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Landratswahl in Sonneberg: Jetzt


regieren sie
Christian Bangel

~5 Minuten

Nun ist tatsächlich geschehen, was in den vergangenen Jahren


noch immer gerade so abgewendet werden konnte: Die AfD hat
erstmals eine Wahl gewonnen. Nein, sie hat nicht nur
besorgniserregend stark abgeschnitten, sie hat mit 52,8 Prozent
die absolute Mehrheit erzielt. In Sonneberg stellt sie nun mit
Robert Sesselmann bundesweit ihren ersten Landrat – ein Amt,
dessen Machtfülle mit dem eines Oberbürgermeisters
vergleichbar ist und das ihr erheblichen neuen Spielraum
verschafft.

Mit dieser Wahl beginnt eine neue Phase in der politischen


Kultur des Ostens, womöglich der ganzen Bundesrepublik.
Denn in Sonneberg reichte nicht einmal mehr der
Schulterschluss aller demokratischen Parteien, um einen Sieg
der teils rechtsextremen AfD zu verhindern. Der Satz, der so oft
zur Verteidigung des Ostens vorgebracht wird, dass es überall
noch Mehrheiten gegen die AfD gibt: Er gilt so nicht mehr.
Stattdessen muss Deutschland sich damit vertraut machen,
dass es im ländlichen Osten Regionen gibt, in denen die
Mehrheit einen Abbau der Demokratie und einen
Staatsrassismus wie in Ungarn oder Polen zumindest
hinnehmen würde. Denn nichts anderes ist letztlich das Angebot

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der Partei, die in Thüringen von Björn Höcke geführt wird.

Ist es die DDR? Die Nachwendezeit?

Es wird in den nächsten Tagen und Wochen wieder viel darüber


diskutiert werden, woran das alles liegt. Ist der große Zuspruch
für die AfD im Osten eine Folge der Diktatur, in der viele
ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger sozialisiert wurden? Oder
zeigt sich hier vor allem die Wut über die noch immer
bestehende Lohn- und Vermögenslücke zum Westen, die
Unterrepräsentation Ostdeutscher in den Eliten? Oder ist es
das, was aus den bundesweiten Nachrichten rüberschwappt –
die dilettierende Ampel, die Kulturkämpfe um das
Heizungsgesetz?

Ja, es gibt noch immer ein Erbe der DDR, das sich auch in
politischen Einstellungen niederschlägt, die wiederum an
jüngere Generationen tradiert werden. Mindestens genauso
bedeutsam aber ist, dass nach der Wende Jahr für Jahr immer
wieder ganze Schuljahrgänge die ländlichen Räume des Ostens
verließen. Denn was blieb, ist eine demografisch verzerrte
politische Kultur, in der die schütter gewordenen
Bomberjackenträger der Neunziger und deren Kinder ihren
Platz haben, aber nicht die Millionen, die gingen. Beim
Feierabendbier in der Garagensiedlung, in vielen Schulen und
Vereinen, aber inzwischen auch beim Sektempfang mancher
örtlicher Unternehmer bestimmen zu oft autoritäre, rassistische,
verschwörungsideologische Ansichten die Gespräche.

Schaut auf die Nichtwähler

Man sollte bei all dem allerdings nicht nur auf die Menschen
schauen, die AfD gewählt haben, sondern auch auf jene, die
nicht einmal bei dieser entscheidenden Wahl ihre Stimme
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abgaben. Bei gerade mal 58 Prozent lag die Wahlbeteiligung in
Sonneberg. Es sind nicht einfach nur die extrem Rechten stark,
es ist vor allem auch der Wille anderer schwach, diese
Demokratie gegen sie zu verteidigen. Wer die AfD wieder
kleinkriegen will, der muss vor allem diese Leute auf seine Seite
ziehen. Dahin – und nicht zu den Rechtsradikalen – sollte die
politische Energie fließen.

Doch Sonneberg wird vermutlich kein Einzelfall bleiben. Die


tiefe Verankerung der rechten Hegemonie in vielen ländlichen
Räumen lässt sich eben nicht durch ein paar Besuche des
Bundespräsidenten rückgängig machen – und übrigens auch
nicht durch mehr Arbeitsplätze. Die Erzählung von der großen
Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland stimmt so längst nicht mehr,
im Gegenteil. Während spektakuläre Investoren wie Intel oder
Tesla Hoffnung stiften, ist der Osten bundesweit am stärksten
vom Arbeitskräftemangel betroffen. Firmen gehen deswegen
pleite, die Regionen kämpfen inzwischen verzweifelt um Zuzug
– aus dem In- wie auch aus dem Ausland. Auch das macht die
blaue Mehrheit so verstörend: Ökonomisch betrachtet grenzt sie
an eine kollektive Selbstverstümmelung.

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