der Bitte um das Glas Wasser »ich bin durstig« [208] und statt »danke«
ein Lächeln oder auch nichts. Wenn ihr übel war, das Erbrechen keine
Erleichterung brachte, sie weiter würgen und spucken musste und der Eimer
zu weit weg stand oder kein Taschentuch bereitlag oder ich sie nicht richtig
stützte, fuhr sie mich an.
Ich tat mich damit nicht leicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie so
behandelt werden wollte. Wie kam sie dazu, mich so zu behandeln? Geben
einem Krebs oder der nahe Tod besondere Rechte? Ich sah es nicht ein, und
ich bleibe auch entschlossen, in entsprechender Lage keine besonderen
Rechte zu beanspruchen. Aber vielleicht konnte ich nicht, wie ich es getan
hatte, ihre verlegenen Bitten und ihren verlegenen Dank abwehren und sagen,
alles sei selbstverständlich, und mich dann nicht beim Wort nehmen lassen.
Vielleicht war es schön, dass meine Hilfe ihr selbstverständlich geworden
war. Vielleicht ist Fairness nicht immer das Wichtigste.
Am Abend nach unserer Ankunft in San Francisco war sie wieder anders.
Sie bat, wenn ihr etwas fehlte, und dankte, wenn sie es bekam, und
entschuldigte sich für die Mühe, die sie machte. Es war, als wolle sie wieder
Distanz zwischen uns schaffen und mich zum Gegenüber machen, mit dem
sie nicht schon verbunden war und dem sie sich auch entziehen konnte. Sie
erinnerte mich an meine kleine Tochter, die im Sommer im Ferienlager gelernt
hatte, dass sie auch ohne uns zurechtkam, und uns nach der Rückkehr
spüren ließ, dass sie selbständig war und dass wir ihre Zugehörigkeit nicht als
Selbstverständlichkeit nehmen sollten. Irene fremdelte.
»Ich schaffe es alleine«, sagte sie, als sie nach dem Abendessen aufstand
und zur Treppe ging.
[209] »Wo willst du schlafen?«
»Auf dem Balkon.«
Sie ging die Treppe hoch, langsam, schwerfällig, vornübergebeugt, mit den
Händen auf die Stufen gestützt. Ich stand bereit, ihr beizuspringen, aber sie
brauchte mich nicht.
Ich spülte das Geschirr ab, räumte die Küche auf und deckte den Tisch für
den Morgen. Dann schenkte ich mir den Rest aus der Flasche ein und ging
mit dem Glas auf den Balkon. Ich hörte Irene vom Schlafzimmer ins
Badezimmer gehen, duschen und ins Schlafzimmer zurückkehren. Es war
heiß, wie den Tag über und die Nacht davor und den Tag davor, und ich
merkte, dass ich die Hitze der Nacht mochte. Die Hitze, die ihre Aggressivität
abgelegt hat und nicht geringer, aber gleichmütig geworden ist.
Dann hörte ich Irene rufen und ging in die Küche.
[210] 13

Sie kam die Treppe herab. Mit der rechten Hand berührte sie tastend die
Wand, um sich stützen zu können, wenn sie es brauchen sollte, aber sie hielt
sich aufrecht und setzte sicher Fuß vor Fuß. Sie trug den Kopf leicht geneigt
und sah mich an. Sie war nackt.
Was ging mir in den Sekunden, in denen sie die Treppe herabkam, nicht
alles durch den Kopf! Dass sie ihr letztes Kokain genommen haben musste.
Wie blass, totenblass ihr Körper neben dem Sonnenbraun von Gesicht, Hals
und Armen aussah. Wie müde er war, mit den müden Brüsten und der müden
Haut um den Bauch, und zugleich wie schön und dass müde Schönheit doch
Schönheit bleibt. Was die Halbwüchsigen in der Art Gallery über ihre Hüften,
Schenkel und Füße gesagt hatten und wie falsch es war. Was ich über
Sanftmut und Verführung, Widerstand und Verweigerung phantasiert hatte
und dass sie einfach eine Frau mit einem eigenen Leben war. Wie mutig sie ihr
Leben gelebt hatte und wie ängstlich ich meines. Dass sie den Kindern, die sie
aufgenommen hatte, mehr Liebe erwiesen hatte als ich meinen. Dass die
Müdigkeit ihres Körpers mich rührte. Wie nahe Rührung und Begehren
waren.
Sie sprach mit den Augen. Dass sie eine Rolle für mich [211] spielte, aber
nicht Theater, dass wir beide wussten, dass sie nicht die junge, sondern eine
alte Irene war, wie ich nicht jung war, sondern alt, dass sie an diesem Punkt
in ihrem Leben nicht mehr viel geben konnte außer Liebe und dass sie mich
einlud, das auch zu tun und mir einzugestehen, dass es das war, was ich
wollte. Dass sie aber auch das Spiel genoss, das Selbstzitat, meinen
bewundernden Blick.
Dann kam sie unten an und legte sich mit ihrem ganzen Körper in unsere
Umarmung, Brust an Brust, Bauch an Bauch, Schenkel an Schenkel. Meine
Hände fühlten ihre Haut; sie war wie seidiges Papier, weich, trocken, ein
bisschen spröde. Ich wusste, gleich würde ich sie in ihr Zimmer tragen. Aber
es hatte keine Eile.
[212] 14

Am nächsten Tag richtete ich in ihrem Zimmer aus zwei Betten ein Doppelbett
und rückte auf dem Balkon unsere Matratzen zusammen. Ich zögerte, auf
dem Balkon, wo Kari jederzeit auftauchen konnte, mit Irene in einem Bett zu
schlafen. Aber sie schüttelte den Kopf. »Er kommt nur, wenn er mich in
Gefahr glaubt. Wenn ein Hubschrauber auftaucht oder ein Boot oder sonst
fremde Menschen.«
Irene war nie mehr so lebendig wie an dem Abend, an dem sie ihr letztes
Kokain nahm. Wir machten auch nie mehr Liebe; sie war zu schwach und
war zufrieden, wenn wir uns hielten. Noch etwas änderte sich. Sie wollte
immer noch erzählt haben, aber nachdem wir in San Francisco angekommen
waren und uns gefunden hatten, wollte sie anderes hören. »Erzählst du mir,
wie es gewesen wäre, wenn wir uns als Studenten begegnet wären?«
»Wie hätten wir uns als Studenten begegnen sollen? Du warst politisch,
hattest Verehrer, wurdest auf Vernissagen und Partys eingeladen, warst bald
verheiratet – ich habe nichts gemacht außer in Vorlesungen und Seminare zu
gehen und in der Bibliothek zu sitzen.«
»Aber jetzt, wo du weißt, dass du mich hättest treffen können… Warst du
nie im ›Cave‹?«
[213] »Nein.«
»Aber du weißt, was es war? Und wo?«
Also ging ich von der Bibliothek abends um zehn nicht nach Hause,
sondern ins ›Cave‹. Es war ein Lokal auf zwei Kellergeschossen, oben Bar
und Tische und Stühle, unten Bühne und Tanzfläche, die Luft war voller
Rauch, und ein paar junge Leute spielten Jazz. Die Musik hatte keine Melodie
– war das freier Jazz? War das Schwarz, schwarze Röcke, schwarze Jeans,
schwarze Pullover und schwarze Jacken, Existentialismus? Kam daher die
Lässigkeit, mit der alle sich bewegten, sich setzten und saßen und aufstanden,
Feuer gaben und rauchten, das Glas hoben und leerten? Sahen die Männer die
schönen Frauen, deren Nähe sie doch suchten, darum so blasiert an, und die
Frauen die Männer, als wären sie ihnen lästig? Ich sah mich um und…
Irene lachte laut. »Woher hast du das Nouvelle-Vague-Klischee? Ende der
Sechziger trug niemand mehr Schwarz, die Mädchen wollten nachholen, was
sie als Schülerinnen in der Provinz nicht gehabt hatten, und die Jungen
wollten uns mit großen Worten über kritische Theorie und revolutionäre
Praxis beeindrucken. Hast du von alledem nichts mitgekriegt?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich studiert habe und sonst nichts.«
»Und später hast du gearbeitet und sonst nichts? Bist in die Kanzlei
eingetreten und hast sie übernommen und größer und größer gemacht?«
»Ich weiß nicht, was du von mir willst.«
»Ich will nichts von dir.« Sie nahm mich in die Arme. »Ich stelle mir dein
Leben vor. Dein Leben im Gehäuse. Vielleicht [214] muss einem, wenn man im
Gehäuse lebt, die Welt draußen zum Klischee werden.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich bin beruflich viel im Ausland
und reise immer mit offenen Augen. Zu Hause lese ich zwei Zeitungen, vor
allem Wirtschaft und Finanzen, aber auch Politik und Kultur. Ich bin über die
Welt besser informiert als die meisten. Nur weil ich mich mit den
Studentenmoden der späten Sechziger nicht auskenne, führe ich ein Leben im
Gehäuse?
Sie spürte, dass ich mich in ihren Armen sperrte, und zog mich näher an
sich. »Hast du deine Kinder nie im Studium besucht? Und warst mit ihnen in
ihren Kneipen und auf ihren Festen?«
»Meine Kinder sind mit vierzehn nach England aufs Internat gegangen und
haben dort auch studiert. Ich kam zu den Abschlussfeiern nach Cambridge,
großartige Ereignisse mit Pomp und Würde. Ich war auch dabei, als mein
Jüngster beim Boat Race gegen Oxford gewonnen hat.«
»Seht ihr euch oft?«
»Sie sind in England geblieben, die Älteste und der Mittlere als
Rechtsanwälte, der Jüngste mit seiner eigenen Softwarefirma. Ich fahre
rüber, wenn ein Enkel oder eine Enkelin geboren wird oder die drei ein Fest
feiern. Ich will ihnen nicht zur Last fallen.«
Irene strich mir langsam und behutsam über den Rücken. »Mein reiner Tor.
Alles willst du recht machen.« Sie sagte es noch mal, zärtlich und traurig.
»Mein reiner Tor.«
Ich verstand wieder nicht, was sie meinte. Ich fing an zu weinen, wusste
nicht, warum überhaupt, und nicht, warum jetzt. Es war mir peinlich, ich
fand mich lächerlich, aber ich [215] konnte nicht aufhören. Ich vermisste
meine Kinder, nicht die, die jetzt in England lebten, sondern die, die damals
Teenager waren und deren Pubertät und Konflikte in der Schule und
Liebhabereien und Freundschaften und erste Lieben und Überlegungen zur
Studienwahl ich nicht miterlebt hatte. Wenn ich meine Kinder damals am
Flughafen abholte, kamen sie nicht mehr nach Hause, sondern nur in die
Ferien, und oft ging es in den Ferien gleich weiter zu einem Sprachkurs oder
einem Tennislager. Meine Kinder haben sich damals nie beschwert, aber sie
taten mir jetzt trotzdem leid. Auch ich tat mir leid, und ich weinte über mich
ebenso wie über sie und wie über meine Frau, die sich immer gegen England
gesträubt hatte. Hatte ich damals wirklich gemeint, es sei für die Kinder so am
besten? Oder hatte ich es mir ohne Kinder einfach und bequem gemacht?
»Weine nur«, Irene strich mir weiter über den Rücken, »weine. Es wird
alles wieder gut.«
Wieder verstand ich nicht, was sie meinte. Aber ich spürte ihre tröstende
Zuwendung, und sie mischte sich mit meinen Selbstvorwürfen und meinem
Selbstmitleid zu einer Decke, unter der ich mich in den Schlaf weinen konnte.
[216] 15

»Ich glaube, es ist das letzte Mal«, sagte Irene am nächsten Morgen. »Ich
möchte noch mal die Treppe runter an den Strand gehen.«
Als wir hinuntergingen, sie mit der einen Hand am Geländer und mit der
anderen auf meiner Schulter, wusste auch ich, dass es das letzte Mal war. Sie
blieb auf jeder Stufe stehen, sammelte Kraft für die nächste, setzte den
rechten, immer zuerst den rechten und dann den linken Fuß auf die nächste
Stufe und ruhte sich auf der Stufe aus, ehe sie wieder Kraft für die nächste
sammelte. Dabei atmete sie schwer, konnte nicht reden und sah mich nur
manchmal erschöpft oder entschuldigend oder mit einem ironischen Lächeln
an: »Was aus mir geworden ist!«
Ich hätte schon wieder weinen können. Was war mit mir los, gestern
Abend und heute? Als Irene und ich uns gefunden hatten, war klar, dass wir
uns nur kurz haben würden. Aber es war eine Wahrheit irgendwo draußen,
nicht zwischen uns. Zwischen uns passierte so viel, war so viel Leben, so viel
Versprechen. Auf dem langen Weg die Treppe hinunter wurde die Kürze der
uns verbleibenden Zeit eine Wahrheit zwischen uns, und ich konnte sie nicht
ertragen. Ich brauche niemanden, hatte ich immer gedacht, allenfalls zum
[217] Glücklichsein, aber nicht zum Überleben, und ich hatte auch alleine
überlebt. Jetzt wusste ich nicht, wie ich ohne Irene überleben sollte, wie ich
ohne sie meinen Kindern anders begegnen, meine Arbeit anders einrichten,
mein Leben neu gestalten sollte. Wie ich ohne sie einschlafen und aufwachen
sollte.
Aber ich weinte nicht und versuchte, mit Irene die Treppe langsam, Fuß
vor Fuß, Stufe um Stufe hinunterzugehen, als sei es die normalste Sache der
Welt. Dann blieb sie auf einer Stufe lange stehen, bis sie reden konnte. »Du
hast gesagt, dass englische Kanzleien deutsche übernehmen. Warum gründest
du nicht mit deinen beiden Großen einen Ableger deiner Kanzlei in England?«
Ich dachte an die Distanz, mit der mir meine Kinder begegneten. »Immerhin
haben sie deinen Beruf gewählt.«
Ein paar Stufen später hielt sie wieder an. »Meine Tochter – du musst
sehen, ob du ihr von mir erzählen kannst oder nicht. Ich will nicht, dass du
sie durcheinanderbringst. Ich will, dass du ihr guttust. Wenn du ihr guttust,
indem du nichts tust, tust du nichts.«
Dann hatten wir die Treppe geschafft. »Wie schön«, sagte sie, als sie mit
den Füßen im Wasser stand. Alles war schön, das warme Wasser, die
blendende Glätte des Meers, seine Klarheit, die meterweit Grund und Kiesel
und Grün und Fische sehen ließ, der Himmel, noch morgenblau und ohne
Hitzedunst. Irene lehnte sich in meine Umarmung, sah sich um und ruhte sich
aus. »Schaffen wir es bis zum Felsen am Ende der Bucht?«
Aber schon nach wenigen Schritten wurde ihr übel, und sie erbrach, was
sie gerade gegessen hatte. Wir machten eine [218] Pause und setzten uns unter
das Vordach des Hauses am Strand. »Wenn wir uns auf der Schule begegnet
wären?«
»Auf der Volksschule? Ich erinnere mich an das Gebäude aus gelbem
Backstein mit Zierrat von rotem Sandstein und seine zwei gleichen Hälften,
eine für Mädchen und eine für Knaben. Wie das Gebäude war auch der Hof in
zwei gleiche Hälften geteilt, und in der großen Pause liefen die Mädchen und
die Knaben der Klassen eins bis vier in zwei großen Kreisen, immer zwei
nebeneinander, von großen Schülerinnen beziehungsweise Schülern
beaufsichtigt, über die eine Lehrerin oder ein Lehrer die Oberaufsicht hatte.
Die großen Schüler, die nicht zur Pausenaufsicht eingeteilt waren, durften
sich frei bewegen und ärgerten uns, schlugen uns, nahmen uns die Brezel
oder den Apfel weg – es war für sie ein Spiel, bei dem es weniger um Brezel
oder Apfel als darum ging, sich nicht erwischen zu lassen.
Ich war ein ängstliches Kind. Ich hatte Angst vor der Schule, den Lehrern,
den großen Schülern, vor dem Schulweg, auf dem sie mich auch manchmal
ärgerten und schlugen und mir etwas wegnahmen, und vor dem
Zuspätkommen, das mir immer wieder passierte, weil ich zwar rechtzeitig
aufbrach, aber unterwegs aus Angst vor der Schule trödelte. Lange nahm ich
alles, was mit der Schule zu tun hatte, wie im Nebel wahr, ohne zu verstehen,
worum es ging und worauf es ankam.
Bis ich eines Tages in dem Mädchen mit den blonden Zöpfen, das in der
Pause im anderen Kreis lief, das Mädchen erkannte, das manchmal in dem
Geschäft einkaufte, in das meine Großmutter mich zum Einkaufen schickte.
Sie brachte eine blecherne Milchkanne ins Geschäft, wie ich, in die der
[219] Kaufmann mal Voll- und mal Magermilch pumpte, und einen Zettel, auch
wie ich, auf dem stand, was er in ihre Tasche packen sollte. Anders als ich
gab sie ihm aber nicht den Geldbeutel, sondern bezahlte wie eine Erwachsene;
langsam, die Zungenspitze zwischen den Lippen, nahm sie Scheine und
Münzen aus dem Geldbeutel, möglichst passend, und ebenso sorgsam zählte
sie das Wechselgeld nach. Wir redeten nicht miteinander. Ich traute mich
ohnehin nicht und erst recht nicht, solange ich nicht auch wie ein
Erwachsener bezahlte.
So wurde Rechnen das erste Fach, in dem ich mir Mühe gab. Ich erinnere
mich noch an das erste Mal, als auch ich passende Scheine und Münzen aus
dem Geldbeutel suchte und das Wechselgeld nachzählte. Das Mädchen war
nicht dabei; es dauerte mehrere Wochen, bis wir wieder gleichzeitig
einkauften und sie sah, dass ich konnte, was sie konnte. Sie warf mir einen
kurzen Blick zu, ›Das wurde auch Zeit‹, und schob die Zungenspitze nicht
mehr zwischen die Lippen, vielleicht weil ich das auch nicht tat. Ich gab dem
Kaufmann auch nicht mehr den Zettel, sondern las vor, was ich einkaufen
sollte, und sie machte es ebenso. Wir hätten den gleichen Heimweg nehmen
können; keiner von uns hätte einen Umweg machen, sondern einer hätte nur
anders als sonst laufen müssen. Ich wusste inzwischen, wo sie wohnte.
Manchmal bin ich ihr auf dem Heimweg von der Schule gefolgt, in weitem
Abstand, ich glaube nicht, dass sie es überhaupt gemerkt hat. Bis ihr
passierte, was ich nur zu gut kannte. Zwei große Jungen liefen zuerst hinter,
dann neben ihr, dann drängten sie sie gegen den Zaun. Sie wehrte sich, sie
schrie nicht. Ich hörte das Lachen der Jungen, ihr ›Mach schon‹ und ›Gib
her‹. Ich rannte los, rannte mit voller Wucht [220] in den einen und schlug
dem anderen mit aller Kraft in den Bauch. Ich nahm die Hand des Mädchens
und rannte mit ihr davon und um die nächste Ecke und in einen Garten und
hinter einen Busch. Aber die Jungen kamen uns nicht nach.
Nach einer Weile brachte ich sie nach Hause. Ich ließ ihre Hand nicht los,
und sie versuchte auch nicht, sie aus meiner zu lösen. Vor dem Haus fragte
ich sie, wie sie…«
»Ist das eine wahre Geschichte?«
»Sie war nicht blond, sondern dunkel, und sie hieß nicht Irene, wie ich sie
gerade nennen wollte, sondern Bärbel. Zwei oder drei Wochen sind wir
zusammen von der Schule nach Hause gegangen, Hand in Hand, dann war sie
weg, und ich hatte sie vergessen, bis sie mir bei deiner Frage nach der Schule
wieder einfiel. Wenn du’s gewesen und nicht weggezogen, sondern
dageblieben wärst…« Ich nahm Irenes Hand.
»Ja.«
[221] 16

Wir schafften es bis zum Felsen am Ende der Bucht. Dann konnte sie nicht
mehr. Ich trug sie zur Treppe und die Treppe hoch und legte sie aufs Bett auf
dem Balkon. Es war so früh, dass die Sonne noch aufs Bett schien; ich
spannte den Sonnenschirm auf und rückte ihn zurecht.
»Riechst du etwas?«
»Nein. Was riechst du?«
»Feuer. Aber vielleicht irre ich mich.«
Ich ging durchs Haus und sah nach dem Gasherd und dem Gasboiler und
den Kerzen, die wir in den letzten Tagen manchmal angezündet hatten. Ich
sah auch nach den Vorräten; in zwei, drei Tagen würde ich wieder in den Ort
fahren müssen. Ich hätte gerne auch einen Vorrat an Morphium für den Fall
gehabt, dass Irene starke Schmerzen bekäme. Könnte Kari wenn nicht
Morphium, dann Heroin besorgen?
Als ich auf den Balkon zurückkam, schlief Irene. Ich setzte mich zu ihr
und sah sie an. Das aus dem Gesicht gekämmte und im Nacken geraffte Haar,
die Querfalten auf der Stirn und die steilen Furchen in den Wangen, der
Mund, dessen Lippen dünn geworden waren, das runde und starke Kinn, die
leere Haut unter dem Kinn und am Hals – sie sah streng [222] aus. Ich machte
allerlei Grimassen, fand aber weder heraus, von welcher Mimik die Furchen
in den Wangen herrührten, noch was die Fältchen in die Augenwinkel
gezeichnet hatte – lachende Freude an der Welt oder deren furchtsame
Ablehnung mit zugekniffenen Augen? Sie hatte kein liebes Gesicht. Und doch
war es mir lieb, und ich dachte an die Freude und die Furcht und die tiefen
Einschnitte in Irenes Leben.
Je länger ich es ansah, desto besser meinte ich, ihr Gesicht zu verstehen.
Da war beides, wie um die Augen Freude und Furcht, so in den Wangen
Härte und Weichheit, und die dünnen Lippen waren bereit, bezaubernd zu
lächeln.
Sie schlug die Augen auf. »Was schaust du mich an?«
»Ich schaue dich eben an.«
Sie fand die Antwort nicht gut und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Wenn ich dich anschaue, finde ich in deinem Gesicht, was ich von dir
weiß, und auch, was ich noch nicht weiß, und setze es zusammen. Jedesmal
kenne ich dich besser. Jedesmal liebe ich dich mehr.«
»Ich habe geträumt, ich sei mit der Bahn unterwegs, zuerst mit einem
Express- und dann mit einem Vorortzug, und als ich ausstieg, wusste ich
schon, dass es die falsche Station war, aber ich stieg trotzdem aus, und es
war die falsche Station, so verlassen und verkommen, als habe hier schon
lange kein Zug mehr gehalten. Ich bin durch das Bahnhofsgebäude auf den
Bahnhofsvorplatz gegangen, und auch hier war alles öde, keine Taxen, keine
Busse, keine Menschen. Aber dann sah ich Karl und Peter, beide saßen auf
ihren Koffern, altmodischen Behältnissen ohne Bügel und Rollen, als
[223] warteten sie darauf, abgeholt zu werden. Als ich zu ihnen trat, sahen sie
nicht auf, rührten sich nicht, und mir war, als seien sie schon lange gestorben
und säßen tot auf ihren Koffern. Ich erschrak – aber nicht, als träfe mich ein
Schlag, sondern als krieche mir langsam etwas Kaltes den Rücken hinauf.
Dann wachte ich auf.«
»Ich kann Träume nicht deuten. Träume sind Schäume, hat meine Frau
gesagt. Aber was ihr über das Ende der Welt und der Kunst und der
Alternativen geredet habt – wart ihr da nicht auf dem Bahnhof, von dem kein
Zug mehr fährt? Habt ihr nicht tot auf euren Koffern gesessen?« Ich hatte sie
gleich nach der Abreise der anderen fragen wollen, es dann aber vergessen.
»Glaubst du eigentlich, was ihr geredet habt?«
Sie schaute sich um, ich merkte, dass sie sich aufrichten wollte, und
brachte ihr Kissen. Dann saß sie und sah mich mit dem traurigen und
zärtlichen Blick an, den ich inzwischen kannte und der mir zu sagen schien,
sie sei mir zärtlich zugetan und zugleich traurig, weil ich nicht verstand, was
sie gerne hätte, dass ich es verstünde. »Mein reiner Tor«, sagte sie, »du gehst
durchs Leben und kämpfst deine Kämpfe, wie die Ritter ihre Turniere
gekämpft haben, und wie sie merkst du nicht, dass es Spiegelfechtereien
geworden sind und eine Zeit an ihr Ende gekommen ist. Ich habe dich lieb
dafür, dass du so eifrig von Auftrag zu Auftrag stapfst und getreulich noch
eine Fusion und noch eine Übernahme machst und meinst, das wäre von
Belang. Es rührt mich. Und es macht mich traurig.«
Ich wollte widersprechen. Ich wollte rechtfertigen, was ich machte.
Erklären, dass Fusionen und Übernahmen von [224] Belang sind. Dass die
Kämpfe, die ich kämpfte, keine Spiegelfechtereien waren. Dass nichts an sein
Ende gekommen war, dass alles weiter und weiter ging.
»Mach dir keine Gedanken. Wenn Leute von der Welt reden, reden sie
meistens von sich. Vielleicht kann ich nur nicht ertragen, dass es mit mir zu
Ende geht, ohne dass es auch mit der Welt zu Ende geht. Komm!«
Wir hielten uns, jeder an seine Gedanken verloren und doch beim anderen.
Dann wurden mir meine Gedanken fade, und auch ich wurde traurig, weil
auch ich die Grenze spürte, an der wir einander nicht verstanden oder nicht
miteinander fühlten. Nicht nur Irene und ich – es gab von früh an eine
Glasscheibe, die mich die anderen nicht wirklich erreichen ließ, nicht meine
Frau, nicht meine Kinder, nicht meine Freunde. Ich war immer für mich.
Ich hätte schon wieder – aber ich hatte am Abend davor genug geweint.
Ich versuchte immerhin, in unserer Umarmung zu bleiben und jedes andere
Gefühl, jeden anderen Gedanken, wenn sie kamen, wieder gehen zu lassen.
Es fiel mir nicht leicht.
[225] 17

Am nächsten Morgen roch Irene wieder Feuer.


»Wäre Kari nicht hier, wenn was wäre? Soll ich zu Meredene fahren? Wir
brauchen ohnehin Vorräte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Geh nicht weg. Du hast recht – wenn was ist,
kommt Kari.« Sie sah mich ängstlich an. »Heute kann ich es vielleicht wieder
nicht halten. Ich bin so schwach – so schwach war ich noch nie. Ich war
einmal krank, als ich die Kinder noch hatte. Das Fieber stieg immer höher,
und schließlich legte ich mich ins Bett und war dankbar, dass ich nichts tun
musste, sondern liegen durfte. Es ist einfach schön, liegen zu dürfen. Liegen
und schlafen und sterben. Erzählst du mir etwas?«
»Ich habe zwei Erinnerungen an meine Mutter. Meine Eltern sind gleich
nach dem Krieg mit mir von Nord- nach Süddeutschland gezogen, und wir
haben die Reise im Anhänger des Umzugswagens gemacht, der vorne Fenster
und eine Bank hatte, wie ein Lastwagen die Bank für Fahrer und Beifahrer
hat, aber ohne Steuer und Motor. Auf dem Schoß meiner Mutter sitzen und
aus dem Fenster sehen – das ist die eine Erinnerung. Die andere ist, wie
meine Mutter einmal mit mir auf dem Spielplatz war. Er war hinter dem
brachen Grundstück, auf dem bis 1938 die Synagoge gestanden [226] hatte,
ein kleiner länglicher Platz mit Bäumen und Bänken und einem Sandkasten.
Ich erinnere mich, dass es Abend war und dunkel wurde. Meine Mutter
saß mit mir im Sandkasten und baute eine Burg. Sie hatte ein flaches Stück
Holz mitgebracht, und ihr gelang, es im Turm als Decke auf den ersten Stock
zu setzen und darauf einen zweiten Stock zu bauen. Sie hatte in einem
Eimerchen Wasser mitgebracht, das half, aber trotzdem war es ein
Wunderwerk: Im ersten Stock konnte man von der Tür in den Raum und an
der anderen Seite aus dem Fenster sehen. Sie arbeitete mit äußerster
Konzentration und war in das Projekt vertieft, als sei ich nicht da. Trotzdem
war ich überglücklich. Sie war mit mir, nur mit mir, und machte etwas für
mich, nur für mich. Als es dunkel war, war sie fertig. Die Laternen gingen an,
Gaslaternen mit weichem Licht, und wir saßen und sahen die Burg an. Sie
hatte sicher einen Wall und das eine und andere Gebäude, aber ich erinnere
mich vor allem an den Turm mit den zwei Geschossen, und ich sah Rapunzel
ihr Haar herunterlassen und den Prinzen zu ihr hochklettern. Dann schaute ich
auf, und ein kleines blondes Mädchen stand neben mir und sah auch auf die
Burg, aus hellen graublauen Augen und mit einem verwunderten, ein bisschen
schiefen Lächeln. Sie…«
»Das denkst du dir jetzt aus.« Irene sagte es freundlich tadelnd.
»Ja. Das Seltsame ist, dass ich nicht weiß, ob ich mir nicht die ganze
Erinnerung ausgedacht habe. Es gab den Spielplatz, aber warum erinnere ich
mich nicht, dass meine Mutter sonst mit mir gespielt hat, zu Hause oder
draußen, und warum sollte sie es an dem einen Abend getan haben? Sie
[227] war auch nicht besonders geschickt, und sie war ungeduldig, viel zu
ungeduldig, einen zweigeschossigen Turm aus Sand zu bauen. Sie hat mir
manchmal Märchen vorgelesen. Habe ich mein eigenes Märchen phantasiert?
Aber das Geschehen ist in meiner Erinnerung nicht Phantasie, sondern
Wirklichkeit, und ich sehe alles genau vor mir: den Sandkasten, meine Mutter
im blauen Kleid, die Burg in der Dämmerung, dann in der Dunkelheit und
dann im Licht der Laternen.«
»Wie alt warst du, als deine Mutter gestorben ist?«
»Vier. Es muss kurz danach gewesen sein.«
»Woran ist sie gestorben?«
»Sie ist gegen einen Baum gefahren.«
Irene sah mich an, als warte sie darauf, dass ich mehr sagen würde.
»Sie war eine gute Fahrerin. Manchmal hat sie mich mitgenommen, ich saß
oder stand neben ihr auf dem Beifahrersitz, Sicherheitsgurte und Kindersitze
gab es noch nicht, und ich liebte, wenn sie schnell fuhr, und fühlte mich
völlig sicher.«
Irene wartete weiter.
»Die Großeltern sagten einmal, sie habe unter Alkohol gestanden. Sie sei
Alkoholikerin gewesen. Aber die Großeltern waren gegen die Ehe, sie
mochten meine Mutter nicht und haben nur schlecht über sie geredet. Ich
hätte gerochen, wenn sie Alkoholikerin gewesen wäre. Kinder riechen das.«
Irene nahm meine Hand. Sie sagte nichts, aber ich wusste auch so, was sie
dachte. Wie deine Frau, dachte sie. Ich mochte den Gedanken nicht, aber ihre
Augen wurden schwer, und [228] ich fand besser, dass sie den Gedanken
verschlief, als dass ich ihm widersprach. Sie schlief ein, und ich hielt ihre
Hand und grollte ihr.
[229] 18

Dann roch auch ich Rauch. Er hatte den scharfen, süßen Geruch von
Eukalyptus, war schwach und doch eindringlich, berauschend. Ich stand auf
und sah mich um, sah aber keinen Rauch und kein Feuer. Die Berge, die
Bucht, die Bäume, das Gesträuch, die Mole, das Meer – alles war wie immer.
Plötzlich stand Kari neben mir und bedeutete mir mitzukommen. Ich
schrieb Irene einen Zettel, dass Kari gekommen sei und mir etwas zeigen
wolle. Ich dachte, wir würden den Jeep nehmen, aber Kari winkte ab. Er eilte
mit schnellen, leichten Schritten den Berg hinan, und ich hatte Mühe zu
folgen. Ich kannte nur den Weg, den der Jeep durch die Berge nahe der Küste
in die hügelige Ebene nahm, in der die beiden Höfe lagen. Kari führte mich auf
einem Pfad auf einen der Berge. Es ging immer höher, die Bucht lag klein und
blau und wie eine Illustration zu Robinson Crusoe oder zur Schatzinsel unter
uns. Nach einer halben Stunde waren wir auf dem Gipfel.
Der Blick ging weit, bis zum Bergzug jenseits der Ebene. Noch ehe ich das
Feuer sah, gelbrote Flecken und Linien an den Bergen, sah ich den Rauch, der
in schwarzen Schwaden in den klaren Himmel quoll. Wenn er über eine
Schlucht zog, in der es brannte, leuchtete er gelbrot. Er leuchtete auch,
[230] wenn er über einen Berg kam, dessen hintere Seite schon in Flammen
stand; das Gelbrot kündigte an, dass das Feuer bald den Gipfel erreichen und
ihm eine Krone lodernder Flammen aufsetzen würde. Dann fraß es sich den
Berg hinab und hatte, wenn es unten ankam, oben schon alles verzehrt und
nur ein bisschen Glut und das Schwarz der Asche und des verkohlten Holzes
zurückgelassen.
Auf den Abschnitten des Highway, die sichtbar waren, fuhren
Feuerwehrautos mit blinkenden Lichtern. Darüber flogen Hubschrauber.
»Kommt das Feuer zu uns?«
»Die Ebene ist weit. Aber sie ist trocken, und wenn das Feuer über den
Highway springt…« Kari zuckte die Schultern.
»Dann?«
»Ich weiß nicht. Es kommt auf den Wind an. Noch riechen wir nicht viel
und haben nicht viel Rauch – der Wind ist noch schwach. Aber wenn er
stärker wird…«
»Hast du hier schon mal ein Feuer erlebt?«
»Nein, hier nicht. Aber weiter im Norden. Das Feuer, das den Wind macht,
und den Wind, der das Feuer treibt.«
»O Gott!« Ich sah am Fuß der Berge einen Ort in Flammen stehen. Der, in
dem Meredene und ich eingekauft hatten?
Kari blieb auf dem Gipfel, ich ging zu Irene. Sie war wach. »Ich weiß. Es
brennt drüben in den Bergen. Was Meredene und ihre Familie und die beiden
Alten wohl machen?«
»Sie können zu uns. Außerdem läuft auf dem Highway der Verkehr, man
nimmt sie mit.«
»Und die Tiere?«
[231] Ich stellte mir vor, eines der Kinder würde die Tiere zu uns in die
Bucht treiben und, wenn das Feuer käme, ins Wasser. Ich hörte schon das
Muhen der Kühe und das Quieken der Schweine und das Gackern der
Hühner. Aber niemand kam, nicht die Bewohner der beiden Höfe und nicht die
Tiere. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.
Um uns machte ich mir keine Sorgen. An der Mole lag das Boot, ich tankte
es auf, ließ den Motor an, und er lief gleichmäßig und verlässlich. Ich brachte
eine Matratze ins Boot und richtete vor dem Stand mit dem Steuer ein Bett.
Ich lagerte alle Handtücher und Leintücher, die ich finden konnte, im Haus am
Strand, um sie, wenn das Feuer käme, nass zu machen und das Holz des
Dachs und des Vordachs und der Fenster zu sichern. Ich brachte ins alte
Haus auch, was wir zum Leben brauchten. Wenn das Feuer käme, würden
wir aufs Meer fahren, warten, bis alles vorbei wäre, und dann vermutlich
nicht mehr ins obere, aber jedenfalls ins untere Haus ziehen können.
Am späten Nachmittag zog Rauch über die Bucht. Es regnete Asche, ganz
leicht, ganz fein; sie setzte sich auf unsere Haut und in die Falten unserer
Kleider und auf unsere Zähne und hinterließ einen bitteren Geschmack. Ich
fand den Weg auf den Gipfel und hockte mich neben Kari. Unter dem trüben,
gelbgrauen Himmel stand der Rand der Ebene in Flammen; das Feuer hatte
den Sprung über den Highway geschafft. Der Wald brannte gelbrot, und
manchmal, als greife eine unsichtbare Hand ins Feuer und werfe eine Flamme
voraus, loderten weit vor der Linie des Feuers ein Baum oder ein Busch auf
und dann auch das Gras darum herum.
»Wann ist das Feuer hier?«
[232] Als wollte er auf meine Frage antworten, setzte der Wind ein. Er
fachte das Feuer an, trieb es voran und blähte den schwarzen Rauch zu einer
großen Wolke auf, einem lebendigen, wachsenden Ungetüm, in dem es glühte
und flackerte. Einmal löste sich aus dem Bauch der Wolke ein Feuerball, flog,
wie von einem Katapult geschleudert, in hohem Bogen bis zum Fuß des
kleinen Bergs vor uns und ließ die Bäume aufflammen. Uns bliesen Rauch und
Asche ins Gesicht, manchmal ein Hauch Eukalyptus, manchmal auch eine
Flocke Glut.
So plötzlich wie der Wind eingesetzt hatte, hörte er auch wieder auf. Das
Feuer beugte sich nicht mehr vorwärts, wie einer, der schnell rennt, sondern
stand aufrecht, als warte es auf eine Weisung.
»Du kannst gehen. Wenn es gefährlich wird, versuche ich zu kommen.
Wenn ich nicht komme, aber das Feuer über den Berg kommt, geht ihr ins
Boot und aufs Meer. Wartet nicht auf mich. Wenn der Weg zu euch
abgeschnitten ist, nehme ich einen anderen.«
[233] 19

Irene lag, wie ich sie verlassen hatte. Ich erzählte ihr vom Feuer in der Ebene,
vom Wind, von Kari. Sie hörte zu, aber mit schweren Lidern. »Machst du
mich sauber?« Ich holte eine Matratze und bezog sie, zog Irene aus und
wusch sie und zog sie an und bettete sie um. Wieder legte sie beim Ausziehen
und Anziehen und Umbetten ihre Arme zutraulich um meinen Hals und
machte mich glücklich.
»Wenn heute Nacht das Feuer über den Berg kommt, gehen wir ins Boot.«
»Ich gehe nicht ins Boot.«
Das war so töricht, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. »Du willst
im Haus sterben? Du stirbst nicht, wenn du sterben willst. Du stirbst, wenn
es so weit ist.«
»Wenn das Haus verbrennt, ist es so weit. Ich verbrenne nicht, ich ersticke
im Rauch. Es ist ein leichter Tod.« Sie sagte es wehleidig und eigensinnig wie
ein Kind und klammerte sich mit weißen Knöcheln an das Geländer des
Balkons. »Ich will nicht nach Rock Harbour und nach Sydney und ins
Krankenhaus und in ein weißes Zimmer. Ich will hier sterben.«
Ich beugte mich über sie und nahm sie in die Arme. »Ich lasse dich nicht in
einem weißen Zimmer sterben. Du stirbst hier. Wenn es so weit ist. Wir gehen
aufs Boot, wenn das Feuer [234] kommt, und wenn es gegangen ist, ziehen
wir ins alte Haus und haben uns noch eine Weile. Wir haben so viele Tage
versäumt, wir können keinen verschenken.«
»Versprichst du mir, dass ich hier sterbe? Was auch immer passiert?«
Ich versprach es, und sie ließ das Geländer des Balkons los und schlief in
meinen Armen ein. Über die Berge kam schwarzer Rauch und zog über die
Bucht, und es wurde dunkel, obwohl die Sonne noch als matte weiße Scheibe
hinter dem Rauch am Himmel stand. Dann sah ich Flammen über einen Berg
schlagen, hob Irene auf, trug sie ins Boot, machte im alten Haus die Tücher
nass und legte sie ans Holz. Ein kräftiger Wind kam von den Bergen herab,
beugte und zauste die Bäume, ließ das obere Haus ächzen und zittern und
wühlte das Meer auf, dass die Wellen gegen die Mole klatschten. Die Luft
schmeckte nach Rauch und Salz.
Das Feuer raste die Berge hinunter und die Stämme hinauf in die Kronen
der Bäume. Sie standen wie Fackeln, ehe sie umstürzten. Oder sie
explodierten und schleuderten brennende Rinde in die Luft. Ich rannte zum
Boot und ließ es an, und noch in der Bucht bebte der Feuersturm und wirbelte
Glut und Asche durch die Luft. Das obere Haus stand in Flammen; für einen
Augenblick zeichnete das gelbrote Feuer die Linien und Kanten des Hauses
nach und glühte aus den Fenstern, ehe die Stämme, auf die das Haus gebaut
war, brannten und knickten und alles krachend in sich zusammenfiel. Das
Feuer sprang zum alten Haus am Strand, zischte durch das Gebälk, sprengte
die Fenster aus den Rahmen, und Dach und Vordach stürzten polternd ein.
Um die ganze Bucht brannte es. Ich fuhr aufs Meer, raus [235] aus der
Bucht, weg von der Hitze und den Fetzen brennender Rinde und der Glut und
der Asche. Ich weiß nicht, wie lange das Feuer tobte, eine Stunde, zwei
Stunden. Als es nur noch glühte, orangene Glut unter einem roten Mond, war
ich völlig erschöpft. Ich legte mich zu Irene, die während des Feuers nicht
aufgewacht war und auch jetzt nicht aufwachte. Sie rückte an mich heran,
und als ich den Arm über sie legte, schmiegte sie sich in die Beuge. So schlief
ich ein.
[236] 20

Als ich aufwachte, war heller Tag, die Sonne stand hoch am Himmel, und das
Boot dümpelte vor der Bucht. Ich richtete mich auf. Die Bäume an den
Bergen waren schwarze Skelette, manchmal mit rostrot verglühten Kronen,
oder dicke oder dünne schwarze Totempfähle oder übereinandergeworfene
schwarze Stämme. Das obere Haus war ein Haufen schwarzer Kohle, das
untere war schwarze Wände und schwarze Säulen, zwischen die Dach und
Vordach gestürzt waren.
Irene war weg. Ich nahm es zuerst nicht wahr, weil ich es mir nicht
vorstellen konnte, dann, weil ich es nicht wahrhaben wollte. Die Matratze
neben mir war leer, Irene hockte auch nicht vorne im Boot, kauerte nicht
hinter dem Steuer, antwortete nicht, als ich sie rief, und winkte nicht aus dem
Wasser, wo sie gerade schwamm. Als hätte sie noch schwimmen können.
Ich ließ den Motor an und steuerte das Boot an die Mole und ging über den
warmen Teppich grauer Asche zum unteren Haus und rief ins Haus und über
den Strand und die Berge hinauf. Als hätte sie, während ich schlief, an die
Mole fahren, dort anlegen, an Land gehen und mich mit dem Boot wieder
aufs Meer schicken können.
Ich setzte mich auf die Bank, auf der Irene mich damals geweckt und
begrüßt hatte, zwischen herabgestürzte Ziegel, [237] und wusste nicht, wie ich
es aushalten sollte. Dass sie nicht da war. Dass ich ihr Gesicht nicht sehen,
ihre Stimme nicht hören, sie nicht anfassen konnte. Ihre Hand nicht in meiner
halten konnte. Dass sie am Morgen aufgewacht war und das zerstörte alte
Haus gesehen und sich gesagt hatte, dass sie jetzt nach Rock Harbour und
nach Sydney gebracht und im weißen Zimmer sterben würde. Dass sie mir
nicht vertraut hatte. Aber was hätte ich auch gemacht? Wie hätte ich sie nicht
ins Krankenhaus bringen sollen? Hätten wir bis zu ihrem Tod auf dem Boot
hausen können?
Sie war am Morgen aufgewacht, hatte sich an den Rand des Boots gequält
und fallen lassen. Hatte sie mich davor noch geküsst, mir über den Kopf
gestrichen, mir ein Wort gesagt? Hätte ich aufwachen können? Ich verstand,
dass sie nicht im weißen Zimmer sterben wollte. Aber ich wäre Tag und
Nacht bei ihr geblieben, wir wären uns nahe gewesen, wir hätten uns geliebt.
Etwas Besseres als den Tod findest du überall. Irene sollte das nicht
gewusst haben? Etwas Besseres als den Tod findest du überall, und sei’s in
einem weißen Zimmer in einem Krankenhaus in der australischen Provinz
oder in Sydney. Es musste sich anders zugetragen haben, als ich es mir
ausgemalt hatte. Ihr war schlecht geworden, wie so oft in den letzten Tagen,
sie wollte sich am Rand des Boots übergeben, hatte die Balance verloren und
war ins Wasser gefallen, zu schwach zu rufen und zu schwach zu
schwimmen.
Kari kam, sah, dass Irene nicht da war, fragte nichts, sagte nichts, hockte
sich an den Strand und sah aufs Meer. Hörte ich klagende, brummende Töne
von dort, wo er außerhalb meines Blickfelds hockte? Ich weiß nicht, wie die
Zeit [238] verging, wie lange ich saß und er hockte und manchmal ein paar
Töne des Leids zu mir wehten. Irgendwann stand ich auf und sah zu ihm hin,
und er war weg.
Ich ging zum Boot, brachte das Bett vom Boot in die Trümmer des alten
Hauses, fand auf dem Boot zwischen Rudern, Angelgerät, Kanistern,
Schläuchen, Bürsten und Lappen einen Strick, der lange genug war, das
Steuerrad so festzubinden, dass das Boot geraden Kurs halten würde. Ich
legte meine Kleider an den Strand, ging aufs Boot, ließ es an und fuhr mit, bis
ich sah, dass es tatsächlich geradeaus und auf die Mitte des Ausgangs der
Bucht zufuhr. Dann sprang ich ins Wasser und schwamm zurück.
Zuerst hatte ich das Boot versenken wollen. An der Stelle, an der ich am
Morgen aufgewacht war und an der, so vermutete ich, Irene ins Meer
gefallen war. Das Boot als Sarg oder Grabstein oder Grabgabe, die Stelle als
Ort der Trauer und des Abschieds. Aber dann war mir, als werde Irenes Tod
mit dem Versenken noch schwerer.
So saß ich auf der Bank und sah dem Boot nach. Es durchmaß das ruhige
Wasser der Bucht, erreichte das offene Meer, tanzte dort im Wind und auf
den Wellen, hielt aber Kurs und fuhr immer weiter hinaus. Das Meer war leer;
kein Containerschiff, keine Jacht, nichts außer Irenes Boot, das im
Nachmittagslicht kleiner und kleiner wurde. Dann wusste ich nicht mehr, ob
ich es noch sah oder mir nur einbildete. Der kleine schwarze Punkt am
Horizont – war das Irenes Boot?
[239] 21

Ich sah aufs leere Meer und zählte die Tage, die ich mit Irene gehabt hatte.
Ich kam auf vierzehn – es war Dienstag, und an einem Dienstag war ich
gekommen, und wir waren nicht nur eine Woche zusammen gewesen, aber
auch nicht drei. Mir kam in Erinnerung, wie stolz meine Kinder waren, wenn
sie schon bis zehn oder bis hundert zählen konnten, dass sie aber andächtig
wurden, wenn sie begriffen, dass die Zahlen kein Ende haben, und derart die
Unendlichkeit entdeckten.
Ich würde Irenes Tochter suchen. Ich wusste nicht, wie ich erreichen
sollte, dass sie bekam, was vom Erbe von Irenes Mutter noch übrig war. Es
musste in Deutschland eine Bank oder auch einen Rechtsanwalt geben, mit
denen Irene in Kontakt gestanden hatte. Wie sollte ich sie ausfindig machen?
Wie sollte ich ihnen gegenüber Irenes letzten Wunsch ausweisen? Ich wollte
über das Problem nachdenken, konnte aber nicht. Ich konnte auch nicht
darüber nachdenken, wie ich mich meinen Kindern nähern sollte.
Geschäftlich, indem ich ihnen das Angebot einer gemeinsamen Kanzlei
machte, das Irene vorgeschlagen hatte? Oder indem ich langsam mehr
Interesse an ihnen und ihren Kindern zeigte und wir langsam in ein neues
Verhältnis zueinander hineinwuchsen? Oder indem ich ihnen sagte, was mit
mir geschehen war?
[240] Obwohl ich beim Denken nichts zustande brachte, konnte ich es nicht
abstellen. Aber das Wissen um Irenes Tod brach immer wieder wie eine Flut
durch die Dämme, die ich mit dem Denken zu errichten versuchte. Wie sollte
ich ohne sie leben? Wie sollte ich ohne sie leben, was ich mit ihr gelernt hatte?
Ich aß Äpfel, die ich vor dem Feuer aufs Boot gerettet hatte. Ich war
sicher, dass an einem der nächsten Tage das Boot von Rock Harbour
kommen und man schauen würde, wie es uns ging. Ich würde hier nicht
zugrunde gehen. Aber immer wieder fühlte ich mich, als sei ich schon
zugrunde gegangen, und fand es sogar richtig. Ich wollte mein altes Leben
nicht mehr. Ich hatte mich auf ein neues Leben gefreut. Ich hatte es getan, als
werde es ein Leben mit ihr. Ich hatte, dass sie sterben würde, nicht
wahrhaben wollen.
So wurde es Abend und Nacht. Ich richtete mir ein Bett in den Trümmern
des alten Hauses und fand dabei ein paar Münzen und die Schlüssel zu
meinem Haus und für meinen Mietwagen. Meine Papiere, meine Kreditkarten,
mein Geld waren verbrannt – es war mir egal. Ich lag und hörte wieder die
Wellen auf den Strand rauschen und beim Zurückfließen klirrend durch die
Kiesel strömen. So nah hatte ich noch nie am Strand geschlafen, so laut hatte
ich das Rauschen und Klirren noch nie gehört. Immer noch lag Rauch in der
Luft, und immer wieder schwoll der Wind an und trug den Geruch
verbrannten Holzes zu mir, manchmal mit einer Note Eukalyptus, oder legte
Asche und Staub auf mich. Diesmal wachte ich mit dem ersten Licht auf, sah
die Sonne rot aus dem Meer steigen, orange werden und gelb ihren Weg über
den Himmel antreten.
[241] Ich stieg den Berg hinauf, stocherte in den verkohlten Resten des
Hauses, trat gegen den ausgebrannten Jeep, stand vor den schwarzen
Stämmen der toten Bäume. Dann sah ich, dass es zwischen ihnen Leben gab,
mal ein paar grüne Halme Gras, mal ein paar grüne Zweige eines Strauchs.
Das Verhängnis hatte sich so wild auf den Wald gestürzt und war so jäh
durch ihn gerast, dass es nicht alles Kleine hatte vernichten können, nur alles
Große. Ich ging bis zum Gipfel. Die Berge vor mir, die Ebene, die Berge in
der Ferne – alles war schwarz. Aber wo das Auge das Detail sehen konnte,
fand es wieder kleine Spuren Grün. Auf dem Highway floss der Verkehr.
Dann kam das Boot in die Bucht, und ich rannte den Berg hinab. Es war
nicht Mark, sondern sein Vater.
»Sie sind alleine?«
»Irene ist tot.«
Er nickte, als habe er ihren Tod erwartet. Dann fragte er: »Wie kam das?«
»Sie war sehr krank und sehr schwach, und ihr wurde oft übel. Als das
Feuer kam, habe ich sie aufs Boot getragen und bin mit ihr aus der Bucht
gefahren. Ich denke, in der Nacht wurde ihr wieder übel und sie hat über den
Rand des Boots erbrochen und ist dabei ins Wasser gefallen. Ich habe keine
andere Erklärung. Ich schlief, und am nächsten Morgen war sie nicht mehr
da.«
»Sie sollten es dem Sheriff sagen. Sie war zwar nicht legal hier, aber alle
wussten, dass sie hier war, und vielleicht gibt es Fragen.« Er sah sich um,
sah mich an und lächelte. »Sie haben kein Gepäck?«
Ich lächelte zurück. »Nein.«
»Lassen Sie uns fahren.«
[242] 22

In Rock Harbour stand mein Mietwagen, und im Handschuhfach lag mein


Telefon. Es meldete Dutzende von Nachrichten. Ich hörte die letzten ab, eine
Frage eines Kollegen aus meiner Kanzlei, eine Mitteilung der Putzfrau, die
während meiner Abwesenheit nach dem Haus schaut, eine Erinnerung des
Chefs meiner Reiseagentur, ich müsse dringend meinen Heimflug weiter
verschieben. Ich löschte die Nachrichten, ich löschte auch alle anderen.
Ich sprach mit dem Sheriff, der Irenes Tod und meinen Namen und meine
Adresse notierte. Er hatte Irene nicht gekannt, aber von ihr gewusst und
nichts gemacht. Er hatte sich gesagt, dass die Zeit das Problem lösen werde.
Ich rief den australischen Kollegen an, mit dem ich den
Unternehmenszusammenschluss vorbereitet hatte. Er war gerne bereit, mir
Geld zu leihen, und veranlasste das Immobilienbüro in Rock Harbour, mir
sofort welches auszuhändigen. Das deutsche Generalkonsulat in Sydney
versprach, Papiere für mich vorzubereiten. Der Chef meiner Reiseagentur
hatte meinen Rückflug auch ohne mein Zutun rechtzeitig verschoben und
verschob ihn noch mal auf den übernächsten Tag.
Ich übernachtete wieder in dem Hotel am Meer, in dem [243] ich auf der
Herfahrt übernachtet hatte, saß wieder auf der Terrasse und schaute wieder
dem Einbruch der Nacht zu. Mit dem Blick auf einen Jachthafen und den
Geräuschen des Restaurantbetriebs war er nicht, was er in Irenes Bucht
gewesen war. Er machte mich traurig, und weil ich Angst hatte, ich würde
weinen, ging ich auf mein Zimmer. Aber ich weinte nicht, nicht dieses Mal
und nicht die vielen anderen Male, wo mir die Tränen im Hals steckten.
Ich stieg auch in Sydney wieder in dem Hotel ab, in dem ich vor dem
Aufbruch nach Rock Harbour abgestiegen war, und bekam wieder ein
Zimmer mit Blick auf das Opernhaus, die Bucht und an deren Ende den
Streifen Land, hinter dem das Meer lag. Der australische Kollege lud mich
zum Abendessen ein, und ich machte den Fehler, von Irene zu erzählen. Er
zwinkerte mir verschwörerisch zu und schwärmte von der jungen Sekretärin,
mit der er seit ein paar Wochen etwas am Laufen hatte. Der deutsche Konsul
begrüßte mich persönlich, erkundigte sich freundlich, wie ich ins und aus
dem Feuer geraten war, und gab mir die provisorischen Papiere.
Lange trieb mich um, ob ich in die Art Gallery gehen und das Bild besuchen
sollte. Manchmal verlor ich mich in einem Traum, in dem alles von vorne
begann und ich in die Art Gallery ging und das Bild sah und meinte, ich sei
auf die Vergangenheit gestoßen, während ich tatsächlich der Zukunft
begegnete. Ich sehnte mich danach, Irene noch mal zu sehen. Mich scherte
auch nicht, dass ich vielleicht weinen würde. Aber ich hatte Angst vor der
Traurigkeit, die manchmal unerträglich war, und ich sehnte mich nach der
alten Irene, die zu mir die Treppe heruntergekommen war, nicht nach der
jungen. Also entschied ich, nicht in die Art [244] Gallery zu gehen, ging dann
doch, fand das Bild nicht und bekam gesagt, es sei auf dem Weg nach New
York.
Ich kündigte meine Rückkehr nicht an. Der Wagen holte mich nicht ab, der
Fahrer erzählte mir nicht, was in Frankfurt passiert war, in der Kanzlei
würden auf meinem Schreibtisch keine Blumen stehen. Die Taxe setzte mich
ab, ich schloss auf und ging durchs Haus wie ein Fremder. Ja, das waren die
Möbel, die meine Frau und ich angeschafft, die Bilder, die wir beim
befreundeten Frankfurter Galeristen ausgesucht, die drei hölzernen Heiligen,
die wir in Buenos Aires gefunden hatten. Das waren die Zimmer, in denen die
Kinder noch schliefen, wenn sie zu Besuch kamen, aus denen sie aber alles
genommen hatten, was ihnen wichtig war. Das war unser, mein
Schlafzimmer; ich hatte die Kleider meiner Frau aus den Schränken geräumt,
sonst aber nichts verändert. Meine Putzfrau hatte auf dem Bett den
Hausmantel ausgebreitet, in dem ich, wenn ich nach einer Reise ausgepackt
und geduscht hatte, die Post zu lesen pflegte, die sich während meiner
Abwesenheit angesammelt hatte. Es war viel; ich hatte den vollen Tisch gleich
gesehen.
Ich würde erst am nächsten Tag in die Kanzlei gehen. Heute würde ich auf
den Friedhof gehen und mit meiner Frau sprechen. Ich wollte Abbitte leisten.
Zugleich wollte ich Abschied nehmen und ihr erklären, warum ich nicht mehr
in unserem Haus und mit unseren Sachen leben konnte. Ich wollte ihr von
Irene erzählen. Ich würde meine Kinder anrufen. Ich würde mich auf das
Gespräch mit Karchinger und den anderen Partnern vorbereiten. Ich würde
auf viele ihrer Fragen keine Antworten haben. Aber was machte das schon.
[245] ANM ERKUNG

Das Bild Irenes auf der Treppe mag manchen Leser und manche Leserin an
Gerhard Richters »Ema. Akt auf einer Treppe« erinnern. In der Tat steht seit
Jahren eine Postkarte mit Richters Bild auf meinem Schreibtisch, im Wechsel
mit anderen Postkarten und Fotografien. Darum haben aber Gerhard Richter
und der Maler Irenes nichts miteinander gemein; Karl Schwind ist erfunden.

Bernhard Schlink
Foto: Gaby Gerster / © Diogenes Verlag

BERN H A RD SCH LIN K, geboren 1944 bei Bielefeld, ist Jurist und lebt in Berlin und
New York. Der 1995 erschienene Roman Der Vorleser, 2009 von Stephen Daldry unter dem
Titel The Reader mit Kate Winslet, David Cross und Ralph Fiennes verfilmt, in 51 Sprachen
übersetzt und mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, begründete seinen
schriftstellerischen Weltruhm.
Mehr Informationen erhalten Sie auf
www.diogenes.ch

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