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Henrik Ibsen

Ein Volksfeind
Schauspiel in fünf Akten

Aus dem Norwegischen von Heiner Gimmler


© Verlag der Autoren Frankfurt am Main, 2006

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Ein Volksfeind
PERSONEN

DOKTOR TOMAS STOCKMANN, Badearzt


FRAU STOCKMANN, seine Frau
PETRA, ihre Tochter, Lehrerin
EJLIF, MORTEN ihre Söhne, 13 und 10 Jahre
PETER STOCKMANN, der ältere Bruder des Doktors, Bürgermeister und Polizeichef, Vorsitzender im
Aufsichtsrat des Bades usw.
MORTEN KIIL, Gerbermeister, Frau Stockmanns Pflegevater
HOVSTAD, Redakteur des »Volksboten«
BILLING, Mitarbeiter der Zeitung
KAPITÄN HORSTER
BUCHDRUCKER ASLAKSEN
Teilnehmer einer Bürgerversammlung, Männer aller Stände, einige Frauen und eine Gruppe
Schuljungen

Das Stück spielt in einer Küstenstadt im südlichen Norwegen

Originaltitel: En folkefiende
ERSTER AKT

Abend. Wohnzimmer des Doktors; bescheidene, nette Einrichtung. Rechts zwei Türen, die hintere führt
zum Korridor, die vordere ins Arbeitszimmer des Doktors. Links, gegenüber der Korridortür, Tür zu
den übrigen Räumen der Wohnung. In der Mitte dieser Wand ein Kachelofen und weiter vorn ein Sofa,
darüber ein Spiegel; vor dem Sofa ein ovaler Tisch mit Tischdecke. Auf dem Tisch brennt eine
Schirmlampe. Hinten offene Tür zum Esszimmer. Darin zum Abendessen gedeckter Tisch mit Lampe.

Billing, eine Serviette um den Hals, sitzt am Esstisch. Frau Stockmann steht beim Tisch und reicht ihm
eine Platte mit einem großen Rinderbraten. Die übrigen Plätze des Tisches sind leer, Geschirr und
Besteck durcheinander wie nach einer beendeten Mahlzeit.

FRAU STOCKMANN Ja, Herr Billing, wer eine Stunde zu spät kommt, muss sich mit kaltem Essen
begnügen.
BILLING isst Schmeckt fabelhaft, – ganz ausgezeichnet.
FRAU STOCKMANN Sie kennen Stockmann, pünktliche Mahlzeiten –
BILLING Macht nichts. Allein und ungestört schmeckt es mir fast am besten.
FRAU STOCKMANN Hauptsache, es schmeckt Ihnen – Horcht zum Korridor. Das ist sicher Hovstad.
BILLING Wahrscheinlich.

Bürgermeister Stockmann mit Mantel, Zweispitz und Stock kommt herein.

DER BÜRGERMEISTER Guten Abend, Schwägerin.


FRAU STOCKMANN geht ins Wohnzimmer Nein, sowas, guten Abend; Sie bei uns? Wie nett von Ihnen.
DER BÜRGERMEISTER Ich kam gerade vorbei und – Mit einem Blick zum Esszimmer. Oh, Sie haben
Besuch.
FRAU STOCKMANN etwas verlegen Nein, gar nicht; rein zufällig. Schnell. Essen Sie doch auch einen
Happen?
DER BÜRGERMEISTER Ich! Nein, besten Dank. Warmes Essen am Abend; Gott behüte; das ist nichts
für meine Verdauung.
FRAU STOCKMANN Ausnahmsweise –
DER BÜRGERMEISTER Nein, nein, Gott segne Sie; ich bleibe bei Tee und Brot. Das ist auf die Dauer
gesünder – und ökonomischer.
FRAU STOCKMANN lächelt Glauben Sie bloß nicht, Tomas und ich wären die reinsten Verschwender.
DER BÜRGERMEISTER Bewahre, Schwägerin, Sie nicht. Zeigt auf das Arbeitszimmer des Doktors. Ist er
nicht zu Hause?
FRAU STOCKMANN Nein, er macht einen kleinen Spaziergang nach dem Essen, – mit den Jungen.
DER BÜRGERMEISTER Ist das gesund? Lauscht. Da kommt er wohl.
FRAU STOCKMANN Nein, das ist er nicht. Es klopft. Bitte!

Redakteur Hovstad kommt vom Korridor.

FRAU STOCKMANN Oh, Herr Hovstad – ?


HOVSTADT Entschuldigen Sie; ich bin in der Druckerei aufgehalten worden. Guten Abend, Herr
Bürgermeister.
DER BÜRGERMEISTER grüßt etwas steif Herr Redakteur. Sicher geschäftlich?
HOVSTADT Teilsteils. Wegen der Zeitung.
DER BÜRGERMEISTER Dachte ich mir. Wie ich höre, ist mein Herr Bruder ein besonders eifriger
Schreiber des »Volksboten«.
HOVSTADT Er erlaubt sich, im »Volksboten« zu schreiben, wenn er ein Wort der Wahrheit zu sagen
hat, über dies und das.
FRAU STOCKMANN zu Hovstad Bitte, wollen Sie nicht – ? Zeigt zum Esszimmer.
DER BÜRGERMEISTER Aber, aber; ich verdenke es ihm keineswegs, wenn er für die Kreise schreibt,
von denen er sich die größte Resonanz erhofft. Im Übrigen, ich persönlich hege nicht den geringsten
Unwillen gegen Ihr Blatt, Herr Hovstad.
HOVSTADT Das hoffe ich.

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DER BÜRGERMEISTER Überhaupt herrscht in unserer Stadt ein schöner Geist der Verträglichkeit; – ein
echter guter Bürgergeist. Eine Folge, wie ich meine, des großen gemeinsamen Anliegens, das uns
alle vereint, – ein Anliegen, das alle rechtschaffenen Mitbürger gleichermaßen betrifft –
HOVSTADT Das Bad.
DER BÜRGERMEISTER Genau. Unser großes, neues, prächtiges Heilbad. Passen Sie auf! Das Bad wird
die wichtigste Lebensquelle der Stadt, Herr Hovstad. Kein Zweifel!
FRAU STOCKMANN Das sagt Tomas auch.
DER BÜRGERMEISTER In wenigen Jahren, welch unvergleichlicher Aufschwung in diesem Ort! Geld ist
unter die Leute gekommen; Leben, Bewegung. Der Wert der Immobilien steigt mit jedem Tag.
HOVSTADT Und die Arbeitslosigkeit nimmt ab.
DER BÜRGERMEISTER Das auch. Die Belastung der besitzenden Klassen durch die Armenfürsorge hat
sich höchst erfreulich verringert und wird es weiter tun; was wir brauchen dieses Jahr, das ist ein
richtig guter Sommer; – viele Touristen, – und viele Kranke, die das Bad bekannt machen.
HOVSTADT Die Aussichten stehen nicht schlecht, wie ich höre.
DER BÜRGERMEISTER Ganz und gar nicht. Täglich Anfragen wegen Unterkünften und dergleichen.
HOVSTADT Na, da kommt der Artikel des Doktors ja gerade recht.
DER BÜRGERMEISTER Hat er schon wieder was geschrieben?
HOVSTADT Letzten Winter; eine Empfehlung für das Bad, eine Darstellung der günstigen
Heilungsaussichten hier bei uns. Damals ließ ich den Artikel liegen.
DER BÜRGERMEISTER Aha, die Sache hatte vermutlich einen Haken?
HOVSTADT Das nicht; nur erschien es mir klüger, bis zum Frühjahr damit zu warten; denn jetzt planen
die Leute für den Sommer –
DER BÜRGERMEISTER Sehr vernünftig; außerordentlich vernünftig, Herr Hovstad.
FRAU STOCKMANN Ja, für das Bad arbeitet Tomas unermüdlich.
DER BÜRGERMEISTER Dafür wird er bezahlt.
HOVSTADT Schließlich hatte er die Idee mit dem Bad.
DER BÜRGERMEISTER Er? Aha? Ich weiß, gewisse Leute sind dieser Meinung. Ich neige allerdings zu
der Auffassung, dass auch ich einen bescheidenen Anteil an der Sache habe.
FRAU STOCKMANN Das sagt Tomas auch immer.
HOVSTADT Wer bestreitet das, Herr Bürgermeister? Sie haben das Bad gegründet und Sie haben es
bauen lassen, das ist bekannt. Aber die Idee hatte der Doktor.
DER BÜRGERMEISTER Ideen hatte mein Bruder immer mehr als genug – leider. Aber sie durchzusetzen,
dazu bedarf es anderer Männer, Herr Hovstad. Das sollte man in diesem Haus –
FRAU STOCKMANN Lieber Schwager –
HOVSTADT Herr Bürgermeister, wie können Sie –
FRAU STOCKMANN Bitte, Herr Hovstad, wollen Sie nicht etwas essen; mein Mann ist sicher gleich
zurück.
HOVSTADT Danke; vielleicht eine Kleinigkeit. Geht ins Esszimmer.
DER BÜRGERMEISTER etwas leiser Erstaunlich, diese Leute mit ihrer bäuerlichen Herkunft; sie sind
und bleiben taktlos.
FRAU STOCKMANN Warum sich ärgern? Sie und Tomas, können Sie sich als Brüder nicht die Ehre
teilen?
DER BÜRGERMEISTER So sollte es sein; aber nicht jeder teilt gern.
FRAU STOCKMANN Ach was! Sie und Tomas vertragen sich doch ausgezeichnet. Lauscht. Das ist er.
Sie geht und öffnet die Korridortür.
DOKTOR STOCKMANN lacht und lärmt draußen Hallo, Katrine, hier kommt noch ein Gast. Lustig, was?
Bitte sehr, Kapitän Horster; Ihr Mantel da an den Haken. Nanu, Sie haben gar keinen? Stell dir vor,
Katrine, auf der Straße habe ich ihn aufgegabelt; erst wollte er gar nicht.

Kapitän Horster kommt herein und begrüßt Frau Stockmann.

DOKTOR STOCKMANN in der Tür Rein mit euch, Jungs. Du, die haben schon wieder einen
Bärenhunger! Kapitän Horster, kommen Sie; den Rinderbraten müssen Sie probieren – Er bugsiert
Horster ins Esszimmer. Ejlif und Morten gehen auch hinein.
FRAU STOCKMANN Tomas, da ist – ?
DOKTOR STOCKMANN dreht sich in der Tür um Ach du, Peter! Geht zu ihm und gibt ihm die Hand.
Wie schön!

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DER BÜRGERMEISTER Leider muss ich weg –
DOKTOR STOCKMANN Papperlapapp; gleich steht der Toddy auf dem Tisch. Katrine, denkst du an den
Toddy?
FRAU STOCKMANN Natürlich; das Wasser kocht schon. Sie geht ins Esszimmer.
DER BÜRGERMEISTER Toddy – !
DOKTOR STOCKMANN Ja, setz dich, wir machens uns gemütlich.
DER BÜRGERMEISTER Danke; ich beteilige mich nicht an Toddygelagen.
DOKTOR STOCKMANN Das ist doch kein Gelage.
DER BÜRGERMEISTER Für mich schon – Sieht zum Esszimmer. Was die alles herunterschlingen.
DOKTOR STOCKMANN reibt sich die Hände Ja, ist das nicht phantastisch, wie junge Leute reinhauen?
Ewig Appetit, du! So muss es sein. Dazu brauchts Essen! Kräfte! Das sind die Leute, Peter, die
unsere Zukunft umkrempeln werden.
DER BÜRGERMEISTER Darf ich fragen, was es hier »umzukrempeln« gibt, wie du sagst?
DOKTOR STOCKMANN Frag die Jugend – wenn es soweit ist. Wir haben natürlich keine Ahnung.
Logisch. Du und ich, wir zwei alten Knacker –
DER BÜRGERMEISTER Bitte, deine Ausdrucksweise –
DOKTOR STOCKMANN Nimms nicht so genau mit mir, Peter. Ich bin so froh und vergnügt. Ich fühle
mich so unbeschreiblich wohl in all dem Leben um mich herum. Ach, wir leben in einer herrlichen
Zeit! Eine ganz neue Welt zieht herauf.
DER BÜRGERMEISTER Meinst du?
DOKTOR STOCKMANN Du merkst es nicht. Du hast dein ganzes Leben hier verbracht; da verwischen
sich die Eindrücke. Aber ich war jahrelang da oben im Norden, in diesem Nest, fast ohne einen
Menschen, mit dem ich hätte reden können, – hier dagegen fühle ich mich wie in einer pulsierenden
Weltstadt –
DER BÜRGERMEISTER Hm; Weltstadt –
DOKTOR STOCKMANN Ich weiß, verglichen mit anderen Städten sind die Verhältnisse hier bescheiden.
Aber hier ist Leben, – Zukunft, unzählige Aufgaben, für die man arbeiten und kämpfen kann; das ist
die Hauptsache. Ruft. Katrine, war der Postbote da?
FRAU STOCKMANN im Esszimmer Nein, niemand.
DOKTOR STOCKMANN Und das gute Gehalt, Peter! Das lernt man zu schätzen, wenn man am
Hungertuch genagt hat wie wir –
DER BÜRGERMEISTER Gott behüte –
DOKTOR STOCKMANN Doch, du, uns gings oft dreckig da oben. Hier leben wir wie die Fürsten! Heute
Mittag, zum Beispiel, gabs Rinderbraten; der reicht noch für heute Abend. Magst du ein Stück? Aber
sehen musst du ihn. Komm –
DER BÜRGERMEISTER Nein, nein, bestimmt nicht –
DOKTOR STOCKMANN Na, komm schon. Sieh mal, die neue Tischdecke?
DER BÜRGERMEISTER Ich habe sie bemerkt.
DOKTOR STOCKMANN Und ein neuer Lampenschirm. Siehst du? Das hat Katrine zusammengespart.
Das Zimmer wirkt viel gemütlicher. Findest du nicht? Stell dich hierher; – nein, nein, nein; nicht so.
So, ja! Siehst du; wenn der Lichtschein so schön nach unten fällt – . Richtig elegant. Was?
DER BÜRGERMEISTER Ja, wer sich solchen Luxus leisten kann –
DOKTOR STOCKMANN Jetzt kann ich mir was leisten. Katrine sagt, ich verdiene fast so viel, wie wir
brauchen.
DER BÜRGERMEISTER Ja, fast – !
DOKTOR STOCKMANN Als Wissenschaftler muss man doch etwas vornehmer leben. Ich bin überzeugt,
ein gewöhnlicher Landrat braucht viel mehr im Jahr als ich.
DER BÜRGERMEISTER Ich bitte dich! Ein Landrat, ein Repräsentant der Obrigkeit –
DOKTOR STOCKMANN Meinetwegen, oder ein einfacher Kaufmann! Der braucht viel mehr als –
DER BÜRGERMEISTER Das ist unsere Gesellschaftsordnung.
DOKTOR STOCKMANN Ich bin wirklich kein Verschwender, Peter. Aber Menschen um mich zu haben,
diese Freude kann ich mir nicht versagen. Ich brauche das, verstehst du. Jahrelang war ich
ausgeschlossen von allem, – für mich ist das eine Lebensnotwendigkeit, zusammen zu sein mit
jungen, frischen, mutigen Menschen, frei denkenden Menschen, tatendurstigen – ; und das sind sie
alle, die da drinnen sitzen und sichs schmecken lassen. Hovstad müsstest du kennenlernen –
DER BÜRGERMEISTER Richtig, Hovstad hat mir erzählt, er will einen Artikel von dir bringen.
DOKTOR STOCKMANN Von mir, einen Artikel?

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DER BÜRGERMEISTER Über das Bad. Einen Artikel, den du im Winter geschrieben hast.
DOKTOR STOCKMANN Oh, der! Nein, der darf vorerst nicht erscheinen.
DER BÜRGERMEISTER Nicht? Jetzt wäre der beste Zeitpunkt.
DOKTOR STOCKMANN Du hast recht; unter normalen Umständen – Geht durchs Zimmer.
DER BÜRGERMEISTER mit Blick auf ihn Was sollte denn unnormal sein?
DOKTOR STOCKMANN bleibt stehen Im Moment kann ich dir das leider nicht sagen, Peter; jedenfalls
nicht heute Abend. Unnormal kann alles Mögliche sein; oder gar nichts. Vielleicht ist alles auch nur
ein Irrtum.
DER BÜRGERMEISTER Ich muss gestehen, das klingt äußerst rätselhaft. Ist etwas nicht in Ordnung?
Etwas, was ich nicht wissen soll? Als Vorsitzender des Aufsichtsrates darf ich dich daran erinnern –
DOKTOR STOCKMANN Und ich darf dich daran erinnern, dass – ; ach, Peter, kriegen wir uns nicht in
die Haare.
DER BÜRGERMEISTER Gott behüte; ich kriege mich nie in die Haare, wie du sagst. Aber ich muss auf
das entschiedenste verlangen, dass alle Maßnahmen auf dem Amtsweg von den gesetzlich hierfür
zuständigen Behörden getroffen und durchgeführt werden. Krumme Touren und Hintertüren kann
ich nicht zulassen
DOKTOR STOCKMANN Ich und krumme Touren – !
DER BÜRGERMEISTER Jedenfalls hast du einen eingefleischten Hang, deine eigenen Wege zu gehen. In
einer ordnungsgemäßen Gesellschaft ist das genauso unzulässig. Der Einzelne hat sich dem Ganzen
unterzuordnen, genauer gesagt, den Institutionen, die zuständig sind für das Wohl des Ganzen.
DOKTOR STOCKMANN Möglich. Was zum Teufel geht mich das an?
DER BÜRGERMEISTER Mein lieber Tomas, genau das wirst du nie lernen. Aber pass auf; eines Tages
wirst du dafür büßen, – früher oder später. Ich habe dich gewarnt. Adieu.
DOKTOR STOCKMANN Bist du verrückt? Du bist absolut auf dem Holzweg –
DER BÜRGERMEISTER Das bin ich nie. Im Übrigen verbitte ich mir – Grüßt zum Esszimmer. Adieu,
Schwägerin. Adieu, meine Herren. Ab.
FRAU STOCKMANN kommt ins Wohnzimmer Ist er weg?
DOKTOR STOCKMANN Ja, du, und wütend.
FRAU STOCKMANN Lieber Tomas, was hast du wieder mit ihm angestellt?
DOKTOR STOCKMANN Gar nichts. Er kann doch nicht Rechenschaft von mir verlangen, bevor es soweit
ist.
FRAU STOCKMANN Wieso Rechenschaft?
DOKTOR STOCKMANN Hm; lass mich, Katrine. – Sonderbar, dass der Postbote nicht kommt.

Hovstad, Billing und Horster sind vom Esstisch aufgestanden und kommen ins Wohnzimmer. Ejlif und
Morten kommen etwas später nach.

BILLING reckt die Arme Gottverdammich, nach so einer Mahlzeit fühlt man sich wie ein neuer
Mensch.
HOVSTADT Der Bürgermeister war heute Abend nicht gerade in bester Laune.
DOKTOR STOCKMANN Magenprobleme; er hat eine schwache Verdauung.
HOVSTADT Uns vom »Volksboten« kann er überhaupt nicht verdauen.
FRAU STOCKMANN Ich dachte, Sie kommen leidlich miteinander aus.
HOVSTADT Oh ja; wir haben eine Art Waffenstillstand.
BILLING Das ist es! Das trifft den Nagel auf den Kopf.
DOKTOR STOCKMANN Peter ist ein einsamer Mensch, der Ärmste, vergessen wir das nicht. Er hat keine
Familie, wo er sich wohl fühlen kann; immer nur Geschäfte, Geschäfte. Und ewig dieser verdammte
dünne Tee, den er in sich hineinkippt. Na ja, Jungs, rückt mal die Stühle an den Tisch! Katrine, der
Toddy?
FRAU STOCKMANN die zum Esszimmer geht Gleich.
DOKTOR STOCKMANN Kapitän Horster, Sie kommen zu mir aufs Sofa. Ein seltener Gast wie Sie – .
Bitte; meine Freunde, nehmen Sie Platz.

Die Herren setzen sich an den Tisch, Frau Stockmann bringt ein Tablett mit Kocher, Gläsern,
Karaffen und den übrigen Sachen.

FRAU STOCKMANN So; hier ist Arrak, da Rum und Cognac. Bitte, bedienen Sie sich.

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DOKTOR STOCKMANN nimmt ein Glas Und wie! Während der Toddy gemischt wird. Die Zigarren.
Ejlif, du weißt, wo die Kiste steht. Und Morten, du holst meine Pfeife. Die Jungen gehen ins Zimmer
rechts. Ich habe den Verdacht, Ejlif klaut mir ab und zu eine Zigarre; ich lasse mir aber nichts
anmerken. Ruft. Und meine Mütze, Morten! Katrine, sag ihm, wo ich sie hingelegt habe. Na, da hat
er sie ja! Die Jungen bringen die Sachen. Bitte, meine Freunde. Ich bleibe bei meiner Pfeife; oben
im Norden habe ich so manches Unwetter mit ihr überstanden. Stößt an. Skål! Aber hier zu sitzen in
Ruhe und Frieden ist doch besser.
FRAU STOCKMANN sitzt und strickt Sie fahren bald, Kapitän Horster?
HORSTER Nächste Woche bin ich soweit.
FRAU STOCKMANN Nach Amerika?
HORSTER Ja, dahin soll es gehen.
BILLING Sie nehmen also gar nicht teil an der Wahl zum neuen Stadtrat.
HORSTER Schon wieder Wahlen?
BILLING Wissen Sie das nicht?
HORSTER Nein, ich wähle nicht.
BILLING Aber Sie interessieren sich für die öffentlichen Angelegenheiten?
HORSTER Davon verstehe ich nichts.
BILLING Trotzdem; wählen muss man.
HORSTER Auch wenn man nichts davon versteht?
BILLING Verstehen? Wie meinen Sie das? Die Gesellschaft ist wie ein Schiff; alle Hände ans
Steuerruder.
HORSTER An Land vielleicht; auf See lieber nicht.
HOVSTADT Merkwürdig, die meisten Seeleute interessieren sich nicht für die Angelegenheiten des
Landes.
BILLING Sehr merkwürdig.
DOKTOR STOCKMANN Seeleute sind Zugvögel; die fühlen sich im Süden wie im Norden zu Hause.
Desto wirksamer müssen wir anderen sein, Herr Hovstad. Bringt der »Volksbote« morgen etwas im
Interesse des Gemeinwohls?
HOVSTADT Nicht die Stadt betreffend. Aber übermorgen wollte ich Ihren Artikel –
DOKTOR STOCKMANN Tod und Teufel, der Artikel! Nein, hören Sie, warten Sie damit.
HOVSTADT So? Wir hatten gerade Platz, und der Zeitpunkt schien auch sehr günstig –
DOKTOR STOCKMANN Ja, ja, Sie haben recht; trotzdem warten Sie besser. Ich erkläre Ihnen später –

Petra, in Hut und Mantel, mit Schulheften unter dem Arm, kommt vom Korridor.

PETRA Guten Abend.


DOKTOR STOCKMANN Petra, guten Abend; na du?

Gegenseitige Begrüßung; Petra legt Hut, Mantel und Hefte auf einen Stuhl bei der Tür.

PETRA Hier sitzt man und lässt es sich gut gehen, und ich muss schuften.
DOKTOR STOCKMANN Na, tu dir auch was Gutes, Petra.
BILLING Darf ich Ihnen ein kleines Glas mischen?
PETRA geht zum Tisch Danke, das mache ich lieber selbst; Ihrer ist immer so stark. Ach ja, Vater, ich
habe einen Brief für dich. Geht zum Stuhl, wo die Sachen liegen.
DOKTOR STOCKMANN Von wem?
PETRA sucht in der Manteltasche Der Postbote gab ihn mir, gerade als ich los wollte –
DOKTOR STOCKMANN steht auf und geht zu ihr Den gibst du mir erst jetzt!
PETRA Ich hatte wirklich keine Zeit, nochmal raufzulaufen. Bitte.
DOKTOR STOCKMANN greift nach dem Brief Lass sehen; lass sehen, Kind. Sieht auf den Absender. Ja,
ganz recht – !
FRAU STOCKMANN Ist das der, auf den du gewartet hast, Tomas?
DOKTOR STOCKMANN Ja, ich muss sofort zu mir – . Katrine, eine Kerze? Ist wieder keine Lampe in
meinem Zimmer!
FRAU STOCKMANN Die Lampe brennt auf deinem Schreibtisch.
DOKTOR STOCKMANN Gut, gut. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick – Er geht in das Zimmer
rechts.

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PETRA Was hat er denn, Mutter?
FRAU STOCKMANN Ich weiß nicht; in den letzten Tagen fragte er dauernd nach dem Postboten.
BILLING Vielleicht ein Patient von außerhalb –
PETRA Armer Vater; er arbeitet sich noch tot. Mischt sich ein Glas. Ah, das wird schmecken!
HOVSTADT Haben Sie heute wieder in der Abendschule unterrichtet?
PETRA nippt an ihrem Glas Zwei Stunden.
BILLING Und vormittags vier Stunden am Institut –
PETRA setzt sich an den Tisch Fünf.
FRAU STOCKMANN Und jetzt musst du noch Aufsätze korrigieren.
PETRA Den ganzen Stapel.
HORSTER Sie haben eine Menge Arbeit, scheint mir.
PETRA Das ist nur gut. Hinterher ist man herrlich müde.
BILLING Mögen Sie das?
PETRA Ja, man schläft umso besser.
MORTEN Du, Petra, du bist eine große Sünderin.
PETRA Wieso?
MORTEN Weil du so viel arbeiten musst. Herr Rørlund sagt, die Arbeit ist eine Strafe für unsere
Sünden.
EJLIF Pah, bist du doof, dass du so was glaubst.
FRAU STOCKMANN Na, na, Ejlif!
BILLING lacht Großartig.
HOVSTADT Willst du nicht so viel arbeiten, Morten?
MORTEN Nein.
HOVSTADT Was willst du denn werden?
MORTEN Am liebsten Vikinger.
EJLIF Da musst du aber Heide sein.
MORTEN Heide wäre ich gern.
BILLING Bravo, Morten! Genau das sage ich auch.
FRAU STOCKMANN macht ein Zeichen Nein, Herr Billing, das tun Sie natürlich nicht.
BILLING Gottverdammich – ! Ich bin Heide, und ich bin stolz darauf. Warten Sies ab, bald sind wir alle
Heiden.
MORTEN Dürfen wir dann machen, was wir wollen?
BILLING Weißt du, Morten –
FRAU STOCKMANN Jetzt aber Schluss, Jungs; ihr müsst bestimmt noch lernen für morgen.
EJLIF Ich darf noch bleiben –
FRAU STOCKMANN Du auch nicht; geht beide jetzt.

Die Jungen sagen gute Nacht und gehen ins Zimmer links.

HOVSTADT Glauben Sie wirklich, es schadet den Jungs, so was zu hören?


FRAU STOCKMANN Ich weiß nicht; ich mag das nicht.
PETRA Mutter, ich finde dich unmöglich.
FRAU STOCKMANN Vielleicht; aber ich mags nun mal nicht, nicht zu Hause.
PETRA Es gibt so viele Lügen, zu Hause und in der Schule. Zu Hause soll man den Mund halten, und
in der Schule müssen wir die Kinder anlügen.
HORSTER Sie müssen lügen?
PETRA Ja, was meinen Sie, was wir alles unterrichten müssen und glauben selbst nicht daran?
BILLING Jawohl.
PETRA Hätte ich die Mittel, ich würde eine eigene Schule aufmachen, da gings anders zu.
BILLING Ach was, Mittel –
HORSTER Wenn es darum geht, Fräulein Stockmann, bei mir hätten Sie genug Platz. Das große alte
Haus meines verstorbenen Vaters steht fast leer; unten ist ein riesiger Speisesaal –
PETRA lacht Ja, ja, vielen Dank; aber daraus wird nichts.
HOVSTADT Ich glaube auch, Fräulein Petra wird eher zu uns Zeitungsschreibern überlaufen. Übrigens,
haben Sie schon die englische Erzählung gelesen, die Sie für uns übersetzen wollen?
PETRA Noch nicht; aber Sie bekommen sie rechtzeitig.

10
Doktor Stockmann, den offenen Brief in der Hand, kommt aus seinem Zimmer.

DOKTOR STOCKMANN schwingt den Brief Jetzt gibts was Neues in der Stadt, das könnt ihr mir
glauben!
BILLING Was Neues?
FRAU STOCKMANN Was denn?
DOKTOR STOCKMANN Eine große Entdeckung, Katrine!
HOVSTADT So?
FRAU STOCKMANN Die du gemacht hast?
DOKTOR STOCKMANN Jawohl, ich. Geht hin und her. Sollen sie nur kommen, wie üblich, und sagen,
das seien Hirngespinste, Ideen eines Verrückten. Aber sie werden sich hüten! Haha, sie werden sich
hüten, bestimmt!
PETRA Was ist es, Vater, bitte.
DOKTOR STOCKMANN Ja, ja, lasst mir Zeit, ihr sollt alles erfahren. Wenn Peter jetzt hier wäre! Wir
Menschen urteilen doch wie die blindesten Maulwürfe –
HOVSTADT Wie meinen Sie das, Herr Doktor?
DOKTOR STOCKMANN bleibt am Tisch stehen Die allgemeine Meinung lautet doch, unsere Stadt ist ein
Ort der Gesundheit?
HOVSTADT Selbstverständlich.
DOKTOR STOCKMANN Ein Ort von außergewöhnlicher Gesundheit sogar, – ein Ort, der wärmste
Empfehlung verdient, bei kranken wie bei gesunden Mitmenschen –
FRAU STOCKMANN Lieber Tomas –
DOKTOR STOCKMANN Und wir haben ihn empfohlen und angepriesen, jawohl. Ich selbst habe
geschrieben und geschrieben, im »Volksboten«, in Broschüren –
HOVSTADT Nun ja, und?
DOKTOR STOCKMANN Dieses Heilbad, – Pulsader der Stadt hat man es genannt, Lebensnerv der Stadt,
und – weiß der Teufel was –
BILLING »Das pochende Herz der Stadt« habe ich mir erlaubt, bei einem feierlichen Anlass –
DOKTOR STOCKMANN Auch das, ja! Wissen Sie, was dieses große prächtige, hochgepriesene Bad, das
so viel Geld gekostet hat, – wissen Sie, was es in Wirklichkeit ist?
HOVSTADT Nein, was denn?
FRAU STOCKMANN Ja, was denn?
DOKTOR STOCKMANN Das Bad ist eine Pestbeule.
PETRA Das Bad, Vater!
FRAU STOCKMANN gleichzeitig Unser Bad!
HOVSTADT ebenso Aber, Herr Doktor –
BILLING Unglaublich!
DOKTOR STOCKMANN Das Bad ist eine einzige gut getarnte Giftgrube, sage ich.
Gesundheitsgefährdend in allerhöchstem Maß! Der ganze Dreck aus dem oberen Mühltal, – der so
ekelhaft stinkt, – der hat das Wasser in den Zuleitungen zum Brunnenhaus infiziert; und derselbe
verdammte giftige Dreck sickert hinunter bis zum Strand –
HORSTER Wo das Seebad liegt?
DOKTOR STOCKMANN Genau dahin.
HOVSTADT Woher wissen Sie das alles, Herr Doktor?
DOKTOR STOCKMANN Ich habe die Verhältnisse auf das gewissenhafteste untersucht. Den Verdacht
hatte ich schon lange. Voriges Jahr gab es hier unter den Badegästen einige atypische Erkrankungen
– Typhus und gastrische Beschwerden –
FRAU STOCKMANN Ja, richtig.
DOKTOR STOCKMANN Damals glaubten wir, die Gäste hätten den Infekt eingeschleppt; im Winter kam
ich dann auf andere Ideen; ich fing an, das Wasser zu untersuchen, so gut es hier ging.
FRAU STOCKMANN Ach, damit warst du so beschäftigt!
DOKTOR STOCKMANN Recht hast du, Katrine. Allerdings fehlten mir die notwendigen
wissenschaftlichen Apparaturen; ich schickte deshalb Trink- und Seewasserproben an die
Universität, um eine exakte chemische Analyse durchführen zu lassen.
HOVSTADT Und die haben Sie jetzt?

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DOKTOR STOCKMANN zeigt den Brief Hier ist sie! Fest steht der Nachweis verfaulter organischer
Stoffe im Wasser, – also massenhaft Infusorien. Für die Gesundheit absolut schädlich das Wasser,
bei innerer wie äußerer Anwendung.
FRAU STOCKMANN Gott sei Dank, dass du das rechtzeitig entdeckt hast.
DOKTOR STOCKMANN Das kann man wohl sagen.
HOVSTADT Was gedenken Sie zu tun, Herr Doktor?
DOKTOR STOCKMANN Die Sache in Ordnung bringen, natürlich.
HOVSTADT Lässt sich das machen?
DOKTOR STOCKMANN Es muss sich machen lassen. Sonst ist das ganze Bad sinnlos, – ruiniert. Aber
keine Angst. Ich weiß, was zu tun ist.
FRAU STOCKMANN Dass du das Ganze geheim gehalten hast, Tomas.
DOKTOR STOCKMANN Sollte ich etwa in die Stadt laufen und darüber reden, bevor ich volle
Gewissheit hatte? Nein danke; so verrückt bin ich nicht.
PETRA Aber uns zu Hause –
DOKTOR STOCKMANN Keiner lebenden Seele. Morgen kannst du meinetwegen zum »Dachs« gehen –
FRAU STOCKMANN Tomas –
DOKTOR STOCKMANN Gut, zum Großvater. Der soll sich wundern, der Alte; er hält mich für verrückt;
oh ja, wie viele andere, ich weiß. Die guten Leute werden Augen machen – ; die werden Augen
machen – ! Geht herum und reibt sich die Hände. Das wird ein Aufstand in der Stadt, Katrine! Das
kannst du dir nicht vorstellen. Die Wasserleitung muss komplett neu verlegt werden.
HOVSTADT steht auf Die ganze Wasserleitung – ?
DOKTOR STOCKMANN Natürlich. Die Pumpstelle liegt zu tief; die muss nach oben versetzt werden.
PETRA Du hattest also recht.
DOKTOR STOCKMANN Du erinnerst dich, Petra? Damals habe ich dagegen protestiert, als gebaut
werden sollte. Aber niemand wollte auf mich hören. Na, jetzt kriegen sie die Quittung; –
selbstverständlich habe ich für den Aufsichtsrat einen Bericht geschrieben; schon seit einer Woche
ist er fertig; nur auf das hier habe ich gewartet. Zeigt den Brief. Aber jetzt muss er raus. Geht in sein
Zimmer und kommt mit mehreren Blättern zurück. Bitte! Vier eng beschriebene Bögen! Dazu der
Brief. Katrine, eine Zeitung! Irgendein Umschlag. Gut; so; gib das der – der – ; Stampft mit dem
Fuß. Zum Teufel, wie heißt sie denn? Also, gib das dem Mädchen; und sofort damit zum
Bürgermeister!

Frau Stockmann geht mit dem Päckchen durchs Esszimmer hinaus.

PETRA Vater, was wird Onkel Peter dazu sagen?


DOKTOR STOCKMANN Was soll er sagen? Heilfroh muss er sein, dass so eine wichtige Wahrheit
endlich an den Tag kommt.
HOVSTADT Darf ich mir erlauben, im »Volksboten« eine kleine Meldung über Ihre Entdeckung zu
bringen?
DOKTOR STOCKMANN Ja, vielen Dank.
HOVSTADT Es ist ja nur im Interesse der Allgemeinheit, so früh wie möglich zu informieren.
DOKTOR STOCKMANN Sicher.
FRAU STOCKMANN kommt zurück Schon unterwegs.
BILLING Gottverdammich, Sie werden noch der erste Mann der Stadt, Herr Doktor!
DOKTOR STOCKMANN geht vergnügt herum Ach was; das war nur meine Pflicht. Ich hab eben Schwein
gehabt; das ist alles; trotzdem –
BILLING Hovstad, die Stadt muss einen Fackelzug bringen für Doktor Stockmann! Was?
HOVSTADT Dafür werde ich mich stark machen.
BILLING Und ich spreche deswegen mit Aslaksen.
DOKTOR STOCKMANN Nein, liebe Freunde, lasst den Unsinn; ich will nichts hören von irgendwelchen
Ehrungen. Und sollte der Aufsichtsrat auf die Idee kommen, mir eine Gehaltserhöhung anzubieten,
so lehne ich selbstverständlich ab. Katrine, hast du verstanden, – ich lehne ab.
FRAU STOCKMANN Ja, Tomas.
PETRA hebt ihr Glas Skål, Vater!
HOVSTADT UND BILLING Skål, Skål, Herr Doktor.
HORSTER stößt mit dem Doktor an Möge Ihnen das alles nur Glück bringen.

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DOKTOR STOCKMANN Danke, danke, meine lieben Freunde! Ich bin überglücklich – ; oh, es ist ein
wunderbares Gefühl zu wissen, dass man sich verdient gemacht hat um seine Vaterstadt und um
seine Mitbürger. Hurra, Katrine!

Er umarmt sie mit beiden Armen und wirbelt mit ihr herum. Frau Stockmann kreischt und wehrt sich.
Gelächter, Beifall und Hurrarufe für den Doktor. Die Jungen stecken die Köpfe zur Tür herein.

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ZWEITER AKT

Wohnzimmer des Doktors. Die Tür zum Esszimmer ist geschlossen.

Vormittag.

FRAU STOCKMANN kommt mit einem versiegelten Brief in der Hand aus dem Esszimmer, geht zur Tür
vorn rechts und blickt hinein Tomas, bist du da?
DOKTOR STOCKMANN von drinnen Eben zurück. Kommt heraus. Ist was?
FRAU STOCKMANN Ein Brief von deinem Bruder. Gibt ihm den Brief.
DOKTOR STOCKMANN Aha, mal sehn. Öffnet den Umschlag und liest. »Anbei der übersandte Bericht
retour – « Liest murmelnd weiter. Hm –
FRAU STOCKMANN Was schreibt er denn?
DOKTOR STOCKMANN steckt die Papiere in die Tasche Nur, dass er selber kommt, gegen Mittag.
FRAU STOCKMANN Dann sei zu Hause und vergiss es nicht.
DOKTOR STOCKMANN Kein Problem; die Vormittagsvisiten sind erledigt.
FRAU STOCKMANN Ich bin gespannt, was er sagt.
DOKTOR STOCKMANN Dass ich die Entdeckung gemacht habe und nicht er, passt ihm sicher nicht.
FRAU STOCKMANN Fürchtest du auch?
DOKTOR STOCKMANN Im Grunde ist er natürlich heilfroh. Trotzdem – ; Peters größte Angst ist, dass
außer ihm auch noch andere Leute etwas tun könnten zum Wohl der Stadt.
FRAU STOCKMANN Hör zu, Tomas, – tu mir den Gefallen und teilt euch die Ehre. Es kann doch heißen,
er hat dich auf die Idee gebracht – ?
DOKTOR STOCKMANN Von mir aus. Hauptsache, der Schaden wird behoben –
DER ALTE MORTEN KIIL steckt den Kopf durch die Korridortür herein, blickt sich neugierig um, lacht
in sich hinein und fragt verschlagen Ist das – ist das wahr?
FRAU STOCKMANN zu ihm hin Vater, – du!
DOKTOR STOCKMANN Nanu, Schwiegervater; guten Morgen, guten Morgen!
FRAU STOCKMANN Komm doch herein.
MORTEN KIIL Nur, wenn es wahr ist; sonst geh ich wieder.
DOKTOR STOCKMANN Was soll wahr sein?
MORTEN KIIL Der Blödsinn mit dem Wasserwerk. Ist das wahr?
DOKTOR STOCKMANN Natürlich! Woher wissen Sie das?
MORTEN KIIL kommt herein Petra war bei mir, auf dem Weg zur Schule –
DOKTOR STOCKMANN Tatsächlich?
MORTEN KIIL Jawohl; sie hat gesagt – . Erst dachte ich, sie wollte mich für dumm verkaufen; aber das
passt nicht zu ihr.
DOKTOR STOCKMANN Wieso?
MORTEN KIIL Man soll sich nie auf jemand verlassen; eh man sichs versieht, ist man der Dumme. Es
stimmt also?
DOKTOR STOCKMANN Absolut! Setzen Sie sich, Schwiegervater. Nötigt ihn aufs Sofa. Für die Stadt ist
das doch ein wahrer Segen – ?
MORTEN KIIL kämpft mit dem Lachen Segen, für die Stadt?
DOKTOR STOCKMANN Ja, dass ich die Geschichte rechtzeitig entdeckt habe –
MORTEN KIIL wie vorher Doch, doch, doch! – Aber diesen Streich gegen Ihren eigenen Bruder, den
hätte ich Ihnen nicht zugetraut.
DOKTOR STOCKMANN Streich?
FRAU STOCKMANN Lieber Vater –
MORTEN KIIL stützt Hände und Kinn auf den Stockknauf und blickt Doktor Stockmann pfiffig an Wie
war das? Irgendwelche Tiere sind in den Wasserrohren?
DOKTOR STOCKMANN Wimpertierchen, Infusorien.
MORTEN KIIL Petra sagt, ganz viele Tiere. Unzählige Mengen.
DOKTOR STOCKMANN Hunderttausende.
MORTEN KIIL Aber sehen tut man sie nicht, – richtig?
DOKTOR STOCKMANN Nein, sehen kann man sie nicht.

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MORTEN KIIL mit leisem, glucksendem Lachen Hol mich der Teufel, das ist das Beste, was ich von
Ihnen gehört habe.
DOKTOR STOCKMANN Wie bitte?
MORTEN KIIL Aber den Bürgermeister werden Sie nicht davon überzeugen.
DOKTOR STOCKMANN Abwarten.
MORTEN KIIL Sie meinen, er ist so verrückt?
DOKTOR STOCKMANN Ich hoffe, die ganze Stadt ist so verrückt.
MORTEN KIIL Die ganze Stadt! Schon möglich. Recht geschieht denen; das haben sie davon. Wollen
immer klüger sein als wir Alten. Wie einen Hundsfott haben sie mich hinausvotiert aus dem Stadtrat.
Jawohl; wie einen Hundsfott. Jetzt kriegen sie es zurück. Spielen Sie denen diesen Streich,
Stockmann.
DOKTOR STOCKMANN Schwiegervater –
MORTEN KIIL Jawohl, diesen Streich. Steht auf. Und wenn Sie es schaffen, dass der Bürgermeister und
seine Freunde sich blutige Köpfe holen, spende ich auf der Stelle hundert Kronen für die Armen.
DOKTOR STOCKMANN Das ist sehr großzügig von Ihnen.
MORTEN KIIL Sie wissen, ich habe nicht viel; aber wenn Sie das schaffen, dann bekommen die Armen
fünfzig Kronen von mir zu Weihnachten.

Redakteur Hovstad kommt vom Korridor.

HOVSTADT Guten Morgen! Bleibt stehen. Oh Verzeihung –


DOKTOR STOCKMANN Kommen Sie; kommen Sie.
MORTEN KIIL gluckst wieder Der! Macht der auch mit?
HOVSTADT Was meinen Sie?
DOKTOR STOCKMANN Natürlich macht er mit.
MORTEN KIIL Hätte mirs denken können! So was muss in die Zeitung. Stockmann, Sie sind richtig.
Weiter so; jetzt gehe ich.
DOKTOR STOCKMANN Bleiben Sie, Schwiegervater.
MORTEN KIIL Nein, ich muss weg. Spielen Sie Ihren Streich, treiben Sies auf die Spitze; zum Teufel,
es soll Ihr Schaden nicht sein.

Er geht, Frau Stockmann begleitet ihn hinaus.

DOKTOR STOCKMANN lacht Stellen Sie sich vor, – der Alte glaubt mir kein Wort mit dem Wasserwerk.
HOVSTADT Ach, das wars – ?
DOKTOR STOCKMANN Ja, kommen Sie etwa auch deshalb?
HOVSTADT So ist es. Haben Sie einen Moment Zeit, Herr Doktor?
DOKTOR STOCKMANN Solange Sie wollen, mein Lieber.
HOVSTADT Wissen Sie schon was vom Bürgermeister?
DOKTOR STOCKMANN Noch nicht. Er kommt später selbst.
HOVSTADT Ich habe mir die Angelegenheit seit gestern Abend durch den Kopf gehen lassen.
DOKTOR STOCKMANN Und?
HOVSTADT Sie, als Arzt und Wissenschaftler, betrachten die Sache mit dem Wasserwerk natürlich als
Fall für sich. Das heißt, Sie kommen gar nicht auf die Idee, dass noch ganz andere Fakten da
hineinspielen.
DOKTOR STOCKMANN Wie – ? Setzen wir uns. – Nein, da aufs Sofa.

Hovstad setzt sich aufs Sofa, Doktor Stockmann in einen Sessel auf der anderen Seite des Tisches.

DOKTOR STOCKMANN Nun? Sie meinen also – ?


HOVSTADT Sie sagten gestern, das verseuchte Wasser sei eine Folge der Bodenverschmutzung.
DOKTOR STOCKMANN Zweifellos, Schuld daran ist der Giftsumpf im oberen Mühltal.
HOVSTADT Verzeihung, Herr Doktor, ich glaube, es ist ein ganz anderer Sumpf.
DOKTOR STOCKMANN Der wäre?
HOVSTADT Der Sumpf, in dem unsere gesamte Kommunalpolitik steckt und stinkt.
DOKTOR STOCKMANN Unsinn, Herr Hovstad, was soll das heißen?

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HOVSTADT Alle städtischen Angelegenheiten sind nach und nach in die Hände einer bestimmten
Beamtenclique geraten –
DOKTOR STOCKMANN Nicht alle sind Beamte.
HOVSTADT Stimmt, wer kein Beamter ist, gehört zu den Freunden und Förderern dieser Beamten; alle
reichen und alteingesessenen Familien der Stadt; die regieren und kommandieren uns.
DOKTOR STOCKMANN Aber Sachverstand und Tatkraft haben die Leute.
HOVSTADT Wo waren Sachverstand und Tatkraft, als sie die Wasserleitung so legten, wie sie liegt?
DOKTOR STOCKMANN Das war natürlich eine große Dummheit. Die wird jetzt korrigiert.
HOVSTADT Sie glauben, das geht so glatt?
DOKTOR STOCKMANN Glatt oder nicht glatt, – passieren muss was.
HOVSTADT Ja, wenn die Presse eingreift.
DOKTOR STOCKMANN Überflüssig, mein Lieber. Ich bin sicher, mein Bruder –
HOVSTADT Verzeihung, Herr Doktor, ich habe die Absicht, den Fall aufzurollen.
DOKTOR STOCKMANN In der Zeitung?
HOVSTADT Ja. Als ich den »Volksboten« übernahm, war es mein Ziel, diesen Verein von alten,
eigensinnigen Holzköpfen, die die ganze Macht haben, zu sprengen.
DOKTOR STOCKMANN Was dabei herauskam, haben Sie mir erzählt; Sie hätten die Zeitung fast
ruiniert.
HOVSTADT Damals mussten wir das Kriegsbeil begraben, richtig. Der Sturz dieser Männer hätte den
Bau des Bades gefährdet. Jetzt gibt es das Bad, jetzt sind die hohen Herrn entbehrlich.
DOKTOR STOCKMANN Trotzdem schulden wir ihnen großen Dank.
HOVSTADT Zugegeben, ganz nach Verdienst. Aber ich als Journalist, der fürs Volk schreibt, darf mir
eine Gelegenheit wie diese nicht entgehen lassen. Es muss endlich Schluss sein mit dem Märchen
von der Unfehlbarkeit der Herrschenden. Damit und mit allem anderen Aberglauben.
DOKTOR STOCKMANN Von ganzem Herzen einig, Herr Hovstad; geht es um Aberglauben, weg mit
ihm!
HOVSTADT Der Bürgermeister ist Ihr Bruder, deshalb würde ich ihn am liebsten ungeschoren lassen.
Aber Sie stimmen mir sicher zu: die Wahrheit hat Vorrang ungeachtet aller Rücksichten.
DOKTOR STOCKMANN Selbstverständlich. – Ausbruch. Ja aber – ! Ja aber – !
HOVSTADT Denken Sie nicht schlecht von mir. Ich bin nicht egoistischer oder machthungriger als
andere Menschen.
DOKTOR STOCKMANN Ich bitte Sie, – wer sagt das?
HOVSTADT Ich komme aus kleinen Verhältnissen; ich weiß genau, was die unteren
Gesellschaftsschichten brauchen. Mitsprache in allen öffentlichen Angelegenheiten, Herr Doktor.
Das fördert das Wollen, das Können und das Selbstbewusstsein –
DOKTOR STOCKMANN Ich verstehe Sie vollkommen –
HOVSTADT Ein Journalist trägt eine schwere Verantwortung, wenn er so eine Gelegenheit versäumt zur
Befreiung der Masse, der Kleinen, der Unterdrückten. Ich weiß, – die Herrschenden nennen das
Anstiftung zum Aufruhr und dergleichen; meinetwegen. Ich habe ein reines Gewissen –
DOKTOR STOCKMANN Absolut! Absolut, lieber Herr Hovstad. Trotzdem, – weiß der Teufel – ! Es
klopft. Herein!

Buchdrucker Aslaksen erscheint in der Korridortür. Er ist einfach und korrekt gekleidet; schwarzer
Anzug, weißes, etwas zerknittertes Halstuch, Handschuhe und Zylinder in der Hand.

ASLAKSEN verbeugt sich Verzeihung, Herr Doktor, ich bin so frei –


DOKTOR STOCKMANN steht auf Aha, aha, – unser Buchdrucker Aslaksen!
ASLAKSEN Jawohl, Herr Doktor.
HOVSTADT steht auf Kommen Sie meinetwegen, Aslaksen?
ASLAKSEN Nein, nein; mit Ihnen hatte ich nicht gerechnet. Eigentlich wollte ich Herrn Doktor
persönlich –
DOKTOR STOCKMANN Nun, was steht zu Diensten?
ASLAKSEN Ist es wahr, was mir Herr Billing gesagt hat, Herr Doktor wollen ein besseres Wasserwerk
installieren?
DOKTOR STOCKMANN Für das Bad, ja.
ASLAKSEN Aha; ich verstehe. Dann bin ich also hier, um zu sagen, dass ich die Sache unterstützen
will, mit allen meinen Kräften.

16
HOVSTADT zum Doktor Sehen Sie!
DOKTOR STOCKMANN Ganz herzlichen Dank; aber –
ASLAKSEN Vielleicht ist es nämlich nötig, uns Kleinbürger im Rücken zu haben. Wir bilden sozusagen
hier in der Stadt die kompakte Majorität, – wenn wir wollen. Und die Majorität auf seiner Seite zu
haben ist immer gut, Herr Doktor.
DOKTOR STOCKMANN Davon bin ich überzeugt; nur will mir nicht in den Kopf, dass irgendwelche
Vorsichtsmaßnahmen vonnöten sind. Die Sache ist doch sonnenklar –
ASLAKSEN Trotzdem, es kann nie schaden; ich kenne die lokalen Verhältnisse; Einmischung in ihre
Angelegenheiten sehen die Mächtigen nicht gern. Deshalb meine ich, wir sollten ein wenig
demonstrieren.
HOVSTADT Ausgezeichnet.
DOKTOR STOCKMANN Demonstrieren, sagen Sie? Wie denn demonstrieren?
ASLAKSEN Mit großer Mäßigung, versteht sich, Herr Doktor; ich bin immer für Mäßigung; Mäßigung
ist die erste Tugend des Staatsbürgers, – das ist meine Meinung.
DOKTOR STOCKMANN Dafür sind Sie bekannt, Herr Aslaksen.
ASLAKSEN Mit Recht, darf ich sagen. Für uns Kleinbürger ist die Sache mit dem Wasserwerk von
größter Wichtigkeit. Das Bad ist die künftige Goldgrube der Stadt. Vom Bad werden wir alle leben,
besonders wir Hausbesitzer. Deshalb unterstützen wir das Bad mit allen Kräften. In meiner
Eigenschaft als Vorsitzender des Vereins der Hausbesitzer –
DOKTOR STOCKMANN Ja – ?
ASLAKSEN – und als Vertreter des Mäßigungsvereins, – Herr Doktor wissen, ich wirke für die
Mäßigungsbewegung?
DOKTOR STOCKMANN Versteht sich.
ASLAKSEN Nun, – da liegt es auf der Hand, dass ich mit vielen Menschen zusammenkomme. Und da
ich bekannt bin als besonnener, gesetzestreuer Staatsbürger, Herr Doktor haben es eben selbst
gesagt, so habe ich in der Stadt einen gewissen Einfluss, – eine kleine Machtposition, – wenn ich so
sagen darf.
DOKTOR STOCKMANN Das weiß ich sehr gut, Herr Aslaksen.
ASLAKSEN Sehen Sie – deshalb würde es mir nicht schwer fallen, nötigenfalls ein entsprechendes
Votum für Sie zustande zu bringen.
DOKTOR STOCKMANN Ein Votum, sagen Sie?
ASLAKSEN Ja, eine Art Danksagung der Bürger dafür, dass Sie diese wichtige kommunalpolitische
Entdeckung gemacht haben. Selbstverständlich in gebührend gemäßigtem Ton, ohne die Behörden
und die Mächtigen vor den Kopf zu stoßen. Solange wir das beachten, wird uns das niemand
verübeln.
HOVSTADT Selbst wenn es denen nicht passt –
ASLAKSEN Nein und nochmals nein, Herr Hovstad; keine Respektlosigkeit gegenüber der Obrigkeit.
Keine Opposition gegen Leute, die uns in der Hand haben. Das kenne ich zur Genüge; dabei kommt
nie was Gutes heraus. Die besonnen und freimütig geäußerte Meinung eines Staatsbürgers hingegen
wird niemand verwehren.
DOKTOR STOCKMANN schüttelt ihm die Hand Lieber Herr Aslaksen, ich kann Ihnen gar nicht sagen,
wie froh ich bin über das tiefe Vertrauen, das mir meine Mitbürger entgegenbringen. Ich bin so froh,
– so froh! Hören Sie; wie wärs mit einem kleinen Sherry? Was?
ASLAKSEN Vielen Dank; diese Art Spirituosen konsumiere ich nie.
DOKTOR STOCKMANN Oder ein Glas Bier; was meinen Sie?
ASLAKSEN Danke, Herr Doktor, auch das nicht; nicht am frühen Morgen. Ich muss in die Stadt, mit
den Hausbesitzern reden und Stimmung machen.
DOKTOR STOCKMANN Sehr freundlich von Ihnen, Herr Aslaksen; aber mir will immer noch nicht in
den Kopf, dass alle diese Maßnahmen nötig sind; die Sache muss doch von allein gehen, meine ich.
ASLAKSEN Die Autoritäten sind schwerfällig, Herr Doktor. Das soll kein Vorwurf sein, Gott bewahre –
HOVSTADT Morgen bringen wir sie mit der Zeitung auf Trab, Aslaksen.
ASLAKSEN Nur nicht mit Gewalt, Herr Hovstad. Beachten Sie Mäßigung, sonst erreichen Sie gar
nichts; hören Sie auf meinen Rat; ich bin in die Schule des Lebens gegangen. – Und nun auf
Wiedersehen, Herr Doktor. Sie wissen jetzt, wir Kleinbürger stehen hinter Ihnen wie eine Mauer. Sie
haben die kompakte Majorität auf Ihrer Seite, Herr Doktor.
DOKTOR STOCKMANN Danke, mein lieber Herr Aslaksen. Reicht ihm die Hand. Leben Sie wohl, leben
Sie wohl!

17
ASLAKSEN Gehen Sie mit in die Druckerei, Herr Hovstad?
HOVSTADT Nein, ich komme nach; muss noch was erledigen.
ASLAKSEN Gut, gut.

Er grüßt und geht; Doktor Stockmann begleitet ihn auf den Korridor.

HOVSTADT indem der Doktor zurückkommt Na, was sagen Sie jetzt, Herr Doktor? Finden Sie nicht
auch, es wird Zeit, dass hier ein anderer Wind weht, dass endlich Schluss ist mit dieser
Haltungslosigkeit und Feigheit?
DOKTOR STOCKMANN Meinen Sie Buchdrucker Aslaksen?
HOVSTADT Allerdings. Das ist einer von denen im Sumpf – mag er auch sonst in Ordnung sein. Und
so sind die meisten bei uns; ducken und buckeln nach allen Seiten; wagen vor lauter Rücksicht und
Ängstlichkeit nie den entscheidenden Schritt nach vorn.
DOKTOR STOCKMANN Aslaksen ist uns sehr wohl gesonnen, finde ich.
HOVSTADT Mir ist was anderes wichtiger; der Mann mit Überzeugung und Selbstbewusstsein.
DOKTOR STOCKMANN Da gebe ich Ihnen vollkommen Recht.
HOVSTADT Deshalb ergreife ich die Gelegenheit beim Schopf, um wenigstens die Gutwilligen davon
zu überzeugen, dass sie einmal Haltung beweisen. Der Autoritätskult hier in der Stadt muss
ausgerottet werden. Alle wahlberechtigten Bürger müssen von der ungeheuerlichen
Fehlentscheidung mit dem Wasserwerk erfahren.
DOKTOR STOCKMANN Gut; wenn Sie meinen, es ist zum Besten der Allgemeinheit, dann vorwärts;
aber nicht, bevor ich mit meinem Bruder gesprochen habe.
HOVSTADT In der Zwischenzeit schreibe ich für alle Fälle einen Leitartikel. Und wenn der
Bürgermeister nicht ran will an die Sache –
DOKTOR STOCKMANN Wie können Sie das annehmen?
HOVSTADT Denkbar wärs. Und dann – ?
DOKTOR STOCKMANN Dann verspreche ich Ihnen – ; hören Sie, – dann drucken Sie meinen Bericht, –
drucken Sie ihn von der ersten bis zur letzten Zeile.
HOVSTADT Darf ich? Ist das ein Wort?
DOKTOR STOCKMANN gibt ihm das Manuskript Da ist er; nehmen Sie ihn mit; kann nicht schaden,
wenn Sie ihn lesen; geben Sie ihn mir später zurück.
HOVSTADT Gut, gut; mach ich. Leben Sie wohl, Herr Doktor.
DOKTOR STOCKMANN Leben Sie wohl, leben Sie wohl. Sie werden sehen, es geht glatt, Herr Hovstad,
– ganz glatt!
HOVSTADT Hm, – warten wirs ab.

Er grüßt und geht durch die Korridortür ab.

DOKTOR STOCKMANN geht zum Esszimmer und sieht hinein Katrine – ! Nanu, schon zu Hause, Petra?
PETRA kommt heraus Ich komme gerade aus der Schule.
FRAU STOCKMANN kommt War er immer noch nicht hier?
DOKTOR STOCKMANN Peter? Nein. Aber ich habe mit Hovstad gesprochen. Er ist ganz begeistert von
meiner Entdeckung. Die hat nämlich eine viel größerer Tragweite, als ich dachte. Er hat mir sein
Blatt zur Verfügung gestellt, falls nötig.
FRAU STOCKMANN Glaubst du, das könnte passieren?
DOKTOR STOCKMANN Absolut nicht. Trotzdem gibt es mir ein stolzes Gefühl der Gewissheit, die freie
unabhängige Presse auf meiner Seite zu haben. Ja, und stell dir vor – der Vorsitzende des Vereins
der Hausbesitzer war auch bei mir.
FRAU STOCKMANN So? Was wollte er?
DOKTOR STOCKMANN Mich auch unterstützen. Alle wollen mich unterstützen, falls nötig. Katrine, –
weiß du, was ich hinter mir habe?
FRAU STOCKMANN Was denn?
DOKTOR STOCKMANN Die kompakte Majorität.
FRAU STOCKMANN Ach so. Ist das gut für dich, Tomas?
DOKTOR STOCKMANN Das will ich meinen! Reibt sich die Hände und geht auf und ab. Herrgott, ist das
schön, so brüderlich vereint zu sein mit seinen Mitbürgern!
PETRA Und dadurch so viel Gutes und Nützliches zu tun, Vater!

18
DOKTOR STOCKMANN Noch dazu für seine Heimatstadt, du!
FRAU STOCKMANN Es hat geklingelt.
DOKTOR STOCKMANN Das ist er. – Es klopft. Bitte!
DER BÜRGERMEISTER kommt vom Korridor Guten Morgen.
DOKTOR STOCKMANN Willkommen, Peter!
FRAU STOCKMANN Guten Morgen, Schwager. Wie geht es Ihnen?
DER BÜRGERMEISTER Danke; soso. Zum Doktor. Gestern Abend nach Dienstschluss habe ich einen
Bericht von dir erhalten über die Wasserverhältnisse des Bades.
DOKTOR STOCKMANN Hast du ihn gelesen?
DER BÜRGERMEISTER Ja.
DOKTOR STOCKMANN Und was sagst du dazu?
DER BÜRGERMEISTER mit einem Seitenblick Hm –
FRAU STOCKMANN Komm, Petra.

Sie und Petra gehen in das Zimmer links.

DER BÜRGERMEISTER nach einer Pause Diese Untersuchungen hinter meinem Rücken, war das nötig?
DOKTOR STOCKMANN Solange ich nicht absolut sicher sein konnte –
DER BÜRGERMEISTER Das bist du jetzt?
DOKTOR STOCKMANN Davon hast du dich hoffentlich selbst überzeugt.
DER BÜRGERMEISTER Beabsichtigst du, diese Akte dem Aufsichtsrat des Bades als quasi amtliches
Gutachten vorzulegen?
DOKTOR STOCKMANN Natürlich. Es muss etwas geschehen; und zwar schnell.
DER BÜRGERMEISTER Du gebrauchst, wie üblich, starke Worte in deinem Bericht. Du behauptest unter
anderem, wir setzen unsere Badegäste einer permanenten Vergiftung aus.
DOKTOR STOCKMANN Aber, Peter, wie soll man es sonst nennen? Denk nach, – verseuchtes Wasser!
Für arme, kranke Menschen, die guten Glaubens zu uns kommen und uns teuer bezahlen, damit sie
gesund werden!
DER BÜRGERMEISTER Des weiteren kommst du in deinem Bericht zu der Schlussfolgerung, dass
wegen der angeblichen Verschmutzung des Mühltals eine Kläranlage gebaut und die Wasserleitung
verlegt werden muss.
DOKTOR STOCKMANN Weißt du eine andere Lösung? Ich nicht.
DER BÜRGERMEISTER Heute Vormittag war ich beim Stadtbaurat. Halb im Scherz erwähnte ich diese
Maßnahmen als mögliche Aufgaben für die Zukunft.
DOKTOR STOCKMANN Zukunft!
DER BÜRGERMEISTER Er konnte nur lächeln über meine vermeintliche Extravaganz – wie nicht anders
zu erwarten. Hast du dich mal um die Frage der Kosten gekümmert? Meines Wissens wäre das eine
Investition in Höhe von mehreren hunderttausend Kronen.
DOKTOR STOCKMANN So viel?
DER BÜRGERMEISTER Jawohl. Das Schlimmste ist, die Arbeiten würden einen Zeitraum von
mindestens zwei Jahren beanspruchen.
DOKTOR STOCKMANN Zwei Jahre? Zwei volle Jahre?
DER BÜRGERMEISTER Mindestens. Und was passiert in der Zwischenzeit mit dem Bad? Sollen wir
schließen? Das wäre die Konsequenz. Oder glaubst du, irgendjemand käme hierher, wenn bekannt
wird, dass unser Wasser gesundheitsgefährdend ist?
DOKTOR STOCKMANN Aber das ist es, Peter.
DER BÜRGERMEISTER Und das alles jetzt, – ausgerechnet jetzt, wo das Bad im Kommen ist. Andere
Städte hier in der Umgebung haben ebenfalls die Möglichkeit, sich als Bäder zu etablieren. Die
würden sofort die Initiative ergreifen und den Fremdenverkehr auf sich ziehen. Ganz sicher. Dann
stehen wir da; das teure Bad müssten wir vermutlich abreißen; und du hättest deine Heimatstadt
ruiniert.
DOKTOR STOCKMANN Ich – ruiniert – !
DER BÜRGERMEISTER Einzig und allein das Bad garantiert der Stadt eine sichere Zukunft. Das weißt
du so gut wie ich.
DOKTOR STOCKMANN Was schlägst du vor?
DER BÜRGERMEISTER Deine Darstellung der Gesundheitsgefährdung durch die Wasserverhältnisse hat
mich nicht überzeugt.

19
DOKTOR STOCKMANN Sie sind noch schlimmer! Oder werden es, im Sommer, bei Wärme.
DER BÜRGERMEISTER Wie gesagt, ich bin sicher, du übertreibst erheblich. Ein guter Arzt trifft
Vorsichtsmaßnahmen, – er muss in der Lage sein, schädlichen Wirkungen vorzubeugen und sie
abzustellen, falls sie wirklich auftreten sollten.
DOKTOR STOCKMANN Und – ? Was weiter – ?
DER BÜRGERMEISTER Die Wasserversorgung des Bades in ihrem gegenwärtigen Zustand ist und bleibt
ein Faktum. Die Direktion wird selbstverständlich bereit sein, zu gegebener Zeit entsprechende
Überlegungen anzustellen, wie, unter Berücksichtigung der Finanzlage, gewisse Verbesserungen
vorgenommen werden können.
DOKTOR STOCKMANN Glaubst du im Ernst, ich mache diesen Betrug mit!
DER BÜRGERMEISTER Betrug?
DOKTOR STOCKMANN Ja, Betrug, – vorsätzliche Irreführung, Lüge, ein klares Verbrechen an der
Allgemeinheit, an der ganzen Gesellschaft!
DER BÜRGERMEISTER Ich habe mir, wie gesagt, deine Überzeugung, dass Gefahr im Verzug ist, nicht
zu eigen machen können.
DOKTOR STOCKMANN Doch, du hast! Etwas anderes ist ausgeschlossen. Mein Bericht ist hieb- und
stichfest, das weiß ich! Und das weißt du auch, Peter; du willst es nur nicht zugeben. Du warst
nämlich derjenige, der darauf bestand, dass Bad und Wasserwerk dahin kamen, wo sie jetzt sind;
und das – diesen verdammten Fehler, willst du nicht zugeben. Pah – glaubst du, ich durchschau dich
nicht?
DER BÜRGERMEISTER Und selbst wenn? Wenn ich mit einer gewissen Empfindlichkeit auf meine
Reputation bedacht bin, so doch nur zum Besten der Stadt. Ohne moralische Autorität kann ich die
Geschicke hier nicht lenken, wie ich es zum Wohlergehen aller für richtig erachte. Deshalb, – und
aus diversen anderen Gründen, – bestehe ich darauf, dass du deinen Bericht der Direktion des Bades
nicht zur Vorlage bringst. Er muss zurückgehalten werden im Interesse des Gemeinwohls. Später
werde ich die Angelegenheit zur Diskussion stellen, und wir werden in aller Stille unser Bestes tun;
die Öffentlichkeit darf natürlich von dieser fatalen Sache nichts erfahren – kein Wort.
DOKTOR STOCKMANN Das lässt sich nicht verhindern, mein lieber Peter.
DER BÜRGERMEISTER Es muss und wird verhindert.
DOKTOR STOCKMANN Geht nicht, sage ich; zu viele wissen davon.
DER BÜRGERMEISTER Wer denn? Etwa diese Herren vom »Volksboten« – ?
DOKTOR STOCKMANN Jawohl, die auch. Die freie unabhängige Presse wird dafür sorgen, dass ihr eure
Pflicht tut.
DER BÜRGERMEISTER nach einer kurzen Pause Du bist ein erstaunlich unbesonnener Mensch, Tomas.
Hast du bedacht, welche Folgen das für dich haben kann?
DOKTOR STOCKMANN Für mich?
DER BÜRGERMEISTER Für dich und die deinen, ja.
DOKTOR STOCKMANN Zum Teufel, was soll das heißen?
DER BÜRGERMEISTER Ich denke, ich war dir immer ein gutwilliger und hilfsbereiter Bruder.
DOKTOR STOCKMANN Stimmt; dafür bin ich dir dankbar.
DER BÜRGERMEISTER Nicht nötig. Zum Teil war ich auch dazu gezwungen – meinetwegen. Ich hatte
immer die Hoffnung, ich könnte dich durch eine Verbesserung deiner materiellen Situation zur
Vernunft bringen.
DOKTOR STOCKMANN Was? Also deinetwegen – !
DER BÜRGERMEISTER Zum Teil, sage ich. Für einen Beamten ist es peinlich, wenn sich die nächsten
Angehörigen ständig kompromittieren.
DOKTOR STOCKMANN Und das tue ich, meinst du?
DER BÜRGERMEISTER Leider; du tust es, unwissentlich. Du bist ein unruhiger, streitsüchtiger,
rebellischer Geist. Hinzu kommt deine unglückselige Neigung, alle möglichen und unmöglichen
Sachen zu veröffentlichen. Hast du eine Idee, – sofort machst du daraus einen Zeitungsartikel oder
eine Broschüre.
DOKTOR STOCKMANN Ist es nicht Pflicht eines jeden Staatsbürgers, einen neuen Gedanken der
Allgemeinheit mitzuteilen!
DER BÜRGERMEISTER Die Allgemeinheit braucht keine neuen Gedanken. Die Allgemeinheit ist bestens
mit dem bedient, was sie bereits hat: die guten, alten, anerkannten Gedanken.
DOKTOR STOCKMANN Das sagst du so offen!

20
DER BÜRGERMEISTER Einmal muss ich offen mit dir reden. Bisher habe ich das vermieden, weil ich
weiß, wie reizbar du bist; aber jetzt sage ich dir die Wahrheit, Tomas. Du ahnst gar nicht, wie sehr
du dir schadest mit deiner Unbeherrschtheit. Du beklagst dich über die Behörden, sogar über die
Regierung, – kritisierst sie, – behauptest, man übergehe dich, fühlst dich verfolgt. Was erwartest du
denn, – so schwierig, wie du bist!
DOKTOR STOCKMANN Ich, schwierig – ?
DER BÜRGERMEISTER Jawohl, Tomas, die Zusammenarbeit mit dir ist äußerst schwierig. Das habe ich
zu spüren bekommen. Du nimmst keinerlei Rücksicht; du scheinst völlig zu vergessen, dass du deine
Position als Badearzt nur mir verdankst –
DOKTOR STOCKMANN Nur ich kam in Frage! Ich und kein anderer! Ich war der erste, der entdeckte,
dass aus der Stadt ein blühender Badeort werden könnte; und ich war damals der erste und einzige.
Ich stand allein, jahrelang habe ich für diese Idee gekämpft, habe geschrieben und geschrieben –
DER BÜRGERMEISTER Zugegeben. Aber damals war nicht der richtige Zeitpunkt; von deinem Nest
oben im Norden konntest du das nicht beurteilen. Im entscheidenden Moment jedoch habe ich – mit
anderen – die Sache in die Hand genommen –
DOKTOR STOCKMANN Und meinen Plan kaputtgemacht. Oh ja, jetzt stellt sich nämlich heraus, was für
Klugscheißer ihr wart!
DER BÜRGERMEISTER Meines Erachtens suchst du nur ein Ventil für deine Streitsucht. Du rückst
deinen Vorgesetzten zu Leibe; – in gewohnter Manier. Du kannst keine Autoritäten über dir
ertragen; du siehst jeden schief an, der eine übergeordnete Beamtenposition bekleidet; du betrachtest
ihn als deinen persönlichen Feind, – und sofort ist dir jede Waffe recht. Ich habe dir erklärt, dass die
Interessen der ganzen Stadt auf dem Spiel stehen, – folglich auch meine. Deshalb sage ich dir,
Tomas, ich bestehe unerbittlich auf der Forderung, die ich jetzt an dich stellen werde.
DOKTOR STOCKMANN Welche?
DER BÜRGERMEISTER Da du geschwätzig bist und mit Dritten über diese heikle Angelegenheit geredet
hast, wiewohl du sie als direktorales Amtsgeheimnis hättest behandeln müssen, kann die Sache
natürlich nicht vertuscht werden. Gerüchte werden sich verbreiten, und die üblen Elemente unter uns
werden sie aufbauschen. Du wirst daher diese Gerüchte öffentlich dementieren.
DOKTOR STOCKMANN Ich! Wie? Ich verstehe dich nicht.
DER BÜRGERMEISTER Es wird von dir erwartet, dass du aufgrund erneuter Untersuchungen zu dem
Resultat kommst, dass der Sachverhalt nicht im Entferntesten so gefährlich oder bedenklich ist, wie
du im ersten Moment fälschlicherweise glaubtest.
DOKTOR STOCKMANN Aha – !
DER BÜRGERMEISTER Außerdem wird von dir erwartet, dass du dem Aufsichtsrat öffentlich das
Vertrauen aussprichst bezüglich seiner gewissenhaften und gründlichen Initiativen zur Vermeidung
jeder nur möglichen Beeinträchtigung des Bades.
DOKTOR STOCKMANN Ausgeschlossen, solange ihr nur herumpfuscht. Das, Peter, ist meine absolut
einzige, ehrliche Überzeugung – !
DER BÜRGERMEISTER Als Angestellter hast du kein Recht auf eine eigene Überzeugung.
DOKTOR STOCKMANN stutzt Wieso – ?
DER BÜRGERMEISTER Als Angestellter, sage ich. Als Privatperson, – Gott behüte, das ist etwas
anderes. Aber in deiner Funktion als kleiner Angestellter des Bades hast du kein Recht auf
irgendeine Überzeugung, die im Widerspruch steht zu der deiner Vorgesetzten.
DOKTOR STOCKMANN Das geht zu weit! Ich bin Arzt, ich bin Wissenschaftler, ich soll nicht das Recht
haben – !
DER BÜRGERMEISTER Der betreffende Sachverhalt ist kein rein wissenschaftlicher; er hat verschiedene
Aspekte; sowohl technische als auch ökonomische.
DOKTOR STOCKMANN Soll er sein, was er will, zum Teufel! Ich will die Freiheit haben, mich über
alles und jedes auf der Welt zu äußern!
DER BÜRGERMEISTER Bitte sehr! Aber nicht über das Bad – das verbiete ich dir.
DOKTOR STOCKMANN schreit Ihr verbietet – ! Ihr! Solche – !
DER BÜRGERMEISTER Ich verbiete es dir, – ich, dein oberster Dienstherr; und wenn ich dir etwas
verbiete, hast du zu gehorchen.
DOKTOR STOCKMANN hält sich zurück Peter, – wärst du nicht mein Bruder –
PETRA reißt die Tür auf Vater, lass dir das nicht gefallen!
FRAU STOCKMANN ihr nach Petra, Petra!
DER BÜRGERMEISTER Aha, man spioniert.

21
FRAU STOCKMANN Es ist so hellhörig; wir konnten nicht –
PETRA Jawohl, ich habe gelauscht.
DER BÜRGERMEISTER Das ist mir nur recht –
DOKTOR STOCKMANN geht näher Du sprichst von verbieten und gehorchen – ?
DER BÜRGERMEISTER Zu dem Ton hast du mich gezwungen.
DOKTOR STOCKMANN Ich soll mir mit einer öffentlichen Erklärung selbst aufs Maul schlagen?
DER BÜRGERMEISTER Wir halten es für unumgänglich und notwendig, dass du eine öffentliche
Erklärung abgibst, so wie ich es verlangt habe.
DOKTOR STOCKMANN Und wenn ich nicht – gehorche?
DER BÜRGERMEISTER Dann geben wir selbst eine Erklärung heraus, zur Beruhigung der Bevölkerung.
DOKTOR STOCKMANN Schön und gut; dann schreibe ich gegen euch. Ich bestehe auf meinem
Standpunkt; ich werde beweisen, dass ich recht habe und ihr unrecht. Was macht ihr dann?
DER BÜRGERMEISTER Dann werde ich nicht verhindern können, dass du deine Kündigung erhältst.
DOKTOR STOCKMANN Was –
PETRA Vater, – Kündigung!
FRAU STOCKMANN Kündigung!
DER BÜRGERMEISTER Kündigung als Badearzt. Ich würde mich veranlasst sehen, deine fristlose
Kündigung zu beantragen und dir ab sofort jede weitere Tätigkeit in Angelegenheiten des Bades zu
untersagen.
DOKTOR STOCKMANN Das würdet ihr wagen!
DER BÜRGERMEISTER Du spielst das gewagte Spiel.
PETRA Onkel, das ist empörend, so behandelt man einen Mann wie Vater nicht!
FRAU STOCKMANN Sei doch still, Petra!
DER BÜRGERMEISTER sieht Petra an Aha, man hat bereits eine eigene Meinung. Natürlich. Zu Frau
Stockmann. Schwägerin, Sie sind vermutlich die Besonnenste hier im Haus. Machen Sie Ihren
Einfluss bei Ihrem Mann geltend; bringen Sie ihn zur Vernunft, denken Sie an die Konsequenzen,
sowohl für seine Familie –
DOKTOR STOCKMANN Meine Familie geht nur mich etwas an!
DER BÜRGERMEISTER – sowohl für seine Familie, sage ich, als auch für die Stadt, in der er lebt.
DOKTOR STOCKMANN Ich will das wahre Wohl der Stadt! Ich will die Mängel anprangern, die früher
oder später ans Licht kommen werden. Ich liebe meine Vaterstadt, das wird sich zeigen.
DER BÜRGERMEISTER Du, der du in verblendetem Trotz die Stadt abschneiden willst von ihrer
wichtigsten Lebensquelle.
DOKTOR STOCKMANN Die Quelle ist vergiftet, Mensch! Bist du verrückt! Wir verschachern Gift und
Verwesung und machen Profit! Der wirtschaftliche Aufschwung unserer Stadt beruht auf einer
Lüge!
DER BÜRGERMEISTER Phantastereien – oder Schlimmeres. Der Mann, der gegen seine eigene
Heimatstadt solche ungeheuerlichen Vorwürfe erhebt, der ist ein Feind der Gesellschaft.
DOKTOR STOCKMANN auf ihn los Du wagst – !
FRAU STOCKMANN wirft sich dazwischen Tomas!
PETRA fasst ihren Vater beim Arm Ruhig, Vater!
DER BÜRGERMEISTER Gewalttätigkeiten setze ich mich nicht aus. Du bist gewarnt. Denk nach, was du
dir und den deinen schuldig bist. Adieu. Ab.
DOKTOR STOCKMANN geht hin und her Das muss ich mir bieten lassen! In meinem eigenen Haus,
Katrine! Was sagst du dazu!
FRAU STOCKMANN Es ist schmählich, Tomas –
PETRA Könnte ich dem Onkel an den Hals – !
DOKTOR STOCKMANN Ich bin selber schuld; ich hätte längst die Haare aufstellen sollen, – ihnen die
Zähne zeigen, – um mich beißen! – Ich – ein Feind der Gesellschaft! Ich! Bei meiner Seelen
Seligkeit, das lasse ich nicht auf mir sitzen!
FRAU STOCKMANN Lieber Tomas, dein Bruder hat die Macht –
DOKTOR STOCKMANN Und ich das Recht!
FRAU STOCKMANN Ach ja, das Recht, das Recht; was hilft dir das Recht ohne die Macht?
PETRA Mutter, – wie kannst du das sagen?
DOKTOR STOCKMANN Soll es sinnlos sein, in einer freien Gesellschaft das Recht auf seiner Seite zu
haben? Katrine, du machst dich lächerlich. Außerdem, – habe ich nicht die freie, unabhängige Presse
vor mir, – und die kompakte Majorität hinter mir? Das ist Macht genug, glaube ich!

22
FRAU STOCKMANN Herrgott, Tomas, du willst doch nicht– ?
DOKTOR STOCKMANN Was – ?
FRAU STOCKMANN – gegen deinen Bruder vorgehen?
DOKTOR STOCKMANN Zum Teufel, soll ich nicht auf Recht und Wahrheit bestehen?
PETRA Das möchte ich auch wissen?
FRAU STOCKMANN Es nützt dir doch nichts; wenn sie nicht wollen, wollen sie nicht.
DOKTOR STOCKMANN Hoho, Katrine, warts ab, du wirst sehen, dann gibts Krieg.
FRAU STOCKMANN Ja sicher, bis du die Kündigung hast, – so wirds sein.
DOKTOR STOCKMANN Wenigstens habe ich meine Pflicht getan, gegenüber der Allgemeinheit, –
gegenüber der Gesellschaft. Ich, der Feind der Gesellschaft.
FRAU STOCKMANN Und gegenüber deiner Familie, Tomas? Gegenüber uns hier? Meinst du, das ist
deine Pflicht uns gegenüber, die du versorgen sollst?
PETRA Denk doch nicht dauernd an uns, Mutter.
FRAU STOCKMANN Du hast gut reden; du stehst notfalls auf eigenen Füßen. – Aber denk an die Jungs,
Tomas; denk auch ein bisschen an dich und an mich –
DOKTOR STOCKMANN Jetzt bist du völlig verrückt, Katrine! Wenn ich so elend feige zu Kreuze
kriechen würde vor diesem Peter und seinen Spießgesellen, – hätte ich dann je wieder eine
glückliche Stunde in meinem Leben?
FRAU STOCKMANN Das weiß ich nicht; aber der Herrgott bewahre uns vor dem Glück, das uns alle
erwartet, wenn du deinen Kopf durchsetzt. Dann stehst du wieder da, ohne Arbeit, ohne festes
Einkommen. Das haben wir lange genug durchgemacht, früher; vergiss das nicht, Tomas; denk
daran, was das heißt.
DOKTOR STOCKMANN kämpft mit sich und ballt die Fäuste Und das bringen diese Schreibtischsklaven
über einen freien, ehrlichen Mann! Katrine, ist das nicht furchtbar?
FRAU STOCKMANN Ja, Tomas, man versündigt sich an dir, das ist wahr. Aber, Herrgott, es gibt so viel
Unrecht auf der Welt, dem man sich beugen muss. – Da sind die Jungs, Tomas! Sieh sie dir an! Was
wird aus ihnen? Oh nein, nein, das bringst du nicht übers Herz –
Ejlif und Morten, mit Schulbüchern, sind inzwischen hereingekommen.
DOKTOR STOCKMANN Die Jungen – ! Steht plötzlich fest und entschlossen. Niemals, und wenn die
Welt in Stücke geht, niemals beuge ich meinen Nacken unter dieses Joch. Er geht zu seinem
Zimmer.
FRAU STOCKMANN ihm nach Tomas, – was hast du vor!
DOKTOR STOCKMANN bei der Tür Ich will das Recht haben, meinen Jungs in die Augen sehen zu
können, eines Tages, wenn sie erwachsene, freie Männer sind. Er geht hinein.
FRAU STOCKMANN bricht in Tränen aus Gott helfe und beschütze uns!
PETRA Bravo, Vater! Er kämpft weiter.

Die Jungen fragen erstaunt, was los ist; Petra bedeutet ihnen zu schweigen.

23
DRITTER AKT

Redaktionsbüro des »Volksboten«. Links hinten die Eingangstür; rechts daneben eine Tür mit
Glasscheiben, durch die man in die Druckerei sieht. Rechts eine Tür. Mitten im Raum ein großer Tisch
mit Papieren, Zeitungen und Büchern. Links vorn ein Fenster und ein Schreibpult mit hohem Hocker.
Um den Tisch ein paar Sessel, an den Wänden mehrere Stühle. Der Raum wirkt dunkel und
unangenehm, das Mobiliar ist alt, die Bezüge speckig und zerrissen. In der Druckerei sieht man ein
paar Setzer bei der Arbeit; weiter hinten ist eine Handpresse in Betrieb.

Redakteur Hovstad sitzt am Pult und schreibt. Etwas später kommt Billing von rechts mit dem
Manuskript des Doktors in der Hand.

BILLING Na, ich muss schon sagen – !


HOVSTADT schreibt Haben Sie es gelesen?
BILLING legt das Manuskript auf das Pult Klar.
HOVSTADT Ziemlich scharf, der Doktor, was?
BILLING Scharf? Gottverdammich, er ist vernichtend! Jedes Wort trifft mit voller Wucht – wie ein
Schlag mit dem Schmiedehammer, würde ich sagen.
HOVSTADT Diese Leute fallen auch nicht beim ersten Schlag.
BILLING Stimmt; wir müssen zuschlagen, – Schlag auf Schlag, bis die Macht der hohen Herrn
zerschlagen ist. Als ich das Manuskript las, war mir, als sähe ich die Revolution schon am Horizont.
HOVSTADT dreht sich um Pst; lassen Sie das Aslaksen nicht hören.
BILLING dämpft die Stimme Aslaksen ist ein Waschlappen, dieser feige Hund; kein Mumm in den
Knochen. Diesmal setzen Sie sich aber durch? Was? Der Artikel des Doktors kommt doch?
HOVSTADT Wenn der Bürgermeister nicht nachgibt –
BILLING Teufel, das wäre blöde.
HOVSTADT Egal, wir sind auf der sicheren Seite. Geht der Bürgermeister nicht ein auf den Vorschlag
des Doktors, sitzen ihm alle Kleinbürger im Nacken, – der Hausbesitzerverein und die anderen. Geht
er darauf ein, legt er sich an mit der Mehrheit der Großaktionäre, seiner wichtigsten Lobby –
BILLING Weil die jede Menge Geld rausrücken müssen –
HOVSTADT Verlassen Sie sich drauf. Das Komplott platzt, und wir in der Zeitung machen der
Öffentlichkeit Tag für Tag klar, dass der Bürgermeister unfähig ist und dass alle Vertrauensposten
der Stadt, die gesamte Kommunalverwaltung, in die Hände der Freisinnigen gehört.
BILLING Gottverdammich, das ist der wahre Schlag! Ich sehe es, – ich sehe es; wir stehen am
Vorabend der Revolution!

Es klopft.

HOVSTADT Pst! Ruft. Herein!

Doktor Stockmann kommt durch die Tür links im Hintergrund.

HOVSTADT geht ihm entgegen Ah, Herr Doktor. Nun?


DOKTOR STOCKMANN Drucken Sie, Herr Hovstad!
HOVSTADT Also doch?
BILLING Hurra!
DOKTOR STOCKMANN Drucken Sie, sage ich. Es ist soweit. Sie haben es so gewollt. Jetzt gibts Krieg
in der Stadt, Herr Billing!
BILLING Krieg bis aufs Messer, hoffe ich! Das Messer an die Gurgel, Herr Doktor!
DOKTOR STOCKMANN Der Artikel ist bloß der Anfang. Mein Kopf wimmelt vor Ideen für vier, fünf
weitere Artikel. Wo ist Aslaksen?
BILLING ruft in die Druckerei Aslaksen, kommen Sie!
HOVSTADT Vier, fünf weitere Artikel, sagen Sie? Über das gleiche Thema?
DOKTOR STOCKMANN Nein, mein Lieber, über ganz andere Dinge. Aber alles hängt zusammen mit
dem Wasserwerk und der Kläranlage. Eins zieht das andere nach sich, begreifen Sie. Wie beim
Abriss eines alten Gebäudes – genau so.

24
BILLING Haargenau, Gottverdammich; man kann gar nicht aufhören, bis der alte Kasten endlich
abgerissen ist.
ASLAKSEN kommt aus der Druckerei Abgerissen! Herr Doktor wollen doch nicht das Bad abreißen?
HOVSTADT Keine Angst.
DOKTOR STOCKMANN Nein, es geht um ganz andere Dinge. Herr Hovstad, was sagen Sie zu meinem
Artikel?
HOVSTADT Ein Meisterwerk –
DOKTOR STOCKMANN Nicht wahr – ? Freut mich; freut mich.
HOVSTADT Er ist klar und einfach; man muss kein Fachmann sein, um den Zusammenhang zu
begreifen. Ich würde sagen, damit haben Sie alle aufgeklärten Bürger auf Ihrer Seite.
ASLAKSEN Auch die Besonnenen?
BILLING Besonnene und Unbesonnene, – einfach die ganze Stadt.
ASLAKSEN Dann können wir drucken.
DOKTOR STOCKMANN Das will ich meinen!
HOVSTADT Morgen früh erscheint er.
DOKTOR STOCKMANN Tod und Teufel, verlieren wir keine Sekunde. Hören Sie, Herr Aslaksen, ich
bitte Sie: kümmern Sie sich persönlich um das Manuskript.
ASLAKSEN Mach ich.
DOKTOR STOCKMANN Hüten Sie es wie Ihren Augapfel. Kein Druckfehler; jedes Wort ist wichtig. Ich
komme später wieder; vielleicht haben Sie schon Korrekturen. – Ich kann gar nicht sagen, wie
begierig ich bin, den Artikel endlich gedruckt zu sehen, – hinausgeschleudert –
BILLING Geschleudert, – wie ein Blitz!
DOKTOR STOCKMANN – dem Urteil aller einsichtigen Mitbürger unterbreitet. Oh, Sie ahnen nicht, was
ich heute mitgemacht habe. Man hat mir gedroht; man hat mich meiner elementarsten
Menschenrechte berauben wollen –
BILLING Was! Ihrer Menschenrechte!
DOKTOR STOCKMANN – man wollte mich demütigen, mich zum Feigling machen; man hat von mir
verlangt, meinen persönlichen Vorteil über meine innerste, heiligste Überzeugung zu stellen –
BILLING Gottverdammich, das ist unerhört.
HOVSTADT Oh ja, mit so was muss man bei denen rechnen.
DOKTOR STOCKMANN Aber bei mir ziehen sie den Kürzeren; das kriegen sie schwarz auf weiß. Jeden
Tag gehe ich hier im »Volksboten« vor Anker und bombardiere sie mit Artikeln wie Granaten –
ASLAKSEN Hören Sie –
BILLING Hurra; es gibt Krieg, Krieg!
DOKTOR STOCKMANN – ich zerschmettere sie, ich vernichte sie, ich schleife ihre Festungen vor den
Augen der rechtschaffenen Öffentlichkeit! Jawohl! Das mache ich!
ASLAKSEN Aber bitte moderat, Herr Doktor; schießen Sie mit Mäßigung –
BILLING Nichts da; nichts da! Nehmen Sie Dynamit!
DOKTOR STOCKMANN unerschütterlich Jetzt geht es nicht mehr um Wasserwerk und Kläranlage. Nein,
die ganze Gesellschaft muss gereinigt werden, desinfiziert –
BILLING Das ist die Parole!
DOKTOR STOCKMANN Alle Geschäftemacher müssen weg, verstehen Sie. Auf allen Gebieten!
Unendlich neue Perspektiven haben sich mir heute aufgetan. Noch ist mir nicht alles klar; aber bald
ist es so weit. Meine Freunde, wir brauchen junge, mutige Fahnenträger; neue Kommandeure auf
allen Vorposten.
BILLING Hört, hört!
DOKTOR STOCKMANN Wenn wir solidarisch sind, geht alles glatt, absolut glatt! Die gesamte
Umwälzung läuft vom Stapel wie ein Schiff. Glauben Sie nicht?
HOVSTADT Ich persönlich glaube, wir haben die besten Aussichten, das kommunale Ruder endlich in
die Richtung zu bringen, wo es hingehört.
ASLAKSEN Und wenn wir mit Mäßigung verfahren, droht auch keine Gefahr.
DOKTOR STOCKMANN Wer, zum Teufel, spricht jetzt von Gefahr! Was ich tue, tue ich im Namen der
Wahrheit und im Auftrag meines Gewissens.
HOVSTADT Herr Doktor, Sie sind der Mann, den man unterstützen muss.
ASLAKSEN Das steht fest, der Doktor ist der wahre Freund der Stadt; ein echter Freund der
Gesellschaft.
BILLING Gottverdammich, Aslaksen, Doktor Stockmann ist ein Volksfreund!

25
ASLAKSEN Der Verein der Hausbesitzer wird sich in Kürze dieses Ausdrucks bedienen.
DOKTOR STOCKMANN bewegt, drückt ihre Hände Danke, danke, meine lieben, treuen Freunde; – das
zu hören ist Balsam für mich; – mein Herr Bruder hat mich ganz anders tituliert. Aber das kriegt er
zurück, mit Zinsen! Jetzt muss ich los, zu einem armen, kranken Teufel – . Bis gleich. Achten Sie
auf mein Manuskript, Herr Aslaksen; – streichen Sie um Himmelswillen kein einziges
Ausrufungszeichen! Setzen Sie lieber ein paar dazu! Gut, gut; auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!

Wechselseitige Verabschiedung indem man ihn zur Tür begleitet; Doktor Stockmann ab.

HOVSTADT Er kann für uns unbezahlbar sein.


ASLAKSEN Ja, solange er sich an das Bad hält. Will er mehr, sollte man ihm die Gefolgschaft
kündigen.
HOVSTADT Hm, kommt drauf an –
BILLING Sie sind ein verdammter Angsthase, Aslaksen.
ASLAKSEN Angsthase? Jawohl, Herr Billing, vor den lokalen Autoritäten habe ich Angst; das habe ich
gelernt in der Schule des Lebens. Aber konfrontieren Sie mich mit der großen Politik, sogar mit der
Regierung, und Sie werden sehen, ob ich Angst habe.
BILLING Natürlich nicht; das ist ja der Widerspruch bei Ihnen.
ASLAKSEN Ich bin ein Mann mit Gewissen, das ist der Grund. Geht man auf die Regierung los, schadet
man der Gesellschaft nicht; denn die Regierungspolitiker kümmert das wenig; – die sitzen die Sache
aus. Aber die lokalen Autoritäten, die kann man stürzen, und dann kommen vielleicht die Falschen
ans Ruder, zum Schaden der Hausbesitzer und anderer.
HOVSTADT Und wo bleibt die Erziehung des Bürgers durch Selbstverwaltung? Denken Sie mal daran!
ASLAKSEN Herr Hovstad, wer was in Händen hat und es behalten will, kann nicht an alles denken.
HOVSTADT Dann will ich nie was in Händen haben!
BILLING Hört, – hört!
ASLAKSEN lächelt Hm. Zeigt zum Schreibpult. Auf dem Redakteursstuhl saß vor Ihnen der jetzige
Landrat Stensgård.
BILLING spuckt aus Pfui! Dieser Verräter.
HOVSTADT Ich bin keine Wetterfahne – und werde auch nie eine sein.
ASLAKSEN Ein Politiker sagt niemals nie, Herr Hovstad. Und Sie, Herr Billing, Sie machen mal
halblang; Sie, als Bewerber um den Posten des Magistratssekretärs.
BILLING Ich – !
HOVSTADT Sie, Billing!
BILLING Na ja, – zum Teufel, doch nur, um diese neunmalklugen Herrschaften zu ärgern.
ASLAKSEN Mich gehts ja nichts an. Nur, wer mir Feigheit vorwirft und eine widersprüchliche Haltung,
dem sei gesagt: Buchdrucker Aslaksens politische Vergangenheit liegt offen für jedermann. Ich habe
meine Haltung nicht geändert, nur plädiere ich jetzt für mehr Maß. Mein Herz gehört immer noch
dem Volk; ich leugne allerdings nicht, mein Verstand tendiert zu den Mächtigen, – auf lokaler
Ebene. Ab in die Druckerei.
BILLING Wann schmeißen wir ihn endlich raus, Hovstad?
HOVSTADT Wissen Sie jemand, der uns Vorschuss gibt für Papier und Druck?
BILLING Verdammt, dass wir kein Betriebskapital haben.
HOVSTADT setzt sich ans Pult Ja, wenn wir das hätten –
BILLING Warum fragen Sie nicht Doktor Stockmann?
HOVSTADT blättert in den Papieren Was soll das? Der hat nichts.
BILLING Nein; aber hinter ihm steht ein vermögender Mann, der alte Morten Kiil, – der »Dachs«, wie
ihn die Leute nennen.
HOVSTADT schreibt Sind Sie sicher, der hat was?
BILLING Gottverdammich, und ob! Ein Teil davon fällt an Doktor Stockmanns Familie. Irgendwann
muss er doch damit rausrücken – wenigstens für die Kinder.
HOVSTADT dreht sich halb um Darauf wollen Sie bauen?
BILLING Bauen? Ich baue auf gar nichts.
HOVSTADT Umso besser. Auf den Posten beim Magistrat sollten Sie auch nicht bauen; ich kann Ihnen
versichern, – Sie kriegen ihn nicht.

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BILLING Glauben Sie, das wüsste ich nicht? Ist mir nur recht, wenn ich ihn nicht kriege. Diese
Missachtung feuert die Kampfeslust an;– macht frische Galle, und die braucht man in diesem
verschlafenen Nest, wo nie was Aufregendes passiert.
HOVSTADT schreibt Bravo; bravo.
BILLING Na, – die sollen bald von mir hören! – Jetzt schreibe ich den Aufruf an den
Hausbesitzerverein. Er geht in das Zimmer rechts.
HOVSTADT sitzt am Pult, kaut am Federhalter und sagt langsam Hm, – aha. – Es klopft. Herein!

Petra kommt durch die Tür links im Hintergrund.

HOVSTADT steht auf Fräulein Stockmann? Sie kommen zu mir?


PETRA Ja, entschuldigen Sie –
HOVSTADT zieht einen Sessel heran Bitte, nehmen Sie Platz!
PETRA Danke; ich bin auf dem Sprung.
HOVSTADT Schickt Sie Ihr Vater – ?
PETRA Nein, ich komme deswegen. Zieht ein Buch aus der Manteltasche. Die englische Erzählung.
HOVSTADT Warum bringen Sie die zurück?
PETRA Ich übersetze sie nicht.
HOVSTADT Aber Sie haben doch versprochen –
PETRA Da hatte ich sie noch nicht gelesen. Sie sicher auch nicht?
HOVSTADT Nein; Sie wissen, ich kann kein Englisch –
PETRA Hören Sie; Sie müssen was anderes bringen. Legt das Buch auf den Tisch. Das kann der
»Volksbote« nicht drucken.
HOVSTADT Warum nicht?
PETRA Es widerspricht allen Ihren Überzeugungen.
HOVSTADT Na, wenns nur das ist –
PETRA Sie verstehen mich nicht. In dieser Erzählung geht es um eine höhere Macht, die für die so
genannten guten Menschen auf dieser Welt sorgt und schließlich alles zum Besten wendet, – und
alle so genannten bösen Menschen bekommen am Ende ihre gerechte Strafe.
HOVSTADT Ist doch in Ordnung. Genau das wollen die Leute.
PETRA Und das geben Sie ihnen? Glauben aber selbst kein Wort, weil Sie wissen, die Realität ist
anders.
HOVSTADT Sie haben ja Recht; aber ein Redakteur kann nicht immer, wie er will. Im Kleinen muss
man dem Geschmack des Volkes entgegenkommen. Die Politik ist schließlich die Hauptsache im
Leben – wenigstens für eine Zeitung; und wenn ich die Leute für Freiheit und Fortschritt begeistern
will, muss ich ihr Vertrauen haben. Wenn die Leute so eine kleine moralische Erzählung unterm
Strich lesen, folgen sie uns umso williger in dem, was darüber steht; – sie fühlen sich sicherer.
PETRA Nein, so hinterlistig können Sie Ihre Leser nicht in die Falle locken; Sie sind doch keine
Spinne.
HOVSTADT lächelt Danke, Ihre gute Meinung ehrt mich. Nein, ich denke nicht so, das war Billings
Idee.
PETRA Was!
HOVSTADT Jedenfalls hat er neulich so was gesagt. Billing ist ganz versessen auf die Erzählung; ich
kenne sie ja gar nicht.
PETRA Aber Billing mit seinen freisinnigen Ansichten – ?
HOVSTADT Oh, Billing ist vielseitig. Wie ich höre, bewirbt er sich gerade um die Stelle als Sekretär
beim Magistrat.
PETRA Glaube ich nicht, Hovstad. Dazu gibt er sich nicht her.
HOVSTADT Fragen Sie ihn.
PETRA Das hätte ich Billing nie zugetraut.
HOVSTADT sieht sie fester an Nicht? Überrascht Sie das?
PETRA Ja. Und nein. Ach, ich weiß nicht – .
HOVSTADT Fräulein Stockmann, wir Zeitungsschreiber taugen nicht viel.
PETRA Das sagen Sie?
HOVSTADT Manchmal glaube ich es.
PETRA Ach ja, wenn man in den täglichen Scherereien steckt; das begreife ich. Aber jetzt stehen Sie
vor einer großen Aufgabe – .

27
HOVSTADT Sie meinen die Sache mit Ihrem Vater?
PETRA Ja. Jetzt müssen Sie doch fühlen, dass Sie mehr wert sind als die anderen.
HOVSTADT Ja, heute war mir so.
PETRA Nicht wahr? Oh, Sie haben eine wunderbare Berufung! Verkannten Wahrheiten und neuen
mutigen Ideen Bahn zu brechen – ; ja, allein die Vorstellung, furchtlos aufzustehen und für einen
Unschuldigen Partei zu ergreifen – –
HOVSTADT Besonders, wenn dieser Unschuldige – , hm, – ich weiß nicht, wie ich –
PETRA Wenn er ein so rechtschaffener und ehrlicher Mann ist, meinen Sie?
HOVSTADT leiser Wenn er Ihr Vater ist.
PETRA betroffen Ach so!
HOVSTADT Ja, Petra, – Fräulein Petra.
PETRA Darum geht es Ihnen! Nicht um die Sache? Nicht um die Wahrheit; nicht um die aufrichtige
Haltung meines Vaters?
HOVSTADT Doch, – doch, das auch.
PETRA Danke, Hovstad; Sie haben sich verraten; Ihnen glaube ich nichts mehr.
HOVSTADT Dass ich vor allem Ihretwegen, warum nehmen Sie mir das so übel – ?
PETRA Dass Sie unehrlich waren gegenüber meinem Vater, das werfe ich Ihnen vor. Ihm gegenüber
haben Sie so getan, als sei Ihnen Wahrheit und Wohl der Gesellschaft das Wichtigste; uns beide
haben Sie betrogen, Vater und mich; Sie sind nicht der Mann, für den Sie sich ausgeben. Das
verzeihe ich Ihnen nie – nie!
HOVSTADT Nicht so schroff, Fräulein Petra; doch nicht jetzt.
PETRA Warum nicht?
HOVSTADT Ihr Vater braucht meine Hilfe.
PETRA betrachtet ihn verächtlich So einer sind Sie!
HOVSTADT Nein, nein; es kam einfach über mich; glauben Sie mir.
PETRA Ich weiß, was ich zu glauben habe. Adieu.
ASLAKSEN kommt aus der Druckerei, schnell und geheimnisvoll Tod und Teufel, Herr Hovstad – Sieht
Petra. Au weh –
PETRA Da liegt das Buch; geben Sie es jemand anders. Geht zur Tür.
HOVSTADT folgt ihr Fräulein Stockmann –
PETRA Adieu. Ab.
ASLAKSEN Herr Hovstad, hören Sie!
HOVSTADT Ja doch, ja; was ist denn?
ASLAKSEN Der Bürgermeister steht in der Druckerei.
HOVSTADT Der Bürgermeister?
ASLAKSEN Ja, er will Sie sprechen; er kam durch die Hintertür, – wollte nicht gesehen werden, Sie
verstehen.
HOVSTADT Was kann das bedeuten? Nein, warten Sie, ich gehe selbst –

Er geht zur Druckereitür, öffnet, grüßt und bittet den Bürgermeister herein.

HOVSTADT Aslaksen, sorgen Sie dafür, dass uns niemand – .


ASLAKSEN Verstehe – Ab in die Druckerei.
DER BÜRGERMEISTER Mich haben Sie nicht erwartet, Herr Hovstad.
HOVSTADT Nein, eigentlich nicht.
DER BÜRGERMEISTER sieht sich um Schön haben Sie es hier; sehr schön.
HOVSTADT Ach –
DER BÜRGERMEISTER Und ich komme einfach her und stehle Ihre Zeit.
HOVSTADT Bitte, Herr Bürgermeister; ich stehe zur Verfügung. Darf ich
Ihnen das abnehmen – ? Legt
Zweispitz und Stock des Bürgermeisters auf einen Stuhl. Wollen Herr Bürgermeister nicht Platz
nehmen?
DER BÜRGERMEISTER setzt sich an den Tisch Danke.

Hovstad setzt sich ebenfalls an den Tisch.

DER BÜRGERMEISTER Ich hatte heute einen – äußerst unangenehmen Auftritt, Herr Hovstad.
HOVSTADT So? Oh ja; bei den vielen Amtsgeschäften des Herrn Bürgermeister –

28
DER BÜRGERMEISTER Heute war es der Badearzt.
HOVSTADT Aha; der Doktor?
DER BÜRGERMEISTER Er hat eine Art Memorandum verfasst für den Aufsichtsrat des Bades, über
gewisse vermeintliche Mängel der Wasserversorgung.
HOVSTADT Was Sie nicht sagen?
DER BÜRGERMEISTER Hat er Ihnen nicht davon erzählt – ? Ich dachte, er –
HOVSTADT Ja, richtig, er ließ ein paar Worte fallen –
ASLAKSEN kommt aus der Druckerei Ich brauche das Manuskript –
HOVSTADT ärgerlich Hm; liegt auf dem Pult.
ASLAKSEN findet es Gut.
BÜRGERMEISTER Na bitte, da haben wir es ja –
ASLAKSEN Der Artikel des Doktors, Herr Bürgermeister.
HOVSTADT Ach, den meinen Sie?
BÜRGERMEISTER Eben den. Wie finden Sie ihn?
HOVSTADT Ich bin kein Fachmann, habe ihn nur überflogen.
DER BÜRGERMEISTER Aber Sie drucken ihn?
HOVSTADT Einer so namhaften Persönlichkeit kann ich schlechterdings –
ASLAKSEN Ich habe nichts mit der Zeitung zu tun, Herr Bürgermeister –
DER BÜRGERMEISTER Ich weiß.
ASLAKSEN Ich drucke, was man mir gibt.
DER BÜRGERMEISTER Schon recht.
ASLAKSEN Deshalb muss ich – Geht in Richtung Druckerei.
DER BÜRGERMEISTER Herr Aslaksen, einen Augenblick. Sie gestatten, Herr Hovstad –
HOVSTADT Bitte, Herr Bürgermeister –
DER BÜRGERMEISTER Herr Aslaksen, Sie sind ein besonnener und vernünftiger Mann.
ASLAKSEN Freut mich, dass Herr Bürgermeister das von mir denken.
DER BÜRGERMEISTER Und ein Mann von Einfluss in vielen Kreisen.
ASLAKSEN Nur bei den kleinen Leuten.
DER BÜRGERMEISTER Die kleinen Steuerzahler sind die Mehrheit – hier wie überall.
ASLAKSEN Das stimmt.
DER BÜRGERMEISTER Zweifellos kennen Sie die Stimmung unter ihnen am besten. Habe ich Recht?
ASLAKSEN Das darf ich wohl sagen, Herr Bürgermeister.
DER BÜRGERMEISTER Nun, – da die minderbegüterten Bürger der Stadt eine so lobenswerte
Opferbereitschaft zeigen –
ASLAKSEN Wieso?
HOVSTADT Opferbereitschaft?
DER BÜRGERMEISTER Ein schönes Zeichen des Gemeinsinns; ein außerordentlich schönes Zeichen.
Offen gestanden, das hatte ich nicht erwartet. Aber Sie kennen sie besser als ich.
ASLAKSEN Herr Bürgermeister –
DER BÜRGERMEISTER Die Opfer der Bürger werden wahrhaftig nicht gering sein.
HOVSTADT Der Bürger?
ASLAKSEN Das verstehe ich nicht – . Das Bad ist doch – !
DER BÜRGERMEISTER Nach einer vorläufigen Schätzung betragen die Kosten der vom Badearzt
geforderten Umbaumaßnahmen mehrere hunderttausend Kronen.
ASLAKSEN Viel Geld; aber –
DER BÜRGERMEISTER Eine Kommunalanleihe ist notwendigerweise unumgänglich.
HOVSTADT steht auf Sie glauben doch nicht, dass die Stadt – ?
ASLAKSEN Aus der Stadtkasse! Aus den schmalen Beuteln der Kleinbürger!
DER BÜRGERMEISTER Verehrter Herr Aslaksen, woher sonst die Mittel nehmen?
ASLAKSEN Sollen die Herren Badbesitzer zahlen.
DER BÜRGERMEISTER Die Besitzer des Bades sehen sich angesichts der Wirtschaftslage außerstande.
ASLAKSEN Ist das sicher, Herr Bürgermeister?
DER BÜRGERMEISTER Ich habe mich vergewissert. Werden diese umfangreichen Baumaßnahmen
gewünscht, muss die Stadt dafür aufkommen.
ASLAKSEN Himmel, Tod und Teufel – Verzeihung! – das ändert alles, Herr Hovstad!
HOVSTADT Richtig.
DER BÜRGERMEISTER Das Fatalste ist, wir sind gezwungen, das Bad für einige Jahre zu schließen.

29
HOVSTADT Schließen? Ganz schließen!
ASLAKSEN Zwei Jahre!
DER BÜRGERMEISTER So lange werden die Arbeiten dauern – mindestens.
ASLAKSEN Tod und Teufel, das überstehen wir nicht, Herr Bürgermeister! Wovon sollen wir
Hausbesitzer denn leben?
DER BÜRGERMEISTER Schwer zu sagen, Herr Aslaksen. Nur, was soll man machen? Glauben Sie, wir
bekommen einen einzigen Badegast hierher, wenn man den Leuten einredet, unser Wasser sei
verseucht, unsere Stadt sei eine Pestbeule –
ASLAKSEN Also alles reine Einbildung?
DER BÜRGERMEISTER Ich kann beim besten Willen nichts anderes sagen.
ASLAKSEN Absolut unverantwortlich von Doktor Stock-mann – ; bitte Herrn Bürgermeister zu
entschuldigen, aber –
DER BÜRGERMEISTER Herr Aslaksen, das ist die traurige Wahrheit, Sie sprechen sie aus. Mein Bruder
war leider immer ein Phantast.
ASLAKSEN Und Sie, Herr Hovstad, Sie unterstützen ihn!
HOVSTADT Wer konnte das ahnen – ?
DER BÜRGERMEISTER Ich habe eine kurze Erklärung der Sachlage vorbereitet, so wie sie sich bei
nüchterner Betrachtung darbietet; außerdem verweise ich darin auf geeignete Maßnahmen zur
Verhinderung möglicher Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung der Finanzlage des Bades.
HOVSTADT Haben Sie die Erklärung bei sich, Herr Bürgermeister?
DER BÜRGERMEISTER greift in die Tasche Ja; ich nahm sie mit für den Fall, dass Sie –
ASLAKSEN schnell Tod und Teufel, da ist er!
DER BÜRGERMEISTER Wer? Mein Bruder?
HOVSTADT Wo, – wo!
ASLAKSEN Er kommt durch die Druckerei.
DER BÜRGERMEISTER Fatal. Einen Zusammenstoß mit ihm möchte ich hier unbedingt vermeiden;
außerdem habe ich noch einiges mit Ihnen zu besprechen.
HOVSTADT zeigt auf die Tür rechts Gehen Sie da rein.
DER BÜRGERMEISTER Aber – ?
HOVSTADT Da ist nur Billing.
ASLAKSEN Schnell, schnell, Herr Bürgermeister; er kommt.
DER BÜRGERMEISTER Schon gut; versuchen Sie ihn schleunigst loszuwerden.

Er geht durch die rechte Tür, die Aslaksen öffnet und hinter ihm schließt.

HOVSTADT Aslaksen, tun Sie irgendwas.

Er setzt sich und schreibt. Aslaksen wühlt in einem Haufen Zeitungen auf einem Stuhl rechts.

DOKTOR STOCKMANN kommt aus der Druckerei Da bin ich wieder. Legt Hut und Stock ab.
HOVSTADT schreibt Schon zurück, Herr Doktor? Aslaksen, beeilen Sie sich. Wir dürfen keine Zeit
verlieren.
DOKTOR STOCKMANN zu Aslaksen Noch keine Fahnen, höre ich.
ASLAKSEN ohne sich umzudrehen Nein, wie konnten Herr Doktor das annehmen?
DOKTOR STOCKMANN Nein, nein; ich bin so ungeduldig, verstehen Sie. Habe keine ruhige Minute, bis
das endlich gedruckt ist.
HOVSTADT Hm; das kann dauern. Was meinen Sie, Aslaksen?
ASLAKSEN Ich fürchte fast.
DOKTOR STOCKMANN Gut, gut, meine lieben Freunde; ich komme wieder; wenn nötig, auch zweimal.
Ein so wichtiges Anliegen, – das Wohl der ganzen Stadt – ; da liegt man nicht auf der Bärenhaut.
Geht, bleibt stehen und kommt zurück. Hören Sie, – noch ein Letztes, das ich mit Ihnen besprechen
muss.
HOVSTADT Verzeihung; könnten wir nicht ein andermal – ?
DOKTOR STOCKMANN Nur zwei Worte. Sehen Sie, – wenn man morgen in der Zeitung meinen Artikel
liest und erfährt, dass ich den ganzen Winter in aller Stille gearbeitet habe, zum Wohl der Stadt –
HOVSTADT Herr Doktor –

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DOKTOR STOCKMANN Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie meinen, das war meine verdammte Pflicht
und Schuldigkeit, – simpelste Bürgerpflicht. Das weiß ich so gut wie Sie. Aber meine Mitbürger – ;
Herrgott, diese liebenswerten Menschen, die mögen mich so sehr –
ASLAKSEN Ja, Herr Doktor, bis zum heutigen Tag haben die Bürger Sie sehr geschätzt.
DOKTOR STOCKMANN Eben deshalb befürchte ich, dass – ; ich will sagen: wenn die Bürger – vor allem
die minderbemittelten – das nun als einen mahnenden Aufruf begreifen, die Geschicke der Stadt
künftig selbst in die Hand zu nehmen –
HOVSTADT steht auf Hm, Herr Doktor, ich möchte Ihnen nicht verhehlen –
DOKTOR STOCKMANN Aha, – dacht ichs doch, es ist schon was im Gange! Aber davon will ich nichts
wissen. Sollte man irgendwelche Vorbereitungen treffen –
HOVSTADT Wie bitte?
DOKTOR STOCKMANN Na, irgendwas – ein Fackelzug oder ein Bankett oder eine Kollekte für eine
Ehrengabe – oder was es auch sei, versprechen Sie mir hoch und heilig, das zu verhindern. Sie auch,
Herr Aslaksen!
HOVSTADT Verzeihung, Herr Doktor; wir sagen Ihnen lieber gleich die Wahrheit –

Frau Stockmann, in Hut und Mantel, kommt durch die Tür links im Hintergrund.

FRAU STOCKMANN sieht den Doktor Also doch!


HOVSTADT geht ihr entgegen Gnädige Frau – ?
DOKTOR STOCKMANN Was, zum Teufel, willst du hier, Katrine?
FRAU STOCKMANN Das kannst du dir denken.
HOVSTADT Bitte, setzen Sie sich. Oder vielleicht –
FRAU STOCKMANN Danke; bemühen Sie sich nicht. Und seien Sie mir nicht böse, wenn ich Stockmann
mitnehme; ich bin schließlich Mutter von drei Kindern.
DOKTOR STOCKMANN Red nicht, red nicht; das wissen wir.
FRAU STOCKMANN Es sieht nicht so aus, als ob du gerade heute an Frau und Kinder denkst; sonst
würdest du nicht hingehen und uns alle ins Unglück stürzen.
DOKTOR STOCKMANN Bist du verrückt, Katrine! Ein Mann mit Frau und Kindern, hat der nicht das
Recht, die Wahrheit zu verkünden, – kein Recht, ein verantwortungsbewusster und tätiger
Staatsbürger zu sein, – kein Recht, der Stadt zu dienen, in der er lebt!
FRAU STOCKMANN Alles in Maßen, Tomas!
ASLAKSEN Das sage ich auch immer. Maßhalten.
FRAU STOCKMANN Deshalb versündigen Sie sich an uns, Herr Hovstad, wenn Sie meinen Mann von
Haus und Heim weglocken und ihn in die ganze Geschichte hineinziehen.
HOVSTADT Ich ziehe niemand hinein
DOKTOR STOCKMANN Hineinziehen! Glaubst du, ich lass mich in was hineinziehen!
FRAU STOCKMANN Jawohl. Ich weiß, du bist der klügste Mann der Stadt; aber du bist leicht zu
verführen, Tomas. Zu Hovstad. Bitte bedenken Sie, er verliert seine Stellung beim Bad, wenn Sie
das drucken, was er geschrieben hat –
ASLAKSEN Wie bitte!
HOVSTADT Wissen Sie, Herr Doktor –
DOKTOR STOCKMANN lacht. Haha, sollen sie es nur wagen – ! Oh nein, du, – sie werden sich hüten.
Hinter mir steht die kompakte Majorität!
FRAU STOCKMANN Das ist ja das Unglück, dass du so was Unheimliches hinter dir hast.
DOKTOR STOCKMANN Papperlapapp, Katrine; – geh heim, kümmere du dich um deinen Haushalt, und
ich kümmere mich um die Gesellschaft. Warum hast du nur solche Angst, ich dagegen bin froh und
siegessicher? Reibt sich die Hände und geht auf und ab. Die Wahrheit und das Volk, die werden die
Schlacht gewinnen, das schwöre ich dir. Oh, ich sehe schon alle freisinnigen Bürger sich zu einem
siegreichen Heer vereinen – ! Bleibt bei einem Stuhl stehen. Was – zum Teufel ist das!
ASLAKSEN blickt hinüber Au weh!
HOVSTADT ebenso Hm –
DOKTOR STOCKMANN Das ist ja der Gipfel der Autorität. Er nimmt den Zweispitz des Bürgermeisters
vorsichtig mit den Fingerspitzen und hält ihn hoch.
FRAU STOCKMANN Der Zweispitz des Bürgermeisters!
DOKTOR STOCKMANN Und da ist der Kommandostab. Wie, zum Teufel – ?
HOVSTADT Nun –

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DOKTOR STOCKMANN Ah, verstehe! Er war hier, um Sie von meinem Artikel abzubringen. Haha, da ist
er an die Richtigen geraten! Und als er mich in der Druckerei sah – . Bricht in Gelächter aus. Ist er
weggelaufen, Herr Aslaksen?
ASLAKSEN schnell Wie der Blitz, Herr Doktor.
DOKTOR STOCKMANN Und ließ Stock und – . Quatsch; Peter läuft vor nichts weg. Aber wo zum Teufel
habt ihr ihn? Ach so, – da drinnen natürlich. Pass auf, Katrine!
FRAU STOCKMANN Tomas, – ich bitte dich – !
ASLAKSEN Vorsicht, Herr Doktor!

Doktor Stockmann hat den Zweispitz des Bürgermeisters aufgesetzt und seinen Stock genommen; dann
geht er zur Tür, reißt sie auf und salutiert mit der Hand.

Der Bürgermeister kommt herein, rot vor Zorn. Hinter ihm Billing.

DER BÜRGERMEISTER Was soll die Maskerade?


DOKTOR STOCKMANN Respekt, mein lieber Peter. Jetzt bin ich die Autorität der Stadt. Er spaziert auf
und ab.
FRAU STOCKMANN den Tränen nahe Bitte, Tomas!
DER BÜRGERMEISTER folgt ihm Gib mir den Zweispitz und meinen Stock!
DOKTOR STOCKMANN wie vorher Bist du Polizeichef, bin ich Bürgermeister, – ich bin der Meister der
ganzen Stadt; ich, siehst du!
DER BÜRGERMEISTER Nimm den Zweispitz ab, sage ich. Er ist offizieller Bestandteil meiner
Dienstuniform!
DOKTOR STOCKMANN Quatsch; meinst du, der erwachende Volkslöwe hat Angst vor einem Zweispitz?
Jawohl, morgen machen wir in der Stadt Revolution, verstanden. Du hast gedroht, mich zu
entlassen; jetzt entlasse ich dich, – ich setze dich ab von allen deinen Vertrauensposten – . Du
glaubst, das kann ich nicht? Ich kann; denn mit mir sind die siegreichen Kräfte der Gesellschaft.
Hovstad und Billing schießen im »Volksboten«, und Buchdrucker Aslaksen stürmt an der Spitze des
Hausbesitzervereins –
ASLAKSEN Das tu ich nicht, Herr Doktor.
DOKTOR STOCKMANN Natürlich tun Sie das –
DER BÜRGERMEISTER Aha; Herr Hovstad läuft zur Opposition über?
HOVSTADT Nein, Herr Bürgermeister.
ASLAKSEN Nein, so verrückt ist Herr Hovstad nicht und ruiniert sich und die Zeitung wegen
irgendwelcher Hirngespinste.
DOKTOR STOCKMANN sieht sich um Was soll das heißen?
HOVSTADT Herr Doktor, Sie haben uns Ihre Sache unter falschen Voraussetzungen dargestellt; deshalb
unterstütze ich Sie nicht.
BILLING Nein, nachdem der Herr Bürgermeister mir eben freundlicherweise eröffnet hat –
DOKTOR STOCKMANN Falsche Voraussetzungen! Lassen Sie das meine Sorge sein. Drucken Sie
meinen Artikel; ich bin Manns genug, ich verteidige ihn auch allein.
HOVSTADT Ich drucke ihn nicht. Ich kann, will und wage nicht, ihn zu drucken.
DOKTOR STOCKMANN Sie wagen nicht? Was soll der Unsinn? Sie sind der Redakteur; und der
Redakteur lenkt die Presse, meine ich!
ASLAKSEN Nein, Herr Doktor, die Abonnenten!
DER BÜRGERMEISTER Glücklicherweise.
ASLAKSEN Das heißt, die öffentliche Meinung, die aufgeklärte Öffentlichkeit, die Hausbesitzer und all
die anderen; die lenken die Presse.
DOKTOR STOCKMANN gefasst Und alle diese Mächte habe ich jetzt gegen mich?
ASLAKSEN So ist es. Wenn Ihr Artikel gedruckt würde, wäre das der Ruin der Bürgerschaft.
DOKTOR STOCKMANN Aha. –
DER BÜRGERMEISTER Meinen Zweispitz und meinen Stock!

Doktor Stockmann nimmt den Zweispitz ab und legt ihn mit dem Stock auf den Tisch.

DER BÜRGERMEISTER nimmt beides an sich Deine Bürgermeisterwürde nahm ein schnelles Ende.

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DOKTOR STOCKMANN Nichts ist zu Ende. Zu Hovstad. Dass mein Artikel im »Volksboten« erscheint,
ist also völlig ausgeschlossen?
HOVSTADT Völlig ausgeschlossen; auch mit Rücksicht auf Ihre Familie.
FRAU STOCKMANN Lassen Sie gefälligst meine Familie aus dem Spiel, Herr Hovstad.
DER BÜRGERMEISTER zieht ein Papier aus der Tasche Das reicht zur vorläufigen Orientierung der
Öffentlichkeit; es handelt sich um eine amtliche Stellungnahme. Bitte sehr.
HOVSTADT nimmt das Papier Gut; das drucken wir.
DOKTOR STOCKMANN Und meinen Artikel nicht. Man glaubt also, man kann mich und die Wahrheit
totschweigen! Aber so einfach, wie Sie meinen, geht das nicht. Herr Aslaksen, nehmen Sie mein
Manuskript und drucken Sie es sofort als Flugblatt – auf meine Rechnung, – im Selbstverlag. Ich
brauche vierhundert Stück; nein, fünfhundert, sechshundert.
ASLAKSEN Ausgeschlossen, und wenn Sie mich mit Gold aufwiegen, Herr Doktor, ich würde es nicht
wagen, dafür meine Druckerei zur Verfügung zu stellen. Ich wage es nicht, wegen der öffentlichen
Meinung. Niemand in der ganzen Stadt druckt Ihnen das.
DOKTOR STOCKMANN Geben Sie her.
HOVSTADT reicht ihm das Manuskript Bitte.
DOKTOR STOCKMANN nimmt Hut und Stock An die Öffentlichkeit muss es. Ich werde es auf einer
großen Volksversammlung verlesen; alle meine Mitbürger sollen die Stimme der Wahrheit hören!
DER BÜRGERMEISTER Kein Verein in der ganzen Stadt gibt dir sein Lokal.
ASLAKSEN Kein einziger; ganz sicher.
BILLING Nein, Gottverdammich, kein einziger!
FRAU STOCKMANN Das wäre schändlich! Warum sind plötzlich alle gegen dich?
DOKTOR STOCKMANN böse Das will ich dir sagen. Weil in dieser Stadt alle Männer Weiber sind –
solche wie du; alle denken nur an die Familie und keiner an die Gesellschaft.
FRAU STOCKMANN fasst seinen Arm Dann zeige ich denen ein Weib, das wie ein Mann handelt –
ausnahmsweise. Jetzt halte ich zu dir, Tomas!
DOKTOR STOCKMANN Katrine, das ist ein Wort. An die Öffentlichkeit muss es, bei meiner Seele!
Kriege ich kein Lokal, dann hole ich mir einen Trommler, der mit mir durch die Stadt zieht, und
werde es verlesen, an jeder Straßenecke.
DER BÜRGERMEISTER So komplett verrückt kannst du nicht sein!
DOKTOR STOCKMANN Doch, bin ich!
ASLAKSEN Kein Mann in der ganzen Stadt geht mit Ihnen.
BILLING Nein, Gottverdammich, kein einziger!
FRAU STOCKMANN Gib nicht auf, Tomas! Ich bitte die Jungen, die gehen mit dir.
DOKTOR STOCKMANN Eine glänzende Idee!
FRAU STOCKMANN Morten macht bestimmt mit; und Ejlif auch.
DOKTOR STOCKMANN Und Petra! Und du, Katrine!
FRAU STOCKMANN Nein, nein, ich nicht; ich steh am Fenster und schau dir zu; jawohl.
DOKTOR STOCKMANN umarmt und küsst sie Danke! Auf in den Kampf, meine Herren! Wollen doch
sehen, ob Feigheit einen Patrioten, der die Gesellschaft reinigen will, mundtot machen kann!

Er und seine Frau gehen durch die Tür links im Hintergrund ab.

DER BÜRGERMEISTER schüttelt bedenklich den Kopf Jetzt hat er sie auch verrückt gemacht.

33
VIERTER AKT

Großer altertümlicher Saal in Kapitän Horsters Haus. Hinten offene Flügeltür zu einem Vorraum.
Links drei Fenster; in der Mitte der gegenüberliegenden Wand ist ein Podium aufgebaut mit einem
kleinen Tisch, zwei Kerzen, Wasserkaraffe, Glas und Glocke. Zwischen den Fenstern Wandlampen, die
den Saal beleuchten. Links im Vordergrund ein Tisch mit einer Kerze und einem Stuhl. Ganz vorn
rechts eine Tür, daneben ein paar Stühle.

Große Versammlung von Bürgern aller Stände. In der Menge sichtbar einzelne Frauen und ein paar
Schuljungen. Immer mehr Menschen strömen aus dem Hintergrund herein, der Saal füllt sich.

EIN BÜRGER zu einem anderen Na, auch da, Lamstad?


DER ANGESPROCHENE Ich geh zu jeder Versammlung.
EIN DABEISTEHENDER Haben Sie was zum Pfeifen mit?
DER ZWEITE BÜRGER Klar. Sie etwa nicht?
DER DRITTE Natürlich. Und Schiffer Evensen bringt sein großes Horn, hat er gesagt.
DER ZWEITE BÜRGER Evensen ist in Ordnung.

Lachen in der Gruppe.

EIN VIERTER BÜRGER kommt hinzu Hören Sie mal, was ist hier eigentlich los heute Abend?
DER ZWEITE BÜRGER Doktor Stockmann hält einen Vortrag gegen den Bürgermeister.
DER HINZUGEKOMMENE Aber der Bürgermeister ist doch sein Bruder.
DER ERSTE BÜRGER Das ist egal; Doktor Stockmann hat keine Angst.
DER DRITTE BÜRGER Aber er ist im Unrecht; stand im »Volksboten«.
DER ZWEITE BÜRGER Diesmal bestimmt; deshalb hat ihm auch keiner sein Lokal gegeben, weder der
Hausbesitzerverein noch der Bürgerklub.
DER ERSTE BÜRGER Nicht mal den Saal des Bades hat er bekommen.
DER ZWEITE Den schon gar nicht.
EIN MANN in einer anderen Gruppe Zu wem soll man halten, was?
EIN ZWEITER MANN in derselben Gruppe Achten Sie auf Buchdrucker Aslaksen, was der tut, das tun
Sie auch.
BILLING eine Mappe unter dem Arm, bahnt sich den Weg durch die Menge Verzeihung, meine Herren!
Würden Sie mich bitte durchlassen? Ich schreibe für den »Volksboten«. Tausend Dank! Er setzt sich
an den Tisch links.
EIN ARBEITER Wer war das?
EIN ANDERER ARBEITER Der? Kennst du den nicht? Das war der Billing, von Aslaksens Zeitung.

Kapitän Horster kommt mit Frau Stockmann und Petra durch die Tür rechts im Vordergrund. Hinter
ihnen Ejlif und Morten.

HORSTER Hier sitzt die Familie, dachte ich; falls was passiert, kann man schnell verschwinden.
FRAU STOCKMANN Glauben Sie, es gibt Ärger?
HORSTER Kann man nie wissen – ; bei so viel Leuten – . Nehmen Sie erstmal Platz.
FRAU STOCKMANN setzt sich Vielen Dank, dass Sie Stockmann den Saal gegeben haben.
HORSTER Da sonst niemand –
PETRA die sich auch gesetzt hat Das war mutig, Horster.
HORSTER Ach, dazu gehört kein besonderer Mut, finde ich.

Redakteur Hovstad und Buchdrucker Aslaksen kommen gleichzeitig, aber getrennt, nach vorn durch
die Menge.

ASLAKSEN geht zu Horster Der Doktor noch nicht da?


HORSTER Er wartet drinnen.

Bewegung an der Tür im Hintergrund.

34
HOVSTADT zu Billing Da ist der Bürgermeister. Sehen Sie!
BILLING Gottverdammich, er kommt also doch!

Bürgermeister Stockmann bahnt sich vorsichtig einen Weg durch die Versammlung, grüßt höflich und
stellt sich an die Wand links. Etwas später kommt Doktor Stockmann durch die Tür rechts im
Vordergrund. Er trägt einen schwarzen Gehrock und ein weißes Halstuch. Einzelne klatschen
unsicher, leises Zischen dagegen. Es wird still.

DOKTOR STOCKMANN halblaut Wie geht es dir, Katrine?


FRAU STOCKMANN Gut. Leiser. Reg dich bloß nicht auf, Tomas.
DOKTOR STOCKMANN Ich kann mich beherrschen, du. Sieht auf seine Uhr, betritt das Podium und
verbeugt sich. Es ist Viertel nach; – ich darf also beginnen – Zieht sein Manuskript raus.
ASLAKSEN Zuerst die Wahl des Diskussionsleiters.
DOKTOR STOCKMANN Absolut überflüssig.
EINIGE HERREN rufen Doch, doch!
DER BÜRGERMEISTER Ich würde auch meinen, man sollte einen Vorsitzenden wählen.
DOKTOR STOCKMANN Peter, ich halte auf dieser Versammlung einen Vortrag!
DER BÜRGERMEISTER Der Vortrag des Badearztes könnte zu Meinungsverschiedenheiten führen.
MEHRERE STIMMEN aus der Menge Ein Diskussionsleiter! Ein Vorsitzender!
HOVSTADT Der mehrheitliche Bürgerwille verlangt nach einem Diskussionsleiter.
DOKTOR STOCKMANN beherrscht Schon gut; soll der Bürgerwille seinen Willen haben.
ASLAKSEN Würden Herr Bürgermeister sich dieser Aufgabe unterziehen?
DREI HERREN klatschen Bravo! Bravo!
DER BÜRGERMEISTER Aus vielen verständlichen Gründen muss ich ablehnen. Glücklicherweise haben
wir jedoch in unserer Mitte einen Mann, den vermutlich alle akzeptieren. Ich meine den
Vorsitzenden des Hausbesitzervereins, Herrn Buchdrucker Aslaksen.
VIELE STIMMEN Ja, ja! Aslaksen lebe hoch! Hurra, Aslaksen!

Doktor Stockmann nimmt sein Manuskript und verlässt das Podium.

ASLAKSEN Wenn mich das Vertrauen meiner Mitbürger ruft, so darf ich nicht –

Händeklatschen und Beifallsrufe. Aslaksen betritt das Podium.

BILLING schreibt – »Herr Buchdrucker Aslaksen per Akklamation gewählt – «


ASLAKSEN Da ich nun hier oben stehe, möchte ich mir erlauben, ein paar kurze Worte zu sagen. Ich
bin ein ruhiger, friedliebender Mensch, der für besonnene Mäßigung eintritt und für – und für
mäßige Besonnenheit; jeder, der mich kennt, weiß das.
VIELE STIMMEN Ja! Jawohl, Aslaksen!
ASLAKSEN In der Schule des Lebens und der Erfahrung habe ich gelernt, dass Mäßigung die Tugend
ist, die dem Staatsbürger am besten ansteht –
DER BÜRGERMEISTER Hört!
ASLAKSEN – und dass Besonnenheit und Mäßigung auch der Gesellschaft am dienlichsten sind. Ich
möchte daher dem werten Mitbürger, der diese Versammlung einberufen hat, anheimstellen, er möge
sich innerhalb der Grenzen der Mäßigung befleißigen.
EIN MANN hinten bei der Tür Skål – auf den Mäßigungsverein!
STIMME Geh zum Teufel!
VIELE Pst, pst!
ASLAKSEN Keine Unterbrechung, meine Herren! – Wünscht jemand das Wort?
DER BÜRGERMEISTER Herr Vorsitzender!
ASLAKSEN Das Wort hat Herr Bürgermeister Stockmann.
DER BÜRGERMEISTER In Anbetracht der nahen Verwandtschaft, in der ich, wie bekannt, zu dem
amtierenden Badearzt stehe, würde ich es vorziehen, mich heute Abend überhaupt nicht zu äußern.
Meine Position beim Bad und die Wahrnehmung der wichtigsten Interessen der Stadt zwingen mich
jedoch, folgenden Antrag zu stellen. Ich darf dabei voraussetzen, dass keiner der hier anwesenden
Bürger es für wünschenswert hält, dass unzuverlässige und falsche Darstellungen der sanitären
Verhältnisse des Bades und der Stadt weiteren Kreisen zur Kenntnis gebracht werden.

35
VIELE STIMMEN Nein, nein, nein! Das nicht! Wir protestieren!
DER BÜRGERMEISTER Ich stelle daher den Antrag, die Versammlung möge verbieten, dass der Badearzt
seine diesbezüglichen Darstellung verliest oder vorträgt.
DOKTOR STOCKMANN braust auf Verbieten – ! Was!
FRAU STOCKMANN hustet Hm-hm!
DOKTOR STOCKMANN fasst sich Meinetwegen; sollen sie verbieten.
DER BÜRGERMEISTER In meiner Erklärung im »Volksboten« habe ich die Öffentlichkeit bereits vertraut
gemacht mit den wesentlichen Fakten; alle wohlmeinenden Bürger können sich also mit Leichtigkeit
ihr eigenes Urteil bilden. Man wird daraus auch ersehen, dass der Vorschlag des Badearztes, – neben
einem Misstrauensvotum gegen die führenden Männer der Stadt, – nichts anderes zum Ziel hat, als
den steuerpflichtigen Einwohnern unnötige Ausgaben aufzubürden, und zwar in Höhe von
mindestens hunderttausend Kronen.

Unmutsäußerungen und einzelne Pfiffe.

ASLAKSEN läutet die Glocke Silentium, meine Herren! Ich darf den Antrag des Bürgermeisters
unterstützen. Auch ich bin der Meinung, dass die Agitation des Doktors einen Hintergedanken hat.
Er spricht vom Bad; aber er meint die Revolution; er will die Führung der Stadt in andere Hände
legen. Niemand bezweifelt die redlichen Absichten des Doktors; Gott bewahre, darüber kann es
keine geteilte Meinung geben. Ich bin ebenfalls ein Freund der bürgerlichen Selbstverwaltung, wenn
sie die steuerpflichtigen Bürger nicht zu teuer kommt. Das aber ist hier der Fall; deshalb – ; nein,
Gott verdammt – mit Verlaub – diesmal kann ich nicht für Doktor Stockmann sein. Man kann auch
Gold zu teuer kaufen; das ist meine Meinung.

Lebhafter Beifall von allen Seiten.

HOVSTADT Auch ich fühle mich aufgefordert, meinen Standpunkt zu erläutern. Doktor Stockmanns
Agitation schien anfangs einiges für sich zu haben, und ich habe sie unterstützt, so unparteiisch ich
konnte. Dann aber merkten wir, dass er uns mit falschen Argumenten hinters Licht geführt hatte –
DOKTOR STOCKMANN Falschen – !
HOVSTADT Oder unzuverlässigen Argumenten. Die Erklärung des Bürgermeisters hat das bewiesen.
Ich hoffe, niemand hier im Saal bezweifelt meine liberale Gesinnung; die Haltung des »Volksboten«
in den großen politischen Fragen ist jedem bekannt. Von erfahrenen und besonnenen Männern habe
ich jedoch gelernt, dass eine Zeitung in rein lokalen Angelegenheiten mit einer gewissen
Zurückhaltung verfahren sollte.
ASLAKSEN Vollkommen einig mit dem Redner.
HOVSTADT Ganz zweifellos hat Doktor Stockmann in der betreffenden Angelegenheit die allgemeine
Meinung gegen sich. Meine Herren, ich frage Sie nun, was ist die erste und oberste Pflicht eines
Redakteurs? Doch wohl die Meinung seiner Leser zu vertreten? Hat er nicht gleichsam das
stillschweigende Mandat, unablässig und unermüdlich für das Wohl seiner Gesinnungsgenossen zu
kämpfen? Oder irre ich mich?
VIELE STIMMEN Nein, nein, nein! Redakteur Hovstad hat Recht!
HOVSTADT Es hat mich einen schweren Kampf gekostet, mit einem Mann zu brechen, in dessen Haus
ich häufig Gast war in letzter Zeit, – ein Mann, der bis zum heutigen Tag sich des ungeteilten
Wohlwollens seiner Mitbürger erfreute, – ein Mann, dessen einziger – oder jedenfalls entscheidender
Fehler darin besteht, dass er eher seinem Herzen als seinem Kopf folgt.
EINZELNE VERSTREUTE STIMMEN Das ist wahr! Doktor Stockmann, Hurra!
HOVSTADT Meine Pflicht gegenüber der Gesellschaft aber gebot mir, mit ihm zu brechen. Darüber
hinaus gibt es für mich einen weiteren Grund, ihn zu bekämpfen und ihn, wenn möglich, von dem
verhängnisvollen Weg abzubringen, den er eingeschlagen hat; das ist die Rücksicht auf seine Familie

DOKTOR STOCKMANN Halten Sie sich an die Wasserleitung und die Kläranlage!
HOVSTADT – die Rücksicht auf seine Frau und seine minderjährigen Kinder.
MORTEN Sind wir das, Mutter?
FRAU STOCKMANN Pst!
ASLAKSEN Ich bringe jetzt den Antrag des Herrn Bürgermeisters zur Abstimmung.

36
DOKTOR STOCKMANN Überflüssig! Ich habe nicht vor, heute Abend über die Schweinerei mit dem Bad
zu sprechen. Nein; ihr kriegt ganz was anderes zu hören.
DER BÜRGERMEISTER halblaut Was denn nun schon wieder?
EIN BETRUNKENER hinten beim Ausgang Ich bin steuerpflichtig! Also bin ich meinungspflichtig! Und
ich bin voll – und fest – und verdammt der Meinung, dass –
VIELE STIMMEN Schnauze, da hinten!
ANDERE STIMMEN Der ist besoffen! Schmeißt ihn raus!

Der Betrunkene wird vor die Tür gesetzt.

DOKTOR STOCKMANN Habe ich das Wort?


ASLAKSEN läutet die Glocke Herr Doktor Stockmann hat das Wort!
DOKTOR STOCKMANN Vor ein paar Tagen hätte man es wagen sollen, mir hier einen Maulkorb zu
verpassen! Wie ein Löwe hätte ich gekämpft um meine heiligen Menschenrechte! Jetzt ist mir das
egal; jetzt habe ich über wichtigere Dinge zu sprechen.

Die Menge drängt sich dichter um ihn zusammen. Morten Kiil erscheint unter den Umstehenden.

DOKTOR STOCKMANN fährt fort Ich habe viel nachgedacht und gegrübelt in den letzten Tagen – , so
viel und über so vieles, bis sich mir schließlich der Kopf drehte –
DER BÜRGERMEISTER hustet Hm – !
DOKTOR STOCKMANN – aber dann durchschaute ich plötzlich die Dinge; und der Zusammenhang
wurde mir klar. Deshalb stehe ich heute Abend hier. Meine Mitbürger, ich habe wichtige
Enthüllungen zu machen! Ich will euch eine Entdeckung mitteilen von ganz anderer Tragweite, als
die Bagatelle mit unserer verseuchten Wasserleitung und dass unser Heilbad auf verpestetem Grund
und Boden steht.
VIELE STIMMEN schreien Reden Sie nicht vom Bad! Nichts davon. Aufhören.
DOKTOR STOCKMANN Ich habe gesagt, ich will über die große Entdeckung sprechen, die ich in den
letzten Tagen gemacht habe, – die Entdeckung nämlich, dass alle unsere geistigen Lebensquellen
vergiftet sind, und dass unsere ganze bürgerliche Gesellschaft auf dem verpesteten Grund der Lüge
ruht.
ERSTAUNTE STIMMEN halblaut Was sagt er?
DER BÜRGERMEISTER Das ist eine Unterstellung – !
ASLAKSEN die Hand an der Glocke Ich fordere den Redner auf, sich zu mäßigen.
DOKTOR STOCKMANN Ich habe meine Vaterstadt geliebt, wie nur irgendein Mensch die Stätte seiner
Jugend lieben kann. Ich war noch jung, als ich von hier wegging; und die Entfernung und der Verlust
und die Erinnerung warfen einen vermehrten Glanz über diesen Ort und seine Menschen.

Vereinzeltes Klatschen und Beifallsrufe.

DOKTOR STOCKMANN Dann hockte ich lange Jahre in einem schrecklichen Nest hoch oben im Norden.
Kam ich zu den Menschen, die dort zwischen den Felsen hausten, hatte ich oft das Gefühl, diesen
armen, verkommenen Geschöpfen wäre besser mit einem Tierarzt gedient, als mit einem Mann wie
mir.

Gemurmel im Saal.

BILLING legt den Bleistift hin Gottverdammich, so was hab ich noch nicht gehört – !
HOVSTADT Das ist Hohn auf das einfache Volk!
DOKTOR STOCKMANN Einen Moment! – Ich denke, niemand kann mir nachsagen, ich hätte meine
Vaterstadt dort oben vergessen. Ich saß da oben und dachte nach, und was schließlich dabei
herauskam, – das war die Idee mit dem Bad.

Applaus und Protest.

DOKTOR STOCKMANN Und als das Schicksal es endlich so wunderbar fügte, dass ich wieder nach
Hause konnte, – ja, meine Mitbürger, da hatte ich nur noch einen Wunsch auf der Welt, nämlich

37
diesen: ständig, unermüdlich und mit Feuereifer tätig zu sein zum Besten der Stadt und der
Allgemeinheit.
DER BÜRGERMEISTER blickt nach oben Eine etwas seltsame Art – hm.
DOKTOR STOCKMANN So lebte ich hier in glücklicher Blindheit. Gestern Vormittag jedoch – nein,
eigentlich vorgestern Abend – da ging mir plötzlich ein Licht auf, und das erste, was ich erblickte,
war die maßlose Dummheit unserer Autoritäten –
DER BÜRGERMEISTER Herr Vorsitzender!
ASLAKSEN läutet Kraft meines Amtes – !
DOKTOR STOCKMANN Klammern Sie sich nicht an ein Wort, Herr Aslaksen, das ist kleinlich! Ich
meine, ich begriff ganz einfach die maßlose Schweinerei, die die leitenden Herren des Bades
verschuldet haben. Leitende Herren kann ich auf den Tod nicht ausstehen; – ich habe die Nase voll
von diesen Leuten. Sie sind wie Ziegenböcke in einer Baumschule; überall richten sie Unheil an;
stehen einem freien Mann im Weg, wohin er sich dreht und wendet, – am liebsten würde ich sie
ausrotten wie andere Schädlinge –

Unruhe im Saal.

DER BÜRGERMEISTER Herr Vorsitzender, Sie gestatten derartige Äußerungen?


ASLAKSEN die Hand an der Glocke Herr Doktor – !
DOKTOR STOCKMANN Ich begreife gar nicht, dass mir erst jetzt die Augen aufgehen über
diese Herren;
hatte ich – doch fast täglich ein glänzendes Exemplar dieser Spezies hier vor Augen, – meinen
Bruder Peter, – kurzer Verstand und schnell bei der Hand mit Vorurteilen –

Gelächter, Lärm und Pfeifen. Frau Stockmann hustet. Aslaksen läutet heftig.

DER BETRUNKENE der wieder hereingekommen ist Meinen Sie mich? Ich heiße Petersen; hol mich der
Teufel –
WÜTENDE STIMMEN Raus mit dem Besoffenen! An die Luft mit ihm.

Der Mann wird hinausgeworfen.

DER BÜRGERMEISTER Wer ist der Mann?


EIN DABEISTEHENDER Kenn ich nicht, Herr Bürgermeister.
EIN ANDERER Aus der Stadt ist er nicht.
EIN DRITTER Ein Holzhändler, angeblich aus – Der Rest unverständlich.
ASLAKSEN Der Mann hat offensichtlich zu viel Bier getrunken. – Fahren Sie fort, Herr Doktor; aber
mit Mäßigung, wenn ich bitten darf.
DOKTOR STOCKMANN Nun gut, meine Mitbürger; ich will mich nicht weiter auslassen über unsere
leitenden Herren. Und wer meinen Äußerungen meint entnehmen zu können, ich wollte diesen
Herrschaften heute Abend an den Kragen, der irrt sich, – ganz gewaltig sogar. Ich habe nämlich die
tröstliche Hoffnung, dass alle diese dahinvegetierenden Fossile einer absterbenden Geisteswelt sich
glücklicherweise von selbst ins Jenseits befördern; dazu bedarf es nicht der Hilfe eines Arztes, um
ihren tödlichen Abgang zu beschleunigen. Diese Leute sind auch nicht die Hauptgefahr der
Gesellschaft; die sind auch nicht die übelsten Vergifter und Verpester unserer geistigen
Lebensquellen und unseres geistigen Nährbodens; die sind nicht die gefährlichsten Feinde der
Wahrheit und der Freiheit in unserer Gesellschaft.
RUFE von allen Seiten Wer denn? Wer ist es? Namen!
DOKTOR STOCKMANN Verlasst euch drauf, ich werde sie nennen! Das ist doch die große Entdeckung,
die ich gestern gemacht habe. Erhebt die Stimme. Der gefährlichste Feind der Wahrheit und der
Freiheit, das ist die kompakte Majorität. Jawohl, die verfluchte, kompakte, liberale Majorität, – die
ist es! Jetzt wisst ihr es.

Ungeheurer Tumult im Saal. Die meisten schreien, trampeln und pfeifen. Einige ältere Herren
wechseln verstohlene Blicke und scheinen sich zu amüsieren. Frau Stockmann steht ängstlich auf; Ejlif
und Morten gehen drohend auf ein paar Schuljungen los, die Krawall machen. Aslaksen läutet die
Glocke und ermahnt zur Ruhe. Hovstad und Billing sprechen beide, man hört sie aber nicht. Endlich
tritt Stille ein.

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ASLAKSEN Als Vorsitzender erwarte ich, dass der Redner seine unbesonnenen Äußerungen
zurücknimmt.
DOKTOR STOCKMANN Nie und nimmer, Herr Aslaksen. Die große Mehrheit unserer Gesellschaft, die
raubt mir meine Freiheit, die verbietet mir, die Wahrheit auszusprechen.
HOVSTADT Die Mehrheit hat immer das Recht auf ihrer Seite.
BILLING Und die Wahrheit, Gottverdammich!
DOKTOR STOCKMANN Die Mehrheit hat nie das Recht auf ihrer Seite. Nie, sage ich! Das ist eine dieser
öffentlichen Lügen, die man als frei denkender Mensch bekämpfen muss. Wer ist denn die Mehrheit
eines Landes? Die Klugen oder die Dummen? Wir sind uns wohl alle einig, auf dem ganzen Erdball
bilden die Dummen eine äußerst erschreckende und überwältigende Majorität. Es kann aber, zum
Teufel, niemals richtig sein, dass die Dummen über die Klugen herrschen!

Lärm und Geschrei.

DOKTOR STOCKMANN Ja, ja; überschreien könnt ihr mich, widerlegen könnt ihr mich nicht. Die
Mehrheit hat immer die Macht, – leider – ; aber das Recht hat sie nicht. Recht haben ich und einige
wenige, einzelne. Die Minorität hat immer Recht.

Wieder großer Lärm.

HOVSTADT Haha; Doktor Stockmann ist seit vorgestern Aristokrat!


DOKTOR STOCKMANN Wie gesagt, ich verschwende kein Wort über diesen kleinen Haufen der
engbrüstigen und kurzatmigen Ewiggestrigen. Mit denen hat das frische pulsierende Leben nichts zu
tun. Nein, ich denke an die wenigen unter uns, an die Einzelnen, die sich die neuen, künftigen
Wahrheiten zu Eigen gemacht haben. Diese Männer stehen auf soweit vorgeschobenem Posten, dass
die kompakte Majorität noch gar nicht bis dahin nachrücken konnte, – und dort kämpfen sie für
Wahrheiten, die so neu sind für das Bewusstsein, dass sie gar keine Mehrheit haben können.
HOVSTADT Demnach ist der Doktor unter die Revolutionäre gegangen!
DOKTOR STOCKMANN Tod und Teufel, Herr Hovstad, das bin ich! Ich werde Revolution machen
gegen die Lüge, dass die Mehrheit im Besitz der Wahrheit ist. Was sind denn das für Wahrheiten,
auf die sich die Mehrheit beruft? Alles Wahrheiten, so alt, dass sie schon in Agonie liegen. Ist aber
eine Wahrheit erstmal so alt, meine Herren, dann ist sie fast schon eine Lüge.

Gelächter und Hohnrufe.

DOKTOR STOCKMANN Ja, ja, glauben Sie mir; Wahrheiten sind keineswegs uralte Methusaleme, wie
allgemein angenommen. Eine gesunde Wahrheit hat in der Regel eine Lebenserwartung von – sagen
wir – siebzehn, achtzehn Jahren, höchstens zwanzig; selten länger. So alte Wahrheiten sind aber
immer schon reichlich mager. Trotzdem befasst sich die Mehrheit erst dann mit ihnen und empfiehlt
sie der Gesellschaft als gesunde geistige Nahrung. Doch viel Nahrhaftes steckt nicht in dieser Kost,
das versichere ich Ihnen; davon verstehe ich was als Arzt. Alle diese Mehrheitswahrheiten sind wie
Speck vom vorigen Jahr oder wie ranziger, verschimmelter, grün gesalzener Schinken. Daher kommt
der moralische Skorbut, der die Gesellschaft befallen hat.
ASLAKSEN Mir scheint, der geschätzte Redner entfernt sich in gewisser Weise vom Thema.
DER BÜRGERMEISTER Ich schließe mich der Meinung des Vorsitzenden an.
DOKTOR STOCKMANN Bist du verrückt, Peter! Ich halte mich genau an das Thema. Ich spreche über
die Tatsache, dass die Masse, die Mehrheit, diese verfluchte kompakte Majorität, – dass die es ist,
sage ich, die unsere geistigen Lebensquellen vergiftet und unseren Lebensgrund verpestet.
HOVSTADT Und das tut die freisinnige Mehrheit des Volkes, indem sie besonnen genug ist und sich an
die gesicherten, anerkannten Wahrheiten hält?
DOKTOR STOCKMANN Ach, bester Herr Hovstad, kommen Sie mir doch nicht mit gesicherten
Wahrheiten! Die Wahrheiten, die die Masse und die Menge akzeptiert, das sind doch Wahrheiten,
die die Vorkämpfer zur Zeit unserer Großväter für gesichert hielten. Wir Vorkämpfer von heute
dagegen, wir erkennen sie nicht länger an; im übrigen bin ich überzeugt, es gibt nur eine einzige
gesicherte Wahrheit, nämlich die, dass keine Gesellschaft mit alten, kraftlosen Wahrheiten ein
gesundes Leben führen kann.

39
HOVSTADT Statt ins Blaue zu reden, dürfte es amüsant sein zu erfahren, um welche alten, kraftlosen
Wahrheiten es sich handelt, von denen wir leben.

Beifall von mehreren Seiten.

DOKTOR STOCKMANN Oh, von dem Unsinn könnte ich eine Menge aufzählen; ich halte mich aber
zunächst nur an eine dieser anerkannten Wahrheiten, die zwar eine böse Lüge ist, von der aber Herr
Hovstad lebt und der »Volksbote« sowie die Sympathisanten des »Volksboten«.
HOVSTADT Die wäre – ?
DOKTOR STOCKMANN Das ist die von euren Vorvätern ererbte und von euch selbst gedankenlos
weiterverbreitete Lehre, die besagt, – der Kern des Volkes, das sei die Allgemeinheit, die Menge, die
Masse, – die seien das Volk schlechthin, – und der einfache Mann, der Unwissende und
Ungebildete, der habe das gleiche Recht, zu verurteilen und anzuerkennen, zu bestimmen und zu
entscheiden, wie einzelne, geistig hoch stehende Persönlichkeiten.
BILLING Gottverdammich, so was hab ich –
HOVSTADT gleichzeitig, ruft Bürger, aufgepasst!
VERBITTERTE STIMMEN Hoho, sind wir nicht das Volk? Sollen nur die Vornehmen bestimmen!
EIN ARBEITER Raus mit dem Kerl, der so redet!
ANDERE Setzt ihn vor die Tür!
EIN BÜRGER schreit Evensen, das Horn!

Ungeheures Horntuten; Pfeifen und Tumult im Saal.

DOKTOR STOCKMANN nachdem sich der Lärm etwas gelegt hat Seid doch vernünftig! Ertragt ihr nicht
einmal die Stimme der Wahrheit? Ich verlange ja gar nicht, dass ihr alle auf der Stelle mit mir einig
seid. Von Herrn Hovstad allerdings hätte ich erwartet, dass er mir recht gibt. Herr Hovstad erhebt ja
den Anspruch, Freidenker zu sein –
ÜBERRASCHTE FRAGEN leise Freidenker, sagt er? Was? Redakteur Hovstad ein Freidenker?
HOVSTADT ruft Beweise, Doktor Stockmann! Wann habe ich das je geschrieben?
DOKTOR STOCKMANN überlegt Tod und Teufel, Sie haben recht; – den Mut hatten Sie nie. Gut, Herr
Hovstad, ich will Sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich will selbst der Freidenker sein. Und euch
allen aus der Naturwissenschaft beweisen, dass der »Volksbote« euch schändlich an der Nase
herumführt, wenn er euch weismacht, ihr, die Allgemeinheit, die Masse, die Menge, ihr seid der
Kern des Volkes. Das ist eine Zeitungslüge, versteht ihr! Die Allgemeinheit ist nur der Rohstoff, aus
dem das Volk als Volk hervorgeht.

Murren, Gelächter und Unruhe im Saal.

DOKTOR STOCKMANN So ist es doch überall in allen Lebensbereichen? Worin besteht denn der
Unterschied zwischen einer kultivierten und einer nicht kultivierten Tierfamilie. Nehmt ein
gemeines Bauernhuhn. Welchen Fleischwert hat so ein mageres Federvieh? Und was legt es für
Eier? Eine ordentliche Krähe oder ein Rabe legen fast genauso große Eier. Nehmt dagegen ein
kultiviertes spanisches oder japanisches Huhn, oder einen stolzen Fasan, oder eine Truthenne; – ja,
da seht ihr den Unterschied! Oder denkt an die Hunde, mit denen wir Menschen so ungeheuer nah
verwandt sind. Denkt euch zuerst einen gewöhnlichen Dorfhund, – ich meine so einen ekligen,
bissigen Köter, der sich auf den Straßen herumtreibt und an die Hauswände pisst. Und vergleicht
diesen Köter mit einem Pudel, dessen Stammbaum über Generationen durch vornehme Häuser
führte, wo er gutes Fressen bekam und Gelegenheit hatte, harmonische Stimmen und schöne Musik
zu hören. Glaubt ihr nicht, das Gehirn dieses Pudels ist weit höher entwickelt als das eines
Dorfköters? Verlasst euch drauf! Genau solche Pudel lernen bei den Zirkusleuten die
unglaublichsten Kunststücke. Ein gewöhnlicher Bauernköter lernt das nie, und wenn er sich auf den
Kopf stellt.

Lärm und Gelächter im ganzen Saal.

EIN BÜRGER ruft Wollen Sie uns zu Hunden machen?


EIN ANDERER MANN Wir sind keine Tiere, Herr Doktor!

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DOKTOR STOCKMANN Bei Gott, mein Lieber, wir sind Tiere! Und was für welche, alle wie wir hier
sind, besser kann man es nicht verlangen. Vornehme Tiere gibt es aber nur wenige unter uns. Glaubt
mir, die Differenz zwischen Pudelmenschen und Kötermenschen ist riesig. Das Lächerliche an der
Sache ist nur, dass Redakteur Hovstad ganz meiner Meinung ist, was die Vierbeiner anbelangt –
HOVSTADT Jawohl, lassen Sie die, wie sie sind.
DOKTOR STOCKMANN Gut, gut; sobald ich das Gesetz aber auf die Zweibeiner anwende, schreit Herr
Hovstad Halt; dann meint er seine eigene Meinung nicht mehr und denkt seine eigenen Gedanken
nicht zu Ende; dann stellt er lieber das ganze Gesetz auf den Kopf und verkündet im »Volksboten«,
der Bauernhahn und der Straßenköter – das seien die wahren Prachtexemplare der Menagerie. So ist
es eben, wenn einem das Gewöhnliche noch in den Knochen steckt; wenn man sich noch nicht
hochgearbeitet hat zu geistiger Vornehmheit.
HOVSTADT Auf Vornehmheit erhebe ich keinerlei Anspruch. Ich stamme von einfachen Bauern ab;
und ich bin stolz auf diese Wurzeln tief unten im gewöhnlichen Volk, das man hier verhöhnt.
VIELE ARBEITER Hurra, Hovstad! Hurra, hurra!
DOKTOR STOCKMANN Die Gewöhnlichkeit, von der ich spreche, die gibt es nicht nur in den unteren
Schichten: die gibt es mitten unter uns, – und bis hinauf in die Spitzen der Gesellschaft. Seht ihn
euch doch an, euren eigenen ehrenwerten Bürgermeister! Mein Bruder Peter ist doch die
Gewöhnlichkeit in Person –

Lachen und Zischen.

DER BÜRGERMEISTER Ich protestiere gegen diese persönlichen Angriffe.


DOKTOR STOCKMANN unbeirrt – und nicht etwa, weil er, genau wie ich, von irgendeinem barbarischen
Seeräuber aus Pommern oder sonst wo abstammt, – das tun wir nämlich –
DER BÜRGERMEISTER Ammenmärchen! Lüge!
DOKTOR STOCKMANN – sondern, weil er die Gedanken seiner Vorgesetzten denkt, weil er die
Meinungen seiner Vorgesetzten meint. Leute, die das tun, sind geistige Kleinbürger; und deshalb ist
mein großartiger Bruder Peter so erschreckend wenig vornehm, – folglich auch so wenig freisinnig.
DER BÜRGERMEISTER Herr Vorsitzender – !
HOVSTADT Also sind die Vornehmen in unserem Land die Freisinnigen? Ganz was Neues.

Lachen in der Versammlung.

DOKTOR STOCKMANN Jawohl, das gehört auch zu meiner neuen Entdeckung. Und außerdem gehört
dazu, dass Freisinn haarscharf dasselbe ist wie Moral. Und deshalb sage ich, ist es absolut
unverantwortlich vom »Volksboten«, wenn er tagaus, tagein die Irrlehre propagiert, die Menge und
die Masse, eben die kompakte Majorität, die sei im Besitz von Freisinn und Moral, – und Laster und
Verkommenheit und alle möglichen geistigen Schweinereien seien eine Folge der Kultur, so wie die
Schweinerei mit dem Bad eine Folge der Verseuchung durch die Gerbereien im oberen Mühltal ist!

Lärm und Unterbrechung.

DOKTOR STOCKMANN unbeirrt, lacht vor Eifer Dennoch predigt derselbe »Volksbote«, die Menge und
die Masse, die müssten auf ein höheres Lebensniveau gehoben werden! Nun, in Dreiteufelsnamen, –
wenn die Lehre des »Volksboten« zutrifft, dann wäre die Erhöhung der Masse zugleich ihr Sturz ins
Verderben! Glücklicherweise ist diese These von der demoralisierenden Wirkung der Kultur nur
eine antiquierte Volkslüge. Nein, Verdummung, Armut und miserable Lebensbedingungen, die sind
des Teufels Handlanger! In einem Haus, wo nicht gelüftet, wo nicht jeden Tag der Fußboden gefegt
wird – ; meine Frau Katrine behauptet sogar, der Fußboden müsste gewischt werden; aber darüber
kann man geteilter Meinung sein; – nun, – ich behaupte, in so einem Haus verlieren die Menschen
im Verlauf von zwei, drei Jahren die Fähigkeit, moralisch zu denken und zu handeln. Mangel an
Sauerstoff macht gewissenlos. Und Mangel an Sauerstoff herrscht anscheinend in sehr vielen
Häusern dieser Stadt, wenn die gesamte kompakte Majorität gewissenlos genug ist, die Zukunft der
Stadt auf einem Sumpf von Lug und Betrug aufzubauen.
ASLAKSEN Eine derart gröbliche Beleidigung der ganzen Bürgerschaft ist unzulässig.
EIN HERR Ich appelliere an den Vorsitzenden, dem Redner das Wort zu entziehen.
EIFRIGE STIMMEN Ja, ja! Richtig! Entzieht ihm das Wort!

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DOKTOR STOCKMANN Ausbruch An allen Straßenecken schreie ich die Wahrheit aus! Ich schreibe in
auswärtigen Zeitungen! Das ganze Land soll erfahren, was hier vorgeht!
HOVSTADT Der Doktor will die Stadt ruinieren.
DOKTOR STOCKMANN Jawohl, so sehr liebe ich meine Vaterstadt, dass ich sie lieber ruiniere, als dass
ich sie auf einer Lüge aufblühen sehen will.
ASLAKSEN Das ist stark.

Lärmen und Pfeifen. Frau Stockmann hustet vergebens; der Doktor hört es nicht.

HOVSTADT ruft in den Lärm Der Mann ist ein Bürgerfeind, der eine ganze Bürgerschaft ruinieren will!
DOKTOR STOCKMANN mit wachsender Erregung Was liegt mir am Ruin einer verlogenen
Bürgerschaft! Ich sage, macht sie dem Erdboden gleich! Rottet sie aus wie Ungeziefer, alle, die in
der Lüge leben. Ihr verpestet das Land; ihr bringt es soweit, dass das ganze Land verdient, ruiniert
zu werden. Und kommt es soweit, dann sage ich aus tiefstem Herzen: ruiniert das Land; rottet das
Volk aus!
EIN MANN in der Menge Der redet wie ein Volksfeind!
BILLING Das war Volkes Stimme! Gottverdammich!
DIE GANZE MENGE schreit Ja, ja, ja! Er ist ein Volksfeind! Er hasst sein Land! Er hasst das Volk!
ASLAKSEN Als Staatsbürger und als Mensch bin ich zutiefst empört über das, was ich hier hören muss.
Doktor Stockmann hat sich in einer Weise entlarvt, die ich mir nie hätte träumen lassen. Ich muss
mich daher leider dem Urteil anschließen, das eben von achtbaren Bürgern geäußert wurde; und ich
bin dafür, dass wir diesem Urteil Nachdruck verleihen durch eine Resolution. Ich schlage folgenden
Wortlaut vor: »Die Versammlung erklärt den Badearzt Doktor Tomas Stockmann zum Volksfeind.«

Stürmische Hurrarufe und Applaus. Viele bilden einen Kreis um den Doktor und pfeifen ihn aus. Frau
Stockmann und Petra sind aufgestanden. Morten und Ejlif prügeln sich mit den Schuljungen, die
gepfiffen haben. Einige Erwachsene trennen sie.

DOKTOR STOCKMANN zu den Pfeifern Oh, ihr Toren, – ich sage euch –
ASLAKSEN läutet Der Doktor hat nicht mehr das Wort. Ich fordere eine offizielle Abstimmung; um
persönliche Gefühle zu schonen, geschieht das schriftlich und anonym. Herr Billing, haben Sie
Papier?
BILLING Hier ist blaues und weißes –
ASLAKSEN steigt herunter Sehr gut; so gehts schneller. Machen Sie Zettel – ; so, ja. Zur Versammlung.
Blau bedeutet nein; weiß bedeutet ja. Ich werde die Stimmen persönlich einsammeln.

Der Bürgermeister verlässt den Saal. Aslaksen und ein paar andere Bürger gehen mit den Zetteln im
Hut in der Versammlung herum.

EIN HERR zu Hovstad Sie, was hat der Doktor? Was soll man davon halten?
HOVSTADT Sie wissen doch, wie schnell er den Kopf verliert.
EIN ZWEITER HERR zu Billing Sie da; Sie verkehren doch in dem Haus. Wissen Sie, ob der Mann trinkt?
BILLING Gottverdammich, was soll ich sagen. Kommt man zu ihm, schon steht der Toddy auf dem
Tisch.
EIN DRITTER HERR Nein, ich glaube, manchmal ist er verrückt.
DER ERSTE HERR Vielleicht ist das erblich in der Familie?
BILLING Gut möglich.
VIERTER HERR Nein, das ist pure Bosheit; oder Rache für irgendwas.
BILLING Vor ein paar Tagen hat er tatsächlich was gesagt von Gehaltserhöhung; die hat er aber nicht
bekommen.
ALLE HERREN übereinstimmend Ach so; deswegen!
DER BETRUNKENE in der Menge Ich willn blaun, ich! Undn weißn will ich auch!
RUFE Wieder der Besoffene! Raus mit ihm!
MORTEN KIIL nähert sich dem Doktor Na, Stockmann, jetzt sehen Sie, was bei solchen Streichen
herauskommt?
DOKTOR STOCKMANN Ich habe nur meine Pflicht getan.
MORTEN KIIL Wie war das mit den Gerbereien im Mühltal?

42
DOKTOR STOCKMANN Sie haben doch gehört; die sind schuld an der ganzen Schweinerei.
MORTEN KIIL Meine Gerberei auch?
DOKTOR STOCKMANN Leider, Ihre Gerberei ist die schlimmste.
MORTEN KIIL Wollen Sie das in die Zeitung bringen?
DOKTOR STOCKMANN Ich halte mit nichts hinterm Berg.
MORTEN KIIL Das wird teuer für Sie, Stockmann. Ab.
EIN FETTER HERR geht zu Horster, ohne die Damen zu begrüßen Kapitän, Sie überlassen also
Volksfeinden Ihr Haus?
HORSTER Ich denke, ich mache mit meinem Eigentum, was ich will, Herr Kommerzienrat.
DER KOMMERZIENRAT Sicher haben Sie nichts dagegen, wenn ich mit meinem Eigentum ebenso
verfahre.
HORSTER Wie meinen, Herr Kommerzienrat?
DER KOMMERZIENRAT Sie hören morgen von mir. Er dreht sich um und geht.
PETRA Horster, war das nicht Ihr Reeder?
HORSTER Ja, Kommerzienrat Vik.
ASLAKSEN mit den Stimmzetteln in der Hand, steigt auf das Podium und läutet Meine Herren, ich darf
Ihnen das Ergebnis der Abstimmung bekannt geben. Mit allen Stimmen gegen eine –
EIN JÜNGERER HERR Das war der Betrunkene!
ASLAKSEN Mit allen Stimmen, gegen die Stimme eines Alkoholisierten, erklärt diese
Bürgerversammlung den Badearzt Doktor Tomas Stockmann zum Volksfeind. Rufe und
Beifallsbekundungen. Hoch lebe unser altes, ehrbares Bürgertum! Wieder Beifallsrufe. Hoch lebe
unser tüchtiger und tätiger Bürgermeister, der so loyal die Stimme des Blutes unterdrückt hat!
Hurra. Die Versammlung ist geschlossen. Er steigt herunter.
BILLING Der Vorsitzende, er lebe hoch!
DIE GANZE MENGE Hurra, Buchdrucker Aslaksen!
DOKTOR STOCKMANN Petra, meinen Hut und meinen Mantel! Kapitän, haben Sie Platz für Passagiere
in die Neue Welt?
HORSTER Für Sie und die Ihren habe ich Platz, Herr Doktor.
DOKTOR STOCKMANN während Petra ihm in den Mantel hilft Gut. Komm, Katrine! Kommt, Jungs! Er
hakt seine Frau unter.
FRAU STOCKMANN leise Tomas, nehmen wir lieber die Hintertür.
DOKTOR STOCKMANN Keine Hintertüren, Katrine. Mit erhobener Stimme. Ihr werdet vom Volksfeind
hören, noch ehe er den Staub von seinen Füßen geschüttelt hat! Ich bin nicht so gnädig wie eine
gewisse Person; ich sage nicht: ich vergebe euch; denn ihr wisst nicht, was ihr tut.
ASLAKSEN ruft Das ist Gotteslästerung, Doktor Stockmann!
BILLING Gottver – – . So was lässt man sich bieten als ernsthafter Mensch.
EINE GROBE STIMME Der droht uns noch!
AUFHETZENDE RUFE Schlagt ihm die Fenster ein! In den Fjord mit ihm!
EIN MANN in der Menge Das Horn, Evensen! Tut, tut!

Tuten, Pfeifen und wilde Schreie. Der Doktor geht mit seiner Familie auf den Ausgang zu. Horster
bahnt ihnen den Weg.

DIE GANZE MENGE heult den Weggehenden hinterher Volksfeind! Volksfeind! Volksfeind!
BILLING indem er seine Notizen ordnet Nein, Gottverdammich, heute Abend möchte ich keinen Toddy
bei Stockmanns trinken!

Die Versammlung drängt zum Ausgang; der Lärm pflanzt sich draußen fort; von der Straße hört man
den Ruf: »Volksfeind! Volksfeind!«

43
FÜNFTER AKT

Doktor Stockmanns Arbeitszimmer. An den Wänden Bücherregale und Schränke mit diversen
Präparaten. Im Hintergrund Tür zum Korridor; links im Vordergrund Tür zum Wohnzimmer. Rechts
zwei Fenster mit eingeschlagenen Scheiben. Mitten im Zimmer der Schreibtisch des Doktors, voll mit
Büchern und Papieren. Das Zimmer ist durcheinander. Vormittag.

Doktor Stockmann, in Schlafrock, Pantoffeln und Mütze, angelt gebückt mit dem Regenschirm unter
einem der Schränke; schließlich zieht er einen Stein hervor.

DOKTOR STOCKMANN ruft durch die offene Wohnzimmertür Katrine, noch einer.
FRAU STOCKMANN im Wohnzimmer Du findest sicher noch viele.
DOKTOR STOCKMANN legt ihn zu einem Haufen anderer Steine auf den Tisch Diese Steine hüte ich wie
ein Heiligtum. Ejlif und Morten sollen sie sich jeden Tag ansehen, und wenn sie groß sind, vererbe
ich sie ihnen. Angelt unter einem Buchregal. War sie – zum Teufel, wie heißt sie bloß, – na, die
Gans, – war sie beim Glaser?
FRAU STOCKMANN kommt herein Natürlich, aber er weiß nicht, ob er heute noch Zeit hat.
DOKTOR STOCKMANN Pass auf, er wagt es nicht.
FRAU STOCKMANN Nein, Randine glaubt auch, er kommt nicht wegen der Nachbarn. Spricht ins
Wohnzimmer. Was ist, Randine? Ach so. Geht hinein und kommt gleich zurück. Tomas, ein Brief für
dich.
DOKTOR STOCKMANN Lass sehen. Öffnet und liest ihn. Aha.
FRAU STOCKMANN Von wem?
DOKTOR STOCKMANN Der Hausbesitzer. Er kündigt uns.
FRAU STOCKMANN Wirklich? Das war so ein anständiger Mensch –
DOKTOR STOCKMANN blickt auf den Brief Er wagt es nicht, schreibt er. Er tut es sehr ungern; aber er
wagt es nicht – die Mitbürger – Respekt vor der öffentlichen Meinung – er sei abhängig – wage
nicht, gewisse einflussreiche Persönlichkeiten vor den Kopf zu stoßen –
FRAU STOCKMANN Siehst du, Tomas.
DOKTOR STOCKMANN Ja, ja, ich sehe es; sind alle feige in dieser Stadt; kein Mensch wagt etwas vor
lauter Rücksicht auf die anderen. Wirft den Brief auf den Tisch. Uns kanns egal sein, Katrine. Wir
fahren in die Neue Welt –
FRAU STOCKMANN Tomas, hast du das wirklich überlegt, das mit der Reise?
DOKTOR STOCKMANN Soll ich vielleicht hier bleiben, wo man mich als Volksfeind an den Pranger
stellt, mich brandmarkt und mir die Fenster einschlägt! Sieh mal, Katrine; ein Loch haben sie mir
gerissen in meine schwarzen Hosen.
FRAU STOCKMANN Oh nein; deine Besten!
DOKTOR STOCKMANN Seine besten Hosen soll man eben nicht anziehen, wenn man für Freiheit und
Wahrheit kämpft. Die Hosen sind nicht so wichtig; die kannst du flicken. Aber dass der Mob und die
Masse es wagen, auf mich loszugehen, als wäre ich ihresgleichen, – das vertrage ich auf den Tod
nicht!
FRAU STOCKMANN Tomas, man hat dir übel mitgespielt in der Stadt; aber müssen wir deshalb gleich
das Land verlassen?
DOKTOR STOCKMANN Glaubst du, der Pöbel in anderen Städten ist besser? Das bleibt gehupft wie
gesprungen. Egal, sollen die Köter kläffen; das ist nicht das Schlimmste; das Schlimmste ist, dass
alle Menschen in diesem Land Parteisklaven sind. Im freien Westen ist es vielleicht nicht besser, da
regiert auch die kompakte Majorität und die liberale öffentliche Meinung und dieser ganze Quatsch.
Aber die Verhältnisse sind dort großzügiger; sie schlagen dich vielleicht tot, aber sie quälen dich
nicht; sie spannen eine freie Seele nicht auf die Folter wie bei uns. Notfalls hält man sich eben aus
allem raus. Geht durchs Zimmer. Wenn ich bloß wüsste, wie man billig an einen Urwald oder an
eine kleine Südseeinsel kommt –
FRAU STOCKMANN Und die Jungen, Tomas?
DOKTOR STOCKMANN bleibt stehen Du bist komisch, Katrine! Sollen die Jungen in dieser Gesellschaft
aufwachsen? Gestern Abend hast du selbst gesagt, die Hälfte der Bevölkerung sei komplett verrückt;
und ich sage, wenn die andere Hälfte den Verstand nicht verloren hat, dann nur deshalb, weil es
Schafsköpfe sind, die keinen Verstand zu verlieren haben.

44
FRAU STOCKMANN Tomas, du redest dich um Kopf und Kragen.
DOKTOR STOCKMANN Wieso! Stimmts etwa nicht? Drehen sie einem nicht das Wort im Mund herum?
Werfen Recht und Unrecht in einen Topf? Nennen Lüge, was für mich Wahrheit ist? Aber das
Wahnsinnigste ist, dass es hier lauter erwachsene, liberale Menschen gibt, die sich und anderen
einreden, sie seien freisinnig! Ist das nicht unerhört, Katrine!
FRAU STOCKMANN Ja, ja, es ist verrückt –

Petra kommt aus dem Wohnzimmer herein.

FRAU STOCKMANN Schon zurück aus der Schule?


PETRA Ja; und gekündigt.
FRAU STOCKMANN Gekündigt!
DOKTOR STOCKMANN Du auch!
PETRA Frau Busk hat mir gekündigt; da bin ich sofort gegangen.
DOKTOR STOCKMANN Sehr richtig, bei Gott!
FRAU STOCKMANN Das war schlecht von ihr, wer hätte das gedacht!
PETRA So schlecht ist sie gar nicht, Mutter; ich habe gemerkt, wie schwer es ihr fiel. Aber sie wagt es
nicht, hat sie gesagt; und hat mir gekündigt.
DOKTOR STOCKMANN lacht und reibt sich die Hände Sie wagt es nicht, sie auch nicht! Tadellos!
FRAU STOCKMANN Na ja, nach dem grässlichen Tumult gestern Abend –
PETRA Das allein wars nicht. Hör zu, Vater!
DOKTOR STOCKMANN Ja?
PETRA Frau Busk zeigte mir nicht weniger als drei Briefe, die sie heute Morgen bekommen hatte –
DOKTOR STOCKMANN Anonym?
PETRA Ja.
DOKTOR STOCKMANN Nicht mal den Namen wagen sie zu nennen, Katrine!
PETRA In zwei Briefen hieß es, ein Herr, der bei uns verkehre, habe gestern Abend im Club erzählt, ich
hätte außerordentlich freizügige Ansichten über gewisse Dinge –
DOKTOR STOCKMANN Das hast du hoffentlich nicht bestritten?
PETRA Nein, natürlich nicht; Frau Busk hat selbst ziemlich freie Ansichten, unter vier Augen; aber
nachdem das über mich kursierte, wagte sie nicht, mich zu behalten.
FRAU STOCKMANN Jemand, der bei uns verkehrt! Das hast du von deiner Gastfreundschaft, Tomas.
DOKTOR STOCKMANN Diese Schweinerei muss ein Ende haben. Katrine, pack, so schnell du kannst;
wir müssen weg, je eher, desto besser.
FRAU STOCKMANN Still; draußen ist jemand. Petra, sieh mal nach.
PETRA öffnet die Tür Oh, Kapitän Horster? Bitte, kommen Sie.
HORSTER kommt herein Guten Tag. Ich hatte das Gefühl, ich müsste mal bei Ihnen hereinschauen.
DOKTOR STOCKMANN schüttelt ihm die Hand Danke; wirklich nett von Ihnen.
FRAU STOCKMANN Und vielen Dank für Ihre Hilfe gestern Abend, Kapitän Horster.
PETRA Und wie sind Sie nach Hause gekommen?
HORSTER Ganz einfach; ich bin kein Schwächling, und diese Leute reißen nur das Maul auf.
DOKTOR STOCKMANN Feige Schweine, alle miteinander! Kommen Sie, ich zeige Ihnen was! Das sind
die Steine, die sie bei uns reingeschmissen haben. Fällt Ihnen was auf? Im ganzen Haufen nur zwei
ordentliche Brocken; der Rest Kleinkram. Draußen haben sie getobt und geschrieen, sie wollten
mich massakrieren; aber Taten – Taten – nein, die gibt es hier nicht!
HORSTER Glück für Sie, Herr Doktor.
DOKTOR STOCKMANN Sicher. Trotzdem ist es ärgerlich; käme es zu einer ernsten, landespolitischen
Auseinandersetzung, was glauben Sie, Kapitän Horster, wie schnell die öffentliche Meinung Reißaus
nimmt und die kompakte Majorität sich wie eine Herde Schafe im Wald verkriecht. Das ist das
Traurige; das schmerzt mich – . Ach, Unsinn! Wenn die sagen, ich bin ein Volksfeind, dann bin ich
auch ein Volksfeind.
FRAU STOCKMANN Du nie, Tomas.
DOKTOR STOCKMANN Sag das nicht, Katrine. Ein böses Wort wirkt manchmal wie ein
stecknadelgroßes Loch in der Lunge. Dieses verfluchte Wort – ; ich werds nicht los; es sitzt fest, hier
in der Herzgegend; und zieht und bohrt wie Säure. Dagegen hilft kein Magnesium.
PETRA Ach, Vater; lach über sie.
HORSTER Eines Tages werden die Leute anders darüber denken, Herr Doktor.

45
FRAU STOCKMANN Ja, Tomas, ganz sicher.
DOKTOR STOCKMANN Ja, wenns zu spät ist. Aber dann können sie mich gern haben! Sollen sie in
ihrem eigenen Dreck ersticken und bereuen, dass sie einen Patrioten außer Landes gejagt haben.
Wann fahren Sie, Kapitän Horster?
HORSTER Hm, – deswegen bin ich hier, ich muss mit Ihnen sprechen –
DOKTOR STOCKMANN Ist etwas mit dem Schiff?
HORSTER Nein, mit mir; ich fahre nicht.
PETRA Hat man Sie etwa gekündigt?
HORSTER lächelt Allerdings.
PETRA Sie auch.
FRAU STOCKMANN Siehst du, Tomas.
DOKTOR STOCKMANN Und alles wegen der Wahrheit! Hätte ich das geahnt –
HORSTER Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen; ich finde bestimmt Arbeit, bei einer Reederei
außerhalb.
DOKTOR STOCKMANN Man stelle sich vor, – Reeder Vik, – ein reicher Mann, vollkommen unabhängig
– ! Pfui Teufel!
HORSTER Im Grunde ist er seriös; er hätte mich gern behalten, wenn er es wagen könnte –
DOKTOR STOCKMANN Aber er wagte es nicht? Nein, versteht sich!
HORSTER Es sei nicht leicht, hat er gesagt, wenn man einer Partei angehört –
DOKTOR STOCKMANN Das wahre Wort eines Ehrenmannes! Eine Partei ist wie ein Fleischwolf; die
macht Grütze aus allen Köpfen; daher kommen alle diese Grütz- und Schwachköpfe!
FRAU STOCKMANN Tomas!
PETRA zu Horster Hätten Sie uns bloß nicht nach Hause gebracht; dann wäre Ihnen das nicht passiert.
HORSTER Ich bedaure nichts.
PETRA reicht ihm die Hand Danke!
HORSTER zum Doktor Wenn Sie wirklich das Land verlassen wollen, schlage ich Ihnen vor –
DOKTOR STOCKMANN Hauptsache, wir sind bald weg –
FRAU STOCKMANN Pst; es hat geklopft?
PETRA Der Onkel.
DOKTOR STOCKMANN Aha! Ruft. Herein!
FRAU STOCKMANN Lieber Tomas, bitte versprich mir –

Bürgermeister Stockmann kommt vom Korridor.

DER BÜRGERMEISTER in der Tür Du bist beschäftigt. Ich werde später –


DOKTOR STOCKMANN Nein, nein; komm nur.
DER BÜRGERMEISTER Ich muss dich unter vier Augen sprechen.
FRAU STOCKMANN Wir gehen ins Wohnzimmer.
HORSTER Ich komme wieder.
DOKTOR STOCKMANN Nein, bleiben Sie, Kapitän Horster; ich muss Sie noch –
HORSTER Gut, ich warte.

Er geht mit Frau Stockmann und Petra ins Wohnzimmer. Der Bürgermeister sagt nichts, betrachtet
aber die Fenster.

DOKTOR STOCKMANN Ziemlich luftig hier, was? Setz deinen Zweispitz auf.
DER BÜRGERMEISTER Danke, wenn du gestattest. Tut es. Ich glaube, ich habe mich gestern erkältet;
ich habe gefroren –
DOKTOR STOCKMANN So? Ich fand es verdammt heiß.
DER BÜRGERMEISTER Ich bedauere, dass die Verhinderung der nächtlichen Exzesse nicht in meiner
Macht stand.
DOKTOR STOCKMANN Hast du mir sonst noch was zu sagen?
DER BÜRGERMEISTER zieht einen großen Brief heraus Hier, ein Schreiben der Direktion des Bades.
DOKTOR STOCKMANN Ich bin gekündigt?
DER BÜRGERMEISTER Fristlos, ab sofort. Legt den Brief auf den Tisch. Es tut uns leid; aber – offen
gesagt – wir wagten es nicht, mit Rücksicht auf die allgemeine Meinung.
DOKTOR STOCKMANN lächelt Ihr wagtet es nicht? Das Wort habe ich heute des öfteren gehört.

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DER BÜRGERMEISTER Bitte, mach dir deine Situation klar. In Zukunft gibt es für dich auch keine
Praxis in der Stadt.
DOKTOR STOCKMANN Zum Teufel mit der Praxis! Woher weißt du das?
DER BÜRGERMEISTER Der Hausbesitzerverein lässt eine Liste von Tür zu Tür gehen. Alle
rechtschaffenen Bürger sind aufgefordert, dich nicht mehr zu konsultieren; ich versichere dir, kein
einziger Familienvater verweigert seine Unterschrift; man wagt es nicht, sehr einfach.
DOKTOR STOCKMANN Das bezweifle ich nicht. Und dann?
DER BÜRGERMEISTER Wenn ich dir einen Rat geben darf, verlass die Stadt für einige Zeit –
DOKTOR STOCKMANN Das werde ich.
DER BÜRGERMEISTER Gut. Und wenn ein halbes Jahr vergangen ist und du nachgedacht hast und dich
nach reiflicher Überlegung entschließen könntest, deinen Irrtum mit ein paar Worten des Bedauerns
zurückzunehmen –
DOKTOR STOCKMANN Dann könnte ich vielleicht meine Stelle wiederhaben, meinst du?
DER BÜRGERMEISTER Vielleicht; gar nicht ausgeschlossen.
DOKTOR STOCKMANN Und die öffentliche Meinung? Ihr wagt es doch nicht, wegen der öffentlichen
Meinung.
DER BÜRGERMEISTER Die öffentliche Meinung ist äußerst variabel. Ehrlich gesagt, es liegt uns sehr an
einem derartigen Zugeständnis von deiner Seite.
DOKTOR STOCKMANN Ja, danach leckt ihr euch das Maul! Zum Teufel, du weißt doch, was ich von
euren Tricks halte!
DER BÜRGERMEISTER Damals war deine Position wesentlich günstiger; damals konntest du davon
ausgehen, dass du die ganze Stadt hinter dir hattest –
DOKTOR STOCKMANN Jawohl, und jetzt soll ich spüren, dass mir die ganze Stadt im Nacken sitzt – .
Ausbruch. Niemals, und wenn mir der Teufel und seine Großmutter im Nacken sitzen – ! Niemals, –
niemals, sage ich!
DER BÜRGERMEISTER Ein Familienvater wagt nicht, so zu handeln. Tomas, das wagst du nicht.
DOKTOR STOCKMANN Ich, nicht wagen! Es gibt nur eins auf der Welt, was ein freier Mann nicht wagt;
weißt du, was das ist?
DER BÜRGERMEISTER Nein.
DOKTOR STOCKMANN Natürlich nicht; ich sags dir. Ein freier Mann wagt nicht, wie ein Schweinehund
zu handeln; er wagt es nicht, sonst müsste er sich selbst ins Gesicht spucken!
DER BÜRGERMEISTER Klingt außerordentlich plausibel; wenn es nicht einen anderen Grund für deinen
Starrsinn gäbe – ; den gibt es aber –
DOKTOR STOCKMANN Was meinst du?
DER BÜRGERMEISTER Das weißt du sehr gut. Als dein Bruder und als besonnener Mensch rate ich dir
jedoch, verlass dich nicht auf Hoffnungen und Aussichten, die allzu leicht fehlschlagen können.
DOKTOR STOCKMANN Was in aller Welt soll das heißen?
DER BÜRGERMEISTER Willst du mir etwa erzählen, du wüsstest nichts von den testamentarischen
Verfügungen, die Gerbermeister Kiil getroffen hat?
DOKTOR STOCKMANN Ich weiß, dass das wenige, was er hat, einer Stiftung für alte, notleidende
Handwerker zufallen soll. Was geht mich das an?
DER BÜRGERMEISTER Erstens ist es nicht wenig. Gerbermeister Kiil ist ein ziemlich reicher Mann.
DOKTOR STOCKMANN Ich hatte keine Ahnung – !
DER BÜRGERMEISTER Ach, – wirklich? Du hast also auch keine Ahnung, dass ein nicht unbedeutender
Teil seines Vermögens an deine Kinder fällt, und dass die Zinsen in Form einer Leibrente an dich
und deine Frau gehen? Das hat er dir nicht gesagt?
DOKTOR STOCKMANN Weiß Gott nicht! Im Gegenteil; er jammert ständig über die ungeheuren
Steuern, die er zahlen muss. Peter, bist du ganz sicher?
DER BÜRGERMEISTER Ich weiß es aus zuverlässigster Quelle.
DOKTOR STOCKMANN Herrgott, dann ist Katrine ja gesichert, – und die Kinder! Das muss ich Katrine
sofort erzählen – Ruft. Katrine, Katrine!
DER BÜRGERMEISTER hält ihn zurück Pst, sag noch nichts!
FRAU STOCKMANN öffnet die Tür Was ist denn?
DOKTOR STOCKMANN Nichts, du; geh nur wieder.

Frau Stockmann schließt die Tür.

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DOKTOR STOCKMANN geht herum Gesichert! Unglaublich, – alle gesichert! Auf Lebenszeit! Oh, ist
das ein wunderbares Gefühl, gesichert zu sein!
DER BÜRGERMEISTER Genau das bist du nicht. Gerbermeister Kiil kann das Testament jederzeit
annullieren.
DOKTOR STOCKMANN Das tut er nicht, mein lieber Peter. Der alte Dachs freut sich diebisch, dass ich
dir und deinen schlauen Freunden an den Kragen gehe.
DER BÜRGERMEISTER stutzt und sieht ihn fragend an Jetzt wird mir einiges klar.
DOKTOR STOCKMANN Einiges, was?
DER BÜRGERMEISTER Das Ganze ist also ein Komplott! Deine brutalen und rücksichtslosen Attacken –
im Namen der Wahrheit – gegen die führenden Männer der Stadt –
DOKTOR STOCKMANN Was; was?
DER BÜRGERMEISTER – sind also nichts anderes, als die Gegenleistung für das Testament des alten
rachsüchtigen Morten Kiil zu deinen Gunsten.
DOKTOR STOCKMANN fast sprachlos Peter, – du bist wirklich der infamste Mensch, der mir je
begegnet ist.
DER BÜRGERMEISTER Zwischen uns ist es aus. Die Kündigung ist unwiderruflich; – jetzt haben wir
Waffen gegen dich. Ab.
DOKTOR STOCKMANN Pfui, pfui, pfui! Ruft. Katrine! Lass den Boden schrubben, wo er gestanden hat!
Schick sie her mit dem Wassereimer, sie – die – zum Teufel – , na, die Triefnase –
FRAU STOCKMANN in der Wohnzimmertür Pst, pst, Tomas!
PETRA ebenfalls in der Tür Vater, Großvater ist da, er will dich allein sprechen.
DOKTOR STOCKMANN Kein Problem. Bei der Tür. Kommen Sie, Schwiegervater.

Morten Kiil kommt herein. Der Doktor schließt hinter ihm die Tür.

DOKTOR STOCKMANN Nun, um was gehts? Setzen Sie sich.


MORTEN KIIL Nicht setzen. Sieht sich um. Nett siehts heute bei Ihnen aus, Stockmann.
DOKTOR STOCKMANN Finden Sie?
MORTEN KIIL Wirklich nett; und frische Luft haben Sie auch; und genug von dem sauren Stoff, von
dem Sie gestern gesprochen haben. Heute müssen Sie ein sehr gutes Gewissen haben.
DOKTOR STOCKMANN Das habe ich.
MORTEN KIIL Dachte ich mir. Schlägt sich auf die Brust. Wissen Sie, was ich hier habe?
DOKTOR STOCKMANN Auch ein gutes Gewissen, hoffe ich.
MORTEN KIIL Quatsch! Was viel Besseres. Er zieht eine dicke Brieftasche heraus, klappt sie auf und
zeigt einige Papiere.
DOKTOR STOCKMANN sieht ihn erstaunt an Badeaktien?
MORTEN KIIL Leicht zu kriegen heute.
DOKTOR STOCKMANN Sie haben gekauft – ?
MORTEN KIIL Mit meinem gesamten Vermögen.
DOKTOR STOCKMANN Lieber Schwiegervater, – das Bad ist ruiniert –
MORTEN KIIL Seien Sie vernünftig, und das Bad floriert.
DOKTOR STOCKMANN Ich tue alles, was ich kann, das sehen Sie doch, aber – . Die Leute in der Stadt
sind verrückt!
MORTEN KIIL Gestern haben Sie gesagt, die größte Schweinerei kommt aus meiner Gerberei. Wenn
das stimmt, dann müssen mein Großvater, mein Vater und ich wie drei Würgeengel die Stadt
jahrzehntelang verseucht haben. Glauben Sie, die Schande lasse ich auf mir sitzen?
DOKTOR STOCKMANN Leider bleibt Ihnen nichts anderes übrig.
MORTEN KIIL Danke bestens. Ich bestehe auf meinem guten Namen und Ruf. Ich weiß, die Leute
nennen mich den »Dachs«. Ein Dachs, das ist so ein Dreckschwein; aber die Leute täuschen sich. Ich
lebe und sterbe als sauberer Mensch.
DOKTOR STOCKMANN Wie wollen Sie das anstellen?
MORTEN KIIL Sie sollen mich sauber machen, Stockmann.
DOKTOR STOCKMANN Ich!
MORTEN KIIL Wissen Sie, mit welchem Geld ich die Aktien gekauft habe? Nein, das können Sie nicht
wissen; ich sage es Ihnen. Das ist das Geld, das Katrine und Petra und die Jungs von mir erben
sollen. Ein wenig hatte ich schon auf die Seite gelegt.
DOKTOR STOCKMANN Ausbruch Katrines Geld – dafür!

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MORTEN KIIL Jawohl, das ganze Geld steckt jetzt im Bad. Jetzt will ich doch sehen, ob Sie verrückt
sind – Stockmann – , komplett verrückt. Wenn Sie weiter behaupten, dass Tiere und solche ekligen
Dinge aus meiner Gerberei kommen, dann heißt das, dass Sie Katrines Haut zu Markte tragen, und
Petras, und die der Jungen; das tut kein anständiger Familienvater, – oder er ist verrückt!
DOKTOR STOCKMANN geht hin und her Ich bin verrückt; ich bin ein Verrückter!
MORTEN KIIL So verrückt können Sie nicht sein, es geht um Frau und Kinder.
DOKTOR STOCKMANN bleibt plötzlich vor ihm stehen Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt;
bevor Sie die Papiere kauften!
MORTEN KIIL Frisch gewagt ist halb gewonnen.
DOKTOR STOCKMANN läuft unruhig herum Wäre ich meiner Sache nicht so verdammt sicher – ! Aber
ich bin absolut überzeugt, dass ich Recht habe.
MORTEN KIIL wiegt die Brieftasche in der Hand Wenn Sie weitermachen mit Ihren Verrücktheiten, ist
das hier keinen Pfifferling wert. Er steckt die Brieftasche weg.
DOKTOR STOCKMANN Zum Teufel, die Wissenschaft muss doch irgendein Gegenmittel kennen;
Präventivmaßnahmen –
MORTEN KIIL Womit man die Tiere umbringt?
DOKTOR STOCKMANN Ja, oder unschädlich macht.
MORTEN KIIL Probieren Sies mal mit Rattengift?
DOKTOR STOCKMANN Unsinn, Unsinn! – Alle Leute sagen, es sei reine Einbildung. Also ist es
vielleicht nur Einbildung! Sollen sie ihren Willen haben! Bin ich für diese dummen, engherzigen
Köter nicht ein Volksfeind; – waren sie nicht drauf und dran, mir die Kleider vom Leib zu reißen!
MORTEN KIIL Und haben Ihnen sämtliche Fensterscheiben eingeschlagen!
DOKTOR STOCKMANN Meine Pflichten und meine Familie! Darüber muss ich mit Katrine sprechen; die
kennt sich aus in solchen Dingen.
MORTEN KIIL Brav, brav; hören Sie auf den Rat einer klugen Frau.
DOKTOR STOCKMANN geht auf ihn los Das war heimtückisch von Ihnen! Katrines Geld aufs Spiel zu
setzen; mir diese Falle zu stellen! Wenn ich Sie ansehe, kommen Sie mir vor wie der Satan
persönlich – !
MORTEN KIIL Dann gehe ich lieber. Aber ich will von Ihnen Bescheid bis zwei. Ja oder Nein. Bei Nein
gehen die Aktien an die Stiftung, – noch heute.
DOKTOR STOCKMANN Und Katrine bekommt?
MORTEN KIIL Nichts.

Die Tür zum Korridor geht auf. Redakteur Hovstad und Buchdrucker Aslaksen erscheinen draußen.

MORTEN KIIL Nanu, die beiden!


DOKTOR STOCKMANN starrt sie an Was! Sie haben die Stirn, zu mir zu kommen!
HOVSTADT Warum nicht?
ASLAKSEN Wir müssen etwas mit Ihnen besprechen.
MORTEN KIIL flüstert Ja oder Nein – bis zwei.
ASLAKSEN mit einem Blick zu Hovstad Aha!

Morten Kiil ab.

DOKTOR STOCKMANN Was wollen Sie? Bitte kurz.


HOVSTADT Ich verstehe, dass Sie etwas gegen uns haben, wegen unserer Haltung in der Versammlung
gestern –
DOKTOR STOCKMANN Haltung? Wahrhaftig, eine schöne Haltung! Ich nenne das haltungslos, feige – .
Pfui Teufel!
HOVSTADT Nennen Sie es, wie Sie wollen; wir konnten nicht anders.
DOKTOR STOCKMANN Sie wagten es nicht? Oder?
HOVSTADT Wie Sie meinen.
ASLAKSEN Warum haben Sie nicht vorher ein Wörtchen fallen lassen? Ein kleiner Wink hätte genügt,
zu Herrn Hovstad oder zu mir.
DOKTOR STOCKMANN Kleiner Wink? Wieso?
ASLAKSEN Wegen dem, was dahinter steckt.
DOKTOR STOCKMANN Ich verstehe nicht.

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ASLAKSEN nickt vertraulich Aber Doktor Stockmann, ich bitte Sie.
HOVSTADT Das braucht man doch nicht länger geheim zu halten.
DOKTOR STOCKMANN sieht sie abwechselnd an Tod und Teufel – !
ASLAKSEN Darf ich fragen, – Ihr Schwiegervater geht in der Stadt herum und kauft alle Badeaktien
auf?
DOKTOR STOCKMANN Er hat heute Badeaktien gekauft, ja; und – ?
ASLAKSEN Klüger wäre es gewesen, Sie hätten jemand anders damit beauftragt, – jemand, der Ihnen
nicht so nahe steht.
HOVSTADT Und Ihr Name hätte nicht genannt werden dürfen. Niemand brauchte zu wissen, dass der
Angriff gegen das Bad von Ihnen kam. Sie hätten mich fragen sollen, Doktor Stockmann.
DOKTOR STOCKMANN sieht vor sich hin; ihm scheint ein Licht aufzugehen, und er sagt entgeistert Ist
das die Möglichkeit? Gibt es das?
ASLAKSEN lächelt Wie man sieht. Nur muss man es haarklein einfädeln, verstehen Sie.
HOVSTADT Und es müssen mehrere sein; je mehr Personen, desto geringer das Risiko.
DOKTOR STOCKMANN gefasst Kurz und gut, meine Herren, – was wollen Sie?
ASLAKSEN Herr Hovstad wird das am besten –
HOVSTADT Nein, sagen Sie es, Aslaksen.
ASLAKSEN Na ja, also, wo wir jetzt wissen, wie alles zusammenhängt, sind wir zu der Überzeugung
gekommen, dass wir Ihnen den »Volksboten« wieder zur Verfügung stellen können.
DOKTOR STOCKMANN Jetzt wagen Sie es? Und die öffentliche Meinung? Fürchten Sie nicht, dass man
Sturm laufen wird gegen uns?
HOVSTADT Den Sturm werden wir stillen.
ASLAKSEN Herr Doktor müssen dann eine schnelle Kehrtwendung machen. Sobald Ihr Angriff seinen
Zweck erfüllt hat –
DOKTOR STOCKMANN Sie meinen, sobald mein Schwiegervater und ich die Badeaktien zu einem
Spottpreis aufgekauft haben – ?
HOVSTADT Die Leitung des Bades wollen Sie doch nur aus rein wissenschaftlichen Gründen.
DOKTOR STOCKMANN Versteht sich; aus rein wissenschaftlichen Gründen habe ich den alten Dachs
überredet mitzumachen. Dann manipulieren wir ein bisschen an der Wasserleitung herum und
graben den Strand auf, ohne dass es die Stadtkasse auch nur eine halbe Krone kostet. Das müsste
doch klappen? Was meinen Sie?
HOVSTADT Ich denke schon, – wenn Sie den »Volksboten« auf Ihrer Seite haben.
ASLAKSEN Die Presse, Herr Doktor, das ist eine Macht in der freien Gesellschaft.
DOKTOR STOCKMANN Natürlich; und die öffentliche Meinung ebenfalls; Sie, Herr Aslaksen,
übernehmen gewiss den Hausbesitzerverein?
ASLAKSEN Den Hausbesitzerverein und den Mäßigungsverein, beide. Verlassen Sie sich auf mich.
DOKTOR STOCKMANN Meine Herren – ; ja, ich schäme mich fast, zu fragen; aber, – welche
Gegenleistung – ?
HOVSTADT Verstehen Sie, Ihnen würden wir am liebsten umsonst helfen. Nur, der »Volksbote« steht
auf schwachen Füßen; es geht nicht recht vorwärts mit ihm; aber das Blatt einstellen, jetzt, wo es so
viel zu bewegen gilt in der großen Politik, das würde ich sehr ungern.
DOKTOR STOCKMANN Selbstverständlich; das würde Ihnen schwer fallen, Ihnen als Volksfreund.
Ausbruch. Aber ich bin ein Volksfeind! Läuft im Zimmer herum. Wo ist mein Stock? Teufel auch,
wo habe ich meinen Stock?
HOVSTADT Was soll das heißen?
ASLAKSEN Sie wollen doch nicht – ?
DOKTOR STOCKMANN bleibt stehen Und wenn ich Ihnen von meinen Aktien nichts gebe? Bei uns
reichen Leuten sitzt das Geld nicht locker, das wissen Sie doch.
HOVSTADT Und Sie wissen, dass man die Aktiengeschichte von zwei Seiten sehen kann.
DOKTOR STOCKMANN Das glaube ich Ihnen aufs Wort; wenn ich dem »Volksboten« nicht helfe, haben
Sie gewiss eine sehr unangenehme Sicht auf die Geschichte; ich stelle mir vor, Sie machen Jagd auf
mich, – Sie hetzen mich, – Sie versuchen mich zu würgen, wie der Hund den Hasen würgt!
HOVSTADT Naturgesetz; jedes Tier will überleben.
ASLAKSEN Man sucht sein Fressen, wo man es findet, verstehen Sie.
DOKTOR STOCKMANN Suchen Sie es draußen in der Gosse. Saust durchs Zimmer. Tod und Teufel,
jetzt soll sich zeigen, wer von uns dreien das stärkste Tier ist. Findet den Schirm und schwingt ihn.
Hei, aufgepasst – !

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HOVSTADT Wollen Sie sich etwa an uns vergreifen!
ASLAKSEN Vorsicht, der Schirm!
DOKTOR STOCKMANN Aus dem Fenster mit Ihnen, Herr Hovstad!
HOVSTADT an der Korridortür Sind Sie verrückt!
DOKTOR STOCKMANN Aus dem Fenster, Herr Aslaksen! Springen Sie, sage ich! Jetzt oder nie.
ASLAKSEN läuft um den Schreibtisch herum Mäßigung, Herr Doktor; ich bin ein hilfloser Mann; ich
vertrage keine – Schreit. Hilfe, Hilfe!

Frau Stockmann, Petra und Horster kommen aus dem Wohnzimmer.

FRAU STOCKMANN Gott im Himmel, Tomas, was ist hier los!


DOKTOR STOCKMANN schwingt den Regenschirm Springen Sie, sage ich! In die Gosse!
HOVSTADT Überfall auf wehrlose Menschen! Kapitän Horster, Sie sind mein Zeuge. Er verschwindet
schnell über den Korridor.
ASLAKSEN verwirrt Würde ich hier die lokalen Verhältnisse kennen – Schleicht durchs Wohnzimmer
hinaus.
FRAU STOCKMANN hält den Doktor fest Tomas, komm zu dir!
DOKTOR STOCKMANN wirft den Regenschirm weg Mein Gott, sie sind mir entwischt.
FRAU STOCKMANN Was wollten sie denn?
DOKTOR STOCKMANN Erfährst du später; ich muss rasch was erledigen. Geht zum Tisch und schreibt
etwas auf eine Visitenkarte. Komm her, Katrine; was steht da?
FRAU STOCKMANN Drei große Nein; was bedeutet das?
DOKTOR STOCKMANN Erfährst du auch später. Hält die Karte hin. Hier, Petra; sag der Triefnase, sie
soll das zum Dachs bringen, so schnell sie kann. Beeil dich!

Petra geht mit der Karte durch die Korridortür.

DOKTOR STOCKMANN Wenn heute nicht alle Abgesandten der Hölle bei mir waren, dann weiß ich
nicht. Ich mache meine Feder gegen sie zu einem Dolch; ich tauche sie in Gift und Galle; ich werfe
ihnen mein Tintenfass an den Schädel!
FRAU STOCKMANN Tomas, wir reisen doch.

Petra kommt zurück.

DOKTOR STOCKMANN Nun?


PETRA Erledigt.
DOKTOR STOCKMANN Gut. – Reisen, sagst du? Den Teufel werden wir tun; wir bleiben, wo wir sind,
Katrine!
PETRA Wir bleiben!
FRAU STOCKMANN Hier in der Stadt?
DOKTOR STOCKMANN Genau hier; hier ist der Kampfplatz; hier wird die Schlacht geschlagen; hier will
ich siegen! Wenn du meine Hosen geflickt hast, gehe ich in die Stadt und suche uns ein Haus; zum
Winter brauchen wir ein Dach über dem Kopf.
HORSTER Das finden Sie bei mir.
DOKTOR STOCKMANN Ist das wahr?
HORSTER Natürlich; Zimmer habe ich genug, und zu Hause bin ich fast nie.
FRAU STOCKMANN Wie schön von Ihnen, Horster.
PETRA Danke!
DOKTOR STOCKMANN reicht ihm die Hand Danke, danke! Die Sorge sind wir also los. Jetzt mache ich
Ernst. Oh, hier gibt es unendlich viel zu tun, Katrine! Gut, dass ich jetzt so viel Zeit habe; ach,
übrigens, ich bin gekündigt –
FRAU STOCKMANN seufzt Das habe ich erwartet.
DOKTOR STOCKMANN – die Praxis wollen sie mir auch wegnehmen. Sollen sie! Die Armen behalte ich
sowieso, – die nichts bezahlen können; und die brauchen mich, Gott sei Dank, am nötigsten. Aber
dafür sollen sie mir zuhören, zum Teufel; ich will ihnen predigen, zur Zeit und zur Unzeit, wie
geschrieben steht.
FRAU STOCKMANN Lieber Tomas, du siehst doch, was das Predigen nützt.

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DOKTOR STOCKMANN Du bist komisch, Katrine. Soll ich mich etwa in die Flucht schlagen lassen von
der öffentlichen Meinung und der kompakten Majorität und diesem verdammten Quatsch? Nein,
danke! Was ich will, ist einfach, klar und deutlich. Ich will diesen Kötern in die Köpfe hämmern,
dass die Liberalen die schlimmsten Feinde des freien Mannes sind, – dass die Parteiprogramme allen
jungen lebendigen Wahrheiten den Hals brechen, – dass die rücksichtsvollen Rücksichten Moral und
Rechtschaffenheit auf den Kopf stellen, so dass das Leben in diesem Land unerträglich wird.
Kapitän Horster, was meinen Sie, das werde ich den Leuten doch noch beibringen können?
HORSTER Mag sein; davon verstehe ich nichts.
DOKTOR STOCKMANN Doch, – hören Sie! Die Partei-Häuptlinge, die muss man ausrotten. Ein
Parteihäuptling ist wie ein Wolf, verstehen Sie, – so ein verschlagener Isegrim; – der braucht pro Jahr
soundsoviel Stück Kleinvieh zum Leben. Denken Sie an Hovstad und Aslaksen! Wieviel Kleinvieh
die umbringen; oder anfallen und zu Krüppeln machen, so dass sie nichts anderes werden können als
Hausbesitzer und Abonnenten des »Volksboten«! Setzt sich halb auf den Tisch. Nein, Katrine, komm
doch mal, – sieh nur, wie schön die Sonne hereinfällt. Und diese herrliche, frische Frühlingsluft hier
drinnen.
FRAU STOCKMANN Ach, Tomas, wenn wir von Sonnenschein und Frühlingsluft leben könnten.
DOKTOR STOCKMANN Du sparst eben an allen Ecken und Enden, – dann gehts. Das ist meine kleinste
Sorge. Nein, was viel schlimmer ist, ich kenne keinen freien und vornehmen Mann, der es wagen
würde, mein Werk fortzuführen, wenn ich mal nicht mehr bin.
PETRA Ach Vater, denk nicht an so was; das hat Zeit. – Nanu, da kommen die Jungen.

Ejlif und Morten kommen aus dem Wohnzimmer herein.

FRAU STOCKMANN Habt ihr heute frei?


MORTEN Nein; wir haben uns mit den anderen in der Pause geprügelt –
EJLIF Gar nicht; die anderen haben sich mit uns geprügelt.
MORTEN Ja, und da hat Herr Rørlund gesagt, wir sollen ein paar Tage zu Hause bleiben, das wäre das
Beste.
DOKTOR STOCKMANN schnippt mit den Fingern und springt vom Tisch Ich habs! Bei Gott, ich habs!
Nie wieder setzt ihr euren Fuß in die Schule!
DIE JUNGEN Nie wieder Schule!
FRAU STOCKMANN Tomas –
DOKTOR STOCKMANN Niemals, sage ich! Ich will euch selbst unterrichten; – das heißt, ihr sollt nicht
irgendwas lernen –
MORTEN Hurra!
DOKTOR STOCKMANN – sondern ich will euch erziehen, zu freien, vornehmen Männern. – Und du,
Petra, hilfst mir dabei.
PETRA Bestimmt, Vater.
DOKTOR STOCKMANN Und die Schule, die machen wir in dem Saal, wo man mich zum Volksfeind
erklärt hat. Aber wir müssen mehr sein; für den Anfang brauche ich mindestens zwölf Jungen.
FRAU STOCKMANN Die findest du hier nie.
DOKTOR STOCKMANN Abwarten. Zu den Jungen. Kennt ihr nicht irgendwelche Straßenlümmel, –
richtige Rowdys – ?
MORTEN Vater, ich kenn ganz viele!
DOKTOR STOCKMANN Sehr gut; bring sie her. Ich will mit diesen Kötern ein Experiment machen,
ausnahmsweise; manch einer hat einen bemerkenswerten Kopf.
MORTEN Und wenn wir freie und vornehme Männer sind, was machen wir dann?
DOKTOR STOCKMANN Dann jagt ihr alle Wölfe hinüber in den Wilden Westen, Jungs!

Ejlif sieht etwas besorgt aus; Morten springt in die Luft und ruft hurra.

FRAU STOCKMANN Hauptsache, die Wölfe jagen dich nicht, Tomas.


DOKTOR STOCKMANN Bist du verrückt, Katrine! Mich jagen! Jetzt, wo ich der stärkste Mann der Stadt
bin!
FRAU STOCKMANN Der stärkste – jetzt?
DOKTOR STOCKMANN Ja, ich wage sogar das große Wort und sage, jetzt bin ich einer der stärksten
Männer der Welt.

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MORTEN Ach so?
DOKTOR STOCKMANN senkt die Stimme Pst; ihr dürft noch nicht darüber sprechen; denn jetzt kommt
meine große Entdeckung.
FRAU STOCKMANN Schon wieder?
DOKTOR STOCKMANN Selbstverständlich! Selbstverständlich! Sammelt sie um sich und sagt
vertraulich. Die Sache ist die, der stärkste Mann der Welt ist der, der ganz allein steht.
FRAU STOCKMANN lächelt und schüttelt den Kopf Ach, Tomas – !
PETRA fest, fasst seine Hände Vater!

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