Sie sind auf Seite 1von 112

59 Philipp W. Hildmann (Hrsg.

"Sie werden Euch


hassen ..."
Christenverfolgung
weltweit
ISBN 978-3-88795-324-9

© 2007 Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München


Akademie für Politik und Zeitgeschehen
Verantwortlich: Dr. Reinhard C. Meier-Walser (Chefredakteur)

Redaktion:
Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin)
Susanne Berke, Dipl. Bibl. (Redakteurin)
Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin)
Friederike Pfaffinger (Redaktionsassistentin)

Titelbild: Zerstörte Kirche von Wase in Nigeria


Copyright für Titelfoto: Open Doors Deutschland

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form


(durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Inhaltsverzeichnis

Philipp W. Hildmann
Einführung.................................................................................................................... 5

Solidarität mit verfolgten Christen –


Möglichkeiten und Grenzen der Politik

Ingo Friedrich
Religionsfreiheit – ein Menschenrecht....................................................................... 11

Holger Haibach
"Christenverfolgung weltweit" – Auch ein politisches Problem................................ 17

Hermann Vorländer
Verfolgung und Benachteiligung von Christen in Asien und Afrika......................... 25

Länderberichte

Tessa Hofmann
Hass auf die kleine Herde: Christen in der Republik Türkei ..................................... 35

Harald Suermann
Brennpunkt Irak.......................................................................................................... 47

Thomas Schirrmacher
Christenverfolgung und Unterdrückung der Religionsfreiheit im Iran...................... 55

Matthias Drobinski
Christliche Palästinenser ............................................................................................ 71

Frank van der Velden


Brennpunkt Ägypten .................................................................................................. 75

Hansjürg Stückelberger
Brennpunkt Sudan ...................................................................................................... 85

Georg Evers
Religionsfreiheit in der Volksrepublik China ............................................................ 93

Markus Rode
Christenverfolgung in Nordkorea............................................................................. 101
4 Inhaltsverzeichnis

Anhang

Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten


religiösen Minderheiten. Antrag der CDU/CSU und SPD
im Deutschen Bundestag.......................................................................................... 109

Autorenverzeichnis................................................................................................... 115
Einführung
Philipp W. Hildmann

Meldungen über weltweite Verfolgung und matisieren. Es reiche nicht aus, so der An-
Diskriminierung von Christen nehmen be- tragstext, von Menschenrechten allgemein
ständig zu. Den Weg in die Schlagzeilen zu sprechen, sondern religiöse Verfolgung
finden sie hierzulande allerdings nur in be- müsse als solche klar benannt und ange-
sonders grausamen Ausnahmefällen. Erin- prangert werden.
nert sei exemplarisch an die Ermordung
des katholischen Priesters Don Andrea Diesen Antrag hat die Akademie für Poli-
Santoro in Trabzon am Schwarzen Meer tik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-
2006, die rituelle Schlachtung dreier Mit- Stiftung zum Anlass genommen, das ver-
arbeiter eines evangelikalen Buchverlags drängte, aber gleichwohl drängende Thema
im türkischen Malatya im April 2007 oder weltweiter Christenverfolgung aufzugrei-
die Hinrichtung Rami Khader Ajjads, eines fen und im unmittelbaren Anschluss an die
Mitglieds der Palästinensischen Bibelge- deutsche EU-Ratspräsidentschaft in den
sellschaft, im Oktober 2007.1 Mittelpunkt einer Expertentagung zu stel-
len. Die vorliegende Ausgabe der Argu-
Unbestreitbare Tatsache ist: Auch heute mente und Materialien zum Zeitgeschehen
werden Menschen weltweit wegen ihres dokumentiert die dort gehaltenen Vorträge,
Glaubens diskriminiert, bedrängt oder mit die noch ergänzt und erweitert wurden um
dem Tode bedroht.2 Und das Christentum andere Länderberichte und drei ausgear-
ist diejenige Religion, die zu Beginn des beitete Beiträge von Teilnehmern der im
21. Jahrhunderts dabei den stärksten Ver- Rahmen der Tagung durchgeführten Podi-
folgungen ausgesetzt ist. Das Jesuswort umsdiskussion "Solidarität mit verfolgten
"Ihr werdet um meines Namens willen von Christen – Möglichkeiten und Grenzen der
allen gehasst werden" aus Matthäus 10,22 Politik". Die letztgenannten Aufsätze von
gewinnt erschreckende Realität und erin- Ingo Friedrich, Holger Haibach und Her-
nert einmal mehr daran, dass die Bedräng- mann Vorländer stellen den Auftakt dieses
nis um des Glaubens an Jesus Christus Bandes dar.
willen sowohl biblisch als auch historisch
betrachtet "nicht als Ausnahme, sondern Nicht nur die erdrückende Fülle der Län-
als Normalfall christlicher Existenz zu be- der, in denen religiöse Diskriminierung
trachten ist".3 In wenigstens 50 der knapp gegenwärtig stattfindet, sondern auch der
200 Staaten dieser Erde werden gegenwär- Umstand, dass sich die Lage bedrängter
tig über 200 Millionen Menschen aufgrund und verfolgter Christen in verschiedenen
ihres christlichen Glaubens verfolgt. Ländern, ja nicht selten selbst innerhalb ei-
nes Landes sehr unterschiedlich darstellt,5
In einem gemeinsamen Antrag von machte es notwendig, sich bei den darauf
CDU/CSU und SPD mit dem Titel "Solida- folgenden Länderberichten auf ausge-
rität mit verfolgten Christen und anderen wählte Beispiele zu beschränken.
verfolgten religiösen Minderheiten",4 den
der Deutsche Bundestag am 24. Mai 2007 Einen ersten Schwerpunkt bildet die höchst
angenommen hat, wurde die Bundesregie- unterschiedliche Situation der Christen in
rung deshalb aufgefordert, die Verfolgung überwiegend islamischen Ländern und Ge-
von Christen während der deutschen EU- bieten. So thematisiert Tessa Hofmann in
Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr ihrem Beitrag "Hass auf die kleine Herde"
2007 und darüber hinaus verstärkt zu the- die von alltäglicher Diskriminierung ge-
6 Philipp W. Hildmann

kennzeichnete Situation der Christen in der "Christians Solidarity International" zur


Republik Türkei, deren Anteil an der Ge- Befreiung von über 80.000 dieser südsuda-
samtbevölkerung nach dem Genozid an nesischen Sklaven berichtet der Schweizer
den Armeniern von 1916,6 dem Bevölke- Hansjürg Stückelberger in seinem infor-
rungsaustausch mit Griechenland und der mativen Artikel über den "Brennpunkt
Verfolgung von anderen christlichen Sudan".
Volksgruppen inzwischen nur noch 0,2
Prozent beträgt. Einen zweiten Schwerpunkt bildet die Si-
tuation der Christen in den kommunisti-
Harald Suermann richtet seinen Blick auf schen Ländern. In seinem Beitrag über die
den "Brennpunkt Irak", nachdem sich die in der Verfassung festgeschriebene "Reli-
Lage religiöser Minderheiten, insbesondere gionsfreiheit in der Volksrepublik China"
der Chaldäischen, Assyrischen, Syrisch- konfrontiert Georg Evers diese mit der dort
Orthodoxen, Armenischen oder Protestan- von den Sicherheitsorganen geübten Praxis
tischen Christen durch die dort herrschende der Religionspolitik. Abschließend kommt
bürgerkriegsähnliche Situation seit 2003 so es Markus Rode zu, über die "Christenver-
dramatisch verschlechtert hat, dass die Ge- folgung in Nordkorea" zu berichten – ein
sellschaft für bedrohte Völker inzwischen Land, das mit Abstand den ruhmlosen ers-
von der "größte[n] Christenverfolgung der ten Platz des so verdienstvoll von der
Gegenwart"7 spricht. Ähnlich bedrückend überkonfessionellen Organisation "Open
stellt sich die Situation gegenwärtig in der Doors" geführten "Weltverfolgungsindex"8
Islamischen Republik Iran dar, in der den einnimmt und in dem gegenwärtig nach
nichtmuslimischen Minderheiten die in der vorsichtigen Schätzungen zwischen 50.000
Verfassung garantierten Grundfreiheiten und 70.000 Christen in Arbeitslagern in-
nach wie vor mit allen daraus entstehenden terniert sind.9
Konsequenzen für Leib und Leben verwei-
gert werden, wie Thomas Schirrmacher in Auch wenn diese Länderberichte nur aus-
seinem Beitrag über die "Christenverfol- gewählte Schlaglichter auf die weltweite
gung und Unterdrückung der Religions- Situation bedrängter und verfolgter Chris-
freiheit im Iran" deutlich macht. ten werfen können, lassen sie doch deutlich
werden, dass die Verletzung der Religions-
Matthias Drobinski, der im Frühjahr 2007 freiheit eine fundamentale Menschen-
die Mitglieder des Ständigen Rates der rechtsverletzung darstellt und entschlosse-
Deutschen Bischofskonferenz bei ihrem nes Handeln dringend geboten ist. Einen
einwöchigen Besuch Israels und der paläs- Schritt in die richtige Richtung stellt sicher
tinensischen Autonomiegebiete begleitet der eingangs genannte und im Anhang die-
hat, erzählt anschaulich von seinen entmu- ser Publikation abgedruckte gemeinsame
tigenden Begegnungen mit "Christlichen Antrag von CDU/CSU und SPD "Solida-
Palästinensern" in diesem zerrissenen rität mit verfolgten Christen und anderen
Land. Frank van der Velden zeichnet in verfolgten religiösen Minderheiten" dar,
seinem Beitrag ein differenziertes Bild von dem deshalb an dieser Stelle auch das (in
der Situation der koptisch-orthodoxen dieser Angelegenheit hoffentlich nur vor-
Christen im "Brennpunkt Ägypten", die läufig) letzte Wort eingeräumt werden soll:
auf die schleichende Islamisierung des
Landes zunehmend mit der Ausbildung "Interreligiöser Dialog und das deutliche
christlicher Parallelgesellschaften reagie- Eintreten für Religionsfreiheit als univer-
ren. Und über die Vertreibung und Ver- selles und unteilbares Recht können eine
sklavung von Christen und den Einsatz Brücke zwischen den Menschen verschie-
der interkonfessionellen Hilfsorganisation dener Religionen schlagen. Daran müssen
Einführung 7

Regierungen, Parlamente, Kirchen sowie menarbeit und politische Stiftungen ge-


Organisationen der Entwicklungszusam- meinsam arbeiten."10

Anmerkungen

1
Vgl. etwa Koller, Michaela: Eine Überlebens- Deutschland), Hannover 2003, S.23-27, hier
frage. Gespräch mit dem Apostolischen Vikar S.24.
von Anatolien, Bischof Luigi Padovese, in:
6
Rheinischer Merkur, 23.11.2006, S.25; Kalno- Vgl. hierzu Kieser, Hans-Lukas: Mission, Mo-
ky, Boris: Fanatiker der türkischen Hisbollah dernisierung und Verfolgung, in: Autochthone
unter Verdacht. Drei Christen bei Überfall auf Christen im Nahen Osten. Zwischen Verfol-
Bibelverlag in Südostanatolien die Kehle gungsdruck und Auswanderung, hrsg. von Udo
durchgeschnitten – Deutscher unter den Op- Steinbach, Hamburg 2006, S.40-52; Pink, Jo-
fern, in: Die Welt, 19.4.2007, S.6; Gerloff, Jo- hanna: Nationalismus in den Staaten des Na-
hannes: "Wer gehen kann, geht". Nach dem hen Ostens als Misstrauensbasis und Repressi-
Mord an einem christlichen Buchhändler onsfaktor gegenüber den Christen, in: ebd.,
wächst in Gaza-Stadt die Sorge, in: Die Ta- S.55-68; sowie die Replik auf die beiden Bei-
gespost, 13.10.2007, S.2. träge von Adanir, Fikret: Christen im Osmani-
2 schen Reich und in der Türkei, in: ebd., S.172-
Vgl. Backes, Reinhard: Sie werden euch has- 176.
sen. Christenverfolgung heute, Augsburg
7
2005, S.14. Diesem Band und seiner Anspie- Die größte Christenverfolgung der Gegenwart.
lung auf den im Folgenden zitierten Bibelvers Exodus der Assyro-Chaldäer aus dem Irak.
verdankte die Expertentagung der Hanns- Menschenrechtsreport Nr. 47 der Gesellschaft
Seidel-Stiftung die Anregung zu ihrem Ta- für bedrohte Völker, Göttingen 2007; vgl.
gungstitel, der sich nun auch im Titel der vor- Goertz, Hajo: Immer unauffällig bleiben, in:
liegenden Publikation widerspiegelt. Rheinischer Merkur, 19.10.2006, S.24.
3
Püttmann, Andreas: Christenverfolgung – zehn 8
Vgl. Klingberg, Max: Verfolgung und Diskri-
Thesen, in: Märtyrer 2006. Das Jahrbuch zur minierung im Überblick, in: Märtyrer 2006,
Christenverfolgung heute, hrsg. von Max S.71-80; auch online in jeweils aktualisierter
Klingberg, Thomas Schirrmacher und Ron Version einsehbar unter: http://www.open
Kubsch, Wetzlar 2006, S.11-19, hier S.12; vgl. doors-de.org, Stand: 17.10.2007.
grundlegend Seitz, Manfred: Aszetik, in: Eu-
9
ropa, vergiss Deine Märtyrer nicht!, hrsg. von Vgl. Backes: Sie werden euch hassen, S.192-
Rudolf Prokschi und Johann Marte, Klagenfurt 198; Demokratische Volksrepublik Nordkorea.
2006, S.89-105, sowie Ders.: Das Martyrium Internationaler Religionsfreiheitsbericht 2006
in der lutherischen Theologie, in: Märtyrer für den amerikanischen Kongress, in: Märtyrer
2006, S.20-30. 2006, S.155-166; einen lesenswerten Bericht
4
Im Anhang des vorliegenden Bandes abge- über die Verhältnisse in diesen Arbeitslagern
druckt, aber auch online abrufbar unter: liefert Lee, Soon Ok: Lasst mich eure Stimme
http://dip.bundestag.de/btd/16/036/1603608.pdf, sein! Sechs Jahre in Nordkoreas Arbeitslagern,
Stand: 17.10.2007. Gießen, 2.Aufl., 2006, für den Markus Rode
5
auch das Nachwort verfasst hat.
Vgl. Gröhe, Hermann: Verfolgung von Chris-
10
ten – eine Herausforderung für die deutsche Solidarität mit verfolgten Christen und anderen
Politik, in: Bedrohung der Religionsfreiheit. religiösen Minderheiten. Antrag der CDU/
Erfahrungen von Christen in verschiedenen CSU und SPD im Deutschen Bundestag,
Ländern, EKD Texte 78, hrsg. vom Kirchen- Drucksache 16/3608; hier zitiert nach dem
amt der EKD (Evangelische Kirche in Abdruck in der vorliegenden Ausgabe, S.5.
Solidarität mit verfolgten Christen –

Möglichkeiten und Grenzen der Politik


Religionsfreiheit – ein Menschenrecht
Ingo Friedrich

Ein Menschenrecht ist ein Recht, das je- Gläubigen dann wie die furchtsamen
dem Menschen von Natur her zusteht. Es Apostel vor dem Pfingstfest, die sich aus
ist von so elementarer Bedeutung für das Angst in ihrem Haus verschanzten. Spä-
menschliche Dasein, dass es überstaatli- testens mit der Sendung des heiligen
chen Charakter besitzt. Neben der Mei- Geistes aber sind die Apostel und damit
nungs- oder Versammlungsfreiheit ist auch alle Christen dazu aufgerufen, sich auch
die Religionsfreiheit ein Menschenrecht. öffentlich zu ihrem Glauben zu bekennen
Schon die Philosophen der Antike be- und ihrer inneren Glaubensüberzeugung
schrieben die religiöse Veranlagung eines gemäß zu leben. Diese öffentliche Sphäre
jeden Menschen als von der Natur gege- einer jeder Religionsausübung, das sog.
ben. Die Sehnsucht nach dem Transzen- "forum externum", kann von einem Staat
dentalen, nach einer Macht, die unsere sowohl in Form von Gottesdienstverboten
menschliche Begrenztheit übersteigt, ist in als auch durch gezielte andersartige Ver-
uns allen verwurzelt, unabhängig von einer folgungsmaßnahmen eingeschränkt wer-
konkreten Religionszugehörigkeit. "Inquie- den. Die Religionsfreiheit besteht deshalb
tum cor nostrum donec requiescat in te konkret darin, jedem Gläubigen eine ge-
dominum" – "Unruhig ist mein Herz bis es schützte Sphäre zuzugestehen, in die der
ruht in dir", beschrieb schon der heilige Staat nicht ungerechtfertigt eingreifen
Augustinus diese innere stete Suche nach kann.
dem Absoluten, dem Göttlichen.
Um dem Menschenrecht Religionsfreiheit
So natürlich die Disposition des Menschen seine ganze Wirksamkeit zu verleihen, ist
für das Religiöse ist, bleibt es in der Ent- es in mehreren Rechtstexten auf nationaler,
scheidung eines jeden Einzelnen, sich einer europäischer und internationaler Ebene
"positiven" konfessionellen Weltreligion verankert. Zu nennen wären hier insbeson-
anzuschließen. Das Menschenrecht Religi- dere Art. 4 unseres deutschen Grundgeset-
onsfreiheit umfasst daher auch die sog. ne- zes, Art. 9 der Europäischen Menschen-
gative Religionsfreiheit, das Recht, sich rechtskonvention und, als breiteste Basis
keiner Religionsgemeinschaft anzuschlie- für die weltweite Staatengemeinschaft, Art.
ßen. In Zusammenhang mit der positiven 18 der Allgemeinen Erklärung der Men-
Religionsfreiheit, also dem Recht, sich schenrechte der UNO. Auch in der Charta
zum Glauben einer Religionsgemeinschaft der Grundrechte der Europäischen Union
zu bekennen, bedarf das Praktizieren einer vom Dezember 2000 ist die Religionsfrei-
Religion einer gewissen Freiheit. heit als elementarer gemeinschaftsrechtli-
cher Grundsatz anerkannt.
Freilich kann kein Staat, keine Gesellschaft
einem Einzelnen verbieten, für sich im Pri- – Art. 10 Abs. 1 der Charta lautet: "Jede
vaten zu beten. Dieses sog. "forum inter- Person hat das Recht auf Gedanken-,
num" ist von außen her nicht einsehbar und Gewissens- und Religionsfreiheit.
daher nicht beschränkbar. Dieses Recht umfasst die Freiheit,
seine Religion oder Weltanschauung
Aber was wäre eine Religion, die nur im zu wechseln, und die Freiheit, seine
stillen Kämmerlein existierte? Was die Religion oder Weltanschauung einzeln
christliche Religion betrifft, wären die oder gemeinsam mit anderen öffent-
12 Ingo Friedrich

lich oder privat durch Gottesdienst, on, aber auch die meist verfolgte. 80% der
Unterricht, Bräuche und Riten zu be- Menschen, die wegen ihres Glaubens ver-
kennen." folgt werden, sind Christen.

– Art. 21 fährt fort: "Diskriminierungen Dabei ist die Verfolgung von Christen kei-
insbesondere wegen des Geschlechts, ne moderne Erscheinung. Bereits seit den
der Rasse, der Hautfarbe, der ethni- Ursprüngen der Christenheit sind Chris-
schen oder sozialen Herkunft, der ge- tenverfolgungen bezeugt. Stephanus war
netischen Merkmale, der Sprache, der der erste Märtyrer, der bei der Verfolgung
Religion oder der Weltanschauung, der jungen Christengemeinde in Jerusalem
der politischen oder sonstigen An- gesteinigt worden war (Apg 6-8). Und
schauung, .... sind verboten." auch Paulus kennt die Verfolgung und das
Leiden um Christi willen nur zu gut (2.
– Art. 22 konstatiert allgemein: "Die Kor 11,23f.). Die Voraussage Jesu, dass
Union achtet die Vielfalt der Kulturen, seine Jünger wegen ihres Glaubens ver-
Religionen und Sprachen." folgt würden, war damit kein leeres Wort
(Joh 15,20; Mt 10,17-23).
Die in der Grundrechtecharta aufgeführten
Grundrechte sind bisher nicht als solche Im alten Rom setzte sich die Christenver-
vor den Gerichten einklagbar. Ihre Inte- folgung unter den Kaisern Nero, Decius,
gration in den europäischen Verfassungs- Valerian und Diokletian fort, weil sich die
vertrag als eigenen Grundrechtsteil hätte Christen weigerten, den römischen Göttern
ihnen nicht nur eine juristische, sondern zu opfern und den Kaiser als Gott zu ver-
auch eine große symbolische Wirkung ge- ehren. Im Jahre 64 n. Chr. dienten die
geben. Mit der Zustimmung zum neuen Christen Kaiser Nero als Sündenbock für
EU-Reformvertrag wird es jedoch einen den vermutlich von ihm selbst gelegten
Verweis auf die Grundrechtecharta geben, Brand in Rom. Der berühmte Christenbrief
der ihr eine juristisch verbindliche Wir- (111 n. Chr.) des Staathalters Plinius an
kung verleihen wird. Spätestens ab 2009 Kaiser Trajan verdeutlicht uns darüber hin-
wird daher auch die Grundrechtecharta ei- aus, wie die Christenproblematik das ganze
nen gesicherten juristischen Status haben, römische Reich bis in die Provinzen be-
wobei sich Großbritannien ein "opt-out" wegte.
ausgehandelt hat, d.h. in Großbritannien
wird die Charta rechtlich nicht verbindlich In neuerer Zeit gab es Christenverfolgun-
sein. gen in islamischen Ländern, unter kommu-
nistischer Herrschaft in China und auch in
All dies zeigt uns, dass die Religionsfrei- der DDR und vor allem durch den
heit ein juristisch anerkanntes Grund- und Nationalsozialismus. Heutzutage sind nach
Menschenrecht darstellt. Nur leider ent- dem Weltverfolgungsindex der Hilfsinitia-
spricht die juristische nicht immer der ge- tive "Open Doors" die Länder Nordkorea,
lebten Wirklichkeit. Zu viele Staaten gibt Saudi-Arabien, Iran und Somalia die größ-
es, die die Religionsfreiheit einzelnen Be- ten Christenverfolger weltweit. Christen
völkerungsgruppen teilweise oder ganz werden wegen ihres Glaubens diskrimi-
vorenthalten. Unter den verfolgten Min- niert, verlieren ihre Arbeitsstellen, ihre
derheiten stellen die Christen einen er- Wohnungen, werden inhaftiert, entführt,
schreckend hohen Prozentsatz dar. Das verstümmelt und ermordet, ihre Kirchen
Christentum ist zwar die größte Weltreligi- niedergebrannt und ihre Häuser zerstört.
Religionsfreiheit – ein Menschenrecht 13

Werfen wir ein kurzes Schlaglicht auf die und für westliches Fehlverhalten quasi
islamische Welt. Nach den Bestimmungen mitverantwortlich gemacht werden, scheint
des Korans werden Christen wie Juden als sich der Westen wenig für das Schicksal
"Leute des Buches" prinzipiell geduldet. der Betroffenen zu interessieren. Schwei-
Als dhimmis (Schutzbefohlene) können sie gen, Passivität und Unkenntnis über die
ihren Glauben relativ unbehelligt ausüben, traurige Situation überwiegt in Europa.
wenn auch als Bürger zweiter Klasse, die
u.a. Sondersteuern entrichten müssen und Bereits die Berichterstattung ist mangel-
niemanden zum Christentum bekehren dür- haft. Selten findet eine Christenverfolgung
fen. Trotz der prinzipiellen Tolerierung der den Weg in die Schlagzeilen. Die Hin-
Christen nach dem Koran kam es und richtung dreier Christen im türkischen
kommt es, insbesondere aus nationalisti- Malatya im April 2007 ist dabei eine aktu-
schen und islamistischen Kreisen, immer elle Ausnahme, die wohl auf die laufenden
wieder zu Verfolgungen. Nationalistisch- Beitrittsverhandlungen mit der EU zurück-
religiösen Bestrebungen sind andere Reli- zuführen sind. Ebenso der Völkermord an
gionsgemeinschaften im Land ein Dorn im den überwiegend christlichen Armeniern
Auge. Die Kairoer Erklärung der Men- im Osmanischen Reich in den Jahren
schenrechte im Islam von 1990, die in 1914-1916 ist eines der wenigen Ereignisse
vielem im Widerspruch zum internationa- der Vergangenheit, das zu trauriger Be-
len Verständnis der Menschenrechte steht, rühmtheit gelangte.
unterstützt solche Tendenzen indirekt, in-
dem sie den Islam ausdrücklich als Religi- Darüber hinaus verhalten sich die Staaten
on der "reinen Wesensart" beschreibt (Art. des Westens meist passiv, wenn nicht ge-
10). Die Universalität der Religionsfreiheit rade ein eigener Staatsbürger Opfer einer
wird darin nicht anerkannt. Entführung im Ausland wird und diploma-
tischer Hilfe bedarf. Für die bedrängten
Noch dazu speist sich die Aggressivität einheimischen Christen fühlt sich jedoch
gegenüber den Christen aus einer gewissen kaum ein Staat vollends verantwortlich.
Ablehnung gegenüber dem Westen. Nega-
tive Gefühle gegenüber der Vormachtstel- Noch dazu praktizieren in Europa immer
lung des Westens kanalisieren sich in der weniger Menschen ihren Glauben. Vor al-
Gewalt gegenüber den einheimischen lem Deutschland spielt im europäischen
Christen, die in den Augen der Islamisten Religions"ranking" eine negative Vorrei-
den Westen repräsentieren. Fühlt sich ein terrolle. Mit 17,2% ordnen sich überdurch-
Teil der Muslime durch Reden oder Gesten schnittlich viele Deutsche keiner Religion
des Westens persönlich angegriffen, wie mehr zu. Beim "Glauben an Gott" landen
z.B. durch die Regensburger Papstrede die Ostdeutschen mit 31,8% sogar EU-weit
oder die dänischen Mohammed-Karika- abgeschlagen auf dem letzten Platz hinter
turen, bekommen dies die Christen im ent- Tschechien (40,3%). Andererseits kann bei
sprechenden islamischen Land am eigenen Großereignissen wie dem Weltjugendtag
Leibe zu spüren. Befinden wir uns ange- eine klare Tendenz hin zur Religiosität und
sichts solcher gewalttätiger Reaktionen zum Wunsch nach Gemeinschaftserleben
von Muslimen gegenüber Christen wirk- beobachtet werden.
lich schon in einem Kampf der Kulturen,
wie es der amerikanische Soziologe Hun- Im einstmals so christlichen Europa ist
tington voraussagte? Die Frage bleibt zu die "Entchristlichung" also auf dem Vor-
beantworten. marsch, und damit scheint auch das fehlen-
de Verständnis für unsere Mitchristen im
Während die verfolgten Christen stetig mit Ausland einherzugehen. Unser Wohlstand
dem Westen in Zusammenhang gebracht und unser hoher Lebensstandard macht es
14 Ingo Friedrich

uns schwer zu begreifen, was es bedeutet, lichen Dialog begegnen können, dürfen wir
in einer feindlichen, hass- und gewalttäti- aber nicht vergessen, dass es auch inner-
gen Umgebung seinen Glauben zu leben halb des Islams moderne Strömungen gibt,
und sich zu ihm zu bekennen. Angesichts die sich für eine Trennung von Kirche und
dieses Leidens müssen wir uns als Politiker Staat und ein offeneres und toleranteres
daher fragen, wo unsere Möglichkeiten Gesellschaftsverständnis aussprechen. In
und Grenzen im weltweiten Einsatz für die gewisser Weise müssen wir daher auch auf
Religionsfreiheit liegen. die innerhalb des Islams selbst stattfinden-
den, positiven Auseinandersetzungen ver-
Eine der Handlungsmöglichkeiten der Po- trauen und diese nach Möglichkeiten un-
litik ist die Kontaktaufnahme mit den terstützen.
Staats- und Religionsführern der Verfol-
gerstaaten. Denn nur wo Kommunikations- Am einfachsten ist die Kommunikation
ebenen vorhanden sind, besteht überhaupt Europas sicherlich mit Ländern, mit denen
die Chance, Einfluss zu üben. Da sich der Verhandlungen bereits in Gange sind. Das
Dialog bereits in Deutschland zwischen beste Beispiel hierfür ist die Türkei. Die
den verschiedenen Religionen als schwie- laufenden Beitrittsverhandlungen der Tür-
rig und emotionsgeladen erweist, ist auch kei mit der Europäischen Union bieten ein
bei politischen Verhandlungen mit großem optimales Parkett, um bestehende Men-
Fingerspitzengefühl vorzugehen. In diesem schenrechtsverletzungen und Christenver-
Rahmen ist es wichtig, die Verantwortli- folgungen anzumahnen. Denn schließlich
chen darauf hinzuweisen, dass sich durch ist die Wahrung der Menschenrechte eine
eine umfassendere Achtung der Menschen- der Bedingungen für den EU-Beitritt ge-
rechte in ihrem Land auch ihr Ansehen auf mäß den Kopenhagener Kriterien. Insofern
der Weltbühne verbessern würde. Ebenso müssen die Beitrittsverhandlungen bewusst
gilt es, wirtschaftliche Kontaktpersonen dazu genutzt werden, diese unsere Werte
dafür zu gewinnen, im Rahmen ihrer öko- einzufordern und den Reformprozess vor-
nomischen Beziehungen mit Verfolger- anzutreiben. Eine Annäherung der Türkei
staaten mehr auf die Einhaltung der Men- an die EU kann jedoch in ebenso effektiver
schenrechte zu pochen. Denn eine ausge- Weise durch eine privilegierte Partner-
wogene soziale Harmonie ist auch die Ba- schaft erreicht werden.
sis einer stabilen Handelsbeziehung.
Das Europäische Parlament begrüßt daher
Leider stößt der Dialog gerade mit islami- ausdrücklich im Bericht Camiel Eurlings
schen Führungspersonen auch an seine vom 26. September 2006, dass sich die
Grenzen. Aufgrund der fehlenden Epoche Verhandlungen mit der Türkei nunmehr in
der Aufklärung im Islam ist die Fähigkeit, der "aktiven Phase" befänden, und beharrt
sich von sich selbst zu distanzieren, in der gleichzeitig auf einer Lösung der Probleme
islamischen Welt unbekannt. Das eigene religiöser Minderheiten in der Türkei. Der
Selbstverständnis ist daher ein anderes, Schutz der Grundrechte aller Religionsge-
was den Dialog nicht nur auf interreligiö- meinschaften müsse voll und ganz ge-
ser, sondern auch auf politischer Ebene er- währleistet werden, so der Bericht sinn-
schweren kann. Wenn dann noch eine kri- gemäß.
tische oder ablehnende Grundhaltung ge-
genüber dem Westen hinzukommt, wird es Für uns alle gilt, Christenverfolgungen
ein westlicher Politiker schwer haben, sein endlich als Realität wahrzunehmen. Eine
Gegenüber für eine bessere Behandlung regelmäßige Berichterstattung wäre daher
der einheimischen Christen zu gewinnen. mehr als wünschenswert, um das Leiden
Unabhängig von den Hindernissen, denen der bedrängten Christen in den Köpfen
wir "Abendländer" im islamisch-christ- präsent zu halten. Gerade Europa, das auf
Religionsfreiheit – ein Menschenrecht 15

einer christlichen Wertegemeinschaft be- Massenmord, Plünderung und Vergewalti-


ruht, kann vor Christenverfolgungen in an- gungen. Nach einer Entschließung des
deren Ländern die Augen nicht verschlie- Europäischen Parlaments vom 15. Februar
ßen. Selbst wenn die Zahl der gläubig- 2007 müssten EU-Mitgliedstaaten, Minis-
praktizierenden Christen in unseren Brei- terrat und EU-Kommission "ihrer Verant-
tengraden immer mehr abnimmt, ist die wortung gerecht" werden und "alles ihnen
Religionsfreiheit ein Menschenrecht so wie Mögliche" unternehmen, um die Bevölke-
jedes andere, das es zu verteidigen gilt. Als rung Darfurs wirksam vor einer humanitä-
Menschenrecht steht die Religionsfreiheit ren Katastrophe zu schützen. Das Europäi-
selbstverständlich nicht nur den Christen sche Parlament sprach sich daher für ge-
zu. Ein verfolgter Muslim oder Jude muss zielte, auch wirtschaftliche Sanktionen aus.
uns im Namen der Religionsfreiheit daher Denn auf Intoleranz können auch wir nur
genauso schützenswert sein wie ein ver- mit Intoleranz reagieren! Selbst wenn die
folgter Christ. Das Argument der "Ent- vom Parlament verabschiedeten Resolutio-
christlichung" Europas kann daher nicht als nen gegen Menschenrechtsverletzungen
Entschuldigung für mangelndes Interesse keine direkte rechtliche Wirkung haben,
an Christenverfolgungen gelten, wenn uns finden sie in den betroffenen Ländern
die Menschenrechte als westliche Errun- durchaus Beachtung und führen mitunter
genschaften noch lieb und teuer sind. zu heftigen Reaktionen, weil das Europäi-
sche Parlament als bedeutende Institution
In diesem Zusammenhang ist an die zahl- angesehen und geschätzt wird.
reichen Menschenrechtsorganisationen und
christlichen Hilfsinitiativen zu denken, die Aber nicht nur zum Schutze der Men-
es sich bereits in der Vergangenheit und schenrechte, sondern gerade auch als
bis heute zum Ziel gesetzt haben, die Sen- abendländische Christen an sich, haben wir
sibilität und das Verständnis für das Leid einen besonderen Auftrag, unseren unter-
unserer verfolgten Mitchristen zu erhöhen drückten Glaubensgeschwistern in der Not
und aktive Hilfsarbeit in den Krisengebie- beizustehen. Vor allem weil die bedrängten
ten zu leisten. Zu erwähnen ist ebenso die Christen nur selten Fürsprecher ihrer
am 4. Juli 2007 in Rom veranstaltete De- Rechte finden, sind sie auf die Unterstüt-
monstration gegen die Verfolgung von zung christlich geprägter Länder angewie-
Christen im Nahen Osten, die den Hilferuf sen. Auch in Europa ist die Religionsfrei-
der leidenden und gedemütigten Christen heit nicht vom Himmel gefallen, sondern
hinaus in die Welt tragen wollte. Diesen ist das Ergebnis negativer Erfahrungen,
Menschen gebührt ein großes Dankeschön insbesondere während des Dreißigjährigen
für ihren Einsatz für Religionsfreiheit. Krieges, und des Einsatzes vieler enga-
gierter Einzelpersonen. Man denke ebenso
Da die Menschenrechte und damit die Re- an die Reformation, die zu jahrhunderte-
ligionsfreiheit zum tragenden Fundament langen interkonfessionellen Auseinander-
und Selbstverständnis Europas gehören, ist setzungen geführt hat und die auch heute
der Menschenrechtsschutz auch ein ele- noch in der Ökumene des ständigen Dia-
mentarer Teil der Außenpolitik der EU. logs bedarf. Es gilt daher, die Religions-
Das Engagement der EU in Sachen Men- freiheit auch in unserer eigenen Gesell-
schenrechtsverletzungen zeigt sich z.B. in schaft stets zu verteidigen. Doch wäre es
der aktuellen Darfur-Krise, in der die ara- geradezu ungerecht, wenn wir diese unsere
bische Miliz Dschandschawid beschuldigt Errungenschaften den Menschen in ande-
wird, schwere Menschenrechtsverletzun- ren Erdteilen nicht zuteil werden ließen.
gen gegen die nichtarabische Bevölkerung Lassen wir also Europa zu einem "sicheren
von Darfur begangen zu haben, darunter Hafen" für das Christentum werden!
16 Ingo Friedrich

Wie auch immer letztlich ein Einsatz für Recht auf Menschenwürde. Art. 1.1 unse-
verfolgte Christen motiviert sein mag, sei res Grundgesetzes lautet: "Die Würde des
es eher durch das Konzept der Menschen- Menschen ist unantastbar." Setzen wir uns
rechte oder durch christliche Nächstenlie- also nach unseren Kräften in Politik und
be, die Religionsfreiheit ist ein elementares Gesellschaft dafür ein, dass die Men-
menschliches Recht, dessen Verletzung schenwürde nicht nur bei uns, sondern
uns nicht unberührt lassen kann. Wie jedes weltweit Achtung findet, damit sie nicht
Menschenrecht gründet auch die Religi- nur eine juristische, sondern auch eine ge-
onsfreiheit letztlich in dem allumfassenden lebte Realität darstellt.
"Christenverfolgung weltweit" – Auch ein politisches Problem
Holger Haibach

Die Fragen von interreligiösem Dialog und führt haben, wie dünn die Decke der Tole-
Integration bestimmen mehr denn je die ranz gegenüber anderen Religionen doch
Schlagzeilen der innenpolitischen Debatte ist.
in Deutschland. Gegenseitige Toleranz und
Rücksichtnahme werden bei jedem Mo- Im Frühjahr 2006 hat uns der Fall des af-
scheebau auf die Probe gestellt. Und dann ghanischen Konvertiten Abdul Rahman
eine Diskussion über verfolgte Christen? schmerzhaft vor Augen geführt, dass längst
nicht alle Christen in der Welt die Frei-
Ja, denn Toleranz und Rücksichtnahme räume haben, die wir in Deutschland als
sind keine Einbahnstraße. Es soll hier nicht selbstverständlich erachten. Im Rückgriff
dem Bibelspruch des "Auge um Auge, auf die strengen religiösen Regeln der
Zahn um Zahn" das Wort geredet werden. Scharia war ihm untersagt worden, zum
Es geht auch nicht darum, die Verfolgung Christentum überzutreten. Er wurde sogar
von Christen als solitär zu sehendes Phä- mit dem Tode bedroht und wäre wohl hin-
nomen zu betrachten. Sehr wohl geht es gerichtet worden, wenn es nicht aufgrund
jedoch darum, auf ein fast vergessenes, internationalen Drucks gelungen wäre, sein
oftmals nur leisetreterisch angesprochenes Leben zu retten.2 Gerade das Schicksal
menschenrechtliches Problem aufmerksam Abdul Rahmans verdeutlicht, dass die Ge-
zu machen. Es ist Aufgabe eines Christen, währung der Religionsfreiheit zwar in
für die religiöse Freiheit eines jeden Men- zahlreichen internationalen Abkommen
schen einzutreten. Deshalb ist es richtig, festgeschrieben steht, aber in der Praxis oft
über die Freiheit von Moslems, Hindus, das Gegenteil zu finden ist. Derzeit erleben
Juden oder Bahai zu reden und dafür zu wir zudem eine große Flucht von Christen
streiten. Nicht für die Freiheit seiner eige- aus dem Irak, in dem der Bürgerkrieg der
nen christlichen Brüder und Schwestern zu verschiedenen Volksgruppen und Religio-
kämpfen, ist aber jedenfalls mindestens so nen dramatische Ausmaße annimmt.3
falsch wie das zuvor Gesagte richtig ist.
Wie ist die Lage im Jahr 2007? Eigentlich
gut, möchte man meinen, wenn man sich
1. Christen in der Welt die völkerrechtlichen Normen ansieht. Be-
reits 1948 wurde mit Artikel 18 der "All-
1.1 Die Ausgangslage im Jahr 2007 gemeinen Erklärung der Menschenrechte"
verbindlich festgelegt, dass jeder Mensch
Noch vor einigen Jahren glaubten wir, das das Recht hat, seine Religion frei auszu-
Thema "Christenverfolgung" sei eine Sa- üben oder auch zu wechseln, wenn er dies
che der römischen Antike unter Kaiser wünscht.4 Dazu gehört selbstverständlich
Nero und seinen Nachfolgern gewesen. auch das Recht, keiner Religion anzugehö-
Spätestens mit dem Toleranzedikt von 313 ren, um jeglichen Zwang zu vermeiden.
glaubten die Meisten, Christenverfolgung Diese fundamentalen Rechte fanden ihre
sei eigentlich kein Problem mehr gewesen Bestätigung und Erneuerung in dem "In-
oder allenfalls etwas "Antikes" bzw. "Mit- ternationen Pakt über bürgerliche und
telalterliches".1 Dass dies keinesfalls allein politische Rechte" von 1966. Auch hier
ein historisches Thema ist, zeigen die Er- bekräftigt Artikel 18 des Paktes das Recht
eignisse der vergangenen Jahre, die uns in auf freie Religionswahl und -ausübung
erschreckender Offenheit vor Augen ge- sowie das Recht, seinen Glauben zu wech-
18 Holger Haibach

seln.5 Auch entsprechende Dokumente re- die Nichtregierungsorganisation Open


gionaler Organisationen wie etwa die Doors auf ihrem Weltverfolgungsindex seit
Grundrechtecharta der Europäischen Union Jahren stets nahezu die gleichen Länder
sehen diese Rechte uneingeschränkt vor. auf den vorderen Plätzen.7 Dieser Index,
Anders jedoch verhält es sich etwa bei der der den "Grad" der Verfolgung von Chris-
"Kairoer Erklärung über Menschenrechte ten in einzelnen Ländern misst, nennt für
im Islam", die zwar das Recht auf freie 2007 folgende Staaten auf den vorderen
Religionsausübung anerkannte, die Religi- Plätzen:
onsfreiheit aber zugleich unter das Vor-
recht der Scharia stellte, der islamischen 1. Nordkorea, 2. Saudi-Arabien, 3. Iran,
Rechtsordnung. Damit erhielten die Bemü- 4. Somalia, 5. Malediven, 6. Jemen,
hungen, durch internationale Menschen- 7. Bhutan, 8. Vietnam, 9. Laos, 10. Afgha-
rechtsabkommen unumstößliche Positio- nistan, 11. Usbekistan, 12. China, 13. Eri-
nen für den Menschenrechtsschutz zu trea, 14. Turkmenistan.
erreichen, einen deutlichen Dämpfer.6 Die-
se Erklärung muss heute besonders kritisch Aus dieser Auflistung ist ersichtlich, dass
gesehen werden, zumal wenn man die es sich zum einen um Länder handelt, in
zahlreichen Nachrichten aus islamischen denen autoritäre Regime mit kommunisti-
Ländern von Übergriffen auf Christen be- schen oder ehemals kommunistischen
rücksichtigt. Machthabern regieren. Zum anderen sind
es Länder, in denen eine andere Religion,
Bei einer genaueren Betrachtung kann man oftmals der Islam, Staats- oder Mehrheits-
verschiedene Grade der Behinderung oder religion ist.
Verfolgung von Christen bei ihrer Religi-
onsausübung unterscheiden. Diese reichen Im Folgenden soll an wenigen Beispielen
von staatlicherseits tolerierten oder zumin- die Situation bedrängter und bedrohter
dest nicht effektiv verhinderten Bedrohun- Christen dargestellt werden.
gen durch nichtstaatliche Akteure (Bangla-
desch, Pakistan, Sri Lanka, Ägypten oder
in einigen Unionsstaaten in Indien), über 1.2 Nordkorea und China
die durch das Gesetz verordnete Vorherr-
schaft einer anderen Religion und damit Vor allem die Sozialistische Republik
der Zurücksetzung aller übrigen, dem Ver- Nordkorea sieht in den Christen ihre größ-
such von Staaten, die Religionsausübung ten inneren Feinde und geht mit schärfster
zu kontrollieren (China), über die völlige Restriktion gegen die Gläubigen vor. Hier
Intoleranz bei der Religionsausübung bis wird von offizieller Seite aus "Jagd" auf
hin zur Gefahr für Leib und Leben beim die Christen gemacht. Wer sich in dem
Bekenntnis zum Christentum. Erschwert atheistischen Land offen zum Christentum
wird die Situation dadurch, dass das Be- bekennt, muss fast zwangsläufig mit einer
kenntnis zu einer Religion oftmals nicht Inhaftierung in einem Arbeitslager unter
der einzige oder nur ein vorgeschobener unmenschlichen und oftmals tödlichen Be-
Verfolgungsgrund ist und auch noch ande- dingungen rechnen. Überlebende berichten
re Fragen wie ethnische und soziale Her- von täglicher Zwangsarbeit bis zu 18 Stun-
kunft oder Konflikte eine Rolle spielen wie den, Schlägen und Folter, unzureichender
etwa im Sudan. oder ungenießbarer Nahrung, unmenschli-
cher und erniedrigender Behandlung insbe-
Staaten, die allgemein eine schlechte Men- sondere bei Verhören. Organisationen wie
schenrechtsbilanz aufzuweisen haben, sind Amnesty International rechnen damit, dass
nicht zufällig auch zumeist keine Vorbilder bis zu 250.000 Menschen in den etwa 15-
in Fragen der Religionsfreiheit. So führt 25 Arbeits- und Umerziehungslagern ein-
"Christenverfolgung weltweit" – Auch ein politisches Problem 19

sitzen. In der Vergangenheit ist es zudem gebildet. Dabei handelt es sich um Zu-
wiederholt zu Massenexekutionen an sammenschlüsse von Gläubigen, die ge-
Christen gekommen. Ihr "Verbrechen" war meinsam beten, Gottesdienste feiern und
es, in der Bibel gelesen oder gebetet zu ha- Bibelstunden abhalten. Oftmals sind diese
ben. Die einzige Chance zu überleben be- Bibelstunden für die Betroffenen die einzi-
steht bei einer solchen Anklage darin, dem ge Chance, in der Bibel zu lesen, da Milli-
christlichen Glauben abzuschwören und onen Christen keine eigene Bibel besitzen.
Gott zu verleugnen. Die Situation der einzelnen Hauskirchen ist
indes sehr unterschiedlich. So werden
Der Regierung ist es gelungen, die christli- Gottesdienste der nicht anerkannten pro-
chen Gemeinden in Nordkorea weitestge- testantischen "Hauskirchen" sowie der
hend zu liquidieren. Gab es zu Beginn des romtreuen katholischen Untergrundkirche
20. Jahrhunderts noch rund 300.000 immer wieder gewaltsam aufgelöst, Got-
Christen und etwa 2.300 Kirchen allein in teshäuser zerstört, Gläubige verhaftet und
Pjöngjang, so gibt es nach vorsichtigen teilweise in Straflager eingewiesen. Häufig
Schätzungen heute nur noch etwa 12- werden diese Menschen in die sogenannten
14.000 Christen in Untergrundgemeinden Laogai-Umerziehungslager eingewiesen,
in Nordkorea. Im ganzen Land existieren wo sie gezwungen werden, ihrem Glauben
noch ganze vier Kirchen, die als Feigen- abzuschwören und sich wieder der kom-
blatt für das kommunistische Regime die- munistischen Staatsideologie zu unterwer-
nen.8 fen. Auch vor Druck auf Angehörige
schrecken die Sicherheitskräfte nicht zu-
In China genießen die von Peking offiziell rück, um missliebige Gläubige zu diszipli-
anerkannten Protestanten und Patriotischen nieren.9
Katholiken seit einigen Jahren einen größe-
ren Handlungsspielraum sowie teilweise Die Kommunistische Partei (KPCh) sieht
materielle Unterstützung des Staates, z.B. in den Kirchen und ihren Gläubigen offen-
zum Bau von Kirchen. Trotz der wachsen- bar eine echte Gefahr und Herausforderung
den Zahl von Gläubigen ist die chinesische für den eigenen Machterhalt. Mit rund 70
Regierung dennoch sehr darum bemüht, Millionen Protestanten und rund zwölf
religiöse Betätigung möglichst einzu- Millionen Katholiken steht der KPCh ein
schränken. Dies geschieht auf vielfältige Netzwerk gegenüber, das sich durch das
Weise. So müssen sich kirchliche Gruppen ganze Land zieht und sich nur teilweise
auch weiterhin beim Religionsamt regis- kontrollieren lässt.10
trieren lassen und sich einer der fünf offi-
ziell anerkannten "Kirchen" unterordnen.
Die Registrierungserfordernisse sind rigide 1.3 Saudi-Arabien, Sudan und
und eröffnen dem Staat weitgehende mate- die Türkei
rielle und inhaltliche Einflussmöglichkei-
ten. Gruppierungen, die sich aus theologi- Saudi-Arabien steht auf Platz zwei des
schen und anderen Gründen gegen eine Weltverfolgungsindex. In keinem anderen
Registrierung sperren, werden in den Un- islamischen Land werden Christen so un-
tergrund abgedrängt und sind Repression terdrückt und in der Ausübung ihrer Reli-
und Verfolgung ausgesetzt. gion so behindert wie hier.

Davon sind vor allem romtreue Katholiken Religionsfreiheit besteht faktisch nicht.
und unabhängige Protestanten betroffen, Der Islam ist die allein zugelassene Religi-
die die offiziellen Kirchen der Regierung on. Weder ist der Schutz der Religionsfrei-
ablehnen. Inzwischen hat sich eine heit gesetzlich vorgesehen noch existiert
ganze Reihe sogenannter "Hauskirchen" dieser Schutz in der Praxis. Das Rechts-
20 Holger Haibach

system basiert auf dem islamischen Recht, Zentralregierung in Darfur gegen afrikani-
der Scharia, die auch drakonische körperli- sche Einwohner und Christen. Ein weiterer
che Strafen vorsieht. Diese finden auch Krisenherd ist der Süden Sudans, der auch
Anwendung. Ein Religionswechsel ist un- durch das Ziel einer umfassenden Islami-
ter keinen Umständen gestattet und wird sierung durch die Truppen der Regierung
mit dem Tode bestraft. Für Christen stellt massiv bedroht ist. Der Bürgerkrieg hat in-
sich die Situation in Saudi-Arabien beson- zwischen über 1,5 Millionen Opfer gefor-
ders schwierig dar. Die Regierung erkennt dert und trotz aller internationalen Frie-
zwar das Recht von Nichtmuslimen auf densbemühungen scheint kein Ende in
private Gottesdienste an, aber öffentliche Sicht.13 In dem Land treffen ethnische und
nichtmuslimische Gottesdienste und jeder religiöse Spannungen, die sich über lange
Versuch zur Missionierung werden straf- Zeit aufgebaut haben, aufeinander und ha-
rechtlich verfolgt, obwohl Mitglieder der ben einen wahren Genozid an der Bevölke-
königlichen Familie immer wieder be- rung hervorgerufen. Christen waren häufi-
haupten, dass es Christen freigestellt sei, in ge Opfer des brutalen Vorgehens der Mili-
ihrer Privatwohnung Gottesdienste zu fei- zen, die oftmals ganze Dörfer auslöschten
ern. Die Praxis beweist das Gegenteil.11 oder ihre christliche Einwohner versklav-
ten.14 Hinzu kamen und kommen Angriffe
Die Einhaltung der Religionsgesetze wird von Regierungstruppen, die versuchen,
durch eine eigene Religionspolizei streng erdölreiche Regionen des Landes zugäng-
überwacht. Selbst geringste Verstöße wie lich zu machen und die Bevölkerung zu
etwa Männer, die sich mit Frauen unter- vertreiben.
halten, mit denen sie nicht verheiratet oder
verwandt sind, sind zu ahnden. Mehrere Selbst in einem zumindest teilweise west-
tausend Mitarbeiter der Religionspolizei lich orientierten und laizistischen Land wie
überwachen das gesamte öffentliche Leben der Türkei können Christen heute nicht
und zwingen den Menschen die muslimi- mehr unbehelligt leben. Zwar sieht die
schen Vorschriften auf. In der Vergangen- Verfassung der Türkei eine völlige Tren-
heit kam es wiederholt zu gewaltsamen nung von Staat und Religion vor. Auch hat
Übergriffen von Angehörigen der Religi- das Land im Rahmen des EU-Beitritts-
onspolizei auf christliche Gastarbeiter aus prozesses große Anstrengungen unter-
Asien und Afrika, die dort ihren Lebens- nommen, zumindest auf dem Papier die
unterhalt verdienen. Mit Gewalt wurden Gleichstellung aller Religionen zu errei-
sie vielfach zur Konversion zum Islam ge- chen. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders
zwungen. Auch vor Folter und Misshand- aus: Grundstücke, die aufgrund der Tatsa-
lungen schrecken die Täter in staatlichem che, dass sie nach einem Heiligen benannt
Auftrag offenbar nicht zurück.12 Angehöri- sind, nicht rückübertragen werden, weil der
ge westlicher Länder scheinen von solchen Heilige nicht auf dem Grundbuchamt er-
Methoden weniger betroffen zu sein, kön- scheint, um die Rückübertragung zu beur-
nen ihren Glauben jedoch nicht offen zei- kunden; Priesterseminare, die seit Jahr-
gen, wenn sie nicht eine Verhaftung riskie- zehnten geschlossen sind: Ein Stiftungs-
ren wollen. recht, das die Registrierung von kleineren
Religionsgemeinschaften quasi ausschließt;
Eine völlig andere Situation findet sich da- wiederholte Angriffe bis hin zu gezielten
gegen im Sudan. In diesem seit Jahrzehn- Morden an Kirchenmitarbeitern – all dies
ten vom Bürgerkrieg zerstörten Land zeigt, dass die Türkei gerade in Fragen der
kämpfen muslimische Milizen mit Dul- Religionsfreiheit noch einen weiten Weg
dung und Unterstützung der sudanesischen vor sich hat.15
"Christenverfolgung weltweit" – Auch ein politisches Problem 21

2. Was kann die Politik tun? Christen weltweit und die Frage, wie man
den Menschen vor Ort helfen kann. Es be-
Diese wenigen, exemplarisch ausgewähl- stand ein großer Konsens, dass das Thema
ten Beispiele machen deutlich, unter wel- viel stärker als bisher politisch diskutiert
chen Bedrohungen Christen heute zu lei- und an die Öffentlichkeit gebracht werden
den haben. Doch was kann getan werden, muss. Notwendig sind zudem direkte In-
um die Situation der Christen weltweit zu terventionen der deutschen Bundesregie-
verbessern? Schließlich sind mindestens 80 rung, der europäischen und internationalen
Prozent der religiös Verfolgten Christen.16 Partner, wenn es darum geht, Christen zu
Die Antwort fällt nicht leicht, wenn man retten und offene Missstände zu beseitigen.
die vielfältigen Probleme der Betroffenen Nur durch eine gemeinsame Haltung kann
in den unterschiedlichen Ländern in Be- der Christenverfolgung wenigstens in Tei-
tracht zieht. Zum einen sind die Menschen len entgegengewirkt werden.
oftmals staatlicher Willkür ausgesetzt.
Zum anderen sind sie Opfer blutiger Bür- Wir müssen daher noch stärker als bisher
gerkriege mit religiösem Hintergrund, der in einen politischen Dialog mit anderen
nicht selten in einem Genozid an großen Religionen und Staaten eintreten, um das
Bevölkerungsteilen endet. grundlegende Menschenrecht auf Religi-
onsfreiheit durchzusetzen. Seinen Glauben
Bisher hat in Europa zu sehr der Gedanke leben zu können, ist für jeden Gläubigen,
vorgeherrscht, man dürfe sich in Religi- egal welcher Religion, nicht nur eine Pri-
onsangelegenheiten anderer Länder nicht vatsache. Vielmehr muss es ihm möglich
einmischen, weil man keinen Konflikt in sein, seinen Glauben auch öffentlich und
dieser Frage riskieren wollte. Diese Hal- mit anderen zusammen praktizieren oder
tung ist verschiedentlich kritisiert worden, auch wechseln zu können. Nur wenn dies
was durchaus berechtigt ist.17 Nur allzu gewährleistet ist und niemand wegen sei-
selten geriet das Thema Christenverfol- nes Glaubens Angst um Leib und Leben
gung oder überhaupt Unterdrückung der haben muss, sind wir auf einem guten Weg
Religionsfreiheit ins Blickfeld der Politik zu mehr Toleranz und Religionsfreiheit.
oder gar der Öffentlichkeit.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte
Es müssen erst Fälle wie der des Konver- diesen Weg aktiv unterstützen und hat da-
titen Abdul Rahman ans Licht kommen, her das Thema Verfolgung von Christen
um wirkliche Aufmerksamkeit zu erregen. und Angehörigen anderer Religionen noch
Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen einmal in einem eigenständigen Antrag
Bundestag hat diesen Fall zum Anlass ge- aufgegriffen. In dem Antrag der Koalition
nommen, sich zum wiederholten Male "Solidarität mit verfolgten Christen und
nach 1999 mit dem Thema Christenverfol- anderen verfolgten religiösen Minderhei-
gung auseinanderzusetzen.18 Wir messen ten" werden verschiedene zentrale Forde-
diesem Problem größte Bedeutung zu, rungen deutlich herausgestellt.
denn oft genug ist das einzige, was wir tun
können, Solidarität mit unseren Glaubens- Darin wird die Bundesregierung aufgefor-
brüdern zu zeigen. dert, sich bei internationalen Kontakten auf
allen Ebenen für betroffene Christen einzu-
Im Oktober 2006 veranstaltete die setzen und die Bedeutung der Religions-
CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein großes freiheit besonders zu betonen. Andere
Forum mit dem Titel "Christenverfolgung Länder sollen die entsprechenden völker-
heute", das auf breites Interesse bei zahl- rechtlichen Verträge ratifizieren und dafür
reichen Besuchern stieß.19 Kernpunkt der Sorge tragen, dass diese auch eingehalten
Diskussion war die Lage der bedrohten werden. Es muss auf der Grundlage der
22 Holger Haibach

völkerrechtlichen Vereinbarungen klarge- Bundestages im Dezember 2006 in einer


macht werden, dass es keine Unterschiede Expertenanhörung mit einem "Bericht der
bei der Interpretation von Freiheitsrechten Bundesregierung zur Lage der Christen
geben darf. D.h., wer sich zu religiöser und der christlichen Gemeinschaften in der
Freiheit bekennt, muss diese auch allen Diaspora" befasst und die Notwendigkeit
Religionen gewähren, aber auch den Men- einer Unterstützung für die Christen welt-
schen, die keiner Religion angehören. Hier weit herausgestellt hat.23
darf es keine Abstriche geben.
Das Thema Christenverfolgung muss aber Fazit: Es ist unsere gemeinsame Aufgabe,
auch in Deutschland weiter thematisiert für verfolgte Christen und für die Religi-
werden, da es hierzulande nicht "political onsfreiheit einzutreten. In einem Streitge-
correct" ist, über dieses Thema zu reden. spräch mit Ayyub Axel Köhler, dem
Christenverfolgung ist z.B. aber auch in Vorsitzenden des Koordinierungsrates der
den Menschenrechtsdialogen mit China Muslime, anlässlich des Evangelischen
und Iran anzusprechen, um die Situation Kirchentags hat der EKD-Ratsvorsitzende,
christlicher Minderheiten in diesen Län- Bischof Wolfgang Huber, in bemerkens-
dern zu verbessern.20 Gleiches gilt auch für werter Klarheit ausgeführt, es sei die
die Beitrittsverhandlungen mit der Tür- Pflicht jedes Glaubenden gleich welcher
kei.21 Religion, für das einzutreten, was er als
wahr anerkenne. Christen müssten zu ih-
Der Antrag wurde im Mai 2007 mit großer rem Bekenntnis stehen. Dies bedeute keine
Mehrheit durch den Deutschen Bundestag falsche Profilierung. Huber wörtlich: "Re-
angenommen.22 Die Bedeutung des The- ligionsfreiheit verträgt nur ein Ja ohne jeg-
mas wird auch dadurch unterstrichen, dass liches Wenn und Aber… Appeasement an
sich etwa der Unterausschuss "Auswärtige dieser Stelle wäre Verrat an der Religions-
Kultur und Bildungspolitik" des Deutschen freiheit selbst."24 Nihil addendum est!

Anmerkungen
1 7
Vgl. Stöver, Hans Dieter: Christenverfolgung Vgl. http://www.opendoors-de.org/index.php?
im Römischen Reich, Düsseldorf/Wien 1982. supp_page=weltverfolgungsindex_2007_kurz
2 &supp_lang=de
Vgl. Merkel spricht mit Karzai, in: Frankfurter
8
Allgemeine Zeitung (FAZ), 24.3.2006. Vgl. Backes, Reinhard: Sie werden Euch has-
3 sen. Christenverfolgung heute, Augsburg
Vgl. Die größte Christenverfolgung der Ge-
2005, S.192ff.; Lassiw, Benjamin: Staatsfeinde
genwart. Exodus der Assyro-Chaldäer aus dem
ausrotten bis ins dritte Glied, in: Rheinischer
Irak. Menschenrechtsreport Nr. 47 der Gesell-
Merkur, 21.6.2006.
schaft für bedrohte Völker, Göttingen 2007.
9
4 Mutter eines Christen-Aktivisten verurteilt, in:
Vgl. Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der
FAZ, 28.2.2007.
Menschenrechte vom 10.12.1948, abgedruckt
in: Menschenrechte. Dokumente und Deklara- 10
tionen, Bonn 2004, S.54-59. Wird die Volksrepublik China zu einem
christlichen Land?, in: FAZ, 30.12.2006.
5
Vgl. den Internationen Pakt über bürgerliche 11
und politische Rechte vom 19.12.1966, abge- Vgl. http://www.opendoors-de.org/index.php?
druckt in: Menschenrechte. Dokumente und supp_page=sa&supp_lang=de
Deklarationen, Bonn 2004, S.69-85. 12
Vgl. Backes: Sie werden Euch hassen, S.108f.
6 13
Vgl. Kairoer Erklärung der Menschenrechte Vgl. Schneider, Rudolph: Wo niemand den
im Islam, abgedruckt in: Menschenrechte. Do- Frieden mehr kennt, in: Die Welt, 4.4.2007.
kumente und Deklarationen, Bonn 2004, 14
S.562-567. Vgl. Backes: Sie werden Euch hassen, S.46f.
"Christenverfolgung weltweit" – Auch ein politisches Problem 23

15 20
Vgl. Höhler, Gerd: Morde werfen Schlaglicht Vgl. Solidarität mit verfolgten Christen und
auf die Religionsfreiheit in der Türkei, in: anderen religiösen Minderheiten. Antrag der
Handelsblatt, 20.4.2007. Zur Situation der CDU/CSU und SPD im Deutschen Bundestag,
christlichen Gemeinden in der Türkei siehe Drucksache 16/3608.
auch Grulich, Rudolf: Die Türkei – fast chris-
21
tenfrei in neunzig Jahren, in: Märtyrer 2006. Vgl. Haibach, Holger: Verfassungsanspruch
Das Jahrbuch zur Christenverfolgung heute, und Verfassungswirklichkeit. Die Menschen-
hrsg. von Max Klingberg, Thomas Schirrma- rechtslage in der Türkei, in: Evangelische Ver-
cher und Ron Kubsch, Wetzlar 2006, S.85-94. antwortung 02/2004, S.11-14.
16
Vgl. Stold, Till-R.: Solidarität mit Christen, in: 22
Vgl. Deutscher Bundestag: Stenografischer
Die Welt, 18.6.2006. Bericht. 100. Sitzung, 24.5.2006.
17
Vgl. ebd. 23
18
Vgl. Protokoll der 9. Sitzung des Unteraus-
Zu der Debatte von 1999 rückblickend Rauch, schuss "Auswärtige Kultur- und Bildungspoli-
Andreas M.: Christenverfolgung heute – das tik", 11.12.2006.
Beispiel China, in: Die neue Ordnung 54/2000,
S.392-396. 24
Grigat, Felix: Kirchentag in Köln. "Appease-
19
Vgl. http://www.cducsu.de/section__1/subsec ment an dieser Stelle wäre Verrat", in: FAZ,
tion__5/id__1819/Meldungen.aspx 8.6.2007.
Verfolgung und Benachteiligung von Christen
in Asien und Afrika
Hermann Vorländer

1. Einleitung Menschenrechtserklärung von 1990


fest: "Alle in dieser Verlautbarung er-
In etwa 50 von 200 Staaten der Welt wer- wähnten Rechte und Freiheiten sind
den Christen bedrängt oder verfolgt. Das der islamischen Scharia unterworfen.
sagte die Menschenrechtsbeauftragte Erika (Sie) … ist die einzige Quelle zur
Steinbach der CDU/CSU-Bundestagsfrak- Auslegung und Erklärung jedes ein-
tion bei einer Anhörung ihrer Fraktion zur zelnen Artikels dieser Verlautbarung".
Christenverfolgung am 16. Oktober 2006 Die Scharia verbietet Muslimen den
in Berlin. Gegenwärtig wird die Zahl der Wechsel ihrer Religion.
verfolgten Christen auf 200 Millionen ge-
schätzt. Dabei ist anzumerken, dass nicht – Die Menschenrechte werden in Asien
jede Verfolgung oder Benachteiligung mit vielfach als Produkt westlicher Demo-
dem Glauben oder der Religion der jewei- kratie und individualistischer Lebens-
ligen Menschen zu tun hat. Menschen wer- haltung angesehen, die asiatischen
den oft aus politischen, ethnischen oder so- Werten wie Harmonie und Gemein-
zialen Gründen verfolgt, sind aber gleich- schaft widersprechen.
zeitig Christen. Religion wird zunehmend
als Aufhänger zur Begründung von Kon- – Die Einhaltung von Menschenrechten
flikten gebraucht, die überwiegend andere wird als innere Angelegenheit eines
Gründe haben. Staates angesehen.

Wenn Christen verfolgt werden, so wird Nordkorea, Saudi-Arabien, Laos, Vietnam


ihr Recht auf Religionsfreiheit verletzt, wie und Iran gelten als die Länder, in denen
es in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung Christen am meisten verfolgt und diskri-
der Menschenrechte der Vereinten Natio- miniert werden. In vielen Ländern, mit de-
nen enthalten ist: "Jedermann hat Recht auf ren Kirchen die Evangelisch-Lutherische
Gedanken-, Gewissens- und Religionsfrei- Kirche in Bayern partnerschaftliche Bezie-
heit; dieses Recht umfasst die Freiheit, sei- hungen unterhält, herrscht dagegen Religi-
ne Religion oder seine Weltanschauung zu onsfreiheit, z.B. in Papua-Neuguinea, Phi-
wechseln, sowie die Freiheit, seine Religi- lippinen, Südkorea, Kenia, Demokratische
on oder seine Weltanschauung allein oder Republik Kongo, Liberia oder auch in La-
in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich teinamerika. Im Folgenden gehe ich auf die
und privat durch Unterricht, Ausübung, Situation von Christen in einigen Ländern
Gottesdienst und Beachtung religiöser Ge- ein, mit deren Kirchen wir partnerschaft-
bräuche zu bekunden." Zwar werden in lich verbunden sind.
den meisten Ländern diese Menschen-
rechte offiziell anerkannt; sie unterliegen
jedoch Einschränkungen: 2. Ostasien

– Islamische Regierungen geben dem 2.1 Malaysia


islamischen Recht, der Scharia, den
Vorrang vor der UN-Menschenrechts- Malaysia ist ein multireligiöser und multi-
erklärung. So stellt z.B. die Kairoer ethnischer Staat. Ein Drittel seiner Bevöl-
26 Hermann Vorländer

kerung sind Chinesen, ca. 8% sind indi- dass dieses Buch nur für Christen be-
scher Abstammung. Die Mehrheit sind stimmt ist.
Malaien, von denen in der Verfassung be-
stimmt wird, dass sie von Geburt Muslime – Der lutherische Bischof Philip Lok
sind und ihre Religion nicht wechseln kön- wies seine überwiegend chinesisch-
nen. Dennoch garantiert Artikel 11 der stämmigen Gemeindeglieder kürzlich
Verfassung jedem Individuum, seine Reli- darauf hin, mit welchen Konsequenzen
gion frei zu wählen. Malaysia ist ein Staa- Menschen zu rechnen haben, wenn sie
tenbund, in dem die Sultane in einzelnen zum Islam übertreten. Wenn eine
Staaten zwar nur noch geringe politische christliche Frau durch Heirat Muslima
Macht ausüben, jedoch religiöse Autorität wird und durch Tod oder Scheidung
besitzen. Sie haben in den letzten Jahren ihren Ehemann verliert, darf sie nicht
vielfach die Anwendung der Scharia ver- zu ihrer früheren Religion zurückkeh-
schärft. Sie gilt eigentlich nur für Muslime, ren. Ihr drohen Strafen wie Gefängnis,
wird aber neuerdings auch auf Christen der Verlust ihrer Kinder und des Er-
angewandt und dem staatlichen Recht bes.
übergeordnet.
– Die stetige Islamisierung nimmt gro-
Seit ca. 30 Jahren pflegen wir partner- teske Formen an: So wurde vor eini-
schaftliche Kontakte zu den vier lutheri- gen Monaten ein neuer Personalaus-
schen Kirchen des Landes. Sie können ih- weis für die Bevölkerung eingeführt,
ren Auftrag nur unter Einschränkungen er- auf dem die Religionszugehörigkeit
füllen: von Muslimen deutlich zu sehen ist,
während die Religionszugehörigkeit
– Sie klagen darüber, dass der Neubau von Nicht-Muslimen nur auf dem
von Kirchen und kirchlichen Einrich- elektronischen Chip gespeichert ist,
tungen durch lokale Behörden vielfach den der Inhaber nicht ohne weiteres
behindert oder verzögert wird. einsehen kann. Viele Christen wurden
ohne ihr Wissen offiziell zu Muslimen
– Missionstätigkeit unter Muslimen ist erklärt, was die Kirchen dazu veran-
verboten. Wenn ein Muslim einen lasste, ihre Mitglieder aufzufordern,
Gottesdienst betritt, muss der Gottes- die Eintragung in ihrem Ausweis zu
dienst unterbrochen werden, damit er überprüfen. Offensichtliches Ziel des
nicht christlicher Verkündigung aus- Staates ist es, die Zahl der Christen
gesetzt wird. Die lutherische Kirche möglichst gering zu halten. Moderne
unterhält allerdings in Einkaufszentren und Mittelalter prallen hier aufeinan-
eine Reihe von Buchhandlungen mit der.
dem Namen Glad Sounds, wo auch
Muslime christliche Literatur oder Bi- Die lutherischen Kirchen sind stark missi-
beln erwerben können. onarisch ausgerichtet und gewinnen neue
Mitglieder unter Chinesen, Indern und Ur-
– Der Christenrat trug erfolgreich einen einwohnern. Sie möchten ihren Glauben
Streit aus, ob das im Malaiischen ge- friedlich zum Wohl der Gemeinschaft aus-
brauchte Wort für Gott "Allah" auch in üben und suchen in einem "Dialog des Le-
der Bibel verwendet werden darf. Man bens" gute nachbarschaftliche Kontakte zu
einigte sich darauf, dass im Vorwort Menschen anderen Glaubens. Sie appellie-
zur Bibel darauf hingewiesen wird, ren zusammen mit anderen Kirchen an die
Verfolgung und Benachteiligung von Christen in Asien und Afrika 27

Regierung, in der auch Christen vertreten doch jede Einmischung von außen. Eine
sind, dass die in der Verfassung garantierte Delegation der staatlichen Religionsbehör-
Religionsfreiheit einzuhalten ist. de SARA besuchte im September 2004
Deutschland und kam von Berlin auch
nach Bayern. Auf einem Empfang in Neu-
2.2 Volksrepublik China endettelsau sprach Dr. Beckstein und er-
staunte die Besucher mit seinem Bekennt-
Es wird angenommen, dass in China an je- nis als Christ in der Politik. Im Juni 2007
dem Sonntagmorgen mehr Christen zum wurde in Neuendettelsau eine Ausstellung
Gottesdienst gehen als im gesamten Euro- "Gottes Wort in China" durch die Präsi-
pa. Zu Beginn der kommunistischen dentin des Chinesischen Christenrates,
Machtübernahme 1949 gab es ca. 700.000 Rev. Dr. Cao, eröffnet. "Das Land und die
Protestanten in China, heute sind über 18 Kirche zu lieben, um Gott zu verherrlichen
Millionen offiziell registriert. Sie versam- und den Menschen zu dienen" – mit diesen
meln sich in 55.000 Kirchen, in denen ca. Worten beschrieb sie den Auftrag der Kir-
3.000 Pfarrer und Pfarrerinnen und 27.000 che in China.
Gemeindeleitende tätig sind. Hinzu kom-
men noch mindestens so viele Mitglieder Die Verfassung der VR China besagt in
zahlreicher Hauskirchen. Jeden Tag entste- Artikel 36, dass ihre Bürger Glaubensfrei-
hen in China vier neue Gemeinden. Ich heit genießen und der Staat "normale reli-
nahm 2005 an der Grundsteinlegung des giöse Tätigkeiten" schützt. Gleichzeitig
Neubaus der Bibeldruckerei in Nanjing heißt es jedoch: "Niemand darf eine Reli-
teil. Dort traf ich den über 90-jährigen Bi- gion dazu benutzen, Aktivitäten durchzu-
schof K. H. Ting, der in Zeiten der Verfol- führen, die die öffentliche Ordnung stören,
gung die chinesische Kirche mutig geleitet die körperliche Gesundheit von Bürgern
hat. Fast 50 Millionen Bibeln wurden bis- schädigen oder das Erziehungssystem des
her gedruckt und größere Kapazitäten wer- Staates beeinträchtigen. Die religiösen Or-
den benötigt. "Jeder Chinese soll eine Bi- ganisationen und Angelegenheiten dürfen
bel erhalten", sagte der Vertreter der Welt- von keiner ausländischen Kraft beherrscht
bibelgesellschaft. Wenn man davon aus- werden." Diese Verfassungsgarantie der
geht, dass jede Bibel von mindestens zwei Religionsfreiheit bezieht sich nur auf die
bis drei Menschen gelesen wird, kommt fünf anerkannten Religionen, nämlich
man auf die Zahl von ca. 100 Millionen Buddhismus, Daoismus, Islam, Protestan-
Christen in China. Die Bibeln dürfen aller- ten (die in China "Christen" heißen) und
dings nicht in öffentlichen Buchhandlun- Katholiken, und zwar in ihren offiziellen,
gen, sondern nur in Kirchengemeinden vom Staat anerkannten und durch sog. Pa-
verkauft werden. Man muss aber keine Bi- triotische Vereinigungen agierenden Struk-
beln nach China schmuggeln, da man sie turen. Als solche fungieren der Chinesi-
nach jedem Gottesdienst erwerben kann. sche Christenrat und die Patriotische Drei-
Selbst-Bewegung, die neuerdings unter ei-
Das "Centrum Mission EineWelt" unter- nem Dach in Shanghai eng zusammenar-
hält seit 1980 Kontakte zum Chinesischen beiten. Alle Religionsformen außerhalb
Christenrat und zur chinesischen Diakonie- dieser Strukturen sind nicht zu schützen,
stiftung Amity Foundation. Auf deren Bit- z.B. protestantische Hauskirchen und die
ten entsenden wir Deutschlehrer an Uni- katholische Untergrundkirche.
versitäten und demnächst den ersten
Theologiedozenten aus Deutschland an das Solche Hausgemeinden treffen sich oft in
Union Theological Seminary in Nanjing. mehrstöckigen Gebäuden mit Tausenden
Die chinesischen Christen suchen den An- von Mitgliedern. Man muss rechtzeitig da
schluss an die Ökumene, verbitten sich je- sein, um einen Platz im Gottesdienst zu
28 Hermann Vorländer

bekommen. Das Christentum übt eine gro- gibt, jedoch keine systematische Verfol-
ße Anziehung insbesondere auf junge gung durch die Regierung. Sie übt aller-
Leute aus. Viele sind zum Glauben durch dings eine strikte Kontrolle über alle reli-
Heilungserfahrungen gekommen und su- giösen Aktivitäten wie über das gesamte
chen nach Sinn und Orientierung in der Leben Chinas aus. Die chinesischen
durch Leistung bestimmten Wirtschaft und Christen sind dankbar für die Verbunden-
Gesellschaft. heit mit Partnern in der Ökumene und bit-
ten um gegenseitige Besuche, Stipendien,
Die Spielräume für Religion haben sich in Bereitstellung von theologischer Literatur
China seit dem Ende der Kulturrevolution und Hilfe in der Aus- und Fortbildung.
insgesamt stark verbessert. Solange man
sich in staatlich anerkannten Grenzen be-
wegt, ist Religionsausübung – gerade in 3. Afrika
den Städten – heute in einem bislang unge-
kannten Ausmaß möglich. Wilfried Glüer, Missionsarbeit in Afrika wurde in den
Theologe und China-Experte, stellte aber letzten Jahrhunderten hauptsächlich von
auf einer Tagung in Neuendettelsau fest: Islam und Christentum unternommen.
"Trotz der verfassungsmäßig garantierten Neuerdings verstärkt der Islam seine mis-
Religionsfreiheit kommt es in China noch sionarischen Anstrengungen, z.B. durch
immer zu Verboten, Verhaftungen und den Bau von Schulen, Krankenhäusern und
schweren Strafmaßnahmen gegen Religi- Moscheen. Das Geld hierfür kommt haupt-
onsanhänger, vor allem auf der lokalen sächlich aus dem Nahen Osten. Keines-
Ebene. Dort ist die auf nationaler Ebene wegs wächst die Zahl der Muslime stärker
allgemein gängige Vorstellung, dass Reli- als die der Christen. Vielmehr gibt es An-
gion kein Opium für das Volk mehr ist, zeichen, dass sich das Christentum – auch
sondern Teil der Kultur eines Volkes, noch und gerade nach dem Ende der Kolonial-
gar nicht angekommen." herrschaft – weiter ausbreitet, vorwiegend
in seiner charismatisch geprägten Form.
Wer sich zum Christentum bekennt, kann
keine politischen Ämter übernehmen. Der Im November 1989 wurde in Abuja/
Staat erkennt die Leistungen der Kirchen Nigeria die Organisation "Islam in Afrika"
im diakonischen Bereich an. Die Kirchen begründet. Obwohl ihre offiziellen Ver-
dürfen jedoch keinen Einfluss auf die Er- lautbarungen sehr moderat klingen, haben
ziehung nehmen. Deshalb ist Jugendarbeit die Leiter christlicher Organisationen in
nicht gestattet, findet vielerorts aber den- den Ländern unserer Partnerkirchen doch
noch statt. Erst mit der Volljährigkeit darf starke Befürchtungen, dass es hier um
man sich taufen lassen. Da es zu wenige mehr geht, nämlich um die komplette Is-
Pfarrer und Ausbildungsplätze an den 18 lamisierung Afrikas, das zum ersten mus-
theologischen Seminaren gibt, unterstützen limischen Kontinent der Welt werden soll.
die lutherischen Kirchen Ostasiens die
Gemeinden durch Seminare für Prediger Aufgrund dieser Befürchtungen ist es umso
und Älteste. Auch pflegt das Lutherische wichtiger, Organisationen zu unterstützen,
Theologische Seminar in Hongkong, an die sich dem Dialog der Religionen
dem drei bayerische Dozenten tätig sind, verpflichtet haben. Deswegen arbeitet
den Austausch von Studierenden und Do- "Mission EineWelt" in der ökumenischen
zenten mit theologischen Seminaren in Organisation PROCMURA (Project for
China. Christian-Muslim Relations in Africa –
Programm für christlich-muslimische Be-
Zusammenfassend ist festzustellen, dass es ziehungen in Afrika) mit. Die Organisation
in China Beeinträchtigungen für Christen fördert den christlich-islamischen Dialog,
Verfolgung und Benachteiligung von Christen in Asien und Afrika 29

indem sie Seminare für afrikanische Kir- zen. Dort entladen sich die Spannungen
chenführer über das Verhältnis von Islam zwischen Christen und Muslimen immer
und Christentum durchführt und in den wieder in blutigen Auseinandersetzungen.
letzten Jahren besonders Frauen an den Insbesondere im Süden arbeiten zahlreiche
Programmen beteiligt. Auch die Arbeit mit christliche Sekten und Kirchen. Christen
Jugendlichen soll intensiviert werden, da- und Muslime haben in etwa die gleiche
mit schon in dieser Lebensphase Berüh- Zahl von Anhängern. PROCMURA und
rungsängste abgebaut werden. JCMWA bemühen sich in Zusammenarbeit
mit den einheimischen Kirchen, Spannun-
Aufklärung und Dialog, Zeugnis und Mis- gen abzubauen und zu einem friedlichen
sion bestimmen auch die Aktivitäten von Miteinander beizutragen.
JCMWA (Joint Christian Ministry in West
Africa – Gemeinsamer Missionarischer
Dienst in Westafrika). Seine vorwiegend 3.2 Tansania
afrikanischen Mitgliedsorganisationen ko-
ordinieren missionarische Aktivitäten unter Seit den 60er-Jahren ist die bayerische
den weitgehend muslimischen Fulani- Landeskirche eng mit der lutherischen Kir-
Nomaden und engagieren sich gleichzeitig che in Tansania verbunden. Hunderte von
im christlich-muslimischen Dialog. Die Mitarbeitenden wurden von Bayern aus
Arbeit basiert auf einem missionarisch- dorthin entsandt. Es bestehen ca. 40 Part-
dialogischen Ansatz, der jede Aggressivität nerschaften mit bayerischen Dekanaten
vermeidet und von großem Respekt vor der und Institutionen. Jährlich gibt es viele Be-
Fulani-Kultur geprägt ist. suche in beiden Richtungen.

In Tansania regiert seit der Unabhängigkeit


3.1 Nigeria 1958 die CCM-Partei, die viele Jahre von
dem Staatspräsidenten Julius Nyerere ge-
Aus Nigeria erreichen uns immer wieder leitet wurde. Obwohl er ein praktizierender
Nachrichten von der Verfolgung und Tö- Katholik war, betonte er, dass die Regie-
tung von Christen. Nigeria ist flächen- und rung keine Religion habe. Er setzte sich für
bevölkerungsmäßig das größte Land West- die Gleichberechtigung von Christen,
afrikas. Das Land zerfällt geographisch, Muslimen und Angehörigen traditioneller
ethnisch und religiös in zwei Teile: Der Religionen ein. In seiner Zeit wurden viele
Norden wird von den muslimischen Haus- Einrichtungen der Kirchen, auch der luthe-
sa-Fulani-Völkern sowie den Yoruba, die rischen Kirche, wie Krankenhäuser, Schu-
teilweise Christen und teilweise Muslime len und Hochschulen, verstaatlicht. Nyere-
sind, bewohnt. Im Süden sind u.a. die Ibos re wollte dadurch die Gleichheit der Reli-
beheimatet, die überwiegend Christen sind gionen, den Frieden und die Einheit des
und sich im sog. Biafra-Krieg von Nigeria Landes bewirken. Seit einigen Jahren ge-
abzuspalten versuchten. Nord- und Südni- stattet die Regierung den Religionsgemein-
geria sind eigentlich zwei Staaten, die eine schaften wieder, Schulen und Krankenhäu-
unterschiedliche Geschichte haben. Der ser zu betreiben, und ermutigt sie sogar da-
Norden wird bis heute von der arabisch- zu. Seit der Staatsgründung wird offiziell
islamischen Welt beeinflusst, der Süden gesagt, dass jeweils ein Drittel der Bevöl-
von der Küste. In den uralten Handels- kerung Christen, Muslime und Traditiona-
städten Kano und Sokoto üben die Emire listen sind. Es gibt jedoch Anzeichen, dass
und Kalifen immer noch großen Einfluss inzwischen mindestens die Hälfte der Be-
aus und versuchen, die Scharia durchzuset- völkerung Christen sind. Aus politischen
30 Hermann Vorländer

Gründen wird an der offiziellen Aufteilung unserer eigenen Sache machen. "Wenn ein
festgehalten, um religiöse Spannungen zu Glied leidet, so leiden alle Glieder mit",
vermeiden. mahnt Paulus im 1. Korintherbrief (1. Kor
12,26). Manche bekenntnisbewusste Ver-
Der gegenwärtige Staatspräsident Jakaya bände beklagen, dass die evangelische Kir-
Kikwete, ein liberaler Muslim, betont im- che zu wenig Farbe bekennt. Wie bereits
mer wieder, dass Tansania ein säkularer bei ihrer Tagung in Erlangen 2001 hat sich
Staat sei. Alle Religionen sind vor dem die Landessynode 2006 intensiv mit dem
Gesetz gleich. Es gibt keine Staatsreligion. Thema befasst und eine Erklärung dazu he-
Deshalb wird die Regierung öffentliche rausgegeben (siehe Anhang). Sie fordert
Kränkungen von Religionen nicht dulden darin, dass Christen überall in der Welt ih-
und rechtliche Schritte gegen Gruppen ren Glauben nicht nur im Privaten leben
einleiten, die verleumderisch gegen eine dürfen, sondern auch die Möglichkeit des
andere Religionsgemeinschaft predigen. öffentlichen Bekenntnisses haben. Sie ruft
Dennoch sind Christen besorgt, dass mit zur Fürbitte für verfolgte Christen auf.
dem muslimischen Präsidenten der Ein-
fluss des Islam wieder wachsen könnte. Religionsfreiheit und Menschenrechte ge-
Gelegentlich gab es an der Küste und be- hören eng zusammen. Auch in islamischen
sonders auf Sansibar Ausschreitungen mi- Staaten ist eine Trennung von Religion und
litanter muslimischer Gruppen gegen Politik anzustreben. Die Scharia darf nicht
Christen, bei denen aber die Polizei sofort über dem staatlichen Gesetz stehen und
eingriff. auch auf Christen angewandt werden.
Weiterhin ist nicht hinnehmbar, dass in
In vielen Familien Tansanias leben Musli- zahlreichen islamischen Staaten der Über-
me und Christen friedlich miteinander. tritt vom Islam zum Christentum verboten
Auch Heirat zwischen den Religionen ge- ist und vom Staat mit dem Tod bedroht
hört zur alltäglichen Praxis. Aus zahlrei- wird.
chen lutherischen Gemeinden wird be-
richtet, dass Muslime sich taufen lassen. Wir müssen unsere Politikerinnen und Po-
Ein verträgliches nachbarschaftliches Zu- litiker immer wieder auffordern, das The-
sammenleben von Christen und Muslimen ma Religionsfreiheit bei ihren Verhand-
ist die Regel. Man begegnet sich freundlich lungen mit anderen Staaten anzusprechen
bei offiziellen Anlässen. PROCMURA hat und auf die Verfolgung und Benachteili-
eine Ländergruppe in Tansania, und der gung von Christen hinzuweisen. Auf die
Generalsekretär des Christian Council for Einhaltung der Allgemeinen Erklärung der
Tanzania, Dr. Leonard Mtaita, ist ein aus- Menschenrechte ist hinzuwirken. Die Her-
gewiesener Fachmann in Islamfragen und stellung von Öffentlichkeit erleichtert die
wurde in Bayern promoviert. Wir unter- Situation der betroffenen Christen.
stützen die lutherischen Christen in Tansa-
nia durch finanzielle und personelle Hilfen Das Bemühen um den Dialog zwischen
für ihre Gesundheits- und Bildungsein- den Religionen muss weitergehen. Den
richtungen, die Christen und Muslimen zu- Fanatikern auf allen Seiten muss die Bot-
gute kommen. schaft Jesu entgegengehalten werden, der
Menschen zur Nachfolge in Freiheit und
Liebe einlädt. Einen aktiven Beitrag zum
4. Zusammenfassende friedlichen Miteinander der Religionen
Bemerkungen können wir durch die weitere Unterstüt-
zung von ökumenischen Organisationen
Als Christen müssen wir das Schicksal von wie JCWMWA und PROCMURA leisten,
verfolgten und benachteiligten Christen zu die in Afrika dem Zeugnis und Dialog ver-
Verfolgung und Benachteiligung von Christen in Asien und Afrika 31

pflichtet sind. In Asien brauchen die Kir- rechtigkeit, Frieden und Bewahrung der
chen unseren Beistand, um angesichts ihrer Schöpfung umzusetzen.
Minderheitensituation das Zeugnis des
Evangeliums weitergeben zu können. Als Christen sind wir aufgerufen, Fürbitte
für unsere verfolgten Schwestern und Brü-
"Kein Weltfriede ohne Religionsfriede", so der zu tun. Durch Besuche und Begegnun-
hat Hans Küng formuliert. Es gilt, zusam- gen können wir unsere christliche Solida-
men mit Menschen aus allen Religionen rität zum Ausdruck bringen und sie wissen
der Gefahr der Instrumentalisierung der lassen, dass wir an sie denken, für sie ein-
Religion für politische, wirtschaftliche oder treten und für sie beten. Dadurch steht die
nationale Ziele zu wehren und die gemein- Gemeinschaft Christi den bedrängten
samen Werte von Menschenwürde, Ge- Christen weltweit hilfreich zur Seite.
Anhang: Beschluss der Landessynode zur Lage der Christen weltweit
"Bedrängten Geschwistern zur Seite stehen"

Die Landessynode hat sich bei ihrer Ta- Öffentlichkeit erleichtert die Situation
gung in Rummelsberg über die Lage der der betroffenen Christen.
Christen weltweit informiert. In vielen
Regionen dieser Erde, gerade auch im 5. Das Bemühen um den Dialog zwischen
Heiligen Land, aber ebenso auch in den den Religionen muss weitergehen. Den
Ländern mancher unserer Partnerkirchen, Fanatikern auf allen Seiten muss die
ist die Situation für Christen sehr schwierig Botschaft Jesu entgegengehalten wer-
und notvoll. Das Schicksal unserer be- den, der Menschen zur Nachfolge in
drängten Geschwister bewegt uns sehr. Freiheit und Liebe einlädt. Einen akti-
ven Beitrag zum friedlichen Miteinan-
Als Schlussfolgerung hat die Landessyno- der der Religionen können wir durch
de festgestellt: die weitere Unterstützung von ökume-
nischen Organisationen leisten, die
1. Unsere Kirche muss das Schicksal von dem Zeugnis und Dialog verpflichtet
verfolgten und benachteiligten Christen sind. Kleine lutherische Kirchen brau-
zu ihrer eigenen Sache machen. "Wenn chen unseren geschwisterlichen Bei-
ein Glied leidet, so leiden alle Glieder stand, um angesichts ihrer Minderhei-
mit", mahnt Paulus in 1. Korinther tensituation das Zeugnis des Evangeli-
12,26. ums weitergeben zu können.

2. Wir fordern, dass Christen überall in 6. "Kein Weltfriede ohne Religionsfriede"


der Welt ihren Glauben nicht nur im – so hat Hans Küng formuliert. Es gilt,
Privaten leben dürfen, sondern auch die zusammen mit Menschen aus allen Re-
Möglichkeit des öffentlichen Bekennt- ligionen der Gefahr der Instrumentali-
nisses haben. sierung der Religion für politische,
wirtschaftliche oder nationale Ziele zu
3. Religionsfreiheit und Menschenrechte wehren und die gemeinsamen Werte
gehören eng zusammen. Auch in isla- von Menschenwürde, Gerechtigkeit,
mischen Staaten ist eine Trennung von Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Religion und Politik anzustreben. Die umzusetzen.
Scharia darf nicht über dem staatlichen
Gesetz stehen und auch auf Christen 7. Als Christen sind wir aufgerufen, Für-
angewandt werden. Weiterhin ist nicht bitte für unsere verfolgten Schwestern
hinnehmbar, dass in zahlreichen isla- und Brüder zu tun. Durch Besuche und
mischen Staaten der Übertritt vom Is- Begegnungen können wir unsere
lam zum Christentum verboten ist und christliche Solidarität zum Ausdruck
vom Staat mit dem Tod bedroht wird. bringen und sie wissen lassen, dass wir
an sie denken, für sie eintreten und für
4. Wir müssen unsere Politikerinnen und sie beten. Dadurch steht die Gemein-
Politiker immer wieder auffordern, das schaft des Leibes Christi den bedräng-
Thema Religionsfreiheit bei ihren Ver- ten Christen weltweit hilfreich zur
handlungen mit anderen Staaten anzu- Seite. Die Synode bittet das neue Zent-
sprechen und auf die Verfolgung und rum "Mission EineWelt", den Gemein-
Benachteiligung von Christen hinzu- den für ihre Gottesdienste regelmäßig
weisen. Auf die Einhaltung der Allge- aktuelle Informationen und Textvor-
meinen Erklärung der Menschenrechte schläge für die Fürbitte zur Verfügung
ist hinzuwirken. Die Herstellung von zu stellen.
Länderberichte
Hass auf die kleine Herde: Christen in der Republik Türkei
Tessa Hofmann

1. Anzahl und Struktur Mit Abstand den größten Anteil an der


heutigen christlichen Gemeinschaft der
1.1 Indigene und ausländische Christen Türkei bilden – vor den meist ausländi-
schen Katholiken (8%) und einheimischen
Die christliche Gemeinschaft der Republik armenisch-apostolischen Christen (18%)
Türkei zeichnet sich sowohl durch ihre – mit etwa 65 Prozent armenisch-
sehr geringe Zahl als auch durch eine star- apostolische und georgisch-orthodoxe Ar-
ke Binnendifferenzierung aus. Die höchs- beitsmigrant/innen aus den Anrainerstaaten
tens noch 120.000 Christen – christliche Georgien und Armenien, deren genaue
Migrant/innen nicht inbegriffen – bilden Zahl allerdings schwer zu bestimmen ist.
etwa 0,14 Prozent einer Gesamtbevölke- Im Fall der armenischen Migranten führen
rung von 76 Millionen (Schätzung 2007). politische Motive zu Übertreibungen, im
Diese sowohl numerisch wie gesellschaft- Fall der Georgier, die bis zu 90 Tage vi-
lich als quantité négligeable anzusehende safrei einreisen dürfen, verhindert die un-
und behandelte Minderheit setzt sich aus regulierte ("illegale") Migration genauere
indigenen Christen und Ausländern zu- Angaben. Angaben über die Zuwanderer
sammen. Zu den einheimischen Christen aus Armenien schwanken zwischen
gehören vorchalcedonensische Kirchen wie 12.4511 und 82.2492. Diese Personengrup-
die Syrisch Orthodoxe und die Armenisch- pe schwebt in erhöhter Gefahr, Opfer poli-
Apostolische Kirche sowie die griechisch- tischer Repressalien zu werden. So drohte
orthodoxen, eigentlich "romäischen" der damalige Außenminister (und seit dem
(byzantinischen) Christen, aber auch Kon- 28.8.2007 elfter Staatspräsident der Tür-
vertiten aus der türkisch-muslimischen kei) Abdullah Gül im Oktober 2006, die
Mehrheitsbevölkerung. Sie gehören über- nach seiner Angabe 80.000 armenischen
wiegend evangelischen bzw. evangelikalen Arbeitsmigranten in ihre Heimat zu depor-
Gemeinschaften an, besitzen 55 Kirchen tieren, sollte Frankreich ein Gesetz zur Pö-
(Stand 2005) und sind in der Allianz Pro- nalisierung der Leugnung des armenischen
testantischer Kirchen zusammengeschlos- Genozids verabschieden. Die Zahl georgi-
sen. Die ausländischen Christen – meist scher Migranten – davon fast die Hälfte
Urlauber- und Rentnerkolonien – gehören Frauen – dürfte bei 200.000 liegen; 2004
römisch-katholischen und evangelischen registrierten türkische Grenzbehörden
Westkirchen an; von ihnen sind die ge- 235.143 Einreisen georgischer Staats-
ringsten Klagen zu hören. bürger.
36 Tessa Hofmann

KONFESSION ANZAHL BESONDERHEITEN


Indigene
Armenisch-Apostolisch 65.000
Armenisch-Uniert < 2000 (1999)
Evangelische Armenier 500
Griechisch-Orthodoxe 5.249 (Istanbul) Inklusive 600 arabischsprachige
("Romäer" = Byzantiner) ca. 280 (Inseln Imbros und Chaldäer bzw. Syrisch-Orthodoxe
Tenedos)
Syrisch-Orthodoxe 16.000
Syrisch-Katholische 1.200
Syrisch-Unierte ("Chaldäer") 6.000 (2005)
Konvertiten 3.500 Evangelische bzw. Evangelikale
Ausländische Christen
Römisch-Katholische 15.000-30.000
Evangelische Keine Angaben
Migranten Armenier: 12.500-83.000; Geor-
gisch-Orthodoxe: ca. 200.000
© Tessa Hofmann

Christliche Gemeinschaften in der Türkei

1%
0% Armenisch-Apostolisch
18%
1% Armenisch-Uniert
4% Armenisch-Evangelisch
0% Griechisch-Orthodox
Syrisch-Orthodox
2%
Syrisch-Katholisch
1%
Chaldäer
65% 8%
Konvertiten
Römisch-Katholisch
Migranten

Kryptochristen 40.000 muslimischen Kryptoarmeniern ge-


hört etwa die Hälfte zu den Hemşinler (ar-
In der Türkei leben Hunderttausende – men. Hamschenahajer), deren Haupt-
nach manchen Schätzungen sogar Millio- verbreitungsgebiet im östlichen Schwarz-
nen – Menschen, deren christliche Vorfah- meerraum mit Rize und Artvin als Zentren
ren durch steuerliche Benachteiligung oder liegt. Die Hemşinler haben sich ab dem 17.
direkten Druck gezwungen wurden, sich Jahrhundert allmählich zum Islam bekehrt
zum Islam zu bekehren. Sie haben oft ihre und bilden heute trotz ihres armenischen
Sprachen bewahren können und praktizie- Dialekts eine ethnisch-religiöse Gemein-
ren teilweise christliches (Relikt-) schaft innerhalb der muslimischen Umma
Brauchtum. Von den schätzungsweise mit eigener Identität.3
Hass auf die kleine Herde: Christen in der Republik Türkei 37

Zahlreiche Armenier, die als Erwachsene 2. Erfahrungen aus 84 Jahren


oder Kinder während des Genozids republikanischer Geschichte
(1915/16) verschleppt, in muslimische Fa-
milien aufgenommen und zu Muslimen Nach ihrer Verfassung ist die Republik
gemacht wurden, haben jahrzehntelang aus Türkei ein laizistischer Staat, dessen
Furcht vor Verfolgung sich nicht zu ihrer gleichberechtigte Bürger Religionsfreiheit
christlich-armenischen Herkunft zu beken- genießen. In Wirklichkeit handelt es sich
nen gewagt. Gegenwärtig beginnen ihre heute um einen deutlich islamisch gepräg-
Enkel die Lebensgeschichten der ernied- ten Staat, der vor allem den sunnitischen
rigten und traumatisierten Vorfahren in Islam der hanefitischen Rechtsschule be-
Erinnerungsbüchern oder Romanform zu günstigt und fordert. Christen sind in die-
erzählen. Die Frage nach verschütteten sem Land Bürger zweiter Klasse und
christlichen Wurzeln in der eigenen Fami- "Schikanen zwischen bürokratischen Hür-
liengeschichte beschäftigt zunehmend tür- den und körperlicher Bedrohung"4 ausge-
kische Intellektuelle. Zugleich aber bilden setzt; ihre kollektiven und individuellen
die Kryptochristen auch den Gegenstand Rechte wurden über die Jahrzehnte syste-
nationalistischer Spekulationen. matisch ausgehöhlt. Ein öffentliches Be-
kenntnis eines türkischen Staatsbürgers
Griechischsprachige bzw. griechischstäm- zum Christentum führt zu Diskriminierung.
mige Muslime in der heutigen Türkei
stammen einerseits von muslimischen
griechischen Flüchtlingen aus Kreta ab Aushöhlung kollektiver und
(gegenwärtig eine halbe Million), deren individueller Rechte
Nachfahren sich in Dörfern an der ägäi-
schen Küste sowie der Küste des Marma- Ein über Jahrzehnte ausgeweitetes Bündel
rameeres niedergelassen haben. Anderer- von Restriktionen schränkte die Wirksam-
seits zählen dazu die pontosgriechischen keit der Minderheitenschutzartikel 38 bis
Muslime. Sie bevölkern mehrheitlich wei- 43 des Lausanner Vertrages (1923) zu-
terhin die südliche Schwarzmeerküste, wo- nehmend ein.5 Besonders empfindlich
bei die meisten in sechs Dörfern von Tonia wirkten sich diese Maßnahmen für Arme-
(türk. Tonya) leben, in Trapesunt (türk. nier und Griechen im Schulwesen, auf ihre
Trabzon) und in annähernd fünfzig Ort- kirchliche Selbstverwaltung, die Ausbil-
schaften im Yukari Solakli-Tal südlich von dung von Priesternachwuchs und auf das
Ofis. Pontosgriechische Zuwanderer haben immobile Eigentum ihrer religiösen Stif-
bei Sakarya nahe Istanbul mindestens zwei tungen aus.
Dörfer gegründet.
Hauptursache der Aushöhlung kollektiver
Angaben über die aktuelle Anzahl der Rechte ist der ungeklärte bzw. fehlende
muslimischen Pontosgriechen schwanken Rechtsstatus christlicher Kirchen, die nicht
zwischen 200.000 bis 500.000. Verbände als Körperschaften des öffentlichen Rechts
der pontosgriechischen Diaspora gehen anerkannt sind.
von heute 300 griechischsprachigen Dör-
fern an der südlichen Schwarzmeerküste Das führt
aus. Die wirtschafts- und entwicklungspo- 1. zu unsicheren Besitzverhältnissen,
litische Vernachlässigung des Pontosge- 2. zu eingeschränkten Eigentumsrechten,
biets und sein überdurchschnittlich hoher 3. zur Behinderung der Ausbildung von
Anteil von Arbeitslosen haben seit den Priesternachwuchs und
1950er-Jahren zur Abwanderung gerade 4. verhindert den Neuerwerb von Liegen-
jüngerer Arbeitskräfte geführt. schaften.
38 Tessa Hofmann

Im Gegensatz zum Verfassungsanspruch besitzer aus Istanbul beim türkischen Staat


sind Christen nicht rechtlich gleichgestellt. die Rückgabe ihrer beschlagnahmten Im-
Sie müssen ihre Priester und Schulen selbst mobilien beantragt. Aber nur 296 Anträgen
finanzieren, während das staatliche Präsi- wurde damals stattgegeben. Die große
dium (Amt) für Religionsangelegenheiten Mehrheit der Anträge wurde mit der Be-
(Diyanet İşleri Başkanlığı) den Moschee- gründung, dass die Antragsteller zunächst
bau und die inzwischen über 100.000 einen Gerichtsbeschluss auf Rückgabe zu
Imame des Landes und der türkeistämmi- erwirken hätten, auf Eis gelegt.6 Laut "Hür-
gen Auslandsgemeinschaften – zum Bei- riyet" (Januar 2007) beträgt die Zahl der
spiel in Deutschland – finanziert und för- strittigen Fälle nach offiziellen Angaben
dert. 900 und nach Angaben der Anwälte der
nichtmuslimischen Gemeinschaften inzwi-
schen 2.750 Fälle beschlagnahmter Immo-
Beispiel Liegenschaften religiöser nicht- bilien.
muslimischer Stiftungen
Im Januar 2007 gab der Europäische Ge-
In Artikel 40 des Lausanner Vertrages richtshof für Menschenrechte (EGMR)
heißt es unmissverständlich, dass Angehö- zehn Jahre nach Klageerhebung seinen
rige der nichtmuslimischen Minderheiten ersten Beschluss zu den Besitztümern von
das Recht auf Grundstücksbesitz und ihre Minderheiten in der Türkei bekannt: Da-
freie Verwaltung besitzen. Mit Beginn der nach hat die Türkei gegenüber der Stiftung
Verhandlungen über den Beitrittsprozess "griechisch-orthodoxes Jungen-Gymnasi-
zur Europäischen Union hat die Türkei um" (Große Schule) das Recht auf Schutz
diese Minderheitenrechte nochmals aus- des Besitztums verletzt. Falls die Türkei
drücklich anerkannt. In der Türkei beste- für die im Verfahren genannten beiden Be-
hen 160 Stiftungen religiöser Minderheiten sitztümer nicht innerhalb von drei Monaten
(etwa 70 griechisch-orthodoxe, 50 armeni- Grundbuchauszüge übergibt, so wird sie
sche sowie 20 jüdische). In Verletzung der insgesamt 910.000 Euro, einschließlich
Bestimmungen des Lausanner Vertrages Gerichtskosten, zahlen müssen. Streitge-
war es ihnen bis 2002 nicht nur verboten, genstand waren Besitztümer, deren Grund-
Immobilien gleich für welchen Zweck zu bücher im Jahre 1996 mit einem Gerichts-
erwerben, sondern ihnen drohte auch die beschluss annulliert wurden. Bis heute
Beschlagnahmung vorhandenen Eigen- wurde die Entscheidung des EGMR nicht
tums, falls eine Gemeinschaft wegen Mit- erfüllt.
gliederschwunds nicht in der Lage war,
über einen Zeitraum von zehn Jahren ihr
Eigentum zu verwenden. Individuelle Rechte: Der hohe Preis,
christlichen Minderheiten anzugehören
Eine zusätzliche Schwierigkeit erwuchs
aus der Bestimmung, dass nicht- Christen in der Türkei berichten immer
muslimische Stiftungen nur solche Immo- wieder über Diskriminierungen während
bilien verwalten durften, die sie bis 1936 ihres Wehrdienstes bis hin zu schweren
gemeldet hatten. Das türkische Stiftungs- Körperverletzungen und Vergewaltigun-
gesetz von 1926 und 1936 verbietet einen gen. Für den armenischen Zeitungsverleger
Grundstückserwerb nach 1936, wurde aber und Menschenrechtler Hrant Dink bildete
in dieser Restriktion seit 1974 nur gegen der Umstand, dass er trotz bester Leistun-
die Nicht-Muslime verwendet. Infolge des- gen im Unterschied zu allen muslimischen
sen fielen 39 Immobilien allein der arme- Kameraden nicht als Gefreiter entlassen
nischen Gemeinschaft Istanbuls in staatli- wurde, ein Schlüsselerlebnis ethnisch und
che Hand. Bis Januar 2005 haben 2.252 religiös motivierter Benachteiligung. Wie
enteignete nichtmuslimische Grundstücks- zu osmanischer Zeit bleibt auch das Mili-
Hass auf die kleine Herde: Christen in der Republik Türkei 39

tärwesen der Republik Türkei – und damit einen nationalistischen Rückschlag son-
die einflussreichste und angesehenste In- dergleichen, wobei sich der türkische Nati-
stitution des Landes – Nicht-Muslimen onalismus durch ein Gemisch aus Chauvi-
weitgehend verschlossen. nismus, Rassismus, Antisemitismus,
Fremdenfeindlichkeit sowie Antiintellek-
In einem Interview erwiderte Hrant Dink tualismus auszeichnet.
2006 auf die Frage, ob er als Armenier in
der Türkei einen besonderen Preis zahlen – Seit Ende 2004: Anschlagswelle auf
müsse: "Falls du ein kluger Armenier bist evangelische Gemeinden: Innerhalb
– so wie die Mehrheit der armenischen Be- von sechs Monaten wurden in fünf
völkerung in der Türkei, die damit zufrie- Städten Evangelische bedroht. (Quel-
den ist, was man ihr gibt, die nicht auf ih- le: Idea)
ren Rechten beharrt oder die in Fernseh- – 5.2.2006, Trabzon: Katholischer
sendungen auftritt, um die Argumente der Geistlicher Andrea Santoro während
(türkischen) Regierung zu unterstützen – des Gebets erschossen.
dann führt man ein gutes Leben. Aber falls – Februar 2006, Mersin: Katholischer
du ein Armenier bist, der ein wirklicher Geistlicher angegriffen.
Bürger sein will und auf seinen Rechten – 12.3.2006, Mersin: Kapuzinerpater
beharrt, dann bekommst du Ärger."7 Henri Leylek niedergestochen.
– 2.7.2006, Samsun: Katholischer
Die landläufige Gleichsetzung von türki- Geistlicher Pierre Bruinessen nieder-
scher Ethnizität mit dem Islam als Be- gestochen.
standteil nationaler Identität führt auch zur – 11.3.2006, Silivri: Zwei zum Chris-
Ausgrenzung von christlichen Türken. Be- tentum Konvertierte (Turan Topal,
sonderer Diskriminierung sind evangeli- Hakan Taştan) wegen "Beleidigung
sche Türken ausgesetzt. Pfarrer Ihsan Öz- des Türkentums" (§ 301 StGB) verur-
bek, der Vorsitzende der Allianz Protes- teilt.
tantischer Kirchen, charakterisierte in ei- – Sept./Oktober 2006: Übergriffe und
nem Interview (2007) die Lage so: "Wer in Drohungen lokaler muslimischer
der Türkei Christ ist, bezahlt einen Preis Großgrundbesitzer gegen syrisch-
dafür. Und es wird dafür gesorgt, dass man orthodoxe (aramäische) Christen im
ihn zahlt. Die Polizei nimmt einen fest, Tur Abdin-Gebiet (Südost-Türkei).
man wird geohrfeigt und in der Gesell- – 19.1.2007, Istanbul: Armenischer
schaft schlecht behandelt, man kann keine Publizist Hrant Dink erschossen;
Arbeit im Öffentlichen Dienst erhalten und Morddrohungen gegen Patriarch Mes-
Sicherheitsüberprüfungen fallen negativ rop II.
aus. Einzig weil man Christ ist, kommt die – 31.1.2007, Samsun: Evangelische
Polizei und belästigt dich und deine Nach- Agape-Kirche zum wiederholten Mal
barn." angegriffen; Drohungen seit 2004.
– 18.4.2007, Malatya: Drei Mitarbeiter
des evangelischen Zirve-Verlages
"Wir haben es fürs Vaterland nach Foltern geschächtet (Tilman
getan!": Gewaltverbrechen an Christen und Geske, Necati Aydin und Uğur Yük-
ihren Einrichtungen. Eine (unvollständige) sel). Dieses Verbrechen zeichnete be-
Chronologie sondere Heimtücke aus, denn die Täter
hatten sich das Vertrauen der Opfer
Das bis heute aufrecht erhaltene Bedro- durch vorgetäuschtes Interesse am
hungsgefühl mündet in ständiger Gewalt- Evangelium erschlichen.8
bereitschaft. Die Reformen, die Europa – 14.5.2007, Istanbul: Drohungen gegen
dem Gesetzgeber und der Regierung der armenische Schulen.
Türkei bisher abgerungen hat, bewirkten
40 Tessa Hofmann

Täter der Gewaltverbrechen in Trabzon, meintlich patriotischen Taten. Mit dem


Istanbul und Malatya waren unter das Ju- Mörder des armenischen Publizisten Hrant
gendgesetz fallende Jugendliche mit ultra- Dink, Ogün Samast, posierten Polizeian-
nationalistischem Hintergrund und Verbin- gehörige in seiner Heimatstadt Trabzon vor
dungen zu Geheimdienst- und Polizeian- der Nationalflagge und vor laufenden
gehörigen. Sie brüsteten sich ihrer ver- Fernsehkameras.

Religiös-
nationa- Politiker-
listische äußerungen
Tatmotive

Nationa-
Medien- listische
bericht- Justiz
erstattung

Schul-
erziehung

3. Der geschichtliche Hintergrund Osmanischen Reiches als "innere Feinde"


gebrandmarkt und in der letzten Dekade
3.1 Ausgrenzung, Völkermord, osmanisch-türkischer Herrschaft Opfer von
Vertreibung, Ausbürgerung staatlich geplanten und gelenkten Massa-
kern, Todesmärschen und Zwangsarbeit,
Armenier und Griechen bildeten mit 2,5 die die Genozidforschung als Völkermord
bzw. 2,7 bis 3 Millionen vor dem Ersten entsprechend den Kriterien der UN-
Weltkrieg die größten autochthonen ethno- Genozidkonvention (1948) wertet;9 na-
religiösen Minderheiten im damaligen mentlich der landesweite Völkermord an
Osmanischen Reich. 1,5 Millionen Armeniern osmanischer
Staatszugehörigkeit stellt, zusammen mit
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts und ins- den Massakern an Assyrern im Irak 1933,
besondere seit den Balkankriegen 1912/13 einen Prototypus des Genozids dar, der den
wurden die christlichen Minderheiten des Autor der UN-Genozid-Konvention, Ra-
Hass auf die kleine Herde: Christen in der Republik Türkei 41

phael Lemkin, schon 1933 veranlasste, als scher Krisen und Konflikte (Zypern 1955,
Justiziar des Völkerbundes einen Entwurf 1964; Berg-Karabach 1991-94; Kurdistan-
für ein entsprechendes internationales Konflikt) regelmäßig in eine Geiselrolle.
Vertragswerk in den Völkerbund einzu-
bringen.
3.2 Unbewältigte Vergangenheit,
Während die armenische Bevölkerung des gegenwärtige Gewaltpotenziale
Osmanischen Reiches in nur zwei Jahren
(Frühjahr 1915 bis Februar 1917) genozi- 3.2.1 Vergangenheitsbewältigung
dal um drei Fünftel verringert wurde, er-
streckte sich die Vernichtung der grie- Unter dem Eindruck der osmanischen
chisch-orthodoxen Bevölkerung auf ein Kriegsniederlage versuchten das Parlament
Jahrzehnt, mit wechselnden Schauplätzen und die Sultansregierung zu Konstantino-
(Thrakien, Ionien, Pontos und Kappado- pel eine juristische Bewältigung der
kien, Bithynien und andere Regionen). Sie Verbrechen – Massaker, Deportationen
wird daher auch als kumulativer Völker- und Enteignungen –, die das nationalisti-
mord bezeichnet. sche Kriegsregime der "Jungtürken" an
armenischen und griechischen Bürgern des
Etwa eine halbe Million aramäischsprachi- Osmanischen Reiches begangen hatte.12
ger Christen (West- und Ostsyrer) starb auf Militärsondergerichtshöfe verurteilten
der Flucht und bei Massakern osmanischer 1919 und 1920 in Dutzenden Fällen die
Streitkräfte und kurdischer Hilfstruppen in Mitglieder des Kriegskabinetts sowie
der Türkei bzw. in den osmanisch besetz- mittlere Chargen der Jungtürken.
ten Gebieten des offiziell neutralen Iran.10
In Ankara hatte sich unter Mustafa Kemal
Der asymmetrische Zwangs"umtausch"11 eine nationalistische Gegenregierung ge-
ethno-religiöser Minderheiten zwischen bildet, in deren wachsendem Machtbereich
der Türkei und Griechenland besiegelte Übergriffe, Massaker und Deportationen
1923 nachträglich die schon weitgehend an Griechen und armenischen Rückkehrern
vollzogene Vertreibung und Vernichtung fortgesetzt wurden. Nach Gründung der
der kleinasiatischen Griechen. Die Repu- Republik Türkei (Oktober 1923) wurden
blik Türkei verhinderte darüber hinaus mit die Urteile der osmanischen Militärge-
gesetzlichen Restriktionen (September richtshöfe aufgehoben und die Verurteilten
1923; Gesetz vom 23.5.1927) eine Rück- rehabilitiert.
kehr der ins Ausland geflüchteten christli-
chen Überlebenden. – Die politisch Hauptverantwortlichen,
der ehemalige Innenminister Mehmet
Im August 1926 verkündete die türkische Talat und Kriegsminister Ismael En-
Regierung die Zurückhaltung sämtlichen ver, erhielten Ehrengräber und wurden
vor dem 6. August 1924 beschlagnahmten posthum zu patriotischen Leitfiguren
Eigentums. Mit Billigung der Behörden ("Märtyrer") erhoben.
wurden christliche Rückkehrer in zahlrei- – Die offizielle Geschichtsschreibung
chen Fällen ermordet. der Republik Türkei verklärte die Ver-
nichtung christlicher Mitbürger zur
Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts antiimperialistischen Rettungstat.
sank die Zahl von Armeniern und Griechen – Seit Gründung der Republik Türkei er-
infolge gezielter restriktiver Maßnahmen folgt eine reflexartige Abwehr aller in-
und erneuter staatlich inszenierter Aus- und ausländischen Forderungen zur
schreitungen gegen Nichtmuslime, vor al- Vergangenheitsaufarbeitung als ver-
lem Griechen. Armenier und Griechen ge- meintliche Beschädigung der Natio-
rieten in Zeiten außen- wie innenpoliti- nalehre.
42 Tessa Hofmann

3.2.2 Kreuzzügler, Missionare, werden. Falls ein türkischer Bürger das


Ausverkauf: Politiker schüren Türkentum in einem anderen Land belei-
antichristliche Ängste digt, soll die Strafe um ein Drittel erhöht
werden."
An die seit dem frühen 20. Jahrhundert be-
stehende Gleichsetzung der einheimischen Das türkische Strafrecht enthält unter den
Christen mit Bedrohung und Ausverkauf Staatsschutzbestimmungen Artikel, die re-
nationaler Interessen knüpfen auch heute gelmäßig von nationalistischen Anwälten
noch zahlreiche türkische Politiker, Behör- und Staatsanwälten als Gesinnungspara-
den und Prominente sowohl aus dem isla- graphen missbraucht werden. Dazu gehö-
misch-religiösen als auch aus dem laizis- ren namentlich §159, 301 ("Herabwürdi-
tisch-nationalistischen Lager an, wenn sie gung/Beleidigung des Türkentums") sowie
gegen christliche Mission (die in der Tür- 305 (vormals 306). Bei der im Zuge des
kei offiziell gesetzeskonform ist) bzw. ge- Beitrittsprozesses durchgeführten Novel-
gen Armenier und Griechen eifern. Drei lierung des Strafrechts, die im Juni 2005
von zahlreichen Beispielen aus dem Jahr von der Großen Nationalversammlung ver-
2006 belegen dies: abschiedet wurde, wurde §305 auch auf
Ausländer ausgeweitet. Auf der Grundlage
– Das staatliche Religionsamt (Diyanet) dieser Strafrechtsartikel gelang es der tür-
verteilte eine Predigt gegen Missiona- kischen Justiz, etliche Menschenrechtler,
re, in der gegen "moderne Kreuzzüge" Wissenschaftler und Intellektuelle zu in-
gewettert wird, die das Ziel hätten, kriminieren, die an Tabus in der türkischen
"unseren jungen Leuten den islami- Gesellschaft gerührt hatten, namentlich an
schen Glauben zu stehlen".13 das Thema der spätosmanischen Genozide
– Der Leiter des Religionsamtes warnt sowie an Fragen der türkisch-kurdischen
vor subversiven Umtrieben christlicher Beziehungen. Als strafverschärfend gelten
Missionare, die unter dem Deckmantel Verstöße im Ausland, beispielsweise eine
als Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern Erwähnung des Völkermordes an den Ar-
ihrem zersetzenden Werk nachgin- meniern in einem öffentlichen Vortrag in
gen.14 Deutschland.
– "272,5 Mio. qkm türkischen Landes
wurden seit April 2005 von 52.818 Die ersatzlose Streichung des Strafrechts-
Ausländern aufgekauft. Dahinter ste- artikels 301 bildet seit Jahren eine Forde-
cken armenische und griechische Lob- rung der Europäischen Union. Regierungs-
bies!" (Rahsan Ecevit, Witwe von chef Erdoğan hat bereits 2006 NGOs in der
Bülent Ecevit, auf ihrer Pressekonfe- Türkei aufgefordert, Formulierungen für
renz vom 13.6.2006).15 eine Novellierung von Artikel 301 einzu-
reichen. Eine ersatzlose Streichung kommt
aber für ihn selbst nach der Ermordung
3.2.3 Strafrecht und Justizwesen Hrant Dinks und der de facto-Flucht des
ersten türkischen Literaturnobelpreisträ-
Artikel 301 StGB (Türkei) gers Orhan Pamuks im Frühjahr 2007 nicht
"Wer öffentlich das Türkentum, die Repu- in Frage.
blik oder die Große Nationalversammlung
beleidigt, soll mit Haft zwischen sechs
Monaten und drei Jahren bestraft werden. 3.2.3.1 Der Fall Hrant Dink
Wer öffentlich die Regierung der Republik
Türkei, die juristischen Einrichtungen des Die Ermordung Hrant Dinks am 19. Januar
Staates, die militärischen oder Sicherheits- 2007 in Istanbul durch den jugendlichen
organe beleidigt, soll mit Haft zwischen Auftragsmörder Ogün Samast wirft ein
sechs Monaten und zwei Jahren bestraft Schlaglicht auf die Unfähigkeit sowohl des
Hass auf die kleine Herde: Christen in der Republik Türkei 43

Staates als auch auf weite Teile der Gesell- schrieb er: "Mein wahrer Wunsch ist, in
schaft, selbstbewusste Minderheitenange- der Türkei zu leben." Das schulde er auch
hörige als gleichberechtigte Bürger zu ak- jenen Tausenden von Freunden, die gleich
zeptieren. ihm für eine demokratische Türkei kämpf-
ten.
Hrant Dink hatte mit der von ihm im April
1996 gegründeten zweisprachigen Zeitung Zu den makaberen Einzelheiten des
"Akos" ("die Ackerfurche"; ausgesprochen Verbrechens gehört die posthume Fortfüh-
"Agos") ein Forum geschaffen, um sowohl rung eines Strafverfahrens nach Artikel
die armenisch-türkische Annäherung als 301 gegen ihn, seinen Sohn Arat sowie
auch die Interessen der armenischen Ge- seinen Teilhaber Serkis Seropyan. Die tür-
meinschaft in der Türkei zu vertreten. kische Gesellschaft zeigte sich in ihren Re-
Zugleich konfrontierte er die türkische Öf- aktionen auf den Mord zutiefst gespalten:
fentlichkeit mit Aspekten ihrer verleugne- Während in Istanbul 100.000 Menschen
ten Geschichte. Als die Zeitung am 6. Ja- dem Trauerzug folgten und sich mit dem
nuar 2004 enthüllte, dass Sabiha Gökcen Opfer solidarisierten ("Wir alle sind Hrant
(1913-2001), eine der Adoptivtöchter Dink, wir alle sind Armenier!"), artiku-
Mustafa Kemals und erste Kampfpilotin lierten andererseits Ultranationalisten im
der Welt, armenischer Abstammung sei, ganzen Land in Fußballstadien, auf Trans-
löste das einen regelrechten Erdrutsch im parenten oder auch in Hassseiten im Inter-
türkischen Bewusstsein aus, vor allem, net Protest: "Wir alle sind Mehmets (oder:
nachdem "Hürriyet" die Nachricht über- Mustafa Kemal), wir alle sind Türken!"
nommen hatte. Viele "Hürriyet"-Leser fan- Von einem Internet-Provider in Bayern ge-
den es unerträglich, dass im Zusammen- hostet, erschienen im Januar und Februar
hang mit der Person des türkischen Staats- 2007 Internet-Seiten, in denen unter der
gründers überhaupt etwas Armenisches Überschrift "Güle güle, Hrant Dink!"
auftauchte. ("Tschüss, Hrant Dink!") zur Ermordung
aller aufgerufen wurde, die wie Hrant Dink
Erneut in Konflikt geriet Hrant Dink mit die "Vorfahren der Türken als Mörder be-
dem Strafrecht, als er 2005 in einem Arti- zeichnen".
kel über die psychischen Auswirkungen
des Genozids auf Türken und vor allem auf Der am 2.7.2007 gegen Ogün Samast und
Armenier schrieb, das Blut der Türken sei 17 mutmaßliche Mittäter eröffnete Straf-
vergiftet. Der aus dem Sinnzusammenhang prozess enthüllt Geheimdienstverwicklun-
gerissene Satz diente als Beweis für seine gen. Kritische Kommentatoren und die
neuerliche Beleidigung des Türkentums. demokratische Öffentlichkeit der Türkei
Hrant Dink erhielt eine Bewährungsstrafe waren stets davon ausgegangen, dass der
von sechs Monaten Haft, das Urteil wurde sich demokratischer Kontrolle entziehende
rechtskräftig. Bei seiner Ermordung waren Tiefen- oder Innere Staat (türk. Derin
insgesamt sechs Strafverfahren nach Arti- Devlet) die Hauptschuld an der Ermordung
kel 301 gegen Hrant Dink anhängig oder Dinks und der übrigen Christen trägt. Im
rechtskräftig geworden. Tiefenstaat sind Ultranationalisten, Militär-
führung bzw. Nationaler Sicherheitsrat so-
Nationalistische Kreise setzten eine Hetz- wie wirtschaftskriminelle Netzwerke mit-
kampagne gegen ihn in Szene und griffen einander verfilzt. In einem bewegenden
ihn während der Gerichtspausen fast tätlich Appell rief Dinks Witwe Rakel den Richter
an. Trotzdem wollte er sich nicht ins Exil zur rückhaltlosen Aufklärung des Verbre-
drängen lassen. Er liebte Istanbul und chens auf und wies auf den Tiefenstaat hin:
konnte sich nicht vorstellen, für längere
Zeit an einem anderen Ort zu leben, auch "[...] Stets und bis heute wurden wir [die
nicht in Armenien. In seinem letzten Essay Armenier] erniedrigt und beleidigt, weil
44 Tessa Hofmann

wir Armenier sind; wir hörten, wie Men- Erarbeitung von Empfehlungen, Veröf-
schen das Wort Armenier als Fluch fentlichung der Forschungsergebnisse und
gebrauchen. Wir hörten und hören es im- Erarbeitung von Richtlinien für Verbesse-
mer noch in den Zeitungen, im Fernsehen, rung, Seminare, Workshops etc.
in Standesämtern, wenn Geburten regis-
triert werden; [wir hören es] von öffentlich In einem 2003 veröffentlichten Bericht
Bediensteten bis in die höchsten Ämter. kam die History Foundation unter anderem
Manchmal behandelt man uns nicht wie zu folgenden Ergebnissen:
Bürger dieses Landes, sondern wie
Migranten von irgendwo her. Wir sind "Regarding the curriculum, research con-
noch immer Zeugen von all diesem, von ducted by the History Foundation shows
dieser Struktur und diesem Verständnis. that school textbooks do not include in-
Diese Dunkelheit fährt fort, Kindermörder formation regarding history, culture and
zu produzieren. [...] traditions of minorities. Worse still, the
curriculum includes textbooks, which
Die Dunkelheit, auf die ich hinweise, ist contain sweeping generalizations and dis-
nicht unbekannt. Sie können Teile davon criminatory statements about minority
im Gouverneurssitz, bei der Gendarmerie, groups. Many derogatory statements are
den Streitkräften, dem Nationalen Sicher- found about the Roma, the Armenians in
heitsdienst, der Oppositionspartei, den history books and the Greek language in
[Minderheiten-]Parteien, die nicht im Par- linguistic books, as well as statements that
lament vertreten sind und selbst in den the Turkish nationality and the Islamic re-
Medien sowie in [einigen] nichtstaatlichen ligion are better than all others."16
Organisationen finden. Deren Namen und
Positionen sind bekannt. Sie erzeugen fort- Ähnliche Vorwürfe erhoben auch andere
gesetzt Kindermörder, und sie tun es, um NGOs in der Türkei, zumal in den Jahren
der Türkei zu dienen." 2002 und 2003 der bis heute amtierende
türkische Erziehungsminister Dr. Hüseyin
Çelik einen Maßnahmekatalog zur Wah-
3.2.4 Schulerziehung und rung des historischen Deutungsmonopols
Lehrbuchinhalte anordnete. Mit einem Rundschreiben for-
derte der Erziehungsminister im April
An dem übersteigerten Nationalgefühl 2003 von den Lehrern der Sekundarstufe,
trägt nicht zuletzt eine staatlich kontrol- die "haltlosen Behauptungen von Arme-
lierte und gelenkte schulische Indoktrinie- niern, Pontosgriechen und Syrisch-
rung Schuld, die einerseits die traditionelle Orthodoxen" zum Unterrichtsgegenstand
Christenfeindlichkeit fortschreibt, anderer- zu machen und entsprechende Schülerauf-
seits das nationalistische Deutungsmono- satzwettbewerbe zu organisieren.
pol aufrechtzuerhalten versucht.
Auch die armenischen und griechischen
1998 stellte ein türkischer Wissenschaftler Privatschulen wurden zur Teilnahme ver-
auf einer internationalen Tagung fest, dass pflichtet. Lehrpläne und Geschichtslehrbü-
die Anweisungen für die Gestaltung von cher mussten entsprechend geändert wer-
Geschichtslehrbüchern direkt vom türki- den. In Elbeyli (Provinz Kilis) erhob die
schen Außenministerium kämen. Abhilfe Staatsanwaltschaft Anklage wegen der "Er-
sollte die 2002 ins Leben gerufene und zu regung sozialer Unruhe" gegen sechs Leh-
80 Prozent von der Europäischen Kommis- rer, die auf einer Instruktionsversammlung
sion finanzierte History Foundation schaf- am 30. Mai 2003 kritische Fragen gestellt
fen. Ihre Hauptaufgabe besteht in der Prü- hatten. Die Lehrerin Hülya Akpinar wurde
fung türkischer Schulbücher unter dem sogar vorübergehend inhaftiert und nur ge-
Aspekt der Menschenrechte sowie in der gen Kaution entlassen.
Hass auf die kleine Herde: Christen in der Republik Türkei 45

Allerdings regte sich gegen die ministe- des Nahen Ostens kommt Dr. Wolfram
rielle Indoktrination auch erstmals größerer Reiss von den Universitäten Rostock und
Widerstand. Die Lehrergewerkschaft der Nürnberg hinsichtlich der Türkei zu fol-
Türkei verurteilte die Maßnahme des Mi- gendem Ergebnis:
nisteriums als "rassistisch und chauvinis-
tisch". Am 4. Oktober 2003 veröffentlichte "Die teils inhaltlich falsche Darstellung
eine Initiative Baris için Tarih (Geschichte folgt dem traditionellen islamischen
für Frieden)17 eine von fast 400 namhaften Standpunkt. Die Geschichte der indigenen
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – Christenheit fehlt und wird missachtet.
darunter Kulturschaffende, Juristen, Hoch- Weder griechische, armenische noch sy-
schullehrer, Pädagogen, Gewerkschaftler, risch-orthodoxe Christen, die für Jahrhun-
Militärrichter a. D., Journalisten und Histo- derte die Bevölkerungsmehrheit gebildet
riker – unterzeichnete Erklärung, in der es haben und in dieser Region seit Beginn des
unter anderem heißt: Christentums bis ins 20. Jahrhundert gelebt
haben, werden erwähnt. Das Christentum
"Als Bürger und Eltern betrachten wir die erscheint als ein europäisches Phänomen
Anweisungen des Erziehungsministeriums oder ein archäologisches Phänomen."20
bezüglich der Änderungen in Lehrplänen
und Schulbüchern des Fachs Geschichte Dieser Befund bestätigt ein weiteres Mal
mit großer Sorge. [...] In den Schulbü- die auch in allen übrigen Sphären wahr-
chern, die das erwähnte Rundschreiben nehmbare, anhaltende Ausgrenzung der in-
vorschreibt, werden Armenier, Griechen digenen Christen in einem Staat, dessen
und Syrer als Feinde dargestellt. Unsere kleinasiatische und nordmesopotamische
Untersuchungs- und Beobachtungsgruppe Landschaften zur Urheimat des Christen-
weist darauf hin, dass in den neu verfassten tums zählen.
Schulbuchabschnitten Armenier, Pon-
tosgriechen und Syrer18 wiederholt als Nach nur einem Jahrhundert des türkischen
'Feinde', 'Spione', 'Verräter' und 'Barbaren' Nationalismus gelten zwei Jahrtausende
bezeichnet werden. Synagogen, Kirchen des christlichen Glaubens und christlich
sowie Schulen von Minderheiten werden geprägte Kulturen als nichtexistent bzw.
als 'schädliche Gemeinden' bezeichnet. Die wesens- und landesfremd sowie als unver-
Institution Kirche wird mit 'Terror' gleich- einbar mit dem Konzept einer "Türkei der
19
gesetzt." In einer 2004 veröffentlichten Türken". In diesem Konzept bildet einzig
Analyse über die Darstellung des Chris- der Islam einen integralen Bestandteil tür-
tentums in Schulbüchern in fünf Staaten kischer Nationalidentität.

Anmerkungen
1 3
Nach Angaben des türkischen Innenministers Vgl. auch Simonian, Hovann H.: The Hem-
von 2002. Der außenpolitische Berater von shin. A Handbook, in: Peoples of the Caucasus
Regierungschef Erdoğan schätzte die Zahl ar- Area, Asian Studies, Abingdon/UK 2006.
menischer Staatsbürger, die als Arbeits- 4
So die passende Formulierung in dem Beitrag
migranten in der Türkei leben, 2005 auf von Reimann, Anne/Musharbash, Yassin:
40.000. Hass auf die kleine Herde, in: spiegel-online,
2
Diese Schätzung bezieht sich auf Armenier aus http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,
der Republik Armenien, die zwischen 1997 478091,00.html, Stand: 17.4.2007.
und 2001 in die Türkei eingereist sein sollen. 5
Vgl. Hofmann, Tessa: Die Situation der Ar-
"Agos", Internet-Ausgabe vom 17.7.2002. menischen Minderheit in der Republik Türkei,
46 Tessa Hofmann

12
in: Koexistenz und Konfrontation. Beiträge zur Akçam, Taner: Armenien und der Völkermord.
jüngeren Geschichte und Gegenwartslage der Die Istanbuler Prozesse und die türkische Na-
orientalischen Christen, Studien zur Orientali- tionalbewegung, Hamburg 1996.
schen Kirchengeschichte, Band 28, hrsg. von 13
Reimann/Musharbash: Hass auf die kleine
Martin Tamcke, Münster/Hamburg/London
Herde.
2003, S.231-302; Luchterhandt, Otto: Der tür-
14
kisch-armenische Konflikt, die Deutschen und Ebd.
Europa, Hamburger Beiträge zur Friedensfor- 15
schung und Sicherheitspolitik 132, Hamburg Meldung in Turkish Press, 13.6.2006, http://
2003, http://www.ifsh.de/pdf/publikationen/ www.turkishpress.com/news.asp?id=128421
hb/hb132.pdf 16
6
Human Rights in School Books: Results of
"Anatoli", Athen, Januar 2005, S.3. Research, History Foundation, 2003, S.45, 50,
7
Diese Worte wurden von Yakup Barokas, dem 73, zitiert nach Kaya, Nurcan/Baldwin, Clive
Herausgeber der seit 56 Jahren auf Türkisch (Minority Rights Group): Minorities in Tur-
und Ladino erscheinenden jüdischen Wochen- key: Submission to the European Union and
zeitung "Schalom", in seinem Leitartikel vom the Goverment of Turkey, http://www.rights
31.1.2007, Ausgabe Nr. 2973, wiederholt und agenda.org/main.php?id=30&lg=en, Stand:
auf die Lage der jüdischen Minderheit der 1.7.2004; vgl. auch Kiliç, Savaş: Türkçe Ders
Türkei übertragen, http://www.salom.com.tr/ Kitapları Milliyetçilik ve Eleştirel Düşünce
Default.aspx?PID=3&ID=20 (Turkish school textbooks: Nationalism and
8 critical thought – a critique of textbooks used
Die letzten Stunden von Necati Aydin, Ugur in literature classes at elementary and secon-
Yüksel und Tilmann Geske, Institut für Islam- dary level schools), 2005.
fragen der Deutschen Evangelischen Allianz
e.V., Bonn, http://www.islaminstitut.de/Nach 17
richtenanzeige.55+M5c769f0c4fc.0.html, Stand: Vgl. auch http://www.bolsohays.com/haberac.
3.5.2007. asp?referans=1612
9
Vgl. Hofmann, Tessa (Hrsg.): Verfolgung, 18
Mit Syrer (türk. "süryani") werden aramäisch-
Vertreibung und Vernichtung der Christen im
sprachige Christen bezeichnet, sie gehören in
Osmanischen Reich 1912-1922, in: Studien
der Türkei heute meist der Syrisch-Orthodoxen
zur Orientalischen Kirchengeschichte, Band
Kirche an.
32, hrsg. von Martin Tamcke, Münster,
2.Aufl., 2006; Baum, Wilhelm: Die Türkei und 19
ihre christlichen Minderheiten, Klagenfurt Zitiert nach Pressemitteilung von TÜDAY
2005; Ders.: Die christlichen Minderheiten der (Menschenrechtsverein Türkei/Deutschland
Türkei in den Pariser Friedensverhandlungen e.V.), 10.10.2003. Die Pressemitteilung stützt
(1919-1923), Klagenfurt 2007; Kieser, Hans- sich auf folgende Quellen: Tarih Lise 2 MEB
Lukas/Schaller, Dominik J. (Hrsg.): Der Völ- Ist. 2003 4. Baski (Geschichte, 2. Gym-
kermord an den Armeniern und die Shoah, Zü- nasialklasse, Erziehungsministerium, Istanbul,
rich 2000. 4.Aufl., 2003) sowie Tarih Lise 2. Kemal
10
Kara, Ferhat Yayinlari Ist. 2003 (Kara,
Gaunt, David: Massacres, Resistance, Protec- Kemal: Geschichte, 2. Gymnasialklasse, Istan-
tors. Muslim-Christian Relations in Eastern bul 2003).
Anatolia during World War I, Piscataway/
New Jersey 2006; Courtois, Sébastien de: The 20
Reiss, Wolfram: Education for religious toler-
Forgotten Genocide, Eastern Christians, The ance in the Middle East. Main conclusions and
Last Arameans, Piscataway/New Jersey 2004. findings of a German research project on
11
Auf der Grundlage der bilateralen türkisch- school textbooks in the Middle East, Oslo
griechischen Konvention, Lausanne, 30.1.1923. 2004, S.4.
Brennpunkt Irak
Harald Suermann

Die Schreckensnachrichten aus dem Irak Der Irak hat etwa 26 Mio. Einwohner; die
reißen nicht ab. Anschläge mit Dutzenden überwiegende Mehrzahl sind Muslime
Verletzten und Toten sind in den Zeitun- (97%), davon etwa 61% Schiiten und ma-
gen nur noch eine kurze Meldung wert. ximal 39% Sunniten. Zu den religiösen
Dennoch sind wir kaum über die Lage im Minderheiten gehören etwa 30.000 Jesi-
Irak wirklich informiert. Zu unübersicht- den, 20.000 Mandäer, vielleicht 1.000 Ba-
lich ist die Gemengelage aus Gewalt und hais (seit 1972 verboten) und weniger als
Kriminalität. Die Situation der Minderhei- Hundert Juden.
ten, zu denen ja auch die Christen gehören,
ist für viele unbekannt. In meinem Beitrag Über die Zahl der Christen im Irak gibt es
werde ich die Lage der Christen im heuti- sehr unterschiedliche Angaben. So reichen
gen Irak vorstellen. die Angaben in unterschiedlichen Quellen
von 450.000 bis über eine Million Christen
im Irak. Wahrscheinlich lag die Zahl der
1. Quellen Christen zum Ende der Ära Saddam Hus-
seins (2002) deutlich unter 700.000, das
Um über die Lage der Christen im Irak zu entspräche 2,7% der Bevölkerung. Legt
berichten, ist man auf Berichte aus unter- man die bekannten Zahlen für die katholi-
schiedlichen Quellen angewiesen. Es ist schen Kirchen1 und die in den 90er-Jahren
für einen Europäer kaum möglich, vor Ort geschätzten Zahlen für die übrigen Kirchen
den einzelnen Aussagen nachzugehen und zugrunde, so kommt man auf einen Anteil
sie zu verifizieren. Nur im Nordirak be- von 1,7% Christen an der Bevölkerung. In
steht diese Möglichkeit in einem begrenz- den 90er-Jahren schätzten die meisten
ten Umfang. Um so wichtiger ist die ihren Anteil auf 4%. UNHCR schätzte in
Glaubwürdigkeit der Quellen und das 2005 8-12% Christen,2 was aber sicherlich
Faktum, dass ein Sachverhalt in verschie- deutlich zu hoch sein dürfte.
denen Quellen thematisiert und verdeut-
licht wird. Es kann kein vollständiges Bild Die größte christliche Gruppe im Irak bil-
von der Lage im Irak gegeben werden, den die Chaldäer mit etwa 300-400.000 in
wohl aber erlauben die Quellen Aussagen neun Diözesen und im Patriarchat mit dem
zu Tendenzen und Entwicklungen. Meine Oberhaupt Emmanuel III. Delly in Bagdad.
Quellen gehen vor allem auf christliche Diese Kirche ist seit dem 16. Jh. mit Rom
Hilfswerke zurück, die zum Teil noch vor verbunden. Zur katholischen Kirche gehö-
Ort arbeiten, Bischöfe aus dem Irak wie ren weiterhin: 60.000 syrisch-katholische
auch der chaldäische Patriarch, Sammlun- Gläubige mit je einer Erzdiözese in Bag-
gen von Berichten von Flüchtlingen über dad und Mossul; 2.000 armenisch-
die Lage im Irak und Zeitungsberichte. katholische mit einem zurzeit vakanten
Hinzu kommen Berichte vom UNHCR Sitz eines Erzbischofes in Bagdad; 2.000
(United Nations High Commissioner for lateinische Christen mit einem Erzbischof
Refugees) und anderen Nichtregierungsor- in Bagdad,3 500 Melkiten, die zur Eparchie
ganisationen Amman gehören. Des Weiteren leben noch
etwa 90.000 Assyrer im Irak. Ihre Kirche
hat den offiziellen Namen "Apostolische
2. Christliche Gruppen im Irak Kirche des Ostens". Die übrigen Christen
verteilen sich auf die verschiedenen Kir-
chen wie folgt: 40.000 syrisch-orthodoxe,
48 Harald Suermann

30.000 armenisch-orthodoxe, 4.000 grie- Im Kampf um die Vorherrschaft im Süd-


chisch-orthodoxe, 2.000 Kopten sowie und Mittelirak geht es schiitischen und
10.000 Protestanten. sunnitischen Gruppen auch um die Durch-
3. Lage vor der amerikanischen setzung einer islamischen Gesellschafts-
Invasion ordnung, die freilich je nach Gruppe etwas
anders aussehen kann. Zu den auffallenden
Seit der Gründung des Irak gab es immer und nach außen sichtbaren Zeichen einer
wieder äußerst schwere Zeiten für die islamischen Gesellschaft zählen sicherlich
Christen im Irak. Waren viele Assyrer von die islamische Kleiderordnung, das Alko-
den Massakern im Osmanischen Reich in holverbot und der Dhimmi-Status der
den heutigen Irak geflohen, so war ihre Nicht-Muslime, zu denen auch die Chris-
Integration in den arabischen Staat Irak ten gehören. Von dem Versuch einer ge-
nicht leicht. Es kam dabei immer wieder zu waltsamen Durchsetzung einer Ordnung
Übergriffen und Auseinandersetzungen. im jeweiligen Gruppeninteresse sind
Unter Saddam wurden auch christliche Christen und andere Minderheiten betrof-
Dörfer und Kirchen im Kampf gegen die fen, aber auch säkular ausgerichtete Mus-
Kurden zerstört, und viele Christen kamen lime. Dies wird durchaus auch so von den
dabei ums Leben. In die Zeit des iraki- kirchlichen Führern gesehen, so zum Bei-
schen Staates fiel auch die Abwanderung spiel in einem Interview des chaldäischen
vieler Christen aus dem Norden nach Bag- Priesters Saad Hanna Sirop, der Rektor am
dad. Ursachen waren der Kampf der Kur- Babel College war, und am 15. August
den gegen den irakischen Diktator, aber 2006 selbst gekidnappt wurde.4
auch die leidvolle lange Erfahrung im Zu-
sammenleben mit den Kurden. Christen, Schon vor den Attacken auf die Kirchen-
die sich für arabisch erklärten und auf die gebäude gab es islamische Angriffe auf
Betonung des Syrertums verzichteten, Alkoholverkäufer, Schönheits- und Frisör-
wurden gut in den Staat integriert. Das Un- salons sowie Geschäfte mit westlicher Mu-
rechtsregime von Saddam Hussein betraf sik oder westlichen Videos. Im Mai 2003
Christen und Muslime, die Schiiten viel- warnten schiitische Führer in Bagdad
leicht am härtesten. "sündige Frauen", Alkoholverkäufer und
Kinos vor schweren Konsequenzen, wenn
sie ihr Geschäft nicht aufgäben. Diese
4. Allgemeine Lage hauptsächlich von Christen geführten Ge-
schäfte würden die islamische Moral un-
Die Invasion der Koalitionstruppen unter tergraben.5 Aufgrund anhaltender Ein-
amerikanischer Führung hat zwar den Irak schüchterung trugen auch christliche Frau-
vom Diktator Saddam Hussein befreit, es en immer häufiger einen islamischen
ist aber bis heute nicht gelungen, Freiheit Schleier, und christliche Mädchen wurden
und Demokratie in den Irak zubringen. Im nicht mehr zur Schule geschickt.
Gegenteil hat die Invasion und die dann
folgende amerikanische Besatzungspolitik Der Hass auf die amerikanischen Besatzer
ein Machtvakuum geschaffen, in dem ver- wuchs mit der Zeit. Gegen alle, die mit den
schiedene politische Kräfte um die Herr- Amerikanern und den von ihnen einge-
schaft ringen und Kriminelle ihr Unwesen richteten Institutionen kooperierten, wur-
treiben. Die Hauptlast der Kämpfe tragen den Anschläge verübt, unabhängig von
sicherlich Schiiten und Sunniten, zwischen ihrer jeweiligen Religion. Die Christen wa-
deren Gruppen auch der eigentliche ren aber aufgrund ihrer Ausbildung über-
Machtkampf tobt. Die Christen und andere proportional häufig in Stellungen, die eine
religiöse Minderheiten sind von den Kooperation mit den Amerikanern erfor-
Kämpfen auch betroffen, aufgrund ihrer derten. Somit waren sie auch überproporti-
Zahl sogar existenzbedrohend. onal von diesen Anschlägen betroffen.
Außerdem haben sie dieselbe Religion wie
Brennpunkt Irak 49

die Amerikaner, weswegen sie als natürli- Lösegeldsummen bezahlt werden können.
che Verbündete der Amerikaner angesehen Die überwiegende Zahl der Christen hat
werden. Christen werden Kreuzzügler ge- Verwandte im Ausland und gerät deshalb
nannt, ein Terminus, der sie klar als zu be- verstärkt ins Visier der Entführungskrimi-
kämpfende Feinde der islamischen Gesell- nalität. Ist einmal das Lösegeld bezahlt,
schaft kennzeichnet. Fatal war es vor die- kommen die meisten Gekidnappten frei.
sem Hintergrund, dass der amerikanische Sie und ihre Familie verlassen häufig um-
Präsident Bush den Begriff "Kreuzzug" für gehend das Land oder fliehen in den
seine Maßnahmen gegen den Terrorismus Norden. Viele junge Frauen, die entführt,
benutzte. gefoltert und auch sexuell missbraucht
wurden, begehen nach ihrer Freilassung
Es gab nicht nur kriminell, sondern auch Selbstmord. Die Dunkelziffer scheint hier
religiös motivierte Entführungen. Zu den hoch zu sein, es wurde nur von wenigen
Letzteren zählt auch die Entführung des Fällen berichtet.
Priester Boulos Iskander von der syrisch-
orthodoxen Kirche im Oktober 2006. Als
Grund wurde die Rede des Papstes in Re- 5. Verfassung
gensburg genannt. Obwohl die Gemeinde
in Mossul die Forderungen der Entführer Am 15. Oktober 2005 wurde per Volksent-
erfüllte, öffentlich die Referenz auf islami- scheid über eine neue Verfassung für den
sche Gewalt in der Papstrede zu verurtei- Irak abgestimmt. Nach anfänglichem
len, wurde er ermordet. Laut dem chaldäi- Zweifel wurde sie angenommen.6 Zuvor
schen Weihbischof Shlemon Warduni waren Wahlen durchgeführt worden, bei
konnte der geforderte Betrag von 350.000 denen sechs Christen ins Parlament kamen.
US$ nicht aufgebracht werden. Der sunni- Aufgrund von massiven Wahlbehinderun-
tische Rat der Ulema verurteilte die Tat gen in den mehrheitlich christlichen Städ-
gegen die Interessen des Iraks. ten fühlen sich die Christen unterrepräsen-
tiert.7 Die Wahlbehinderung war vor allem
Entführungen sind ein Geschäft im Irak in der Ninive-Ebene eklatant.
geworden, und es gibt zurzeit keine Macht,
die diese größtenteils wohl kriminell moti- Die neue Verfassung zeigt auch, welche
vierten Taten unterbinden kann. Betroffen Stellung den Christen im neuen Irak zuge-
sind alle Bevölkerungsteile – Schiiten, wiesen werden soll. Die Präambel des Ver-
Sunniten und Christen. Die Lösegeldforde- fassungsentwurfes zählt die Errungen-
rungen bewegen sich zwischen 20.000 und schaften der "Söhne Mesopotamiens" auf
50.000 US$ für einen normalen Fall. Für und erwähnt auch die Leiden in der neue-
einen Bischof sollen sogar 200.000 US$ ren Zeit. Aber weder die christliche Religi-
gezahlt worden sein. Wenn auch von den on noch die ethnische Gruppe der Assyro-
Entführungen alle betroffen sind, so sind Chaldäer werden dort ausdrücklich
Christen mehrheitlich betroffen. Das hat erwähnt. Die christliche Geschichte kann
zum einen den Grund darin, dass sie keine im Begriff "Land der Propheten" mit-
Stammesgesellschaften bilden, in denen schwingen, und die Assyro-Chaldäer wer-
die Großfamilie mit "geeigneten" Gegen- den sicherlich von den Brüdern in allen
maßnahmen reagieren kann. Zudem bilden Gemeinschaften erwähnt. Auch der Islam
sie keine eigenen Milizen, die für einen wird nicht ausdrücklich erwähnt, aber die
gewissen Schutz sorgen könnten. Da viele Bezüge zur islamischen Geschichte, insbe-
Christen zur ehemaligen Mittelschicht ge- sondere zu den schiitischen Imamen, lässt
hören, vermutet man, dass sie reicher und klare Bezüge zum Islam erkennen.
somit zahlungsfähig sind. In letzter Zeit
werden bevorzugt Iraker entführt, die Artikel 1 deklariert die Republik Irak als
Verwandte im Ausland haben, da davon unabhängige, souveräne Nation und als
ausgegangen wird, dass auch hier höhere demokratisch, föderal und repräsentativ.
50 Harald Suermann

Artikel 2 nennt den Islam als offizielle da nach allgemeiner Interpretation des is-
Staatsreligion und die Grundquelle der Ge- lamischen Rechts sowohl Frauen als auch
setzgebung. Es wird weiterhin ausgeführt,
dass kein Gesetz erlassen werden kann, das
1. den unbestrittenen Regeln des Islams, 2.
den Prinzipien der Demokratie und 3. den
in der Verfassung genannten Rechten und
Grundfreiheiten widersprechen darf. Im
zweiten Absatz werden sowohl die islami-
sche Identität der Mehrheit der Iraker als
auch die vollen religiösen Rechte für alle
Individuen und die Freiheit des Glaubens-
bekenntnisses und der religiösen Praxis ga-
rantiert.

Die unbestrittenen Regeln des Islams sind


nach Auffassung der meisten Muslime in
der Scharia niedergelegt, wenn auch die
Formulierung der Verfassung durchaus die
Möglichkeit lässt, zwischen den unbestrit-
tenen Regeln des Islams und der Scharia zu
unterscheiden. Damit ist wohl nach Auf-
fassung der meisten die Scharia als Quelle
des Rechts für den neuen Irak vorgegeben.
Der zweite Teil, die Garantie aller religiö-
sen Rechte für die Individuen, widerspricht
dem nicht, denn es ist nicht definiert, was
religiöse Rechte sind. Wichtig ist auch,
dass im Weiteren nicht von Religionsfrei-
heit, sondern von Freiheit des Bekenntnis-
ses und der religiösen Praxis gesprochen
wird. Der Islam erlaubt nicht die Konver-
sion eines Muslims zu einer anderen Reli-
gion, was die Religionsfreiheit einschlie-
ßen würde. Auch in den übrigen Artikeln
des Verfassungsentwurfes wird die Religi-
onsfreiheit nicht garantiert. Im Abschnitt
über die Grundprinzipien ist die islamische
Gesellschafts- und Rechtsvorstellung vor-
gegeben.

Im zweiten Kapitel über die Rechte und


Freiheiten wird in Artikel 14 festgehalten,
dass alle Iraker vor dem Gesetz gleich sind
ohne Unterscheidung des Geschlechts, der
ethnischen Zugehörigkeit, der Nationalität,
des Ursprungs, der Farbe, der Religion, der
Konfession, des Glaubens oder des sozia-
len und ökonomischen Status. Dieser Arti-
kel steht in größter Spannung zu den vor-
her dargestellten Grundprinzipien, wonach
der Islam die Grundquelle des Rechts ist,
Brennpunkt Irak 51

Nicht-Muslime aufgrund des Geschlechts


bzw. der Religion mindere Rechte haben.

Entscheidend für die Konfliktlösung zwi-


schen dem islamischen und dem säkularen
Recht ist Artikel 44, der besagt, dass alle
Individuen das Recht haben, die Rechte zu
genießen, die in den internationalen Men-
schenrechtsabkommen und -verträgen
genannt werden und die nicht gegen die
Prinzipien und Regeln der Konstitution
verstoßen. Da nun als erstes Grundprinzip
die islamische Rechtsordnung genannt
wird, stehen demnach auch die Menschen-
rechte unter dem Vorbehalt der Scharia,
bzw. der unbestrittenen Regeln des Islams.

Nach anfänglicher iranischer Zurückhal-


tung hat sich Patriarch Emmanuel III.
Delly für die Änderung des Artikel 2 aus-
gesprochen.8

Die Verfassung, auch wenn sie ambivalent


ist, ist eine Sache, sie durchzusetzen eine
andere. Letzteres ist aufgrund des staatli-
chen Machtvakuums nicht möglich. Hinzu
kommt, dass die Regierungsmitglieder
wohl in erster Linie eigene Gruppeninte-
ressen durchsetzen wollen, die durch die
jeweilige Konfession bestimmt sind.

Nach Auskunft des Nuntius wird in der


irakischen Regierung und in den regiona-
len Regierungen eine konfessionsorien-
tierte Politik betrieben, die unter anderem
dazu geführt hat, dass viele Christen ihre
Arbeitsplätze verloren haben. Christliche
Unternehmer mussten deswegen auch
schon ihre Betriebe stilllegen.

6. Die drei Regionen

6.1 Lage im Süden

Im Süden sind die wenigen Christen schon


kurz nach der Invasion der Koalitionstrup-
pen dem islamischen Druck gewichen.
Hier scheinen zu Anfang die meisten An-
schläge auf Alkoholgeschäfte, Frisöre oder
CD-Läden erfolgt zu sein. Von 1.000 Fa-
52 Harald Suermann

milien sollen nur noch etwa 350 in Basra werden. Im Mai 2007 veranlasste eine
leben, die Übrigen seien geflüchtet. Der Fatwa einer islamistischen Gruppe die
chaldäische Erzbischof von Basra Kassab Flucht der meisten Christen aus Dora. Sie
wurde zum Bischof in Australien ernannt. forderte die Christen auf, innerhalb vom 24
Die Christen werden nur noch von einem Stunden zum Islam zu konvertieren oder
Priester betreut. dem Tod ins Auge zu sehen. In den Mo-
scheen wurde dazu aufgerufen, das Eigen-
tum der Christen zu konfiszieren.9
6.2 Lage im Großraum
Bagdad/Mittelirak Der Imam der Al-Nur-Moschee soll gemäß
GfbV alle Christen des Stadtviertels aufge-
Ich zähle zu dieser Region auch die Ge- fordert haben, monatlich 250.000 irakische
biete um Mossul und Kirkuk. Im Januar Dinar (~130 €) zu zahlen oder zum Islam
2006 gab es Bomben gegen sechs Kirchen überzutreten.10 Es gibt mittlerweile Hin-
in Bagdad und Kirkuk, kurz danach noch weise, dass das Viertel christenfrei sei.
einmal sechs Bomben gegen Kirchen in
Bagdad und Mossul. Zahlreiche weitere Im Stadtviertel Dora war auch die einzige
Kirchen sollen in den Jahren angegriffen Fakultät für christliche Theologie im Irak
worden sein. Zwischen 2004 und 2006 beheimatet. Nachdem sie monatelang we-
sollen je nach Zählung etwa 27/33 Kirchen gen der gefährlichen Lage geschlossen
in Bagdad und in der Gegend von Mossul war, nahm sie im Januar 2007 ihren Be-
und Kirkuk bombadiert oder angegriffen trieb in Ankawa im Nordirak wieder auf.
worden sein. Aus Angst vor Angriffen oder
vor Entführungen auf dem Weg zur Kirche Im Bagdader Stadtviertel Amariyah, wo
bleiben die Kirchen leer. unter amerikanischer Führung ein Sicher-
heitsplan durchgeführt wurde, verschlech-
Frauen sind häufig von repressiven Maß- terte sich offensichtlich die Situation.
nahmen betroffen, weil sie sich nicht nach Al-Qaida-Elemente, die einen islamischen
der islamischen Kleiderordnung richten. Staat Irak ausgerufen hatten, entführten ei-
Gerade aus Mossul gibt es hierüber Be- nen Christen und forderten ihn auf, Jizya
richte. Beispielsweise seien Frauen mit für ihren Schutz und als Beitrag zum
Säure im Gesicht bespritzt oder ermordet Kampf gegen die Amerikaner zu leisten.
worden, weil sie Jeans oder keine Schleier Darüber hinaus wurden 30.000 US$ Löse-
trugen. Der Klerus kann nicht mehr in der geld verlangt. Nach der Freilassung verließ
Klerikerkleidung auf die Straße – aus er mit seiner Familie das Land.
Furcht vor islamistischen Angriffen.
In Mossul ist die Lage für die Christen ge-
Wie der Patriarch mitteilte, können die nauso katastrophal. Am 17. Januar 2005
Christen in Bagdads Stadtviertel Dora sich wurde der syrisch-katholische Bischof von
nicht zum Glauben bekennen, und Frauen Mossul, Casmoussa, entführt und nach ei-
werden zum Schleiertragen gezwungen, nigen Tagen wieder freigelassen. Auch in
von den Kuppeln der Kirchen mussten die Mossul haben Bewaffnete die Christen
Kreuze entfernt werden. 70% der Christen aufgefordert, 3.000 US$ Jizya zu zahlen,
sollen das Stadtviertel verlassen haben. um es für den Kampf gegen die Amerika-
Christen werden aufgefordert, Jizya – spe- ner einzusetzen.
zielle Sondersteuer für Nicht-Muslime – zu
zahlen oder das Land zu verlassen. So kur- Es wird von einer Kreuzigung eines 14-
sierten im Juli 2006 in Dora Flugblätter, jährigen Jungen im Oktober 2006 berich-
die die christlichen Bewohner vor die tet. Neben der grausamen Tötung liegt hier
Wahl stellten, wegzuziehen oder getötet zu auch ein gezielter Terror gegen die Chris-
Brennpunkt Irak 53

ten vor, indem das Kreuz als zentrales Die Lage im kurdischen Teil des Irak ist
Symbol des Christentums verhöhnt wird. stabil und ruhig. Christen werden dort
nicht verfolgt. Hoffnungsträger für die
In letzter Zeit wurden folgende Taten be- Christen dort ist Sarkis Aghajan, der
richtet: Am 3. Juni 2007 wurden Fr. Rag- christlich-armenische Finanzminister der
heed Ganni und drei Subdiakone in der kurdischen Regionalregierung. Mit seiner
Nähe ihrer Pfarrkirche umgebracht. Am Hilfe konnten im Nordirak viele Christen
20. Juni wurden sieben christliche Studen- ein Zuhause finden und aufbauen, ebenso
ten und ein Professor aus Qaraqosh gekid- konnte die Infrastruktur für christliche
nappt, als sie von Examen an der Mossuler Gruppen verbessert werden. Dennoch ist
Universität zurückkamen. Sie wurden aus hier die Not groß, da es kaum Arbeit gibt.
dem Bus herausgeholt und für 250.000 Die Arbeitslosigkeit birgt in sich das Po-
US$ schließlich wieder freigelassen. Am tenzial für künftige Auseinandersetzungen,
27. Juni wurden aus einem Auto heraus die leicht zwischen den Konfessionen ver-
zwei assyrische Christen erschossen. laufen werden. Auch im kurdischen Teil
des Irak würden viele Christen das Land
verlassen, wenn sie es könnten.
6.3 Lage im Norden des Landes
Die Lage im Irak seit der Invasion unter
Viele Christen aus Bagdad und Mossul der Leitung der Amerikaner ist katastro-
sind in die kurdischen Provinzen geflohen, phal und betrifft vor allem auch die Min-
in der Hoffnung, hier sicher vor Verfol- derheiten. Die Hälfte der Christen des Irak
gung zu sein. Tatsächlich konnten bisher hat mittlerweile das Land verlassen. Sie
dort keine gezielten Anschläge auf Chris- sind weit überrepräsentiert unter den
ten festgestellt werden. Der Report der Flüchtlingen. Der Strom der Flüchtlinge ist
United States Commission on International ungebremst, und nur eine radikale Ände-
Religious Freedom (USCIRF) aus dem rung der Sicherheitslage kann ihn stoppen.
Jahre 2007 deutet aber an, dass auch die
Regierung in den kurdischen Gebieten Der neue Irak kann durchaus das Ende des
Christen diskriminierend behandelt, indem 2000 Jahre alten Christentums bedeuten,
Eigentum ohne Kompensation konfisziert vor allem in den nicht kurdischen Gebie-
wird. ten.

Anmerkungen
1
http://www.catholic-hierarchy.org/country/ 5
Shiite leader in Baghdad warns women,
iq.html, Stand: 11.3.2006. alcohol sellers, cinemas, http://www.hrwf.
2
Hintergrundinformation zur Gefährdung von net/html/iraq_2003.html#Shiiteleader, Stand:
Angehörigen religiöser Minderheiten im Irak, 25.2.2005.
hrsg. von UNHCR, aktualisierte Fassung, 6
Neue irakische Verfassung, http://
Oktober 2005, http://www.unhcr.de/pdf/ de.wikipedia.org/wiki/Neue_irakische_Verfass
516.pdf, Stand: 12.3.2006. ung, Stand: 12.3.2006.
3
Zahlen entstammen dieser Website: 7
Lake, Gordon: ChaldoAssyrian Christians Last
http://www.catholic-hierarchy.org/country/ Hope in Iraq, http://www.aina.org/news/2005
iq.html, Stand: 11.3.2006. 0207121331.htm, Stand: 8.2.2005; Decker,
4
Sirop, Saad Hanna: In Iraq Christians want to Erwin: Keine Wahl, in: Frankfurter
rebuild the nation together with their "Muslim Rundschau, http://www.fr-aktuell.de/ressorts/
brothers", http://new.asianews.it/index.php? nachrichten_und_politik/rundschau/?cnt=6373
l=en&art=9657, Stand: 5.7.2007. 28, Stand: 25.2.2005; al-Mufti, Nermeen: Post-
53 Harald Suermann

election doldrums, in: Al-Ahram, http://weekly


.ahram.org.eg/2005/731/re9.htm, Stand: 25.2.
2005; Malko, Odisho: No votes in Nineveh, index.php/D/article/187/15420/, Stand 12.3.
http://www.guardian.co.uk/Iraq/Story/0,2763,1 2006.
423282,00.html, Stand: 25.2.2005. 9 http://www.christiansofiraq.com/assultonassyri
8
Irak: Heimat aller, http://www.30giorni.it/te/ ans.html, Stand: 5.7.2007.
articolo.asp?id=9711, Stand: 12.3.2006; Irak: 10
Die größte Christenverfolgung der Gegenwart.
Christliche Minderheit uneins über
Exodus der Assyro-Chaldäer aus dem Irak.
Verfassungstext, http://www.livenet.ch/www/
Menschenrechtsreport Nr. 47 der Gesellschaft
für bedrohte Völker, Göttingen 2007.
Christenverfolgung und Unterdrückung
der Religionsfreiheit im Iran*
Thomas Schirrmacher

1. Die iranische Revolution deren Zahl allerdings schon wesentlich ge-


ringer sein.6
Der wirtschaftlich fortschrittliche, auf den
Westen gestützte, aber besonders aufgrund Die iranische Revolution, die auf eine lan-
repressiver Maßnahmen und seines Ge- ge ideologische Vorgeschichte der irani-
heimdienstes unpopuläre Schah Reza Pah- schen Schia zurückgeht,7 wollte alle Berei-
lavi wurde durch die schiitische islamische che der Gesellschaft und jeden Bürger dem
Revolution abgelöst, und 1979 wurde die Willen der geistlichen Führer unterwerfen,
Islamische Republik ausgerufen. Die isla- auch mit jeder Art der Kontrolle, Drohung
mischen Geistlichen stehen seitdem als und Gewalt,8 von der auch die politische
Revolutionswächter über den weitgehend Regierung selbst nicht ausgenommen ist.
demokratisch gewählten, aber von den Re- An diesem Programm hat sich bis heute
ligionswächtern vorsortierten Politikern. nichts geändert, wie ein breiter Konsens
Deswegen bleibt der Iran trotz seiner de- wissenschaftlicher Forschung weltweit –
mokratischen Strukturen ein theokratischer auch von muslimischen Autoren – belegt.9
Polizeistaat, der die Menschenrechte – ins- Dieses Programm galt (und gilt) als Vor-
besondere diejenigen der Minderheiten, der bild für andere Teile der Welt und hat die
Nichtmuslime und der Frauen – missach- Ausbreitung der Gewalt gegen Andersden-
tet. kende und die Unterdrückung der Religi-
onsfreiheit weltweit gefördert,10 auch wenn
Sowohl in den nach Ländern sortierten selbst Insider inzwischen zugestehen, dass
klassischen Nachschlagewerken zur Reli- der Traum einer besseren Gesellschaft ge-
gionsfreiheit1 und zur Christenverfolgung2 genüber der Zeit des Schahs, dem Ayatol-
als auch in den jährlichen Berichten der lah Khomeini wesentlich seine Unterstüt-
Menschenrechtsorganisationen und der zung zu verdanken hatte, längst geplatzt
US-Regierung zur Menschenrechtslage3 ist, geht es doch den Armen schlechter als
und zur Religionsfreiheit4 gehört der Iran zuvor und ist das Ansehen des Islams in
Jahr für Jahr zu den eindeutigsten Vertre- der Bevölkerung gesunken.
tern der Staaten, in denen es keine Religi-
onsfreiheit gibt und in denen selbst An- Ayatollah Ali Khomeini ist oberster
hänger der Staatsreligion brutal verfolgt Wächter der Revolution, de facto Staats-
und beschränkt werden, wenn sie abwei- oberhaupt und – was vielen nicht bewusst
chende Lehrmeinungen vertreten. ist – Oberbefehlshaber der Armee11 und
aller bewaffneten Einheiten. Auch das Amt
Die rund 70 Millionen Einwohner des Iran des Parlamentspräsidenten und fast alle
verteilen sich wie folgt auf die verschiede- höheren Ämter sind von islamischen
nen Religionen: Muslime 95,6%, Zoro- Geistlichen besetzt, die teilweise aufgrund
astrier 2,8%, Bahai 0,7%, Christen 0,5% oft recht geringer Abweichungen gegen-
(Orthodoxe 0,3%), Nichtreligiöse 0,5%, über dem Wächterrat aus westlicher Sicht
Hinduisten 0,1%.5 Der schiitische Islam ist liberal wirken, aber an der islamischen Re-
Staatsreligion und Religion von 93% der volution und an der Notwendigkeit eines
Einwohner. Durch die ständige Auswande- rein islamischen Staates keinerlei Zweifel
rung der religiösen Minderheiten könnte haben.12
56 Thomas Schirrmacher

83 religiöse Führer wählen den "Obersten begründet wird,17 und dies nicht nur von
Wächter der Revolution", derzeit Ayatol- den religiösen Führern, sondern auch von
lah Khomeini, der alle politischen Vorgän- Regierungsstellen, auch wenn sie selbst für
ge überwacht. Alle vom Parlament ("Maj- sich gerne eine gewisse Lockerung sehen
les" oder "Majlis") beschlossenen Gesetze würden. Im Iran hat der Richter zugleich
und Akte müssen vom sogenannten das Amt des Staatsanwaltes inne, die
"Wächterrat" überprüft und genehmigt meisten Angeklagten müssen sich selbst
werden, der aus sechs vom Ayatollah er- vertreten, eine Untersuchungshaft gibt es
nannten religiösen Führern und sechs vom nicht, und die Behörden dürfen sie ohne
obersten Richter vorgeschlagenen und vom Angabe von Gründen solange in Haft be-
Parlament gewählten islamischen Juristen halten, wie sie wollen. Sylvain Colplet
besteht. Bis zur Ernennung des jetzigen schreibt zu Recht:
Präsidenten Ahmedinejad hat der Wächter-
rat fast alle Gesetze des Parlaments abge- "Noch schlimmer als diese Selbstherrlich-
lehnt und selbst unter diesem "Hardliner" keit ist allerdings die Tatsache, dass so-
kommt dies regelmäßig vor. Alle religiö- wohl Reformer wie Konservative ein ge-
sen Aktivitäten werden sowohl vom Mi- meinsames Ziel haben. Auch die Reformer
nisterium für Islamische Kultur und Füh- wollen eine Trennung von Staat und Reli-
rung als auch vom gefürchteten "Minister gion verhindern. Es wird nur darüber ge-
of Intelligence and Security" (MOIS) stritten, wie dieses Ziel erreicht werden
kleinmaschig überwacht. kann. Diese Tatsache wird von Außenste-
henden leicht übersehen. Die Reformer
Dabei ist keinerlei Besserung in Sicht. werden daher oft für Gegner des Gottes-
1998 wurde etwa vom Parlament ein Ge- staates gehalten. Dies wird ihnen zwar von
setz verabschiedet, das im medizinischen den Konservativen unterstellt, selber
Bereich in jeder Hinsicht verbietet, Pati- bestreiten sie das aber mit aller Entschie-
enten von Angehörigen des anderen Ge- denheit. Sie stehen zur islamischen Revo-
schlechts zu versorgen oder zu behandeln.13 lution. Und es fragt sich, ob es ihnen dabei
(Dass sich viele Iraner in der Realität ins- nur darum geht, das eigene Leben zu ret-
besondere in Teheran nicht an solche Ge- ten."18
setze halten, steht auf einem anderen
Blatt.) Als im Oktober 2000 das Parlament Universitätsbewerber müssen – um nur ein
das Mindestheiratsalter für Mädchen von 9 beliebiges Beispiel zu nennen – in ganz
auf 15 heraufsetzen wollte, lehnte dies der Iran unumstritten und legal eine Prüfung in
Wächterrat ab. Für ihn gilt auch weiter die islamischer Theologie ablegen, ohne die
nur im schiitischen Islam bekannte Zeit- eine höhere Ausbildung unmöglich ist.19
ehe, die ab 60 Minuten mit mehreren Frau-
en gleichzeitig geschlossen werden kann
und Frauen völlig schutzlos einer de-facto- 3. Religionsfreiheit allgemein
Prostitution ausliefert.14
Es gibt im Iran keine Religionsfreiheit.20
Allen abweichenden Formen des Islam21
2. Menschenrechte allgemein15 wie auch den nichtmuslimischen Minder-
heiten der in der Verfassung genannten
Die fehlende Religionsfreiheit im Iran ist "Schriftbesitzer", Christen, Zoroastrier und
nur ein Aspekt der breit angelegten Unter- Juden, werden die Grundfreiheiten, die die
drückung zahlreicher anderer Menschen- Verfassung garantiert, verweigert. Sie
rechte im Iran,16 die nicht nur heimlich ge- werden unterdrückt und manchmal schwer
schieht, sondern ganz offiziell ideologisch verfolgt, z.B. indem ihre Anführer ermor-
Christenverfolgung und Unterdrückung der Religionsfreiheit im Iran 57

det werden. Alle Missionsarbeit – wie sie Islam nicht bekämpft haben (zitiert wird
de facto nur Christen und Bahai praktizie- Sure 60,8), im Einklang mit islamischen
ren – ist streng verboten.22 ethischen Normen der Gerechtigkeit zu
respektieren, falls sie sich nicht konspirativ
"Ein Bericht des US-State Department gegen den Islam oder den Iran betätigen.
über Menschenrechte aus dem Jahr 2000 Da mag man Artikel 23 nicht mehr glau-
beschrieb die Zustände im Iran als ben, nachdem niemand verhaftet oder be-
'schlecht'. Religiöse Minderheiten, so wur- straft werden darf, nur weil er einen be-
de darin spezifiziert, erfahren einen 'unter- stimmten Glauben hat. Es ist sogar
schiedlichen Grad von offiziell sanktio- angeblich "die Untersuchung, welchen
nierter Diskriminierung, besonders auf Glauben ein Mensch hat, verboten", die die
dem Gebiet der Arbeit, Erziehung und des ganze Verfassung sonst voraussetzt.
Wohnens.' Überdies 'leiden sie unter Dis-
kriminierung im System der Gesetzgebung, Die UN-Kommission für Menschenrechte
bekommen geringere Entschädigung bei setzte 1984 einen speziellen Berichterstat-
Prozessen im Zusammenhang von Körper- ter für den Iran ein, dessen Mandat seitdem
verletzungen oder Tötung und sie setzen jährlich verlängert wird. Als Khomeini
sich der Gefahr aus, eine härtere Strafe als 1989 starb, gab es Hoffnung auf Besse-
Muslime zu bekommen'."23 rung, die aber schnell zunichte wurde.25
Aus den Berichten der UN-Berichterstatter
Artikel 1 der iranischen Verfassung24 1980 für Menschenrechte im Iran seit 1990 bis
(geändert 1989) legt fest, dass der Iran eine in die Gegenwart ergibt sich, dass sich die
"Islamische Republik" ist. Artikel 2 be- Lage eher noch verschlimmert hat. Im
schreibt ausführlich, welche Rolle der September 1994 verurteilte die UN-
Glaube an den einen Gott und an seine Of- Unterkommission zum Schutz der Minder-
fenbarung für das Rechtssystem spielt. Die heiten den Iran wegen der zunehmenden
Gesetze werden aus Koran und Sunna ent- Verfolgung der Christen, insbesondere
nommen, religiöse Führer wachen sowohl durch fortwährende Morde an ihren Füh-
über die Gesetze als auch über deren An- rern.26 Im März 1995 verurteilte die Kom-
wendung. Zwar ist von der Würde und mission deswegen aufgrund eines verhee-
Freiheit des Menschen die Rede (Art 2, renden Berichtes des scheidenden
Absatz 6), die aber nur zusammen mit sei- Berichterstatters den Iran in einer eigenen
ner Verantwortung vor Gott gelten, wes- Resolution,27 die sich auch speziell gegen
wegen er sich der Führung heiliger Männer die Unterdrückung der religiösen Minder-
anvertrauen muss. Nach Artikel 4 müssen heiten wandte, die der Berichterstatter im
restlos alle Gesetze und Verwaltungsvor- Detail aufgezeigt hatte. (Zum Ende der
schriften "auf islamischen Kriterien ge- Menschenrechtskommission der UN – zu-
gründet" sein. Darüber wacht der "Wäch- letzt unter Vorsitz des Sudan – und ihrer
terrat". Nach Artikel 11 ist es Aufgabe der 2006 erfolgten Auflösung und Ersetzung
Regierung, dafür Sorge zu tragen, die Ein- durch einen Menschenrechtsrat der UN, in
heit der islamischen Welt zu fördern, da dem 47 von der Generalversammlung ge-
alle Muslime weltweit eine große Nation wählte Länder Stimmrecht haben, gab und
bilden. Nach Artikel 19 und 20 haben alle gibt es kaum noch sinnvolle Verurteilun-
Menschen gleiche Rechte und genießen gen und Berichte zur Menschenrechtslage
den gleichen Schutz des Gesetzes, aber nur in nichtwestlichen Länden. In einer am 19.
"in Übereinstimmung mit islamischen Dezember 2006 mit 72 zu 50 Stimmen bei
Kriterien". Nach Artikel 14 sind die Men- 55 Enthaltungen angenommenen Resolu-
schenrechte aller Nichtmuslime, die den tion äußert die Generalversammlung der
58 Thomas Schirrmacher

Vereinten Nationen allerdings ihre tiefe nem Tod entstandenen Religionen keine
Besorgnis über die sich stetig verschlech- Existenzberechtigung zuerkannt. Die
ternde Menschenrechtssituation im Iran.) 300.000 Bahai wurden schon vor der isla-
mischen Revolution unterdrückt, 200 ihrer
Der Human Rights Watch World Report Führer in der Revolution getötet. Seit 1993
2002, 2003 und 2007 stellen seit 1994 und ist diese Religion ganz verboten, auch im
erneut seit 2001 eine erhebliche Ver- privaten Bereich. Die Bahai, daran gibt es
schlechterung der Lage der religiösen keinen Zweifel, werden im Iran brutalst
Minderheiten fest.28 unterdrückt, wobei das Ziel ist, sie we-
nigstens völlig aus der Öffentlichkeit ver-
schwinden zu lassen.32 Regelmäßig werden
4. Die religiösen Minderheiten Führer der pazifistischen Bahai in Eilver-
im Einzelnen fahren zum Tode verurteilt.33 Die Bahai
genießen noch nicht einmal in der Verfas-
Die Unterdrückung der Religionsfreiheit sung oder auf dem Papier irgendeinen
bekommen am stärksten die größte religiö- Schutz und gelten trotz ihres monotheisti-
se Minderheit, die Bahai, die nichtorthodo- schen Glaubens nicht als "dhimmi" (mo-
xen, also die katholischen und protestanti- notheistische Schutzbefohlene), denn nach
schen (insbesondere die evangelikalen) Artikel 12 der Verfassung werden nur
Christen, und die wenigen verbliebenen "Christentum, Judentum und Zoroastris-
Juden zu spüren, daneben aber auch isla- mus" akzeptiert. Der Berichterstatter der
mische Gruppen wie die Sufis oder Azeris. Kommission für Menschenrechte der UN
veröffentlichte 1993 eine iranische Regie-
rungsdirektive,34 die detailliert die Maß-
4.1 Juden nahmen gegen die Bahai auflistet, so etwa
die völlige Kontrolle, das Fernhalten von
Die Juden werden als Spione Israels mas- Ausbildung und allen wichtigen Arbeits-
sivst bedroht. "In diesen Verdacht gerieten plätzen, das Unterbinden aller Verbindun-
vor allem Angehörige der jüdischen Be- gen ins Ausland und die Beseitigung der
völkerungsgruppe. Die Mehrzahl der in einflussreichen Führer. Der Iran verleugnet
islamischen Staaten lebenden Juden wan- dieses Dokument selbstverständlich.
derte bereits in den fünfziger und sechziger
Jahren aus, sie wurden vertrieben oder "In seinem letzten Bericht stellt Copithor-
ausgewiesen. Im Iran lebten Ende der sieb- ne35 eine Verschärfung der Einschränkung
ziger Jahre 100.000 Juden, heute sind es der Religionsfreiheit fest. Er macht dies
noch 25.000."29 deutlich an der Verfolgung der Bahai, die
nach wie vor unter andauernden Men-
schenrechtsverletzungen leiden. In diesem
4.2 Bahai Zusammenhang nennt der Bericht insbe-
sondere willkürliche Festnahmen, verwei-
Die Bahai werden, obwohl sie Monotheis- gerten Zugang zu höherer Bildung, Ar-
ten sind (und obwohl sie sehr friedlich, to- beitskündigungen und Berufsverbote. 12
lerant und auf die Einhaltung der Men- Bahai befinden sich auf Grund ihres Glau-
schenrechte ausgerichtet sind)30, nicht als bens weiterhin im Gefängnis, darunter
Dhimmis anerkannt. Ihre Religion wurde auch Behnam Mithaqi und Kayvan Khala-
in der Mitte des 19. Jahrhunderts von Ba- jabadi, die von Copithorne während seines
ha'u'llah in Teheran gegründet.31 Da nach letzten Aufenthalts im Iran besucht worden
orthodoxer islamischer Auffassung Mu- waren und deren Todesurteile nach seinem
hammad der letzte Prophet war, dem Gott Besuch vom Obersten Gerichtshof bestä-
eine Botschaft offenbarte, wird nach sei- tigt wurden. Auch die Todesurteile gegen
Christenverfolgung und Unterdrückung der Religionsfreiheit im Iran 59

Dhabihu'llah Mahrami und Musa Talibi nen sollen sich vollständigen Respekts er-
sind inzwischen bestätigt worden, und freuen." Davon kann in der Realität nur
zwar auf Grund von Anklagen, die unter bedingt die Rede sein. Denn der sunniti-
anderem den Vorwurf der Apostasie ent- sche Islam, dem vor allem Turkvölker,
halten. Mindestens 9 namentlich erwähnte Kurden und Balutschen angehören, wird
Bahai sollen 1996 wegen ihres Glaubens nur halbwegs respektiert. Sunnitische
verhaftet worden sein. Die fortgesetzte Muslime werden selten von höchster Re-
Diskriminierung von Bahai vor Gericht gierungsebene her verfolgt, oft aber von
manifestiert sich beispielsweise in einem örtlichen Religionsführern und Behörden.
Fall, bei dem eine Mutter mit dem Hinweis So gibt es in Teheran keine einzige sunniti-
auf ihre Religionszugehörigkeit vom Erbe sche Moschee. Führende Sunniten haben
ihrer Tochter ausgeschlossen wurde."36 sich immer wieder im Ausland über die
Bekämpfung des sunnitischen Glaubens
Nach den Amnesty-Jahresberichten wur- durch die Regierung beklagt.44
den in einem Jahr 65 Bahai verhaftet und
nur teilweise wieder freigelassen,37 im Jahr Neben den Sunniten haben nach Human
davor 66,38 offensichtlich im Zusammen- Rights Watch die Azeris unter Verfolgung
hang mit neueren staatlichen Anweisun- durch ihre islamischen Glaubensbrüder zu
gen: "Im März äußerte sich der UN- leiden,45 nach Amnesty International (AI)
Berichterstatter über Religions- und Glau- vor allem die Sufis.46 Nach AI wurden im
bensfreiheit besorgt über ein Schreiben Februar 2006 1.000 Angehörige der Sufi-
vom Oktober 2005, in dem verschiedene Gemeinschaft Nematollahi gewaltsam
staatliche Stellen angewiesen worden wa- festgenommen und dabei Hunderte ver-
ren, Angehörige der Bahai-Gemeinschaft letzt, weil sie ihr Gotteshaus nicht räumen
im Iran zu ermitteln ..."39 wollten. Im Mai 2006 wurden 52 Sufis zu
einem Jahr Haft sowie Prügelstrafe verur-
Der Human Rights Watch World Report teilt, als sie die anderen anwaltlich vertre-
2007 zitiert dies Schreiben des Revoluti- ten wollten. Die beteiligten Anwälte er-
onsführers Ayatollah Ali Khomeini.40 Als hielten Berufsverbot. "Mit einer im August
Folge wurden etwa 54 Bahai verhaftet, erlassenen Fatwa wurden die Sufis als reli-
weil sie armen Kindern uneigennützig Le- giöse Gemeinschaft für 'null und nichtig'
sen, Schreiben, Rechnen und Englisch bei- erklärt."47 Selbst schiitische Führer sind
brachten.41 nicht sicher vor Religionsverfolgung. So
berichtet der Human Rights Watch World
Im Jahr 2004 werden mehrere mit der frü- Report 2003, dass der Großayatollah Hos-
hen Bahai-Geschichte im Iran verbundene sain Ali Montazeri, einst designierter
heilige Stätten, darunter das Geburtshaus Nachfolger von Ayatollah Khomeini, we-
des Religionsstifters, zerstört, um die kul- gen abweichender religiöser Auffassungen
turellen Spuren dieser Religion im Iran zu in Qom unter Hausarrest steht und weitere
tilgen.42 ältere schiitische Führer verfolgt werden.48

4.3 Muslime 4.4 Orthodoxe und katholische Christen

Muslime werden ebenfalls aus religiösen Auch wenn den armenischen und assyri-
Gründen verfolgt. In Artikel 12 der Verfas- schen (nestorianischen) Christen genauso
sung heißt es: "Offizielle Religion des Iran wie den Juden und den Zoroastriern je ein
ist der Islam und die Richtung der Ja'fari- Parlamentssitz gewährt werden und sie
Schia', also der sogenannte Zwölfer- aufgrund ihrer jahrhundertelangen Ver-
schia."43 "Andere islamische Denominatio- wurzelung im Iran nicht mit dem Vorwurf
60 Thomas Schirrmacher

zu kämpfen haben, sie stünden mit westli- Anders als für die alteingesessenen ortho-
chen Mächten im Einvernehmen, kann von doxen Kirchen sieht es dagegen mit den –
Religionsfreiheit auch bei ihnen nicht die zum Teil schon Jahrhunderte alten – ka-
Rede sein – noch nicht einmal von der tholischen Gemeinden im Land aus. Am
traditionellen Duldung und Teilautonomie, 10.8.1979 erhielten alle katholischen
wie sie große Teile der islamischen Welt Priester und Ordensleute eine Frist von ei-
jahrhundertelang für orthodoxe Minder- nem Monat zum Verlassen des Landes,
heiten kannte. Über ihre Lage ist je- während Protestanten einschließlich der
doch nur wenig bekannt, da sie traditionell Anglikaner sofort ausreisen mussten. Der
kaum Informationen ins Ausland weiterge- Erzbischof von Teheran wurde ausgewie-
ben. sen.

Die Auswanderung eines Viertels der "Im Juni 1980 wurden behördlicherseits
200.000 Armenier – alles heimatliebende alle katholischen Schulen, die als 'auslän-
Perser – in den letzten 20 Jahren spricht disch' bezeichnet wurden, geschlossen.
aber eine deutliche Sprache, zumal von den Wie Didier Rance bemerkte, habe die anti-
verbliebenen 150.000 jährlich weiter ca. christliche Repression zwei Aspekte: ei-
7% auswandern.49 Insgesamt wandern nach nerseits im Sinne einer Diskriminierung
Erkenntnissen des UN-Berichterstatters ca. und andererseits als Versuch der Assimilie-
15.000 bis 20.000 Christen aller Konfessi- rung, was vor allem durch den Schulunter-
onen pro Jahr aus dem Iran aus.50 Gleich, richt und die Indoktrinierung während des
ob man für 2001 mit der iranischen Regie- Militärdienstes geschieht. Die Islamisie-
rung von 115.000-120.000 Christen oder rung des Schulwesens durchzieht alle As-
mit dem UN-Berichterstatter von 300.000 pekte der Erziehung: Die jungen Christen
Christen im Iran ausgeht,51 dürfte es bald müssen Texte lernen, die geprägt sind von
keine nennenswerte christliche Minderheit islamischer Propaganda und die christliche
mehr im Iran geben. Religion diffamieren und beleidigen."52

Kirchen im Iran und ihre geschätzte Anhängerschaft 200153


Kirchen Gemeinden Mitglieder Anhänger
Armenisch-Apostolisch 63 72.368 110.000
Nestorianer 8 7.692 11.000
Katholiken 17 4.000 7.000
Presbyterianer 9 1.703 3.100
Pfingstgemeinden 12 1.400 3.000
Anglikaner 3 480 1.200
12 andere Kirchen 16 6.000 9.000
Christen insgesamt 128 93.643 144.300

4.5 Protestantische Christen missionarischen Engagements. Nach dem


Bericht der Human rights without
"Die protestantischen Kirchen werden von frontiers hat die Verfolgung der Protestan-
der Regierung mehr angefeindet wegen ten im Laufe der neunziger Jahre zu-
ihrer privilegierten Beziehungen mit den genommen; vier ihrer Führer sind ge-
westlichen Ländern, die am meisten storben unter Umständen, die eine Kom-
mit dem iranischen Regime verfeindet plizenschaft der Regierung nicht aus-
sind, und auch wegen ihres größeren schließen."54
Christenverfolgung und Unterdrückung der Religionsfreiheit im Iran 61

Am schärfsten werden Übertritte vom Is- funden". Sein Nachfolger als Vorsitzender
lam zu den Bahais und den protestantisch- des Protestantischen Kirchenrates, Pastor
evangelikalen Christen überwacht und ver- Tateo's Michaelian, wurde im Juni 1994
folgt. Auf den Abfall vom Islam steht so- ermordet. Der prominente Pastor Moham-
wohl in der Theorie die Todesstrafe als mas Bagher Yusefi, der sich um Dibajs
auch in der Praxis, wobei die Todesstrafe Kinder kümmerte, wurde Ende 1996 in der
sowohl von Gerichten verhängt und im Ge- Nähe seines Hauses erhängt aufgefunden.55
fängnis vollzogen wird als auch von His-
bollahgruppen durch heimliche oder öf- Evangelikale Christen verschwinden häu-
fentliche Ermordung geschieht. Die fig einfach nach ihrer vorübergehenden
Todesstrafe für den Abfall vom Islam fin- Gefangennahme, insbesondere wenn sie
det sich zwar nicht im Gesetz, sondern früher (also oft vor 1979!) einmal Muslime
geht auf eine Verfügung von Ayatollah waren.56 Der "International Religious Free-
Khomeini zurück und gilt als Teil der Sha- dom Report 2001" nennt für den Zeitraum
ria. Aber Verfügungen des Ayatollah und November 1997 bis November 1998 das
die vielen diesbezüglichen Fatwas nam- Verschwinden und Ermorden von 15 bis
hafter islamischer Gelehrter gelten als ei- 23 evangelikalen Leitern.57 Jedes Jahr wer-
gene Rechtsquelle, wie der berühmte Fall den dort neue Beispiele genannt.
Salman Rushdie zeigt, der ja auch vor al-
lem zum Tode verurteilt wurde, weil er in Amnesty meldet im Jahresbericht 2006,
Indien als – säkularisierter und uninteres- dass Hamid Pourmand, der vom Islam zum
sierter, aber eben nomineller – Muslim ge- Christentum konvertiert war, dessen Reli-
boren wurde. Oft wird auch auf ein Gesetz gionswechsel aber von der Armee nicht
von 1996 zurückgegriffen, das die Todes- akzeptiert und eingetragen worden war, zu
strafe für Spionage vorsieht, wobei in der drei Jahren Haft verurteilt wurde, weil er
Praxis alle katholischen und protestanti- das Militär über seine Religionszugehörig-
schen Christen automatisch wegen ihrer keit getäuscht habe.58 Im Jahresbericht
Auslandskontakte der Spionage verdächtig 2007 berichtet AI von der Festnahme der
sind. Tochter und des Schwiegersohnes des oben
erwähnten Medhi Dibaj, der 1994 nach
Die Gemeinschaft der protestantischen neun Jahren Haft wegen Apostasie nach
Kirchen wurde 1994 massiv durch die Er- der Freilassung sofort ermordet worden
mordung ihrer drei wichtigsten gewählten war.59
Vertreter erschüttert. Es begann damit,
dass Pastor Mehdi Dibaj 1984 wegen sei- Der Druck jedweder christlicher Schriften,
nes 45 Jahre zuvor (!) erfolgten Übertritts etwa auch von Termin-Infozetteln inner-
vom Islam zum Christentum zum Tode halb einer Gemeinde, ist untersagt. Die
verurteilt wurde. Als Pastor Haik Hovespi- evangelikalen Gemeinden sind in den Un-
an-Mehr daraufhin eine internationale tergrund gegangen, da sie Mitgliederlisten
Kampagne für Dibaj startete, erreichte er vorlegen sollten60 und neben allen anderen
zwar Anfang 1994 Dibajs Freilassung, ver- Schikanen auch noch gezwungen werden,
schwand aber wenige Tage später selbst, den Gottesdienst in Assyrisch oder Arme-
seiner Familie wurde mitgeteilt, er sei er- nisch abzuhalten – Sprachen, die sie nicht
mordet worden. Im April 1994 erschien in sprechen und verstehen können. Jeder
einer Teheraner Zeitung ein Fatwa Gottesdienst in ihrer Muttersprache Per-
(Rechtsgutachten islamischer Gelehrter, im sisch wird hart geahndet.
Iran verpflichtet dies die Behörden), das
die Tötung Dibajs forderte. Schließlich Die offiziell registrierten evangelikalen
verschwand auch Dibaj Mitte 1994, im Juli Gemeinden dürfen sich nur Sonntags tref-
wurde seine Leiche von der Regierung "ge- fen. Der Pastor muss die Regierung vor ei-
62 Thomas Schirrmacher

ner Mitgliederaufnahme informieren, dann für Konvertiten vom Islam zum Christen-
erhalten die Mitglieder einen speziellen tum (oder auch eine anderen Relgion wie
Ausweis, den sie immer mit sich führen Bahai) unverständlich, dass ehemalige
müssen. Zu Beginn eines Gottesdienstes Muslime als Asylbewerber aus dem Iran in
werden die Ausweise oft durch Religions- Deutschland trotz der überwältigenden
wächter am Eingang oder bisweilen sogar Belege und der Tatsache, dass im Iran
während des Gottesdienstes kontrolliert. nicht nur heimlich, sondern aufgrund von
Iraner und Touristen werden selbst in Te- Verfassung und Rechtssprechung Religi-
heran vom Betreten der Gemeinderäume onswechslern der Tod und alle Arten von
abgehalten.61 Repressalien drohen, vor deutschen Ge-
richten immer noch darum kämpfen müs-
Nach der offiziellen 1980/1981 gegründe- sen, den Asylstatus zu bekommen.66 Wenn
ten Interessenvertretung der iranischen deutsche Gerichte Exiliranern die Bedro-
Christen (einer Art protestantischer Exil- hung mit dem Tod wegen ihrer religiösen
kirchenrat), Iranian Christians International Auffassung als Bahai oder Christen nicht
(ICI),62 nimmt die Christenverfolgung seit abnehmen und offensichtlich noch nicht
dem Jahr 2000 derzeit sogar noch zu.63 Die einmal die offiziellen und eindeutigen Be-
Zahl der Christen selbst nimmt allerdings richte des Berichterstatters der UN ernst
ebenfalls zu (größtenteils aufgrund der nehmen, sondern darauf verweisen, sie
Abwendung von einem im Iran brutal er- könnten im Iran ja ihr religiöses Existenz-
scheinenden und manchen enttäuschenden minimum im Privathaushalt wahrnehmen,
Islam), wobei zugleich sehr viele auswan- für welchen Fall von Christenverfolgung
dern. Nach den Zahlen des ICI gab es 1990 sollte es dann überhaupt Asyl geben?67
weltweit 16.000 protestantische, exilirani- Oder wird hier mit zweierlei Maß gemes-
sche Christen, 1994 36.000 und 1999 sen, weil es ja nur um Religion und Religi-
55.000, die Hälfte davon sind demnach onswechsel geht oder das Konvertitentum
Konvertiten aus dem Islam, die andere pauschal verdächtig wird – nach dem
Hälfte aus anderen religiösen Minderheiten Motto: Warum musste er auch seine Reli-
oder aus christlichen Familien.64 gion wechseln, während es zum hart er-
kämpften Wesen unserer Demokratie ge-
Gelegentlich kommen übrigens auch evan- hört, dass man glücklicherweise das
gelikale Leiter aus dem Westen in die Christentum verlassen und sich jedweder
Mühlen der iranischen Justiz, wenn sie sich anderen Richtung anschließen darf (und
überhaupt ins Land wagen, so etwa ein umgekehrt), ohne dass das bürgerliche
Bürger Südafrikas, Stuart Timm, der 1997 Konsequenzen hat? Auch das häufige Ar-
in seinem Urlaub 26 Tage inhaftiert war gument, dass es im Iran nur eine geringe
und nur auf massiven Druck Südafrikas hin Verfolgungsdichte gibt, ist unverständlich,
entlassen wurde, oder der Schweizer und denn zum einen werden im Iran die meis-
amerikanische Staatsbürger Daniel Bau- ten Fälle ja nicht aufgeklärt und zum ande-
mann, der 1997 inhaftiert wurde und dem ren zeigen die wenigen belegbaren Fälle
ebenso der Kontakt zu seinen Botschaften nur, wie erfolgreich die Verfolgung ist.
verweigert wurde.65 In beiden Fällen wurde
nie Anklage erhoben und keine Begrün- Die merkwürdige Zurückhaltung gegen-
dung gegeben. über nichtislamischen Asylbewerbern aus
dem Iran findet sich auch in anderen Län-
dern. Die presbyterianischen Christen
4.6 Asylanten in Deutschland Mahmoud und Atefeh Erfani und ihre drei
Töchter flohen zum Beispiel am 1.7.1999
Es ist angesichts der offensichtlichen aus dem Iran in die Türkei, nachdem sie
Christenverfolgung im Iran, insbesondere 1998 mehrmals Stunden von der Geheim-
Christenverfolgung und Unterdrückung der Religionsfreiheit im Iran 63

polizei verhört worden waren, viele ihrer 5. Nachwort zum Einsatz der
Bekannten im Ort verhaftet worden waren deutschen Politik gegen
und sie schließlich aus ihrem Haus vertrie- Christenverfolgung
ben wurden. Die Türkei verweigerte ihnen
ebenso den Flüchtlingsstatus wie dreimal Wenigstens drei Viertel aller Verletzungen
der UN-Flüchtlingskommissar. Die weitere von Religionsfreiheit weltweit betreffen
Flucht nach Kanada führte zur Ablehnung Christen. Wenn es an die Ermordung von
des Asylstatus, da es solche Verfolgung im Menschen wegen ihrer Religionszugehö-
Iran nicht gebe. Erst ein langwieriger Pro- rigkeit geht, dürfte der Prozentsatz sogar
zess, der umfangreiches Beweismaterial zu weit über 90% liegen. Dabei wächst das
Tage förderte, ließ Kanada die Familie als Problem. Als der Bundestag 1999 in einer
Asylanten anerkennen.68 aktuelle Stunde auf eine kleine Anfrage der
CDU/CSU-Fraktion über das Thema
Doch Besserung ist Dank der EU in Sicht. Christenverfolgung diskutierte, sagte die
Es ist erfreulich, dass das Verwaltungsge- damalige Bundesregierung, es stimme
richt Stuttgart in seinem Urteil vom nicht, dass die Christenverfolgung zuneh-
1.6.200769 aufgrund der neuen EU-Richt- me, sie sei vielmehr gleichbleibend, außer
linie 2004/83/EG vom 29.4.200470 und in Indien und Indonesien. Das ist sogar
deren unmittelbare Gültigkeit, da sie nicht grundsätzlich richtig, nur dass Indien und
rechtzeitig in deutsches Gesetz umgesetzt Indonesien leider zusammen ein Viertel
wurde, entgegen bisheriger höchstrichterli- der Weltbevölkerung ausmachen und dort
cher Rechtsprechung die Gefährdung bei vor 20 Jahren praktisch nie Christen aus
öffentlicher Religionsausübung (nicht nur Religionsgründen getötet wurden, was dort
bei privater) als Abschiebehindernis sieht heute an der Tagesordnung ist. Wenn die
und damit einen Bescheid des Bundesamts Christenverfolgung in drei Vierteln der Er-
für Migration und Flüchtlinge von 2005 im de gleich bleibt und in einem Viertel der
Falle einer iranischen Konvertitin vom Is- Erde neu hinzukommt, nimmt sie eben zu.
lam zum (methodistischen) Christentum
aufgehoben hat. Das Bundesamt ist jetzt Christenverfolgung ist nicht nur ein Thema
offensichtlich gewillt, dies für die zukünf- für Christen, die sich gemäß ihrer zentralen
tige Praxis aufgrund der EU-Richtlinie zu Glaubensurkunde mit leidenden Glaubens-
berücksichtigen. Bisher – um die Proble- genossen solidarisieren sollen ("Wenn ein
matik an einem konkreten Beispiel zu il- Glied leidet, leiden alle Glieder mit", 1Kor
lustrieren – hätte man nachweisen müssen, 12,26), sondern aller, die sich für Religi-
dass einem Christen Gefahr droht, wenn er onsfreiheit einsetzen wollen. Denn immer
privat in seiner Wohnung seinen Glauben dort, wo derzeit mehr Religionsfreiheit für
ausübt. Es war damit zumutbar, dass nie- Christen erstritten wird, nützt sie allen Re-
mand außerhalb der Wohnung erfährt, dass ligionen und allen Menschen.
man Christ (oder Bahai usw.) ist. Jetzt
reicht es, wenn etwa der Besuch eines Im Windschatten des Einsatzes für ver-
christlichen (oder anderen) Gottesdienstes folgte Christen im Iran und für Konverti-
oder das Alltagsgespräch mit Nachbarn zur ten, die in Deutschland Asyl suchen, setzt
Gefährdung wird. man sich auch für die Religionsfreiheit der
64 Thomas Schirrmacher

grausam verfolgten Bahai in Iran ein, die ren Religionen eingeschaltet, organisiert
weltweit viel weniger bekannt ist und z.B. Gesprächsforen für muslimische Frau-
kaum eine Lobby haben. Wer Indien und en und berichtet regelmäßig über ihr welt-
Indonesien hilft, säkulare Staaten zu blei- weites "Netzwerk für Medien und Parla-
ben und dem Druck der religiösen Natio- mentarier" über Gewalt gegenüber
nalisten nicht nachzugeben, setzt sich da- Anhängern aller Religionen. Ähnliches gilt
mit für alle Anhänger aller Religionen ein. für weltweite Organisationen anderer Kon-
Nur verfügen die Christen für beide Länder fessionen. Eine solche internationale
sowohl im Land als auch international über Kommission ist ja auch stark von betroffe-
die beste Infrastruktur, um die Menschen- nen Christen mit besetzt, die ein sehr star-
rechtslage in diesen Ländern bekannt zu kes Interesse daran haben, dass ihre Länder
machen. an sich und alle ihre Einwohner in Frieden,
Freiheit und Sicherheit leben, nicht nur die
Oft nützt der Einsatz für die Menschen- Christen.
rechte für Christen sogar Angehörigen der
herrschenden Mehrheitsreligion eines Lan- Daneben gibt es für mich einen weiteren
des unmittelbar. Der Einsatz für Konverti- zentralen Grund, warum sich Politiker und
ten vom Islam zum Christentum in Afgha- der Staat, den sie repräsentieren, für ver-
nistan lenkt die weltweite Aufmerksamkeit folgte Christen einsetzen sollten. Christen
auch auf das Los vieler Buddhisten und treten heute von wenigen Ausnahmen ab-
Muslime in diesem Land. Nur der Einsatz gesehen konsequent für die Trennung von
für das schlechte Los der philippinischen Kirche und Staat ein und damit für das
Katholiken in Saudi Arabien lenkt auch staatliche Gewaltmonopol. Sie geben damit
den Blick auf das Leid der philippinischen die Möglichkeit, sich selbst gegen Gewalt
Muslime in Saudi Arabien. und Verfolgung zu schützen, freiwillig aus
der Hand. Das kann aber nur so lange
Die der weltweiten Evangelischen Allianz funktionieren, solange der Staat sie dann
verbundene christliche Rechtsanwaltsver- auch mit seinem Gewaltmonopol gegen
einigung "Advocates International", die andere schützt, die dieses Gewaltmonopol
sich global für verfolgte Anhänger ver- nicht akzeptieren, sondern Gewalt als legi-
schiedener Religionen einsetzt, arbeitet times Mittel in religiösen Auseinanderset-
beispielsweise an vorderster Front in ver- zungen ansehen.
schiedenen Parlamenten für brauchbare
Gesetze zur Religionsfreiheit, die allen Gibt es irgendwo einen Hoffnungsschim-
nutzen. Der evangelikale "Weltweite Ge- mer in Sachen Christenverfolgung und Re-
betstag für verfolgte Christen" jeweils An- ligionsfreiheit? Ja, denn das Thema Chris-
fang November transportiert den Gedanken tenverfolgung wird heute in der Politik
der Religionsfreiheit und des friedlichen ernster genommen denn je. Die CDU/
Zusammenlebens der Religionen in zigtau- CSU-Fraktion hatte bereits 1999 eine erste
sende Ortsgemeinden und die Herzen von Debatte des Bundestages zum Thema her-
Millionen Menschen weltweit. Das Motto beigeführt, sie hat zusammen mit ihrem
des katholischen Märtyrertages am 2. Koalitionspartner SPD dem Bundestag
Weihnachtstag bestätigt dasselbe: "Aber eine neue Resolution vorgelegt, dass sich
auch der aktive Einsatz für die weltweite die deutsche Außenpolitik auch besonders
Verwirklichung der Religionsfreiheit ist für den Schutz religiös Verfolgter einzu-
Glaubenspflicht." setzen hat, die mit großer Mehrheit ange-
nommen wurde. Deutschland übernimmt
Die Kommission für Religionsfreiheit der immer häufiger die Rolle, die einst die
"Weltweiten Allianz" hat sich mehrfach USA innehatte, nämlich am lautesten Ver-
auch in Friedensgespräche zwischen ande- letzung von Religionsfreiheit auch mächti-
Christenverfolgung und Unterdrückung der Religionsfreiheit im Iran 65

gen Staaten gegenüber anzuprangern, wie Doch keine Religionsgemeinschaft setzt


es Bundeskanzlerin Merkel wieder in Chi- sich so für die Freiheiten anderer Religio-
na bewiesen hat. Der zunehmende politi- nen ein wie das Christentum. Christen
sche Einsatz gegen Christenverfolgung wollen keine Religionsfreiheit für sich al-
zeigt Wirkung, denn viele halbdemokrati- lein, sondern für alle Religionen.
sche Staaten registrieren sehr genau, was
über sie gesagt wird, und bemessen daran, Im Einsatz für Religionsfreiheit und Men-
wie weit sie gehen können. Der Einsatz für schenrechte müssen sich deswegen religiö-
verfolgte Christen wird allerdings oft als se und nicht religiöse Menschen weltweit
Benachteiligung anderer Religionen ange- vereinigen. Religionsfreiheit muss für alle
sehen. Menschen gelten und ist unteilbar.

Anmerkungen
*
Eine frühere Fassung auf dem Stand von 2003 In The Lion’s Den. Persecuted Christians and
erschien unter dem Titel Unterdrückung der What the Western Church Can Do About It,
Religionsfreiheit und Christenverfolgung im Nashville 1997; Marshall, Paul A.: Their
Iran, in: Zeitschrift Asiatische Glaubenswelt Blood Cries out. The Untold Story of Persecu-
2004, www.asia-religion.net/Asiatische/Unter tion against Christians in the Modern World,
drueckung.htm Dallas 1997.
3
1
Boyle, Kevin/Sheen, Juliet (Hrsg.): Freedom Siehe die im folgenden Text zitierten drei Be-
for Religion and Belief: A World Report, Lon- richte zur Menschenrechtslage im Iran.
4
don/New York 1997, S.416-426; Marshall, Siehe die im folgenden Text zitierten sechs
Paul A. (Hrsg.): Religious Freedom in the Berichte zur Religionsfreiheit im Iran.
World: A Global Report on Freedom and Per- 5
Nach Barrett, David B. u.a.: World Christian
secution, Nashville 2000. Ich danke für den
Encyclopaedia: A Comparative Survey of
Einblick in die noch nicht erschienene Neu-
Churches and Religions in the Modern World,
auflage von Religious Freedom in the World
Band 1, Oxford 2001, S.379, zum Iran insge-
2007 (im Erscheinen), Lanham 2008; Moreno,
samt S.378-382; Barrett folgt vor allem den
Pedro C. (Hrsg.): Handbook on Religious Li-
amtlichen Zahlen. Die aktuellen Updates des
berty around the World, Charlottesville 1996;
Werkes im Internet ergeben keine anderen
The Rutherford Institute’s Handbook on Reli-
Zahlen.
gious Liberty around the World: Iran.
6
http://religiousfreedom.lib. virginia.edu/rihand Davon gehen z.B. Johnstone, Patrick u.a. auf-
/Iran.html; Religious Freedom World Report grund intensiver Recherchen von Einheimi-
der International Coalition for Religious Free- schen aus: Operation World, Carlisle 2005,
dom, Stand des Iranberichts: 2004, unter S.352-355; Er nennt: Muslime 99%, Bahai
www.religiousfreedom.com/wrpt/mideast/iran. 0,5%, Christen 0,33% (Orthodoxe 0,18%),
htm; die für den Iran sehr substanziellen jährli- Nichtreligiöse 0,5%, Hinduisten 0,1, scheint
chen Berichte der Internationalen Kommission aber die Zoroastrier zu den Muslimen zu zäh-
für Religionsfreiheit der US-Regierung "Inter- len. Die aktuellen Updates des Werkes unter
national Religious Freedom Report 2005", www.operationworld.org ergeben keine ande-
www.state.gov/g/drl/rls/irf/2005; "Internatio- ren Zahlen.
nal Religious Freedom Report 2006", 7
Siehe Arjomand, Said A.: The Shadow of God
www.state.gov/g/drl/rls/irf/2006 (dann Iran and the Hidden Imam: Religion, Political Or-
anklicken); Die Religionsfreiheit weltweit, der and Societal Change in Shi’ite Iran from
hrsg. von Kirche in Not, Luzern 2001. the beginning to 1890, Publications of the
2 Center for Middle Eastern Studies 17, Chicago
Backes, Reinhard: Sie werden euch hassen.
Christenverfolgung heute, Augsburg 2005, 1984; Ansari, Sarah F.D. u.a. (Hrsg.): Women,
S.146-153; Jahrbuch für Christenverfolgung Religion and Culture in Iran. London: Royal
heute, zugleich idea-Dokumentation 10/2007, Asiatic Society books, Richmond 2002 (zur
zuletzt Märtyrer 2007, Bonn 2007; Shea, Nina: iranischen Geschichte 1800-2000).
66 Thomas Schirrmacher

8 14
Vgl. Akhavi, Shahrough: Iran. Implementation Siehe Schirrmacher, Christine: Die schiitische
of an Islamic State, in: Islam in Asia: Religion, Ehe auf Zeit. Die mut’a-Ehe, in: Factum
Politics and Society, hrsg. von John L. Espo- 11+12/1995, S.10-11; International Religious
sito, New York 1987, S. 27-52. Freedom Report 2001,
9
Siehe dazu aus neuerer Zeit Keil, Tobias: http://www.state.gov/documents/organization/
Menschenrechtsverletzungen in Iran und Su- 9001.pdf, S.429f.
15
dan, Marburg 2006; Grimond, John: God’s Die beste akademische Darstellung ist derzeit
Rule or Man’s? A Survey of Iran, London Afshari, Reza: Human Rights in Iran, Phila-
2003; Kar, Mehrangis: Schari’a Law in Iran, delphia 2001.
in: Radical Islam’s Rules. The Worldwide 16
Siehe besonders Ebady, Shirin (=Ibadi, Sirin):
Spread of Extreme Shari’a Law, hrsg. von Paul History and Documentation of Human Rights
Marshall, Lanham 2005, S.41-64 (aus dem in Iran, Persian Studies Series 18, New York
Persischen übersetzt); Khamehi, Behzad: Die 2000 (aus dem Persischen übersetzt); sowie
schiitischen doktrinären Grundlagen der Isla- die jährlichen Berichte führender Menschen-
mischen Republik Iran, Politica 4, Münster rechtsorganisationen, z.B. Amnesty Internatio-
2002; Mir ali Asghar, Montazam: Islám and nal Jahresbericht 2006, Frankfurt 2006, S.212-
Mulláhcracy in Irán, London 2002; Hooglund, 216; Amnesty International Jahresbericht
Eric (Hrsg.): Twenty Years of Islamic Revolu- 2007, Frankfurt 2007, S.189-194 (unter
tion. Political and Social Transition in Iran www.amnesty.org finden sich viele weitere
Since 1979, Syracus 2002; Menashri, David: Berichte zum Iran); Human Rights Watch
Post-revolutionary Politics in Iran. Religion, World Report 2006, New York 2006; Human
Society and Power, London 2001; Nikpey, Rights Watch World Report 2007, New York
Amir: Politique et religion en Iran contempo- 2007, Auszug zum Iran unter http://hrw.org/
rain. Naissance d’une institution, Paris 2001. englishwr2k7/docs/2007/01/11/iran14703.htm;
10 ältere Berichte zum Iran auch unter www.hrw.
Siehe Esposito, John L. (Hrsg.): The Iranian
Revolution. Its Global Impact, Miami 1990; org/reports/1997/iran/Iran-05.htm, World Re-
Menashri, David (Hrsg.): The Iranian Revolu- port 1997 und www.humanrightswatch.org/
tion and the Muslim World, Boulder 1990. wr2k3/mideast3.html, World Report 2003; Be-
11 richt der US-Kommission für Menschenrechte
Belege in U.S. Department of State: Country der US-Regierung: Country Reports on Human
Reports on Human Rights Practices for 1994, Rights Practices – 2007, Iran, www.state.gov/
Washington 1995, S.1076; eine Übersicht über g/drl/rls/hrrpt/2006/78852.htm (vgl. die Jahr-
die verschiedenen Verfassungsorgane des Iran gänge davor); die Berichte der Internationalen
und ihr Verhältnis zueinander bietet Keil: Gesellschaft für Menschenrechte siehe unter
Menschenrechtsverletzungen, S.25-32; eine www.igfm.de, dann Iran in Suche eingeben.
ausgezeichnete Darstellung der divergierenden 17
Parteirichtungen unter den islamischen Geist- Siehe Keil: Menschenrechtsverletzungen; Kar:
lichen liefert ebd., S.32-40. Schari’a Law in Iran; Afshari: Human Rights
12
in Iran; Karabell, Zachary: Iran and Human
Belege z.B. bei Schirazi, Asghar: Islamische Rights, in: Human Rights and Comparative
Republik – von der Gottesherrschaft zur Herr- Foreign Policy, hrsg. von David P. Forsythe,
schaft der Geistlichkeit: Die Transformation Tokio 2000, S.206-233; Strong, S.I.: Law and
des politischen Systems, in: SOWI 2/2005, Religion in Israel and Iran. How the Integra-
S.24-36 (vgl. das ganze Heft zum Iran); tion of Secular and Spiritual Law Affects Hu-
Colplet, Sylvain: Iran und die islamische De- man Rights and the Potenzial for Violence,
mokratie, www.dreigliederung.de/news/01080 Michigan Journal of International Law
800.html; Grimond, John: God’s Rule or 19/1997, S.109-217.
Man’s? A Survey of Iran, London 2003; eine 18
gute Darstellung der divergierenden Partei- Colplet: Iran und die islamische Demokratie,
richtungen unter den islamischen Geistlichen www.dreigliederung.de/news/01080800.html
19
liefert Keil: Menschenrechtsverletzungen, International Religious Freedom Report 2002,
S.40-52. www.state.gov/g/drl/rls/irf/2002, Iran, S.2.
13 20
International Religious Freedom Report 2001, Vgl. zur Definition und grundsätzlichen Be-
http://www.state.gov/documents/organization/ deutung der Religionsfreiheit als Menschen-
9001.pdf, S.429f., zu weiteren Ehe und Sexua- recht in Kürze Schirrmacher, Thomas: Glau-
lität betreffenden Gesetzen und ihre Belege ben ist ein Menschenrecht, Amnesty
siehe die detaillierte Liste in Kar: Schari’a International-Journal 8/2000, S.6-9; sowie aus-
Law in Iran, S.57. führlich Ahdar, Rex/Leigh, Ian: Religious
Christenverfolgung und Unterdrückung der Religionsfreiheit im Iran 67

Freedom in the Liberal State, Oxford 2005; Report 2003, New York 2003, Bericht Iran;
Taylor, Paul M.: Freedom of Religion. UN and siehe zur fehlenden Religionsfreiheit beson-
European Human Rights Law and Practice, ders Human Rights Watch World Report 2007,
Cambridge 2005; Ferrari, Silvio: Die Religi- New York 2007, Auszug unter http://
onsfreiheit im Zentrum der Globalisierung und hrw.org/englishwr2k7/docs/2007/01/11/iran14
der Postmoderne. Das Problem der Prosely- 703.htm, wo vor allem Evangelikale, Bahai
tenmacherei, in: Gewissen und Freiheit und Sufis als Opfer genannt werden.
56/2001, S.130-150; Cookson, Catharine 29
Menashri: Juden im Iran; Die Zahlen stimmen
(Hrsg.): Encyclopedia of Religious Freedom, mit den oben genannten religionsstatistischen
New York 2003; Witte, John/Vyveer, Johan D. Werken überein. Detaillierte Fälle werden aus-
van der (Hrsg.): Religious Human Rights in führlich vom International Religious Freedom
Global Perspectives: Religious Perspectives, Report 2006 der US-Regierung aufgelistet.
The Hague 1996; Vyveer, Johan D. van 30
der/Witte, John (Hrsg.): Religious Human Kazemzadeh, Firuz: A Bahá’í Perspectives on
Rights in Global Perspectives: Legal Perspec- Tolernace, Human Rights and Missions, in:
tives, The Hague 1996 und Guntau, Burkhard: Sharing the Book. Religious Perspectives on
Möglichkeit und Grenzen der Religionsfrei- the Rights and Wrongs of Proselytism, hrsg.
heit, in: Materialdienst der EZW 9/2007, von John Witte und Richard C. Martin, Religi-
S.325-336. on and Human Rights Series, Maryknoll 1999,
21 S.320-334.
Die Frage nach der Differenzierung, inwieweit 31
die islamische Religion selbst Religionsverfol- Vgl. zur Geschichte vor allem Adamson, Hugh
gung hervorbringt und inwiefern sie dazu nur C.: Historical Dictionary of the Bahá’í Faith,
politisch missbraucht wird, ist im Iran kaum Lanham, 2.Aufl., 2007; Hutter, Manfred: Die
gegeben, durchaus aber für viele andere isla- Bahá’í: Geschichte und Lehre einer nachisla-
mische Länder, vgl. dazu Schirrmacher, mischen Weltreligion, Religion in der Gegen-
Christine: Islam – A Religion of Violence or wart 2, Marburg 1994; Bürgel, Johann Chris-
Peace?, in: Christianity and Society 4/2002, toph/Schayani, Isabel: Iran im 19. Jahrhundert
S.12-17; Klingberg, Max/Schirrmacher, Tho- und die Entstehung der Bahai-Religion, in:
mas (Hrsg.): Märtyrer 2001: Christenverfol- Religionswissenschaftliche Texte und Studien
gung vor allem in islamischen Ländern, 8, Hildesheim 1998.
idea-Dokumentation 14/2001, Bonn 2001, 32
Die umfangreicheren Dokumentationen sind
darin besonders Uphoff, Petra: Zur Gleichbe- m.W. alle älteren Datums: Nationaler Geistiger
rechtigung von Ungläubigen im Islam, S.18- Rat der Bahá’í in Deutschland. Die Bahá’i im
27. Iran: Dokumentation der Verfolgung einer re-
22
Siehe Keil: Menschenrechtsverletzungen, ligiösen Minderheit, Hofheim, 4.Aufl., 1985,
S.61-64. zugänglich und etwas aktualisiert unter
23
http://denial.bahai.de/; Religious Persecution
Menashri, David: Juden im Iran, in: Jungle of the Bahá’i in Iran. Hearing, Washington
World No. 8, 12.2.2003, www.nahost-politik. 1984; Aktuell ist vor allem Cole, Juan R.I.:
de/iran/juden.htm, S.7. The Bahá’í Minority and Nationalism in Con-
24
Ich folge dem englischen Text auf der Web- temporary Iran, in: Nationalism and Minority
seite der iranischen Regierung www.gov.ir; Identities in Islamic Societies, hrsg. von Maya
Auszüge aus der Verfassung auch in Uphoff: Shatzmiller, Montreal 2005, S.127-163; vgl.
Zur Gleichberechtigung, S.18-27. aus neuerer Zeit allgemein zur Unterdrückung
der Bahá’í im Iran und weltweit vor allem den
25
So auch Boyle/Sheen: Freedom for Religion deutschen Wikipediaeintrag http://de.wikipe
and Belief, S.421-422. dia.org/wiki/Verfolgung_der_Bahai und Enay-
26
Vgl. U.N. Body Condemns Iran for Attacks on ati, Hale: Die Garantie der individuellen Reli-
Christians, in: News Network International, gionsfreiheit im Völkerrecht unter besonde-
7.9.1994, S.4. rerBerücksichtigung der Bahá’í, Berlin 2002
(Dissertation an der Universität Halle); Auf
27 der deutschen Webseite der Bahá’í ist wenig
Vgl. Lawton, Kim: U.N. Calls on Iran to Im-
aktuelles Material zu finden, auf der internati-
prove Rights Record, in: News Network Inter-
onalen, www.bahai.org; http://question.bahai.
national, 24.3.1995, S.8-10.
org; www.bahai.org/dir/worldwide/persecution
28
Human Rights Watch World Report 2002, recht viel, allerdings auch meist nur bis zum
New York 2002; Human Rights Watch World Stand 1998, z.B. www.bahai.org/article-1-8-3-
68 Thomas Schirrmacher

41
8.html; von 2005 stammt ein Bericht Closed Ebd.
Doors: Irans Feldzug gegen das Recht auf hö- 42
Hutter, Manfred: Die Weltreligionen, Mün-
here Bildung, http://denial.bahai.de/pdf/cd_
chen 2005, S.118.
all.pdf, Stand 2003; Der Nationale Geistige
43
Rat der Bahai in Deutschland. Zur Lage der Vgl. zur Zwölferschia (bzw. der dschafaristi-
Bahai im Iran. Aktuelle Verfolgungen und de- schen Rechtsschule) das Standardwerk von
ren Hintergründe, Mai 2003, www.human Halm, Heinrich: Die Schia, Darmstadt 1988,
rights.ch/home/upload/pdf/030527_bahai_iran. S.34-185, sowie Schirrmacher, Thomas: Lexi-
pdf; aktuellere Berichte erscheinen in den kon des Islam, S.428-549, in: Harenberg Lexi-
schwer zugänglichen englischen Jahrbüchern kon der Religionen, hrsg. von Thomas Schirr-
und Zeitschriften der Bahá’í. Die jeweils aktu- macher u.a., Düsseldorf 2002; Schiiten im
ellste Auflistung von Einzelfällen findet sich Islam – der Iran unter Khomeini – ein Gottes-
im International Religious Freedom Report staat?, in: Factum 3+4/1989, S.116-122; Der
2006 der US-Regierung. Märtyrertod al-Husains – Die schiitische Auf-
33 fassung von der Erlösung durch Leiden, in:
Die Religionsfreiheit in den Ländern mit Factum 5/1997, S.46-49.
überwiegend islamischer Bevölkerung: Bericht 44
1998: Iran, in: Kirche in Not – Italienisches So auch Boyle/Sheen: Freedom for Religion
Referat, www.agonet.it/cristianita/acs/acs_ger and Belief, S.425 und der International Religi-
man/bericht_98/iran.htm, S.3-4, nennt die ous Freedom Report 2002 der US-Regierung,
Namen der jüngst getöteten Führer der Bahai. www.state.gov/g/drl/rls/irf/2002, Iran, S.4-5.
Viele – auch namentliche – Details zum Lei- 45
Human Rights Watch World Report 2007.
den der Bahai nennt der International Religi- 46
ous Freedom Report 2003, www.state.gov/ So vor allem Amnesty International, Jahresbe-
g/drl/rls/irf/2003, dann Region und Iran. richt 2007, S.191-192; Dies wird vom Interna-
34
tional Religious Freedom Report 2006 bestä-
U.S. Department of State: Country Reports on tigt.
Human Rights Practices for 1993, Washington 47
1993, S.1182 und ebd., 1994, S.1081-1083; Amnesty International, Jahresbericht 2007,
The Rutherford Institute’s Handbook on Reli- S.191.
48
gious Liberty around the World: Iran, in: Reli- Human Rights Watch World Report 2003,
giousfreedom.lib.virginia.edu/rihand/iran.html, New York 2003, Bericht Iran, S.5; auch unter
S.3. www.humanrightswatch.org/wr2k3/mideast3.h
35
Der damalige Berichterstatter der UN- tml, S.5; zu Hossain Ali Montazeri finden sich
Kommission für Menschenrechte. viele Berichte im Internet, z.B. http://news.
bbc.co.uk/2/hi/middle_east/2699541.stm.
36
Hashemi, Kazem/Adineh, Javad: Verfolgung 49
Vgl. Boyle/Sheen: Freedom for Religion and
durch den Gottesstaat. Menschen und ihre
Belief, S.423.
Rechte im Iran. Iranische Flüchtlinge in
50
Deutschland, Frankfurt 1998; zitiert nach International Religious Freedom Report 2002,
www.proasyl.de/lit/iran/iran4.htm, S.12. www.state.gov/g/drl/rls/irf/2002, Iran, S.2.
37 51
Amnesty International, Jahresbericht 2007, Ebd.
S.191-192. 52
Die Religionsfreiheit in den Ländern mit
38
Amnesty International, Jahresbericht 2006, überwiegend islamischer Bevölkerung. Bericht
S.214. 1998. Iran, in: Kirche in Not – Italienisches
39
Referat. www.alleanzacattolica.org/acs/acs_
Jahangir, Javad: United Nations. Special Rap- german/bericht_98/iran.htm.
porteur on Freedom of religion or belief con- 53
cerned about treatment of followers of Bahai Schätzungen zum Stand Ende 2001 von
Faith in Iran, hrsg. von Amnesty International, Johnstone: Operation World, S.353, aktuali-
Jahresbericht 2007, S.192, http://www.unh siert nach www.operationworld.org
54
chr.ch/huricane/huricane.nsf/view01/5E72D6B Droits de l'homme sans frontières, 13. März
7B624AABBC125713700572D09?opendocu 1998. Die Religionsfreiheit in den Ländern mit
ment überwiegend islamischer Bevölkerung: Be-
40 richt 1998: Iran, in: Kirche in Not – Italieni-
Human Rights Watch World Report 2007,
http://hrw.org/englishwr2k7/docs/2007/01/11/i sches Referat. www.agonet.it/cristianita/acs/
ran14703.htm acs_german/bericht_98/iran.htm, S.2.
Christenverfolgung und Unterdrückung der Religionsfreiheit im Iran 69

55 63
Diese detaillierten Angaben folgen den Re- So auch aus katholischer Sicht die Religions-
cherchen des Center for Religious Freedom freiheit in den Ländern mit überwiegend isla-
der amerikanischen Menschenrechtsorganisa- mischer Bevölkerung. Bericht 1998. Iran.
tion Freedom House, Washington DC, 64
Vgl. auch die hohe Zahl der Flüchtlinge aus
www.freedomhouse.org/religion/martyrs/iran. dem Iran weltweit aufgeschlüsselt und aktuali-
htm und The Rutherford Institute’s Handbook
siert unter www.farsinet.com
on Religious Liberty around the World: Iran.
65
Religiousfreedom.lib.virginia.edu/rihand/iran. Siehe den detaillierten Bericht mit weiteren
html, S.5; vgl. auch die Angaben in News Beispielen: Western Christians Detained in
Network International Special Report vom Iran, des Exilkirchenrats Iranian Christians
26.7.1994; siehe zu Yusefi auch den detail- International unter www.domini.org/openbook
lierten Bericht Another Iranian Christian Pays /irn70224.htm
the Ultimate Price der persischen Organisation 66
Hashemi/Adineh: Verfolgung durch den Got-
Elam Ministries unter www.domini.org/open tesstaat, Frankfurt 1998; siehe auch im Inter-
book/iran1.htm net www.proasyl.de/lit/iran/iran4.htm, dort im
56 Umfeld auch aktuellere Dokumente.
Die größte Zahl von (16) Einzelbeispielen mit
67
vielen Details aus der Zeit 1997-2001 und Einen Gang durch alle einschlägigen Urteile
fortlaufend aktualisiert liefert m.W. der Iranbe- nimmt vor Robbe, Patrizia: Asylgewährung
richt vom September 2002 von International und Abschiebeschutz für Christen aus islami-
Christian Concern, Washington, http://perse schen Ländern, in: Deutscher Bundestag/
cution.org/humanrights/iran.html Wissenschaftliche Dienste WD3–428/06,
Berlin 2006 (mit 25 Urteilen in Anlage, die
57
International Religious Freedom Report 2001, meisten den Iran betreffend).
http://www.state.gov/documents/organization/ 68
9001.pdf, S.429f. Der Exilkirchenrat Iranian Christians Interna-
tional verfügt über viele solcher Beispiele.
58 Hier ein ICI-Bericht von 2001. Weitere finden
Amnesty International, Jahresbericht 2006,
S.214. sich unter www.iranchristians.org/whoarethey.
shtml und den folgenden Seiten.
59
Amnesty International, Jahresbericht 2007, 69
Aktenzeichen A 11 K 1005/06 – wiedergege-
S.191.
ben unter http://www.asyl.net/Magazin/Docs
60
International Religious Freedom Report 2002, /2007/M-8/10579.pdf; vgl. den ausgezeichne-
www.state.gov/g/drl/rls/irf/2002, Iran, S.2. ten Kommentar der Referentin für Europarecht
im Bundesinnenministerium Laier, Tanja: Ab-
61
Nach Recherchen des International Religious schiebungsverbot in den Iran wegen Konversi-
Freedom Report 2002, www.state.gov/g/drl/ on zum Christentum – Unmittelbare Anwen-
rls/irf/2002, Iran, S.6. dung der Qualifikationsrichtlinie, in: Zeit-
schrift für Ausländerrecht und Ausländerpoli-
62
Iranian Christians International, P.O. Box tik 5+6/2007, S.201-203.
25607, Colorado Springs, CO 80936, USA. 70
www.iranchristians.org. Eine Auflistung der Amtsblatt der europäischen Union vom
30.9.2004 unter http://europa.eu.int/eur-lex/
iranischen Exilgemeinden weltweit mit Adres-
sen findet sich unter www.farsient.com/icc pri/de/oj/dat/2004/l_304/l_30420040930de00
120023.pdf
Christliche Palästinenser
Matthias Drobinski

Eine dreiviertel Stunde Autofahrt vom See chen oft die Drecksarbeit in den Palästi-
Genezareth ins galiläische Hügelland hin- nensergebieten, sie kehren voller Aggres-
ein zieht sich das 20.000-Einwohner- sion heim, und so brennt der Nahost-
Städtchen Mughar den Berg hinauf. Es ist Konflikt auf einmal auch im Norden Isra-
die Gegend um Nazareth, überwiegend von els. Die Christen sind heute dort, wo Jesus
Palästinensern und Arabern mit israeli- einst lebte und lehrte, eine Zwei-Prozent-
scher Staatsbürgerschaft bewohnt; in Mug- Minderheit; zumeist gehören sie unierten
har leben seit Jahrzehnten eine drusische katholischen oder orthodoxen Kirchen an.
Mehrheit und eine christliche Minderheit Im verfahrenen Nahost-Konflikt leben sie
nebeneinander. Und dort sitzt Maher zwischen den Fronten: Für die Muslime
Hbboud, ein Schrank von Mann in schwar- sind sie Angehörige einer Minderheit, die
zem Talar, im Vorraum seiner Kirche. Die zwar toleriert wird, aber nur mindere
Tür ist neu, der Türsturz frisch eingepasst, Rechte besitzt. Für die Juden wiederum
die Schäden des Überfalls sind gerade erst gehören sie zu den unzuverlässigen Ara-
beseitigt. bern, die nicht in der Armee dienen dürfen;
tatsächlich haben die Christen häufig Ver-
Der 47-jährige griechisch-katholische wandte in Jordanien und Libyen, in Ägyp-
Geistliche hält eine dröhnende Anklage- ten oder dem Libanon. Der Dienst in der
rede. "Drei Tage lang haben sie uns atta- Armee aber entscheidet in Israel über Be-
ckiert", ruft er. 3.000 junge Drusen seien rufe, Aufstiege, Karrieren. Studieren kann
gegen die christliche Minderheit vorge- man in Israel erst mit 21 Jahren, nach dem
gangen, hätten mehr als 100 Häuser be- Militärdienst eben. Wer nicht dient, muss
schädigt, einige gar angezündet. "Väter bis dahin irgendwie die Zeit überbrücken –
haben verzweifelt ihre Kinder aus den oder gleich ins Ausland gehen. Gerade die
Fenstern der brennenden Wohnung gewor- gut ausgebildeten der 200.000 Christen
fen, und die Polizei sah dem Mob tatenlos wandern deshalb aus, nach Kanada, Euro-
zu!" Anlass für den Gewaltausbruch war pa, Australien.
ein Gerücht: Ein christlicher Junge hätte
am Computer die Gesichter drusischer Von der Reise der Bischöfe ist leider vor
Mädchen auf nackte Frauenkörper montiert allem der Eklat in Erinnerung geblieben,
und das Machwerk ins Internet gestellt – als einige Bischöfe die Zustände in den
ein Gerücht, das sich als falsch heraus- umzäunten und eingemauerten autonomen
stellte. Und bis heute sei keiner der Ge- Palästinensergebieten heftig kritisierten
walttäter im Gefängnis, sagt Pfarrer und dabei die Wörter Rassismus und sogar
Hbboud. Inzwischen seien viele Christen Ghetto verwendeten. Das Ziel, die christli-
aus dem Ort weggezogen. che Minderheit in Israel und Palästina zu
stärken, geriet dabei in den Hintergrund.
Dies ist eine der vielen entmutigenden Ge- Dabei wurde in der Woche, in der die Bi-
schichten über die Lage der christlichen schöfe durchs Heilige Land pilgerten,
Palästinenser im Heiligen Land – erlebt am deutlich, dass die Christen in Israel und
Rande der Reise der katholischen Bischöfe den Palästinensergebieten diese Unterstüt-
aus Deutschland nach Israel und in die au- zung brauchen. Immer wieder klagten die-
tonomen palästinensischen Gebiete im se Christen über schlechtere Lebensbedin-
Frühjahr 2007. Viele Drusen aus Mughar gungen, darüber, in Israel nicht als gleich-
dienen in der israelischen Armee, sie ma- wertige Bürger anerkannt zu sein. Wie tief
72 Matthias Drobinski

diese Erfahrung sitzt, zeigte sich in der Stadt für das Miteinander von Christen,
Schule der Salvatorianerinnen in Nazareth. Juden und Muslimen eingesetzt; das jetzige
Die Schule ist eine Vorzeige-Einrichtung Stadtoberhaupt ist auch ein Christ, aber er
mit freundlichen Klassenräumen, Compu- lebt von der Gnade der Hamas, die die
tern, mit Internetanschluss, einer Biblio- Wahlen hier gewonnen hat: "Der Konflikt
thek, auch dank der Hilfe des Deutschen stärkt die Fundamentalisten", sagt er.
Vereins vom Heiligen Land. So mancher
Lehrer in Berlin-Kreuzberg dürfte ange- Die Empörung der deutschen Bischöfe ent-
sichts der Ausstattung vor Neid erblassen. stand bei solchen Begegnungen, und vieles
Die Lehrer sind engagiert und gut ausge- von der Kritik war auch inhaltlich berech-
bildet, den Eltern – Christen wie Muslimen tigt, egal, wie falsch die Wortwahl war.
– liegt sehr an der Bildung ihrer Kinder, Allerdings gehört auch zur ganzen Wahr-
wer hier den Abschluss macht, kann Ivrit, heit, dass die Benachteiligung der Christen
das moderne Hebräisch, Arabisch und durch die gegenwärtige israelische Politik
Englisch, hat modernen Projektunterricht bei weitem nicht so dramatisch ist wie die
genossen und gehörte vielleicht einer der Diskriminierung der Christen durch die
israelweit erfolgreichsten Sportteams an. zunehmend radikalen Palästinensergrup-
pen, vor allem im Gaza-Streifen – nur dass
Und trotzdem: Als Israelis und Staatsbür- Besucher des Heiligen Landes und auch
ger des Landes, dessen Pass sie haben, se- Journalisten davon wenig erfahren. Israel
hen sich die Schüler nicht. "Wir sind Ara- ist eine Demokratie mit funktionierender
ber", ist die gängige Antwort der Jugendli- Zivilgesellschaft und kritischen Medien,
chen, die mit den Bischöfen und den mit- Skandale werden hier auch in aller Schärfe
reisenden Journalisten sprechen – islami- skandalisiert. Und zu den bedrückenden
scher Fundamentalist ist mit Sicherheit Erfahrungen der Journalisten gehörten
niemand der Ausgewählten; es sind die auch Gespräche mit arabischen Christen,
besten der Klassen, diejenigen, denen die die heftig die israelische Besatzungspolitik
Zukunft im Land offen stehen könnte. kritisierten und erst beim dritten Nachfas-
Doch auch hier sagt einer der Schüler: "Ich sen zugaben, dass auch muslimische Pa-
will Pilot werden, und weil ich nicht zur lästinenser Christen bedrängen – nur sage
Armee kann, werde ich ins Ausland gehen man so etwas lieber nicht öffentlich. Kar-
müssen. Erst recht ist die Situation in den dinal Karl Lehmann, der Vorsitzende der
autonomen Gebieten dramatisch, die mitt- deutschen Bischofskonferenz, hat das
lerweile durch Mauer, Stacheldraht und Problem bei seinem Treffen mit Palästi-
Zaun vom israelischen Staatsgebiet ge- nenserpräsident Muhammad Abbas in Ra-
trennt sind. Die Krankenschwestern des mallah angesprochen – die Antwort war so
Caritas-Kinderhospitals in Bethlehem er- freundlich wie nichtssagend.
zählen von Kindern, die sterben müssen,
weil ihre Eltern stundenlang in den Grenz- Wie wichtig die kleine Minderheit der
kontrollen festhängen; die Studenten der Christen im heiligen Land sein könnte, hat
christlichen Universität berichten, wie den Bischöfen Avi Primor klar gemacht,
während des Feldzugs gegen die Hisbollah der ehemalige Botschafter Israels in Berlin.
im Libanon Granaten die Decke des Au- Sie könnten Brückenbauer sein zwischen
ditoriums Maximum durchschlugen, wie Israelis und Palästinensern, zwischen Ju-
sie per Internet studieren müssen, wenn die den und Muslimen; sie könnten der nicht-
Straßen wieder einmal von der Armee ab- fundamentalistische Ansprechpartner der
geriegelt sind. Und der ehemalige Bürger- israelischen Politik sein und den dialogbe-
meister von Bethlehem macht keinen Hehl reiten Palästinensern die Furcht vor dem
aus seiner Bitterkeit: Ein Leben lang hat er Westen mindern helfen. Die – auch mit der
sich in der einst mehrheitlich christlichen Hilfe aus Europa – überdurchschnittlich
Christliche Palästinenser 73

ausgebildeten christlichen Palästinenser Kinder, egal, ob sie Juden, Christen oder


könnten ein Beispiel sein, dass es nur gut Muslime sind. Der deutsche Botschafter
ist, mit Israel im Frieden zu leben. Und es Harald Kindermann nannte Tabgha "ein
gibt auch Hoffnungen. Auf der Israel-Reise Zeichen der Hoffnung für alle, die gepresst
war sie grau und aus Basalt – der Grund- sind, die teilweise verfolgt werden und die
stein für den Neubau des Benediktiner- unter der Lage im Land am meisten zu lei-
klosters in Tabgha, wo nach der früh- den haben." Und das Pilgerzentrum neben
christlichen Überlieferung das Brotver- dem Kloster bietet in der benediktinischen
mehrungswunder Jesu stattfand. 14 Mön- Tradition allen Platz, die ein Bett suchen
che sollen hier bald leben; seit vielen Jah- und einen Ort für die Seele – als Minder-
ren kümmern sich die Mönche besonders heit, die nicht Partei ist in einem zerrisse-
um behinderte und kriegstraumatisierte nen Land.
Brennpunkt Ägypten
Frank van der Velden

1. Historische Entwicklung und die auch der klassischen Untersuchung


von Betts2 aus den 70er-Jahren zugrunde
1.1 Stichpunkte vom Beginn bis zur liegen. Zur Zeit der Khediven (1863-1912)
Gegenwart und bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhun-
derts ist Ägypten Ziel christlicher und jüdi-
Ägypten war durch die legendäre Mission scher Einwanderer. 250.000 Levantiner
des Evangelisten Markus eines der ersten (griechisch-orthodoxe oder griechisch-
Länder, in denen das Christentum sich katholische Christen), syrische und arme-
ausbreitete, aber auch eines der Länder, in nische Christen sowie ca. 50.000 Juden
denen die verheerenden letzten Christen- werden auf ihrer Flucht aus der Türkei
verfolgungen des 3. Jahrhunderts durch während des armenischen Genozids (1895-
Kaiser Diokletian besonders schlimm wü- 1915), während des griechisch-türkischen
teten, mit dessen Amtsantritt im Jahr 284 Kriegs (1921-1923) und in den Wirren der
die koptische Kirche Ägyptens sogar ihren Errichtung des kemalistischen Staates auf
Kalender neu beginnen lässt. Die konstan- Dauer in Ägypten sesshaft. Die Khediven,
tinische Wende brachte Ägypten nur für die eine pro-europäische Öffnung des Lan-
etwa 100 Jahre Ruhe, bis die koptisch- des planen und dazu über genügend Geld
orthodoxe Kirche, der heute 90% der aus den Einnahmen der Suez-Kanal-
ägyptischen Christen angehören, nach dem Gesellschaft verfügen, siedeln sie im Rah-
Konzil von Chalcedon (451) in einen über- men der europäisierenden Stadterweiterun-
aus harten, zweihundert Jahre langen Kon- gen hauptsächlich in Kairo und Alexan-
flikt mit der byzantinischen Reichskirche drien an. 1940, auf dem Höhepunkt dieser
geriet. Die heidnische römische Christen- Entwicklung, liegt der christliche Bevölke-
verfolgung wurde aus ägyptischer Sicht rungsanteil beider Großstädte zwischen
durch eine christliche Kirchenverfolgung 16% und 18% – mehrheitlich nicht-
abgelöst, so dass in Ägypten wie in vielen koptische christliche Einwanderer.3 Ab
anderen christlichen Regionen des östli- 1952 folgt auf die Nasser-Revolution eine
chen Mittelmeerraumes die arabisch- Phase der Verstaatlichung privaten Eigen-
islamische Eroberung (641) als Befreiung tums, die zwei Drittel der nicht-koptischen
vom jahrhundertelangen religiösen Joch Christen sowie viele reiche Kopten (und
der oströmischen Kaiser und der byzantini- Muslime) und fast alle Juden in die Emi-
schen Orthodoxie verstanden wurde. Gera- gration drängt. 1960 liegt der offiziell an-
de nach der arabischen Eroberung beginnt gegebene Anteil der Christen an der Ge-
eine Blütezeit koptischer Theologie und samtbevölkerung wieder bei 7,33% (1940
Literatur, und die Islamisierung weiter bei 8,0%). Neuere und neueste Zahlen sind
Teile der Bevölkerung war kein abrupter, dagegen nur schwer zu überprüfen. Offi-
erzwungener Religionswechsel im 7. Jh.,1 zielle Angaben erfolgen meist durch Hoch-
sondern das Ergebnis schleichender Erosi- rechnung der Zahlen von 1940 und 1960
on und religiöser Diskriminierung, insbe- anhand der allgemeinen Bevölkerungsent-
sondere während und ab der Fatimidenzeit wicklung (demnach ca. 4,5 Mio. Christen
des 10. und 11. Jahrhunderts. insgesamt)4, Eigenangaben der koptischen
Kirche liegen wesentlich höher (zwischen
Ende des 19. Jahrhunderts erreicht der 10 und 12 Mio. Kopten). Unklar ist häufig,
christliche Bevölkerungsanteil die "traditi- ob die starke Diaspora in den USA, Kana-
onellen 7%" der Gesamtbevölkerung, die da, Australien und Europa mitgezählt wird
im Zensus von 1940 und 1960 erscheinen oder nicht.
76 Frank van der Velden

Im 19. Jahrhundert spaltete ein Schisma ander stehen. Das koptische Weihnachts-
einen kleineren Teil der koptischen Kirche fest am 7. Januar wurde im Jahre 2003 zum
ab, der sich mit der römisch-katholischen staatlichen Feiertag erklärt. Seit etlichen
Kirche unierte. Die heutige koptisch- Jahren gibt es eine Direkt-Übertragung der
katholische Kirche hat nach eigenen Anga- koptischen Oster- und Weihnachtsgottes-
ben ca. 200.000 Gläubige.5 Missionarische dienste im staatlichen ägyptischen Fernse-
Aktivitäten im 19. Jahrhundert führten hen. Das Tourismusministerium rief im
weiterhin dazu, dass ein Teil der Kopten Heiligen Jahr 2000 zur Pilgerfahrt ins
zum Protestantismus konvertierte. Heute christliche Ägypten auf, in dem nach der
umfasst die ägyptisch-presbyterianische koptischen Tradition die Heilige Familie
Kirche nach Eigenangaben 150.000 bis auf der Flucht vor König Herodes für eini-
200.000 Gläubige.6 Orthodoxe Griechen, ge Jahre Exil fand.8 Staatliche For-
Armenier, Syrer, Melkiten, Maroniten, schungsinstitute erstellen regelmäßige Re-
Lateiner, Chaldäer etc. zählen zusammen porte zur Lage der Kirchen in Ägypten.9
etwa 100.000 Gläubige in Ägypten. Seit jeher ist koptischer Religionsunterricht
für christliche Schüler an staatlichen und
privaten Schulen in Ägypten Pflichtfach.
1.2 Die koptisch-orthodoxe Kirche Am Sonntag (in Ägypten Arbeitstag) ha-
in Ägypten im Jahre 2007 – ben christliche Angestellte Anrecht auf ei-
eine positive Momentaufnahme nen späteren Arbeitsbeginn, um vor der
Arbeit den Gottesdienst besuchen zu kön-
Wie in Europa sind auch in Ägypten – und nen. Dazu stehen in der 20-Millionen-Stadt
in etlichen weiteren Staaten des christli- Kairo immerhin an die 200 Kirchen offen,
chen Orients – seit Mitte der 90er-Jahre die – anders als in manchen Ländern der
verstärkte Bemühungen zu beobachten, das Region – auch von der Straße aus als sol-
friedliche Zusammenleben der Religionen che zu erkennen sind und, wenn sie dem
positiv in die Öffentlichkeit zu tragen. Ta- westlichen Ritus angehören, auch ihre
gungen zum "interreligiösen Dialog" wer- Glocken läuten lassen. Nach eigenen An-
den in Ägypten sowohl von Regierungs- gaben leben in den zwölf koptischen Män-
seite als auch von der islamischen al- nerklöstern10 und sechs Frauenklöstern in
Azhar-Universität oder vom koptisch- Ägypten ca. 1.000 Mönche und über 500
orthodoxen Patriarchat organisiert und Nonnen. Kirchen und Gottesdienste sind
gerne über Fernsehen und Presse der Öf- stark besucht, die meisten koptischen Kin-
fentlichkeit präsentiert.7 Fragt man auf die- der und Jugendlichen nehmen an den re-
sen Veranstaltungen in Kairo und Alexan- gelmäßigen Sonntagsschulen11 ihrer Ge-
drien die christlichen ägyptischen Vertreter meinden teil, die mit Kinder- und Jugend-
nach der aktuellen Lage ihrer Kirchen, so gruppen, Sport-, Kultur- und Begegnungs-
zeigt sich eine vordergründig sehr positive veranstaltungen praktisch eine parallele
Entwicklung in den letzten zehn Jahren. In koptische Sozialstruktur für Heranwach-
der offiziellen ägyptischen Kulturpolitik sende aufgebaut haben.
der Regierung Mubarak hat sich eine ge-
wisse political correctness entwickelt, die Da einer der größten ägyptischen
deutlich auf eine stärkere gesellschaftliche Wirtschaftsfaktoren das von Auslands-
Präsenz und mediale Erkennbarkeit des Ägyptern nach Hause geschickte Geld ist,
koptischen Bevölkerungsanteils setzt. Wer spielt auch hier die koptische Migration in
als Tourist heute am neu renovierten Ter- Amerika, Australien und Europa eine nicht
minal 1 des Flughafens in Kairo ankommt, unerhebliche Rolle.12 Allein in Deutschland
erblickt dort ein stilisiertes Wandpanorama betreiben ägyptische Kopten zwei Klöster
einer historischen Ansicht der Stadt, auf und zwölf große Gemeinden.13 In der
dem die Minarette der Moscheen und die Republik Österreich ist die Koptisch-
Kreuze von Kirchen einträchtig nebenein- Orthodoxe Kirche seit dem Jahr 2003 eine
Brennpunkt Ägypten 77

anerkannte Religionsgemeinschaft, die die besonders Personenstandsfragen be-


meisten Kopten besitzen dabei aber ein trifft. Der Staat nimmt direkten Einfluss
stark entwickeltes ägyptisches National- auf die islamische Religionsgemeinschaft.
bewusstsein.14 So erneuerte Papst Shenuda Die Vielzahl der religiösen Stiftungen und
III. nach dem Ausbruch der neueren Aus- Liegenschaften wird durch das Ministeri-
einandersetzungen zwischen Israelis und um des Waqf verwaltet. Hierzu gehört
Palästinensern im September 2000 sein auch die Bestallung und Bezahlung der
Verbot, das koptischen Christen die Wall- Prediger und Imame in den staatlich ge-
fahrt nach Jerusalem untersagt, um Solida- nehmigten Freitagsmoscheen. Gleichzeitig
rität mit den muslimischen Mitbürgern zu wird eine Kontrolle über die Predigtinhalte
zeigen, die ihrerseits nun nicht zur al- während der Freitagsgebete ausgeübt.
Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg von Hierdurch soll die Organisation funda-
Jerusalem pilgern konnten.15 Dieser stark mentalistischer Kreise in kleinen unabhän-
nationalkirchliche Charakter führt zu typi- gigen Nachbarschaftsmoscheen verhindert
schen Formulierungen, wie: "Wir sind werden.19
Ägypter, Ägypter, Ägypter, und dann erst
Kopten." Der Eingeweihte weiß dabei, Ein am 4. Mai 2003 auf Initiative von
dass selbst das koptische/arabische Wort Staatspräsident Mubarak persönlich dem
al-Qibti (Kopte) auf das griechische ägyptischen Parlament vorgelegter Bericht
Αίγυπτος (Ägypten) zurückgeführt wird.16 beschreibt die Bedeutung des religiösen
Insofern der Bestand der koptischen Kirche Diskurses für die Nation. Die "Politisie-
in keiner Weise gefährdet ist, ist für rung des Diskurses bedeutet in diesem Zu-
Ägypten die Bemerkung des bekannten sammenhang, dass er sich der Staatsräson
Kopten Milad Hannas aus dem Jahre 1997 unterordnet und damit zu einem der In-
zutreffend, nach der die meisten christli- strumente der Regierungspolitik wird. Sei-
chen Minderheiten im Mittleren Osten ne Hauptfunktionen sind erstens die innere
"keine besonderen Aktivitäten entwickeln Homogenisierung angesichts der Heraus-
und sich auch nicht in einer erwähnens- forderungen von Moderne und Globalisie-
werten Notlage befinden."17 rung, zweitens die Mobilisierung zur Un-
terstützung staatlicher Bemühungen um
gesellschaftliche Entwicklung und drittens
2. Neuralgische Punkte die Unterstützung des außenpolitischen
Kulturdialogs, vor allem mit der westli-
2.1 Interreligiöser Dialog zur Abwehr chen Welt… Nach innen müsse der Dis-
von religiösem Extremismus kurs Fanatismus überwinden und den sozi-
in Ägypten alen Frieden im Lande zwischen Muslimen
und Kopten unter dem Dach der nationalen
Ägypten ist mit über 65 Mio. Einwohnern Einheit und Loyalität zum Vaterland för-
einer der bevölkerungsreichsten Staaten dern… Nach außen müsse der Diskurs die
der Region.18 Die Bevölkerung ist zu 90% Notwendigkeit des inter-zivilisatorischen
muslimisch, und zwar fast ausschließlich Dialogs unterstützen. Er müsse die Ge-
sunnitisch. Die arabische Republik Ägyp- meinsamkeiten von Christen und Musli-
ten ist kein weltanschaulich neutraler Staat. men herausstellen und dabei stärker von
Art. 2 der Verfassung in der Novelle von den gesellschaftlichen Bedingungen der
1981 nennt den Koran als Hauptquelle der westlichen Welt ausgehen."20
Verfassung, wenn auch das Rechtssystem
und das Strafrecht überwiegend säkular Interreligiöser Dialog ist somit auf höchs-
ausgerichtet sind. Islamische Elemente in tem Niveau staatlich verordnet und sichert
der Regierung sind der maglis el-Shūra als der koptischen Kirche eine weitgehend
Beratungsgremium des Präsidenten und die positiv betrachtete Öffentlichkeit. Gerade
Geltung der sogenannten kleinen Sharīa, nach dem 11. September 2001 werden Is-
78 Frank van der Velden

lam und Christentum unter der Führung In diesem Kontext greife ich aus den ver-
der Regierung Mubarak als friedliebende gangenen sieben Jahren vier "major inci-
Religionen,21 vereint im Kampf gegen den dents" recht willkürlich heraus:
internationalen und ägyptischen Terroris-
mus, vorgestellt – ein völlig anderer Para- 1. Am 18. Mai 2007 wurden im Dorf
meter als in der Zeit zwischen 1981 und Behma, 100 km südlich von Kairo,
1985, in der Papst Shenuda III. für drei koptische Familien und Geschäfte an-
Jahre in das Wüstenkloster Anba Bschoi gegriffen, 35 Häuser wurden nieder-
verbannt wurde, weil er sich zu laut über gebrannt. Die Tat soll im Zusammen-
die ersten Übergriffe islamischer Funda- hang mit einem in Behna genehmigten
mentalisten auf koptische Einrichtungen neuen Kirchbau stehen und wurde von
beschwert hatte. Nachbarn und auswärtigen radikali-
sierten Muslimen begangen.

2.2 Menschenrechtsverletzungen 2. Im Oktober 2005 und im Juni 2007


und Zwischenfälle, insbesondere wurden in Alexandrien, der zweit-
in Oberägypten größten Stadt Ägyptens an der Mittel-
meerküste, Ausschreitungen gegen
Ägypten erlebte bereits zwischen 1990 und Kopten gemeldet. Anlass soll die Auf-
1997 zahlreiche Attentate islamistischer führung und Weiterverbreitung (per
Bewegungen gegen die Regierung und ge- CD-ROM) des Theaterstückes einer
gen den anfälligen Tourismus-Sektor und koptischen Laienspieltruppe gewesen
parallel dazu eine Reihe anti-koptischer sein, die in ihrem Stück den Islam und
Ausschreitungen. Beim Staatsbesuch im die Person des Propheten Muhammad
Sudan 1995 schlug ein Attentat gegen Prä- kritisch betrachtete. Die Ausschreitun-
sident Hosni Mubarak in Khartoum fehl. gen sollen von einer auswärtigen radi-
Im September 1997 starben acht deutsche kalisierten Gruppierung organisiert
Touristen bei einem Brandanschlag auf ih- und durchgeführt worden sein.
ren Reisebus vor dem Ägyptischen Muse-
um in Kairo. Im November 1997 kamen 3. Am 10. Februar 2003 berichtete BBC
bei einem Attentat auf westliche Touristen London über Zusammenstöße anläss-
in Luxor 58 Ausländer ums Leben. Dieser lich der Einweihung einer koptischen
Versuch, Ägypten wirtschaftlich und in- Kirche in einem Dorf der Provinz al-
nenpolitisch zu destabilisieren, wurde von Minia. Nach einer Schießerei mit drei
der Regierung Mubarak mit einer stärkeren Verletzten griff das Militär hart durch
Kontrolle der sunnitischen Glaubensge- und nahm 43 Festnahmen vor.
meinschaft, aber auch mit einer allgemei-
nen Erhöhung des repressiven staatlichen 4. Ende Dezember 1999 kamen bei
Potenzials und mit der endlosen Verlänge- mehrtägigen Unruhen im Dorf Kosheh
rung der Notstandsgesetze letztlich im (Provinz Sohag) ca. 20 Angehörige ei-
März 2006 gekontert. Zahlreiche Distrikte nes koptischen Clans ums Leben. Die
in Oberägypten, wo auch die klassischen Täter fanden sich unter einem verfein-
koptischen Siedlungsgebiete liegen, stehen deten muslimischen Clan, der seiner-
seit Jahrzehnten unter Militärrecht. Die seits einen Toten beklagte.
daraus folgende empfindliche Einschrän-
kung der Bürgerrechte betrifft alle Ägyp- Wie sind solche Vorfälle, die übrigens
ter, Sunniten und Kopten gleichermaßen auch in der ägyptischen Presse und politi-
und ist seit jeher einer der großen Kritik- schen Öffentlichkeit entschieden verurteilt
punkte von Menschenrechtsorganisatio- wurden, einzuschätzen? Die Interpretation
nen.22 des Vorfalls von Kosheh im Jahre 1999 als
Brennpunkt Ägypten 79

staatlich geduldete oder gar organisierte die eigene politische Durchsetzungsfähig-


Christenverfolgung wurde pünktlich so- keit in der Mehrheitsgesellschaft. Diese
wohl von Papst Schenuda III.23 als auch Entwicklung ist allerdings nicht nur ein
von hohen muslimischen Autoritäten öf- koptisches Problem, sondern gilt für die
fentlich zurückgewiesen. Vielmehr habe es jahrzehntelange Krise der bürgerlich natio-
sich um eine der in Oberägypten häufig nalen Opposition in Ägypten insgesamt.
spontan ausbrechenden Clan-Fehden ge- Kopten waren führend am Widerstand ge-
handelt, bei denen Clan-Grenzen häufig gen die britischen Kolonialherren, an der
mit Religionsgrenzen übereinstimmen. Revolution von 1919 und an der bürger-
Ähnlich wurde der Vorfall am 10. Februar lich-nationalen Bewegung der wafd-Partei
2003 interpretiert. Darüber hinaus sei das beteiligt, die zwischen 1918 und 1952 die
Zusammenleben von Christen und Musli- politische Geschichte eines selbstständigen
men in Oberägypten gut nachbarlich. Die Ägyptens schrieb. Seitdem diese Parteien
neueren Vorfälle in Behma und Alexan- in der Opposition nur noch eine Nebenrolle
drien sollen dagegen jeweils durch einen spielen, haben die bürgerlichen Kräfte der
lokalen radikalen Freitagsprediger und Opposition, darunter viele Kopten, ihre
auswärtige agents provocateurs gezielt an- politische Heimat verloren. Die neuen po-
gezettelt worden sein. In der öffentlichen litischen Oppositionskräfte stehen auch in
Darstellung handelt es sich dabei um be- Ägypten im islamischen Lager, das bei den
dauerte und zu verurteilende Einzelfälle, letzten Wahlen über unabhängige Kandi-
bei denen die gesellschaftlichen Rege- daten (Mustaqillīn) 88 Mandate errang und
lungssysteme und der staatliche Kontroll- zu dem Kopten als Christen naturgemäß
apparat gegenüber einer fanatisierten Min- keinen Zugang haben. Wenn sich ambitio-
derheit versagten. Was aber sind die Grün- nierte junge Kopten heute also politisch
de für ein solches Versagen der gesell- alternativ organisieren wollen, so können
schaftlichen Regelungssysteme und wie sie dies nur gemeinsam mit der liberalen
wird auf gesellschaftlicher Ebene dagegen außerparlamentarischen Opposition wie
gesteuert? der mittlerweile abgeregelten Kīfāya-
Bewegung tun, wenn sie denn deren Ziele
mittragen, geraten dann aber auch gemein-
2.3 Mangelnde Repräsentation von sam mit ihren sunnitischen Gesinnungsge-
Kopten in der Gesellschaft? nossen in das Visier der beschriebenen
staatlichen Kontrolle. Ob die im Frühjahr
Immer wieder wird die mangelnde Präsenz 2007 neu gebildete Partei der "Demokrati-
koptischer Politiker in Parlament und Re- schen Front" (Gabha dīmōkratīya) an die-
gierung beklagt. So wurde bei den Parla- ser Lage etwas ändern wird, muss sich
mentswahlen im November 2005 kein noch zeigen.
Kopte von der regierenden Nationaldemo-
kratischen Partei (NDP) als Kandidat für Christen gehören heute in Ägypten allen
einen Wahlkreis aufgestellt. Erst im Nach- sozialen Schichten an. Auf dem internatio-
rückverfahren zogen zehn Kopten als di- nalen politischen Parkett ist besonders der
rekt durch Präsident Mubarak bestimmte ägyptische Christ Boutros Boutros-Ghali,
Abgeordnete ins Parlament ein. Regelmä- ehemaliger Generalsekretär der Vereinten
ßig ernennt Mubarak, der im September Nationen, bekannt, aktuell Vorsitzender
2005 für eine fünfte Amtsperiode von des 2003 errichteten Nationalen Rates für
sechs Jahren bestätigt wurde, aus diesen Menschenrechte. Die drei Brüder der be-
koptischen Abgeordneten ein bis zwei Mi- kannten koptischen Familie Sawiris teilen
nister seiner Regierung. Wie häufig in unter sich einen guten Teil der ägyptischen
Ägypten ist es präsidiales Privileg, das die Privatwirtschaft in den Sektoren Mobil-
Partizipation einer Gruppierung am politi- funk, Baugewerbe und Tourismus auf.24 In
schen Geschehen in Ägypten sichert, nicht den höchsten Rängen des ägyptischen Mi-
80 Frank van der Velden

litärs sind dagegen wenig Christen vertre- rechte fordern, werden sie damit konfron-
ten.25 Allerdings spiegeln weder die Armee tiert, dass gerade diese allgemeinen Bür-
noch die entscheidenden Positionen der gerrechte in Ägypten nur eingeschränkt
Zivilgesellschaft die gesellschaftliche Zu- funktionieren. Anders gesagt: Solange der
sammensetzung der ägyptischen Bevölke- Bau von Kirchen per präsidiales Privileg
rung wider. Wer nicht zu den Familienan- möglich ist, ist ein nicht einfacher, aber
gehörigen oder engen Vertrauensleuten gangbarer Sonderweg vorhanden, der von
Mubaraks gehört, wird schwerlich in sol- oberster Stelle abgesichert ist. Wenn der
che Positionen rücken, sei er Sunnit oder Kirchbau im Rahmen der für alle Bürger
Kopte. geltenden Rechtsverwaltung geregelt wird,
in der bereits die Ausstellung eines einfa-
chen Führerscheins zu einem Problem
2.4 Kirchbau in Ägypten und die wird, das nicht auf normalem Dienstweg
Strukturen der ägyptischen zu lösen ist, so wird damit die Notwendig-
Zivilgesellschaft keit guter Beziehungen und gewährter Pri-
vilegien beim Kirchbau nicht abgeschafft,
Eine aufmerksame Betrachtung der oben sondern nur verlagert. Es steht zu vermu-
genannten major incidents ergibt, dass in ten, dass unter dem Strich damit keine
Ägypten offensichtlich Kirchen gebaut Besserung zu erreichen ist.
werden können, sowohl in Dörfern in
Oberägypten als auch unübersehbar im
Stadtbild Kairos und Alexandrias. Für die 2.5 Schleichende Islamisierung und
Errichtung und Renovierung von Kirchen verdeckte Konflikte entlang der
wird altes Privilegrecht aus dem osmani- Religionsgrenzen?
schen millet-System angewandt, nach dem
solche Bauvorhaben vom Präsidenten per- Koptische Ängste richten sich zur Zeit we-
sönlich zu genehmigen sind. Dies ist un- niger gegen staatliche Maßnahmen, da die
zweifelhaft ein rechtlicher Unterschied zur Regierung Mubarak als Garant des Status
Errichtung von Moscheen, aber ein gang- quo gilt, als vielmehr gegen eine Über-
barer Weg, der zu zahlreichen Kirchen- nahme der politischen Macht durch den
neubauten in den vergangenen Jahrzehnten politischen Arm der ägyptischen Muslim-
geführt hat. Die restriktive staatliche Kon- Bruderschaft, sowie gegen eine zunehmend
trolle beschäftigte sich in den vergangenen religiöse, islamische Grundstimmung, die
zehn Jahren dagegen hauptsächlich mit der gegenüber den säkularen Kräften in der
Eindämmung zahlreicher nicht genehmig- ägyptischen Zivilgesellschaft sichtbar an
ter Nachbarschaftsmoscheen (muṣallā) und Boden gewinnt. Handelt es sich dabei um
mit der kontrollierten Errichtung neuer eine sublime christenfeindliche Strömung
staatlicher Moscheen, die per Verordnung in der ägyptischen Mehrheitsbevölke-
einen Mindestabstand zu benachbarten rung?26
christlichen Kirchen einhalten müssen.
Wenn es daher auch deutlich einfacher ist, So halten sich hartnäckig Gerüchte über
in Ägypten Moscheen zu bauen als Kir- einen angeblichen internen Numerus clau-
chen, so ist damit die Frage noch nicht be- sus, der an den Universitäten die Zulassung
antwortet, ob eine verwaltungsrechtliche von koptischen Studierenden an bestimm-
Gleichstellung des Kirchbaus, die übrigens ten Fakultäten einschränke, und wenn sie
aktuell in Ägypten diskutiert wird, das es doch geschafft haben, dann "finden
koptische Anliegen in diesem Punkt wirk- viele der (koptischen) Absolventen (von
lich voranbringt. Überall dort, wo ägypti- Universitäten) zunehmend schwieriger ei-
sche Kopten das präsidiale Privilegsystem nen Arbeitsplatz, weil die Umtriebe der
kritisieren und eine autonome Partizipation Fundamentalisten den Staat zögern lassen,
auf der Grundlage allgemeiner Bürger- Kopten weiter in die Gesellschaft zu inte-
Brennpunkt Ägypten 81

grieren."27 So diffus wie solche Mutma- ten von der Regierung gewünscht, da Prä-
ßungen sind, so schwer ist ihre Richtigkeit sident Mubarak eine gemeinsame Wen-
zu verifizieren. In vielem sind koptische dung der moderaten sunnitischen und kop-
Christen in Ägypten auch schnell bereit, tischen Kräfte gegen den islamischen Ex-
erlittene Benachteiligungen auf ihre religi- tremismus erwartet. Eine nationale Ideolo-
öse Zugehörigkeit zu beziehen. gisierung, die den Begriff "Ägyptisch" mit
sunnitischem Arabertum gleichsetzt, gibt
Richtig ist sicherlich, dass junge Ägypter es in Ägypten gerade heute nicht. Dies
heute einem großen sozialen Konformi- unterscheidet die offizielle Kulturpolitik,
tätsdruck ausgesetzt sind. Gerade auch aber auch das Empfinden der Mehrheitsge-
muslimische Absolventinnen guter Privat- sellschaft signifikant von anderen Staaten
schulen in Kairo beklagen immer wieder, der Region. Allerdings: Wo ägyptische
dass sie an staatlichen Universitäten kaum Kopten das beschriebene präsidiale Privi-
mehr ohne Kopftuch studieren können – legsystem kritisieren und eine autonome
nicht aufgrund einer Anordnung der Uni- Partizipation auf der Grundlage allgemei-
versitätsverwaltung, sondern aufgrund in- ner Bürgerrechte fordern, werden sie ge-
ternen Mobbings unter den Studierenden. nauso wie ägyptische Sunniten damit kon-
Den muslimischen Ägyptern wird die Viel- frontiert, dass gerade diese allgemeinen
falt des Islam in verschiedenen Kulturen Bürgerrechte in Ägypten nur eingeschränkt
und Bekenntnisgruppen nicht bewusst funktionieren.
vermittelt. Der gesellschaftliche common-
sense besagt viel zu häufig, dass der an- Der wachsende Konformitätsdruck inner-
empfohlene Islam konservativer azhariti- halb der islamischen Gesellschaftsschicht
scher Observanz eben DER (einzig mögli- Ägyptens ist zuerst ein Problem für die
che) Islam sei. Diese mangelnde Fähigkeit, säkular ausgerichteten Muslime. Aber nur,
im eigenen Bereich über den Tellerrand zu wer Vielfalt im Eigenen als etwas Positives
schauen und unterschiedliche Ausformun- wahrnimmt, kann der Unterschiedlichkeit
gen des eigenen Glaubens als bereichernd einer anderen Religion sinnvoll begegnen.
zu erfahren, ermutigt natürlich auch nicht Hierin liegt ein Grundproblem für das
sonderlich zur Begegnung mit anderen Re- Verhältnis von Muslimen und Kopten in
ligionen, wie z.B. mit koptischen Christen. Ägypten. Ob darüber hinaus explizit anti-
Es fehlt dabei schlichtweg auch das Wis- christliche Animositäten vorhanden sind,
sen umeinander. Außerhalb des hochrangi- darf nicht als Generalverdacht behauptet
gen Dialogs aus Gründen der Staatsraison werden, sondern ist jeweils am Einzelfall
gibt es an der Basis keine nennenswerte zu überprüfen. Beunruhigend ist aber auch,
ökumenische Begegnung, meist wird diese dass koptische Christen auf diese Situation
aus Angst um den Erhalt des gesellschaft- durch eine zunehmende Parallelgesell-
lichen Status quo von den Religionsfüh- schaftung reagieren, die immer mehr kultu-
rern selber eher skeptisch beäugt als ermu- relle und soziale Bereiche im eigenen
tigt. Milieu behält. Die so geschilderte Ent-
wicklung auf muslimischer und koptischer
Seite in Ägypten verläuft insgesamt quer
3. Zusammenfassung zu dem, was in unseren (deutschen) Brei-
ten an Begegnungsarbeit, Monitoring28
Anders als noch vor 20 Jahren ist eine ak- und Deeskalationsprogrammen empfohlen
tive Rolle der koptischen Kirche in Ägyp- wird.
82 Frank van der Velden

Anmerkungen
1
Vgl. di Branco, Marco: Ägypten. Die sanfte nalen christlichen Konfession, in: Orientali-
Islamisierung, in: Welt und Umwelt der Bibel sche Christen zwischen Repression und Mi-
1/2005, S.26-29. gration, hrsg. von Martin Tamcke, Münster
2 2001, S.201-211.
Betts, Robert Brenton: Christians in the Arab
13
East, Athen 1975, S.59. In Deutschland gibt es in Kröffelbach (Hessen)
3 und in Höxter (Niedersachsen) zwei koptisch-
Zu den statistischen Zahlen hier und im Fol-
orthodoxe Klöster. Bischof Damian ist zwi-
genden vgl. ebd., S.58-64.
schen Hamburg und München Oberhirte über
4
In den Volkszählungen von 1976 und 1986 12 koptisch-orthodoxe Gemeinden. Acht die-
wurden ca. 6% koptische Christen gemeldet, ser Gemeinden und das Kloster in Höxter wur-
dies entspräche heute (2003) einer absoluten den in den letzten zehn Jahren gegründet.
Zahl von knapp 4 Mio. Menschen, zu denen 14
"Über die Kopten ist bekannt, dass sie stolz
noch einige hunderttausend Christen anderer
auf ihre nationale Zugehörigkeit sind … [und]
Konfessionen kämen, vgl. Martin, M.P./
… einen starken Patriotismus haben", Hanna,
Nispen van, C./Sidarouss, F.: Gegenwärtige
Milad: Zwischen Einfluss, Marginalisierung
Entwicklungen in der koptischen Kirche, in:
und Emigration. Die Kopten in Ägypten, in:
Die koptische Kirche, hrsg. von Albert Ger-
Die Zukunft der orientalischen Christen. Eine
hards und Heinzgerd Brakmann, Stuttgart
Debatte im Mittleren Osten, hrsg. von Alexan-
1994, S.105-118, hier S.112.
der Flores, Hamburg 2001, S.68-71, hier S.69.
5
Zu den Zahlen vgl. das Annuaire Catholique 15
Die al-Aqsa-Moschee von Jerusalem zählt
d’Égypte, Frankfurt a.M. 1999ff.
nach Mekka und Medina zu den größten Wall-
6
Geringere Zahlen aus dem Jahr 1990 von ca. fahrtsorten des Islam. Ich beziehe mich hier
50.000 Gläubigen nennen Martin/Nispen auf eine Rede von Papst Shenouda auf der In-
van/Sidarouss: Gegenwärtige Entwicklungen, ternationalen Buchmesse in Kairo, Februar
S.115. 2001, dokumentiert in www.islam-online.net,
7 Stand: 9.2.2001.
Der Grand-Sheikh der al-Azhar-Universität in
16
Kairo, Muhammad M. al-Tantawi, organisierte Die im Westen häufige Herleitung von griech.
im Sommer 1996 und 1997 erste Dialogkonfe- κόπτοι (die Abgespaltenen) geht auf eine
renzen. Das ägyptische Religionsministerium westliche Polemik zur Zeit der Kirchenspal-
ließ 2004 eine große internationale Konferenz tungen des 5. Jhs. zurück und ist unkorrekt.
in Kairo folgen, vgl. The Supreme Council for 17
Hanna: Zwischen Einfluss, Marginalisierung
Islamic Affairs (A.R.E.): Tolerance in the Is-
und Emigration, S.68.
lamic Civilization, 2004. Auch die christlichen
18
Kirchen engagieren sich über den Middle East Flores, Alexander: Ägypten, in: Der Islam in
Council of Churches (MECC) oder über eige- der Gegenwart, hrsg. von Werner Ende und
ne Strukturen entsprechend. Udo Steinbach, München, 4.Aufl., 1996,
8 S.474-486.
Die mediale Berichterstattung zum Besuch von
19
Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 war ent- "In der Außendarstellung ist die Azhar als
sprechend positiv. Aushängeschild des Islam und gleichzeitig in
9 einer informellen Rolle als außenpolitische
Al-Ahram Center for Political Research, Al-
Kulturinstitution des ägyptischen Regimes
ḥāla al-dīnīya, Cairo 2003ff.
bemüht, ein moderates Islambild zu präsentie-
10
Vgl. Glaßner, Gottfried: Erneuerung im Zei- ren." Lübben, Ivesa: Die Angst der Azhar vor
chen der Mönche, in: Die koptische Kirche, der Moderne – Möglichkeiten und Grenzen der
hrsg. von Albert Gerhards und Heinzgerd Modernisierung des religiösen Diskurses in
Brakmann, Stuttgart 1994, S.93-104. Ägypten nach dem 11. September, in: Politi-
11 sche und gesellschaftliche Debatten in Nord-
Vgl. Reiss, Wolfram: Die Erneuerung begann
afrika, Nah- und Mittelost. Inhalte, Träger,
in der Sonntagsschule, in: Die koptische Kir-
Perspektiven, hrsg. von Sigrid Faath, Hamburg
che, hrsg. von Albert Gerhards und Heinzgerd
2004.
Brakmann, Stuttgart 1994, S.84-92.
20
12 Ebd.
Vgl. Reiss, Wolfram: Die Koptisch-Orthodoxe
21
Kirche an der Wende zum 21. Jahrhundert. Zu den theologischen Konzepten vgl. Velden,
Von einer Nationalkirche zu einer internatio- Frank van der: Dialog und Toleranz als apolo-
Brennpunkt Ägypten 83

getische Begriffe bei ägyptischen islamischen Debatte im Mittleren Osten, hrsg. von Alexan-
Theologen seit den 90er-Jahren, CIBEDO- der Flores, Hamburg 2001, S.29-48, hier S.41f.
Beiträge 1/2007, S.4-13. 26
Dieser Meinung ist Sonia Hasan in ihrem en-
22
Die neuere Anschlagserie von Taba gagiert geschriebenen Beitrag: President
(7.10.2004, 30 Tote), Sharm El-Sheikh Mubarak’s Losing Battle against Islamic
(23.7.2005, 60 Tote) und Dahab (24.4.2006, Militancy, in: Christians versus Muslims in
19 Tote und 50 Verletzte) betraf ausschließlich Modern Egypt: the Century-long Struggle for
touristische Urlaubsorte an der Ostküste der Coptic Equality, hrsg. von Sonia Hasan und
Sinai-Halbinsel und besitzt eine deutlich unter- Sana Hasan, Oxford 2003, S.173-182; "Coptic
schiedene Handschrift wahrscheinlich lokaler discourse … is no longer couched in terms of a
islamistischer Gruppierungen. plea for equality. Rather, it asserts the right to
23 be different and to political expression as such
Siehe auch al-Keraza Magazine (Zeitung des … Copts live to this day a kind of ghetto sur-
koptisch-orhtodoxen Patriarchats in Ägypten), rounded by a diffuse, but nonetheless palpable,
21.1.2000. atmosphere of Muslim prejudices", ebd. S.226.
24
Vgl. Gamal und die Gang, in: Der Spiegel 27
Das Zitat steht auf der Homepage von Pro-
18/2007; Das Wunder von Andermatt, in: Der oriente, einer renommierten Institution der rö-
Spiegel 38/2006; Nahost: Tödliche Fehler, in: misch-katholischen Kirche in Österreich, zum
Der Spiegel 50/2005. Dialog mit den orientalischen Kirchen.
25 28
Vgl. Ghadban, Ralph: Gehen die Christen des Vgl. das Monitoring-Projekt "Zivile Konflikt-
Orients ihrem Verschwinden entgegen?, in: beratung und Kriegsprävention" vom Netz-
Die Zukunft der orientalischen Christen. Eine werk Friedenskooperative.
Brennpunkt Sudan
Hansjürg Stückelberger

Mit dem biblischen Bezug "Sie werden teinamerika ein Priester umgebracht wird,
euch hassen …" machte die Hanns-Seidel- weil er soziale Missstände beklagt, oder
Stiftung die Verfolgung von Christen zum wenn ein Pfingstprediger erschossen wird,
Thema einer Tagung. Das ist äußerst un- weil er sich weigert, mit bewaffneten Gue-
gewöhnlich und zugleich hoch aktuell. rillas zusammenzuarbeiten, dann sind bei-
Außergewöhnlich, weil Christenverfolgung de als Märtyrer für ihren Glauben gestor-
von offizieller Seite meist totgeschwiegen ben.
wird. Aktuell, weil in den letzten hundert
Jahren mehr Christen verfolgt und umge- Christenverfolgung ist nicht ferne Vergan-
bracht wurden als in allen früheren Jahr- genheit. "Sie werden euch hassen", das ist
hunderten zusammen. Wir denken an den heute. Der Apostel Paulus schildert im 1.
Völkermord in der Türkei, an Millionen Korintherbrief die Christenheit als den
Opfer des Nationalsozialismus und des Leib Christi. Und alle, die Christus als
Kommunismus, aber auch an katholische Herrn und Kyrios anerkennen, sind Glieder
und evangelische Priester, Prediger, Or- an seinem Leib. Im Kap. 12,26 schreibt er:
densangehörige und Laien, die in Latein- "Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder
amerika von rechten Todesschwadronen mit." Und dann gibt es in Lukas 10,25ff
oder linken Guerillas umgebracht wurden, das Gleichnis vom Barmherzigen Samari-
und an die zahllosen Morde von Christen ter. Wenn wir also Christen sind, dann sind
in islamischen Ländern. wir ganz persönlich herausgefordert zur
Solidarität mit dem verfolgten Teil des
Christian Solidarity International (CSI) ist Leibes Christi. Aber Christenverfolgung ist
eine interkonfessionelle Menschenrechts- auch eine Herausforderung an die Bürger
organisation für Religionsfreiheit und hilft eines Staates, in dessen Grundgesetz der
Glaubensverfolgten, Opfern von Katastro- Satz steht: "Die Würde des Menschen ist
phen und entrechteten Kindern. CSI ist unantastbar." In diesem Satz ist das christ-
1997 vom reformierten Pfarrer Hansjürg liche Menschenbild als Wertorientierung
Stückelberger in Zürich nach Schweige- zusammengefasst. Gerade die europäische
märschen für verfolgte Christen gegründet Geschichte und Gegenwart beweisen, wie
worden und ist heute in zehn Ländern sehr nicht nur Einzelpersonen, sondern
vertreten. Religionsfreiheit gehört gemäß auch Gesellschaften dringend auf Werte-
Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der orientierung angewiesen sind. Verfolgung
Menschenrechte zu den menschlichen von Christen in fremden Ländern fordert
Grundrechten. Sie umfasst das Recht, ei- uns darum auch heraus, die christlichen
nen Glauben zu haben, diesen Glauben zu Werte im eigenen Haus hochzuhalten.
verbreiten und sich diesem Glauben gemäß
zu verhalten. Dieser letzte Teil wird oft
nicht ganz verstanden. Sich dem Glauben 1. Verfolgung und Versklavung von
gemäß zu verhalten bedeutet, dass Christen Christen im Sudan
nicht nur das Recht haben zu predigen und
dabei alle Medien zu benützen. Sie haben Der Sudan ist mit über 2,5 Millionen km²
auch das Recht, Ungerechtigkeiten von (Deutschland: 375.092 km²) das größte
Seiten des Staates oder von anderen gesell- Land Afrikas. Die Bevölkerung wird auf
schaftlichen Kräften anzuprangern und Ge- über 41 Mio. geschätzt. Der Nordsudan mit
rechtigkeit zu fordern. Wenn also in La- der Hauptstadt Khartum ist mehrheitlich
86 Hansjürg Stückelberger

von muslimischen Arabern bewohnt. Im Zehntausenden die Freiheit verschafft.


Südsudan leben etwa 8 Mio. schwarzafri- Schon seit 1992 haben wir auf Bitten des
kanische Christen und Anhänger von Na- New Sudan Council of Churches materielle
turreligionen. Sie bilden keine ethnische Hilfe an die Opfer des Bürgerkrieges im
Einheit, sondern setzen sich zusammen aus Südsudan geleistet. Doch 1995 erfuhren
sehr vielen Ethnien und Sprachen. wir von den Sklavenjagden und entdeckten
Möglichkeiten zum Freikauf. Es begann
Die Verfolgung von Christen im Sudan hat ein Abenteuer, bei dem wir zuerst 25 Ver-
eine jahrhundertealte Tradition. Schon im sklavte freigekauft haben. Später waren es
sechsten Jahrhundert entstanden in Nubien, mehrere Tausend in einer Aktion. Dabei
dessen Zugehörigkeit zum Südsudan heute mussten wir immer wieder unsere Glaub-
umstritten ist, durch byzantinische Missio- würdigkeit beweisen. Denn zunächst hat
nare verschiedene christliche Königreiche. man unsere Berichte über Sklaverei im Su-
Sie wurden aber von muslimischen Ara- dan einfach angezweifelt. Dann hat man
bern durch Einwanderung und Eroberung behauptet, wir würden mit den Freikaufak-
nach und nach vollständig verdrängt. In tionen Anreize schaffen für zusätzliche
den letzten Jahrzehnten wurde die Verfol- Sklavenjagden, oder das Ganze wäre eine
gung der Christen neu ausgelöst durch Prä- betrügerische Veranstaltung, um Spenden-
sident Numeiri, der, inspiriert durch die gelder zu erhalten. Um diese Vorwürfe zu
islamistische Revolution im Iran, im Jahre entkräften, haben wir von Anfang an ver-
1983 im ganzen Sudan die Scharia, das is- schiedene Kontrollen eingeführt. Vor allem
lamische Gesetz, als oberste Quelle der aber wurden fast alle Freikaufaktionen von
Rechtsprechung einführte. Dadurch wurde unabhängigen Medienvertretern – darunter
die Autonomie des von Christen und Ani- waren international angesehene Zeitungen
misten bewohnten Südsudan abgeschafft, wie Le Monde, Newsweek International,
was die Gründung der Rebellenarmee etc. – und von Fernsehstationen aus vielen
SPLA (Sudan People Liberation Army) Ländern und Sprachen beobachtet. Das
unter Dr. John Garang zur Folge hatte. ZDF berichtete zweimal ausführlich; die
Später hat Präsident el Bashir mehrfach entsprechenden Videos dazu sind erhält-
den Djihad (Heiligen Krieg) gegen den lich. Das Resultat war eindeutig: Alle
Südsudan ausgerufen. Im Krieg zwischen Journalisten, die unsere Teams begleiteten,
dem arabisch-muslimischen Nordsudan waren tief bestürzt von der Grausamkeit
und den Ungläubigen, also den schwarzaf- dieses Heiligen Krieges und von den Lei-
rikanischen Christen und Animisten im den der Sklaven und beeindruckt von der
Südsudan, kamen von einer Bevölkerung Integrität unserer Aktionen.
von acht Millionen über zwei Millionen
ums Leben. Vermutlich fünf Millionen
wurden vertrieben. Neben dem Krieg mit 2. Wie gingen Sklavenjagden
den Waffen und künstlich geförderten vor sich?
Hungersnöten waren Sklavenjagden ein
wichtiges Mittel zur Unterwerfung oder Aus den Interviews mit befreiten Sklaven
Vernichtung der Ungläubigen im Süden. In und durch die Berichte über unsere Satel-
meinem Bericht konzentriere ich mich auf litentelefone von lokalen Vertrauensleuten
das, was wir von CSI in diesem Zusam- ergab sich ein klares Bild vom üblichen
menhang erfahren haben, wie wir geholfen Ablauf der Sklavenjagden und vom
haben und was wir daraus lernen können. Schicksal der Versklavten. Die Überfälle
fanden im Gebiet des Bar el Gazal statt, wo
CSI hat über 80.000 versklavte Südsudane- die arabisch-muslimische Bevölkerung des
sen von muslimischen Sklavenhaltern frei- Nordsudan an die schwarzafrikanisch
gekauft und später mit anderen Methoden christlichen und animistischen Stämme des
Brennpunkt Sudan 87

Südsudan grenzt. Betroffen waren vor al- zählt, dass sein Besitzer ihn zwang zuzu-
lem die hochgewachsenen Dinkas. Sie le- schauen, wie er drei andere Sklavenjungen
ben z.T. noch in der Steinzeit. Jeweils im mit einem großen Messer tötete. Das Ziel
Morgengrauen umstellten Hunderte von dieser Behandlungen war klar: Die
Janjaweed, das sind bewaffnete arabische schwarzen Ungläubigen sollten zu willen-
Reiter, ein Rundhüttendorf. Sie begannen losen Sklaven gemacht werden oder Mus-
zu schießen, zündeten an einem Ende des lime werden, Arabisch lernen, ihre Mutter-
Dorfes Rundhütten an, worauf die Bewoh- sprache vergessen und damit ihre Identität
ner in panischer Angst in die andere Rich- aufgeben. CSI hat mit Hunderten von be-
tung flohen, direkt vor die Gewehre der freiten Sklaven Interviews geführt. Wir
Janjaweed. Die meisten Männer wurden begnügen uns mit zwei Berichten, wobei
sofort getötet, Frauen, Mädchen und Kin- ich die Leser mit der Wiedergabe der
der in Umzäunungen eingesammelt. Gele- schlimmsten Brutalitäten verschone:
gentlich wurden Säuglinge, die für den
Marsch in den Norden hinderlich waren, in Aten Akol Muorchiec (35), Mutter von
eine Hütte geworfen, die dann angezündet vier Kindern aus dem Dorf Lietnhom: "Ich
wurde. In der Nacht folgten Massenverge- wurde vor acht Jahren gefangen und in den
waltigungen, um eine Mentalität der Un- Norden entführt. ... Die Araber töteten fast
terwerfung zu erzwingen. Wer sich wehrte, alle Männer auf der Stelle. Mein Mann
wurde erstochen. Am nächsten Tag wurden Kon Deng Diing wurde am Leben gelassen
die Versklavten in Reihen mit Seilen ge- und mit schweren Gegenständen beladen.
bunden und an Pferden oder Kamelen fest- Er fiel wegen der schweren Last immer
gemacht. Dazu mussten sie auf dem Kopfe wieder zu Boden und wurde dafür getreten
ihren eigenen Hausrat als Beute mittragen. und geschlagen. Er richtete sich wieder auf
Wer die Last, die Hitze und den Durst und fiel erneut hin. Die Araber meinten,
nicht aushielt, wurde umgebracht und dass er nur so tat, als ob er nicht mehr lau-
liegengelassen. Nach acht Tagesmärschen fen könnte. Sie schnitten ihm das linke Ohr
nordwärts wurde die menschliche Beute ab. Dann kam einer und stach ihm mit ei-
verkauft oder verteilt. nem Messer in den Bauch. Nach einigen
weiteren Messerstichen starb er. Sie
Für ihre Besitzer mussten die Frauen von schnitten ihm die Hoden ab und warfen ihn
früh bis spät im Haushalt arbeiten, sieben ins Gebüsch. Ich warf mich weinend auf
Tage in der Woche: Wasser holen, kochen, den Körper meines Mannes und wurde von
putzen, waschen, saubermachen etc. Oft einem Araber mit einem Messer angegrif-
erhielten sie nur die Essensreste der Fami- fen. Ein anderer zog mich weg und be-
lie. Viele mussten auch bei Regen im Frei- drohte mich mit einem Bajonett. Da stell-
en schlafen. Ständig gab es Beschimpfun- ten sich andere Araber zwischen die
gen, Schläge, Demütigungen jeder Art, oft Angreifer und mich, was mir das Leben
auch schwere Verletzungen. Fast alle wur- rettete. Mein Besitzer war Abdelrahim
den von den Besitzern missbraucht, gele- Hassan im Dorf Jebel. Ich wurde von meh-
gentlich auch von den heranwachsenden reren Arabern vergewaltigt und habe jetzt
Söhnen. Nicht selten mussten sie eine ein Kind, das vier Jahre alt ist. Auch ein
Zwangsbeschneidung über sich ergehen zweites Kind ist das Resultat der Miss-
lassen. Die Jungen mussten Ziegen, Schafe handlungen, die immer weiter gingen. Ich
und Kühe hüten. Für jedes kleine Vergehen habe es Mumnom (=Verhängnis) genannt.
wurden sie hart bestraft. Viele der Araber Die beiden Kinder, die mir geraubt wur-
hatten mehrere schwarzafrikanische Skla- den, sind in der Sklaverei geblieben. Ich
ven, verboten ihnen aber unter Androhung wurde beschnitten. Die Versuche meines
von schweren Strafen, in ihrer Sprache Besitzers, mich zum Islam zu bekehren,
miteinander zu reden. Ein Junge hat er- fruchteten jedoch nicht, da ich diese Reli-
88 Hansjürg Stückelberger

gion nicht verstehen konnte. Wie könnte 3. Warum gab es Sklavenjagden?


ich die Religion derjenigen annehmen, die
meinen Mann vor meinen Augen ab- Sklaven wurde nicht in erster Linie ge-
schlachteten und seinen Körper verstüm- raubt, um billige Arbeitskräfte für die
melten. Ich bin so glücklich, wieder hier zu Baumwollfelder zu erhalten wie seinerzeit
sein. Ich werde versuchen, mein Leben neu in den USA. Sklavenjagden waren Teil des
aufzubauen." Krieges gegen die Ungläubigen. Denn im
"Heiligen Krieg", dem Djihad, ist es er-
Abraham Wiir Kuon Wiir: Der 24-Jährige laubt, Sklaven zu machen. In einem Brief
war als Kind versklavt worden und erhielt an den UNO Hochkommissar für Men-
von seinem Besitzer den Namen Moham- schenrechte schreibt Sadiq El Mahdi, der
med. Eines Tages begegnete er auf dem frühere Premierminister des Sudan: "Das
Markt im Nordsudan einer kleinen Gruppe traditionelle Konzept des Djihad basiert
von Stammesangehörigen, die sich als auf der Einteilung der Welt in zwei Zonen.
Christen zu erkennen gaben. Trotz eines Die Zone des Friedens, und die andere Zo-
Verbotes seines Besitzers besuchte er ne des Krieges. … Es stimmt, dass das Re-
heimlich die Gottesdienste dieser Christen, gime (von Khartum) kein Gesetz erlassen
bekehrte sich und wurde auf den Namen hat, um die Sklaverei im Sudan einzufüh-
Abraham getauft. Als sein Besitzer ent- ren. Aber das traditionelle Konzept des
deckte, dass er ohne sein Wissen eine Kir- Djihad erlaubt die Sklaverei als ein Ne-
che besuchte, geriet er außer sich vor Wut. benprodukt."1 Die Sklavenjagden waren al-
Er verprügelte ihn und schüttete kochendes so ein wichtiges Mittel, um im Süden eine
Wasser in eines seiner Ohren. Jetzt freut menschenleere Zone für arabische Musli-
Abraham sich über seine Befreiung und me zu schaffen und die versklavten Un-
will Christ bleiben. gläubigen zu islamisieren.

Eine Befragung von 2.849 männlichen und


weiblichen, über 11 Jahre alten Dinka 4. Wie waren Freikäufe möglich?
Sklaven über ihre Erfahrungen in der Skla-
verei ergab folgendes Bild: Nachdem wir uns 1995 von der Tatsache
der Sklaverei überzeugt hatten, fanden wir
− erzwungene Arbeit: 96%, bald Araber, welche mit diesen Verskla-
− häufige Schläge: 97%, vungen nicht einverstanden waren und sich
− rassistische Beleidigungen: 97%, trotz großen, persönlichen Risiken bereit
− erzwungene Bekehrung zum Islam: erklärten, im Norden Sklaven zu kaufen
63%. und in den Süden zu bringen. In heimli-
chen Nachtmärschen begleiteten diese
Von 2.256 weiblichen Befragten bestätig- Muslime die Sklaven in zuvor vereinbarte
ten sexuellen Missbrauch: Regionen im Südsudan. Dort wurden sie
von der lokalen Bevölkerung notdürftig
− Vergewaltigung: 70%, versorgt. CSI-Mitarbeiter flogen an verein-
− Mehrfachvergewaltigung: 63%, barten Tagen von Nordkenia aus mit klei-
− Zwangsbeschneidung: 29%. nen, gemieteten Flugzeugen in diese Ge-
biete, wobei sie so niedrig flogen, dass sie
Von 774 Sklavenjungen bestätigten sexu- vom Khartumer Radar nicht erfasst werden
ellen Missbrauch: 3%. konnten. Unsere südsudanesischen Ver-
Brennpunkt Sudan 89

trauensleute hatten in der Zwischenzeit die knapp die Hälfte der Vertreter der westli-
Namen der Sklaven in Listen eingetragen. chen Staaten sich der Stimme enthielt! CSI
Am vereinbarten Tag versammelten sich kennt die Namen von 80.000 Freigekauf-
die arabischen Händler, die Sklaven und ten. Dazu kommen die mehreren Zehntau-
die Vertrauensleute unter einem riesigen send, denen wir auf anderen Wegen in die
Baum. Das Geld, sudanesische Pfund, bei Freiheit verholfen haben. Lokale Dinka
denen man nicht die Noten, nur die Bündel Stammesführer schätzen die Zahl der im-
zählte, war vorbereitet. Dann wurde kurz mer noch versklavten Südsudanesen auf
mit den Arabern verhandelt und der Preis mindestens einige Zehntausend. Genau
bestätigt: 50.000 sudanesische Pfund für weiß es niemand. Die Regierung von
jeden Sklaven; das entspricht etwa 25 Eu- Khartum verweigert eine unabhängige
ro. An Hand der Liste wurden Namen auf- Untersuchung.
gerufen, um festzustellen, ob die Aufge-
führten auch tatsächlich da waren. Dann
wurden die Geldbündel gezählt und über- 6. Warum gibt es heute im
geben. Dr. John Eibner hielt eine kurze Südsudan keine Sklaven-
Ansprache an die Sklaven, betonte, dass jagden mehr?
viele Menschen für sie gebetet und ge-
spendet hätten und sprach dann die ent- Je mehr Sklavenfreikäufe CSI durchführte,
scheidenden Worte: "Jetzt seid ihr frei", desto weniger Überfälle gab es. Schließ-
was mit lautem Jubeln, Händeklatschen lich, in den Jahren 2003 und 2004, hörten
und Hallelujarufen beantwortet wurde. sie ganz auf. Dafür vermuten wir zwei
Nicht selten konnte dann eine Mutter eines Gründe: Aus unserer Sicht bewog die
ihrer Kinder wieder in die Arme schließen. enorme internationale Publizität die Füh-
Einmal gebar eine Frau auf dem Platz ein rung der SPLA, die von den Überfällen
Kind. betroffenen Regionen besser zu schützen.
Zum Zweiten gelang uns in den USA ein
Durchbruch auf politischer Ebene. Dort ist,
5. Wie viele Versklavte gab anders als in Europa, die Versklavung von
und gibt es? Schwarzen ein Wahlkampfthema. Mit der
Unterstützung von Afroamerikanern und
Das Regime von Khartum hat immer Weißen, Republikanern und Demokraten
bestritten, dass es überhaupt solche Skla- und durch Aktionen von "civil disobedi-
venjagden gebe und hat von Entführungen ence" konnten wir so viel Druck aufbauen,
unter verfeindeten Stämmen geredet. Denn dass die Regierung Bush die beiden
Sklaverei ist gemäß UNO ein Verbrechen Kriegsparteien im Sudan zum Friedens-
gegen die Menschlichkeit und kann zu ei- vertrag vom 8. Januar 2005 drängte, der
ner Klage vor dem Internationalen Ge- dem Südsudan eine gewisse Autonomie
richtshof in Den Haag führen. Der UNO zusicherte.
Sonderbeauftragte für den Sudan, Dr.
Gaspar Biro, hat zwar in seinem offiziellen
Bericht die Sklaverei bestätigt. Aber die 7. Was bringt die Zukunft?
Menschenrechtskommission der UNO hat
sich geweigert, unser Beweismaterial an- Schon während der langen Zeremonie für
zuerkennen. Sie hat im Gegenteil einen die Unterzeichnung des Friedensvertrages
kleinen Formfehler unsererseits dazu be- in einem Sportstadion von Nairobi konnten
nützt, CSI den Beobachterstatus in dieser wir immer wieder Sprechchöre hören:
UNO Menschenrechtskommission abzuer- "Allahu akbar" (Allah ist größer). Gemäß
kennen. Interessant dabei ist, dass der Aus- der Scharia ist ein Friede mit den Ungläu-
schluss nur dadurch möglich wurde, weil bigen nur eine Hudna, d.h. ein Waffenstill-
90 Hansjürg Stückelberger

stand, der einzuhalten ist, bis die Verhält- Ölvorkommen für sich allein auszubeuten.
nisse die Wiederaufnahme des Djihad er- Der arabisch-islamische Norden jedoch hat
lauben. Zwar erhält der Südsudan jetzt sich dieser Region bemächtigt und mit den
Gelder aus den Öleinnahmen des Staates. Einnahmen aus dem Öl den Djihad gegen
Aber wegen der Vielsprachigkeit der süd- die Ungläubigen finanziert. Im Islam sind
sudanesischen Bevölkerung hat sich dort Wirtschaft und Politik untrennbarer Teil
kein südsudanesisches Nationalbewusst- der Religion. Die Inbesitznahme der Öl-
sein entwickelt. Auch mangelt es an Erfah- quellen und die Sklavenjagden sind Teil
rung beim Aufbau einer geordneten Ver- des Djihad.
waltung. Eine neue Destabilisierung oder
auch ein neuer Krieg sind wohl möglich. 2. Auch einer vergleichsweise kleinen
Zudem folgte bald nach dem Friedens- Organisation wie CSI ist es möglich, durch
schluss die Krise im Darfur. Khartum will Konzentration der Kräfte den Gang der
offensichtlich um jeden Preis auch die Geschichte zu beeinflussen. Hochrangige
Autonomiebestrebungen im Darfur unter- Vertreter der südsudanesischen Regierung
drücken, obwohl die dortige Bevölkerung haben bestätigt, dass der Einsatz von CSI
islamisiert ist. Über 200.000 Menschen wesentlich zum Abschluss des Friedensab-
wurden dort umgebracht und viele mehr kommens beigetragen hat. Der Südsudan
vertrieben. Tausende sind aus dem Darfur ist bis heute nicht islamisiert worden.
auch in den Südsudan geflohen, und zwar
gerade in jene Regionen, die unter den 3. Politisch Verantwortliche von westli-
Sklavenjagden am meisten gelitten haben. chen Staaten sind in der Lage, durch ent-
Dort trafen und treffen sie noch auf Zehn- schlossenes Eintreten für Religionsfreiheit
tausende, die vor dem Krieg in den Norden und Menschenrechte die Verfolgung von
geflohen waren und jetzt mit nichts in ihre Christen und anderen Minderheiten zu be-
Heimat zurückkehren, so dass dort die Not hindern oder zu verhindern. Eine glaub-
wieder unvorstellbar ist. CSI hat ein be- würdige Außenpolitik kann das christliche
sonderes Hilfsprogramm für diese Rück- Menschenbild als Werteorientierung nicht
kehrer und die Flüchtlinge aus dem Darfur verleugnen.
gestartet. Ob eine UNO-Friedenstruppe
endlich dauerhaften Frieden bringen kann, 4. In Europa geht eine stille Islamisie-
ist schwer vorstellbar. rung vor sich. Gemäß "Spiegel" schätzt ei-
ne Studie der Universität Tübingen den
Anteil der muslimischen Bevölkerung in
8. Was können wir aus den Deutschland im Jahre 2030 auf 10%. In
Ereignissen im Sudan lernen? Frankreich sind seit 1976 2.000 neue Mo-
scheen gebaut worden. Wir sollten daran
1. Der Bürgerkrieg des Nordsudan gegen denken, dass die Scharia die Welt einteilt
den Südsudan wurde durch den Beschluss in die Zone oder das Haus des Islam und
von Präsident Numeiri zur Einführung der die Zone oder das Haus des Krieges. Euro-
Scharia ausgelöst, und er wurde durch das pa gehört zum Haus des Krieges, das zum
Regime von Khartum nach den Regeln der Haus des Islam gemacht werden muss. Der
Scharia geführt. Ich erinnere an die Be- Djihad ist für jeden Muslim eine Ver-
gründung, welche Sadiq El Mahdi für die pflichtung, auch für Moderate. Die Aner-
Sklavenjagden angegeben hat. Die Herr- kennung einer westlichen Verfassung
schaft über die im Süden liegenden Öl- durch Muslime bedeutet nicht die innere
quellen von Bentiu wird oft als nichtreligi- Aufgabe des Djihad, sondern dessen Ver-
öse, wirtschaftliche Begründung für den schiebung auf später. Djihad heißt nicht
Krieg angeführt. Diese Beurteilung ist nur Terror mit Selbstmordanschlägen. Dji-
falsch. Der Südsudan hat nie versucht, die had heißt auch Ausbreitung des Islam
Brennpunkt Sudan 91

durch Geburtenüberschuss und Migration. Dennoch, trotz aller Bestrebungen, diese


Für viele Muslime gibt es Frieden gemäß Gegend zu islamisieren, wachsen die
Scharia erst, wenn die ganze Welt dem Is- christlichen Kirchen im Südsudan schnel-
lam unterworfen ist. ler als je zuvor.

Anmerkung
1
Zitiert nach einem Referat von Dr. John Eibner vom 5.11.2005 in Oxford.
Religionsfreiheit in der Volksrepublik China
Georg Evers

1. Einleitung giöse Handlungen und Zeremonien vorge-


gangen sind, die über die Maßen hochge-
Knapp ein Jahr vor Beginn der Olympi- spielt werden. Häufig sind es Mitglieder
schen Sommerspiele in Peking steht die christlicher Gemeinden, die sich weigern,
Volksrepublik (VR) China unter besonde- sich bei den staatlichen Aufsichtsbehörden
rer Beobachtung durch die internationalen registrieren zu lassen, die deswegen ver-
Medien, die in ihrer Berichterstattung der haftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt
Situation der Menschenrechte, und hier be- werden. Auch werden ohne Genehmigung
sonders der Religionsfreiheit, einen großen des Staates gebaute Kirchen oder Gebets-
Raum geben. Evangelikale christliche stätten behördlicherseits zerstört. Mitglie-
Gruppen aus den USA, aus Korea und an- der anderer Religionsgemeinschaften, z.B.
deren Ländern haben schon angekündigt, buddhistische Mönche und Nonnen in
dass sie sich im Umfeld der Olympischen Tibet oder Muslime in den westlichen
Spiele in Peking mit einer Reihe von Akti- Außenprovinzen sowie Mitglieder der
vitäten missionarisch in China engagieren Falun-Gong-Bewegung, stehen unter star-
werden. Die chinesischen Behörden rea- ker Überwachung seitens der Sicherheits-
gierten, indem sie nachdrücklich darauf organe des Staates, und ihre Mitglieder
hinwiesen, dass missionarische Tätigkeiten werden häufig verhaftet, zu langjährigen
von ausländischen Personen und Gruppen Gefängnisstrafen verurteilt oder – wie
grundsätzlich nicht geduldet würden. Es ist nicht selten in Fällen der des Terrorismus
also sehr wahrscheinlich, dass das Thema verdächtigen muslimischen Uiguren – auch
"Religionsfreiheit" vor und während der zum Tode verurteilt.
Olympischen Spiele einen großen Raum
einnehmen wird. Der Blick auf die in der VR China staatlich
anerkannten Religionen zeigt, dass in Chi-
Die Berichterstattung ausländischer Me- na die Religionen vielfältige Aktivitäten
dien über die Religionspolitik in der VR entfalten und auch über internationale
China kann leicht den Eindruck vermitteln, Kontakte verfügen. Generell verzeichnen
als ob in China die Religionen immer noch alle Religionen in China ein ständiges
verfolgt und unterdrückt würden. Die Ein- Wachsen. Die statistischen Angaben sei-
seitigkeit, die manche politischen und auch tens der staatlichen Religionsbehörde sind
kirchlichen Stellen im Hinblick auf die re- meist nicht genau und tendieren dahin, die
ligiöse Situation in China an den Tag le- Zahl der Anhänger von Religionsgemein-
gen, wird dann wieder von den Religions- schaften eher herunterzurechnen. Auslän-
behörden und den religiösen Organisatio- dische Stellen mögen die gegenteilige
nen im Lande beklagt, die ihrerseits darauf Tendenz haben, aber es ist doch wohl in-
hinweisen, dass die von der Verfassung ga- zwischen übereinstimmende Meinung un-
rantierte Religionsfreiheit auch tatsächlich ter China-Beobachtern, dass die Zahl der
ausgeübt und praktiziert werden kann. Da- Religionsangehörigen bis zu dreimal höher
bei können sie auf eine Reihe von Fakten liegt, als offiziell angegeben wird. Nach
hinweisen, die durchaus den Anspruch einer Umfrage, die von der Ostchinesi-
rechtfertigen, dass die ausländischen Be- schen Universität in Shanghai unter 4.500
richte auf Übertreibungen beruhen bzw. Personen durchgeführt wurde und deren
auf einigen Einzelfällen, wobei die Behör- Ergebnis auch von "China Daily", der offi-
den gegen nicht offiziell genehmigte reli- ziösen englischen Tageszeitung, im Febru-
94 Georg Evers

ar 2007 veröffentlicht wurde, entfallen auf Das westliche Verständnis von der unan-
die vom Staat anerkannten Religionen tastbaren Würde des Individuums, das von
Buddhismus, Daoismus, katholische und Natur mit Rechten ausgestattet ist, die es
protestantische Kirche und Islam 67% der den Ansprüchen der Allgemeinheit gegen-
religiös Gläubigen, während die eigentlich über verteidigen kann, ist den Chinesen
nicht anerkannten traditionellen chinesi- wegen der ihrer Meinung nach übertrieben
schen Religionen fast ein Drittel der sich autonomen Stellung des Individuums su-
als religiös verstehenden Chinesen ausma- spekt. Die Berufung auf individuelle
chen. Auffallend ist auch, dass der Anteil Rechte im Konflikt mit Anforderungen der
der Altersgruppe der 16-39 Jährigen, die Gemeinschaft erscheint ihnen eher ein
sich als religiös verstehen, mit 62% er- zerstörerisches denn ein befreiendes Ele-
staunlich hoch liegt. ment zu sein. Das Wohl der Allgemeinheit
steht eindeutig über dem Wohl des Einzel-
nen. Kommt es zu Konflikten, hat der Ein-
2. Gibt es einen spezifisch chinesi- zelne sein Recht und seinen Anspruch zu-
schen Zugang zur Problematik rückzustellen und der Allgemeinheit den
der Menschenrechte und der Vorrang zu geben.2
Religionsfreiheit?
Die Vorstellung, dass Menschenrechte
Das Thema "Religionsfreiheit" und ihre transzendent oder naturrechtlich gegeben
tatsächliche oder angebliche Beeinträchti- sind, wird in der VR China abgelehnt und
gung durch staatliche Organe werden of- dagegen betont, dass Menschenrechte sich
fensichtlich höchst unterschiedlich gese- nur schrittweise mit der sozialen und wirt-
hen, je nachdem, ob ausländische, oft schaftlichen Entwicklungen einer Gesell-
christliche kirchliche Stellen die Verlet- schaft verwirklichen lassen und daher im-
zung der Religionsfreiheit beklagen oder mer historisch konkret seien.3 Die wirt-
offizielle Organe der VR China die Ein- schaftlichen, sozialen und kulturellen
haltung dieses Grundrechts beteuern. Sei- Menschenrechte sind nach dieser Argu-
tens der chinesischen Regierung und der mentation genauso hoch anzusiedeln wie
kommunistischen Partei wird immer be- die bürgerlichen und politischen Rechte
tont, dass in der VR China die Menschen- des Individuums. In Antwort auf die häufi-
rechte gelten und seitens der politischen ge Kritik des Westens, dass in China die
Führung "im Rahmen der chinesischen Menschenrechte ungenügend geschützt
Verfassung und der Gesetzgebung" auch würden, verweist die chinesische Führung
respektiert würden. Andererseits hat die auf das Prinzip, dass Menschenrechtsfra-
chinesische Führung mehrfach dargelegt, gen nie als Instrument zur Einmischung in
dass ihrer Auffassung nach das Verständ- die inneren Angelegenheiten eines Staates
nis und der Inhalt der Menschenrechte missbraucht werden dürften.4 Auch wenn
immer auch von kulturellen und gesell- kommunistische Vorstellungen von der
schaftlichen Faktoren abhängen und dem- Gleichheit aller Menschen und der gemein-
entsprechend verschieden seien. Kritisiert samen Verpflichtung und Aufgabe, eine
wird, dass im Westen die individuellen egalitäre sozialistische Gesellschaft aufzu-
Menschenrechte einseitig betont würden, bauen, eine Rolle gespielt haben und teil-
während in der chinesischen Tradition die weise noch spielen, drückt sich in der Re-
Verpflichtungen des Individuums gegen- serve gegenüber individuellen Menschen-
über der Familie, der Gruppe und der Ge- rechten durchaus auch Treue zu alten chi-
sellschaft im Ganzen vorrangig vor seinen nesischen Vorstellungen über die Rolle des
Rechten stünden.1 Einzelnen der Gesellschaft gegenüber aus.5
Religionsfreiheit in der Volksrepublik China 95

3. Kontinuität im chinesischen In dieser ideologischen Kehrtwendung


Religionsverständnis zeigt sich, dass Chinesen nicht umsonst
nachgesagt wird, dass sie pragmatisch
Im modernen China haben die Kommu- denken, wenig Sinn für Philosophie, Meta-
nisten unter Mao Zedong in der VR China physik und schon gar nicht für abstrakte
eine jetzt nicht mehr konfuzianische, son- Theorien haben, sondern vielmehr ganz auf
dern kommunistische Orthodoxie aufzu- Diesseitigkeit ausgerichtet seien. Religio-
bauen versucht, die wie die frühere mit äu- nen in China sind in der langen Geschichte
ßerster Härte gegen alle "Abweichler" vor- des Landes immer daran gemessen wor-
geht. Auch wenn die Ideologie des Mar- den, was sie für das Wohlergehen des Lan-
xismus ursprünglich aus dem Westen ge- des beitragen konnten und welchen Nutzen
kommen ist, so wurde sie durch die eigen- sie schon in dieser Welt ihren Anhängern
willige Interpretation, die ihr Mao Zedong brachten. Für die Religionspolitik des
gab, doch zu einem chinesischen Eigenge- Staates war, ungeachtet des Wandels der
wächs – eben zum "Sozialismus mit chine- Regierungsform, ob es sich um das chine-
sischer Prägung". In der Kulturrevolution sische Kaiserreich, die Republik Sun
(1966-1976) waren es die "Roten Garden", Yatsens (1911-1926) oder die kommunisti-
die mit dem kleinen rotem Buch, in dem sche Volksrepublik (seit 1949) handelte,
die wesentlichen Gedanken des Großen entscheidend, inwieweit eine Religion die
Führers Mao Zedong zusammengefasst bestehende Ordnung unterstützte, das
waren, mit gnadenloser Gewalt diese neue Wohlergehen des Staates förderte und den
Orthodoxie durchzusetzen versuchten. Der inneren Frieden sichern half.6
Schock, den diese radikale Bewegung
auslöste, und die Zerstörungen, die sie an- Im chinesischen Denken spielt der Begriff
gerichtet hat, führten zu einem radikalen der Einheit eine überragende Rolle und hat
Wandel seitens der kommunistischen Füh- entsprechend seine Umsetzung in der Be-
rung, die, um nicht wie die osteuropäi- tonung der staatlichen Einheit als vorran-
schen sozialistischen Bruderstaaten zu- giges Ziel einer Religionspolitik in China
sammenzubrechen, auf wirtschaftliche gefunden. Im Verhältnis zwischen Staat
Entwicklung im Stil des Frühkapitalismus und Religionen haben sich im Laufe der
setzte. Dabei nimmt sie in Kauf, dass sie chinesischen Geschichte drei traditionelle
ihre ideologische Glaubwürdigkeit verliert, Formen herausgebildet:7 In der orthodoxen
solange sie nur die politische Macht im ersten Variante verbindet sich die Religion
Land behaupten kann. In der Bevölkerung mit dem Staat und wird zur staatstragenden
dagegen hat sich eine aus der ideologi- Kraft, indem sie dem Kaiser bzw. der je-
schen Enttäuschung resultierende allge- weils herrschenden Regierung den Segen
meine Gleichgültigkeit gegenüber allen des Himmels vermittelt oder, profan aus-
ideologischen Kampagnen breitgemacht. gedrückt, sich für das Gemeinwohl positiv
einsetzt. In der Geschichte hat der Konfu-
Die Parteiführung versucht, die ideologi- zianismus exemplarisch diese Rolle einer
sche Debatte wieder anzuregen, und pro- im Verständnis des Staates orthodoxen
pagiert seit einiger Zeit das "Modell einer Religion gespielt. Der Staat war im Konfu-
harmonischen Gesellschaft" als vorrangi- zianismus wie eine riesige patriarchalisch
ges gesellschaftliches Projekt der Zukunft. organisierte Familie verstanden worden, in
In der Umsetzung dieses Programms wird der jeder seine Stellung verbunden mit den
immer weniger auf das Gedankengut des damit gegebenen Verpflichtungen hatte.
Marxismus zurückgegriffen, sondern es Ebenfalls als "orthodox" gilt die zweite
werden die bis vor kurzem noch ver- Form, dass die Angehörigen einer Religion
dammten Lehren des Konfuzianismus als sich aus der Welt in klösterliche Beschau-
gesellschaftliche Leitlinien vorgestellt. ung und Abgeschiedenheit zurückziehen.
96 Georg Evers

Der chinesische Buddhismus ist am ehes- der Argumentation der kommunistischen


ten diesen Weg der Weltflucht, der Mystik Regierung dagegen das Element der Über-
oder der Askese gegangen, wenn auch im nahme der marxistischen Religionskritik,
Daoismus diese Tradition ebenfalls immer nach der die Religionen durch den Aufbau
vorhanden war. Als heterodox abgelehnt eines sozialistischen Staates von selber
und verfolgt wurde dagegen die dritte Va- verschwinden werden, weil ihre vorläufige
riante des Verhaltens von Religion zur Ge- Funktion, angesichts der bestehenden ge-
sellschaft, wenn eine Religion das politi- sellschaftlichen Verhältnisse Opium des
sche System zu kritisieren wagte und sich Volkes zu sein, sich dann erübrigt haben
um Einfluss auf politische und gesell- wird.8 Religion wird definiert als die "ver-
schaftliche Veränderungen bemühte. Dann gebliche und irrige Antwort des Menschen
galten Dissidenten nicht länger nur als auf seine Gefühle der Machtlosigkeit und
"harmlose Spinner", sondern als "anar- der Angst angesichts der Naturgewalten
chistische Elemente", die zu einer Gefahr und der gesellschaftlichen Kräfte".9
für den Bestand des gesamten Systems
wurden. Der Buddhismus und noch stärker Die offizielle Religionspolitik in der frü-
das Christentum haben in der Vergangen- hen Zeit der VR China war bestimmt von
heit und in der Gegenwart dagegen oft die dieser marxistisch inspirierten Religions-
bestehende Ordnung in Frage gestellt und kritik, nach der alle Religionen "Opium
sich für Veränderung bis zur Revolution des Volkes" sind, die nach Errichtung einer
ausgesprochen. sozialistischen Gesellschaft wegen der
Austrocknung ihrer Funktion, als Sedativ
und Trostmittel zu wirken, von selbst ab-
4. Religionsausübung immer unter sterben werden. Seitens der Partei und der
der Kontrolle durch den Staat Regierung wird dabei zwischen "vorläufig
als legitim angesehenen religiösen Tätig-
Das Bestreben der chinesischen Staatsge- keiten" und "feudalistischen abergläubi-
walt lag immer darin, die Kontrolle über schen Praktiken" der Volksreligiosität un-
alle religiösen Aktivitäten zu haben und terschieden. Letztere werden wegen ihrer
dafür zu sorgen, dass die staatliche Einheit potenziellen Gefährdung der öffentlichen
nicht durch religiöse Ideen oder Praktiken Ordnung, der Gesundheit und des Wohlbe-
beeinträchtigt wurde. Staatliche Eingriffe findens ihrer Anhänger generell verboten
gegen Religionen werden immer als ge- und verfolgt. Die Verfassung der sog.
rechtfertigte staatliche Maßnahmen zur Auf- "Chinesischen Sowjet-Republik" aus dem
rechterhaltung der öffentlichen Ordnung Jahr 1931 hatte die Religionsfreiheit ga-
erklärt, die sich nur gegen Handlungen rantiert und zugleich das Recht der anti-
richten, die sich fälschlich auf die Religio- religiösen Propaganda festgeschrieben.
nen oder Religionsfreiheit berufen, die in Nach der Gründung der VR China wurde
Wirklichkeit aber illegale, heterodoxe und in der Verfassung aus dem Jahr 1954 nur
revolutionäre Abweichungen darstellen. lapidar festgehalten: "Jeder Bürger der
Volksrepublik China soll Religionsfreiheit
Mao Zedong und die chinesische kommu- haben." In der Religionspolitik hat die
nistische Partei stehen ganz in dieser chi- kommunistische Partei Chinas von Anfang
nesischen Tradition, wenn sie ihre Herr- an unterschieden zwischen religiösen
schaft rational mit "marxistischer Wissen- Glaubensinhalten und der Organisation re-
schaft" untermauerten, als moralisches ligiöser Institutionen. Was den Glaubens-
Element den Begriff "dem Volke dienen" inhalt anging, so überließ man es weitge-
einführten und den Marxismus und Sozia- hend den Religionsgemeinschaften, diesen
lismus chinesischer Prägung als die einzige Bereich selber zu gestalten. Aber die reli-
"orthodoxe" Lehre hinstellten. Neu ist in giösen Institutionen wurden einer strengen
Religionsfreiheit in der Volksrepublik China 97

Reglementierung und Kontrolle seitens der Bürger benachteiligen, die sich zu einer
Partei und der Regierungsorgane unterwor- Religion bekennen oder nicht bekennen.
fen, um zu verhindern, dass sie über den Der Staat schützt die normalen religiösen
Bereich ihrer Anhänger hinaus Einfluss auf Tätigkeiten. Niemand darf eine Religion
die gesellschaftlichen und politischen Ver- dazu benutzen, Aktivitäten durchzuführen,
hältnisse im Lande nehmen könnten. Aber welche die öffentliche Ordnung stören, die
schon in der Frühphase der kommunisti- körperliche Gesundheit von Bürgern schä-
schen Herrschaft und vor allem während digen oder das Erziehungssystem des
der Zeit der Kulturrevolution (1966-1976) Staates beeinträchtigen. Die religiösen Or-
wurde dann allerdings mit Gewalt ver- ganisationen und Angelegenheiten dürfen
sucht, die Religionen als Relikte der alten von keiner ausländischen Kraft beherrscht
Zeit ohne Unterschiede zu vernichten und werden."10
aktiv den Atheismus zu propagieren. Auch
die direkt nach dem Ende der Kulturrevo- Die staatlich garantierte Religionsfreiheit
lution im März 1978 verabschiedete neue schützt alle legitimen religiösen Aktivitä-
Fassung der chinesischen Verfassung be- ten der staatlich anerkannten religiösen
schrieb im Artikel 46 die Religionsfreiheit Gruppen. Die Definitionshoheit, was unter
so: "Die Bürger sind frei, an eine Religion legitime Tätigkeiten fällt und was nicht,
zu glauben, frei, nicht zu glauben, und frei, behalten sich die Organe der Büros der
den Atheismus zu propagieren." staatlichen Religionsaufsicht (SARA) auf
den verschiedenen Ebenen des Staates, der
Provinz und der Kommune vor. Der Staat
5. Die Religionsfreiheit in der versucht ständig, auf allen Ebenen durch
Verfassung der Volksrepublik immer neue Verwaltungsvorschriften und
China aus dem Jahr 1982 Registrierungsmaßnahmen eine vollständi-
ge Kontrolle aller religiösen Tätigkeiten zu
Ein wichtiger Punkt in der Reformpolitik erreichen. Für die christlichen Kirchen in
von Deng Xiaoping war die Wiederher- der VR China bedeutet dies, dass nur sol-
stellung der Religionsfreiheit, die in den che religiösen Aktivitäten, die im Rahmen
Wirren der Kulturrevolution als "alt" und der vom Staat registrierten (und kontrol-
"überholt" praktisch abgeschafft worden lierten) Organisationen stattfinden, als le-
war. Das erklärte Ziel der Reformer war, gitim angesehen werden, während alle au-
alle gesellschaftlichen Kräfte, dazu wurden ßerhalb dieser Organisationen fallenden
jetzt auch die vom Staat anerkannten Reli- religiösen Aktivitäten, z.B. der sog. Unter-
gionsgemeinschaften gezählt, beim Aufbau grundkirche, als illegal angesehen werden
des sozialistischen Staates im Wiederbele- und daher strafrechtlich verfolgt werden
ben der "Vereinten-Front-Politik" mit ein- können. Die in der Verfassung garantierte
zubinden. Dies sollte durch eine Neufas- Religionsfreiheit gilt allerdings für Mit-
sung des Rechts auf Glaubensfreiheit in glieder der chinesischen kommunistischen
der Verfassung festgeschrieben werden. In Partei nur eingeschränkt, da sie, wie auch
der heute geltenden Verfassung der VR Angehörige des chinesischen Militärs,
China von 1982, Art. 36, wird zur Religi- nicht an religiösen Zeremonien teilnehmen
onsfreiheit festgehalten: und keiner Religion angehören dürfen. Die
wachsende Bedeutung der Religionen in
"Die Bürger der VR China genießen die der VR China zeigt sich auch darin, dass
Glaubensfreiheit. Kein Staatsorgan, keine sich die Verlautbarungen aus Parteikreisen
gesellschaftliche Organisation und keine mehren, in denen unter Androhung des
Einzelperson darf Bürger dazu zwingen, Ausschlusses aus der Partei das Verbot der
sich zu einer Religion zu bekennen oder Religionszugehörigkeit für Parteimitglie-
nicht zu bekennen, noch dürfen sie jene der eingeschärft wird.11 Diese nervösen
98 Georg Evers

Reaktionen der Parteiführung lassen ver- Tätigkeit gilt jedoch nur dann als legitim,
muten, dass es sich hier nicht nur um Ein- wenn sie im Rahmen der von der Regie-
zelfälle handelt, sondern es ein Phänomen rung offiziell anerkannten religiösen Orga-
darstellt, das nicht so selten ist und deut- nisationen stattfindet.
lich macht, wie wenig stabil der ideologi-
sche Boden der offiziellen Parteidoktrin Gegenwärtig sind in der VR China fünf
noch ist. Religionen offiziell anerkannt: Daoismus,
Buddhismus, Islam, die katholische Kirche
und die protestantische Kirche. Jede dieser
6. Die Praxis der Religionspolitik in anerkannten Religionen ist in der Konsul-
der Volksrepublik China tativkonferenz des chinesischen Volkes,
dem Organ der "Vereinten Front", vertre-
Die offizielle Religionspolitik wird durch ten, in der alle politisch, gesellschaftlich
Richtlinien, Dokumente oder Anordnungen und religiös relevanten Institutionen unter
festgelegt, die von verschiedenen Staatsor- der Leitung der kommunistischen Partei
ganen erlassen werden können. Den zusammenarbeiten. Für Daoisten, Budd-
höchsten Stellenwert haben Dokumente histen und Muslime gibt es jeweils eine
des Zentralkomitees der kommunistischen nationale Vereinigung, während es in der
Partei und ihrer Unterkommissionen. Dar- katholischen Kirche neben der Bischofs-
auf folgen Dokumente des Staatsrats, des konferenz die Chinesische Katholische
Volkskongresses, der Regierung und Patriotische Vereinigung und bei den pro-
der Politischen Konsultativkonferenz. testantischen Christen die beiden Organi-
Daneben gibt es interne Papiere z.B. von sationen des Chinesischen Christenrats und
den Sicherheitsbehörden, in denen eine der Patriotischen Dreiselbstbewegung der
konkrete Vorgehensweise festgelegt und Chinesischen Protestanten gibt. Die Rolle
vor gefährlichen Tendenzen in einzelnen der "patriotischen" Organisationen sind
Religionsgemeinschaften gewarnt wird. sowohl in der katholischen wie auch in der
Religionsgemeinschaften haben sich der protestantischen Kirche umstritten. Offi-
politischen Führung durch den Staat und ziell gelten sie als Verbindungsorgane der
der kommunistischen Partei zu unterwer- Kirchen zu den staatlichen Stellen, mi-
fen und die Vorgaben und Ziele von Staat schen sich aber über diese Rolle hinaus
und Partei zu erfüllen, um anerkannt zu auch immer wieder in rein kirchliche und
werden. Die ausführenden Organe sind auf theologische Sachverhalte ein. Im Schrei-
den Ebenen der Nation, der Provinz und ben an die Katholiken Chinas vom 29. Juni
der Stadt die Büros der staatlichen Religi- 2007 hat Papst Benedikt XVI. mit großer
onsaufsicht (SARA). In ihren internen Be- Bestimmtheit und Klarheit festgehalten,
reichen von Lehre und Kult haben die Re- dass die von der Chinesischen Katholi-
ligionsgemeinschaften eine gewisse Unab- schen Patriotischen Vereinigung in ihren
hängigkeit und können die internen Belan- Statuten vertretenen "Prinzipien von Un-
ge von Lehre und Kult selbstständig re- abhängigkeit und Autonomie, von Selbst-
geln. Aber in allen anderen Bereichen sind verwaltung und demokratischer Verwal-
sie nicht von anderen politischen Instituti- tung der Kirche" mit der kirchlichen Lehre
onen verschieden, die direkt der Leitung unvereinbar seien.
durch den Staat unterstehen. Der chinesi-
sche Staat und die kommunistische Partei Für die Katholische Patriotische Vereini-
verfolgen diese Politik einer relativen Re- gung kam der Papstbrief zu einem denkbar
ligionsfreiheit allein aus der pragmatischen ungünstigen Zeitpunkt, da sie gerade dabei
Überlegung, dass die Religionen den poli- ist, das 50-jährige Jubiläum dieser 1957
tischen Zielen der Partei und des Staates gegründeten Organisation zu feiern. Sollte
dienen müssen. Jede Form von religiöser es zu einer Verständigung zwischen dem
Religionsfreiheit in der Volksrepublik China 99

Vatikan und der chinesischen Regierung nesischen Gesellschaft im Allgemeinen


kommen, ist davon auszugehen, dass die und mit der ideologischen Atrophie der
Patriotische Vereinigung ihre jetzige Rolle chinesischen kommunistischen Partei im
verlieren wird, für die kirchenrechtlich in Besonderen.13 Chinesische Intellektuelle,
der katholischen Kirche kein Platz ist. die als gesellschaftliche Gruppe während
der Kulturrevolution als Volksfeinde be-
kämpft wurden, sind seitdem auf der Suche
7. Wandel der Rolle der Religionen nach einem Ersatz für die marxistisch-
in der chinesischen Gesellschaft kommunistische Ideologie.14 Den chinesi-
schen Intellektuellen geht es um die Frage,
Nach der reinen Lehre der chinesischen inwieweit christliches philosophisches und
kommunistischen Partei sollen sich alle theologisches Gedankengut in der gegen-
religiösen Organisationen streng auf die wärtigen ideologischen Krise in China po-
religiösen Inhalte und damit verbundenen sitive Impulse und Ansätze zur Überwin-
Riten beschränken und sich keinesfalls in dung der ideologischen Krise des moder-
Belange einschalten dürfen, die in einer nen im Umbruch begriffenen China geben
sozialistischen Gesellschaft dem Staat vor- könnte. Liu Xiaofeng,15 eine der führenden
behalten sind.12 Das wurde lange Zeit so Persönlichkeiten in dieser Bewegung, kri-
verstanden, dass die Religionen auf den tisiert, dass die Lehren der chinesischen
Gebieten der Erziehung, des Gesundheits- Tradition und der kommunistischen Ideo-
wesens und der Sozialarbeit sich in keiner logie nicht in der Lage seien, Antworten
Weise betätigen durften, sondern sich aus- auf die existenziellen Fragen nach dem
schließlich auf den binnenreligiösen Raum Wesen des Menschen und seiner Bestim-
beschränkten sollten. mung zu geben. Mit einer großangelegten
Übersetzungstätigkeit von christlichen
In den letzten Jahren hat sich ein vorsichti- Klassikern aus Philosophie und Theologie
ger Wandel angebahnt, so dass z.B. auf der ins Chinesische sollen neue Impulse in die
protestantischen Seite die Amity Foundati- gesellschaftliche Diskussion in China ein-
on auf den Gebieten der Gesundheit, der gebracht werden. Neben Liu Xiaofeng hat
Erziehung und der Publikationen hat tätig sich eine Reihe anderer Intellektueller im
werden können. Auch in der katholischen Universitätsbereich und den Akademien
Kirche gibt es eine Reihe von Sozialein- für Sozialwissenschaft in Peking16 und an-
richtungen in den verschiedenen Diözesen, derswo in die Diskussion eingeschaltet.
Krankenstationen und Bildungseinrichtun- Bei den "Kulturchristen" handelt es sich
gen, die gewisse Nischenfunktionen aus- um ein neues Phänomen, das deutlich
üben können. macht, dass sich das ideologische Umfeld,
in dem in der Volksrepublik China das
Der wachsende Einfluss des Christentums Thema "Religion" und "Religionsfreiheit"
belegt auch das Phänomen der sog. "Kul- diskutiert wird, geändert hat. Auch die na-
turchristen". Es handelt sich hier um eine tionale Akademie für Sozialwissenschaft
Entwicklung innerhalb der chinesischen in Peking und ähnlich die Institute in
Intelligenz, die eng verbunden ist mit den Shanghai, Nanjing, Chengdu und anderswo
rasanten Entwicklungen innerhalb der chi- sind an diesen Diskussionen beteiligt.
100 Georg Evers

Anmerkungen
1 7
Mehrfach hat die chinesische Regierung ein Vgl. Yang, C.K.: Religion in Chinese Society,
"Weißbuch zu den Menschenrechten" heraus- A Study of Contemporary Social Functions of
gebracht. So im Jahr 1991, vgl. Menschen- Religion and Some of their Historical Factors,
rechte in China, Beijing Rundschau 44/1991, Berkeley/Los Angeles 1967.
S.8-49, und dann wieder 1995; siehe dazu 8
Vgl. Xinping, Zhuo: Theorien über Religion
Neues Weißbuch zur Lage der Menschen- im heutigen China, in: Fallbeispiel China.
rechte in China, in: China Heute 1/1996, S.6- Ökumenische Beiträge zu Religion, Theologie
10. Das letzte Mal geschah dies im April 2001 und Kirche im chinesischen Kontext, hrsg. von
durch das Informationsbüro des Staatsrats, in Roman Malek, Nettetal 1996, S.417-429.
dem viel von Fortschritten auf dem Gebiet der 9
Menschenrechte die Rede ist. Vgl. Ping, Jiang: Die Religionstheorie des
2
Marxismus und die Religionspolitik der Partei.
Kritisch zu dieser Interpretation des Verständ- Sorgfältig Studieren!, in: China Heute 5-6/
nisses der Menschenrechte in der chinesischen 1986, S.8-16, hier S.8.
Tradition hat sich Gregor Paul geäußert. Vgl. 10
Paul, Gregor: Die traditionelle chinesische MacInnis, Donald: Religion im heutigen Chi-
Philosophie, eine chinesische Grundlage uni- na. Politik und Praxis, Nettetal 1993, S.73f.
11
versaler Menschenrechte, in: KAS Auslandsin- Vgl. Malek, Roman: Partei- und Religionszu-
formationen 7/1997, S.4-17. gehörigkeit, ein ständig wachsendes "Prob-
3
Vgl. Puhl, Stephan: Die traditionelle chinesi- lem", in: China Heute 1-2/2005, S.5-6.
sche Philosophie, in: Fallbeispiel China. Öku- 12
Vgl. Glüer, Winfried: Gegenseitige Anpassung
menische Beiträge zu Religion, Theologie und und Harmonie. Zur Religionspolitik in der
Kirche im chinesischen Kontext, hrsg. von Volksrepublik China, in: Fallbeispiel China.
Roman Malek, Nettetal 1996, S.367-414. Ökumenische Beiträge zu Religion, Theologie
4
Vgl. Schubert, Gunter: China und die Men- und Kirche im chinesischen Kontext, hrsg. von
schenrechte, in: KAS Auslandsinformationen Roman Malek, Nettetal 1996, S.491-502.
4/1997, S.50-63. 13
Sprenger, A.: Liu Xiaofengs neue Vision für
5
Die These von einer grundlegenden Verschie- China, in: China Heute 6/1990, S.157-171;
denheit zwischen dem "westlichen" und einem Ders.: A New Vision for China. The Case of
"asiatischen" Verständnis der Menschenrechte Liu Xiao Feng, in: Inter-Religio 19/1991, S.2-
ist in der Vergangenheit oft kontrovers disku- 20; Ders.: Die Intellektuellen und das Chris-
tiert worden. Inzwischen ist so etwas wie eine tentum, in: Katholische Mission 2/1995, S.45-
Übereinstimmung erzielt worden, dass Men- 50.
14
schenrechte nur dann gelten, wenn sie "univer- Tang, Edmond: The Second Chinese Enlight-
sal" verstanden werden. Zugleich wird aber enment. Intellectuals and Christianity Today,
eingeräumt, dass es auf Grund kultureller, reli- in: Identity and Marginality, Rethinking
giöser und anderer Faktoren in der Gewich- Christianity in North East Asia, hrsg. von
tung Unterschiede gibt, ob mehr die individu- Werner Ustorf und Toshiko Murayama, Frank-
ellen oder die sozialen Menschenrechte in ei- furt 2000, S.55-70.
ner gegebenen Gesellschaft den Vorrang ge- 15
Xiaofeng, Liu: The Form of Faith of Chinese
nießen. Intellectuals in the Context of Modernisation,
6 in: China Study Journal 3/1992, S.4-8.
Vgl. Malek, Roman: Theorie und Praxis der
chinesischen Religionspolitik, eine frappieren- 16
Xinping, Zhuo: Discussions on "Cultural
de Kontinuität, in: China. Sein neues Gesicht, Christians" in China, Rednermanuskript der
hrsg. von Bernhard Mensen, Nettetal 1987, Intern. Konferenz "China and Christianity" in
S.151-179. San Francisco im Oktober 1999.
Christenverfolgung in Nordkorea∗
Markus Rode

1. Nordkorea – ein geschichtlicher unter seinem "Führer" Kim Il Sung eine


Überblick stalinistische Diktatur, die bis heute eines
der repressivsten Regime der Welt ist. Es
Die Geschichte der koreanischen Halbin- gibt keinerlei politische oder religiöse
sel, die zwischen China und den japani- Freiheit, und das Land steht regelmäßig an
schen Inseln liegt, begann vor fast 5.000 der Spitze der Länder, in denen Christen
Jahren und war immer wieder durch die am brutalsten verfolgt werden.1
Machtansprüche der drei mächtigen Nach-
barn China, Japan und Russland geprägt.
Oft versuchte sich Korea zu schützen, in- 2. Die Juche-Philosophie
dem es sich nach außen abschottete. Noch
heute gilt Nordkorea als das "verschlosse- Das Land ist tief geprägt von einem in der
ne Land" schlechthin. Von 1910 bis 1945 stalinistischen Tradition stehenden Perso-
war Korea von Japan besetzt. Die Besat- nenkult, durch den der verstorbene Dikta-
zung endete mit dem japanischen Zusam- tor Kim Il Sung quasi zu einem Gott erho-
menbruch am Ende des Zweiten Welt- ben wird. Die Regierung setzt die "Juche"
kriegs. Philosophie (sprich "Dschutsche"), ein-
schließlich der Verehrung Kim Il Sungs
Doch statt der ersehnten Freiheit erlebte und seines Sohnes Kim Jong Il, rück-
Korea im August 1945 die Aufteilung des sichtslos durch. Der verstorbene Kim Il
Landes unter der Herrschaft der beiden Sung ("der ewige Präsident") muss als
Supermächte: der Sowjetunion, die den ewig gegenwärtiger Gott-Vater angebetet
Norden besetzte, und den USA im Süden. werden. Sein Sohn, Kim Jong Il ("der ge-
Als Grenzlinie wurde der 38. Breitengrad liebte Führer" oder "ewige Sohn der ewi-
festgelegt. Ursprünglich sollte die neue gen Sonne"), ist der von ihm erwählte
Besatzung nur eine Übergangslösung sein, Retter. Die Juche-Philosophie soll als Geist
bis sich eine neue gesamtkoreanische Re- der vollkommenen Revolution – frei von
gierung gebildet hätte. 1948 wurden jedoch allen Einflüssen außerhalb Nordkoreas –
die Republik Südkorea und die "Volksre- jede Ebene der Gesellschaft und des Den-
publik" Nordkorea gegründet. Mit dem kens durchdringen, um paradiesische
Überfall Nordkoreas auf Südkorea zur ge- Frucht hervorbringen zu können.
waltsamen "Wiedervereinigung des Va-
terlandes" unter kommunistischer Herr- Seit 1977 ist diese Ideologie auch in die
schaft begann 1950 der über drei Jahre an- Verfassung aufgenommen worden und er-
dauernde Koreakrieg. Die nordkoreani- gänzt als neue revolutionäre Weltanschau-
schen Aggressoren wurden von Russland ung den Marxismus-Leninismus. Juche be-
und China unterstützt. Auf der anderen deutet soviel wie "Subjekt", "Selbstbe-
Seite kämpften die südkoreanische Armee, stimmung" oder "Eigenständigkeit". Nach
UN-Truppen und die USA. Der Krieg en- dieser Ideologie steht der Mensch zwar
dete am 27. Juli 1953 mit einem Waffen- theoretisch im Mittelpunkt aller (seiner)
stillstand, welcher den 38. Breitengrad bis Entscheidungen, andererseits wird ihm in
heute als Demarkationslinie zementiert. der Praxis absolute und bedingungslose
Loyalität gegenüber dem Führer des Vol-
Während sich in Südkorea ein demokrati- kes abverlangt. Zudem geht die Juche-
sches System etablierte, wurde Nordkorea Weltanschauung mit einer vom Ausland
102 Markus Rode

unabhängigen Wirtschaftsphilosophie ein- geheim halten. Entsprechend schwierig ist


her.2 es jedoch, die Zahl der Christen in Nordko-
rea zu ermitteln. Open Doors schätzt, dass
Durch den Zusammenbruch der Sowjet- es mindestens 200.000 Christen im Land
union, die Nordkorea wirtschaftlich unter- gibt.
stützte, und die gewollte Abkapselung des
Volkes vom Rest der Welt hat sich die Vor allem in den nördlichen Provinzen
wirtschaftliche Lage, nicht zuletzt auch existiert eine lebendige Untergrundkirche,
durch das vermehrte Auftreten von Natur- jedoch nur in Form von Hausgemeinden.
katastrophen und Missernten, dramatisch Man trifft sich heimlich zum Gottesdienst.
verschlechtert. In ländlichen Gegenden kommt es vor,
dass sich bis zu achtzig Personen regelmä-
Alle mit der Juche-Ideologie konkurrieren- ßig in Höhlen treffen. Die Kinder der
den Religionen sind in Nordkorea verbo- Christen werden von klein auf im Glauben
ten. Für die Weltöffentlichkeit gibt es je- unterrichtet. Wenn es ans Heiraten geht,
doch einige "Vorzeigekirchen", in denen versucht man, einen christlichen Partner zu
Gottesdienste mit Statisten für ausländi- finden, selbst wenn dies einen Abstieg auf
sche Besucher abgehalten werden, sowie der sozialen Leiter bedeutet.
buddhistische Tempel. Kim Il Sung, der im
Juli 1994 starb, wird als "die ewige Sonne"
verehrt, als der "unsterbliche Vater". Sein 4. Die Kirche in Nordkorea
Geburtstag, der 15. April 1912, ist der Be-
ginn der nordkoreanischen Juche-Zeit- Obwohl das Christentum in Korea auf eine
rechnung. Seit Kim Il Sungs Tod ist sein lange Geschichte zurückblicken kann, gibt
Sohn Kim Jong Il an der Macht. Auf tau- es heute nur noch wenige Christen in
senden von meterhohen Bildern, die das Nordkorea. Vor dem Koreakrieg war der
ganze Land überschwemmen, ist der Vater Norden eine Hochburg der christlichen
kaum vom Sohn zu unterscheiden – ent- Erweckung. Allein in der Hauptstadt
sprechend der Doktrin der Regierung: Va- Pjöngjang wohnten fast 500.000 Christen.
ter und Sohn sind eins. Die Juche- Während des Koreakrieges und auch da-
Ideologie der völligen Selbstbestimmung nach flohen viele nach Südkorea oder wur-
des eigenen Schicksals bildet zusammen den zu Märtyrern. Zwar gibt es heute in
mit dem Führer-Team eine Dreiheit. Pjöngjang drei offizielle Kirchen, diese
sind jedoch vor allem "Ausstellungshäu-
ser" (Vorzeigekirchen) zu Propagandazwe-
3. Wie viele Christen gibt es in cken. Fast alle Gläubigen in Nordkorea ge-
Nordkorea? hören Untergrundgemeinden an.

Nordkorea ist ein Land, in dem Christen Ende des 18. Jahrhunderts brachte ein ko-
heftig verfolgt und auch getötet werden. reanischer Botschaftsangehöriger, der in
Auf dem Weltverfolgungsindex von Open Peking zum katholischen Glauben überge-
Doors, einem christlichen Hilfswerk, das treten war, christliche Bücher nach Korea.
sich seit mehr als 50 Jahren für verfolgte Vor allem Beamte und Wissenschaftler
Christen in über 45 Ländern einsetzt, steht kamen zum Glauben. Fast von Anfang an
Nordkorea seit Jahren an erster Position. standen Christen hartnäckiger Verfolgung
Der Weltverfolgungsindex ist eine Liste gegenüber. Christenfeindliche Koreaner
von Ländern, in denen Christen am meis- erklärten, der christliche Glaube sei eine
ten verfolgt werden. Angesichts dieser Si- Bedrohung der Treue zu den Vorfahren
tuation darf es nicht verwundern, wenn sowie der vom Konfuzianismus beein-
nordkoreanische Christen ihren Glauben flussten Gesellschaft. Viele Christen wur-
Christenverfolgung in Nordkorea 103

den getötet. Die Verfolgung ließ erst nach, chen könnte, wie es in osteuropäischen
als die koreanische Regierung in den Ländern und in Russland geschah.
1880er-Jahren Verträge mit westlichen
Ländern abgeschlossen hatte. In jenen Jah-
ren kamen amerikanische, chinesische, ka- 5. Die Vorzeigekirchen –
nadische und australische Missionare ins Religionsfreiheit für Touristen
Land. Ende des 19. Jahrhunderts wuchs die
Kirche aufgrund des religiösen Vakuums, Nordkorea versucht aus außenpolitischen
das sie füllen konnte, sehr schnell. In der Gründen eine Fassade der Religionsfreiheit
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm aufrechtzuerhalten und ist bemüht zu ka-
die Zahl der Christen sogar stärker zu als schieren, dass das Menschenrecht auf Re-
die Bevölkerung. Die nordkoreanische ligionsfreiheit in der Volksrepublik nicht
Hauptstadt Pjöngjang war damals als "Je- existiert. Unter anderem werden Gottes-
rusalem des Ostens" bekannt. dienste in Vorzeigekirchen der Hauptstadt
Pjöngjang organisiert und von Regierungs-
Nach der Besetzung Koreas durch die Ja- behörden finanziert. Heute gibt es in der
paner (1910) wuchs der Druck auf die Kir- Hauptstadt drei Vorzeigekirchen. Die vie-
che. Das Alte Testament wurde verboten, len heimlichen Gläubigen treffen sich in
und nur aus einer stark zensierten Version Untergrundgemeinden.
des Neuen Testaments durfte gepredigt
werden. Die Jahre nach dem Zweiten
Weltkrieg brachten keinen Frieden. Südko- 6. Christenverfolgung in Nordkorea
rea wurde durch die Amerikaner von der
japanischen Besatzung befreit, der Norden Verletzungen der Menschenrechte, ein-
von der sowjetischen Armee. Bald kehrten schließlich vieler Rechtsbrüche auf religiö-
Missionare in den Süden zurück, wo die sem Gebiet, sind im kommunistischen
Bedingungen für den christlichen Glauben Nordkorea an der Tagesordnung. Auf dem
gut waren. Weltverfolgungsindex von Open Doors ist
Nordkorea seit Jahren das Land, das die
In den Norden jedoch konnte kein einziger religiösen Rechte von Christen am
Missionar zurückkehren und die Arbeit schlimmsten verletzt. Das Christentum
wieder aufnehmen, da die den Christen wird als gefährlicher ausländischer Ein-
auferlegten Beschränkungen beträchtlich fluss betrachtet, der den Anstoß für den
waren. In den Jahren 1950 bis 1954, in die Zusammenbruch kommunistischer Regime
auch der Koreakrieg fiel, flohen die meis- in Osteuropa und in der ehemaligen Sow-
ten Christen in den Süden oder starben den jetunion gegeben hat und deshalb eine der
Märtyrertod. Die Kirchen wurden abgeris- größten Bedrohungen für die Macht des
sen. Regimes darstellt. Infolgedessen bemühen
sich die nordkoreanischen Behörden sehr
Nach dem Koreakrieg führte der neue Füh- stark, das Christentum auszurotten.
rer Kim Il Sung die Juche-Philosophie ein,
die mit dem christlichen Glauben schwer Zwar richtete sich 2006 die Aufmerksam-
zu vereinbaren ist. Die Behörden befürch- keit der Medien und damit der Weltöffent-
ten immer noch, dass das Christentum ei- lichkeit nach den atomaren Raketentests
nen Zusammenbruch des Regimes verursa- auf das isolierte Land, doch für das nord-
104 Markus Rode

koreanische Volk hat sich nichts verändert. 8. Flüchtlinge aus Nordkorea haben
Open Doors erreichten Informationen, die in China keinen Rechtsstatus
zeigen, dass 2006 mehr Christen verhaftet
wurden als im Jahr 2005. Viele Menschen Die Berichte von Menschen, die Nordko-
befinden sich in Arbeitslagern. rea besucht haben oder die unter nordkore-
anischen Flüchtlingen arbeiten, gehen zum
Da die nordkoreanische Regierung unter Teil weit auseinander. Einige Beispiele:
der Führung von Kim Jong Il das Chris-
tentum als Bedrohung für die Stabilität des – Die Angaben darüber, wie viele Men-
Landes betrachtet, verfolgt sie die Christen schen in Nordkorea seit 1995 verhun-
landesweit, vor allem Flüchtlinge, die aus gert sind, reichen von einer Million bis
China zurückkehren bzw. von chinesischen zu fünf Millionen.
Behörden aufgegriffen und abgeschoben – Die Anzahl der in Gefängnissen oder
werden. Viele von ihnen wurden verhaftet, Arbeitslagern inhaftierten Christen
gefoltert und sogar getötet. Trotz dieser wird mit 50.000 bis 70.000 angegeben.
Härte und der Verstöße gegen die Men- – Die Schätzungen darüber, wie viele
schenrechte sind die einheimischen Chris- Nordkoreaner in den letzten zehn Jah-
ten engagiert, der christlichen Kirche im ren über den Fluss Tumen nach China
Untergrund zu dienen. gelangt sind, reichen von 300.000 bis
zwei Millionen.
– Die Zahl der in China lebenden nord-
7. Die nordkoreanischen koreanischen Flüchtlinge wird unter-
Arbeitslager schiedlich mit 150.000 bis 300.000
angegeben. Open Doors schätzt, dass
Zwischen 50.000 und 70.000 Christen sind bis zu 70 Prozent von ihnen Christen
in mindestens 15 Arbeitslagern interniert. geworden sind.
Inmitten der Verfolgung wächst die Zahl – Die Angaben über die Anzahl der
der heimlichen Gläubigen weiter. Die Christen in Nordkorea reichen von
Christen gelten als politische Straftäter und 10.000 bis 500.000. (Open Doors geht
müssen täglich 18 bis 20 Stunden von etwa 200.000 Christen in Nordko-
Schwerstarbeit leisten, bis sie vor Erschöp- rea aus.)
fung oder durch Folter sterben. Man
schätzt, dass rund 40 Prozent des Brutto- Beim Versuch, nach China zu flüchten,
inlandproduktes in den Arbeitslagern er- setzen Nordkoreaner ihr Leben aufs Spiel.
wirtschaftet werden. Christen dürfen laut Nach Angaben der chinesischen Regierung
Augenzeugenberichten nicht zum Himmel sind rund 50.000 bis 70.000 Nordkoreaner
aufschauen. Tag und Nacht müssen sie mit in China. Nachdem Flüchtlinge die Grenze
nach unten geneigtem Kopf leben, so dass überquerten, kamen einige von ihnen mit
ihre Hälse deformiert sind. Wenn in einem Christen in Kontakt. Viele der geflohenen
Haus eine Bibel gefunden wird, kommt die Nordkoreaner wurden Christen, die sich
gesamte Familie in ein Arbeitslager. Ein entschieden, nach Nordkorea zurückzukeh-
Gefängniswärter wird befördert, wenn es ren, um ihrem Volk das Evangelium zu
ihm gelingt, einen Christen durch Folter verkünden. Die Behörden haben es beson-
zum Aufgeben seines Glaubens zu zwin- ders auf die Verhaftung dieser Heimkehrer
gen. Man schätzt, dass es in Nordkorea abgesehen.
mehr politische und religiöse Gefangene
gibt als in jedem anderen Land. Niemand Zweifellos gibt es ein ernstes nordkoreani-
weiß, wie hoch die Gesamtzahl der Opfer sches Flüchtlingsproblem. Für die chinesi-
ist. schen Behörden sind diese Menschen je-
Christenverfolgung in Nordkorea 105

doch keine Flüchtlinge, sondern illegale versprach der UN-Hochkommissar für


"Wirtschaftsmigranten". Die Behörden ja- Flüchtlinge, Schritte zu unternehmen, um
gen sie mit Kopfgeldjägern, die möglichst ihre Deportation zurück nach Nordkorea zu
viele von ihnen aufgreifen sollen. Diese stoppen, doch bis jetzt hat sich die Situati-
Menschen werden dann zurück nach Nord- on nicht wesentlich verändert.
korea deportiert, wo Gefängnis und Tod
durch Hunger, Krankheit oder Folter auf Verschiedene christliche Hilfsorganisatio-
sie warten. nen arbeiten mit aller Kraft daran, diesen
Flüchtlingen zu helfen. Christen aus Süd-
In Nordkorea läuft zurzeit eine Kampagne korea, Japan und China riskieren ihre eige-
gegen Grenzwächter, die ein Auge zudrü- ne Freiheit, um den Flüchtlingen humanitä-
cken oder Bestechungsgelder annehmen. re Hilfe zu bringen und sie mit dem christ-
Südkorea lässt zudem pro Jahr nur eine be- lichen Glauben bekannt zu machen. Um
grenzte Anzahl von Flüchtlingen einreisen. diese Helfer nicht in Gefahr zu bringen,
Nachdem humanitäre Organisationen die kann ihre Arbeit hier nicht im Detail dar-
mangelhafte Unterstützung nordkoreani- gestellt werden. Aber die Not der Flücht-
scher Flüchtlinge in China kritisiert hatten, linge verlangt unser Handeln.

Anmerkungen
∗ 2
Ein Bericht von Open Doors Deutschland. Internationale Gesellschaft für Menschen-
1 rechte (IGFM).
Weltverfolgungsindex Open Doors 2007.
Anhang

Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten


religiösen Minderheiten: Antrag der CDU/CSU und SPD
im Deutschen Bundestag
Deutscher Bundestag Drucksache 16/3608
16. Wahlperiode 29. 11. 2006

Antrag
der Abgeordneten Erika Steinbach, Holger Haibach, Carl-Eduard von Bismarck,
Michael Brand, Hartwig Fischer (Göttingen), Ute Granold, Hermann Gröhe,
Hubert Hüppe, Alois Karl, Jürgen Klimke, Hartmut Koschyk, Eduard Lintner,
Dr. Norbert Röttgen, Arnold Vaatz, Peter Weiß (Emmendingen), Volker Kauder,
Dr. Peter Ramsauer und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Christel Riemann-Hanewinckel, Christoph Strässer,
Klaus Brandner, Dr. Herta Däubler-Gmelin, Angelika Graf (Rosenheim),
Wolfgang Gunkel, Johannes Jung (Karlsruhe), Walter Kolbow, Ernst Kranz,
Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Sönke Rix, Steffen Reiche (Cottbus),
Olaf Scholz, Rolf Stöckel, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD

Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten religiösen Minderheiten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:


Die Meldungen über Verfolgung und Diskriminierung von Christen und anderen
religiösen Minderheiten nehmen ständig zu. Berichten zufolge werden in
mindestens 50 von etwa 200 Staaten der Welt tagtäglich Kirchen und Gebets-
häuser zerstört. Unter den religiös Verfolgten weltweit macht allein die Gruppe
der verfolgten Christen 80 Prozent aus.
Religionsfreiheit ist ein in internationalen Menschenrechtskonventionen ver-
ankertes Menschenrecht. Religionsfreiheit ist unter anderem in Artikel I der
Charta der Vereinten Nationen, Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte, Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie
Artikel 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte
(„Zivilpakt“) als eigenständiges Menschenrecht festgeschrieben.
Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besagt:
„Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit;
dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltan-
schauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltan-
schauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat
durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.“
Artikel 18 des Zivilpaktes besagt:
„(1) Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religions-
freiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, eine Religion oder eine Weltan-
schauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, und die Freiheit, seine
Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen,
öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche,
Ausübung und Unterricht zu bekunden.
Drucksache 16/3608 –2– Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

(2) Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine
Religion oder eine Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen,
beeinträchtigen würde.
(3) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, darf
nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die
zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit
oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind.“
Sowohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als auch der Zivilpakt
enthalten explizit das Recht, seine Religion zu wechseln. Allerdings wurden mit
der Kairoer Menschenrechtserklärung der Organisation of the Islamic Confe-
rence (OIC) die Menschenrechte und damit auch die Religionsfreiheit für die
islamischen Länder unter den Vorbehalt der Sharia gestellt.
Die meisten Staaten haben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu-
gestimmt und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte
gezeichnet und ratifiziert. Obwohl sie damit formell die Freiheit der Religion
garantieren, wird sie vielfach nicht oder nur unzureichend geschützt.
Entgegen der völkerrechtlich verankerten Religionsfreiheit finden Verfolgungen
von Christen und anderen religiösen Minderheiten heutzutage vielfach und in
unterschiedlichen Gesellschaftssystemen statt, in atheistischen Diktaturen
ebenso wie in religiös-totalitären Gesellschaften oder Ländern mit verfallenden
Staatsstrukturen („failing states“). Verfolgung kann staatlicher oder nichtstaat-
licher Natur sein; sie erfolgt durch fundamentalistische Anhänger anderer Reli-
gionen genauso wie im Rahmen ethnischer oder sozialer Konflikte. Im Fall der
nichtstaatlichen Verfolgung sind Staaten oftmals nicht in der Lage oder nicht
willens, ihrer völkerrechtlichen Schutzpflicht gegenüber ihrer christlichen
Bevölkerung gerecht zu werden. Das Ausmaß der Unterdrückung reicht dabei
von Diskriminierung im privaten Umfeld, der Behinderung von Religions-
freiheit bzw. der Religionsausübung über Bedrängung und Schikane bis hin zu
strafrechtlicher Verfolgung,
An der Spitze des Weltverfolgungsindexes der überkonfessionellen Organisa-
tion Open Doors steht zum vierten Mal in Folge Nord-Korea. Die Tätigkeit
christlicher Kirchen wird dort gleichgesetzt mit einem bedrohlichen auslän-
dischen Einfluss und damit mit einer Gefahr für den Staatsapparat. Folglich ist
die Situation von Christen und christlichen Minderheiten so schwierig wie in
keinem anderen Land der Erde. Die Machtübernahme durch die kommu-
nistische Partei im Jahre 1948 markierte den Beginn der systematischen Unter-
drückung von Christen. Unter dem Regime von Kim Il Sung und dessen Sohn
Kim Jong Il verschwanden über 2 000 christliche Gemeinden mit 300 000 Gläu-
bigen. Die wenigen heute im Land zugelassenen Kirchen dienen dem herrschen-
den Apparat lediglich zu Propagandazwecken. Zutritt zu den verbliebenen
Kirchengebäuden und Gottesdiensten haben neben ausländischen Gästen nur
besonders linientreue Anhänger des Regimes. Allen anderen Gläubigen ist eine
Religionsausübung nur unter äußerster Gefahr und unter erschwerten Bedingun-
gen in Untergrundgemeinden möglich. Trotz der äußerst rigiden Informations-
politik erhalten Nichtregierungsorganisationen auch immer wieder Berichte
über öffentliche Hinrichtungen von Gläubigen, Inhaftierungen in Zwangs-
erziehungslagern und Folter.
In der Volksrepublik China hat sich die Lage von Christen seit Ende der Kultur-
revolution etwas gebessert. Christliche Kirchen haben mittlerweile die Möglich-
keit, in China tätig zu sein. Die Verbreitung von Bibeln sowie anderen kirch-
lichen Schriften und Büchern hat in den letzten Jahren vor allem in den Städten
stark zugenommen. Als Folge ist die christliche Gemeinschaft in den letzten
Jahren zahlenmäßig stark gewachsen. Schätzungen gehen von 3 bis 5 Millionen
neuen Gläubigen pro Jahr aus. Im März 2005 führte die chinesische Regierung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode –3– Drucksache 16/3608

neue Religions-Richtlinien ein. Die erhoffte Erweiterung der Religionsfreiheit


ist dadurch jedoch nicht eingetreten. Von einer freien und unabhängigen Ent-
faltung der Kirchen kann nach wie vor keine Rede sein. Der chinesische Staats-
apparat kontrolliert auch weiterhin alle Strukturen der fünf zugelassenen
Kirchen, darunter der Katholischen sowie der Protestantischen Kirche. Jegliche
Glaubensbetätigung außerhalb der staatlich registrierten Kirchen ist verboten.
Christen, die sich der staatlichen Kontrolle entziehen, müssen ihren Glauben
illegal in so genannten Hauskirchen ausüben. Problematisch ist auch die Situa-
tion von kirchlichen Würdenträgern. Insbesondere viele romtreue katholische
Bischöfe und Priester sind wegen regimekritischer Äußerungen in Haft. Auch
um ihretwillen würde der Deutsche Bundestag die Aufnahme von diploma-
tischen Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und dem Vatikan be-
grüßen.
Restriktionen wie Verhaftung, Zwangsarbeit und Umerziehung haben in China
auch andere Religionsgemeinschaften zu erdulden. Muslime aus der Region
Xinjiang werden zu terroristischen Kräften erklärt und wie auch Anhänger der
Falun-Gong-Bewegung verfolgt. In Tibet unterliegt die Religionsfreiheit mas-
siven und systematischen Einschränkungen. Geistliche und Gläubige des tibe-
tischen Buddhismus werden an ihrer freien Religionsausübung gehindert. Klös-
ter und andere religiöse Einrichtungen werden durch chinesische Sicherheits-
behörden überwacht.
Indien hat in seiner Verfassung das Prinzip der Säkularität und die Religions-
freiheit verankert und stellt damit für viele Menschen im Westen ein Beispiel
religiöser Toleranz dar. In einer Kommission für Minoritäten, in der verschie-
dene Religionen vertreten sind, können Probleme religiöser Minderheiten
behandelt werden. Gleichwohl ist das Verhältnis der Religionsgemeinschaften
im Land nicht spannungsfrei. In einigen Bundesstaaten gibt es Gesetze, die die
Konversion von Hindus zum Christentum erschweren. Hindu-nationalistische
Gruppen verfolgen eine aggressive Politik, unter der vor allem Christen und
Muslime leiden. Es kommt zu Gewalttaten gegen Ordensschwestern und Ver-
wüstungen von Kirchen und Kapellen.
In islamischen Ländern ist die Situation differenziert zu betrachten. Einige Staa-
ten wie Ägypten, Syrien, Jordanien, Algerien, Marokko oder Tunesien haben
den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die in ihm
enthaltenen Menschenrechte anerkannt. Allerdings hat die Organisation of the
Islamic Conference in der Kairoer Menschenrechtserklärung die Einhaltung der
Menschenrechte unter den Vorbehalt der Sharia gestellt.
Mit Saudi-Arabien, Iran, Somalia, den Malediven und Jemen finden sich fünf
Länder unter den ersten zehn Plätzen des Weltverfolgungsindexes, in denen der
Islam vorherrschende Religion oder Staatsreligion ist. In diesen Ländern ist die
Sharia geltendes Recht, das über menschenrechtlichen Verpflichtungen steht.
Dementsprechend sind auch alle Missionierungstätigkeiten untersagt. In Saudi-
Arabien, dem Jemen und dem Iran steht auf Apostasie, dem Abfall vom isla-
mischen Glauben, die Todesstrafe. Christliche Minderheiten werden häufig als
Sicherheitsrisiko angesehen und sollen durch Einschüchterungstaktiken entwe-
der zur Aufgabe des Glaubens oder zur Flucht gezwungen werden.
Für weltweites Aufsehen sorgte im März der Fall des zum Christentum kon-
vertierten Afghanen Abdul Rahman. Dieser war in erster Instanz vor einem
Kabuler Gericht wegen Apostasie angeklagt worden. Artikel 2 der afghanischen
Verfassung garantiert die Glaubensfreiheit mit der Einschränkung, dass dies für
„die Anhänger anderer Religionen“ (als des Islam) und „im Rahmen der gesetz-
lichen Bestimmungen“ gilt. Der Islam ist in Afghanistan Staatsreligion. Laut
Artikel 3 der afghanischen Verfassung „darf kein Gesetz dem Glauben und den
Bestimmungen des (…) Islam widersprechen. Afghanistan hat der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte zugestimmt und ist dem Internationalen Pakt
Drucksache 16/3608 –4– Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

über bürgerliche und politische Rechte – ohne Vorbehalt gegen die Garantie der
Religionsfreiheit – beigetreten. Damit hat sich Afghanistan auch völkerrechtlich
zur Einhaltung der Glaubensfreiheit verpflichtet. Dass es dennoch zu einer An-
klage gegen Abdul Rahman kommen konnte, zeigt, dass die Religionsfreiheit
auch in Afghanistan zumindest in der Praxis noch unter dem Vorbehalt der
Sharia steht.
Durch die bürgerkriegsähnliche Situation im Irak seit 2003 hat sich die Lage
religiöser Minderheiten, insbesondere der Chaldäischen, Assyrischen, Syrisch-
Orthodoxen, Armenischen oder Protestantischen Christen, aber auch der Yezi-
den, Mandäer, Baha’i sowie einer kleinen Zahl irakischer Juden dramatisch
verschlechtert. Behinderungen im gesellschaftlichen Alltag, Diskriminierungen
und Gewalt führen zu einer massiven Auswanderung. Etwa 700 000 irakische
Christen leben im Ausland. Von der im Irak verbliebenen knapp einen Million
Christen haben viele im vergleichsweise sicheren kurdischen Norden Zuflucht
gefunden. Christen und kirchliche Einrichtungen sind auch deshalb stark gefähr-
det, weil sie als Unterstützer der multinationalen Koalitionstruppen angesehen
werden. So wurden mehrfach Anschläge auf Kirchen verübt, bei denen Men-
schen verletzt und getötet wurden.
Im Iran leben ca. 300 000 bis 350 000 Anhänger der Baha’i-Religion. Obwohl
sie die größte religiöse Minderheit darstellen, werden sie als solche nicht aner-
kannt. Bis heute äußert sich die Diskriminierung unter anderem durch den
schwierigen Zugang zu Bildung. Besser bezahlte Arbeitsplätze sind oftmals an
die Zugehörigkeit zum Islam gekoppelt. Es gibt Ausschreitungen gegen die
Besitztümer der Baha’i und Verunglimpfungen in den öffentlichen Medien.
In anderen Ländern, wie z. B. in Indonesien, in denen es keinerlei Anzeichen für
eine Diskriminierung oder Verfolgung von Christen durch den Staat aufgrund
des Glaubens gibt, sollten bestimmte Entwicklungen, die sich auf die Situation
der christlichen Bevölkerungsgruppen auswirken könnten, dennoch sorgfältig
beobachtet werden. Dies betrifft in Indonesien den zunehmenden Erlass von
Sharia-Rechtsverordnungen auf kommunaler Ebene. Anlass zur Sorge besteht
insofern, als diese Rechtsvorschriften oft undifferenziert für die gesamte Bevöl-
kerung, ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit, gelten. Die Auswirkungen die-
ser Entwicklung auf das Leben der nichtmuslimischen Bevölkerung lassen sich
noch nicht allgemein abschätzen und verdienen, beobachtet zu werden.
Der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung in der Türkei beträgt 0,2 Pro-
zent. Der ursprünglich hohe Anteil (30 Prozent) ist durch die Massaker an den
Armeniern 1916, dem Bevölkerungsaustausch mit Griechenland und die Ver-
folgung von anderen christlichen Volksgruppen stark gesunken. Die heutige Si-
tuation von Christen stellt sich ambivalent dar. Auch wenn Religions- und Ge-
wissensfreiheit verfassungsrechtlich garantiert sind, die individuelle Glaubens-
freiheit allgemein respektiert wird und in Artikel 115 des neuen Strafgesetz-
buches die Behinderung der Religionsfreiheit unter Strafte gestellt ist, kommt es
in der Realität immer wieder zu Akten von Schikane und Willkür. Unter der all-
täglichen Diskriminierung leiden insbesondere die syrisch-orthodoxen Christen
im Südosten der Türkei. Selbst wenn nicht von generellen Spannungen zwischen
Muslimen und Christen gesprochen werden kann, nehmen die Gewalttätigkeiten
gegenüber christlichen Geistlichen dennoch zu. Trauriger Höhepunkt war bis-
lang die weltweit Bestürzung auslösende Ermordung des katholischen Pfarrers
Andrea Santoro im Februar dieses Jahres. Ein weiteres Problem ist, dass in der
Türkei Kirchen an sich keine Rechtspersönlichkeit haben. Sie können sich zwar
als Stiftung oder als Verein organisieren; in diesem Zusammenhang kommt es
jedoch immer wieder zu vielfältigen bürokratischen Hindernissen. So wurden in
der Vergangenheit wiederholt Genehmigungen zum Neubau von Kirchen, der
Anmietung von Räumen zur Religionsausübung sowie zur Durchführung von
Renovierungsarbeiten an Kirchen und kirchlichen Religionsschulen verweigert.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode –5– Drucksache 16/3608

Ein neues Stiftungsgesetz wurde am 9. November 2006 verabschiedet. Seine


Auswirkungen auf die Lage der religiösen Minderheiten bleiben abzuwarten.
Auch Juden werden in vielen Ländern der Welt diskriminiert und mit Anti-
semitismus konfrontiert, auch wenn es keine staatliche systematische Verfol-
gung von Juden gibt. Die Diskriminierung reicht von der Beschränkung der
Berufswahl bis zur Verschleppung von Menschen. In einigen islamischen Län-
dern tritt Antisemitismus relativ offen zutage, im Iran wird er sogar vom Staats-
oberhaupt propagiert. Dieser Haltung tritt der Deutsche Bundestag mit aller
Schärfe entgegen.
Die Verletzung der Religionsfreiheit stellt eine inakzeptable, fundamentale
Menschenrechtsverletzung dar und macht die Notwendigkeit für entschlossenes
Handeln deutlich. Interreligiöser Dialog und das deutliche Eintreten für Reli-
gionsfreiheit als universelles und unteilbares Recht können eine Brücke zwi-
schen Menschen verschiedener Religionen zu schlagen. Daran müssen Regie-
rungen, Parlamente, Kirchen sowie Organisationen der Entwicklungszusam-
menarbeit und politische Stiftungen gemeinsam arbeiten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,


● auf bi- und multilateraler Ebene mit Nachdruck für Religions- und Glaubens-
freiheit einzutreten und insbesondere Defizite bei der Umsetzung zu thema-
tisieren;
● in bilateralen Gesprächen mit Ländern, die den Internationalen Pakt über bür-
gerliche und politische Rechte noch nicht ratifiziert haben, auf die schnellst-
mögliche Ratifizierung und Umsetzung hinzuwirken;
● in bi- und multilateralen Gesprächen die Interpretationsunterschiede bezüg-
lich der völkerrechtlich bindenden Normen klar zu benennen und für ein um-
fassendes Verständnis von Religionsfreiheit im Sinne der Allgemeinen Erklä-
rung der Menschenrechte einzutreten;
● in Deutschland für die Problematik verfolgter Christen zu sensibilisieren;
● die Situation von verfolgten Christen und anderen religiösen Minderheiten
im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2007 zu thematisieren;
● im Rahmen internationaler Organisationen, wie dem Menschenrechtsrat der
Vereinten Nationen, dem Europarat und der OSZE, aber auch in bilateralen
Gesprächen auf der umfassenden Einhaltung der Religionsfreiheit zu beste-
hen;
● die Arbeit der Sonderberichterstatterin für Religion- und Glaubensfreiheit
beim Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, Asma Jahangir, auch wei-
terhin zu unterstützen;
● auf bilateraler Ebene weiterhin eng mit vor Ort tätigen christlichen Kirchen,
Nichtregierungsorganisationen und Missionswerken zusammenzuarbeiten;
● in der Entwicklungszusammenarbeit insbesondere der Wahrung der Reli-
gionsfreiheit Aufmerksamkeit zu schenken;
● im Rahmen der EU-Menschenrechtsdialoge mit China und mit Iran sowie des
Menschenrechtsdialogs Deutschlands mit der Volksrepublik China auf eine
Verbesserung der Situation von Christen und anderen religiösen Minderhei-
ten zu drängen;
● in den weiteren Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei insbesondere
die Situation der dort lebenden Christen zu thematisieren. Dabei sollte die
stringente und zeitnahe Umsetzung der Reformen im Bereich der Religions-
freiheit – wie beispielsweise die Klärung der Statusfrage von Kirchen-
gemeinden – eingefordert werden.
Drucksache 16/3608 –6– Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

● den interkulturellen Dialog mit dem Islam und die Deutsche Islam Konferenz
zu nutzen, um auch auf die Situation von Christen in Staaten mit muslimi-
scher Mehrheit hinzuweisen;
● in die Länderberichte des Auswärtigen Amts den Stand zur Umsetzung des
Rechts auf Religionsfreiheit mit aufzunehmen.

Berlin, den 29. November 2006

Volker Kauder, Dr. Peter Ramsauer und Fraktion


Dr. Peter Struck und Fraktion
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44
ISSN 0722-8333
Autorenverzeichnis

Drobinski, Matthias Rode, Markus


Journalist, innenpolitischer Redakteur der Leiter von Open Doors Deutschland, Kelk-
Süddeutschen Zeitung, München heim bei Frankfurt am Main

Evers, Georg Schirrmacher, Thomas, Prof. Dr Dr.


Theologe und Missionswissenschaftler, bis Rektor der theologischen Akademie Martin
2001 Asienreferent des Missionswissen- Bucer Seminar, Professor für Religions-
schaftlichen Instituts Missio e.V., Aachen soziologie an der Staatlichen Universität
Oradea, Rumänien, Direktor des Internatio-
Friedrich, Ingo, Dr., MdEP nalen Instituts für Religionsfreiheit der
Präsidiumsmitglied des Europäischen Par- Weltweiten Evangelischen Allianz, Kapstadt
laments, Brüssel
Stückelberger, Hansjürg
Haibach, Holger, MdB Theologe, Präsident von Christian Solidarity
Stellvertretender Vorsitzender des Aus- International, Zürich
schusses für Menschenrechte und humanitä-
Suermann, Harald, Prof. Dr.
re Hilfe des Deutschen Bundestages, Berlin
Institut für Orient- und Asienwissenschaften
der Universität Bonn, Mitarbeiter von Missio
Hildmann, Philipp W., Dr.
Referent für Werte, Normen und gesell- Velden van der, Frank, Dr.
schaftlichen Wandel, Akademie für Politik Theologe, deutschsprachige katholische
und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, Gemeinde in Ägypten, Kairo
München
Vorländer, Hermann, Dr.
Hofmann, Tessa, Dr. Direktor von Mission EineWelt – Centrum
Wissenschaftliche Angestellte am Lehrstuhl für Partnerschaft, Entwicklung und Mission
für Soziologie des Osteuropa-Instituts der der Evangelisch-Lutherischen Kirche in
Freien Universität Berlin Bayern, Neuendettelsau
Verantwortlich:
Dr. Reinhard C. Meier-Walser
Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung, München

Herausgeber:
Dr. Philipp W. Hildmann
Referent für Werte, Normen und gesellschaftlichen Wandel, Akademie für Politik und Zeit-
geschehen in der Hanns-Seidel-Stiftung, München
"Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen"

bisher erschienen:

Nr. 1 Berufsvorbereitende Programme für Studierende an deutschen Universitäten


(vergriffen)

Nr. 2 Zukunft sichern: Teilhabegesellschaft durch Vermögensbildung (vergriffen)

Nr. 3 Start in die Zukunft – Das Future-Board (vergriffen)

Nr. 4 Die Bundeswehr – Grundlagen, Rollen, Aufgaben (vergriffen)

Nr. 5 "Stille Allianz"? Die deutsch-britischen Beziehungen im neuen Europa (vergriffen)

Nr. 6 Neue Herausforderungen für die Sicherheit Europas (vergriffen)

Nr. 7 Aspekte der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union (vergriffen)

Nr. 8 Möglichkeiten und Wege der Zusammenarbeit der Museen in Mittel- und Osteuropa

Nr. 9 Sicherheit in Zentral- und Südasien – Determinanten eines Krisenherdes

Nr. 10 Die gestaltende Rolle der Frau im 21. Jahrhundert (vergriffen)

Nr. 11 Griechenland: Politik und Perspektiven

Nr. 12 Russland und der Westen (vergriffen)

Nr. 13 Die neue Familie: Familienleitbilder – Familienrealitäten (vergriffen)

Nr. 14 Kommunistische und postkommunistische Parteien in Osteuropa – Ausgewählte


Fallstudien (vergriffen)

Nr. 15 Doppelqualifikation: Berufsausbildung und Studienberechtigung – Leistungsfähige in der


beruflichen Erstausbildung

Nr. 16 Qualitätssteigerung im Bildungswesen: Innere Schulreform – Auftrag für Schulleitungen


und Kollegien (vergriffen)

Nr. 17 Die Beziehungen der Volksrepublik China zu Westeuropa – Bilanz und Ausblick am
Beginn des 21. Jahrhunderts (vergriffen)

Nr. 18 Auf der ewigen Suche nach dem Frieden – Neue und alte Bedingungen für die Frie-
denssicherung (vergriffen)

Nr. 19 Die islamischen Staaten und ihr Verhältnis zur westlichen Welt – Ausgewählte Aspekte
(vergriffen)

Nr. 20 Die PDS: Zustand und Entwicklungsperspektiven (vergriffen)


Nr. 21 Deutschland und Frankreich: Gemeinsame Zukunftsfragen (vergriffen)

Nr. 22 Bessere Justiz durch dreigliedrigen Justizaufbau? (vergriffen)

Nr. 23 Konservative Parteien in der Opposition – Ausgewählte Fallbeispiele

Nr. 24 Gesellschaftliche Herausforderungen aus westlicher und östlicher Perspektive –


Ein deutsch-koreanischer Dialog

Nr. 25 Chinas Rolle in der Weltpolitik

Nr. 26 Lernmodelle der Zukunft am Beispiel der Medizin

Nr. 27 Grundrechte – Grundpflichten: eine untrennbare Verbindung

Nr. 28 Gegen Völkermord und Vertreibung – Die Überwindung des zwanzigsten Jahrhunderts

Nr. 29 Spanien und Europa

Nr. 30 Elternverantwortung und Generationenethik in einer freiheitlichen Gesellschaft


(vergriffen)

Nr. 31 Die Clinton-Präsidentschaft – ein Rückblick (vergriffen)

Nr. 32 Alte und neue Deutsche? Staatsangehörigkeits- und Integrationspolitik auf dem
Prüfstand (vergriffen)

Nr. 33 Perspektiven zur Regelung des Internetversandhandels von Arzneimitteln

Nr. 34 Die Zukunft der NATO (vergriffen)

Nr. 35 Frankophonie – nationale und internationale Dimensionen (vergriffen)

Nr. 36 Neue Wege in der Prävention (vergriffen)

Nr. 37 Italien im Aufbruch – eine Zwischenbilanz (vergriffen)

Nr. 38 Qualifizierung und Beschäftigung (vergriffen)

Nr. 39 Moral im Kontext unternehmerischen Denkens und Handelns (vergriffen)

Nr. 40 Terrorismus und Recht – Der wehrhafte Rechtsstaat (vergriffen)

Nr. 41 Indien heute – Brennpunkte seiner Innenpolitik (vergriffen)

Nr. 42 Deutschland und seine Partner im Osten – Gemeinsame Kulturarbeit im erweiterten


Europa

Nr. 43 Herausforderung Europa – Die Christen im Spannungsfeld von nationaler Identität,


demokratischer Gesellschaft und politischer Kultur (vergriffen)

Nr. 44 Die Universalität der Menschenrechte (vergriffen)

Nr. 45 Reformfähigkeit und Reformstau – ein europäischer Vergleich


Nr. 46 Aktive Bürgergesellschaft durch bundesweite Volksentscheide? Direkte Demokratie in
der Diskussion

Nr. 47 Die Zukunft der Demokratie – Politische Herausforderungen zu Beginn des


21. Jahrhunderts

Nr. 48 Nachhaltige Zukunftsstrategien für Bayern – Zum Stellenwert von Ökonomie, Ethik und
Bürgerengagement

Nr. 49 Globalisierung und demografischer Wandel – Fakten und Konsequenzen zweier


Megatrends

Nr. 50 Islamistischer Terrorismus und Massenvernichtungsmittel

Nr. 51 Rumänien und Bulgarien vor den Toren der EU

Nr. 52 Bürgerschaftliches Engagement im Sozialstaat

Nr. 53 Kinder philosophieren

Nr. 54 Perspektiven für die Agrarwirtschaft im Alpenraum

Nr. 55 Brasilien – Großmacht in Lateinamerika

Nr. 56 Rauschgift, Organisierte Kriminalität und Terrorismus

Nr. 57 Fröhlicher Patriotismus? Eine WM-Nachlese

Nr. 58 Bildung in Bestform – Welche Schule braucht Bayern?

Nr. 59 "Sie werden Euch hassen ..." – Christenverfolgung weltweit

Ab der Ausgabe Nr. 14 stehen unsere Hefte unter www.hss.de auch zum Download zur Verfügung.

Das könnte Ihnen auch gefallen