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Peter Stemmer

Der Vorrang des Wollens


Eine Studie zur Anthropologie
RoteReihe
Klostermann
Peter Stemmer · Der Vorrang des Wollens

https://doi.org/10.5771/9783465142607
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Peter Stemmer

Der Vorrang des Wollens


Eine Studie zur Anthropologie

KlostermannRoteReihe
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Originalausgabe

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Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
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ISSN 1865-7095
ISBN 978-3-465-04260-0

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Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Teil I Überlegen und Wollen

§1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 19


§2 Die Genese des Wollens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
§3 Wollen, Zukunft, Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
§4 Zukunft, Sprache, Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Teil II Die Gegenstände des Wollens

§5 Was sind die Gegenstände des Wollens?. . . . . . . . . . . . . . 103


§6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des
­Wollens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
§7 Vernunft und Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
§8 Die Zugehörigkeit des Wollens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Teil III Die Koordination des Wollens

§9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen . . . . 223


§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . 259

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

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Vorbemerkung

Die in diesem Buch enthaltenen Überlegungen habe ich in den letz-


ten Jahren in Konstanz in Vorlesungen und Kolloquien vorgestellt.
Ich bin meinen Studenten und Doktoranden für ihr Interesse wie
auch für ihre Skepsis sehr dankbar. Ich hatte das Glück, gemeinsam
mit Jacob Rosenthal über zwei Semester ein Seminar zum Problem
der Willensfreiheit veranstalten zu können. Unsere Diskussionen
im Seminar und im Anschluss haben mir erst die Sicherheit gegeben,
die ich für das abschließende 10. Kapitel brauchte. Die Universität
Konstanz hat die Arbeit an diesem Buch in einem frühen Stadium
mit zwei zusätzlichen Forschungssemestern unterstützt. Ich danke
allen, die das ermöglicht haben. Waltraud Weigel hat erneut das Ma-
nuskript durch alle Entwicklungsphasen hindurch mit großer Sorg-
falt betreut und vom Anfang bis zum Ende fabelhaft geholfen. Ich
danke auch Fabian Stöhr und Martin Zimmermann. Sie haben für
die kontinuierliche Literaturzufuhr gesorgt und auch sonst, nicht
zuletzt durch ihr Interesse an der Sache, sehr geholfen. Ein ganz an-
derer und ganz besonderer Dank für meine Frau Sabina Pieperhoff.

Konstanz, im September 2015 P. S.

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Einleitung

1. Menschen streben danach, sich selbst zu verstehen. Sie wollen


wissen, was für Wesen sie sind, sie wollen wissen, wie sie funktio-
nieren. Was steuert sie in ihrem Verhalten? Wie kommt es zu ­ihren
Handlungen? Was bestimmt, was sie tun und lassen? Menschli-
ches Leben ist Aktivität, und diese Aktivität braucht eine Richtung.
­Warum bewegen wir uns in diese – oder jene Richtung? Wo ist der
Anfang dieser Bewegung, was sind ihre Determinanten?
Wenn wir wissen wollen, wie wir funktionieren, dann interes-
siert uns nicht, wie der Blutkreislauf funktioniert oder die Verdau-
ung. Das sind Geschehnisse, die in uns ablaufen, ohne unser Zutun.
Uns interessiert, was geschieht, wenn wir selbst die Akteure sind,
wenn wir selbst unser Verhalten steuern. Was ist es, was uns hierin
bestimmt? Gerade da, wo wir selbst involviert sind, interessiert uns,
woher die Handlungsimpulse kommen, was uns also antreibt und
bewegt. Gerade da, wo wir aktiv sind und nicht nur der Ort eines
Geschehens, sind wir uns fraglich.
Es fällt uns nicht schwer, die Fragen, wie die Verdauung oder
die Sauerstoffaufnahme in der Lunge vor sich gehen, Experten zu
überlassen. Und es beunruhigt uns nicht, wenn wir nicht wissen, wie
diese Dinge vonstatten gehen. Aber da, wo wir es sind, die bestim-
men, wie wir uns verhalten, sind wir existentiell daran interessiert,
zu verstehen, was passiert und wie wir zu den Aktivitäten kommen,
die wir dann realisieren. Von den Antworten auf diese Fragen hängt
ab, was wir über uns selbst und über das menschliche Leben denken.
Davon hängt ab, wie wir im Leben stehen. Diese Fragen nehmen uns
existentiell in Beschlag, wir stellen sie nicht aus theoretischer Neu-
gierde, nicht weil wir uns wie für anderes auch für den Teil der Natur
interessieren, der wir selbst sind. Wir kommen nicht umhin, uns von
uns selbst, davon, was wir für Wesen sind, ein Bild zu machen. Und
wir können diese Fragen nicht aufschieben und für eine Zeit beiseite
stellen, etwa bis uns die Naturwissenschaften mehr Informationen
über die Genese unseres Verhaltens liefern.

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10 Einleitung

Der Versuch der Menschen, sich selbst zu verstehen, stößt schnell


auf eine besondere Schwierigkeit. Die Menschen sind Teil der Na-
tur, sie sind mit allen ihren Fähigkeiten, einschließlich ihrer geisti-
gen Fähigkeiten, Teil der Natur, und sie bestehen wie alle anderen
Dinge im Universum in toto aus physikalischen Teilchen. Und eine
unserer basalen Überzeugungen, die vollkommen richtig und un-
ausweichlich zu sein scheint, besagt, dass in der Natur alles, was
geschieht, durch Ursachen determiniert ist und deshalb, gegeben
diese Ursachen, geschehen muss. Diese Überzeugung müssen wir
auch auf uns selbst anwenden. Wir sind, wie gesagt, Teil der Natur,
ohne einen immateriellen Zusatz. Dieser Schritt ist unumgänglich,
aber er stürzt uns in äußerste Schwierigkeiten. Denn die Überzeu-
gung, dass alles, was geschieht, durch Ursachen festgelegt ist, scheint
mit unserer Vorstellung zu kollidieren, dass wir selbst aus uns her-
aus bestimmen, was wir tun und lassen, dass wir selbst es sind, die
unser Verhalten steuern. Wir können uns natürlich vorstellen, dass
der Faden der Kausalität durch den menschlichen Geist hindurch
läuft, dass das mentale Geschehen, das dem Handeln vorausgeht,
selbst ein kleines Stück dieses endlos langen Fadens ist, und viel-
leicht mögen wir denken, dass es anders gar nicht sein kann, – aber
damit ist noch nichts darüber gesagt, was eine solche Vorstellung
für unser Selbstverständnis bedeutet, und wie wir uns, wenn es so
ist, verstehen müssen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir noch weit davon entfernt sind,
diese Schwierigkeiten zu lösen, und dass wir noch längst nicht die
Mittel in der Hand haben, die nötig sind, um uns selbst zu verstehen
und zu einem stabilen Bild von uns zu kommen. Das hört sich gewiss
merkwürdig und kaum glaublich an, handelt es sich beim Menschen
doch um einen empirischen Gegenstand, der wir zudem selber sind.
Dennoch ist es wahr. Wir müssen sehr viel mehr darüber wissen, wie
Nervenzellen arbeiten, wie sie zusammenwirken und wie die neuro-
nalen Prozesse im Gehirn die enorme Vielfalt geistiger Phänomene
hervorbringen. Und wir müssen zum anderen eine Reihe von phi-
losophischen Punkten klären. Wir bedürfen einer adäquateren Be-
schreibung und Analyse unserer mentalen Aktivitäten und Erfahrun-
gen – einer Analyse, die verschiedene überkommene philosophische
Fehler und Voreingenommenheiten überwindet, die ohne metaphy-
sische Erfindungen auskommt, ohne Dinge, die es gar nicht gibt, und
die auch nicht bei jedem Schritt vorschnell mit verheerenden Kon-
sequenzen für Moral und Rechtspraxis droht, als sei all dies so klar.

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Einleitung 11

Wir können, wie gesagt, auch wenn wir keinen sicheren Boden
unter den Füßen haben, die Frage, was für Wesen wir sind, nicht
suspendieren. Wir müssen versuchen, mit den Mitteln, über die wir
verfügen, uns ein Bild zu machen, ein möglichst adäquates, wenn
auch provisorisches Bild.

2. Wie schwer es ist, die Frage, wie wir funktionieren, zu beantwor-


ten, und wie viel für uns daran hängt, spiegelt sich darin, dass in ihre
Beantwortung häufig Wunschdenken und weitreichende metaphysi-
sche Vorstellungen und Erfindungen einfließen. Ein Blick in die Ge-
schichte des Denkens belegt das mehr als deutlich. Bei Platon finden
wir die Idee einer menschlichen Seele, die etwas Eigenes neben dem
Körper ist und die deshalb den Körper und den Tod überdauert und
für sich weiterzuexistieren vermag. Eine solche Seele gibt es nicht,
sie ist nur eine Erfindung. Auch Descartes erfand etwas, was es nicht
gibt, den Geist als res cogitans, als eine immaterielle Substanz, die
nicht Teil der Natur, vielmehr eine Entität eigener Art ist und die
auf mysteriöse Weise zeitweise mit einem Körper verbunden ist und
mit ihm interagiert. Und auch bei Kant finden wir in dieser Tradi-
tion einen Dualismus zweier Welten, in einer gelten die Gesetze der
Natur, in der anderen die der Vernunft, in der einen ist keine Frei-
heit möglich, in der anderen gerade doch. Und der Mensch ist, so
Kant, nur zu verstehen als ein Bewohner beider Welten. In all diesen
Fällen versuchen die Philosophen die Menschen zu verstehen, also
die Lebewesen, die sie selber sind, empirische Gegenstände, indem
sie Dinge imaginieren und für existent halten, die es gar nicht gibt.
Dieser Weg in die Erfindung bleibt, was immer im Einzelnen die
Gründe für diese Theorien waren, erstaunlich und beirrend.
Die erwähnten Auffassungen haben die Gemeinsamkeit, dass sie
den Menschen zum Teil aus der Natur herausnehmen. Seine Seele,
sein Geist, seine Vernunft stehen über der Natur und sind ihren
Gesetzen entzogen. Diese Annahme wurde oft mit der Vorstellung
verknüpft, die Vernunft sei etwas Gottgleiches oder Gottähnliches,
etwas, durch deren Gebrauch wir uns Gott ähnlich machen könn-
ten, – offenkundig alles Vorstellungen, die aus dem Wunsch gebo-
ren sind, sich selbst zu erhöhen, sich einen besonderen Rang, einen
besonderen Wert und auch die Bestimmung zur Unsterblichkeit
­zuzuschreiben.
Die Vorstellung, die Menschen stünden zum Teil über der Natur,
lebt stark in verschiedenen Varianten bis in die zeitgenössische Phi-

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12 Einleitung

losophie fort, auch nach Darwins Entdeckungen. Die Vernunft ist,


so noch immer die Vorstellung, die Instanz, die uns wenigstens zum
Teil über die Natur und ihre Gesetze erhebt. Die Menschen agieren,
so wird gesagt, in einem Raum der Gründe, und dieser sei den Geset-
zen der Natur entzogen, die Handlungsbestimmung durch Gründe
folge anderen Gesetzen. Wenn wir vernunftgeleitet handeln, be-
freien wir uns aus dem Zwang der Natur und setzen an seine Stelle
ein Handeln aus Freiheit. Die Vernunft ist in dieser Tradition der
Hort der Selbstbestimmung. Sie kreiert eigene Handlungsimpulse,
unabhängig von »natürlichen« Antrieben und Neigungen. Sie ist der
Ort der Freiheit, der Beweger, der aus sich selbst Bewegung schafft,
ohne selbst bewegt zu werden.
Eine ganze Begrifflichkeit, ein ganzes Ideen- und Assoziations-
geflecht schart sich um diese Vorstellung, gruppiert in einer Reihe
von Gegensätzen. So ist unser Handeln autonom, wenn es durch
die Vernunft bestimmt wird, hingegen heteronom, wenn es durch
die Natur, durch unsere Neigungen und Antriebe bestimmt wird.
Wir sind aktiv, wenn die Vernunft unser Handeln bestimmt, passiv
hingegen, wenn uns andere Handlungsimpulse bestimmen. Die Ver-
nunft ist etwas Eigenes, andere Antriebe und Impulse etwas Frem-
des. Das eigentlich Menschliche, das, was die Würde des Menschen
ausmacht, verwirklichen wir, wenn wir durch die Vernunft bestimmt
sind, ins Tierische sinken wir ab, wenn wir anderen Impulsen fol-
gen. Alle diese Ideen und Konzeptionen stehen in der Tradition des
Dualismus, sie alle zielen offen oder verdeckt darauf, den Menschen
teilweise, aber im Wesentlichen aus der Natur herauszulösen und das
eigentlich Menschliche in etwas zu sehen, was über der Natur steht.
Und alle diese Versuche sind falsch, sie sind falsch, weil es diesen
nicht-natürlichen Teil des Menschen nicht gibt und weil es die Ver-
nunft, so verstanden, nicht gibt.

3. Die Leitfrage dieses Buches wird sein: Was steuert die Menschen
in ihrem Verhalten? Wie kommt es zu unseren Handlungen? Wo
liegt der Anfang der Bewegung, die unser Leben ist? Ich werde das
Thema angehen, indem ich einige zentrale Strukturmerkmale des
menschlichen Geistes analysiere. Es liegt nahe, zunächst der Tradi-
tion zu folgen und mit der schon in der Antike besonders heraus-
gestellten Tatsache zu beginnen, dass wir Wesen sind, die überlegen.
Wir können unserem Handeln ein inneres mentales Geschehen vor-
schalten: das Überlegen, und dann aus der Überlegung so handeln,

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Einleitung 13

wie wir es tun. Man kann hier auch davon sprechen, dass die Men-
schen Vernunft haben. Aber das nehme ich nur als eine andere, we-
niger konkrete Formulierung dafür, dass wir die Fähigkeit zu über-
legen haben. Der Beginn beim Überlegen führt allerdings schnell
auf etwas Elementareres, darauf, dass die Menschen Wesen sind, die
etwas wollen. Und tatsächlich liegt die Substanz des menschlichen
Lebens, so sollen die nachfolgenden Untersuchungen zeigen, nicht
im Überlegen, sondern im Wollen. Das Überlegen verweist auf das
Wollen. Im einfachsten Fall überlegt man, was man tun muss dafür,
etwas Gewolltes zu erreichen. Das Überlegen ist auf etwas, was man
will, bezogen. Dasselbe, wenn man überlegt, welche von zwei mög-
lichen Handlungen man tun soll, und dann infolge der Überlegung
die eine der anderen vorzieht. Warum zieht man die eine vor? Weil
sie, wie die Überlegung herausbringt, dem, was man will, mehr ent-
spricht als die andere Handlung.
Ein einfaches Beispiel: Was soll ich, so fragt sich jemand, wäh-
len, CDU oder SPD ? Er überlegt und entscheidet sich dann für die
Wahl der CDU . Warum? Weil er annimmt, dass die von der CDU
vorgeschlagene Kanzlerin und eine von ihr geführte Regierung mehr
von dem realisiert, von dem er will, dass es realisiert wird. Wesen,
die überlegen, sind notwendigerweise Wesen, die etwas wollen. Das
eine ist eine Conditio für das andere. Die Menschen können nur
Lebe­wesen sein, die überlegen, weil sie Wesen sind, die etwas wollen.
Das menschliche Wollen ist ungeheuer komplex und darin vom
Wollen anderer Lebewesen deutlich unterschieden. Es ist eine wich-
tige Aufgabe, zu klären, wie es zu dieser Komplexität kommt und
wodurch sie möglich wird. Zwei Merkmale des menschlichen Geis-
tes sind hier, so möchte ich zeigen, von entscheidender Bedeutung:
das Zukunftsbewusstsein der Menschen, das weit über das der uns
nächsten Tiere hinausgeht, und zum anderen die menschliche Fähig-
keit der Imagination, die ebenfalls sehr weit über ähnliche Fähigkei-
ten bei Tieren hinausgeht. Komplexe Strukturen des Wollens, Zu-
kunftsbewusstsein und Imaginationsfähigkeit gehen, wie es scheint,
aufs Engste zusammen.
Wenn das Wollen die Ergebnisse des Überlegens und damit das
Handeln bestimmt, was bestimmt dann die Ausrichtung des Wol-
lens? Was bestimmt, was man will? Auf welche Gegenstände geht
das Wollen? Diese Frage schließt unmittelbar an und ist für die Frage,
wie die Menschen funktionieren, offensichtlich von zentraler Be-
deutung. Sie wird eine der Kernfragen der folgenden Untersuchun-

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14 Einleitung

gen sein. Dabei wird auch zu klären sein, ob das Überlegen nicht
nur zwischen Handlungen am Maßstab eines vorgängigen Wollens
zu entscheiden vermag, sondern auch die Potenz hat, auf die Aus-
richtung des Wollens selbst Einfluss zu nehmen. Die Tradition hat
ganz überwiegend angenommen, dass das Überlegen, die Vernunft
diese Potenz hat und es zu ihren vornehmsten Aufgaben gehört,
das Wollen zu lenken. Natürlich stellt sich dann die Frage nach den
Ressourcen des Überlegens. Anhand wovon vermag das Überlegen
das Wollen in bestimmter Weise auszurichten? Oder ist es, gegen die
dominante Tradition, anders, ist das Überlegen, ist die Vernunft in
der Bestimmung des Wollens impotent? Und wenn dies, was ist es
dann, was dem Wollen seine Ausrichtung gibt? Was bestimmt dann,
auf welche Gegenstände es sich richtet? Warum, so also die Frage,
wollen wir, was wir wollen?
Insgesamt wird sich ein Bild ergeben, in dem das Überlegen keine
eigenen Ressourcen hat, das Wollen zu bestimmen. Die Ausrichtung
des Wollens kommt aus anderen Quellen. Das Überlegen ist in allem
auf ein vorgängiges, anderweitig bestimmtes Wollen bezogen und in
seinen Ergebnissen von diesem Wollen abhängig. Was also bestimmt
wirklich unser Wollen, und wie ist seine Vielfalt und Komplexität
zu erklären?

4. Wenn man diese Fragen angeht und dazu Grundzüge des mensch-
lichen Geistes thematisieren will, liegt es, statt die Menschen aus
der Natur herauszunehmen, nahe, das Thema in eine evolutionäre
Perspektive zu stellen. Die Menschen stehen in einer evolutionären
Kontinuität mit den Tieren oder, wenn man so will, mit den ande-
ren Tieren. Nicht nur die Menschen haben einen Geist, auch Tiere
haben mentale Fähigkeiten. Und natürlich ist der menschliche Geist
aus dem Geist unserer nicht-menschlichen Vorfahren entstanden. Es
gibt eine Geschichte des Geistes. Von daher scheint es so, als habe
man die Arbeitsweise des menschlichen Geistes erst wirklich ver-
standen, wenn man seine evolutionäre Geschichte und seine Genese
aus primitiveren Formen des Geistes in ihren einzelnen Entwick-
lungsschritten nachvollziehen kann. Dieses große Design nachzu-
zeichnen, ist wünschenswert, aber heute allenfalls in Ansätzen mög-
lich. Zumal es zwischen den gemeinsamen Vorfahren von Schim-
pansen und Menschen und dem Homo sapiens eine Entwicklung
gegeben hat, die trotz der Kontinuität zu einem völlig neuartigen
Wesen geführt hat, das sich radikal von seinen Vorfahren unterschei-

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Einleitung 15

det. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede nur zu beschreiben, ist


schon äußerst schwierig, sie evolutionär zu rekonstruieren und zu
erklären, noch viel schwieriger. Den Philosophen sind da ohnehin
die Hände gebunden. Dennoch muss die evolutionäre Perspektive
für die Ausführungen dieses Buches selbstverständlich sein, wie pro-
duktiv das ist, müssen dann die Überlegungen im Einzelnen zeigen.

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Teil I
Überlegen und Wollen

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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen

1. Menschen können das, was sie tun, durch Überlegungen steuern.


Das Ergebnis des Überlegens bestimmt dann, welche Handlung sie
realisieren, und wenn sie gefragt werden, warum sie so gehandelt
haben, können sie ihre Überlegung offenlegen und die Gründe nen-
nen, die den Ausschlag zugunsten gerade dieser Handlung gegeben
haben. Offensichtlich ist nicht alles, was Menschen tun, in dieser
Weise durch Überlegungen bestimmt. Ganz im Gegenteil. In vielen
Fällen gehen dem, was wir tun, keine Überlegungen voraus. Wenn
wir schlafen, atmen wir weiter. Das hat mit einer Überlegung nichts
zu tun. Genauso, wenn wir träumen. Bei einem lauten Knall zucken
wir unwillkürlich zusammen. Auf einem unebenen Untergrund pas-
sen wir unsere Schritte an, automatisch, ohne dass wir es auch nur
bemerken. In anderen Situationen tun wir etwas überwältigt von
einem starken, hochschießenden Affekt, gerade ohne zu überlegen.
Und auch wenn wir wie so oft im Zuge fester Gewohnheiten oder
einer bestimmten Konditionierung agieren, etwa im Straßenver-
kehr oder beim Gebrauch der Sprache, geht diesem Verhalten kein
Überlegen voraus. Wieder anders ist es, wenn wir das Überlegen
beiseite schieben oder keine Zeit dazu haben und stattdessen aus
einer Intuition oder einem Bauchgefühl handeln. Man kann darü-
ber spekulieren, ein wie großer Teil unseres Handelns sich solchen
mehr oder weniger automatischen Mechanismen verdankt und wie
groß andererseits der Anteil des überlegten Handelns ist. Der Psy-
chologe Wilhelm Wundt soll gesagt haben, die Menschen seien in
ihrem Handeln zu drei Vierteln Automaten. Wenn man sich solche
Gedanken macht, darf man freilich nicht zu oberflächlich urteilen.
Hinter vielen Handlungen, die wir tun, ohne aktuell zu überlegen,
stehen ursprünglich Überlegungen. Man braucht sie aber in immer
wieder gleichen Situationen nicht zu wiederholen und bildet statt-
dessen Gewohnheiten aus oder steuert mit dem Autopiloten. Und
auch Bauchgefühle kommen nicht aus dem Nichts. In sie gehen auch
zurückliegende, längst verschüttete Überlegungen ein.
Man kann sich dem Phänomen des Überlegens, seiner Funk-
tion und seiner Besonderheit nähern, indem man Lebewesen, die
überlegen können, mit Lebewesen vergleicht, die dies nicht kön-
nen. Die allermeisten nicht-menschlichen Lebewesen haben diese
Fähigkeit nicht. Sie funktionieren anders. Am weitesten von uns
entfernt sind Wesen, deren Verhalten vollständig oder sehr weit-

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20 Teil I: Überlegen und Wollen

gehend durch starre Mechanismen von Reiz und Reaktion festge-


legt ist. Ein solches Lebewesen reagiert auf einen bestimmten Reiz
automatisch mit einer genetisch festgeschriebenen Reaktion. So
schaffen Ameisen tote Artgenossen auf Grund eines bestimmten
Geruchs aus ihrem Bau heraus. Der Geruch kommt von der Öl-
säure, die sich auf den verwesenden Körpern bildet. Der Stimulus
ist mit der Reaktion des Wegschaffens fest verbunden. Das zeigt sich
besonders deutlich, wenn man eine Situation arrangiert, die in der
natürlichen Umwelt der Ameisen nicht vorkommt. Wenn man auf
­einen Gegenstand, etwa auf ein kleines Stück Holz, Ölsäure aufträgt,
schaffen die Ameisen diesen Gegenstand ebenfalls sofort weg, und
selbst wenn man eine lebendige Ameise mit der riechenden Säure
bestreicht, wird sie von den anderen Ameisen sofort beseitigt. Der
Automatismus ist offenkundig völlig starr. Die Ameisen haben kei-
nerlei ­Distanz zum Stimulus und können sich von ihm nicht frei­
machen, selbst dann nicht, wenn sie sehen, dass die Ameise lebt.
Die Reiz-Reaktionsmechanismen sind nicht irgendwelche Me-
chanismen dieser Art, sie sind so angelegt, dass die Lebewesen sich
so verhalten, dass sie überleben und sich fortpflanzen können, zu-
mindest mit einiger Wahrscheinlichkeit. Die Lebewesen tun, indem
sie in der genetisch programmierten Weise auf die Stimuli reagieren,
genau das, was sie tun müssen dafür, dass sie überleben und Nach-
wuchs haben. Alles geht in diese Richtung und zielt auf diese Ef-
fekte. Uns Betrachtern kommen diese einfachen Lebewesen deshalb
bei genauerem Studium in eigentümlicher Weise perfekt vor. Alles
scheint klug eingerichtet zu sein. Das faktische Verhalten trifft ge-
nau das notwendige Verhalten. Wie es zu dieser Perfektion kommt,
ist leicht zu erklären: Es ist ein Ergebnis der Evolution. Lebewe-
sen, bei denen die Reiz-Reaktionsmechanismen anders sind, kann es
nicht geben, weil sie nicht lebensfähig sind. Nur weil die Lebewesen
die Mechanismen mit diesen Effekten aufweisen, gibt es sie auf der
Bühne des Lebens.
Man ist leicht versucht, das Überleben und die Fortpflanzung als
Zwecke oder Ziele zu verstehen, auf die hin die Lebewesen so ange-
legt sind. Vor dem Hintergrund eines theistischen Weltbildes wirkt
es ganz natürlich, so zu denken. Gott hat die Lebewesen geschaffen
und so ausgestattet, dass sie überleben und sich fortpflanzen kön-
nen. Wir haben hier die Idee einer Konstruktion oder eines Designs
auf ein Ziel hin. Kant hat den Tieren jede Vernunft abgesprochen,
war aber beeindruckt davon, wie perfekt und »bewunderungswür-

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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 21

dig« ihre Lebensweise ist. Ihr Verhalten ist extrem zweckmäßig, sie
tun, geleitet von ihren Instinkten, genau das, was für sie gut und
notwendig ist. Es sieht so aus, als stehe dahinter eine Vernunft, die
die Instinkte auf die Lebenszwecke der Tiere abgestimmt hat. Kant
spricht tatsächlich von einer »fremden Vernunft«, die das Verhal-
ten der Tiere leite.1 Die Tiere haben keine eigene Vernunft, aber in
­ihren Instinkten offenbart sich eine fremde Vernunft, die sie über das
Vehikel der Instinkte bestimmt. Tiere sind also, obwohl selbst ver-
nunftlos, dennoch Vernunftwesen, bestimmt durch eine allerdings
fremde, äußere Vernunft. Und sie können, ganz anders als die Men-
schen, die Spur der Vernunft niemals verlassen. Der Gegensatz von
vernunftbegabt und vernunftlos wird auf diese Weise umgedeutet
zum Gegensatz von eigener und fremder Vernunft. Wenn Kant von
einer fremden Vernunft spricht, liegt es nahe, an Gott zu denken,
der die Tiere so geschaffen hat, dass sie auch ohne eigene Vernunft
perfekt funktionieren. Kant nennt die Instinkte gelegentlich unum-
wunden »diese Stimme Gottes, der alle Thiere gehorchen.«2 Auch
hier haben wir also die Idee einer absichtsvollen Konstruktion auf
ein bestimmtes Ziel hin.
Wenn wir die theistische Prämisse beiseite lassen, fallen alle diese
Ideen weg. Natürlich kann man die Vorstellungen des Zwecks und
der Zielgerichtetheit auch nicht auf den evolutionären Prozess selbst
anwenden. Die Evolution ist ein blindes Geschehen, ohne Ziele und
ohne Zwecke.
Hinter den Lebewesen steht also keine äußere Vernunft und kein
äußeres Wollen. Und die Lebewesen, die in ihrem Verhalten von
Reiz-Reaktionsmechanismen bestimmt sind, verfolgen auch nicht
selbst Ziele. Diese Lebewesen wollen nichts. Sie wollen nicht über-
leben oder sich fortpflanzen. Sie tun es, weil sie auf Grund ihres
genetischen Programms auf bestimmte Reize reagieren. Dass ein
Frosch, wenn eine Fliege vorbeifliegt, automatisch seine Zunge
herausschnellen lässt, die Fliege fängt und dann frisst, dient seiner
Selbsterhaltung. Aber damit es so ist, muss der Frosch seine Selbst-
erhaltung nicht wollen. Ein Frosch hat dieses Ziel nicht. Er hat einen
Mechanismus, der – hinter seinem Rücken – seiner Selbsterhaltung
dient. Lebewesen dieser Art sind auf ein Wollen gar nicht angewie-

1 I. Kant: Pädagogik (1803), AA IX, 441.


2 I. Kant: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), AA VIII,
111.

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22 Teil I: Überlegen und Wollen

sen. Die Selbsterhaltung ist Effekt, aber nicht Ziel oder Zweck ihres
Verhaltens.
Die Lebewesen, von denen jetzt die Rede ist, leben in »Dafür-
dass-Strukturen«. Der Frosch muss Fliegen fangen dafür, dass er
weiterlebt. Das eine ist eine notwendige Bedingung für das andere.
Der Frosch weiß davon nichts, er agiert in einer Struktur, von der
er nicht den leisesten Schimmer hat. Und nicht nur die einfachen
Lebewesen, sondern alle Lebewesen leben in Dafür-dass-Struktu-
ren dieser Art. Das Weiterleben und die Reproduktion ergeben sich
nirgendwo von selbst, alle Lebewesen müssen dafür etwas tun. Und
alle Lebewesen, die nicht zu den dafür notwendigen Handlungen
finden, gibt es logischerweise nicht mehr. So erstaunt es nicht, dass
wir überall diese Struktur finden. Warum schaffen die Ameisen ihre
toten Artgenossen weg? Das müssen sie tun dafür, dass ihr Bau nicht
durch die Verwesungsprodukte verunreinigt wird. Die Natur kennt
verschiedene Strategien, sicherzustellen, dass die Lebewesen das tun,
was sie tun müssen. Bei den einfachen Lebewesen, die wir jetzt be-
trachten, läuft die Strategie, wie gesehen, über starre, genetisch pro-
grammierte Reiz-Reaktionsmechanismen.
Es ist nicht überraschend, dass wir die für alles Leben grundle-
gende Dafür-dass-Struktur auch bei Artefakten finden. Die Auf-
gabe eines Thermostats ist es, die Zimmertemperatur bei schwan-
kenden Außentemperaturen konstant zu halten. Er ist deshalb so
gebaut, dass er genau das tut, was er tun muss dafür, dass dieser Ef-
fekt erreicht wird. Der Mechanismus ist in diesem Fall das Ergebnis
menschlicher Konstruktion. Für einen Ingenieur sind Dafür-dass-
Strukturen das tägliche Brot. Er will, dass eine Maschine etwas Be-
stimmtes leistet, und er überlegt, wie sie beschaffen sein muss dafür,
dass sie diese Leistung erbringt. Und natürlich gibt es am Ende nur
Maschinen, die genau das tun, was sie tun müssen dafür, dass es zu
der intendierten Leistung kommt. Diese Gemeinsamkeit von Lebe­
wesen und Artefakten ist offenkundig Teil des intuitiven Hinter-
grunds, der die Vorstellung, Tiere seien Maschinen, trägt. Sie sind
so, also ob Ingenieure sie bauen würden. Nur dass es in ihrem Fall
keine Ingenieure gibt, sondern den vernunft- und willenlosen Gang
der natürlichen Selektion.

2. Wir können jetzt sagen: Die Lebewesen, deren Verhalten durch


Reiz-Reaktionsmechanismen bestimmt ist, funktionieren gut, es fin-
det eine effektive Handlungssteuerung statt, aber die Lebewesen tun

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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 23

selbst nichts zu dieser Handlungssteuerung dazu. Alles Verhalten


ist durch das ererbte genetische Programm festgelegt. Das hat zur
Konsequenz, dass diese Lebewesen nur in einer sehr stabilen Um-
welt überleben können. Sobald sich die Umwelt verändert und nicht
mehr die Reize bietet, auf die sie reagieren, oder nicht mehr in der
notwendigen Menge, oder die Reize sich verändern und deshalb
nicht mehr »erkannt« werden, sind sie zum Aussterben verdammt.
Das gespeicherte Programm hat die veränderten Umstände nicht
»vorhergesehen«, und deshalb finden die Lebewesen keine Antwor-
ten, die ihr Überleben sichern. Sie haben jenseits des ererbten Pro-
gramms keinerlei Ressource, das eigene Verhalten zu steuern.
Es gibt durchaus Wege, die Reiz-Reaktionsmechanismen in sich
komplexer zu machen. Doch selbst geringfügige Veränderungen die-
ser Art brauchen sehr viel Zeit. Die Anpassung des genetischen Ma-
terials an veränderte Umweltbedingungen dauert sehr lange. Wäh-
renddessen sterben alle Lebewesen, die sich unter den veränderten
Bedingungen nicht zu behaupten vermögen. Außerdem bleibt dieser
Typus der Verhaltenssteuerung, auch mit möglichen Modifikatio-
nen, grundsätzlich starr und unflexibel. Verändert sich die Umwelt
schneller und häufiger, müssen die Lebewesen flexiblere Formen der
Handlungssteuerung entwickeln. Sie müssen aus dem starren Gleis
ihrer angeborenen Verhaltensmechanismen heraus, zumindest zum
Teil. Man könnte angesichts dieser Diagnose in einem Gedanken-
experiment daran denken, sich an einen Ingenieur zu wenden und
ihn damit zu beauftragen, Lebewesen zu konstruieren, deren Hand-
lungssteuerung so funktioniert, dass sie auch in einer variableren
Umwelt die Handlungen finden, die sie tun müssen dafür, dass sie
überleben und sich reproduzieren können. Wie kann eine flexiblere
Form der Handlungssteuerung aussehen?
Die generelle Strategie muss offenkundig sein, die starren Reiz-
Reaktionsmechanismen aufzubrechen. Das genetische Programm ist
angeboren, es geht dem Leben der Lebewesen gewissermaßen vor-
aus. Wenn sie geboren werden, ist schon alles festgelegt, sie können
dem nichts hinzufügen. Stattdessen muss, wie sich ein Lebewesen
verhält, durch Leistungen dieses Lebewesens selbst bestimmt sein.
Das Lebewesen muss je nach Situation sein Verhalten selbst steuern
können. Der Ort der Handlungssteuerung muss also von dem Pro-
gramm, das den Lebewesen vorausgeht, in das einzelne Lebewesen
hineinwandern. Und die Lebewesen brauchen die Mittel, die es ih-
nen möglich machen, diese Leistung zu erbringen, sie brauchen die

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24 Teil I: Überlegen und Wollen

Fähigkeit zu eigener handlungssteuernder Aktivität. Sie brauchen,


mit anderen Worten, einen Geist, der genau dies zu leisten vermag.
Vom genetischen Programm zum Geist, so könnte man die nötige
Entwicklung beschreiben.3 Oder auch: immer weniger Handlungs-
steuerung am Kopf der Lebewesen vorbei, immer mehr durch ihren
Kopf hindurch. Wollte man Kants Vorstellung einer fremden Ver-
nunft in metaphorischer Form reaktivieren, könnte man auch sagen:
immer weniger fremde Vernunft und immer mehr eigene Vernunft.
Man kann sich einen Ingenieur vorstellen, der Schritt für Schritt
vorgeht, er nimmt, wenn nötig, eine kleine Veränderung vor, dann,
wenn nötig, eine weitere und so fort. So dass sich die Lebewesen
über viele kleine Anpassungsschritte auf dem Weg zu einer flexib-
leren Handlungssteuerung verändern. Denken wir uns aber einen
Ingenieur, der es vorzieht, das Problem auf einen Schlag zu lösen. Er
entwirft gleich ein Lebewesen, das zu so großer Verhaltensflexibili-
tät fähig ist, dass es unter den verschiedensten Umweltbedingungen
leben kann. Er ersetzt das Reiz-Reaktionssystem – nicht völlig, aber
so weit wie nötig – in einem Zug durch ein anderes Steuerungssys-
tem. Wie sähe das Lebewesen aus, das er konstruiert? Zunächst ist
klar, dass die Effekte, die das Verhalten der Lebewesen nach sich zie-
hen muss, dieselben bleiben: die Selbst- und Arterhaltung inklusive
einer Vielzahl von Untereffekten wie Nahrungsaufnahme, das Fin-
den von Sexualpartnern, die Abwehr von Feinden. Damit ist auch
klar, dass die Dafür-dass-Struktur erhalten bleibt. Die Lebe­wesen
müssen, genau wie ihre einfachen Vorfahren, das tun, was sie tun
müssen dafür, dass die Effekte der Selbst- und Arterhaltung eintre-
ten. Aber wie finden sie die dafür notwendigen Handlungen? An
die Stelle der Mechanismen von Reiz und Reaktion tritt jetzt eine
geistige Aktivität: das Überlegen. Die Lebewesen überlegen, was sie
tun müssen, und setzen das Ergebnis des Überlegens in das entspre-
chende Verhalten um. In der Überlegung finden die Besonderhei-
ten der jeweiligen Situation Berücksichtigung, und dadurch entsteht
eine situationssensitive Art der Handlungssteuerung und damit die
gesuchte Flexibilität.
Wenn die Lebewesen überlegen, was sie tun müssen, setzt das
­voraus, dass sie eine Vorstellung von den Effekten ihres Verhaltens

3 Vgl. hierzu J. T. Bonner: The Evolution of Culture in Animals (Prince-


ton 1980), ch. 3: The Brain and the Genome; dt. Kultur-Evolution bei Tieren
(Berlin 1983).

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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 25

haben. Sie müssen eine Vorstellung von dem Zusammenhang zwi-


schen möglichen, in der Überlegung erwogenen Handlungen und
den Effekten des Weiterlebens und Sich-Fortpflanzens oder zumin-
dest den Mitteln zu diesen Effekten haben. Die Effekte oder wenigs-
tens die Untereffekte müssen also im Überlegen präsent sein, sie
müssen Teil dessen sein, worauf sich die Lebewesen in der Über-
legung beziehen. Die Überlegung folgt auf diese Weise der Dafür-
dass-Struktur. Diese Struktur liegt jetzt nicht mehr im Rücken der
Lebewesen, ohne dass sie davon etwas ahnen, sie ist jetzt die Struktur,
die dem Überlegen seine Form gibt. Im Fall der einfachen Lebewe-
sen hatte das genetische Programm »vorhergesehen«, dass in einer
bestimmten Situation die Handlung x die ist, die notwendig ist; jetzt
erkennen die Lebewesen im Zuge ihrer Überlegung, dass x getan
werden muss dafür, dass ein bestimmter Effekt eintritt. Der Ort der
Handlungssteuerung hat sich damit offensichtlich vom genetischen
Programm zum Geist verschoben.
Mit der Einführung des Überlegens ist die Arbeit des Ingenieurs
allerdings noch nicht erledigt. Es bedarf noch eines zweiten Schritts.
Es reicht nicht, dass die Lebewesen antizipieren, dass die-und-die
Handlungen die-und-die Effekte haben werden. Es fehlt noch ein
Motivator, der die Lebewesen dazu bewegt, die Handlungen, von
denen sie erkennen, dass sie zur Selbst- und Arterhaltung – oder zu
den Mitteln, die zu diesen Effekten führen – notwendig sind, auch
zu tun. Die Einsicht, dass, x zu tun, eine notwendige Bedingung
dafür ist, dass y geschieht, impliziert klarerweise kein Motiv, x auch
zu tun. Bei den einfachen Lebewesen löst der Reiz direkt die not-
wendige Handlung aus. Dafür ist jetzt ein Ersatz nötig. Die Lösung
für dieses Problem besteht darin, die Lebewesen mit einem Wol-
len auszustatten. Wenn sie Nahrung finden wollen, haben sie einen
Motivator, der sie dazu bewegt, das dafür Notwendige zu tun. Was
bisher nur Effekte des Handelns waren, wird auf diese Weise zu Zie-
len. Die Lebewesen haben durch das Wollen Ziele, und sie überlegen,
was sie dafür tun müssen, dass sie diese Ziele erreichen.
Mit dem Umbau des motivationalen Elements ergibt sich eine,
wie man leicht sehen kann, unvermeidliche Verschiebung: Bei den
einfachen Lebewesen geht der Handlungsimpuls direkt auf die not-
wendige Handlung. Bei den »neuen« Lebewesen geht der motiva-
tionale Impuls auf die angezielten Effekte. Und welche Handlung
dann dazu dient, diese Effekte zu realisieren, wird erst im Zuge des
Überlegens bestimmt. Und erst dann geht der motivationale Impuls

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26 Teil I: Überlegen und Wollen

von dem angestrebten Effekt auf diese Handlung über. Das motiva-
tionale Element richtet sich primär auf die Ziele und erst sekundär
auf die notwendigen Handlungen. Die motivationale Energie läuft
also durch eine Schleife, deren Ausgang erst durch das Überlegen
von Situation zu Situation bestimmt wird.
Wie es kommt, dass das Wollen gerade auf die Inhalte geht, auf
die es gehen muss, wenn die Lebewesen lebensfähig sein sollen, lasse
ich an dieser Stelle noch beiseite. Eine sehr einfache Option für den
Ingenieur bestünde darin, das Wollen genetisch auf diese Inhalte
festzulegen. Die Lebewesen würden dann auf Grund eines geneti-
schen Programms bestimmte Dinge wollen. Und die Veränderung
zwischen den einfachen und den neu entworfenen Lebewesen läge
im Wesentlichen darin, die genetische Programmierung von den
Mitteln, den Handlungen, auf die Ziele zu verlagern und die mit
der Fähigkeit des Überlegens ausgestatteten Lebewesen die Mittel
selbst suchen zu lassen.4 Dieses Bild ist nicht falsch, aber es ist zu
einfach. Es gibt für den Ingenieur verschiedene Möglichkeiten, das
Wollen auf die richtigen Inhalte auszurichten. Wir werden das im
nächsten Kapitel sehen.
Wie immer die Fragen, die das Wollen betreffen, im Einzelnen zu
beantworten sein werden, wir können nach diesem Gedankenexpe-
riment festhalten, dass die entscheidende Innovation auf dem Weg
zu Lebewesen, die sich unter sehr verschiedenen Lebensbedingun-
gen behaupten können, die Entstehung eines Geistes ist, zu dessen
basalen Leistungen das Überlegen und das Wollen gehört. Das alte
Steuerungssystem kannte nur reaktive Handlungen, das neue kennt
überlegte und willentliche Handlungen.
Die Entstehung eines zur Deliberation und zum Wollen fähigen
Geistes ist natürlich nicht nur eine Idee des fiktiven Ingenieurs. Sie
ist Teil der realen Geschichte, sie gehört zur evolutionären Vergan-
genheit der Menschen und anderer entwickelter Lebewesen. Die
Gene haben in einem äußerst langsamen, viele Millionen Jahre dau-
ernden Anpassungsprozess einen Geist geschaffen, der das Han-
deln situationsgerecht steuert und es sofort an veränderte Umstände
anpassen kann. Das eine handlungssteuernde System hat ein ganz
ande­res handlungssteuerndes System, die Kombination von Über-
legen und Wollen, hervorgebracht.

4 Vgl. hierzu E. T. Rolls: Emotion Explained (Oxford 2005) 25, 41 und auch
62.

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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 27

3. Versuchen wir, ein Lebewesen, das durch eigenes Überlegen sein


Verhalten zu steuern vermag, näher zu charakterisieren. Wie schon
gesagt, verfügen nur wenige Lebewesen über diese Fähigkeit. Men-
schen können überlegen, auch Menschenaffen können es, zumin-
dest in einer rudimentären Form. Ob es auch andere Tiere können
und wie weit das gegebenenfalls auf der evolutionären Stufenleiter
hinuntergeht, braucht uns hier nicht zu interessieren. Was muss, so
können wir fragen, ein Lebewesen können, um überlegen zu kön-
nen? Mit welchen Fähigkeiten muss der Ingenieur ein solches Lebe­
wesen ausstatten? Selbst wenn wir uns im Moment nur an einer be-
sonders elementaren Form des Überlegens orientieren, der Suche
nach Mitteln zur Erlangung eines Ziels, können wir einige wichtige
Merkmale markieren.
Bevor ich darauf komme, eine Vorbemerkung zur Eigenart des
Überlegens. Das Überlegen ist ein Tätigsein vor dem Tätigsein. Dem
tatsächlichen Handeln in der Welt geht ein geistiges Tätigsein im
Kopf voraus. Man sucht im Kopf nach Handlungen, die als Mittel
zur Erlangung des Ziels in Frage kommen, und probiert, welche
davon zum angestrebten Ziel führt. Das Durchprobieren der Op-
tionen spielt sich nicht draußen in der Welt ab, sondern innen auf
einer »mentalen Probebühne«.5 Man überlegt, wie man sagt, »im
Geist«. Das Überlegen gleicht dem Trial-and-error-Verfahren, mit
dem manche Lebewesen, ohne zu überlegen, versuchen, ihre Ziele
zu erreichen. Sie probieren nacheinander verschiedene Handlun-
gen aus und sehen dann, welche erfolgreich und nicht erfolgreich
sind. Beim Überlegen geschieht etwas Ähnliches, aber, wie gesagt,
auf der inneren mentalen Bühne. R. Millikan hat deshalb gesagt:
»Reasoning is just trial and error in thought.«6 Die Vorteile dieses
nach innen verlegten Verfahrens liegen auf der Hand. Wenn eine der
möglichen Handlungen eine schlechte oder gar perniziöse Konse-
quenz hat, hat sie diese zunächst nur im Kopf; und dabei wird es
auch bleiben, weil bei diesem Befund niemand die Handlung reali-

5 Von einer »mentalen Probebühne« spricht N. Bischof: Emotionale Ver-


wirrungen. Oder: Von den Schwierigkeiten im Umgang mit der Biologie.
Psychologische Rundschau 40 (1989) 188–205, 201. Freud hat in einer klei-
nen Schrift von 1911 das Denken eher beiläufig ein »Probehandeln« genannt.
Vgl. Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens,
Studienausgabe, Bd. 3 (Frankfurt 1975) 17–24, 20.
6 R. G. Millikan: Styles of Rationality, in: S. Hurley / M. Nudds (eds.):
Ratio­nal Animals? (Oxford 2006) 117–126, 118.

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28 Teil I: Überlegen und Wollen

sieren wird. Ein Lebe­wesen, das es mit dieser Handlung hingegen


in der Welt probiert, kann den schlechten Folgen nicht entgehen.
Im schlimmsten Fall ist dies der Unterschied zwischen Weiterleben
und Tod. Darwin hat diesen möglicherweise lebensrettenden Vorteil
des Überlegens sehr deutlich formuliert: »… reason, and not death
rejects the i­mperfect attempts.«7
Dass sich das Versuchen im tatsächlichen Handeln und das Pro-
bieren im Kopf bei der Lösung eines Problems mischen können, zei-
gen eindrucksvoll die klassischen Experimente, die Wolfgang Köh-
ler zum Intelligenzverhalten von Schimpansen vor hundert Jahren
auf Teneriffa durchgeführt hat. In einem dieser Experimente will
ein Schimpanse namens Sultan an Bananen herankommen, die an
der Decke seines Käfigs angebracht sind, so hoch, dass er sie ohne
Hilfsmittel nicht erreichen kann. Im Käfig liegen zwei Holzkisten
und einige Stöcke herum. Was tut er, um die Bananen zu erreichen?
»Sultan«, so berichtet Köhler, »… kümmert sich zunächst nicht um
die Kisten, sondern versucht, mit einer kurzen, später einer längeren
Stange das Ziel herunterzuschlagen; da die schweren Stöcke unsicher
in seiner Hand schwanken, wird er bald ungeduldig und wütend,
trampelt gegen die Wände und schleudert die Stöcke fort. Danach
setzt er sich ermüdet auf einen Tisch, der in der Nähe der Kisten
steht, und beginnt, als er sich erholt hat, ruhig um sich zu blicken,
indem er langsam seinen Kopf kratzt; sein Blick fällt auf die Kisten
und ruht einen Moment auf ihnen, schon klettert er auch vom Tisch
herab, ergreift die nähere, zerrt sie unter das Ziel, besteigt sie aber
erst, nachdem er seinen Stock aufgenommen hat und schlägt nun
mühelos das Ziel herab.«8 Der Schimpanse probiert Verschiedenes,
aber eine Handlungssequenz, die, die schließlich zum Erfolg führt,
hat er offenbar im Kopf vorbereitet. Er ist auf die Idee gekommen,
dass er eine der Kisten besteigen und dann mit einem Stock die Ba-
nanen herunterschlagen könnte. Diese mentale Imagination initiiert
dann sein Verhalten.
Was sind nun die wichtigsten Merkmale eines Wesens, das die
Fähigkeit des Überlegens hat? Ich zähle sechs Merkmale kurz auf.

7 Ch. Darwin: Notebooks, 1836–1844, ed. P. H. Barrett / P. J. Gautrey /


S. Herbert et al. (Cambridge 1987) 638.
8 W. Köhler: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, 2. Aufl. (Berlin 1921,
ND 1963) 33. – Von einem ähnlichen Experiment mit einem Orang-Utan
berichtet K. Lorenz: Die Rückseite des Spiegels (München 1973) 174.

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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 29

(i) Ein Lebewesen, das überlegt, imaginiert Handlungen und ihre


Konsequenzen. Es beschäftigt sich mit möglichen Handlungen »im
Geist«. Es muss also die Fähigkeit haben, sich etwas vorzustellen,
was es nicht vor Augen hat.
(ii) Diese Imagination ist nur möglich, wenn das Lebewesen Er-
fahrungen gespeichert hat. Es muss die Erfahrung, dass die Hand-
lung x die Konsequenz y hat, gemacht und festgehalten haben. Oder
es muss auf Grund anderer Erfahrungen auf die Idee kommen, dass x
diese Konsequenz haben wird. Nur wenn ein Lebewesen Erfahrun-
gen gespeichert hat und über die Ressource eines solchen Speichers
verfügt, besitzt es den Stoff, aus dem die Imaginationen sind. Ein
Lebewesen, das überlegt, muss mit anderen Worten ein Gedächt­
nis haben.
Es scheint, als bedürfe es außerdem eines sehr viel breiteren Hin-
tergrundwissens, um intuitiv aus den unendlich vielen in einer Si-
tuation möglichen Handlungen diejenigen auf die Bühne des Über-
legens zu bringen, die zur Erlangung des Ziels überhaupt in Frage
kommen und nähere Betrachtung verdienen. Ein Schimpanse, der
wie in Köhlers Experimenten an hoch hängende Bananen heran-
kommen will, versucht nicht, durch Schlagen gegen die Wand sein
Ziel zu erreichen. Er interessiert sich vielmehr für Stöcke und Kisten.
Er weiß also schon, was in Frage kommt und was nicht, er hat aus
den vielen möglichen Handlungen schon einige intuitiv ausgewählt.
Dafür braucht er einen Hintergrund von sedimentiertem Wissen
darüber, wie die Dinge sind.
(iii) Das Überlegen setzt nicht nur einen Rückgriff auf vergan-
gene Erfahrungen voraus, es impliziert auch einen Bezug auf die
Zukunft. Wenn der Schimpanse die an der Decke befestigten Ba-
nanen erreichen will, hat er die Bananen zwar vor Augen. Sie sind
Teil der gegenwärtigen Situation. Aber das Erreichen der Bananen
ist etwas Zukünftiges. Und die Handlungen, die der Schimpanse
probiert, in seinem Käfig oder zunächst in seinem Kopf, werden
daraufhin getestet, ob er durch sie die Bananen erreicht. Der Schim-
panse antizipiert damit etwas, was in der Zukunft liegt und nicht
Teil der gegenwärtigen Situation ist. Die Antizipationsleistung von
Schimpansen ist nicht nur in diesem Beispiel, sondern generell sehr
begrenzt. Bei Menschen ist sie von völlig anderer Art. Das wird uns
noch ausführlich beschäftigen. Jetzt ist nur festzuhalten, dass der
Zukunftsbezug essentiell zu einem Lebewesen gehört, das überlegt.
Überlegte Handlungen sind auf die Zukunft blickende Handlungen,

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30 Teil I: Überlegen und Wollen

sie werden um ihrer zukünftigen Effekte willen getan. Ganz anders


als etwa das, was ein Frosch tut. Wenn er Fliegen fängt, hat das Wir-
kungen in der Zukunft. Aber der Frosch verhält sich bloß reaktiv,
er tut, was er tut, nicht um der Wirkungen willen. Der Ingenieur,
der den Auftrag bekam, Wesen zu entwerfen, die möglichst flexi-
bel unter den verschiedensten Umweltbedingungen agieren können,
und der Lebewesen konstruiert, die auf Ziele gerichtet sind und die
selbst die Handlungen auswählen, die in den jeweiligen Situatio-
nen zu diesen Zielen führen, muss diese Lebewesen also mit einem
Zukunfts­bezug ausstatten.
(iv) Es ist klar, dass Lebewesen, die überlegen können, über Be-
wusstsein verfügen müssen. Das Überlegensgeschehen läuft bewusst
ab. Und es ist auf ein bewusstes Ziel gerichtet, das Ziel muss im
Überlegen als dessen Bezugspunkt präsent sein. Der Schimpanse
muss, während er auf dem Tisch sitzt, sich in Ruhe am Kopf kratzt
und auf die Kisten schaut, auch die Bananen und, dass er sie haben
will, präsent haben. Dies, obwohl er die Bananen, solange er auf
die Kisten schaut, nicht sieht. Es gibt also ein zusammenhängendes
Bewusstseinsfeld, in dem verschiedene Dinge präsent sind und auf­
einan­der bezogen werden können.
(v) Das mentale Geschehen des Überlegens hat das Merkmal der
Subjektivität. Das heißt, das Lebewesen, das die Überlegung anstellt,
hat einen exklusiven Zugang »von innen« zu diesem Geschehen. Von
außen, aus der Perspektive der 3. Person ist das Überlegungsgesche-
hen in dieser Form für niemanden zugänglich. Selbst wenn man
wüsste, welches neuronale Geschehen einer Überlegung und jedem
ihrer Schritte entspricht und man dieses Geschehen aus der Perspek-
tive der 3. Person vor Augen hätte, selbst wenn man also aus die-
ser Perspektive wüsste, was jemand überlegt, erlebt man doch nicht
das mentale Geschehen und das, was auf der mentalen Bühne des
Überlegens passiert. Dies erlebt nur der, der überlegt. Es besteht also
eine Asymmetrie zwischen der eigenen Perspektive und der anderer.
(vi) Das Überlegen ist, so habe ich gesagt, ein Tätigsein vor dem
Tätigsein. Das bedeutet, dass die Handlung, zu der es schließlich
kommt, auf etwas zurückgeht, was der Handelnde zuvor getan hat.
Die Handlung und, dass es gerade diese Handlung ist, die getan
wird, geht auf eine vorgeschaltete Aktivität des Handelnden selbst
zurück. Dadurch gewinnt die Handlung das Merkmal der Eigen-
heit: es ist seine Handlung, sie geht auf ihn zurück. Der Handelnde
ist in diesem Sinne der Autor der Handlung. Die Handlungen eines

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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 31

Lebewesens, das nicht überlegt, sondern auf einen Reiz reagiert, ha-
ben diese Qualität des Eigenen nicht. Gewiss, das Fliegen-Fangen
des Frosches ist etwas, was der Frosch tut, und in diesem Sinne
seine Handlung. Aber sie ist nicht eigen dadurch, dass der Frosch
sie durch eine eigene mentale Aktivität vorbereitet hat.
Dieser Unterschied ist für die Menschen und ihr Selbstverständ-
nis von großer Bedeutung. Wir sind nicht nur Wesen, die etwas
tun, wir sind – in dem erläuterten Sinne – die Autoren dessen, was
wir tun. Mit einem etwas anderen Akzent könnte man auch sagen:
Unsere Handlungen sind durch uns selbst bestimmt, durch unser
Überlegen. Der Ort der Handlungssteuerung liegt bei uns, in ei-
ner Tätigkeit, die wir selbst vollziehen, nicht in einem genetischen
Programm, das am eigenen Kopf vorbei, ohne jedes eigene Zutun,
bestimmt, was man tut.
Es ist vielleicht angebracht, noch eine – siebte – Bemerkung an-
zufügen. Wenn es richtig ist, dass Schimpansen und damit nicht-
menschliche Lebewesen überlegen können, bedeutet das, dass das
Überlegen-Können nicht das Sprechen-Können voraussetzt. Das
Gegenteil ist in der Philosophie des 20. Jahrhunderts oft behaup-
tet worden. Es ist allerdings ein Charakteristikum der Philosophie
dieser Zeit, die Bedeutung der Sprache massiv überschätzt zu ha-
ben. Viele mentale Fähigkeiten, die auch Tieren zuzusprechen wir
allen Grund haben, wegen ihres Verhaltens und wegen der Konti-
nuität in der neuronalen Ausstattung, wurden als sprachabhängig
beschrieben. Es liegt nahe, zu vermuten, dass sich auch die Vor-
stellung, Überlegen-Können setze Sprechen-Können voraus, dieser
Obsession verdankt.9 Im jetzigen Kontext lässt sich jedenfalls sagen,
dass das An-die-Bananen-herankommen-Wollen des Schimpansen
Sultan offenkundig keine Sprache voraussetzt. Und auch die imagi-
native Assoziation von Handlungen und ihren Konsequenzen, wie
sie für jeden Gebrauch von Werkzeugen und Hilfsmitteln nötig ist,
scheint etwas zu sein, zu dem Schimpansen in der Lage sind und
wofür folglich kein Sprechen-Können nötig ist. Auch die anderen
genannten Merkmale des Überlegens: Gedächtnis, ein begrenzter
Zukunftsbezug, Bewusstsein, Subjektivität und Eigenheit des Han-
delns setzen nicht die Fähigkeit zu sprechen voraus. Die Sprache
kommt, wie es scheint, erst ins Spiel, wenn das Wollen und Über­

9 Vgl. zu diesen Fragen das wichtige Buch von T. Burge: Origins of Objec-
tivity (Oxford 2010).

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32 Teil I: Überlegen und Wollen

legen sich auf Inhalte richten, die nicht-sprachliche Lebewesen nicht


haben können. Dazu später mehr.

4. Wir haben uns bisher ausschließlich an einer besonders elemen-


taren Form des Überlegens orientiert, an Situationen, in denen man
etwas will und dann überlegt, was man tun muss, um das Gewollte
zu erreichen. Komplizierter wird es, wenn man es nicht mit einem
Wunsch zu tun hat, sondern mit mehreren.10 So wenn es, anders
als in den bisherigen Beispielen unterstellt, nicht nur eine, sondern
mehrere Handlungen gibt, durch die man das Gewollte erreichen
kann. Wenn ich von Zürich nach London reisen will, gibt es ver-
schiedene Möglichkeiten: Flug, Zug und Eurostar von Paris, Auto
und Autofähre. Welche dieser Varianten ziehe ich vor? Das ent-
scheidet sich an weiteren Wünschen. Wenn ich nicht gerne fliege
und deshalb nicht fliegen will, scheidet diese Möglichkeit schon aus,
und genauso fällt die Entscheidung zwischen den verbleibenden Op-
tionen anhand weiterer Wünsche. In einem Fall wie diesem muss
man mehrere Wünsche berücksichtigen, aber diese Wünsche stehen
nicht in Konflikt zueinander. Das ist anders, wenn es nur ein Mittel
zu einem Ziel gibt und man dieses Mittel nicht will. So, wenn man
sich, um seine Rückenschmerzen los zu werden, einer Operation
unterziehen muss, die Operation aber nicht will, weil sie mit Risiken
behaftet ist. Das eine Wollen geht auf das Loswerden der Schmerzen,
das andere auf die notwendige Operation mit ihren Risiken. In die-
sem Fall konkurrieren beide Wünsche offensichtlich, und deshalb
muss man überlegen, was einem wichtiger ist. Was will man mehr,
das Loswerden der Schmerzen oder das Vermeiden der Risiken? In
dieser Überlegung geht es nicht um das Finden und Auswählen von
Handlungsoptionen, sondern um die Koordination mehrerer Wün-
sche. Welches Wollen überwiegt das andere, welches muss zuguns-
ten des anderen zurückstehen?
Mit der Konkurrenz des Wollens haben wir nicht nur in solchen
Mittel-Zweck-Bezügen zu tun, sondern ganz generell, einfach weil
es viele Dinge sind, die wir wollen. So will man Weihnachten wie
jedes Jahr seine Eltern besuchen, man würde aber auch gerne die

10 Wenn ich hier und im Folgenden von »Wunsch« (oder »Wünschen«) spre-
che, gebrauche ich das Wort nur als Ersatz für das im Deutschen fehlende
Substantiv zu »wollen«. Damit ist also keine Unterscheidung von wollen
und wünschen intendiert.

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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 33

­ fferte von Freunden annehmen und mit ihnen verreisen. Wenn


O
nicht ohne weiteres klar ist, was einem wichtiger ist, muss man über-
legen, was man mehr will. Das Überlegen hat in diesem Fall erneut
die Aufgabe, das Wollen nach wichtiger und weniger wichtig zu ord-
nen. Am Ende steht dann vielleicht, dass es einem wichtiger ist, die
Eltern zu besuchen, und dieses Wollen wird dann handlungsleitend.
Die Koordination und Gewichtung des Wollens ist, wie sich zeigt,
eine zweite Aufgabe des Überlegens. Damit zeigt sich auch, dass es
keineswegs richtig ist, das Überlegen ausschließlich als »trial and
error in thought« zu bestimmen. Das stimmt nur für einen Teil des
Überlegens. Auf die Frage, anhand wovon das koordinative Über-
legen zu seinen Ergebnissen kommt, was die Ressource ist, aus der
es schöpft, werde ich erst später (in § 9) kommen. Offen bleibt hier
zunächst auch noch die Frage, ob alle Lebewesen, die fähig sind,
zu überlegen, auch in der Lage sind, koordinativ zu überlegen und
Wünsche gegeneinander abzuwägen. Oder ob nicht-menschliche
Lebe­wesen mehr oder weniger auf rudimentäre instrumentelle
Überlegungen beschränkt sind.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass es für die Situ-
ationen, in denen ein Lebewesen mehrere Wünsche hat und sie ko-
ordinieren muss, durchaus ein Analogon bei Lebewesen gibt, die in
starren Reiz-Reaktionsmechanismen leben. Lebewesen dieser Art
können gleichzeitig zwei Reizen ausgesetzt sein, etwa einem Nah-
rungsimpuls und einem Fluchtimpuls. Welcher Impuls sich durch-
setzt und das Verhalten bestimmt, ist, wie es scheint, ebenfalls gene-
tisch festgeschrieben.11 Offenkundig tritt auch an diesem Punkt das
Überlegen an die Stelle des genetischen Programms.
Wir haben jetzt ein erstes, noch sehr skizzenhaftes Bild davon,
wie Lebewesen funktionieren, die ihr Verhalten, zumindest zum Teil,
durch eigenes Überlegen und durch eigenes Wollen steuern. Und
wir haben auch einen ersten Eindruck davon, wie ein Geist, der dies
zu leisten vermag, beschaffen ist und zu welchen sonstigen Leis-
tungen er imstande sein muss. Im nächsten Kapitel möchte ich das
Bild durch einige Bemerkungen zum Wollen und seiner Geschichte
weiter vervollständigen.

11 Vgl. hierzu N. Tinbergen: The Study of Instinct (Oxford 1951) 111;


dt. Instinktlehre (Hamburg 1966) 104.

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§ 2 Die Genese des Wollens

1. Mit dem Wollen ist etwas völlig Neues in die Welt gekommen:
eine Handlungssteuerung, die durch einen Ausgriff auf die Zukunft
geleitet wird. Alles Wollen geht auf etwas Zukünftiges. Auch im
Falle des Schimpansen Sultan, der die Bananen vor sich sieht, geht
das Wollen auf das zukünftige Erreichen und Fressen der Früchte.
Die Zukunft ist hier sehr klein, sie klebt gewissermaßen noch an
der Gegenwart. Die Menschen haben diese Bindung der Zukunft an
­etwas Gegenwärtiges hinter sich gelassen. Sie können morgen etwas
essen wollen, was sie jetzt nicht vor Augen haben – Schimpansen
können das offenbar nicht –, sie können etwas in sechs Monaten tun
oder erreicht haben wollen, – oder in sechs Jahren. Mit der Hand-
lungssteuerung durch ein Wollen löst sich ein Lebewesen aus der
gegenwärtigen Situation, es gewinnt etwas Bedeutung, was jenseits
der gegenwärtigen Situation, eben in der Zukunft liegt. Das Wollen
zieht die Zukunft als handlungsrelevante Größe in die Gegenwart
hinein. Das ist ein Schritt mit immensen Folgen.
Ein Verhalten, das durch einen Stimulus ausgelöst wird, wird
durch etwas erklärt, was zeitlich vor dem Verhalten liegt. Das Ver-
halten wird »von hinten«, durch eine Ursache erklärt. Ein wollens-
geleitetes Handeln geschieht hingegen um eines Gewollten, um ei-
nes Zieles willen. Dieses Ziel liegt zeitlich nach dem Verhalten. Das
Verhalten wird jetzt »von vorne«, durch ein Ziel erklärt. Diese Kon-
trastierung, so richtig und eingängig sie ist, darf man freilich nicht
überstrapazieren. Natürlich ist das Wollen auch etwas »vor« dem
Handeln. Aber es ist, und darin liegt die Innovation, bezogen auf
etwas, was jenseits des Handelns in der Zukunft liegt.
Die außerordentliche Tragweite der Entstehung des Wollens zeigt
sich auch darin, dass mit ihm ein Motivator entsteht, der nicht nur
zum ersten Male Ziele und Zwecke in die Welt bringt, sondern auch
die Grundlage dafür ist, dass es Gründe, Werte, alle Formen des
Normativen, alle Formen des Gut- und Schlechtseins, alle Elemente
der artifiziellen und institutionellen Wirklichkeit gibt. Alle diese
Dinge sind in ihrer Ontologie wollensrelativ. Deshalb kann es sie in
einem Universum ohne Wollen nicht geben. Mit dem Wollen ent-
steht also die Existenzbedingung für eine Fülle neuer Dinge.
Angesichts der Bedeutung, die dem Aufkommen des Wollens zu-
kommt, ist es nützlich, sich noch einmal auf eine genealogische Spe-
kulation einzulassen und zu fragen: Wie ist das Wollen auf diesen

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§ 2 Die Genese des Wollens 35

Planeten gekommen? Wie und warum sind aus Lebewesen, die kein
Wollen kennen, Lebewesen entstanden, die etwas wollen? In allge-
meiner Form haben wir die Frage schon beantwortet. Ein Lebewe-
sen muss dafür, dass es weiterlebt und sich fortpflanzt, bestimmte
Dinge tun. Deshalb muss es so gebaut sein, dass es zu diesen Hand-
lungen, die für die Selbst- und Arterhaltung notwendig sind, fin-
det und auch motiviert ist, sie zu tun. Das Wollen ist eine Variante
des Motivators. Es erfüllt damit eine Funktion, die bei Lebewesen,
die durch Reiz-Reaktionsmechanismen gesteuert werden, der Reiz
erfüllt. Die motivationale Leistung des Wollens ist also funktional
äquivalent mit der Leistung anderer, primitiverer Motivatoren. Dies
ist gewissermaßen die »alte« Leistung, die es erbringt. Man muss hier
sehen, dass evolutionäre Innovationen grundsätzlich gefährlich sind.
Es steht immer die Überlebensfähigkeit der Individuen und der Art
auf dem Spiel. Wenn ein verhaltenssteuerndes Element ein anderes
ersetzt, kann das nur erfolgreich sein, wenn die Leistung, die das alte
Element erbrachte, genauso verlässlich auch nach der Veränderung
erbracht wird. Das Wollen muss also auch ein Motivator sein, der
die Lebewesen zu den »richtigen« Handlungen bewegt, zu denen,
die für die Selbst- und Arterhaltung notwendig sind. Hinzukom-
men muss dann eine »neue«, zusätzliche Leistung, das evolutionäre
Plus, das das Aufkommen des Wollens erklärt. Was ist diese neue
Leistung des Wollens? Wir haben es schon gesagt: Das Wollen rich-
tet sich nicht direkt auf bestimmte Handlungen, sondern auf Ziele,
und welche Handlungen zu diesen Zielen führen, kann das Lebewe-
sen situationssensitiv selbst herausfinden. Die motivationale Energie
wird dann vom Ziel an die jeweils gewählte Handlung weitergelei-
tet. Je weiter das Gewollte in der Zukunft liegt, umso mehr öffnet
sich der Raum für die Wahl der Mittel und damit für das Überlegen.
Und damit für ein situationsgerechtes Agieren in den verschiedens-
ten Umständen. Offensichtlich besteht die »neue« Leistung, die das
Wollen als Motivator erbringt, in einem enormen Zuwachs an Ver-
haltensflexibilität. Und dadurch verbessern sich für die Lebewesen,
die über diesen Motivator verfügen, die Chancen, zu überleben und
Nachwuchs zu haben.

2. Wie also können wir uns die Genese des Wollens vorstellen? Bei
Wesen, die durch Reiz-Reaktionsmechanismen funktionieren, kann
die starre Koppelung von Reiz und Reaktion, wie schon erwähnt,
durchaus flexibilisiert werden, zum Beispiel so, dass die Reaktion

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36 Teil I: Überlegen und Wollen

durch einen inneren Zustand der Lebewesen konditioniert wird.


Wenn ein Lebewesen Nahrung braucht, reagiert es auf einen Nah-
rungsreiz, wenn es keine Nahrung braucht, reagiert es nicht. Der
Mangelzustand muss nicht bewusst sein. Es gibt ihn einfach, und das
schafft die Disposition, auf einen entsprechenden Reiz zu reagieren.
Oder er löst ein »Such«verhalten aus: Das Lebewesen bewegt sich
und vergrößert so die Wahrscheinlichkeit, auf einen Nahrungsreiz
zu stoßen. Diese Art der Handlungssteuerung verbleibt jedoch trotz
der erreichten Flexibilisierung vollständig innerhalb des geistlosen
Reiz-Reaktions-Schemas, sie läuft auch in ihrer modifizierten Form
völlig am Kopf der Lebewesen vorbei.
Das ändert sich, wenn – in einem ersten bedeutenden Schritt –
die inneren Mangelzustände bewusst werden, in der Form, dass mit
ihnen eine Empfindung des Unangenehmen einhergeht. Der Nah-
rungsmangel verursacht jetzt ein unangenehmes Gefühl. Genauso
werden ein Mangel an Flüssigkeit und Schmerzen als unangenehm
empfunden. Solche Empfindungen des Unangenehmen sind Mo-
tivatoren, mit ihnen beginnt eine Bewegung. Sie motivieren dazu,
etwas zu tun, was den unangenehmen Zustand beendet. Zustände
des Unangenehmen und, wenn auch sie auf der Bühne erscheinen,
des Angenehmen sind keine neutralen Zustände. Das Unangenehme
stößt ab, das Angenehme zieht an. Zu einem unangenehmen Zustand
gehört der Impuls »Nicht weiter so; weg aus diesem Zustand!«, zu
einem angenehmen Zustand der Impuls »Weiter so; weiter in die-
sem Zustand!«. Etwas Unangenehmes ist, so kann man sagen, ein
Repulsor, etwas Angenehmes ein Attraktor.
Unangenehm kann etwas nur dadurch sein, dass es als unange-
nehm empfunden wird. Ohne diese subjektive, mentale Komponente
gibt es nichts Unangenehmes, nichts Angenehmes, keine Repulsoren
und Attraktoren. Die Welt, wie sie unabhängig vom Geist der Men-
schen und dem anderer Lebewesen ist, kennt nichts Unangenehmes
und Angenehmes. Sie ist in dieser Hinsicht indifferent. Ein nied-
riges Glucoseniveau im Blut eines Lebewesens, das sich aus einem
Mangel an Nahrung ergibt, hat nicht intrinsisch die Eigenschaft des
Unangenehmen. Dieser Zustand ist nur deshalb unangenehm, weil
das Lebewesen ihn als unangenehm empfindet. Das Angenehme und
Unangenehme sind also Teil der geistabhängigen Realität. Sie haben
eine subjektive Ontologie. Attraktoren und Repulsoren und die mit
ihnen einhergehende Art der Motivation kann es folglich nur geben,
wenn es einen Geist gibt, der zu diesen Empfindungen in der Lage ist.

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§ 2 Die Genese des Wollens 37

Jedenfalls sind die Empfindungen des Unangenehmen und Ange-


nehmen als Teil der mentalen Innenwelt mentale Motivatoren. Die
äußeren Reize lösen Handlungen aus, aber sie sind keine mentalen
Motivatoren. Unbewusste Mangelzustände lösen wahrscheinlich
ebenfalls Handlungen aus, aber auch sie sind keine mentalen Mo-
tivatoren. Mit den Empfindungen des Unangenehmen und Ange-
nehmen kommt die Motivation hingegen auf der mentalen Ebene
an. Die Handlungssteuerung läuft jetzt erstmals durch den Kopf der
Lebewesen hindurch.
Mit den Empfindungen des Unangenehmen, bleiben wir zunächst
bei ihnen, schafft die Natur Motivatoren, die wie ihre Vorläufer kei-
nerlei kognitive Anforderungen stellen. Sie funktionieren unabhän-
gig davon, dass das jeweilige Lebewesen seine Situation versteht. Es
muss nichts von dem Mangelzustand wissen, in dem es sich befin-
det, es muss nicht wissen, dass ein solcher Zustand das Gefühl des
Unangenehmen verursacht, es muss auch nicht wissen, dass es Zeit
ist, Nahrung aufzunehmen. Für den motivationalen Effekt reicht
es vollkommen aus, zu spüren, dass man in einem unangenehmen
Zustand ist. Das treibt einen zu einer Veränderung.
Von etwas abgestoßen zu werden, gibt dem Sich-weg-Bewegen
allerdings noch keine Richtung. Der angestoßenen Bewegung fehlt
ein Wohin. Man kann sich durchaus Lebewesen denken, die durch
den repulsiven Impuls nur dazu gebracht werden, mit irgendwel-
chen Bewegungen zu reagieren, – so lange, bis sie zufällig etwas tun,
was den unangenehmen Zustand beendet. Dies wäre ein blindes Pro-
bieren, für das »Suchen« genau genommen schon eine zu anspruchs-
volle Beschreibung wäre. Ein solches Lebewesen handelte ohne Ziel,
ihm fehlte eine Vorstellung von einem Wohin, und deshalb würde
man zögern, ihm bereits ein Wollen zuzusprechen.1
Wenn es Lebewesen dieser Art gab oder gibt, können sie nur in
für sie sehr günstigen Umständen leben, nämlich dort, wo sie durch

1 Ähnlich K. Sterelny: Situated Agency and the Descent of Desire (1999),


in: K. S.: The Evolution of Agency and Other Essays (Cambridge 2001) 241–
259, 249 ff. – Man kann dem entgegenhalten, wo unangenehme und ange-
nehme Empfindungen, da auch ein Wollen. So haben es viele Philosophen
gesagt. Und ich werde es selbst in einem späteren Kapitel sagen. Aber ich
blicke dort nicht auf die (tatsächlichen oder nur imaginierten) Lebewesen,
von denen jetzt die Rede ist, sondern auf Wesen, die unzweifelhaft die Fä-
higkeit zum Wollen haben und die unzweifelhaft ein Zukunftsbewusstsein
haben, die also nicht nur auf etwas Gegenwärtiges negativ reagieren, deren
Wollen sich vielmehr auf etwas Zukünftiges richtet.

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38 Teil I: Überlegen und Wollen

blindes Probieren relativ schnell auf Nahrung stoßen. Sollte sich die
Umwelt zum Schlechteren verändern und weniger Nahrung bieten,
hätten sie kaum Chancen, zu überleben. Ihr Design verlangt gera-
dezu nach einer Veränderung.
Zu einer solchen Veränderung – dem zweiten, nicht minder be-
deutenden Schritt – kommt es, wenn die Lebewesen nicht nur von
dem gegenwärtigen Zustand, in dem sie sind, abgestoßen werden,
sondern auch durch einen zukünftigen Zustand angezogen werden.
Wir können zwei Varianten unterscheiden. In der einen probieren
die Lebewesen, die in einem auf Grund von Nahrungsmangel un-
angenehmen Zustand sind, verschiedene Handlungen, und einige
davon, solche der Nahrungsaufnahme, haben den Effekt, dass das
unangenehme Gefühl verschwindet. Die Lebewesen vermögen das
zu registrieren und eine Assoziation zwischen der Aufnahme der
Nahrung und dem Verschwinden des unangenehmen Gefühls auf-
zubauen. Das wird sie dahin bringen, jedes Mal, wenn sie dieses Ge-
fühl haben, etwas zu fressen oder nach etwas Fressbarem zu suchen.
Das Sich-weg-Bewegen bekommt auf diese Weise eine Richtung, die
Lebewesen haben jetzt ein Ziel. Wobei das Fressen in diesem Fall
nicht selbst angenehm ist, es bewirkt nur, dass etwas Unangeneh-
mes verschwindet. Dadurch liegt allerdings schon ein Schimmer des
Angenehmen auf ihm.
In der anderen Variante macht der Ingenieur die Handlungen, die
nötig sind dafür, dass der unangenehme Zustand und der dahinter
liegende Mangelzustand verschwinden, selbst angenehm, zumindest
so lange, wie die negativen Zustände bestehen. Die nötigen Hand-
lungen werden attraktiv gemacht, und auf diese Weise werden die
Lebewesen dahin gebracht, diese Handlungen zu tun.
Mit diesen beiden Varianten entsteht eine Handlungssteuerung
»von vorne«: die Lebewesen haben ein Ziel, sie werden von einem
Zustand abgestoßen, aber sie werden auch angezogen von einem
Zustand, der eintritt, wenn sie bestimmte Dinge tun. Ihr Sich-weg-
Bewegen hat jetzt ein Wohin. Und deshalb spricht nun nichts mehr
dagegen, von einem Wollen zu sprechen. Diese Lebewesen wollen
etwas. Das Wollen geht auf das Angenehme, und die Lebewesen
handeln, wie sie handeln, weil sie etwas Angenehmes in der Zukunft
erreichen wollen. Hier also liegt der Anfang des Wollens.
Unangenehme Mangelzustände oder Schmerzempfindungen sind
mentale Zustände, aber sie haben keinen intentionalen Gehalt, sie
gehen nicht auf etwas. Etwas zu wollen, ist hingegen ein intentiona-

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§ 2 Die Genese des Wollens 39

ler Zustand, das Wollen geht auf etwas, es hat einen Gegenstand. Das
Wollen ist also ein zweiter und andersartiger mentaler Zustand ne-
ben dem Unangenehm- und Angenehmsein. Die Motivation erreicht
deshalb mit dem Wollen nicht nur die mentale Ebene, sie kommt mit
dem Wollen auf der intentionalen Ebene an. Mit dem Wollen ent-
steht etwas Neues: eine intentionale Handlungssteuerung.
Wenn die Lebewesen von einem zukünftigen angenehmen Zu-
stand angezogen werden, der nicht nur aus dem Kontrast, sondern
»richtig« angenehm ist, werden sie nicht durch einen Motivator, son-
dern durch zwei bewegt. Sie werden von einem gegenwärtigen un-
angenehmen Zustand abgestoßen und zudem von einem zukünfti-
gen angenehmen Zustand angezogen. Ist dieser zweite Motivator
aber erst einmal im Spiel, wird der erste, so könnte man vermuten,
überflüssig. Wenn, die nötige Nahrung aufzunehmen, selbst ange-
nehm ist, wofür bedarf es dann noch des mit dem Mangelzustand
gegebenen unangenehmen Gefühls? Das braucht man, so scheint
es, zur Handlungssteuerung nicht mehr. Das Angenehme, das das
Wollen anzieht und auf sich ausrichtet, scheint als Motivator auszu-
reichen. Tatsächlich führt das Zusammenkommen von Abstoßung
und Anziehung allerdings wohl nur selten zu einer Verdoppelung
der Motiva­tion, es entsteht eher ein komplexes Zusammenspiel.
Außerdem sind keineswegs immer beide Motivatoren im Spiel. Bei
Schmerzen ist es nicht so, dass die Handlungen und Verhaltens-
weisen, die der Wiederherstellung der Gesundheit dienen, an sich
angenehm wären und die Lebewesen von sich aus dazu brächten,
sie zu tun. Man tut sie, weil sie, wie man gelernt hat, die unange-
nehmen Schmerzen beenden. Der entscheidende Motivator bleiben
ohne Zweifel die Schmerzen, und davon, dass sie überflüssig würden,
kann keine Rede sein.
Es ist also richtig, dass auch nach dem Aufkommen des Wollens
unangenehme Zustände wie Hunger, Durst und Schmerzen als Mo-
tivatoren erhalten bleiben und offenkundig nach wie vor eine wich-
tige Funktion in der motivationalen Energetik haben. Und dennoch:
Mit dem Aufkommen des Wollens eröffnet sich die Möglichkeit,
dass das Wollen, das Aussein auf etwas Angenehmes allein zum
Handeln motiviert. Es muss nicht die Abstoßung durch einen gegen-
wärtigen unangenehmen Zustand hinzukommen. In dieser Verselb-
ständigung des Wollens besteht der dritte Schritt. Mit ihm entstehen
völlig neue Möglichkeiten. Die Motivation kann sich jetzt ganz aus
der Gegenwart lösen, sie kann, unabhängig von gegenwärtigen Rei-

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40 Teil I: Überlegen und Wollen

zen und unabhängig von gegenwärtigen inneren Zuständen, allein


aus dem Aussein auf etwas Angenehmes in der Zukunft kommen,
oder auch aus dem Vermeiden-Wollen von etwas Unangenehmem in
der Zukunft. Was das bedeutet, werde ich erst im nächsten Kapitel
entwickeln. Mit der Ablösung von den gegenwärtigen repulsiven
Impulsen entsteht ein riesiges Feld möglicher Gegenstände des Wol-
lens. Die Lebewesen, die ihr Verhalten intentional durch ein Wol-
len steuern, können in allen Bereichen des Lebens Erfahrungen des
Angenehmen und Unangenehmen machen, und alle diese Erfahrun-
gen können, in die Zukunft gespiegelt, zur Grundlage eines Wollens
werden. Auch dieser Schritt, die Verselbständigung der Motivation
»von vorne«, ist, wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird, von
immenser Bedeutung.
Das jetzt erreichte Bild von der Genese des Wollens lässt erken-
nen, dass verschiedene Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit
es Lebewesen geben kann, die etwas wollen. Ich will zwei von ihnen
noch einmal herausheben. Es muss erstens Attraktoren und Repul-
soren geben, also Gegenstände, auf die sich das Wollen (oder Nicht-
Wollen) richtet. Eine völlig indifferente Welt böte dem Wollen keine
Gegenstände, da wäre nichts, worauf es sich richten könnte. Die
Attraktoren und Repulsoren sind das Angenehme und das Unange-
nehme, und damit es das gibt, muss es, wie wir sahen, Lebewesen ge-
ben, die so viel Geist haben, dass sie zu Empfindungen des Angeneh-
men und Unangenehmen in der Lage sind. Das Wollen setzt somit
bereits ontologisch subjektive, geistabhängige Phänomene voraus.
Eine zweite Voraussetzung liegt darin, dass die Lebewesen, die
etwas wollen, in der Lage sein müssen, zu lernen. Sie machen die
Erfahrung, dass etwas, was sie tun, angenehm oder unangenehm ist,
und sie müssen diese Erfahrung festhalten und speichern können.
Aber nicht nur als etwas, was war, als tote Vergangenheit, sondern als
etwas, was in Zukunft wieder sein kann. Nur so können sie sich auf
etwas zukünftiges Angenehmes beziehen. Sie müssen Vergangenes
in die Zukunft spiegeln können. Die Zukunft, auf die man sich im
Wollen bezieht, muss einen Inhalt haben, und dieser Inhalt kann nur
aus der Erinnerung kommen. Die Fähigkeit, zu lernen und etwas zu
erinnern, macht die intentionale Ausrichtung des Wollens auf etwas
Zukünftiges erst möglich.

3. Das Wollen geht, so hat sich gezeigt, auf das Angenehme und
Unangenehme. Es ist in seiner Ausrichtung gebunden, es ist auf be-

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§ 2 Die Genese des Wollens 41

stimmte Ziele fixiert. Es ist also nicht den Lebewesen überlassen,


wohin sie das Wollen richten. Diese Bindung des Wollens hat offen-
sichtlich ihren guten Sinn. Ich hatte bereits gesagt, eine evolutionäre
Neuerung sei immer riskant. Wenn sie nicht auch die »alte« Leistung
des Vorgängerdesigns erbringt, sind die Lebewesen zum Aussterben
verdammt. Wenn das Wollen statt der Reiz-Reaktionsmechanismen
das Verhalten bestimmt, hängt für die betreffenden Lebewesen ­alles
davon ab, dass es zu den Handlungen führt, die nötig sind dafür, dass
sie überleben und sich reproduzieren können. Alles hängt folglich
davon ab, dass das Wollen die richtigen Ziele hat und die Lebewesen
in der Verfolgung dieser Ziele das Richtige tun. Um das zu sichern,
müssen die Handlungen, auf die es ankommt, die, die notwendig
sind, und die, die unbedingt zu vermeiden sind, für das Wollen mar-
kiert werden und attraktiv bzw. repulsiv gemacht werden. Dies ge-
schieht dadurch, dass sie angenehm und unangenehm sind. So ist
das Wollen die Brücke zum Angenehmen und Unangenehmen, und
was die Lebewesen tun, hängt davon ab, was ihnen angenehm und
unangenehm ist.
Was ihnen angenehm und unangenehm ist, bestimmen sie nicht
selbst, das finden sie vielmehr vor, das entdecken und lernen sie.
Also muss die Natur die Lebewesen so ausstatten, dass sie genau
die richtigen Dinge angenehm und unangenehm finden. Und wenn
man die personalisierende Rede von der Natur und dem Ausstatten
beiseite lässt, kann man sagen: Im Gang der Evolution sind Lebe-
wesen mit einem Genpool entstanden, der sicherstellt, dass sie das
Richtige angenehm und unangenehm finden und die richtigen Ziele
haben. Lebewesen, die anders sind, kann es auf der Bühne des Le-
bens nicht geben. Die Gene bestimmen auf diesem Wege die Ziele,
und die Lebewesen müssen dann – situationsgerecht – selbst heraus-
finden, welche konkreten Handlungen zu ihnen führen.2
Was das Richtige ist, ist offenkundig durch den Bezug auf die
biologischen »Zwecke« der Selbst- und Arterhaltung bestimmt. An-
genehm und unangenehm müssen die Dinge sein, die dem Weiter-
leben und der Fortpflanzung dienlich und schädlich sind. Und es
ist leicht zu sehen, dass die Formen des Angenehmen und Unange-
nehmen, die uns als erstes als basal und prototypisch einfallen, auf
offensichtliche Weise mit den biologischen Zwecken zusammenhän-
gen. Nahrung zu sich zu nehmen, ist angenehm, zu trinken, ist an-

2 Vgl. hierzu wiederum Rolls, Emotion Explained, 25, 37, 41, 61.

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42 Teil I: Überlegen und Wollen

genehm, sexuelle Aktivitäten sind für viele Lebewesen angenehm,


Schmerzen sind unangenehm, Angst vor Feinden oder sonstigen
Gefahren ist unangenehm, zu hohe und zu niedrige Temperaturen
sind unangenehm.
Es bleibt also – notwendigerweise – bei der Ausrichtung auf die
biologischen Zwecke. Und es bleibt damit auch dabei, dass diese
Lebe­wesen in Dafür-dass-Strukturen leben. Sie müssen davon nichts
wissen. Sie finden Dinge, die süß schmecken, angenehm und streben
danach. Sie müssen aber nicht wissen, dass süße Nahrung kalorien-
reich und deshalb besonders nahrhaft ist. Sie finden Sex angenehm,
müssen aber nicht wissen, dass das dem Entstehen von Nachkom-
men dient. Der Zusammenhang der Nahziele mit den Endzielen des
Weiterlebens und der Fortpflanzung kann, muss aber nicht bewusst
sein. Die intentionale Handlungssteuerung ist davon unabhängig,
sie kennt Ziele, sie geht auf Ziele, aber nicht notwendigerweise auf
die letzten Ziele.

4. Natürlich gehören auch die Menschen zu den Lebewesen, die ihr


Verhalten über ein Wollen steuern. Es drängt sich deshalb die Frage
auf, ob auch das menschliche Wollen auf das Angenehme und Un-
angenehme festgelegt ist, – oder ob es bei den Menschen anders ist.
Lässt man sich vom Faktum der evolutionären Kontinuität leiten
und von der Einsicht, dass die Prinzipien der menschlichen Hand-
lungssteuerung, wie immer sie beschaffen sein mögen, in jedem Fall
eine evolutionäre Vorgeschichte haben, kann man zunächst von der
Arbeitshypothese ausgehen, dass es bei den Menschen auch so ist,
wenngleich mit erheblichen Modifikationen. Die Aufgabe ist dann,
darzulegen, worin genau diese Modifikationen bestehen. Darum
wird es in den folgenden Kapiteln gehen.
Schon jetzt bedarf es allerdings einer wichtigen Ergänzung. Wenn
wir davon ausgehen, dass auch das menschliche Wollen auf das An-
genehme und Unangenehme festgelegt ist, stimmt das jedenfalls
nicht ganz, es stimmt allenfalls für den größten Teil des mensch-
lichen Wollens. Denn die Menschen haben, wie es scheint, gerade
da, wo es unmittelbar um die Selbst- und Arterhaltung geht, eine
kleine Zahl von besonders elementaren Wünschen, die direkt auf
bestimmte Ziele fixiert sind und das Gewollte nicht anzielen, weil es
etwas Angenehmes ist. Diese Wünsche bringen ihre Ziele gewisser-
maßen mit, die Menschen müssen nicht erst lernen, dass etwas an-
genehm oder unangenehm ist. Ich nenne, bevor ich später ausführ-

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§ 2 Die Genese des Wollens 43

licher auf diese Wünsche eingehe3, zwei Beispiele. Die Menschen


wollen weiterleben, sie wollen ihre Existenz bewahren, und sie sind
am Wohl ihrer Kinder interessiert. Beide Wünsche sind sehr stark.
Aber die Menschen wollen nicht weiterleben, weil sie gelernt haben,
dass das angenehm ist, und das Wollen dem dann folgt. Sie wollen
es ganz unabhängig davon. Und sie wollen das Wohl ihrer Kinder
nicht, weil es angenehm ist, wenn es ihnen gut geht. Sie wollen es
instinktiv, ohne nach angenehm und unangenehm zu fragen. Ich
werde diese Art des Wollens »eingerammtes« Wollen nennen, es ist
den Menschen von Natur aus eingerammt, und sie haben nicht die
Möglichkeit, es abzuschütteln.
Bei nicht-menschlichen Lebewesen kommt die Motivation, sich
um den eigenen Nachwuchs zu sorgen, aus einer Serie von Reiz-
Reaktionsmechanismen. Auch das Verhalten in gefährlichen Situa-
tionen ist durch feste Reiz-Reaktionsmechanismen bestimmt. Wir
finden solche ererbten Mechanismen zweifellos auch bei den Men-
schen. Auch die Menschen reagieren fest verdrahtet auf Reize, die
ihre kleinen Kinder aussenden. Und genauso reagieren sie in Ge-
fahrensituationen mit festgelegten Verhaltensmustern. Sie reagieren,
nicht anders als die Tiere, mit Verhaltensweisen, die den Effekt der
Selbst- und Arterhaltung haben. Aber sie verstehen, was da vor sich
geht, und dadurch werden die Effekte dieser Mechanismen zu Zie-
len, zu Gegenständen des Wollens, so dass es möglich wird, jenseits
der starren Reaktionsmechanismen auch kraft eigener Überlegung
das zu tun, was nötig ist, um diese Ziele zu erreichen. Überdies an-
tizipieren die Menschen die Zukunft und sind deshalb nicht allein
darauf aus, im Moment weiterzuleben, sondern auch in Zukunft,
und sie sind nicht nur darauf aus, dass es ihren Kindern im Moment
gut geht, sondern auch in Zukunft. Ist die Zukunft in der Antizi-
pation mental präsent, ergibt sich von selbst, dass Wesen, die in der
Lage sind, etwas zu wollen, das Wollen in die Zukunft richten und
so das zukünftige Weiterleben und das zukünftige Wohl der Kinder
zum Gegenstand des Wollens wird. Die Reiz-Reaktionsmechanis-
men werden auf diese Weise durch einen intentionalen Motivator,
das Wollen, ergänzt. Dabei haben die Menschen nicht die Wahl, das
Weiterleben-Wollen und das Interesse am Wohl der Kinder auszu-
bilden oder es nicht zu tun. Dieses Wollen gehört zu ihrer Natur, ihr
Wollen ist auf diese Ziele festgelegt.

3 Siehe unten § 5, S. 105, 107–112.

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44 Teil I: Überlegen und Wollen

Wir müssen also annehmen, dass das menschliche Wollen zwei


Stämme kennt, es geht zum allergrößten Teil auf das Angenehme
und Unangenehme, und zu einem geringen Teil ist es direkt auf ein-
zelne Ziele festgelegt. Dies ist zumindest die Ausgangshypothese.
Man muss allerdings sehen, dass in der europäischen Tradition
seit der Antike andere Auffassungen dominieren. Aristoteles nahm
ebenso wie Kant an, dass Tiere so funktionieren, dass ihr Wollen
oder, wie Kant sagte, ihr Begehren auf das Angenehme und Un-
angenehme geht. Aber, so lehrten beide, für die Menschen gilt dies
gerade nicht. Sie funktionieren anders, ihr Wollen ist nicht, oder
nur zum Teil in dieser Weise gebunden. Wie ist es stattdessen? Es
gibt verschiedene Vorstellungen. Man kann annehmen, dass es ne-
ben dem Angenehmen und Unangenehmen noch andere Attrakto-
ren und Repulsoren gibt. Dann bliebe das Wollen offenbar in seiner
Ausrichtung fixiert, ginge aber auch auf andere Gegenstände. Eine
zweite Vorstellung besagt, dass das Wollen zwar vom Angenehmen
attrahiert werde, aber nicht in der Form, dass den Menschen über-
haupt kein Spielraum bleibe. Sie könnten zumindest entscheiden, ob
sie der Attraktion folgen oder nicht. Das Angenehme attrahiert, aber
es determiniert nicht, so die Idee. Was aber wäre die Ressource, die
es möglich macht, der Attraktion im einen Fall zu folgen, im ande-
ren hingegen nicht? Woran und wodurch würde sich das entschei-
den? Eine dritte Auffassung nimmt an, die Menschen seien fähig,
die Ausrichtung ihres Wollens ganz unabhängig vom Angenehmen
und Unangenehmen und möglichen anderen Attraktoren und Re-
pulsoren zu bestimmen. Aber was, so wiederum die Frage, ist die
andere Ressource, die einen in die Lage versetzt, unabhängig von der
Attrak­tivität und Repulsivität möglicher Gegenstände das Wollen zu
bestimmen? Was ist das für eine Kraft?
Ich werde diese alternativen Konzeptionen noch nicht sofort dis-
kutieren. Zunächst geht es darum, zu zeigen, dass die Weise, wie die
Menschen funktionieren, auf jeden Fall: selbst wenn wir den bisher
beschriebenen Rahmen nicht aufbrechen, vielmehr unterstellen, das
Wollen, zumindest sein allergrößter Teil, sei auch bei den Menschen
auf das Angenehme und Unangenehme festgelegt, ungleich kom-
plexer ist. Und was die Ursachen für diese Komplexität sind. Die
Geschichte des Wollens, die bisher erzählt wurde, ist nur die erste
Hälfte der Geschichte. Die weitere Geschichte hält noch sehr wich-
tige Ereignisse bereit.

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination

Das Wollen richtet sich, so haben wir gesehen, auf etwas Zukünfti-
ges. Ein Lebewesen, das sein Verhalten intentional durch ein Wol-
len steuert, zieht etwas Zukünftiges in die Gegenwart hinein und
macht es handlungsrelevant. Diese Öffnung zur Zukunft ist eine
bedeutende Innovation in der Geschichte des Lebens. Sie ist auch
deshalb so bedeutend, weil sie einen weiteren, äußerst folgenreichen
Schritt ermöglicht: die Entstehung eines im Prinzip unbegrenzten
Zukunftsbewusstseins. Ist die Tür zur Zukunft erst einmal geöffnet,
zunächst nicht mehr als einen kleinen Spalt weit, wird es möglich,
sie sehr viel weiter aufzumachen. Die Zukunft löst sich dann aus
der Bindung an etwas Gegenwärtiges und wird größer und grö-
ßer. Damit entsteht eine explosive Dynamik, aus der eine neue Art
des Lebens hervorgeht. Es verändert sich beinahe alles. Vor allem
entstehen komplexe Strukturen des Wollens und damit neue For-
men des Überlegens. Wer die weitere Geschichte des Wollens erzäh-
len will und aufhellen will, wie die Menschen ihr Verhalten steuern,
muss sich deshalb über ihren Zukunftsbezug, seine Voraussetzungen
und seine Konsequenzen klar werden. Das Entstehen des Zukunfts-
bewusstseins ist das Schlüsselereignis, aus dem sich die besondere
Form der menschlichen Existenz und einige der wichtigsten Diffe-
renzen, die uns von anderen Lebewesen unterscheiden, verstehen
lassen.

1. Das Zukunftsbewusstsein bei Tieren

Es scheint, als bewege sich die Fähigkeit, sich auf Zukünftiges zu


beziehen, bei den allermeisten Lebewesen, die diese Fähigkeit ha-
ben, in sehr engen Grenzen. Und als hätten allein die Menschen ein
Zukunftsbewusstsein, das diese Grenzen überschreitet. Der Schim-
panse Sultan bezieht sich ohne Zweifel auf etwas Zukünftiges, er will
die an der Decke befestigten Bananen herunterholen und fressen.
Auch die Zwischenschritte, die er schließlich tun wird – das Platzie-
ren der Kiste unter den Bananen, das Herbeiholen des Stocks, das
Besteigen der Kiste – sind, solange er auf dem Tisch sitzt und über-
legt, zukünftige Geschehnisse, die er prospektiv imaginiert. Aber
natürlich sind die Bananen Teil der Wahrnehmungssituation, Sultan
sieht sie an der Decke. Seine Zukunft klebt, so habe ich gesagt, an

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46 Teil I: Überlegen und Wollen

der Gegenwart und ist deshalb sehr klein. Er hat die Gegenwart um
nicht mehr als ein winziges Stück Zukunft erweitert. Die Wissen-
schaftler sind sich einig, dass ein Schimpanse nicht den Wunsch ha-
ben kann, am folgenden Tag Bananen zu fressen. Und dass er nicht
heute etwas tun kann, um für seinen morgigen Hunger vorzusorgen.
Den Hunger von morgen kennt er nicht, er agiert immer nur, weil
er jetzt Hunger hat. Schimpansen leben von der Hand in den Mund
und sind, was die Zukunft angeht, überraschend kurzsichtig.1
Köhler hat am Ende seines Buches über die Intelligenz von Men-
schenaffen bereits die Frage nach dem Zukunfts- und auch dem Ver-
gangenheitsbewusstsein der Schimpansen gestellt. Zunächst notiert
er, aus seinen Experimenten könne man nicht ersehen, »wieweit nach
rückwärts und vorwärts die Zeit reicht«, in der die Schimpansen le-
ben; er fügt dann aber hinzu: »Reichliches Zusammensein mit den
Schimpansen« lasse ihn vermuten, dass ihr Zeitbewusstsein »recht
enge Grenzen« habe und dass hierin und im Fehlen der Sprache »der
gewaltige Unterschied begründet ist, der ja immer noch zwischen
Anthropoiden und selbst den allerprimitivsten Menschen besteht.«2
Will man ein volleres Bild vom Zukunftsbezug nicht-menschli-
cher Lebewesen, ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, dass ihr
Verhalten häufig so aussieht, als sei es von einem Zukunftsbewusst-
sein gesteuert, dies tatsächlich aber nicht so ist. Für viele Lebewe-
sen gibt es zukünftige Gefahren, für deren Abwehr es zu spät ist,
wenn sie erst einmal da sind. Um sie abzuwenden, müssen sie deshalb
schon im Vorhinein das Notwendige tun. Doch dafür bedarf es kei-
nes Zukunftsbewusstseins. Eichhörnchen zum Beispiel müssen im
Herbst beginnen, Nahrungsvorräte für den Winter anzulegen, und
sie tun es. Aber sie tun es nicht, weil sie den Nahrungsmangel im
Winter voraussehen, sondern weil sie auf einen Reiz reagieren, der
die Reaktion des Nahrungsammelns auslöst. Sobald die Tage kürzer
werden, wird ein Stoff, Melatonin, ausgeschüttet, und die Eichhörn-
chen beginnen mit ihrer Arbeit. Sie zeigen damit ein antizipatori-
sches Verhalten ohne Antizipation. Die Eichhörnchen wollen nichts,
und sie haben kein Zukunftsbewusstsein. Ihr Verhalten ist nicht das
Ergebnis eines vorausschauenden Plans. Sie handeln in einer Dafür-

1 Vgl. hierzu die Experimente, von denen W. A. Roberts berichtet: Are


Animals Stuck in Time? Psychological Bulletin 128 (2002) 473–489, 482.
2 Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, 192; vgl. auch den in
der 2. Auflage hinzugefügten Anhang, 195–202.

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 47

dass-Struktur, wissen aber nichts davon. Dass sie genau das tun, was
sie tun müssen, ist durch ihr genetisches Programm so festgeschrie-
ben, ganz ohne ihr Zutun. Ähnlich ist es bei Zugvögeln, die in den
Süden fliegen, um über den Winter zu kommen, oder bei Vögeln, die
für das spätere Ablegen der Eier Nester bauen. Auch in diesen Fällen
lösen Reize das notwendige Verhalten aus. Die Vögel haben nicht
den Wunsch, der zukünftigen Kälte zu entkommen. Auch hier gibt
es also ein zukunftsorientiertes Handeln ohne Zukunftsbewusstsein.
Der Zukunftsbezug geht am Kopf dieser Lebewesen vorbei. Bei Le-
bewesen mit einem Zukunftsbewusstsein geht er hingegen durch den
Kopf hindurch. Wir stoßen also auf die typische Entwicklung: Steu-
erungsmechanismen, die zunächst am Kopf der Lebewesen vorbei-
laufen, wandern nach und nach in den Kopf der Lebewesen hinein,
so dass es ihnen selbst zufällt, ihr Verhalten im Blick auf die Zukunft
zu steuern. Der Zukunftsbezug wird Teil des mentalen Geschehens,
und die Dafür-dass-Struktur wird zur Form des Überlegens. Sultan
zielt mit seinem Wollen auf etwas Zukünftiges, und er überlegt, was
er tun muss dafür, dass er das Gewollte erreicht.
Tiere, auch schon sehr einfache Tiere, haben innere Mechanismen,
die bewirken, dass ihr Verhalten an äußere zeitliche Rhythmen, vor
allem an den Tagesrhythmus, angepasst ist. So starten viele Tiere
täglich genau zur selben Zeit zur Suche nach Nahrung. Eine innere
Uhr spiegelt in ihnen den Tag-Nacht-Rhythmus und gibt zu einer
bestimmten Zeit den entsprechenden Handlungs­impuls. Diese zeit-
liche Steuerung ist angeboren, einprogrammiert, sie läuft ebenfalls
am Kopf der Lebewesen vorbei. Mit ihr ist auch die Fähigkeit ver-
bunden, Phasen innerhalb eines Zeitzyklus zu regis­trie­ren und zu
lernen, wann ein innerhalb des Zyklus stets zur selben Zeit wieder-
kehrendes Ereignis geschieht. Gibt man Ratten, Bienen oder Fischen
immer zur selben Tageszeit zu fressen, kommen sie zu dieser Zeit
und warten auf die Fütterung. Wird die Nahrung nicht alle vierund-
zwanzig, sondern alle fünfzehn Stunden gegeben, sind Bienen, und
vermutlich auch die anderen Tiere, hingegen nicht in der Lage, sich
auf diesen Rhythmus einzustellen. Es hängt am 24-Stundenrhyth-
mus, auf den die innere Uhr eingestellt ist. Man könnte sagen, die
Tiere, die täglich zur selben Zeit dahin kommen, wo es etwas zu
fressen gibt, zeigten damit ein antizipierendes Verhalten. Aber auch
in diesem Fall handelt es sich um ein solches Verhalten ohne Anti-
zipation, ohne ein Zukunftsbewusstsein. Das Zusammenspiel von
innerer Uhr und habitueller Erinnerung, diese findet sich ebenfalls

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48 Teil I: Überlegen und Wollen

schon bei sehr einfachen Lebewesen, erklärt die zeitliche Steuerung


ausreichend. Es bedarf dazu nicht der Annahme eines Zukunftsbe-
wusstseins.
Es ist eine verbreitete und auch sehr alte Vorstellung, dass Tiere
im Großen und Ganzen in der Gegenwart leben und ihr Zukunfts-
bewusstsein wie auch ihre Erinnerung daran, was in der Vergangen-
heit geschehen ist, sehr begrenzt sind. Sie leben auf einer Insel der
Gegenwart, und nur ein sehr kleiner Teil der Zukunft erscheint auf
ihrer mentalen Bühne. Es scheint, als sei dieses Bild zutreffend. Es
wird von den meisten, wenn auch nicht von allen heutigen Wissen-
schaftlern geteilt.3 Insbesondere wird herausgestellt, dass das Zu-
kunftsbewusstsein von Tieren, wie es sich zum Beispiel im Werk-
zeuggebrauch von Schimpansen zeigt, stets an ein gegenwärtiges
Wollen gebunden ist. Sultan weiß, wie gesagt, nichts von seinem
morgigen Hunger. Das ist nicht Teil der Zukunft, auf die er sich zu
beziehen vermag. Im Rückgriff auf die Schimpansen-Experimente
von Köhler haben vor allem N. Bischof und D. Bischof-Köhler be-
tont, dass das Zukunftsbewusstsein von Tieren an die gegenwär-
tige Motivationslage gebunden ist. »Kein Tier«, so schreibt Bischof,
»beschafft … in gesättigtem Zustande Nahrungsvorrat für künfti-
gen Hunger, sofern nicht, wie bei manchen Nagern und einigen Vö-
geln, einsichtsfreie Instinktketten dies erzwingen.«4 Th. Suddendorf
und M. C. Corballis haben diese Auffassung in einer Serie neuerer
­Arbeiten zu erhärten versucht.5

3 Vgl. hierzu Roberts, Are Animals Stuck in Time?; Th. R. Zentall: Animals
May Not Be Stuck in Time. Learning and Motivation 36 (2005) 208–225;
ders.: Mental Time Travel in Animals. Behavioral Processes 72 (2006) 173–
183; C. Hoerl: On Being Stuck in Time. Phenomenology and the Cognitive
Sciences 7 (2008) 485–500.
4 N. Bischof: Das Rätsel Ödipus (München 1985) 540. Siehe auch D. Bi-
schof-Köhler: Zur Phylogenese menschlicher Motivation, in: L. H. Eckens-
berger / E.-D. Lantermann (Hg.): Emotion und Reflexivität (Wien 1985)
3–47, 27 f. – Genauso auch R. G. Millikan: Varieties of Meaning (Cambridge,
Mass. 2004) 214; dt. Die Vielfalt der Bedeutung (Frankfurt 2008) 291: »Selbst
unsere wohlrespektierten und gründlich untersuchten Verwandten, die Affen
und Menschenaffen, scheinen ihre Motivationen gänzlich aus der Wahrneh-
mung der gegenwärtigen Situation zu beziehen … Kein nichtmenschliches
Tier, so wage ich zu vermuten, wird sich fragen, wo seine nächste Mahlzeit
herkommen wird, wenn es nicht bereits hungrig ist, ebenso, wie es sich nicht
fragen wird, wie es den nächsten Winter überstehen soll.«
5 Vgl. Th. Suddendorf / M. C. Corballis: Mental Time Travel and the Evo-

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 49

Wie immer die weiteren Experimente zu diesen Fragen auszu-


deuten sind, es scheint so zu sein, dass die Zukunft auch der uns
nächsten Tiere, der Menschenaffen, sehr begrenzt ist und dass die
Beschäftigung mit etwas Zukünftigem bei den allermeisten, wenn
nicht bei allen Tieren durch die momentane Motivationslage her-
vorgetrieben wird.6

2. Das Zukunftsbewusstsein der Menschen

Das Zukunftsbewusstsein der Menschen hat diese äußerst engen


Grenzen hinter sich gelassen. Die Zukunft, auf die sich die Men-
schen mental beziehen können, ist im Prinzip unbegrenzt. Ihr Zu-
kunftsbewusstsein hat deshalb eine vollkommen andere Dimension.
Die Menschen können antizipieren, was morgen geschehen wird, sie
können antizipieren, dass sie in drei Monaten dieses oder jenes tun
werden und dass in neun Monaten ein besonderes Ereignis ansteht.
Wenn die Schwelle zu einer Zukunft, die mehr ist als eine kleine Er-
weiterung der Gegenwart, einmal überschritten ist, gibt es offenbar
kein Halten mehr, der Zeithorizont kann immer weiter ausgedehnt
werden. Menschen können ihren eigenen Tod antizipieren und Ge-
schehnisse weit darüber hinaus, auch weit über das Lebensende ihrer
Kinder und Kindeskinder hinaus. Sie können wissen, dass radio­
aktive Elemente, mit denen sie umgehen, noch sehr lange, tausende
Jahre, strahlen werden. Und sie können wissen, dass die Sonne in
4 – 5 Milliarden Jahren ausgebrannt sein wird und dass es dann kein
Leben auf der Erde mehr geben wird. All dies können sie auf ihre
mentale Bühne ziehen, all dies können sie sich präsent machen, ob-

lution of the Human Mind. Genetic, Social, and General Psychology Mono­
graphs 123 (1997) 133–167; dies.: The Evolution of Foresight: What is Mental
Time Travel, and Is It Unique to Humans? Behavioral and Brain ­Sciences
30 (2007) 299–351; dies.: Behavioural Evidence for Mental Time Travel in
Nonhuman Animals. Behavioural Brain Research 215 (2010) 292–298. Siehe
auch Th. Suddendorf: The Gap. The Science of What Separates Us from
Other Animals (New York 2013) 103–111; dt. Der Unterschied (Berlin 2014)
143–154.
6 Besondere Aufmerksamkeit haben in diesem Zusammenhang die Busch-
häher auf sich gezogen, eine Vogelart, die zur Familie der Rabenvögel ge-
hört. Vgl. hierzu A. Dickinson: Goal-directed Behavior and Future Planning
in Animals, in: R. Menzel / J. Fischer (eds.): Animal Thinking (Cambridge,
Mass. 2011) 79–92.

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50 Teil I: Überlegen und Wollen

wohl es nicht Teil ihrer Wahrnehmungssituation ist und manches


davon auch niemals Teil ihrer Wahrnehmungssituation werden wird.
Die Welt, in der sie agieren, wird auf diese Weise unvergleichlich
größer und komplexer.
Der Ausdehnung des Zeithorizonts in die Zukunft entspricht
eine ebensolche Ausdehnung in die Vergangenheit. Menschen kön-
nen sich auf Ereignisse zurückbeziehen, die weit zurückliegen, in ih-
rer Lebenszeit oder vor ihrer Geburt, auch vor der Lebenszeit ihrer
überschaubaren Vorfahren. Für sie kann wichtig sein, was eine Per-
son vor 2000 Jahren gesagt und getan hat. Und sie können weit in die
Geschichte der Menschen, des Lebens und des Universums zurück-
gehen. So dass ihre Welt sich in beide Richtungen, in die Zukunft wie
in die Vergangenheit, enorm ausweitet und groß und größer wird.
Offensichtlich haben nicht alle Menschen sehr weit in die Zukunft
und in die Vergangenheit ausgegriffen – und tun es auch heute nicht.
Und nicht alle haben über ein zeitliches Ordnungssystem verfügt,
das ihnen erlaubt, zum Beispiel anzunehmen, etwas werde in 50 Jah-
ren geschehen. Wie groß die Zukunft ist, auf die man sich bezieht,
hängt im Wesentlichen von den praktischen Dingen des Lebens ab.
In einer einfachen Kultur, in der die Menschen gewöhnlich in den
Tag hineinleben, aber doch für den Winter vorsorgen müssen, wird
die Zukunft vielleicht nicht sehr viel weiter als bis zum nächsten
Winter reichen. Wenn die Menschen an einem Fluss leben, der einmal
im Jahr über die Ufer tritt, und sie sich darauf vorbereiten müssen,
wird der Zeithorizont so weit reichen, und vielleicht nicht wesent-
lich darüber hinaus. Obwohl ein solches wiederkehrendes Ereignis
es leicht macht, auch bereits das übernächste und überübernächste
Mal zu imaginieren und so die Zukunft weiter zu öffnen. In einer
Kultur, in der es Kernkraftwerke gibt, müssen die Menschen lernen,
sich auf bis dahin unbekannte zeitliche Dimensionen zu beziehen,
und überlegen, was die so weit in die Zukunft hinein andauernde
radioaktive Strahlung an Vorsorge erfordert. Die Notwendigkei-
ten des Lebens bestimmen, wie gesagt, wie weit der Zukunftsbezug
ausgedehnt wird. Man tastet die Zukunft ab, ob sie etwas bringen
wird oder bringen könnte, was schon jetzt ein bestimmtes Handeln
notwendig oder wünschenswert macht. Die Zukunft interessiert uns,
soweit sie für das jetzige Handeln von Bedeutung ist. Aus diesem
praktischen Kontext löst sich der Zukunftsbezug, wenn wir uns in
die Zukunft hineinträumen und uns jenseits aller Handlungsbezüge
im imaginativen Spiel alles Mögliche ausdenken. Überdies treibt uns

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 51

das Interesse, zu verstehen, wie die Welt beschaffen ist, in zeitliche


Dimensionen hinein, deren mentale Präsenz zumindest keine un-
mittelbare Bedeutung für das praktische Leben hat.
Wenn die Zukunft für die Menschen groß und größer wird, ent-
steht damit ein riesiger Raum möglicher Gegenstände des Wollens.
Man antizipiert das Flusshochwasser nicht wie ein unbeteiligter Be-
obachter als ein bloßes Naturgeschehen, man antizipiert es mit sei-
nen bedrohlichen Konsequenzen, das heißt mit Konsequenzen, die
man nicht will. Dieses Wollen richtet sich auf etwas, was erst in ei-
nem Jahr sein wird, und übergreift damit eine erhebliche Zeitspanne.
Jeder, der ein Testament macht, will, dass sein Besitz nach seinem
Tod in der festgelegten Weise weitergegeben wird. Das Wollen kann
sich so auf etwas richten, was vielleicht erst in 20 oder 30 Jahren
geschehen wird. Der Arm des Wollens übergreift dann eine Spanne
von mehreren Jahrzehnten. Und offenkundig kann er sehr viel wei-
ter reichen.
Wie gesehen, sieht es so aus, als könnten Tiere sich nicht auf ein
eigenes zukünftiges Wollen beziehen. Menschen hingegen können
das. Darin liegt, so glauben viele Wissenschaftler, eine zentrale Dif-
ferenz zwischen Menschen und Tieren. Die Menschen können ein
eigenes Wollen antizipieren, das sie gegenwärtig nicht haben, aber
in der Zukunft haben werden. Und sie können dieses Wollen schon
jetzt in ihrem Handeln berücksichtigen. Uns kommt es selbstver-
ständlich vor, für das Wochenende vorab einzukaufen, weil wir an-
tizipieren, dass wir am Sonntag etwas essen wollen. Dennoch ist die
Antizipation eines zukünftigen Wollens in der Geschichte der Evo-
lution etwas gänzlich Neues. Und möglicherweise etwas den Men-
schen Eigenes. Ihre Zukunft ist damit nicht nur größer als die ande-
rer Lebewesen, sie enthält auch Phänomene, die es in der ­Zukunft
anderer Wesen nicht gibt.
Bischof hat das Aufkommen der Fähigkeit, sich auf zukünftige
Wollenszustände zu beziehen, als eine »kopernikanische Wende« be-
zeichnet.7 Die Motivationsstruktur verändere sich dadurch grund-
legend. In jedem Fall wird die Steuerung des Verhaltens erheblich
komplizierter, wenn nicht nur das gegenwärtige Wollen, sondern
auch bereits ein zukünftiges Wollen mitbestimmt, was zu tun ist.
Es entstehen Konfliktmöglichkeiten und Koordinationsnotwendig-
keiten, wie sie andere Lebewesen nicht kennen. Und es entsteht ein

7 Bischof, Das Rätsel Ödipus, 542.

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52 Teil I: Überlegen und Wollen

Raum für das Überlegen, wie ihn nur die Menschen kennen. Klar
ist auch, dass sich mit der Antizipation zukünftigen Wollens eine
weitergehende Loslösung der Verhaltenssteuerung von der gegen-
wärtigen Situation vollzieht. War mit dem Aufkommen des Wollens
bereits die Zukunft zu einem handlungsbestimmenden Element ge-
worden, das Wollen selbst aber etwas Gegenwärtiges, so ist es jetzt
möglich, dass auch das Wollen etwas Zukünftiges ist und nur noch
seine Antizipation etwas Gegenwärtiges. Der Faden, der das Ver-
halten mit der Gegenwart verbindet, wird damit deutlich dünner.
Wenn man genauer hinsieht, zeigt sich allerdings, dass die bloße
Antizipation eines zukünftigen Wollens nicht ausreicht, um zu einer
Handlung zu motivieren. Dazu ist immer auch ein gegenwärtiges
Wollen nötig. Wenn ich zu einer Tageswanderung aufbreche, kann
ich leicht antizipieren, dass ich in einigen Stunden etwas trinken
und essen will. Dieses zukünftige Wollen vorherzusehen, ist aber
nicht genug, um mich dazu zu bringen, Proviant mitzunehmen. Ich
muss jetzt schon wollen, etwas zu trinken und zu essen zu haben,
wenn sich das zukünftige Wollen einstellen wird. Was mich in der
Gegenwart zu einem Handeln bewegt, kann nur ein gegenwärtiges
Wollen sein. Da das gegenwärtige Wollen aber das zukünftige Wol-
len voraussetzt und sich von ihm ableitet, ist es durchaus richtig, zu
sagen, das zukünftige Wollen bestimme mein jetziges Handeln. Das
gegenwärtige Wollen ist ein sehr spezielles Wollen: es will, dass ein
anderes, ein zukünftiges Wollen befriedigt wird. Ein Wollen bezieht
sich also auf ein anderes Wollen. Und nur wenn ein Lebewesen ein
solches auf ein anderes Wollen gerichtetes Wollen auszubilden ver-
mag, ist es möglich, dass bei der Bestimmung seines Handelns schon
jetzt ein erst zukünftiges Wollen eine Rolle spielt.
Das Wollen wird hier, wie sich zeigt, zweistufig. Wer zu dieser
Form von Zweistufigkeit in der Lage ist, wird sich vermutlich auch
noch in ganz anderen Varianten mental auf seine eigenen Gedan-
ken, Meinungen, Wünsche und Empfindungen beziehen können.
Tatsächlich ist diese Zweistufigkeit: ein intentionaler Zustand hat
einen anderen mentalen Zustand zum Gegenstand, eine essentielle
Struktur des menschlichen Geistes.
Die Menschen sind, das machen diese Überlegungen bereits deut-
lich, ungleich mehr als alle anderen Lebewesen auf die Zukunft be-
zogen. Sie ziehen wie kein anderes Lebewesen die Zukunft in die
Gegenwart hinein und sind in dem, was sie tun, deshalb ungleich
mehr durch die Zukunft bestimmt.

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 53

3. Die Imagination der Zukunft

Bevor ich weiter untersuche, was die beschriebene Expansion des


Zukunftsbewusstseins beim Menschen für die Struktur seines Wol-
lens bedeutet, ist es wichtig, das neue Zukunftsbewusstsein zunächst
noch näher zu beschreiben und wenigstens auf zwei Entwicklungen
hinzuweisen, die mit seinem Aufkommen verbunden sind: die Ent-
stehung einer im Prinzip ebenfalls unbegrenzten Vorstellungs- oder
Imaginationskraft und die Entstehung eines Zeitbewusstseins. – Man
kann sich leicht klarmachen, dass Lebewesen, die in dem Ausmaß in
die Zukunft ausgreifen, wie es Menschen tun, über immense ima-
ginative Fähigkeiten verfügen müssen. Denn das Zukünftige kann
man nicht wahrnehmen, es ist nicht in der Wahrnehmung präsent.
Es ist nichts Gegenwärtiges, sondern etwas Abwesendes. Deshalb
kann es nur auf andere Weise, eben in der Imagination, präsent sein.
Man kann das Zukünftige nur imaginativ auf die Bühne des Geistes
bringen. Etwas zu imaginieren, ist offenkundig etwas anderes als
etwas wahrzunehmen. Es ist eine eigenständige geistige Leistung,
ohne die es keinen Zukunftsbezug, kein Wollen und kein Über­
legen geben kann.8
Auch Sultan kann das Fressen der Bananen, auf das er eigentlich
aus ist, nicht wahrnehmen, es ist als etwas Zukünftiges nicht Teil sei-
ner Wahrnehmungssituation. Aber er kann es irgendwie imaginieren.
Seine Vorstellung hängt aber an der Wahrnehmung der Bananen, die
er vor Augen hat. Ebenso stellt sich Sultan, auf dem Tisch sitzend,
vor, wie es wäre, wenn er die Kiste unter die Bananen zöge und auf
sie stiege. Aber auch die Kiste befindet sich in seinem Blickfeld. Die
Handlungsvarianten, die er imaginiert und in Gedanken durchpro-
biert, scheinen insgesamt durch das bestimmt zu sein, was er vor
Augen hat. Ich kann offen lassen, ob Schimpansen und andere Tiere
in ihren Vorstellungen generell in dieser Form an die gegenwärtige
Wahrnehmungssituation gebunden sind. Menschen sind es jedenfalls
nicht. Sie können sich Ereignisse vorstellen, die drei oder neun Tage,
drei oder neun Monate, drei oder neun Jahre in der Zukunft liegen,
und zwar unabhängig von ihrer gegenwärtigen Wahrnehmungssitu-
ation. Von dieser Fessel befreit, trägt sie die Imagination weit hinaus.

8 Vgl. zu dieser Kategorie des Geistigen besonders C. McGinn: Mindsight


(Cambridge, Mass. 2004); dt. Das geistige Auge. Von der Macht der Vorstel-
lungskraft (Darmstadt 2007).

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54 Teil I: Überlegen und Wollen

Der Stoff, aus dem die Inhalte der Vorstellungen kommen, ist
das Wissen, das die Lebewesen von der Welt haben und das sie im
Gedächtnis speichern. Man weiß, wie die Jahreszeiten aufeinander
folgen und imaginiert das baldige Gehen des Winters und das Kom-
men des Frühlings und des Sommers. Man erinnert sich an das Fluss-
hochwasser vor einiger Zeit und an eines länger zurück und imagi-
niert ein weiteres in der Zukunft. Man spiegelt auf diese Weise die
Vergangenheit in die Zukunft und führt der Imagination ihre Inhalte
zu. Ein ausgeprägtes Zukunftsbewusstsein verlangt eine ausgeprägte
Erinnerungsfähigkeit und ein gut gefülltes Gedächtnis. Die Imagi-
nation hängt nicht mehr an der gegenwärtigen Wahrnehmung, aber
doch, so könnte man sagen, an einer ehemals gegenwärtigen und
jetzt im Gedächtnis festgehaltenen Wahrnehmung. Das ist richtig
und kann nicht anders sein. Die menschliche Imaginationskraft er-
schöpft sich aber bei weitem nicht in einer solchen einfachen Spie-
gelung des Vergangenen in die Zukunft.
Nehmen wir ein simples Beispiel: Wenn man eine Party in Paris
erlebt hat, im Sommer, mit etwa 30 Gästen, mehr Frauen als Män-
nern, kann man sich ohne Mühe eine Party in Berlin vorstellen, im
Winter, mit 60 Gästen, mehr Männern als Frauen. Ebenso kann man
sich jemanden, den man noch nie mit Hut gesehen hat, mit Hut vor-
stellen. Und man kann sich, wenn man Frauen und Fische kennt,
ohne weiteres ein Mischwesen, oben Frau, unten Fisch, vorstellen.
Das heißt, die Menschen sind in der Lage, Dinge und Situationen,
die sie wahrgenommen haben, in verschiedene Elemente zu zerle-
gen und sie in neuer Weise und über die bisherige Wahrnehmung
hinausgehend zu rekombinieren. Sie können einzelne Elemente va-
riieren, subtrahieren, addieren, neu arrangieren. So wie jemand, der
eine Sprache beherrscht, die vielen Wörter in neuen Situationen und
angesichts neuer Aufgaben zu immer neuen Sätzen und Satzfolgen
zusammensetzen kann. Die Imagination transportiert also nicht nur
Bekanntes eins zu eins in die Zukunft, sie ist kreativ und produziert
neue Gegenstände und Geschehensabläufe. Damit kommen genuine
Elemente der Imagination ins Spiel, das heißt, Elemente, mit denen
die Vorstellung über die wahrgenommenen und konservierten In-
halte hinausgeht. Der Raum der Imagination gewinnt damit eine
ungeheure Variabilität, und der Phantasie und Kreativität scheinen
keine Grenzen gesetzt zu sein. Die Menschen können imaginieren,
was es noch nie gab und was es vielleicht auch nie geben wird. Die
Kraft und Reichweite der Imagination zeigt sich vielleicht beson-

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 55

ders deutlich in der Vielfalt religiöser Vorstellungen, in der Vorstel-


lung übernatürlicher Wesen wie Götter, Engel, Teufel wie auch in
der Imagination eines Weiterlebens nach dem Tod, eines jenseitigen
Gerichts, eines Paradieses etc., etc.
Die Zukunft, die die Menschen vor sich haben, liegt nur zu ei-
nem Teil in ihrem Verlauf fest, überwiegend ist sie offen. Und zu
einem erheblichen Teil hängt es von ihrem eigenen Verhalten ab,
wie sie sein wird. Nur deshalb kümmern sich die Menschen um
das, was geschehen wird. Sie versuchen die Zukunft so zu gestalten,
dass sie das bringt, was ihren Wünschen entspricht. Dies erklärt,
warum sie ständig mit möglichen Handlungen und möglichen Ge-
schehensabläufen beschäftigt sind. Das Hochwasser, das demnächst
wieder kommen wird, ist gefährlich, etwas, was man nicht will. Man
überlegt deshalb, ob man es nicht verhindern kann, vielleicht indem
man das Wasser flussaufwärts staut. Man sucht nach Alternativen
für das Unangenehme und entwirft in der Vorstellung alternative
Geschehensverläufe, die man selbst, eventuell zusammen mit an-
deren, herbeiführen könnte. Die Menschen antizipieren also nicht
eine Zukunft, sie imaginieren viele mögliche Varianten der Zukunft.
Wie man das Unangenehme zu verhindern sucht, sucht man das
Angenehme herbeizuführen, wo es sich ohne eigenes Zutun nicht
einstellen würde. Auch in dieser Weise sucht man nach alternativen
Geschehensabläufen, die dem eigenen Wollen besser entsprechen.
Weil sie etwas wollen, müssen die Menschen permanent in Alter-
nativen denken. Die Menschen leben in Möglichkeiten, und es ist
die Aufgabe der Einbildungskraft, diese Möglichkeiten inhaltlich zu
füllen, durch ein ständiges Wieder-Holen dessen, was man über die
Welt weiß, und ein ständiges kreatives Rekombinieren von Einzel-
elementen zu neuen Vorstellungsinhalten.
Wenn die Menschen die Zukunft oder besser: verschiedene Vari-
anten der Zukunft imaginieren, sind sie, so haben wir gesehen, nicht
mit einem neutralen Geschehen beschäftigt, sondern wesentlich mit
Dingen, die angenehm oder unangenehm sind, mit Dingen, die sie
wollen oder gerade nicht wollen. Sie imaginieren nicht einfach ein
zukünftiges Hochwasser, sondern ein Hochwasser, das für sie etwas
bedeutet, das für sie gefährlich sein wird. Dies impliziert, dass die
Vorstellung des Hochwassers mit der Vorstellung eines zukünftigen
Ichs, einer Vorstellung von einem selbst in der Zukunft assoziiert
ist. Die Zukunft ist, soweit sie nicht indifferent ist, sondern das Für-
mich enthält, notwendigerweise eine Zukunft mit einem selbst. Und

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56 Teil I: Überlegen und Wollen

nur wenn es so ist, hat die Fähigkeit, imaginativ in die Zukunft aus-
zugreifen, eine praktische Funktion. Der, der jetzt imaginiert, und
der, für den etwas Zukünftiges angenehm oder unangenehm sein
wird, müssen dasselbe Wesen sein. Sonst hätte der gesamte men-
tale Aufwand, das Antizipieren, Imaginieren und Überlegen keinen
Sinn, und der Zukunftsbezug keine Bedeutung für die Handlungs-
steuerung. Sonst könnte man allenfalls theoretisch an der Zukunft
interessiert sein. Der Zukunftsbezug kann, so ergibt sich, nur eine
praktische Bedeutung haben, wenn das Lebewesen, das zu ihm fähig
ist, auch in der Lage ist, sich selbst als etwas über die Zeit Dauern-
des vorzustellen.
Dasselbe gilt entsprechend für die Vergangenheit. Sich an etwas
als unangenehm zu erinnern, impliziert die Vorstellung des eigenen
Ichs in der Vergangenheit. Es bedarf also eines, wie man sagt, auto-
biographischen Gedächtnisses und einer Vergangenheit, zu der das
eigene Ich gehört. Auch in diese Richtung muss man sich als etwas
über die Zeit Dauerndes vorstellen können. Einige Forscher nehmen
an, ein autobiographisches Erinnerungsvermögen wie auch der Be-
zug auf das eigene Ich in der Zukunft seien spezifisch menschliche
Leistungen. Allein die Menschen seien zu einer »mentalen Zeitreise«
fähig.9 Damit ist gemeint, dass nur Menschen sich selbst in der Zu-
kunft imaginieren können. Tiere könnten das nicht. Und sie können
sich auch nicht, so die Annahme, an etwas erinnern, was sie selbst
in der Vergangenheit getan oder erlebt haben. Man muss allerdings
sehen: Wenn Sultan die Bananen fressen will und das in der Zukunft
liegt und wenn er überlegt, auf welchem Wege er an die Bananen
kommt, muss das auch in irgendeiner Form mit einer Vorstellung
von sich selbst in der Zukunft verbunden sein. Man darf also keine
allzu einfache Kontrastierung vornehmen. Dennoch ist es so, dass
der Bezug der Menschen auf das eigene zukünftige – und auch ver-
gangene – Ich ganz andere Zeiträume übergreift und schon allein
deshalb von deutlich anderer Art ist.

9 Vgl. hierzu die in Anm. 5 genannten Arbeiten von Suddendorf und Cor-
ballis.

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 57

4. Die Entstehung eines Zeitbewusstseins

Wie weitgehend die Veränderungen sind, die die Entstehung des Zu-
kunftsbewusstseins entfacht, tritt besonders deutlich hervor, wenn
man sich bewusst macht, dass sie unweigerlich die Entstehung eines
Zeitbewusstseins nach sich zieht. Die Zukunft der Menschen ist ein
riesiger Flickenteppich, mit Elementen, die sicher so kommen wer-
den, mit Elementen, die möglich sind, die wahrscheinlich, die un-
wahrscheinlich sind, mit Dingen, die man will, nicht will, die man
geschehen lässt, die man verhindern, die man herbeiführen will. All
das imaginieren die Menschen nicht als ein chaotisches Durcheinan-
der, sondern in einer zeitlichen Ordnung. Alles, was sie sich in der
Zukunft vorstellen, hat einen mehr oder weniger fixierten zeitlichen
Ort. Alles steht in zeitlichen Relationen zu anderem. Und deshalb
müssen die Menschen eine Vorstellung von zeitlichen Verhältnissen
und von der Zeit haben. Dies setzt ein ganzes Bündel von mentalen
Leistungen voraus, die weit über das Wahrnehmen und das Hinein-
spiegeln von Vergangenem in die Zukunft hinausgehen.
Allein sich etwas in der Zukunft vorzustellen, noch ohne jede
weitere zeitliche Fixierung, impliziert bereits, in bestimmten zeit­
lichen Relationen zu existieren. Denn das Zukünftige ist das in Zu-
kunft Gegenwärtige. Das vorgestellte zukünftige Flusshochwasser
ist – wenn man es nicht verhindern kann – irgendwann ein gegen-
wärtiges Flusshochwasser. Nur deshalb beschäftigt es einen. Bliebe
es in der Zukunft, bräuchte man sich nicht dafür zu interessieren. Es
würde niemals Teil des eigenen Lebens, es würde niemals die Welt
berühren, in der man lebt. Wer sich mental auf die Zukunft bezieht,
lebt also mit dem Phänomen, dass Zukünftiges zu Gegenwärtigem
wird, und natürlich auch damit, dass Gegenwärtiges zu Vergange-
nem wird. Man muss dies nicht reflektieren oder sich eigens vor
­Augen halten, es gehört zu den elementaren Erfahrungen des Lebens
und ist Teil des Hintergrundes eines jeden Wesens, das in der Lage
ist, sich auf Zukünftiges zu beziehen. Die Menschen können gar
nicht anders, als die Welt und ihr eigenes Leben in diesen zeitlichen
Verhältnissen zu sehen.
Wenn das in der Zukunft vorgestellte Hochwasser eine Gefahr
bedeutet, reicht es nicht aus, zu wissen, dass es eines Tages gegen-
wärtig sein wird, es ist wichtig, eine Vorstellung davon zu haben,
wann das sein wird. Wann wird das Hochwasser kommen? Viel-
leicht fürchtet man um sein Korn und will deshalb wissen, ob das

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58 Teil I: Überlegen und Wollen

Wasser kommen wird, nachdem das Korn reif und geerntet ist oder
vorher. In welcher Relation steht also das Hochwasser zum Reifsein
des Getreides? Ist es später, früher oder gleichzeitig? Diese zeitli-
chen Relationen bilden – neben der Differenz von Zukunft, Gegen-
wart und Vergangenheit – eine zweite Struktur, durch die Ereignisse
zeitlich fixiert werden. Auch innerhalb der Zukunft können damit
die imaginierten Geschehnisse zeitlich geordnet werden. McTaggart
hat diese Struktur des später- und früher-als und des gleichzeitig-mit
die B-Reihe genannt und die andere Struktur: Zukunft, Vergangen-
heit und Gegenwart die A-Reihe.10
Die Vorstellung des später- oder früher-als entwickeln die Men-
schen, weil sie Veränderungen wahrnehmen. Erst blühen die Apfel-
bäume, dann tragen sie Früchte, erst geht die Sonne im Osten auf,
dann geht sie im Westen unter. Das später-als kann man nicht als
etwas Gegenwärtiges wahrnehmen, man muss das, was vorausge-
gangen ist, in der Erinnerung festhalten und weiter präsent haben,
und man muss die Kontinuität der Veränderung registrieren. Eine
Zeiterfahrung dieser Art geht also über eine plane Wahrnehmung
deutlich hinaus, sie ist bereits mit imaginativen Elementen durch-
setzt. Komplizierter wird es, wenn zwei Ereignisse in eine zeitliche
Relation gebracht werden sollen, die nicht Teil einer kontinuierli-
chen Veränderung, sondern voneinander unabhängig sind. So wie es
bei dem Flusshochwasser und dem Reifsein des Korns der Fall ist.
Hier nach später und früher zu ordnen, steht in deutlich größerer
Distanz zur Wahrnehmung.
Noch komplizierter wird es, wenn es nicht nur wichtig ist, zu
wissen, dass das eine Ereignis nach dem anderen kommen wird, son-
dern auch, um wie viel später es kommen wird. So wird man, wenn
es darum geht, welche Schutzmaßnahmen noch möglich sind, bevor
das Hochwasser kommt, wissen wollen, wie viel Zeit noch ble­ibt.
Wie groß ist der zeitliche Abstand? Mit dieser Frage kommt wiede-
rum etwas Neues hinein.
Wie also ist es möglich, einen zeitlichen Abstand zu bestimmen?
Welche mentalen Leistungen sind dafür erforderlich? Man macht
die Erfahrung, dass Apfelbäume erst blühen und dann Früchte tra-
gen. Und dass es bei Kirschbäumen genauso ist. Und man macht
weiter die Erfahrung, dass Apfel- und Kirschbäume etwa zur glei-

10 Vgl. J. E. McTaggart: The Unreality of Time. Mind 17 (1908) 457–474,


457 f.

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 59

chen Zeit blühen, die Kirschen aber deutlich früher reif sind als die
Äpfel. Aus diesen Erfahrungen baut sich eine Vorstellung von einer
Distanz oder einer Dauer zwischen verschiedenen Ereignissen auf,
zwischen der Apfelblüte und dem Reifsein der Äpfel einerseits und
der Kirschblüte und dem Reifsein der Kirschen andererseits. Und
diese Distanzen kann man offenkundig vergleichen. Der Weg von
der Kirschblüte zu den Früchten ist kürzer als der von der Apfel-
blüte zu den Früchten. Die eine Veränderung dauert weniger lang
als die andere.
Um solche Distanzen vergleichen zu können, braucht man ir-
gendeine Vorstellung von dem, was man vergleicht. Sprechen wir,
ohne damit zuviel vorauszusetzen, von einer Dauer. Eine Dauer
kann man offensichtlich nicht wahrnehmen. Man kann nicht auf sie
zeigen, sie nicht sehen, sie nicht in die Hand nehmen. Sie ist, solange
sie noch mit einer Veränderung assoziiert ist, ein imaginierter Ge-
genstand. Je mehr sich die Vorstellung aber von dem anschaulichen
Hintergrund löst, umso mehr wird sie zu einem bloß gedachten
Gegenstand.11 Die Imagination geht dann mehr und mehr in das
Denken eines intelligiblen Gegenstandes über.
Die Frage nach dem Wann des Hochwassers erfordert bereits
eine solche Weiterentwicklung. Denn das Heute und das zukünftige
Hochwasser sind nicht durch eine Veränderung miteinander ver-
bunden, die vom einen zum anderen führt und die man Schritt für
Schritt verfolgen kann. Diese anschauliche Stütze fällt weg. In der
Vorstellung eines solchen Intervalls treten deshalb die imaginativen
Elemente stark zurück, an ihre Stelle treten intelligible Elemente.
Ein Intervall dieser Art ist mehr ein gedachter als ein imaginierter
Gegenstand.
Wie ist der zeitliche Abstand bis zum Hochwasser nun zu be-
stimmen? Wie man eine Raumstrecke nur durch eine andere Raum-
strecke messen kann, kann man eine zeitliche Dauer oder eine Zeit-
strecke auch nur durch eine andere zeitliche Dauer oder zeitliche
Strecke messen. Man braucht so etwas wie eine Standarddauer, eine
Zeiteinheit, mit der man verschiedene zeitliche Distanzen ausmessen
kann. Und dies kann nur eine Zeit sein, die eine bestimmte Verän-
derung braucht. Diese Veränderung muss sich, ist sie abgeschlos-
sen, gleich wiederholen, und wenn diese erneute Veränderung abge-

11 Vgl. hierzu W. H. Newton-Smith: The Structure of Time (London 1980)


127 f., 138–142.

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60 Teil I: Überlegen und Wollen

schlossen ist, muss sie sich erneut wiederholen und so immer weiter.
Außerdem muss sie immer gleich verlaufen, damit die Zeit, die sie
braucht, immer dieselbe ist. Das hört sich kompliziert an, und ist es
vielleicht auch. Aber es ist die Voraussetzung dafür, eine Zeiteinheit
zu haben, mit der man andere Zeiteinheiten messen kann.
Erstaunlicherweise bietet die Natur gleich mehrfach Veränderun-
gen, die die beschriebenen Eigenschaften aufweisen. Die nächstlie-
gende ist das Aufgehen der Sonne, ihr Verschwinden und ihr erneu-
tes Aufgehen. Die Veränderung beginnt, wenn die Sonne aufgeht,
und sie endet damit, dass sie erneut aufgeht und die Veränderung
von neuem beginnt. Mit dieser Veränderung entsteht eine Zeiteinheit,
eben die Zeit, die diese Veränderung braucht. Und diese Zeiteinheit
ist für die Zeitmessung gut geeignet. Man kann jetzt leicht erkennen,
dass etwas dreimal diese Zeiteinheit gedauert hat, und man kann
imaginieren, dass in der Zukunft etwas dreimal diese Einheit dauern
wird oder etwas dreimal diese Einheit später als ein anderes Ereignis
geschehen wird. Die Natur bietet nicht nur den Tageszyklus, son-
dern auch den Jahres- und Monatszyklus, so dass die Menschen ein
System der Zeitmessung mit mehreren Zeitmaßen etablieren konn-
ten. Mit Hilfe künstlicher Instrumente wie Wasseruhren und ande-
ren Uhren konnten sie dieses System dann weiter verfeinern und auf
ihre praktischen Bedürfnisse zuschneiden.
Die bisherigen Überlegungen lassen erkennen, dass sich die Vor-
stellungen von zeitlichen Relationen, zeitlichen Distanzen und Zeit-
einheiten mehr und mehr von der Wahrnehmung lösen und es zu
einem Prozess kommt, in dem die an die Wahrnehmung zurückge-
bundene Imagination in das Denken intelligibler Gegenstände über-
geht. Das Zukunftsbewusstsein forciert eine Entwicklung, die zum
Umgang mit bloß gedachten Gegenständen führt. Das zeigt sich
besonders deutlich auch an dem einfachen Umstand, dass, wer die
zeitliche Distanz zwischen zwei Ereignissen bestimmen will, zu-
mindest in einer primitiven Form zählen können muss. Zwischen
zwei Ereignissen ist, so sei angenommen, die Sonne sechsmal auf-
gegangen. Eine solche zeitliche Bestimmung setzt die Fähigkeit des
Zählens voraus. Das Messen von Zeitabständen erfordert also eine
weitere sehr wichtige und, wie ich wenigstens kurz erläutern will,
sehr komplexe mentale Leistung.
Es gibt ohne Zweifel schon bei Tieren eine Sensibilität für die
Größe einer Menge. So können Schimpansen unterscheiden, ob da
eine, zwei oder drei Bananen liegen. Und sie können, wie andere

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 61

Tiere auch, die Größe von zwei Mengen, wenn sie nicht zu groß sind
und die Unterschiede zwischen ihnen nicht zu klein, abschätzen und
vergleichen.12 Diese Leistungen setzen allerdings noch nicht die Fä-
higkeit zu zählen voraus. Zu zählen, bedeutet, mit einer Reihe von
Zeichen zu operieren, von denen jedes für eine Anzahl von Dingen
steht, – so, dass (im elementarsten Fall) der Übergang von einem
Zeichen zum nächsten der Vergrößerung der Anzahl um ein Element
entspricht. Man kann sich vorstellen, dass jemand, der den zeitlichen
Abstand zwischen zwei Ereignissen mit Hilfe einer Wasseruhr be-
stimmen will, jedes Mal, wenn ein Wasserbehälter leergelaufen ist,
eine Kerbe in einen Stock schneidet. Zum Zeitpunkt des späteren
Ereignisses hat er sechs Kerben in seinem Stock. Und wenn er die
Tage bis zum nächsten Vollmond zählt, kann es sein, dass er auch
sechs Kerben in seinem Stock hat. Das Zeichen der sechs Kerben
steht also für eine bestimmte Anzahl von Dingen, gleichgültig, was
es für Dinge sind.
Für das Zählen braucht man offensichtlich Zeichen, – Zeichen,
die für etwas stehen oder die, anders gesagt, etwas repräsentieren.
Damit kommt abermals etwas Neues in die Welt: dass man einen
bestimmten Zug der Wirklichkeit nur mit Hilfe eines Systems von
Zeichen zu fassen bekommt. Und dass man ein solches Zeichensys-
tem aufbauen muss, um die Anzahl von etwas herausfinden zu kön-
nen. Dabei ist, mit Zeichen zu operieren, nach allem, was wir wissen,
etwas, was nur Menschen können. Die Zeichen sind wie die Kerben
im Holz etwas Wahrnehmbares, aber dass sie für etwas stehen, dass
sie etwas bedeuten, ist etwas nur Gedachtes und durch keine Wahr-
nehmung und durch keine aus der Wahrnehmung kommende Ima-
gination gestützt. Es ist etwas, was man für sich – oder zusammen
mit anderen – festgelegt hat und was nur durch diese Festlegung
existiert. Solche Bezüge des Stehens-für zu kreieren und mit ihnen
umzugehen, erfordert erheblich gesteigerte mentale Fähigkeiten. Es
wird damit erneut sichtbar, welcher weitreichenden mentalen Fä-
higkeiten es bedarf, um nicht mehr zu tun als zu bestimmen, wann,
in welchem zeitlichen Abstand ein zukünftiges Ereignis stattfinden
wird. Die Wann-Frage, die, will man sich ein Bild von der Zukunft
machen, so naheliegt und die so anspruchslos wirkt, setzt eine Reihe

12 Vgl. hierzu im Einzelnen S. Dehaene: The Number Sense. How the Mind
Creates Mathematics (Oxford 1997) ch. 1; dt. Der Zahlensinn (Basel 1999)
Kap. 1.

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62 Teil I: Überlegen und Wollen

von mentalen Fähigkeiten voraus, die weit über das Wahrnehmen


und die bloße Imagination hinausgehen.
Denken wir uns, um zu resümieren, noch einmal einen Ingenieur,
der den Auftrag hat, ein Lebewesen zu entwickeln, das auf sehr ver-
schiedene und sich ändernde Lebensbedingungen möglichst flexibel
reagieren kann und so sein Weiterleben und seine Reproduktion zu
sichern vermag. Die generelle, schon erprobte Leitidee des Ingeni-
eurs ist es, eine – starre – genetisch programmierte Steuerung des
Verhaltens durch eine – flexible – mentale Steuerung zu ersetzen.
Wie wir sahen, verhalten sich einige Tiere zukunftsbezogen, aber
ohne Zukunftsbewusstsein. Der Ingenieur wird versuchen, dieses
genetisch gesteuerte zukunftsbezogene Verhalten durch ein mental
gesteuertes Verhalten zu ersetzen. Dazu bedarf es eines mentalen
Zukunftsbezugs, also eines Zukunftsbewusstseins. Die vorangegan-
genen Überlegungen haben nun gezeigt, dass es nicht möglich ist, die
Lebewesen isoliert mit einem weiterreichenden Zukunftsbewusst-
sein auszustatten. Es bedarf gleichzeitig einer Reihe anderer menta-
ler Fähigkeiten: einer stark erweiterten Erinnerungsfähigkeit, einer
sehr leistungsfähigen Imaginationskraft, der Fähigkeit, sich an sich
selbst in der Vergangenheit zu erinnern, und der korrespondieren-
den Fähigkeit, sich selbst in der Zukunft zu imaginieren, der Fähig-
keit, mit nur gedachten Gegenständen zu operieren, der Fähigkeit,
wahrnehmbare Gegenstände als Zeichen für etwas zu verstehen, der
Fähigkeit, zu zählen, der Fähigkeit, den Inhalt von Übereinkommen
gedanklich zu repräsentieren. Die Frage, ob diese Fähigkeiten, vor
allem die, mit Zeichen zu operieren und zu zählen, auch bereits die
Fähigkeit zu sprechen voraussetzen, bleibt an dieser Stelle noch un-
beantwortet. Darauf werde ich im nächsten Kapitel kommen. Die
jetzt genannten Fähigkeiten haben die Gemeinsamkeit, die Lebewe-
sen zu befähigen, sich aus der momentanen Wahrnehmungssituation
zu lösen und Dinge zum Gegenstand des Überlegens zu machen, die
außerhalb des Hier und Jetzt liegen.
Sicherlich ist es nicht so, dass der Ingenieur erst das Zukunftsbe-
wusstsein schafft und dann auch die anderen Fähigkeiten. Die kausa-
len Fäden laufen vielmehr hin und her. Wie genau, wissen wir nicht.
In jedem Fall bedeutet das Vorhandensein des Zukunftsbewusstseins,
dass eine ungeheure geistige Entwicklung stattgefunden hat, die ein
Wesen völlig neuer Art hervorgebracht hat.

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 63

5. Die Veränderung des Wollens

Ich komme jetzt zu der Frage zurück, was die Expansion des Zu-
kunftsbewusstseins für das Wollen, seine Gegenstände und seine
Struktur bedeutet. Auch hier gilt: es verändert sich beinahe alles. Es
entsteht eine Vielfalt und Komplexität des Wollens, die den Men-
schen eigen ist und die Art der Handlungssteuerung grundlegend
verändert. Ein Effekt liegt darin, dass das Überlegen eine überra-
gende Bedeutung gewinnt.
Es ist offenkundig, dass die Zukunft einen großen und immer
weiter vergrößerbaren Raum für mögliche Gegenstände des Wollens
schafft. Dieser Raum füllt sich mit einer großen Menge von Dingen,
die die Menschen als angenehm und unangenehm imaginieren und
folglich wollen bzw. nicht wollen. Jedes Wollen steht jetzt in einer
Konkurrenz mit anderen Wünschen. Das führt dazu, dass die Men-
schen ständig mit der Frage beschäftigt sind: Was zuerst? Was ist ei-
nem wichtiger? Welcher der vielen Wünsche soll handlungsleitend
werden? Es liegt auf der Hand, dass es weitgehender koordinativer
Leistungen bedarf, um damit umzugehen.
Da die Menge dessen, was die Menschen wollen, so groß ist,
kommt es dazu, dass sie mehr wollen, als sie realisieren können.
Die Zukunft produziert einen ständigen Überschuss an Wollen. Ein
Teil des Wollens wird sich niemals gegen anderes, wichtigeres Wol-
len durchsetzen und niemals in die Position des handlungsleiten-
den Wollens gelangen. Dieses Wollen bleibt folgenlos, es versandet
irgendwie. Man findet die Gegenstände, auf die es sich richtet, zwar
weiterhin attraktiv, deshalb ziehen sie das Wollen an, aber man weiß,
dass dieses Wollen nicht zum Zuge kommen wird.
Mit dem Zukunftsbewusstsein entsteht, wie gesehen, ein mehr
oder weniger elaboriertes Zeitbewusstsein. Und damit werden Ge-
genstände des Wollens möglich, die Schimpansen oder andere Tiere
nicht haben können, – nämlich zeit-indizierte Wollensinhalte. Men-
schen können etwas für morgen wollen, sie können etwas in einer
Woche tun wollen, sie können etwas in zwölf Monaten erledigt ha-
ben wollen. Sie können wollen, dass etwas dauerhaft so sein wird,
zum Beispiel dass sie dauerhaft gesund sein werden. Sie können
wollen, dass etwas regelmäßig geschieht, so können sie jeden Sonn-
tag einen Dauerlauf machen oder dreimal täglich ein Medikament
nehmen wollen. Und ich kann am 31.12. dieses Jahres zum 60. Ge-

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64 Teil I: Überlegen und Wollen

burtstag meines Bruders in Wien sein wollen.13 Alle diese Wollens-


inhalte sind zeitlich qualifiziert, sie setzen Zeitvorstellungen voraus,
und es scheint klar, dass nicht-menschliche Lebewesen all dies nicht
wollen können.
Ein weiterer Effekt des Zukunftsbewusstseins liegt, wie gezeigt,
darin, dass die Menschen nicht nur mit ihrem gegenwärtigen Wol-
len beschäftigt sind, sondern auch zukünftige Wünsche antizipieren
können. Deswegen müssen nicht nur gegenwärtige mit gegenwärti-
gen Wünschen koordiniert werden, sondern auch gegenwärtige mit
zukünftigen und womöglich auch zukünftige mit zukünftigen. Die
Komplexität der Situation und die Ansprüche an das Überlegen wer-
den dadurch offensichtlich größer. Wie das zukünftige Wollen durch
seine Antizipation in die gegenwärtige Überlegens- und Handlungs-
situation hineindrängt, kann auch ein älteres, noch unerledigtes Wol-
len, ein Wollen, dessen Realisierung noch aussteht, in der gegen-
wärtigen Situation Berücksichtigung verlangen. Von beiden Seiten
drängen also komplizierende Faktoren in die gegenwärtige Situation.
Wenn die Menschen ein zukünftiges Wollen antizipieren kön-
nen, dann können sie sich auch bewusst sein, dass sie ein Wollen,
das sie jetzt haben, fortdauernd auch in Zukunft haben werden. Es
gibt Dinge, die man permanent wollen wird. So wird es dabei blei-
ben, dass man weiterleben will, dass man Krankheiten vermeiden
will, dass man nicht verletzt, nicht unterjocht, nicht getäuscht wer-
den will. Dies sind sehr elementare und gerade deshalb permanente
Wünsche, die in der Ökonomie des Wollens von besonderer Be-
deutung sind. Ist man sich ihrer bewusst, gewinnt das Leben feste
Konturen und eine grundlegende Kontinuität.
Damit tritt schon ein anderes, äußerst bedeutsames Merkmal des
menschlichen Wollens hervor. Ein Teil dessen, was die Menschen
in der Zukunft imaginieren, ist ihr eigenes zukünftiges Leben. Da-
bei sind sie sich bewusst, dass ihr Leben nicht nur, aber auch kraft
eigenen Handelns so oder so oder vielleicht noch anders werden
könnte. Die Menschen haben es, wenn sie sich ein Bild von der Zu-
kunft machen, wie gesagt, nicht mit einer Zukunft zu tun, sondern
mit vielen möglichen Varianten der Zukunft. Und das gilt genauso
für das zukünftige eigene Leben. Wie es sein wird, hängt wenigstens

13 Vgl. zu dieser Thematik die Ausführungen von R. de Sousa: The Ratio­n­


ality of Emotion (Cambridge, Mass. 1987) 205–215; dt. Die Rationalität des
Gefühls (Frankfurt 1997) 335–350.

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 65

zum Teil davon ab, welches Leben man will, welches Leben man ei-
nem anderen vorzieht. Das heißt, die Menschen sind mit verschiede-
nen Möglichkeiten des Lebens beschäftigt, und sie überlegen, mehr
oder weniger ausdrücklich, welches die Art des Lebens ist, die sie
am ehesten wollen. Ihr eigenes Leben wird so zum Gegenstand ih-
res Wollens. Ihr Wollen richtet sich auf das Wie des eigenen Lebens.
Wir stoßen damit auf die Tatsache, dass die Menschen nicht nur
weiterleben wollen, das wollen sie ohne Zweifel, aber sie wollen da-
rüber hinaus in bestimmter Weise leben, in einer Weise, die sie ande-
ren Weisen vorziehen. Menschen sind wie alle Lebewesen, um einen
Ausdruck Richard Dawkins’ aufzugreifen, »Überlebensmaschinen«
(»survival machines«)14, aber sie sind mehr. Sie streben etwas jenseits
dessen an: eine bestimmte Art des Lebens. Dadurch wachsen sie über
die Ausrichtung auf das biologische Ziel des Weiterlebens hinaus.
Die Erklärung für diese Besonderheit liegt eben darin, dass nur die
Menschen sich mental auf eine weiterreichende Zukunft beziehen
und verschiedene Varianten der Zukunft imaginieren können. Aris-
toteles hat diesen Punkt bereits zur Sprache gebracht. Die Menschen
sind, so sagt er, im Unterschied zu allen anderen Lebewesen, nicht
nur darauf aus, zu leben, sie wollen gut leben.15 Und in dem »gut«
liegt, dass sie verschiedene Arten zu leben vergleichen und eine den
anderen vorziehen können.
Mit dem Wunsch, ein bestimmtes Leben zu leben, ist ein anderer
Wunsch eng verbunden. Man kann für die Zukunft nicht nur ein
bestimmtes Leben wollen, man kann auch eine bestimmte Person,
ein Mensch bestimmter Art sein wollen. Auch was die eigene Per-
son angeht, kann man, sofern man Veränderungsmöglichkeiten sieht,
verschiedene Varianten vor Augen haben. Auch hier gibt es Mög-
lichkeiten. Und auch hier kann man überlegen, was man vorzieht.
Wie will man sein? Was für eine Person? Welche Eigenschaften und
Handlungsdispositionen sind die, die man am ehesten will? Durch
welche Gefühle und Wünsche möchte man in seinem Handeln be-
stimmt werden und durch welche gerade nicht? Das Wollen richtet
sich so auf das Wie der eigenen Person. Es gibt ein gewolltes Selbst.
Die Menschen haben also, weil sie eine Zukunft vor sich haben, die
Fähigkeit, sich selbst zu einem Gegenstand ihres Wollens zu machen.

14 R. Dawkins: The Selfish Gene (Oxford 1976, 2. ed. 1989) 19; dt. Das ego-
istische Gen (Reinbek 1996) 51.
15 Aristoteles, de partibus animalium II, 10. 656 a 4–8.

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66 Teil I: Überlegen und Wollen

Wenn zu dem, was man von der eigenen Person will, gehört, dass
bestimmte Wünsche das eigene Handeln leiten und dass man andere
Wünsche erst gar nicht hat oder sie wenigstens nicht handlungsbe-
stimmend werden, enthält diese Form des Selbstbezugs eine neue
Form der Zweistufigkeit des Wollens. Wir haben gesehen, dass es,
wenn ein erst zukünftiges Wollen schon jetzt berücksichtigt wer-
den soll, ein gegenwärtiges Wollen geben muss, das zum Inhalt hat,
dass das zukünftige Wollen, wenn es sich einstellt, befriedigt werden
kann. Das ist eine Form der Zweistufigkeit des Wollens. Jetzt tref-
fen wir auf eine andere Form. Man will, dass ein bestimmtes Wollen
für das eigene Handeln wichtig ist und dass man andere Wünsche
gar nicht hat oder dass sie zumindest nicht effektiv werden. So will
man zum Beispiel eine Person sein, die nicht durch den Wunsch
nach R­ ache bestimmt wird, für die der Wunsch, großzügig zu sein,
hingegen ein wichtiger Handlungsimpuls ist. Die Zweistufigkeit des
Wollens kennt offensichtlich verschiedene Spielarten.
Die beiden Wünsche, in bestimmter Weise zu leben und in be-
stimmter Weise zu sein, verändern das Leben der Wesen, die sie
haben, gravierend. Beide Wünsche bringen eine Welle von Innova-
tionen mit sich. Zunächst gelangen mit ihnen offenkundig äußerst
starke, oft maßgebliche Wünsche in das Gefüge des Wollens. Sich
klar zu werden, dass man etwas will, das nicht dazu passt, wie man
leben will, führt gewöhnlich dazu, das Wollen fallen zu lassen. Und
in Situationen, in denen man nicht weiß, ob einem dieses oder jenes
wichtiger ist, ob man dieses oder jenes tun soll, ist es naheliegend,
zu überlegen, was am besten dazu passt, wie man insgesamt leben
und sein will. Das gewollte Leben und das gewollte Selbst bilden so
den Maßstab, an dem sich Wollenskonflikte entscheiden lassen. Ja,
es scheint, als gewinne das Gefüge des Wollens auf diese Weise ins-
gesamt eine einheitsstiftende Ausrichtung auf diese zwei Ziele hin.
Das gewollte Leben und das gewollte Selbst sind nicht nur Maß-
stäbe für anderes Wollen, sondern auch dafür, wie das Leben faktisch
ist und was für eine Person man faktisch ist. Dadurch, dass wir diese
besonderen Wollensinhalte haben, sind wir Wesen, die zur Selbst-
evaluation und zur Evaluation des eigenen Lebens fähig sind. Wir
sind selbst-kritische Wesen und können uns selbst und unser Leben
gut und schlecht finden. Hat man die evaluative Perspektive auf das
eigene Leben erst einmal entwickelt, kann man auch die eigene Ver-
gangenheit in diesem Licht sehen und beurteilen. Das ganze Leben,
das zukünftige, das gegenwärtige und auch das vergangene, wird so

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 67

in diese Perspektive gerückt. Dabei ist die Vorstellung davon, wie


man leben und sein will, nichts fest Fixiertes. Es ist allenfalls eine
vage, vorläufige, nur mehr oder weniger artikulierte Vorstellung, die
für neue Erfahrungen offen ist. Wir streben nicht nur Dinge an, von
denen wir schon wissen, dass sie angenehm sind, sondern auch sol-
che, von denen wir das nur annehmen. Erst wenn sie Wirklichkeit
werden, können wir erfahren, ob sie wirklich angenehm sind oder
nicht. Wir machen also in diesem wie in anderen Punkten ständig
neue Erfahrungen, und damit verändert sich unweigerlich unsere
Vorstellung davon, wie wir leben und sein wollen.
Eine weitere, ebenfalls bedeutende Veränderung kommt in den
Blick, wenn man sich verdeutlicht, wie stark das gesteigerte Imagi-
nationsvermögen, das mit dem Zukunftsbewusstsein entsteht, Ein-
fluss auf die Ausrichtung des Wollens hat und welches Potential es
in dieser Hinsicht in sich birgt. Die Menschen imaginieren in der
Zukunft, wie gesagt, keineswegs nur das als angenehm und unange-
nehm, was sie in der Vergangenheit als solches kennengelernt haben.
Sie können Erfahrungen in Einzelelemente zerlegen und diese Ele-
mente in neuer Weise rekombinieren, sie können vergangene Erfah-
rungen auf andere, mehr oder weniger ähnliche Fälle übertragen, sie
können vergangene Erfahrungen verallgemeinern und extrapolieren.
Sie imaginieren deshalb Dinge als angenehm und unangenehm, ohne
je die Erfahrung gemacht zu haben, dass sie angenehm oder unan-
genehm sind. So kann jemand, der noch nie in einem Haus am See
gelebt hat, ja sich noch nie in einem solchen Haus aufgehalten hat,
die Vorstellung entwickeln, es müsse schön sein, am See zu woh-
nen, und den Wunsch ausbilden, dies zu tun. Aus einzelnen, neu
zusammengebrachten Erfahrungspartikeln entsteht auf diese Weise
eine neue Imagination des Angenehmen und damit auch ein neuer
Gegenstand des Wollens.
Doch tatsächlich geht die Macht der Imagination sehr viel weiter.
Sie kann Vorstellungen und Vorstellungskomplexe schaffen, die sich
ganz oder sehr weitgehend von allen Erfahrungen lösen, die auch
mit dem Angenehmen und dem Wollen zunächst gar nichts zu tun
haben, innerhalb deren sich bei weiterer Entfaltung dann aber doch
ergibt, bestimmte Dinge als angenehm zu imaginieren und anzustre-
ben. So können sich Menschen vorstellen, dass es ein übernatürliches
persönliches Wesen gibt, – ein Wesen, das sich für sie interessiert,
sich um sie kümmert, etwas von ihnen will, ihnen Belohnungen und
Bestrafungen in Aussicht stellt und so ihr Verhalten zu steuern ver-

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68 Teil I: Überlegen und Wollen

sucht. Diesen Rahmen kann man dann in sehr verschiedener Weise


weiter ausmalen. Lebt man in solchen Vorstellungen, entsteht wie
von selbst die Idee, dass es angenehm sein muss, so zu handeln, dass
es den Beifall des höchsten Wesens findet. Genauso wie es unange-
nehm sein muss, sich den Zorn und Unwillen dieses Wesens zuzu-
ziehen. Innerhalb einer solchen Imagination kommt es also zu völlig
neuen Gegenständen des Wollens. Man kann sich leicht vorstellen,
dass der Wunsch, dem höchsten Wesen zu gefallen und seinen Beifall
zu finden, ein äußerst starker Wunsch ist, der in der Konkurrenz der
Wünsche viele andere Wünsche, vielleicht sogar alle, überwiegt. Die-
ses Beispiel zeigt, wie immens die Bedeutung der Imagination für die
Ausgestaltung des menschlichen Wollens sein kann. Die Imagination
kann das Wollen auf ihren Flügeln sehr weit hinaustragen. Es ist klar,
dass Tiere dies alles nicht kennen. Zwischen dem Wunsch Sultans,
die Bananen, die er an der Decke sieht, zu fressen, und dem Wunsch
eines Menschen, sich gottgefällig zu verhalten, liegt ein Ozean. Er ist
durch das unbegrenzte Zukunftsbewusstsein und die dazu passende
Imaginationskraft entstanden.
Man muss diese Differenz noch aus einer anderen Perspektive
beleuchten, um zu sehen, wie grundlegend sich die Handlungssteu-
erung der Menschen von der anderer Lebewesen unterscheidet. In
Bezug auf nicht-menschliche Lebewesen, die etwas wollen, wurde
gesagt, dass ihr Wollen auf das Angenehme und Unangenehme geht,
dass sie aber nicht selbst bestimmen, was für sie angenehm und un-
angenehm ist. Das finden sie vielmehr vor, sie entdecken und lernen
es. Was sie angenehm und unangenehm finden, ist genetisch fest-
gelegt. Damit sind ihre Ziele, das, was sie wollen und nicht wollen,
festgelegt. Die Überlegung zum Einfluss der Imagination auf die
Ausrichtung des menschlichen Wollens zeigt nun, dass es bei den
Menschen wenigstens zum Teil anders sein muss. Wenn man sich
ein gottgefälliges Verhalten als angenehm vorstellt und es deshalb
will, ist dies das Ergebnis einer weit ausgreifenden Imagination. Und
diese Imagination resultiert nicht aus einer genetischen Determina-
tion. Dieses spezielle Ziel zu haben, ist also nicht das Ergebnis einer
genetischen Festlegung, sondern eines mentalen Geschehens, – ei-
nes Geschehens, das durch den Kopf der Lebewesen hindurch läuft
und nicht an ihm vorbei. Wenigstens zum Teil sind, so lässt dieses
Beispiel bereits erkennen, die Ziele der Menschen nicht genetisch be-
stimmt, sondern kommen aus einer anderen Quelle. Darin liegt eine
grundsätzliche Veränderung und ein weiterer bedeutender Schritt in

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 69

der Geschichte des Wollens. Ich werde diesen Punkt in Teil II, in
dem es um die inhaltliche Ausrichtung des menschlichen Wollens
gehen wird, genauer untersuchen.
Ich kann die zurückliegenden Überlegungen jetzt zusammenfas-
sen: Die Expansion des Zukunftsbewusstseins beim Menschen, ver-
bunden mit dem Entstehen einer leistungsstarken Imaginationskraft
und eines Zeitbewusstseins, verändern das Wollen, seine Struktur
und seine Ausrichtung massiv. Es entsteht eine Vielzahl von kon-
kurrierenden Wünschen, die Konkurrenz wird dadurch verschärft,
dass zukünftige Wünsche bereits antizipiert und einbezogen werden.
Damit entsteht die Notwendigkeit aufwendiger Koordination. Es
entstehen zudem völlig neuartige Gegenstände des Wollens, darun-
ter solche, die eine Selbstevaluation und Selbstkritik möglich ma-
chen. Es entstehen verschiedene Formen zweistufigen Wollens. Und
es werden Ziele möglich, auf die die Menschen nicht aus sind, weil
die Natur sie so ausgestattet hat, sondern weil sie imaginativ kreativ
sind. All dies sind entscheidende Ereignisse in der Geschichte des
Wollens. Und es ist keineswegs so, dass die Veränderung allein darin
besteht, dass zukünftiges Wollen antizipiert und mitberücksichtigt
wird. Dies ist nur ein Element innerhalb einer wesentlich breiteren
und weiter reichenden Neuformierung. Mit der Darlegung, wie sie
möglich wurde, durch die Entstehung einer im Prinzip unbegrenz-
ten Zukunft, ist jetzt zumindest im Umriss auch die zweite Hälfte
der Geschichte des Wollens erzählt.

6. Zwei Bemerkungen: Hobbes und Kant

Man könnte jetzt im Einzelnen ausbuchstabieren, welche weiteren


Veränderungen sich aus den beschriebenen Veränderungen ergeben.
So ist es offenkundig, dass ein Lebewesen, das Zukunft und Ver-
gangenheit hat, das Ziele in der Zukunft hat und eine Idee davon,
wie es leben und sein will, Charaktereigenschaften ausbildet und
Affekte, Gefühlslagen und Stimmungen kennt, die anderen Lebewe-
sen fremd sind. Immer wieder ist gesagt worden, dass die Menschen
die Vorteile des Lebens in der Zeit damit bezahlen müssen, dass sie
mit Angst und Furchtsamkeit in eine unsichere Zukunft schauen, in
dauerhafter Sorge und Unruhe leben, den eigenen Tod antizipieren
und sich der eigenen Vergänglichkeit und des unabänderlich Provi-
sorischen ihres Lebens bewusst werden. Und dass für sie deshalb

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70 Teil I: Überlegen und Wollen

wirkliche Zufriedenheit und wirkliches Glück nicht erreichbar seien.


Oft wurde demgegenüber das Glück der Tiere besungen, sie leben
in der Gegenwart, wie Nietzsche gesagt hat, »kurz angebunden …
an den Pflock des Augenblicks«16, und kennen die aus dem Blick in
die Zukunft kommenden Bedrängnisse nicht. Ich gehe dem nicht
nach, auch nicht der Frage, ob die Idee des »Bezahlens« die Sache
trifft oder vielleicht nur eine ihrer vielen Seiten.
Ich möchte zum Abschluss dieses Kapitels stattdessen kurz auf
zwei Aspekte des menschlichen Zukunftsbewusstseins hinweisen,
die Hobbes und Kant hervorgehoben haben. In beiden Aspekten
spiegelt sich neben anderem, wie weit die koordinativen Notwen-
digkeiten reichen, in die die Menschen auf Grund ihres Zukunfts-
bezugs geraten. »Der Mensch«, so hat Hobbes gesagt, »überragt
an Raubgier und Grausamkeit Wölfe, Bären und Schlangen. Denn
diese Tiere rauben nicht über ihren Hunger hinaus, und sie sind
nicht grausam, wenn sie nicht angegriffen werden, der Mensch aber
ist auch durch seinen zukünftigen Hunger hungrig.«17 Es ist also
die Tatsache, dass die Menschen Zukunft haben und ihr zukünfti-
ges Wollen antizipieren, die erklärt, dass sie so egoistisch und so un-
friedlich sind. Dieser Egoismus, gepaart mit Aggressivität, macht die
Menschen für die anderen, mit denen sie zusammenleben, tendenzi-
ell gefährlich. So dass jeder das Interesse hat, sich vor den anderen zu
schützen und ihrem egoistischen Verhalten Grenzen zu setzen. Aus
dem Wunsch, weiterzuleben, kombiniert mit der mentalen Präsenz
der Zukunft und des eigenen zukünftigen Wollens, entstehen also
zwei gegenläufige Interessen, einerseits das Interesse an der eigenen
Vormacht und am eigenen Vorteil und andererseits das Interesse, sich
vor genau diesen Interessen der anderen zu schützen. Diese beiden
Interessen müssen koordiniert und in eine möglichst stabile Balance
gebracht werden. Am ehesten so, dass man den eigenen Egoismus
beschränkt als Vorbedingung dafür, dass die anderen dasselbe tun.
Einen anderen wichtigen Aspekt des menschlichen Zukunfts­
bezugs hat Kant beleuchtet. Wie sehr sich die Menschen, so sein

16 F. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, 2. Stück, I, Kritische Studi-


enausgabe, hg. v. G. Colli / M. Montinari (München 1988) Bd. 1, 248.
17 Th. Hobbes: De homine, X, 3, Opera Philosophica, ed. G. Molesworth,
vol. 2 (London 1839) p. 91: »… homo lupos, ursos, serpentes, qui ultra fa-
mem rapaces non sunt, nec nisi lacessiti saeviunt, rapacitate et sevitia superat,
etiam fame futura famelicus.«

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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 71

Gedanke, mit der Zukunft beschäftigen, wie weit, wie oft und mit
welcher Intensität, liegt nicht einfach fest. Es gibt ein Mehr oder
Weniger und ein Zuviel und ein Zuwenig. Kant steht vor allem das
Zuviel vor Augen. Man kann die Imagination allzu sehr laufen las-
sen. Man kann »künftige Plagen in den gegenwärtigen Genuss mi-
schen« und sich das Leben auf diese Weise »sauer machen«.18 Man
kann immer schon in der Zukunft sein und darüber die Gegenwart
verlieren, die dann nur noch ein lästiger Übergang zur Zukunft ist.19
Der Hypo­chonder ist für Kant eine Figur, die sich zu sehr mit der
Zukunft beschäftigt und sich verrückt macht. »Es ist also nötig«,
so die Folgerung, »dass man das Vermögen der Seele, ins Künf-
tige herauszusehen, … moderiere und dirigiere.«20 Ansonsten seien
Schwächung der Nerven, Krankheiten und Laster die Folgen.21 Kant
nahm an, es sei Aufgabe des Verstandes, die Imagination zu zügeln.
Lassen wir offen, was das genau heißen soll und wie das vor sich
geht. Klar scheint zu sein, dass geschwächte Nerven, Krankheiten
und Laster Dinge sind, die man nicht will. Man muss also das rechte
Maß des Zukunftsbezugs im Blick auf das finden, was man will und
nicht will, und das Zuviel und das Zuwenig meiden, weil das eine
wie das andere den eigenen Zielen abträglich wäre. Auch an dieser
Stelle bedarf es also einer schwierigen Koordination, bei der das Wie
der Beschäftigung mit der Zukunft jetzt selbst zum Gegenstand des
Überlegens wird. Auch hier fällt es den Menschen zu, selbst, durch
eigenes Überlegen, den richtigen Weg zu finden. Wie sie in diesem
Punkt operieren, hat nicht die Natur für sie, an ihrem Kopf vorbei,
festgelegt.

18 I. Kant: Vorlesungen über Anthropologie, Menschenkunde (vermutlich


1781/82) (Nachschrift), AA XXV/2, 1022.
19 I. Kant: Vorlesungen über Anthropologie. Parow (1772/73) (Nachschrift),
AA XXV/1, 336.
20 Ebd.
21 Vgl. Vorlesungen über Anthropologie, Menschenkunde, AA XXV/2, 955 f.

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen

1. Zukunftsbewusstsein und Sprache, Vorbemerkungen

Die Menschen, so haben wir gesehen, stoßen die Tür zur Zukunft
auf, sie stoßen sie sehr weit auf. Damit entsteht eine Dynamik, die
fast alles verändert. Es entsteht ein Lebewesen, das sich aus der Bin-
dung an das Hier und Jetzt zu lösen vermag, das sich mental auf
Dinge bezieht, die außerhalb der momentanen Wahrnehmungssitu-
ation liegen, und dessen Verhalten durch und durch auf die Zukunft
gerichtet ist. Bei den Tieren läuft der Zukunftsbezug hingegen zum
größten Teil an ihrem Kopf vorbei. Und wo sie sich doch mental
auf die Zukunft beziehen, ist sie, so scheint es, sehr klein und nicht
mehr als eine geringfügige Erweiterung der Gegenwart.
Wenn diese Differenz zwischen den Menschen und den anderen
Lebewesen von so großer Bedeutung ist, drängt sich die Frage auf,
ob sie etwas mit der anderen Differenz zu tun hat, die einem viel-
leicht als erstes einfällt, wenn es um die Unterschiede von Menschen
und Tieren geht, die Differenz, dass Menschen sprechen können
und Tiere nicht. Schon Köhler hatte, wie wir sahen, vermutet, »der
gewaltige Unterschied« zwischen Menschenaffen und Menschen
gründe im Fehlen eines ausgedehnten Zukunftsbewusstseins und
im Fehlen der Sprache auf Seiten der Menschenaffen.1 Gibt es also
einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Elementen? Ist, Spra-
che zu haben, eine Voraussetzung für die Entwicklung des Zukunfts-
bewusstseins und des damit verbundenen Zeitbewusstseins? Musste
der Ingenieur, der den Auftrag hatte, ein Lebewesen zu schaffen, das
auf die Zukunft gerichtet ist und sein zukunftsbezogenes Verhalten
mental steuert, dieses Lebewesen mit der Fähigkeit zur Sprache aus-
statten? Dieser Frage werde ich in diesem Kapitel nachgehen.
In der Frage steckt eine auf den ersten Blick überraschende Prä-
misse. Nämlich die Idee, dass die Sprache nicht nur eine kommuni-
kative Funktion hat, sondern möglicherweise auch ein Vehikel für
bestimmte geistige Leistungen ist, die es ohne Sprache nicht geben
könnte. Tatsächlich besteht in der heutigen Philosophie ein breiter
Konsens darüber, dass die Sprache auch diese zweite Funktion hat,
sie macht bestimmte mentale Operationen erst möglich. Fraglich

1 Köhler, Intelligenzprüfungen von Menschenaffen, 192.

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 73

ist dann, welches die nur durch Sprache möglichen mentalen Leis-
tungen sind. Wie schon erwähnt, haben vor allem in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgebliche Philosophen in dieser Sa-
che sehr weitgehende Positionen vertreten. Sprache sei, so wurde
gesagt, eine Voraussetzung dafür, zu denken, dafür, zu überlegen,
ja sogar dafür, Wünsche und Meinungen zu haben. Das impliziert
natürlich, dass Tiere nicht denken, nicht überlegen und keine Wün-
sche und Meinungen haben können. In diesen Auffassungen wird
die Bedeutung der Sprache jedoch weit überschätzt. Es scheint mir
offensichtlich zu sein, dass ein Schimpanse wie Sultan Bewusstsein
hat, ihm sind Dinge angenehm und unangenehm, und es ist nahe-
liegend, anzunehmen, dass er Wünsche hat, er will an die Bananen
heran, dass er Meinungen hat, Meinungen über das, was um ihn
herum ist, und auch dass er die Fähigkeit hat, zumindest einfache
instrumentelle Überlegungen anzustellen. Wenn er auf dem Tisch
sitzt und damit beschäftigt ist, wie er an die Bananen kommt, dann
überlegt er, auf welchem Weg er sein Ziel erreichen kann. All dies
geht ohne Sprache. Was Sultan nicht hat, ist ein nennenswertes Zu-
kunftsbewusstsein, und was er nicht hat, ist eine Sprache, er kann
nicht sprechen. Und deshalb stellt sich die Frage, ob die Sprache eine
Vehikel-Funktion speziell für das Zukunftsbewusstsein hat und ob
die Entstehung dieser beiden Fähigkeiten Dependenzen oder Inter-
dependenzen aufweist.
Ein Zusammenhang von Zukunftsbewusstsein und Sprache ist oft
behauptet worden. So sagt zum Beispiel Searle, es bedürfe sprachli-
cher Mittel, um »zeitliche Beziehungen zu repräsentieren« und um
»die Zukunft und ihre Beziehung zur Gegenwart und zur Vergan-
genheit zu repräsentieren«.2 Und Sprache sei nötig, um »die Zeit
zu ordnen«.3 Dennett schreibt, dass unsere Spezies nach der Erfin-
dung der Sprache »einen Weg nach oben« antrat, »auf dem sie alle
anderen biologischen Arten in ihrer Fähigkeit zum Vorausschauen
und Nachdenken weit hinter sich ließ.«4 Sprechen zu können, so
also die These, ist eine oder die Bedingung für die Expansion des
Zukunftsbezugs. Ähnlich allgemein spricht Tugendhat von »Struk-
turen des menschlichen Verstehens, die mit der Sprache eng zusam-

2 J. R. Searle: Rationality in Action (Cambridge, Mass. 2001) 146.


3 Ebd. 202.
4 D. C. Dennett: Kinds of Minds (New York 1996) 147; dt. Spielarten des
Geistes (München 1999) 177.

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74 Teil I: Überlegen und Wollen

menzuhängen scheinen, wie z. B. das Zeitbewusstsein …«5 In die-


sen Äußerungen wird der Zusammenhang freilich nur behauptet,
aber nicht gezeigt, dass er besteht und auf Grund wovon er besteht.
Dasselbe gilt für viele ähnliche Äußerungen.6 Vermutlich steht hier
häufig die simple Vorstellung im Hintergrund, wenn Tiere zeitli-
che Strukturen nicht repräsentieren und die Zeit nicht einteilen und
messen können, könne das seinen Grund nur darin haben, dass sie
keine Sprache haben. Auch sonst wird oft aus der Tatsache, dass
Menschen etwas können, was Tiere nicht können, ohne weiteres
geschlossen, die Fähigkeit sei sprachabhängig. Aber warum soll es
nicht Dinge geben, die Menschen können, Tiere hingegen nicht und
die dennoch nicht sprachabhängig sind? Es gibt dann nicht die eine
fundamentale Differenz, die alle anderen erklärt, sondern mehrere
Unterschiede, die voneinander unabhängig sind oder weniger ein­
linig aufeinander bezogen sind.
Wie wir sehen werden, ist es überaus schwierig, in der Frage der
Beziehung von Zukunftsbewusstsein und Sprache über Mutmaßun-
gen hinauszukommen. Es sind viele Unbekannte im Spiel. Bevor
ich einsetze, noch drei Vorbemerkungen. Erstens. Der evolutio-
näre Entwicklungszweig, der zum Homo sapiens geführt hat, hat
sich vor etwa sechs Millionen Jahren von der Linie getrennt, die
zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos,
führte. Wann im Laufe dieser Zeit die Sprache entstanden ist, ein
Prozess, der wahrscheinlich selbst sehr lange gedauert hat, wissen
wir nicht.7 In jedem Fall müssen wir annehmen, dass es über lange

5 E. Tugendhat: Anthropologie als »erste Philosophie« (2007), in: E. T.:


Anthropologie statt Metaphysik, 2. Aufl. (München 2010) 34–54, 44.
6 Vgl. auch J. T. Fraser: Time. The Familiar Stranger (Amherst 1987) 15,
172; dt. Die Zeit: vertraut und fremd (Basel 1988) 31 f., 214; G. J. Whitrow:
Time in History (Oxford 1988) 5 f.; dt. Die Erfindung der Zeit (Wiesbaden
1991) 21; D. Bickerton: Language and Human Behavior (Seattle 1995) 100;
J. L. Bermúdez: Thinking without Words (Oxford 2003) 180 f.; M. C. Cor-
ballis / Th. Suddendorf: Memory, Time and Language, in: Ch. Pasternak (ed.):
What Makes Us Human? (Oxford 2007) 17–36.
7 Vgl. hierzu R. Dawkins: The Ancestor’s Tale (London 2004) 67–71;
dt. Geschichte vom Ursprung des Lebens (Berlin 2008) 109–114. – Tatsäch-
lich gehen die Vermutungen darüber, wann unsere Vorfahren begonnen ha-
ben zu sprechen, weit auseinander. So berichtet Bermúdez, Thinking without
Words, 180, dass viele Anthropologen annehmen, die Sprache sei vor 35.000
bis 40.000 Jahren entstanden, und er scheint sich dieser Einschätzung anzu-
schließen. P. Gärdenfors: How Homo Became Sapiens. On the Evolution

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 75

Zeit ­Hominiden und auch Angehörige der Gattung Homo gegeben


hat, die nicht sprechen konnten. Es hat also auch ein menschliches
Leben ohne Sprache gegeben.
Zweitens. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Spra-
che, anders als die biologische Fähigkeit zur Sprache, eine Erfin-
dung ist. Die Menschen mussten sie erfinden dafür, dass es sie gibt.
­Hobbes nennt die Sprache »the most noble and profitable inven-
tion of all other …«8 Sie ist also etwas ganz anderes als eine men-
tale Fähigkeit, die sich im evolutionären Prozess herausbildet. Des-
halb ist es streng genommen nur eine Metapher, von der Evolution
der Sprache zu reden. Die Sprache, oder besser: die vielen Sprachen,
die die Menschen erfunden haben, sind Artefakte, Werkzeuge, ge-
schaffen, um durch sie etwas zu erreichen, was man ohne sie nicht
erreichen konnte. Wenn es richtig ist, dass die Sprache nicht allein
dazu dient, zu kommunizieren, sondern auch eine Ermöglichungs-
bedingung ist für bestimmte Formen des Denkens, möglicherweise
auch für das Zukunftsbewusstsein, bedeutet das, dass die Menschen
mittels einer Erfindung, die sie selbst hervorbringen, eine höhere
Stufe ihres geistigen Lebens erreichen. Nicht eine Sequenz natür-
licher Veränderungen, sondern etwas selbst Hervorgebrachtes ist
dann das transformative Element, aus dem eine neue und gesteigerte
Form des Geistes hervorgeht. Wenn es so ist, ist es ein ganz und gar
außer­gewöhnlicher Vorgang in der Geschichte des Geistes: Mentale
Fähigkeiten ermöglichen eine Erfindung, und diese Erfindung ist
das Vehikel zu neuen, bis dahin unmöglichen mentalen Leistungen.
Wobei anzunehmen ist, dass die Sprache zum Zwecke der Kommu-
nikation erfunden wurde und nicht für ihre außerkommunikativen
Funktionen. Diese sind ein nicht-intendierter Nebeneffekt, aller-
dings ein Nebeneffekt von ungeheurer Bedeutung.
Drittens. Natürlich können auch Tiere kommunizieren. Man
kann deshalb sagen, dass auch sie Sprache haben, freilich nicht die
Sprache, wie wir Menschen sie kennen und für die wir das Wort
»Sprache« oft reservieren. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie
­äußerst eng die Grenzen sind, in denen sich die Sprache der Tiere
bewegt, treten im Kontrast bereits einige der für unsere Fragestel-
lung wichtigsten Leistungen der menschlichen Sprache hervor. Des-

of Thinking (Oxford 2003) 141 hingegen vermutet, die Sprache sei sehr viel
früher: vor 200.000 bis 300.000 Jahren entstanden.
8 Th. Hobbes: Leviathan, ed. R. Tuck (Cambridge 1996) ch. 4, p. 24.

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76 Teil I: Überlegen und Wollen

halb ist es sinnvoll, wenigstens kurz auf die Kommunikation der


Tiere einzugehen.

2. Kommunikation bei Tieren und die menschliche Sprache

Tiere kommunizieren mit anderen Tieren durch chemische, visuelle


oder akustische Signale. Ameisen zum Beispiel sind Spezialisten für
chemische Kommunikation. Sie produzieren verschiedene Signal-
stoffe und stoßen sie in Form von kleinen Geruchswolken aus. Ihre
Artgenossen reagieren darauf mit festgelegten Verhaltensweisen. Die
verschiedenen Gerüche haben unterschiedliche Effekte: sie alarmie-
ren, sie dienen der Rekrutierung von Helfern, dem Erkennen von
Nestgenossen, der Markierung des Territoriums. Ameisen kennen
10 – 20 verschiedene Signale dieser Art.9 Akustisch kommunizieren
die in der Literatur häufig behandelten Grünen Meerkatzen. Das
sind kleine Affen, ungefähr von der Größe einer Hauskatze. Sie ken-
nen verschiedene Alarmrufe, mit denen sie auf unterschiedliche An-
greifer reagieren, auf Leoparden und andere Katzen, auf Adler und
auf Schlangen. Jeder der Alarmrufe bewirkt eine andere Reaktion
bei den Artgenossen. Wenn der Leopardenruf erfolgt, fliehen die
Affen auf die Bäume, hoch auf die dünnen Äste. Auf den Adleralarm
reagieren sie, indem sie sich aufstellen und in die Luft schauen oder
indem sie in die Büsche fliehen. Bei einem Schlangenalarm stellen
sie sich auf die Hinterbeine und spähen ins Gras.10
Sechs Merkmale dieser Signalsprachen, wie wir sie bei Ameisen,
Grünen Meerkatzen und vielen anderen Tieren finden, möchte ich
hervorheben:
(i) Zunächst ist, was hier geschieht, weitgehend genetisch deter-
miniert. Bei den Ameisen sind das Ausstoßen der Signalstoffe und
die Reaktionen darauf fest verdrahtet. Auch eine Grüne Meerkatze
stößt, wenn sie einen Adler sieht, automatisch den entsprechenden
Alarmruf aus. Das Verhalten ist durch Reiz-Reaktionsmechanismen
festgelegt und nicht mental, durch ein Wollen und Überlegen, ge-

9 Vgl. hierzu B. Hölldobler / E. O. Wilson: The Superorganism (New York


2009) ch. 6; dt. Der Superorganismus (Berlin 2010).
10 Vgl. hierzu besonders D. L. Cheney / R. M. Seyfarth: How Monkeys See
the World (Chicago 1990) 102–110; dt. Wie Affen die Welt sehen (München
1994) 141–151.

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 77

steuert. Ein Tier, das einen Alarmruf ausstößt, hat folglich nicht die
Intention, die anderen Tiere zu alarmieren. Es ruft einfach, ohne
Intention.11 Der Ruf hat einen bestimmten Effekt, aber er wurde
nicht um dieses Effekts willen ausgestoßen. Das Tier handelt in ei-
ner Dafür-dass-Struktur, weiß davon aber nichts. Die Reaktionen
der Meerkatzen auf die Alarmrufe werden offenbar nicht nur durch
angeborene, sondern auch durch erlernte Mechanismen bestimmt.
Junge Tiere reagieren nicht immer richtig auf die unterschiedlichen
Signale, oder sie schauen, bevor sie reagieren, auf ältere Tiere und
folgen ihnen in ihrem Verhalten.
(ii) Dass das Verhalten, vor allem das der Signalgeber, weitgehend
genetisch festgeschrieben ist, bedeutet, dass wir es mit einer Kom-
munikation ohne Bedeutungen zu tun haben. Die Meerkatze, die
den Alarmruf ausstößt, hat nicht die Vorstellung: der Ruf bedeu-
tet, dass ein Adler in der Luft ist. Vielmehr sieht sie den Adler und
stößt automatisch diesen Laut aus. Diese Kommunikation funktio­
niert ohne Bedeutungen. Genauso wie das chemische Kommuni-
kationssystem der Ameisen ohne Bedeutungen funktioniert. Wenn
Grüne Meerkatzen und zum Beispiel auch Paviane auf Laute ihrer
Artgenossen nicht von Geburt an reagieren und erst lernen müssen,
was die verschiedenen Rufe signalisieren12, lernen sie offenbar, ei-
nen Laut mit einer bestimmten Situation zu assoziieren, so wie der
Pawlow’sche Hund lernte, den Klang einer Glocke mit der Bereit-
stellung von Futter zu assoziieren. Dieses Assoziieren ist noch weit
entfernt von der Zuweisung einer Bedeutung, aber möglicherweise
ein Schritt in diese Richtung.
(iii) Aus dem Gesagten folgt, dass die Kommunikation der Tiere
keine konventionellen Elemente enthält. Die Affen legen nicht fest,
mit welchem Laut sie auf eine Situation reagieren, es ist – genetisch –
festgelegt. Deshalb reagieren auch alle Grünen Meerkatzen, sieht
man von geringfügigen alters- und geschlechtsbedingten Schwan-
kungen ab, mit genau demselben Laut auf einen Adler in der Luft.
Der Kommunikation der Tiere fehlt damit jedes Element von Er-
findung.

11 Vgl. R. M. Seyfarth / D. L. Cheney: Signalers and Receivers in Animal


Communication. Annual Review of Psychology 54 (2003) 145–173, 168;
J. Fischer: Affengesellschaft (Berlin 2012) 238–242.
12 Siehe hierzu J. Fischer: Die Evolution der Sprache (Ladenburg 2008) 30 f.

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78 Teil I: Überlegen und Wollen

(iv) Ein in unserem Kontext besonders wichtiges Merkmal dieser


Kommunikationsform liegt darin, dass sie vollständig gegenwarts-
bezogen ist. Eine Meerkatze signalisiert eine gegenwärtige Gefahr,
und alle kommunikativen Möglichkeiten, über die sie verfügt, sind
auf Gegenwärtiges bezogen. Sie kann niemals signalisieren, dass ges-
tern an dieser Stelle Schlangen waren. Und sie kann auch niemals
etwas über die Zukunft zum Ausdruck bringen. Man kann, von der
menschlichen Sprache her denkend, noch weitere Unmöglichkeiten
nennen. Ein Affe kann niemals zum Ausdruck bringen, dass an einer
Stelle keine Schlangen sind oder dass dort Schlangen sein könnten.
Das wären Äußerungen, die über die Wahrnehmungs­situation hin-
ausgingen und nicht durch sie verursacht wären. Die Signalsprache
kennt aber nur die Wahrnehmungssituation. Die Welt, die sie ver-
mittelt, kennt keine Vergangenheit, keine Zukunft, keine bloß ima-
ginierten Möglichkeiten, keine Negation. All das lässt sich mit dieser
Sprache nicht zum Ausdruck bringen. Die Tiere leben in ihrer Kom-
munikation ausschließlich im Jetzt und sind nicht in der Lage, in die-
sem Medium die Tür zur Zukunft und zur Vergangenheit zu öffnen.
Dennoch hat die Kommunikation der Meerkatzen offenkundig
die Funktion, für die Adressaten etwas Nicht-Präsentes präsent
zu machen. Sie sehen die Schlange noch nicht, aber sie hören den
Alarmruf. Das eine tritt an die Stelle des anderen und löst stellvertre-
tend die Verhaltensreaktion aus. Die Signalsprache dient also dazu,
dass etwas außerhalb der eigenen Wahrnehmungssituation bereits
handlungsrelevant werden kann. Es liegt auf der Hand, dass dies die
Überlebenswahrscheinlichkeit der Lebewesen erhöht.
(v) Die Grünen Meerkatzen können auch nichts über eine
Schlange zum Ausdruck bringen. Sie können zum Beispiel nicht
darüber informieren, dass eine Schlange groß ist. Auch das ist un-
möglich. Dafür bräuchten sie ganz andere Ausdrucksformen. Sie
bräuchten sprachliche Einheiten, die in sich mindestens zwei Kom-
ponenten enthalten, eine, die sich (in unserem Beispiel) auf eine
Schlange bezieht, und eine, die sich auf das Großsein bezieht. Eine
solche innere Struktur haben die Laute der Affen nicht, und damit
sind nähere Informationen über das hinaus, was der Alarmruf ver-
mittelt, nicht möglich.
(vi) Die Signalsprache der Grünen Meerkatzen ist offenkundig an
den biologischen Zweck des Weiterlebens gebunden. Es ist für ihr
Weiterleben wichtig, möglichst früh über Angreifer informiert zu
sein. Die Kommunikation der Tiere ist, wie es scheint, generell auf

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 79

die biologischen Zwecke oder Unterzwecke bezogen. Eine Grüne


Meerkatze kann nicht signalisieren, dass da Antilopen oder Elefan-
ten sind oder ein Vogel singt. Diese Sprache hat folglich nur einen
äußerst kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit zum Gegenstand, und
es besteht keine Möglichkeit, darüber hinauszugehen. Dasselbe gilt
für die Ameisen, selbst wenn sie über eine etwas größere Kommu-
nikationsbreite verfügen sollten. Hier wie dort fehlt der Sprache
jedes generative Element. Die Sprachen der Tiere sind vollkommen
geschlossene Systeme.
Es fällt jetzt leicht, im Kontrast einige wesentliche Züge der
menschlichen Sprache hervorzuheben.
(i) Die Kommunikation der Menschen ist nicht genetisch fixiert,
sondern mental gesteuert. Es gibt weder auf der Seite des Sprechers
einen Automatismus zwischen der Wahrnehmung einer Situation
und einer sprachlichen Äußerung noch auf der Seite des Adressa-
ten einen Automatismus zwischen dem Hören der Äußerung und
einem Verhalten. Der Sprecher äußert etwas, weil er die Intention
hat, andere über etwas zu informieren. Das Dafür-dass der Hand-
lung ist Gegenstand seiner Überlegung und Teil dessen, was er auf
der mentalen Bühne vor sich hat.
(ii) Die menschliche Sprache ist weiterhin eine Sprache mit Be-
deutungen. Die Wörter, und auch andere sprachliche Elemente wie
die Satzformen, haben Bedeutungen, die die Menschen ihnen zuge-
wiesen haben. Wir können annehmen, dass mit der Zuweisung von
Bedeutungen an Laute die Entwicklung der menschlichen Sprache
begann. Dies war der erste große Schritt.
(iii) Das impliziert bereits, dass die menschliche Sprache auf Kon-
ventionen beruht. Die Laute haben Bedeutungen, weil man überein-
kommt, sie ihnen zu geben. Es ist eine Konvention, dass im Deut-
schen das Wort »Tisch« für Tische steht und das Wort »Fisch« für
Fische. Es könnte genauso gut andersherum sein, und außerdem
hätte es noch tausend andere Möglichkeiten gegeben. Darin, dass
es auch anders sein könnte, spiegelt sich eine besondere Fähigkeit
des menschlichen Geistes. Die Menschen sind in der Lage, Din-
gen – in unserem Fall: Lauten – eine Funktion zuzuweisen, die sie
nicht auf Grund ihrer physikalischen Eigenschaften, sondern allein
auf Grund einer Konvention haben. Ich kann einen abgebrochenen
Ast, den ich im Wald finde, als Stock benutzen. Ich gebe ihm damit
eine Funktion, die er von sich aus nicht hat. Oder ich benutze einen
Kieselstein als Briefbeschwerer. Damit gebe ich dem Stein ebenfalls

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80 Teil I: Überlegen und Wollen

eine Funktion, die er als solcher nicht hat. In beiden Fällen weise
ich, das ist das Wichtige, den Dingen aber eine Funktion auf Grund
ihrer physikalischen Eigenschaften zu. Zwischen den Eigenschaften,
die der Ast hat, und der Funktion, in der ich ihn nutze, besteht ein
Zusammenhang. Ich kann ihn nur in dieser Weise benutzen, weil er
diese Eigenschaften hat. Genauso kann ich den Stein nur als Brief-
beschwerer benutzen, weil er schwer ist. Anders ist es bei Lauten.
Ihnen wird die Funktion, eine bestimmte Bedeutung zu haben, nicht
kraft ihrer physikalischen Eigenschaften zugewiesen, sondern allein
durch eine Konvention. Zwischen ihren physikalischen Eigenschaf-
ten und ihrer Funktion besteht kein Zusammenhang.
Lebewesen können also nur dann eine wirkliche Sprache haben,
wenn sie mental dazu in der Lage sind, allein konventionell eine
Funktion zuzuweisen. Und es scheint so zu sein, dass nur Menschen
diese Fähigkeit besitzen. Im Werkzeuggebrauch, zu dem ohnehin
nur sehr wenige Tiere in der Lage sind, zeigt sich diese Fähigkeit
nicht. Denn Steine, Stöcke und andere Dinge werden auf Grund
­ihrer materialen Eigenschaften als Werkzeuge gebraucht.
(iv) Natürlich ist die menschliche Sprache nicht nur gegenwarts-
bezogen. Sie besitzt Instrumente, um sich auf Dinge zu beziehen, die
nicht in der Wahrnehmung präsent sind. Sie vermag über Zukünfti-
ges, Vergangenes, Mögliches zu sprechen, genauso wie über zeitli-
che Relationen, Zeitpunkte, Zeiteinheiten, die Dauer von ­etwas, etc.
(v) Die menschliche Sprache kennt sprachliche Einheiten, die in
sich strukturiert sind, die in sich zwei oder mehrere Komponenten
enthalten und die aus diesen Komponenten gebildet werden. Das
macht es möglich, statt einfach Schlangenalarm zu geben, etwas über
eine Schlange mitzuteilen, zum Beispiel dass sie groß ist oder dass sie
verletzt ist. Die Elemente, die so kombiniert werden, können nicht
nur auf diese eine Weise, sondern auf vielfache andere Weise kombi-
niert werden. Man kann nicht nur über eine Schlange, sondern auch
über viele andere Dinge sagen, dass sie groß sind. Und über eine
Schlange kann man nicht nur sagen, dass sie groß ist, sondern noch
viele andere Dinge. Die menschliche Sprache arbeitet mit Elementen,
aus denen immer neue Kombinationen gebildet werden können, so
dass man die verschiedensten Dinge zur Sprache bringen kann. Man
kann dies die kombinatorische Struktur der Sprache nennen. Dabei
kann es einfache Formen der Kombinatorik geben, in denen man die
Elemente praktisch nur aneinanderreiht, dann aber, im Zuge einer
einsetzenden Dynamik, auch elaborierte Formen, in denen den ver-

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 81

schiedenen Arten des Kombinierens selbst differenzierte Bedeutun-


gen zugewiesen werden. Die Entstehung dieser kombinatorischen
Struktur ist wahrscheinlich nach der Zuweisung von Bedeutungen
der zweite große Schritt in der Genese der menschlichen Sprache.
Denn mit einer Sprache, die zwar schon Bedeutungen kennt, aber
nur mit Ein-Wort-Sätzen wie »Adler«, »Schlange«, »Fisch« ope-
riert, kann man nichts über etwas sagen. Genauso wenig kann man
auf diese Weise etwas über die Zukunft sagen. Dazu bedarf es eines
zweiten großen Schrittes, eben der Erfindung einer kombinatori-
schen Sprache.
(vi) Damit ist schon gesagt, dass die menschliche Sprache kein
geschlossenes, sondern ein offenes System ist. Man kann über alles,
was einem in den Sinn kommt, sprechen, für alles Neue neue Wörter
erfinden und für das Bekannte neue Ausdrucksformen suchen, um,
was einem wichtig ist, auf neue und besonders eindrückliche Weise
zur Sprache zu bringen. Die Sprache ist also ein ungemein kreatives
Medium, dessen Möglichkeiten von niemandem auch nur annähernd
ausgeschöpft werden können. Es ist klar, dass die menschliche Spra-
che eine Funktion im Hinblick auf die biologischen Zwecke hat.
Mit diesem Instrument ist man, was das Weiterleben angeht, sehr
viel besser gerüstet als ohne es. Nicht umsonst haben die Menschen
die ganze Erde erobert, und nicht umsonst sind sie die Spezies, die
überall über die anderen Lebewesen herrscht. Dennoch ist die Spra-
che offenkundig nicht darauf begrenzt, Informationen zu geben, die
unmittelbar für das Erreichen der biologischen Zwecke wichtig sind.
Wir können nicht nur über Gefahren, Essensquellen und Sexualpart-
ner sprechen, sondern über alles.
Diese Kontrastierungen zeigen sehr deutlich, wie weit die Kom-
munikation der Tiere und die menschliche Sprache voneinander
entfernt sind. Es ist keineswegs ein kleiner Schritt von dem einen
zum anderen. Die Sprache der Tiere ist vielmehr nur ein bescheide-
ner Anfang auf dem langen Weg zu einer wirklichen Sprache. Ihr
fehlen Bedeutung, kombinatorische Struktur und Situationsunab-
hängigkeit. Es zeigt sich auch, dass die Gegenwartsgebundenheit
der Tier-Sprache die Gegenwartsgebundenheit ihrer Lebensweise
spiegelt und auch bestätigt. Sie leben in der Gegenwart, allenfalls
mit kleinen Erweiterungen in die Zukunft, und sie kommunizieren
ausschließlich über Gegenwärtiges. Die Menschen hingegen kennen
Vergangenheit und Zukunft, und sie haben eine Sprache, die ihnen
erlaubt, über Vergangenes und Zukünftiges zu sprechen.

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82 Teil I: Überlegen und Wollen

3. Zeit und Sprache

Beginnen wir nach diesen allgemeinen Überlegungen mit der nähe-


ren Untersuchung des Zusammenhangs von Zukunftsbewusstsein
und Sprache. Das Zukünftige ist nicht präsent, es ist etwas Abwe-
sendes, und das Zukunftsbewusstsein ist deshalb ein Bewusstsein
von etwas Abwesendem. Wie aber ist es möglich, etwas Abwesendes
auf die mentale Bühne zu bringen? Wie kann man sich mental auf
etwas Abwesendes beziehen und es auf diese Weise präsent machen?
Die Antwort, die im letzten Kapitel gegeben wurde, lautete: Es ist
möglich durch die Fähigkeit zur Imagination. Man muss e­ twas, was
man nicht wahrnimmt, was also perzeptuell abwesend ist, imagi-
nieren können. Wobei es nicht ausreicht, nur innerhalb der Wahr-
nehmungssituation mögliche Veränderungen zu imaginieren (wie es
Sultan tut), man muss die Wahrnehmungssituation imaginativ wirk-
lich verlassen können.
Diese Fähigkeit ist offensichtlich eine wesentliche Voraussetzung
für eine Sprache wie die unsrige. Es ist immer wieder herausgestellt
worden, dass es eine charakteristische Leistung und eine der wich-
tigsten Funktionen der menschlichen Sprache ist, über etwas Ab-
wesendes, über etwas außerhalb der Wahrnehmungssituation spre-
chen zu können. Dies ist aber nur möglich, wenn das Abwesende
– in der Imagination – präsent ist. Man kann über Dinge sprechen,
die perzeptuell abwesend sind, aber nicht über Dinge, die mental
abwesend sind.
Wie wir sahen, spiegeln Menschen, wenn sie sich etwas Zukünf-
tiges oder verschiedene Varianten des Zukünftigen vorstellen, nicht
einfach in der Vergangenheit Wahrgenommenes in die Zukunft. Sie
zerlegen vielmehr wahrgenommene Dinge und Situationen in ver-
schiedene Elemente, rekombinieren diese Elemente in der Imagina-
tion und schaffen so imaginativ neue Gegenstände und Geschehens-
verläufe, erwartete, wahrscheinliche, unwahrscheinliche, erhoffte,
befürchtete. Die Imagination arbeitet kombinatorisch, sie kombi-
niert vorhandene Elemente zu immer neuen imaginativen Gehalten.
Und die Sprache tut dasselbe. Auch die Sprache hat diese kombi-
natorische Struktur. Imagination und Sprache zeigen in dieser Hin-
sicht eine deutliche Gleichförmigkeit. Wenn ich eine graue Tonne
sehe und mir vorstelle, dass sie nicht grau, sondern blau ist, dann
breche ich die Einheit des perzeptuellen Gehaltes auf, ich ziehe aus
der Einheit des Gegenstandes das Element des Grauseins heraus und

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 83

ersetze es durch ein Element, das ich woandersher kenne. Und wenn
ich über die Tonne sage, dass sie grau ist, setzt das ebenfalls voraus,
dass ich das Element des Grauseins aus der Einheit des Gegenstan-
des herausziehe. Nur so kann ich dem Gegenstand diese Eigenschaft
zusprechen. Es gibt also eine Isomorphie der imaginativen und der
sprachlichen Kombinatorik, und mehr als das: die imaginative Kom-
binatorik ist eine Voraussetzung für die sprachliche Kombinatorik.
Die Sprache ist, so zeigt sich, aufs engste mit der Imagination
verbunden. Dabei ist die Imagination die Bedingung für die Spra-
che und nicht umgekehrt. Es kann allenfalls sein, dass ab einem be-
stimmten Punkt die Sprache mit ihren unbegrenzten kombinatori-
schen Möglichkeiten die Imagination beflügelt und zu ungeahnten
Abenteuern inspiriert. Diese Überlegungen bestätigen noch einmal,
wie ungeheuer wichtig der Schritt zu einer von der Gegenwart ab-
gelösten Imagination ist. Ohne sie kein Zukunftsbewusstsein, und
ohne sie auch keine (menschliche) Sprache.
Die Imagination speist sich aus der Wahrnehmung. Trotz ihres
kreativen Potentials kommen alle Elemente, die sie kombiniert, aus
der Wahrnehmung. Das Zukunftsbewusstsein braucht aber auch
die Fähigkeit, mit bloß gedachten Gegenständen zu operieren. Bei
diesen Gegenständen gibt es keinen perzeptuellen Gehalt und des-
halb auch nicht die Möglichkeit, sie zu imaginieren. Wie aber kann
man solche bloß intelligiblen Gegenstände auf die Bühne des Geistes
bringen? Wie kann man derartige Gegenstände mental präsent ha-
ben? Eine Hypothese besagt, dass man dazu ein Hilfsmittel braucht,
einen wahrnehmbaren Stellvertreter, und dass dieses Vehikel etwas
Sprachliches ist, ein Wort oder etwas Wort-Ähnliches. So dass da,
wo die Imagination in das Operieren mit bloß gedachten Gegen-
ständen übergeht, die Sprache als ein notwendiges Hilfsmittel ins
Spiel kommt. Damit ist eine erste konkrete Hypothese über den
Zusammenhang von Zukunftsbewusstsein und Sprache formuliert.
Eine zweite Hypothese stützt sich auf folgende Überlegung. Die
Öffnung zur Zukunft führt, wie gezeigt, sehr schnell zu der Frage:
Wann? Wann wird etwas geschehen? Und wenn es nicht ausreicht,
diese Frage mit einem einfachen später- oder früher-als zu beantwor-
ten, es vielmehr nötig ist, zu wissen, um wie viel früher oder später
etwas geschieht, muss man, um sie beantworten zu können, zählen
können. Zählen zu können, setzt die Fähigkeit zur Symbolisierung
voraus. Man muss mit Zeichen operieren können, von denen jedes
für eine Anzahl von Dingen steht. Das heißt, um zählen zu können,

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84 Teil I: Überlegen und Wollen

muss man Funktionen und näherhin Bedeutungen zuweisen kön-


nen. Diese Fähigkeit ist auch für die Sprache konstitutiv. Auch die
Sprache operiert mit Zeichen, die für etwas stehen und etwas re-
präsentieren. So dass man fürs Zählen und für die Sprache dieselbe
Fähigkeit benötigt. Wer sie nicht hat, kann weder das eine noch
das andere. Es kommt hinzu, dass man am effektivsten nicht mit
irgendwelchen Symbolen, sondern mit Wörtern zählt. Zumindest
für dieses Zählen braucht man also sprachliche Zeichen. Damit ist
eine zweite Hypothese über die Beziehung von Zukunftsbewusst-
sein und Sprache erreicht: Wenigstens da, wo die Ausdifferenzierung
des Zeitbewusstseins das Zählen verlangt, ist die Fähigkeit zur Sym-
bolisierung eine notwendige Bedingung, und für die effektivste Art
des Zählens bedarf es speziell sprachlicher Symbole.
Nehmen wir, um zunächst die erste Hypothese zu prüfen, an,
man will wissen, um wie viel später ein Ereignis nach einem ande-
ren eintreten wird. Wer so fragt, denkt ein Stück Zeit zwischen zwei
Ereignissen, und er denkt, dass diese Zeit eine bestimmte Größe,
eine bestimmte Ausdehnung hat. Vermutlich denkt er auch eine Zeit
vor dem ersten Ereignis und eine Zeit nach dem zweiten Ereignis,
so dass er eine wie auch immer provisorische Vorstellung der Zeit
hat, eines Zeitkontinuums, das sich aus verschiedenen Zeitstücken
zusammensetzt.
Diese Zeit und ihre Stücke sind intelligible Gegenstände.13 Das
schließt einen Hintergrund in der Erfahrung nicht aus. Wie oben
erläutert, machen wir die Erfahrung von Veränderungen, die ver-
schieden lange dauern. Und wir können die Dauer solcher Verän-
derungen miteinander vergleichen. Darin liegt schon die Vorstel-
lung verschieden langer Zeitstücke. Man kann die Vorstellung eines
Zeitstücks, eines Zeitintervalls aber von den beobachteten Verän-
derungen lösen und frei mit ihr operieren. So, wenn man fragt, wie
groß das Stück Zeit zwischen zwei Ereignissen ist, die nicht durch
eine kontinuierliche Veränderung miteinander verbunden, sondern
voneinander unabhängig sind. Die an die Wahrnehmung zurückge-
bundene Imagination geht dann in das Denken intelligibler Gegen-
stände über.
Ist die Fähigkeit, mit Zeitstücken, Zeitlängen und Zeitmaßstäben
zu operieren, nun sprachabhängig? Wie, so die entscheidende Frage,
bringt man bloß intelligible Gegenstände auf die mentale Bühne?

13 Vgl. hierzu Newton-Smith, The Structure of Time, 127, 138 f.

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 85

Die naheliegende Antwort lautet ohne Zweifel: eben dadurch, dass


man sie denkt. Aber ist es möglich, allein im Denken Gegenstände
zu repräsentieren? Viele finden, man könne sich auf intelligible Ge-
genstände nur mit Hilfe sprachlicher Mittel beziehen. Man kann
auf die Zeit und auf ein zeitliches Intervall nicht zeigen, wie man
auf etwas Wahrnehmbares zeigen kann, und deshalb kann man, so
die Idee, solche Gegenstände nur denken, wenn man sie sprachlich
repräsentiert. Wenn man sie nicht perzeptiv und nicht imaginativ
repräsentieren kann, muss man sie notwendigerweise sprachlich re-
präsentieren. So wird es oft behauptet, als etwas, was aus sich selbst
einleuchtet und keiner weiteren Begründung bedarf. Dennoch ist
diese Auffassung mit einer elementaren Schwierigkeit behaftet. Eine
sprachliche Repräsentation liegt vor, wenn man ein Wort mit der
Funktion versieht, für etwas zu stehen oder etwas zu repräsentie-
ren. Aber dafür muss man das, was sprachlich repräsentiert werden
soll, zuvor, also vorsprachlich, bereits präsent haben. Das, wofür
das Zeichen steht, muss man unabhängig von dem Zeichen bereits
in irgendeiner Weise mental präsent haben. Sonst kann man dem
Zeichen nicht die Funktion zuweisen, gerade für dieses Etwas zu
stehen. So wie man etwas erst wahrnimmt und es dann mit einem
Wort belegt, so muss man etwas erst denken, um es dann durch ein
Zeichen zu repräsentieren.
Dieses Argument ist einfach, aber von erheblichem Gewicht.
Denn es zeigt, dass die Sprache die mentale Präsenz intelligibler Ge-
genstände nicht erst möglich machen kann. Es muss eine vorsprach-
liche Präsenz dieser Gegenstände geben. Wenn ich gesagt habe, wer
ein Zeitstück zwischen zwei Ereignissen denkt, denke das und das,
habe ich die gedanklichen Gehalte sprachlich formuliert, so wie wir,
die wir eine Sprache haben und fast unser gesamtes Denken in eine
sprachliche Form gebracht haben, das tun. Wie man ein Zeitinter-
vall hingegen ohne Sprache denkt, davon haben wir keine genaue
Vorstellung. Es scheint aber so, als müsse es auch ohne Sprache ein
irgendwie geartetes Präsenthaben von intelligiblen Gegenständen
geben. Wenn das richtig ist, kann die Sprache nicht die Funktion
haben, die Präsenz solcher Gegenstände erst möglich zu machen, ihr
Beitrag muss (wenn es ihn gibt) von anderer Art sein.
Ich möchte auf drei Leistungen der Sprache hinweisen, die hier
vermutlich eine Rolle spielen:
(i) Wie immer sich ein Lebewesen ohne Sprache auf ein zeitliches
Intervall bezieht: was da auf der Bühne des Geistes erscheint, wird,

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86 Teil I: Überlegen und Wollen

so darf man annehmen, ziemlich vage sein. Es wird mit Erfahrun-


gen von Veränderungen verbunden sein, und ausgehend von diesen
Erfahrungen wird sich eine Vorstellung von einem zeitlichen Ab-
stand bestimmter Größe aufbauen. Es scheint aber, als bedürfe es der
Sprache, um dem, was man da denkt, eine genaue Kontur zu geben.
Die Sprache erlaubt es, in Wörtern zu denken, was ein solches Zeit-
intervall ist und welche Ausdehnung es hat. Erst die Sprache macht
es vermutlich möglich, sich auf einen klar umrissenen, klar fixierten
Gegenstand zu beziehen.
(ii) Was da – vorsprachlich – auf der mentalen Bühne erscheint,
wird nicht nur vage sein, es wird auch flüchtig sein. Ein zeitliches
Intervall zu denken, bedeutet nicht, einen, sondern mehrere Ge-
danken zu denken. Diese Sequenz von Gedanken muss man zu-
sammenhalten. Das dürfte ohne Sprache schwierig sein. Im Strom
des Bewusstseins zerfällt dieses Gebilde sehr schnell, verschwindet
und muss dann, wenn nötig, erst wieder mühsam aufgebaut werden.
Wenn man ein sprachliches Zeichen für das, was man da denkt, ein-
führt, schafft man so etwas wie einen Haken, an dem die Gedanken
zusammenlaufen und durch den sie gebündelt und zusammengehal-
ten werden. Durch das Sprachzeichen wird dann die einschlägige
Gedankensequenz assoziativ aufgerufen und vergegenwärtigt. Mit
dem Label entsteht auf diese Weise eine Einheit, die der Einheit des
gedachten Gegenstandes entspricht. Und das hat einen stabilisieren-
den Effekt. Dadurch, dass die Sequenz der Gedanken fest zusam-
mengebunden wird, gewinnt der Gegenstand, der repräsentiert wird,
eine stabilere mentale Existenz.
(iii) Ein dritter Aspekt ist wichtig. Mit der Einführung sprachli-
cher Zeichen für gedachte Gegenstände entsteht eine neuartige Mög-
lichkeit, diese Gegenstände zu repräsentieren. Man muss sich nicht
mehr, in einer Sequenz von Gedanken, explizit vor Augen bringen,
was der angezielte Gegenstand ist. Es reicht, das Gedachte mit dem
Sprachzeichen nur assoziativ anzutippen, und schon ist der Ge-
genstand mental präsent. Ein sprachliches Zeichen ermöglicht eine
nicht-explizite, intuitive Form der Repräsentation, die in der Regel
vollkommen ausreicht. Wir assoziieren mit dem Label etwas, wissen,
was, buchstabieren aber nicht aus, worauf wir uns beziehen. Das
Zeichen bietet auf diese Weise so etwas wie eine Abkürzung, man
kann sich den längeren Weg sparen. Es gehört zu den ersten Erfah-
rungen der Philosophie, dass wir Wörter gebrauchen und mühelos
mit ihnen umgehen können, obwohl wir nicht in der Lage sind, ex-

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 87

plizit zu bestimmen, worauf sie sich beziehen. Platon hat diese Er-
fahrung in seinen Dialogen immer wieder zur Darstellung gebracht.
Sokrates’ Gesprächspartner können ohne Mühe mit den Wörtern
»besonnen« und »gerecht« umgehen, aber wenn er sie fragt, was das
ist: Besonnensein oder Gerechtsein, geraten sie ins Schlingern. Die
Wörter transportieren einen Inhalt, dessen man sich implizit bewusst
ist, den man aber nicht nur nicht bei jedem Wortgebrauch expliziert,
sondern den man gewöhnlich gar nicht ohne weiteres zu explizieren
vermag. Dies zeigt, dass Wörter eine vereinfachte, nicht-explizite
Form der Repräsentation ermöglichen. Der Abkürzungseffekt, der
damit entsteht, entlastet in erheblichem Maße die Komplexität des
geistigen Geschehens. Man muss sich klarmachen, dass es nicht da-
mit getan ist, einen intelligiblen Gegenstand zu denken, man muss
etwas über ihn denken, man muss ihn mit anderen Gegenständen
vergleichen, man muss seine Größe bestimmen, man muss, kurz ge-
sagt, mit ihm operieren. All das wird erleichtert – oder erst möglich –,
wenn man ein Label hat, durch das man ihn repräsentieren kann.
Wenn diese Überlegungen zutreffen, hat die Sprache eine mehrfa-
che Funktion für den Umgang mit intelligiblen Gegenständen, und
damit auch für das Zukunftsbewusstsein, soweit dieses den Umgang
mit nur gedachten Gegenständen voraussetzt. Die Sprache hat, so
habe ich gesagt, nicht die Funktion, die mentale Präsenz intelligibler
Gegenstände überhaupt erst zu ermöglichen, aber sie erleichtert –
oder macht es erst möglich –, mit diesen Gegenständen zu operieren.
Die Sprache gibt dem Denken in diesem Feld erst klar konturierte
und stabile Gegenstände, und sie schafft durch eine vereinfachte
Form der Repräsentation den Raum, in dem es möglich ist, etwas
über diese Gegenstände zu denken und mit ihnen mental zu arbeiten.
Ob diese Leistungen den Umgang mit Gegenständen wie Zeitinter-
vallen, Zeitpunkten, Zeitlängen nur erleichtern oder erst möglich
machen, muss offen bleiben. Die angeführten Überlegungen legen
aber, so meine ich, die Annahme nahe, dass man im Umgang mit
intelligiblen Gegenständen ohne Sprache nicht weit kommen kann.
Und dass ein Zukunftsbewusstsein ohne Sprache deshalb nur von
geringer Stabilität und Leistungskraft sein kann.
Die Untersuchung der zweiten Hypothese wird diesen Befund
bestätigen und ergänzen. Sie betrifft die Verbindung von Zukunfts-
bewusstsein, Zählen und Sprache. Wie das Zählen-Können mit der
Sprache zusammenhängt, kann vielleicht folgendes Beispiel etwas
genauer demonstrieren. Angenommen, ein Bauer legt für jedes Schaf,

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88 Teil I: Überlegen und Wollen

das er besitzt, einen Kieselstein auf die Fensterbank. Wenn er einige


Schafe verkauft, nimmt er für jedes einen Stein vom Brett. Und wenn
er Schafe dazukauft, legt er für jedes einen Stein dazu. Die Steine
haben diese symbolische Funktion nicht kraft ihrer physikalischen
Eigenschaften (wie der Ast seine Funktion als Stock). Sie haben sie
allein dadurch, dass der Bauer ihnen diesen Status zuweist. Das Ver-
fahren, das der Bauer entwickelt hat, setzt also die Fähigkeit zur
Symbolisierung voraus.
Man kann durchaus sagen, was der Bauer erfunden hat, sei bereits
etwas Sprachliches. Die Steine repräsentieren andere Gegenstände,
und das sei schon ein Stück Sprache. Es ist aber klar, dass, solange es
der Bauer bei seiner Methode belässt, noch keine Wörter und spezi-
ell noch keine Zahlwörter im Spiel sind. Stellen wir uns vor, jemand
fragt ihn, wie viele Schafe er hat. Er kann dann auf die Steine auf der
Fensterbank zeigen und sagen: so viele. Man hat dann einen ungefäh-
ren Eindruck, mehr allerdings nicht. Und wenn man ihn unterwegs,
außerhalb des Hauses, fragt, wie viele Schafe er hat, kann er nicht
gut antworten, er hat nur eine ungefähre Vorstellung von der Menge
der Steine zuhause auf der Fensterbank. Ganz anders wäre es, wenn
er ein Wort für die Anzahl seiner Schafe hätte, etwa das Wort »zwei-
undvierzig«. Dann könnte er angeben, wie viele Schafe er hat. Und
wenn er auch für die anderen – kleineren und größeren – Anzahlen
Wörter hätte, könnte er die Anzahl seiner Schafe zu verschiedenen
Zeitpunkten mit Hilfe dieser Wörter abzählen. Der Schritt von ei-
nem Wort zum nächsten in der Sequenz der Zahlwörter symboli-
siert dabei jeweils die Vergrößerung der Anzahl um ein Element.
Wenn der Bauer zu diesem »verbalen Zählen« fähig ist, kann er sein
Fensterbrett abräumen und auf die Methode mit den Kieselsteinen
verzichten. Die Wörter sind jetzt seine Kieselsteine, mit ihnen lässt
sich sehr viel flexibler und weitreichender operieren.
Genauso verhält es sich, wenn jemand den zeitlichen Abstand
zwischen zwei Ereignissen bestimmen will und die Tage zählt, die
zwischen den beiden Ereignissen vergehen. Er kann für jeden Tag
einen Stein auf die Fensterbank legen (oder eine Kerbe in einen
Stock schneiden). Die Anzahl der Steine spiegelt dann die Anzahl
der Tage und damit den Abstand zwischen den beiden Ereignissen.
Ursprünglich haben die Menschen in dieser Weise mit ihren Fin-
gern und anderen Körperteilen gezählt. Aber man braucht die Finger
auch für etwas anderes, und das Zählergebnis ist deshalb nur schwer
festzuhalten. Es gibt erneut eine bessere Methode, nämlich für jede

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 89

Anzahl von Tagen (und anderen Zeiteinheiten) Wörter einzuführen.


Man kann dann die Steine oder die Finger beiseite lassen und statt-
dessen mit Wörtern zählen.
Diese Überlegungen zeigen, dass man zum Zählen Symbole
braucht, dass es möglich ist, in begrenztem Rahmen auch ohne Wör-
ter, also ohne lautliche Symbolisierung zu zählen, dass es aber ohne
Zweifel eine Dynamik dahin gibt, die jeweilige Anzahl der Dinge
und auch der Zeiteinheiten durch Wörter zu repräsentieren und ver-
bal zu zählen.
Ich kann jetzt festhalten, was sich bisher über den Zusammen-
hang von Zukunftsbewusstsein und Sprache ergeben hat. Offen-
sichtlich ist die Sprache überall da eine Conditio des Zukunftsbe-
wusstseins, wo dieses mit Zeitmessungen und zeitlichen Lokalisie-
rungen arbeitet, die die Fähigkeit, verbal zu zählen, voraussetzen.
Primitivere Arten des Zählens sind auch ohne Sprache möglich, aber
auch sie setzen die Fähigkeit zur Symbolisierung voraus. Was die
grundsätzliche Frage angeht, ob es ohne Sprache überhaupt möglich
ist, intelligible Gegenstände wie zeitliche Intervalle, Zeitstrecken,
Zeitpunkte auf die mentale Bühne zu bringen, ist meine Antwort: Ja,
es ist möglich. Man muss diese Gegenstände auch ohne Sprache den-
ken können, weil es nur so möglich ist, für sie sprachliche Symbole
zu schaffen. Aber für das Arbeiten mit diesen Gegenständen, für das
Denken über sie, scheint es zumindest eine wesentliche Hilfe zu sein,
über Sprache zu verfügen und die Gegenstände durch sprachliche
Zeichen auf eine unkomplizierte Weise repräsentieren zu können.

4. Ich, mentale Zustände und Sprache

Dieses Resümee formuliert freilich nur ein Zwischenergebnis. Ich


möchte noch eine weitere einschlägige Überlegung prüfen. Sie be-
leuchtet die Frage nach der Sprachabhängigkeit des Zukunftsbe-
wusstseins aus einer zusätzlichen und, wie wir sehen werden, weiter-
führenden Perspektive. Sicherlich wären auch noch andere ­wichtige
Aspekte zu berücksichtigen.
Das Zukunftsbewusstsein der Menschen dient, wie schon er-
wähnt, nicht der interesselosen Beschäftigung mit der Zukunft, und
die mentalen Zeitreisen, die die Menschen unternehmen, dienen
nicht der Abwechslung und dem Vergnügen. Das Zukunftsbewusst-
sein hat zuallererst eine praktische Funktion. Die Menschen haben

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90 Teil I: Überlegen und Wollen

ein Bewusstsein von der Zukunft, um zukünftige Geschehnisse, die


für sie wichtig sein werden, antizipieren und in ihrem Verhalten
bereits berücksichtigen zu können. Das Zukünftige, auf das sie sich
vor allem richten, hat einen egozentrischen Bezug, es ist etwas, was
für sie negativ oder positiv von Bedeutung sein wird. Dieses Für-
mich impliziert, dass die Menschen in der Lage sein müssen, sich auf
sich selbst in der Zukunft zu beziehen. Sie müssen, mehr implizit
oder mehr explizit, das eigene zukünftige Ich präsent haben. Und
sie müssen auch irgendwie präsent haben, dass das zukünftige Ich
mit dem jetzigen Ich identisch ist. Sonst würde einen eine zukünf-
tige Gefahr nicht kümmern.
Wenn man sich dies vergegenwärtigt, liegt erneut die These in der
Luft, eine solche mentale Zeitreise einschließlich des Bezugs auf ein
zukünftiges Ich sei ohne Sprache nicht möglich. Die Meinungen
gehen in dieser Frage auseinander. Interessanterweise vertreten die
Protagonisten der Idee der mentalen Zeitreise, Suddendorf und Cor-
ballis, die Auffassung, Sprache sei für das mentale Reisen nicht not-
wendig. Sie votieren eher beiläufig, in einem Aufsatz von 1997, für
die konträre Ansicht. Die Priorität liege bei der mentalen Zeitreise,
diese sei eine Bedingung für die Sprache. Angedeutet wird immerhin
ein Gedanke, der zumindest den negativen Teil dieser Auffassung
stützen kann: Die Fähigkeit, mentale Erfahrungen zu generieren,
gehe wahrscheinlich der Fähigkeit, sie zu kommunizieren, voraus.14
Das scheint in die Richtung des Arguments zu gehen, das ich oben
verwendet habe: Man muss das, was man sprachlich benennt und
kommuniziert, zuvor, das heißt: vorsprachlich, mental präsent ha-
ben. Suddendorf und Corballis ergänzen ihre Auffassung dann noch
– allerdings ohne weitere Erläuterung – durch die Aussage, dass die
Sprache für die Evolution der voll entwickelten Fähigkeit zur men-
talen Zeitreise durchaus wichtig sei.15 Zehn Jahre später, 2007, wie-
derholen sie diese Sicht der Dinge unverändert16, und sie verdeut-
lichen noch einmal die für diese Position offenbar tragende Über­
legung: »… the evolution of mental content must have preceded the
evolution of means to communicate such content.«17

14 Suddendorf / Corballis, Mental Time Travel, 159.


15 Ebd.
16 Suddendorf / Corballis, The Evolution of Foresight, 310.
17 Corballis / Suddendorf, Memory, Time and Language, 26.

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 91

Andere Autoren vertreten die entgegengesetzte Auffassung, dass


mentale Zeitreisen und die in ihnen vorausgesetzte Vorstellung ei-
nes zukünftigen (und auch vergangenen) Selbst Sprache vorausset-
zen. Das gilt häufig als intuitiv plausibel18, oder es sind komplexe
Hintergrundannahmen im Spiel.19 Ich kann das nicht im Einzelnen
rekonstruieren und gehe deshalb von der Sache aus.
Es ist hilfreich, an dieser Stelle noch einmal auf Sultan zurück-
zukommen. Er will an die Bananen kommen, die an der Decke be-
festigt sind. Das heißt, er will, dass er an die Bananen kommt. Sein
Wollen impliziert einen wie immer gearteten Bezug auf sich selbst.
Außerdem liegt das, was Sultan will, in der Zukunft. Sein Wollen
impliziert also nicht nur einen Bezug auf sich selbst, sondern einen
Bezug auf sich selbst in der Zukunft. Und wenn Sultan überlegt, wie
er an die Bananen kommt, ob er sie, wenn er auf eine Kiste steigt,
erreicht, imaginiert er, dass er auf die Kiste steigt und nach den Ba-
nanen greift und vielleicht auch dass er zusätzlich noch einen Stock
holt, um damit die Bananen herunterzuschlagen. Dabei liegen die
Handlungen, die er durchspielt, wiederum in der Zukunft. Auch
diese Imagination impliziert also einen Bezug auf sich selbst in der
Zukunft. Überdies geht in sie die Hintergrundannahme ein, dass der,
der diese Überlegung anstellt, der ist, der auf die Kiste steigen wird
und der die Bananen schließlich erreichen wird. Diese Annahme der
Kontinuität hat ihre Basis vermutlich darin, dass Sultan sich einen
kontinuierlichen Zusammenhang vorstellt: er geht zu einer Kiste,
stellt sie unter die Bananen, holt einen Stock, steigt auf die Kiste
und schlägt die Bananen mit dem Stock herunter. Immer ist er der
Akteur, so dass die Vorstellung einer Kontinuität des Selbst über die
Zeit hinweg eine anschaulich-imaginative Fundierung hat.
Alles, was jetzt beschrieben wurde, geschieht ohne Sprache. Wa-
rum soll dann, was bei Schimpansen funktioniert, bei Menschen
nicht funktionieren? Warum soll der Selbstbezug, wenn die Be-
grenzung auf die momentane Wahrnehmungssituation überwun-
den ist, auf sprachliche Hilfsmittel angewiesen sein? Das ist nicht
klar. Außerdem kommt hier wieder die generelle Überlegung ins

18 So z. B. D. C. Dennett: Making Tools for Thinking, in: D. Sperber (ed.):


Metarepresentations (Oxford 2000) 17–29, 24.
19 So z. B. E. M. Macphail: The Search for a Mental Rubicon, in: C. Heyes /
L. Huber (eds.): The Evolution of Cognition (Cambridge, Mass. 2000) 253–
271, 261–269; E. Tugendhat: Egozentrizität und Mystik (München 2003) 28 f.

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92 Teil I: Überlegen und Wollen

Spiel, die offenbar auch für Suddendorf und Corballis von Bedeu-
tung ist: Wenn man etwas sprachlich symbolisieren will, muss man
das, für das das Symbol stehen soll, vorab, unabhängig von dem
Symbol, präsent haben. Die Relation des Stehens-für ist anders
gar nicht möglich. Dies gilt zweifellos auch für den speziellen Fall
eines Symbols für das eigene Selbst. »Ein Kind«, so schreibt Tu-
gendhat, »hat die Verwendung von ›ich‹ gelernt, wenn es begriffen
hat, dass jeder Sprecher, wenn er ›ich‹ sagt, auf sich selbst Bezug
nimmt, …«20 In diesem Satz ist das Entscheidende (auf das Tugend-
hat selbst gar nicht zielt) bereits formuliert: Man muss lernen, dass
man mit »ich« von sich selbst spricht. Dazu muss man aber bereits
eine Vorstellung von sich selbst haben. Dieses Präsenthaben von
sich selbst geht der Symbolisierung durch ein Wort voraus. Es zeigt
sich damit also, dass Ich-Gedanken, oder für-mich-Gedanken, der
Verwendung von »ich« und »Ich«-Sätzen vorausgehen und nicht
etwa umgekehrt.
Wir kommen damit wieder zu der Conclusio, dass die Sprache
den Selbstbezug, auch den Bezug auf ein zukünftiges Ich nicht erst
ermöglicht. Sie kann ihn allenfalls erleichtern und verändern. In wel-
cher Form sie das tut, ist erneut kaum zu beantworten. Sicherlich
macht sie es leichter – vielleicht auch erst möglich, das, was implizit
präsent ist, explizit auf die mentale Bühne zu bringen. Durch seine
sprachliche Repräsentation wird es sicherlich auch leichter, etwas
über das zukünftige Ich, seine Beschaffenheit und seine Zustände
zu denken.
Man muss das Gesagte nun noch um einen wesentlichen Punkt
ergänzen. Wir hatten gesehen, dass Tiere einschließlich Schimpan-
sen und anderen Menschenaffen wahrscheinlich nicht in der Lage
sind, ein zukünftiges Wollen zu antizipieren und vorab in ihrem
Verhalten zu berücksichtigen. Das könnte seinen Grund darin haben,
dass sie grundsätzlich nicht in der Lage sind, mentale Zustände zu
repräsentieren, weder zukünftige noch gegenwärtige. Sultan könnte,
falls es so sein sollte, zwar imaginieren, dass er bestimmte Dinge tut,
aber nicht, dass er oder andere etwas wollen, denken, meinen. Und
die Erklärung dafür wäre offenkundig, dass das eine – die Hand-
lungen – perzeptuell zugänglich sind, das andere – die mentalen
Zustände – aber nicht. Ob Schimpansen und andere Tiere mentale
Zustände repräsentieren können, ist unter Naturwissenschaftlern

20 Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, 23.

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 93

umstritten.21 Menschen können es. Sie können sich auch auf ein zu-
künftiges Wollen beziehen und es in ihre Überlegung einbeziehen.
Die Antizipation mentaler Zustände, eigener und auch fremder, ist
ein wesentliches Element ihres Zukunftsbewusstseins. Auch in die-
sem Fall ist es eine plausible Annahme, dass die Repräsentation von
mentalen Zuständen, eigenen und fremden, gegenwärtigen und zu-
künftigen (und vergangenen) zumindest leichter fällt, wenn man sie
sprachlich repräsentieren kann. Eigene mentale Zustände kann man
nicht wahrnehmen wie Gegenstände der äußeren Welt, und es ist
keineswegs klar, auf welchem Wege man von ihnen weiß. In jedem
Fall sind sie flüchtige und wenig konturierte Phänomene. Und men-
tale Zustände anderer kann man natürlich auch nicht wahrnehmen,
man kann sie nur aus dem Verhalten erschließen. In beiden Fällen
ist es äußerst hilfreich, diese schwer greifbaren Zustände durch eine
sprachliche Repräsentation zu fixieren, ihnen Eindeutigkeit und Sta-
bilität zu geben. Dies dürfte das Operieren mit ihnen erheblich er-
leichtern und ihm ganz neue Möglichkeiten verschaffen.
Es kommt aber noch etwas Entscheidendes hinzu. Wer ein zu-
künftiges eigenes Wollen repräsentiert, und überhaupt ein eigenes
oder fremdes Wollen, muss ja nicht nur repräsentieren, dass er oder
ein anderer etwas will, sondern auch, was er will. Er muss auch
den Inhalt des Wollens repräsentieren. Das bedeutet, dass die Re-
präsentation eines mentalen Zustandes von der Art eines Wollens
einen komplexen Gegenstand repräsentiert. Er enthält mindestens
drei Elemente: Jemand (1) will (2) etwas (3). Und diese Komplexität
steigert sich noch, da das, was gewollt wird, selbst in sich struktu-
riert ist, also selbst schon komplex ist. Man will, dass einem das-
und-das nicht passiert oder dass jemand etwas Bestimmtes tut. Der

21 D. J. Povinelli z. B. bestreitet das sehr ausdrücklich; vgl. Povinelli: Behind


the Ape’s Appearance: Escaping Anthropocentrism in the Study of Other
Minds. Daedalus 133 (2004) 29–41; D. C. Penn / D. J. Povinelli: On the Lack
of Evidence that Non-human Animals Possess Anything Remotely Resem-
bling a ›Theory of Mind‹. Philosophical Transactions of the Royal Society B
362 (2007) 731–744; ähnlich C. M. Heyes: Theory of Mind in Nonhuman Pri-
mates. Behavioral and Brain Sciences 21 (1998) 101–114; sehr zurückhaltend
auch Fischer, Affengesellschaft, 147 f., 155, 161. M. Tomasello nimmt hinge-
gen an, Menschenaffen könnten andere als intentionale Akteure verstehen.
Vgl. Tomasello: A Natural History of Human Thinking (Cambridge, Mass.
2014) 20–26; dt. Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens (Berlin
2014) 39–47.

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94 Teil I: Überlegen und Wollen

Gegenstand der Repräsentation hat folglich die Struktur: Jemand (1)


will (2), dass jemand (3) etwas tut [oder erleidet oder erreicht] (4).
Vielleicht mag man einwenden, nicht jedes Wollen gehe auf einen
in dieser Weise gegliederten Gegenstand, auf eine, wie man üblicher-
weise sagt, Proposition, man könne auch einfach etwas zu essen wol-
len oder einen Sexualpartner wollen. In diesen Fällen seien die Ge-
genstände des Wollens nicht komplex, sie besäßen keine kombinato-
rische Struktur. Aber schon wenn Sultan die Bananen an der Decke
will, enthält das, was er da will, wie gesagt, ein egozentrisches Ele-
ment. Er will die Bananen für sich, er will, dass er sie erreicht. Die-
ses egozentrische Element gehört zum Gehalt seines Wollens. Und
das bedeutet, dass der Gegenstand des Wollens mehrere Elemente
enthält und deshalb bereits eine komplexe Struktur aufweist. Und
wenn ich am Morgen vor einer längeren Wanderung den Durst am
Mittag vorhersehe, antizipiere ich, dass ich am Mittag etwas trinken
will. Der Gegenstand des Wollens ist nicht einfach: etwas ­trinken,
sondern dass ich etwas trinke. Diese innere Struktur gehört nicht-
eliminierbar zum Gehalt des Wollens und muss daher in seine Re-
präsentation eingehen. Wir können also, so meine ich, davon aus-
gehen, dass die Repräsentation eines zukünftigen Wollens in der Tat
die beschriebene komplexe Struktur hat.
Es ist nun sehr wahrscheinlich, dass man einen solchen komple-
xen Gegenstand mit seiner gestuften inneren Struktur nur mit Hilfe
der Sprache repräsentieren kann. Die Sprache gibt einem das Instru­
mentarium, die komplexe Struktur adäquat zu erfassen. Wenn es so
ist, ist es nicht die Repräsentation der einzelnen Elemente, die der
Sprache bedarf, sondern die Repräsentation ihrer Kombination. Sie
ist, so scheint es, ohne Sprache nicht möglich.
Wir kommen damit zu der Annahme, dass es der Sprache bedarf,
um sich auf ein eigenes zukünftiges Wollen zu beziehen. Und dann
auch, um sich auf andere mentale Zustände mit einem komplexen
Gegenstand zu beziehen, also auf andere propositionale Zustände.
Ob dies auch für mentale Zustände mit nicht-komplexen Gegen-
ständen, wie z. B. Lieben und Hassen, und für nicht-intentionale
mentale Zustände gilt, kann hier beiseite bleiben. Sprache ist dem-
nach nötig für ein Zukunftsbewusstsein, das einen Bezug auf eigene
und auch fremde zukünftige mentale Zustände wie das Wollen ent-
hält. Und es scheint, als müsse das Zukunftsbewusstsein nicht sehr
elaboriert sein, um von dieser Art zu sein. Dabei genügt es nicht,
eine Sprache zu haben, die nur Symbole kreiert und sie Gegenstän-

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 95

den zuordnet. Es bedarf offensichtlich, um sprachlich repräsentie-


ren zu können, dass A will, dass B x tut, einer Sprache mit erheblich
entwickelten syntaktischen Strukturen.

5. Zusammenfassung

Es wäre, so meine ich, überzogen, anzunehmen, dass es ohne Spra-


che kein Zukunftsbewusstsein geben könne. Die zurückliegenden
Überlegungen stützen diese These jedenfalls nicht. Es wäre dann
auszuschließen, dass es auf dem langen Weg zum Homo sapiens
Hominiden gegeben hat, die nicht sprechen konnten, die aber doch
ein primitives Zukunftsbewusstsein hatten. Viel näher liegt die An-
nahme, dass die Sprache irgendwann dazugekommen ist und sich
damit für das Zukunftsbewusstsein ganz neue Möglichkeiten er-
gaben. Mit Sprache kann man mit intelligiblen Gegenständen wie
zeitlichen Intervallen, Zeitstücken, Zeitpunkten zumindest auf un-
gleich leichtere und differenziertere Weise operieren als ohne Spra-
che. Mit Sprache kann man Zeiteinheiten auf effektive Weise zählen,
nur so ist ein Zukunftsbewusstsein möglich, das mit genaueren Zeit­
messungen und mit differenzierteren Lokalisierungen arbeitet. Die
Sprache erleichtert – oder ermöglicht – weiterhin einen expliziten
Bezug auf ein zukünftiges Ich, sie macht es damit einfacher, etwas
über das zukünftige Ich, seine Beschaffenheit und seine Handlungs-
möglichkeiten zu denken. Und, besonders wichtig, erst die Sprache,
und zwar eine bereits entwickelte Sprache mit syntaktischen Struk-
turen, macht es vermutlich möglich, sich auf ein eigenes zukünftiges
Wollen und andere propositionale Einstellungen zu beziehen. Wenn
dies richtig ist, hat die Sprache, was das Zukunftsbewusstsein angeht,
in der Tat neben ihrer kommunikativen Funktion auch eine wesent-
liche außerkommunikative Funktion.
Ein Zukunftsbewusstsein, wie wir es kennen, und auch ein nicht
annähernd so elaboriertes, ist, so zeigt dieses Resümee, ohne Sprache
nicht möglich. Die Besonderheit des menschlichen Geistes erklärt
sich, so die Idee zu Beginn dieses Kapitels, vor allem aus den beiden
Elementen des Zukunftsbewusstseins und der Sprache. Es ist dann
ohnehin nicht zu erwarten, dass diese Elemente beziehungslos ne-
beneinander stehen. Selbst wenn das Zukunftsbewusstsein und die
Sprache unabhängig voneinander und vielleicht zu unterschiedli-
chen Zeiten in der Geschichte der Menschen entstanden sind, gibt

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96 Teil I: Überlegen und Wollen

es starke Dependenzen. Man sollte dabei, anders als in den voran-


gegangenen Erörterungen, nicht nur an Dependenzen in die eine
Richtung denken, sondern auch an mögliche Dependenzen in die
andere Richtung. Wenn jemand eine zukünftige Gefahr antizipiert,
entsteht ein Druck, die anderen, mit denen er zusammenlebt, über
die Gefahr zu informieren, damit man gegebenenfalls gemeinsam
etwas unternehmen kann. Ein fest verdrahteter Alarmruf steht da-
für nicht zur Verfügung. Auch in diesem Punkt muss die genetisch
festgeschriebene, am Kopf der Lebewesen vorbeilaufende Verhal-
tenssteuerung durch eine mentale Steuerung ersetzt werden. Das
Zukunftsbewusstsein und damit das Bewusstsein noch abwesen-
der, aber schon antizipierter Gefahren erzeugt, so scheint es, einen
Druck, an die Stelle der Alarmrufe eine Sprache zu setzen, und das
heißt, eine Sprache zu erfinden.

6. Sprache und Wollen

Im vorigen Kapitel hatte ich untersucht, wie die Entstehung des


Zukunftsbewusstseins das Wollen, seine Gegenstände und seine
Struktur verändert. Es verändert sich, so das Ergebnis, beinahe al-
les. Nach den Überlegungen dieses Kapitels können wir dieselbe
Frage auch in Bezug auf die Sprache stellen: In welcher Weise ver-
ändert die Sprache das Wollen? Eine gründliche Antwort müsste im
Einzelnen ausbuchstabieren, wie die Sprache den Geist verändert
und welche Gegenstände unserer Welt sprachabhängig sind, – ein
äußerst schwieriges und umfangreiches Unternehmen. Aber auch
ohne das lassen sich einige wichtige Punkte markieren. Eine Teilant-
wort ist ja bereits gegeben. Soweit die Sprache eine Conditio für ein
weiterreichendes und elaboriertes Zukunftsbewusstsein ist, gehen
die Veränderungen in der Art des Wollens, die mit der Ausdehnung
und Weiterentwicklung des Zukunftsbewusstseins entstehen, auch
auf die Sprache zurück. So setzen alle Veränderungen, die damit
einhergehen, dass man sich auf ein zukünftiges Wollen zu bezie-
hen vermag, die Sprache voraus. Dabei bedeutet die Fähigkeit, ein
eigenes zukünftiges Wollen mental zu repräsentieren, nicht nur, es
antizipieren zu können. Die Veränderungen reichen sehr viel weiter.
Wenn man in der Lage ist, ein zukünftiges und dann natürlich auch
ein gegenwärtiges Wollen zu repräsentieren, wird das Wollen, das
zukünftige wie das gegenwärtige, zu einem möglichen Gegenstand

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 97

des Nachdenkens. Es kann mit anderem, was man will, koordiniert


werden. Es kann kritisch geprüft werden, zum Beispiel ob es ko-
gnitiv hinreichend informiert ist oder auf falschen Annahmen be-
ruht, oder ob es eine psychische Genese hat, die einem nicht behagt.
Das Wollen wird so zum Gegenstand der kritischen Reflexion und
der Beurteilung unter verschiedenen Aspekten. Offensichtlich kann
man sich, wir haben es schon gesehen, auch volitiv auf ein eigenes
zukünftiges oder gegenwärtiges Wollen beziehen. Wir können und
müssen, soll ein zukünftiges Wollen bereits Einfluss auf das jetzige
Handeln haben, schon jetzt wollen, dass es, wenn es entstehen wird,
befriedigt wird. Und wir können wollen, dass ein Wollen handlungs-
leitend wird oder dass es dies nicht wird, weil wir es zwar haben, es
aber gerne nicht hätten.
Die Fähigkeit, das eigene Wollen auf die mentale Bühne zu brin-
gen, ist offenkundig nur ein Teil der allgemeineren Fähigkeit, über-
haupt mentale Zustände mit komplexen Inhalten vor das Bewusst-
sein zu bringen. Auch diese allgemeinere Fähigkeit ist, aus den ge-
nannten Gründen, sprachabhängig. Nur wer eine Sprache hat, kann
seine Meinungen vor sich haben und fragen, ob sie wahr oder falsch
sind. Die gesamte Reflexivität uns selbst gegenüber beruht, wie es
scheint, auf der Fähigkeit, propositionale mentale Zustände zu Ge-
genständen des Geistes zu machen. Ein weiterer Schritt ist dann,
nicht nur das eigene Wollen und die eigenen mentalen Zustände
vor Augen zu haben, sondern auch die der anderen. Man kann auch
die Wünsche und Meinungen anderer repräsentieren und beurteilen.
Und damit können sie auch zum Gegenstand des Wollens werden,
so kann man sie beeinflussen und verändern wollen. Es liegt auf der
Hand, dass die Repräsentation fremder mentaler Zustände eine In-
novation von kaum zu überschätzender Bedeutung darstellt. Mög-
licherweise wissen auch Lebewesen ohne Sprache etwas von den
mentalen Zuständen anderer, von ihren Gefühlen oder von ihren
Schmerzen, aber nicht, so die Vorstellung, die ich hier entwickelt
habe, von Zuständen, die komplexe, propositionale Gegenstände
haben.
Bestimmen wir jetzt näher, welches die Gegenstände sind, die es
nur für Lebewesen mit Sprache geben kann und die deshalb auch
nur Lebewesen mit Sprache wollen können. Ich liste vier besonders
einschlägige Gruppen von Gegenständen auf. Die Liste kann leicht
verlängert werden.

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98 Teil I: Überlegen und Wollen

(i) In die erste Gruppe gehört der Fall, über den jetzt schon ge-
sprochen wurde: Wünsche, eigene oder fremde, wie auch andere
propositionale Zustände können, weil sie nur mit Hilfe einer Spra-
che repräsentiert werden können, nur bei Lebewesen mit Sprache
zum Gegenstand des Wollens werden. Dies ist freilich nur ein spe-
zieller Fall aus einer sehr viel größeren Gruppe. Alle Gegenstände,
die auf Grund ihrer Komplexität nur mit Hilfe einer Sprache re-
präsentiert werden können, können allein für die zum Gegenstand
des Wollens werden, die eine Sprache haben. Ich kann z. B. wollen,
dass meine Frau nach Genf fährt, um eine Testamentsangelegenheit
zu regeln, aber nur wenn ihre Ärzte ihr grünes Licht für die Reise
geben. Oder ich kann wollen, dass mein Sohn für den Fall, dass ich
ausfalle und außerdem meine Tochter weiterhin im Ausland leben
will, die Leitung der Firma übernimmt. In Fällen wie diesen kann
man den Gegenstand des Wollens nur repräsentieren, wenn man
seine Komplexität darstellen kann, und das geht nur mit Hilfe der
Sprache. Die Zahl dieser Fälle ist riesig.
(ii) Eine zweite Gruppe bilden die Gegenstände, die es ohne Spra-
che gar nicht geben kann. Sie können ohne Sprache nicht nur nicht
repräsentiert werden, es kann sie ohne Sprache nicht geben. Ein
gutes Beispiel ist ein Versprechen. Etwas zu versprechen, bedeutet,
dass man sich darauf festlegt, etwas Bestimmtes zu tun, und dass
man diese Festlegung anzeigt, damit die anderen sich darauf ver-
lassen können. Ob man die Festlegung anzeigt, indem man wie ge-
wohnt sagt: »Ich verspreche es« oder indem man mit einem Stock
dreimal auf den Boden schlägt, ist dabei gleichgültig. Man braucht
in jedem Fall ein Zeichen, das eine bestimmte Bedeutung hat. Und
damit ist klar, dass ein Lebewesen ohne Sprache, oder wenn man die-
sen Unter­schied machen will: ohne die Fähigkeit zur Symbolisierung
kein Versprechen geben kann und deshalb auch nichts wollen kann,
was ein Versprechen einschließt.
Vielleicht wird man finden, ein Versprechen sei ein sehr speziel-
les Phänomen, und es handele sich deshalb um ein recht isoliertes
Beispiel. Aber das ist ganz und gar nicht der Fall. Tatsächlich ist die
Gruppe der Gegenstände, die es ohne Sprache nicht geben kann,
außerordentlich groß. Nehmen wir die Tatsachen, dass ich verhei-
ratet bin, dass Frau Greco die Eigentümerin des gegenüberliegenden
Hauses ist und dass Herr Möller Richter am Landgericht ist. Diese –
institutionellen – Tatsachen haben die Gemeinsamkeit, dass man sie
nicht sehen kann. Man kann nicht sehen, dass ich verheiratet bin, es

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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 99

sei denn, ich weise eigens durch ein sichtbares Zeichen, zum Beispiel
in Form eines Ringes, auf diesen selbst nicht sichtbaren Status hin.
Institutionelle Tatsachen haben, wie Searle gesagt hat, eine »unsicht-
bare Ontologie«.22 Unsere Welt ist voll von Tatsachen dieser Art,
Schimpansen und andere Tiere kennen sie hingegen überhaupt nicht.
Das erklärt sich daraus, dass institutionelle Tatsachen sprachabhän-
gig sind. Wo es keine Wesen mit Sprache gibt, kann es Tatsachen die-
ser Art nicht geben. Auch wenn die Frage, wie die konstitutive Rolle
der Sprache genau aussieht, hier unbeantwortet bleibt23, lässt sich
immerhin sagen, dass man diese unsichtbaren Tatsachen offenbar
nur mit Hilfe der Sprache repräsentieren kann und dass sie in ihrer
Existenz von der Möglichkeit des Repräsentiert-Werdens abhängig
sind. Das Wollen eines Schimpansen oder eines Menschen und an-
dere mentale Zustände gäbe es auch dann, wenn niemand in der Lage
wäre, sie zu repräsentieren. Aber die Tatsache, dass ich verheiratet
bin, kann es nur geben, wenn sie auch repräsentiert werden kann.
Und das geschieht eben mit Hilfe der Sprache. Man kann sich leicht
ausmalen, welche riesige Menge neuer Gegenstände des Wollens aus
der Existenz institutioneller Tatsachen entsteht.
(iii) Da man für ein mehr als rudimentäres Zählen Zahlwörter
braucht, kann ein Lebewesen ohne Sprache nicht am 30.10. nach
Frankfurt reisen wollen. Auch mein Wunsch, am 31.12. den 60. Ge-
burtstag meines Bruders zu feiern, ist nur möglich, weil ich und
andere über Sprache verfügen und weil die Menschen mit Hilfe der
Sprache ein System für zeitliche Lokalisierungen erfunden haben,
das solche Datierungen ermöglicht. Natürlich gibt es auch außerhalb
zeitlicher Bestimmungen Wünsche, die Zahlen und damit Sprache
voraussetzen. So kann man sich wünschen, sein Gewicht auf weniger
als 80 Kilo zu reduzieren. Viele unserer Wünsche gehen auf Gegen-
stände, die einen Bezug auf Zahlen enthalten.
(iv) Banalerweise kann man nur mit Sprache Wünsche haben, die
direkt auf etwas Sprachliches gehen. Man kann nur mit Sprache et-
was behaupten, etwas fragen, etwas befehlen wollen. Oder einen
Text schreiben oder etwas übersetzen wollen. Man braucht nicht viel
Phantasie, um sich eine große Menge weiterer Beispiele auszuden-
ken. Auch diese Gruppe ist offensichtlich sehr groß.

22 J. R. Searle: The Construction of Social Reality (London 1995) 3; dt. Die


Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Frankfurt 2011) 12.
23 Vgl. hierzu das 3. Kapitel in Searles Buch.

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100 Teil I: Überlegen und Wollen

Die Sprache schafft nicht nur neue Gegenstände für das Wollen;
ein weiterer Effekt liegt darin, dass die Gegenstände des Wollens
dadurch, dass sie sprachlich repräsentiert werden, eine festere, kon-
turiertere und besser greifbare Gestalt gewinnen. Das macht es auch
sehr viel einfacher, sie festzuhalten und im Gedächtnis zu verankern.
Das ist wichtig für alle Formen des unerledigten Wollens, also für
die Fälle, in denen man die Realisierung eines Wollens in die Zu-
kunft verschiebt und Pläne macht. Um dies zu können, muss man
unerledigte Wünsche im Gedächtnis wachhalten und zum richtigen
Zeitpunkt möglichst unverfälscht zurückrufen können. Es scheint,
als werde dies durch die sprachliche Repräsentation zumindest we-
sentlich erleichtert.
Als letztes noch ein weiterer wichtiger Punkt: Zu verstehen, dass
andere etwas wollen und dass andere etwas meinen, und dann auch
zu verstehen, dass sie etwas von einem wollen und etwas über ei-
nen meinen, lässt wiederum eine große Menge neuer Wollensinhalte
entstehen. Man kann feststellen, dass man gemeinsame Ziele hat. So
entstehen die Wünsche nach Koordination und Kooperation. Das
eigene Wollen wird Teil eines gemeinsamen Wollens, das auf ge-
meinsame Projekte und gemeinsame Erfolge zielt. Ebenso kann man
feststellen, dass man mit seinen Wünschen im Konflikt steht. Auch
in dieser Situation können die Wünsche nach Ausgleich und Ko-
ordination entstehen, aber auch die Wünsche nach Dominanz und
eigener Stärke. Aus der Entdeckung, dass andere etwas von einem
wollen und etwas über einen denken, kommt es auch zu den Wün-
schen nach Ansehen, Respekt und Selbstbehauptung, ebenso wie zu
dem Wunsch, Geringschätzung und Ablehnung zu vermeiden. Es
entstehen auch neue Arten von positiven und negativen Gefühlen,
die ihrerseits zu Gegenständen des Wollens und Vermeiden-Wollens
werden.
Diese Überlegungen zu der Frage, wie die Sprache das Wollen
verändert, lassen trotz ihrer Skizzenhaftigkeit deutlich erkennen:
Die Sprache verändert das Zukunftsbewusstsein, und dadurch ver-
ändert sie auch das Wollen und seine Struktur tiefgreifend. Sie eröff-
net dem Wollen riesige neue Gegenstandsbereiche, und sie gibt den
Gegenständen des Wollens eine Kontur und Prägnanz, die sie ohne
Sprache nicht haben könnten. Die Erfindung der Sprache erklärt
also ganz wesentlich die Besonderheit des menschlichen Wollens.

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Teil II
Die Gegenstände des Wollens

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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens?

Wir haben jetzt, nach den Untersuchungen des ersten Teils, ein Bild
davon, wie das Wollen in die Welt kommt, und auch davon, wie sehr
sich das Wollen der Menschen von dem anderer Lebewesen unter-
scheidet. Die Menschen überspringen geistig die engen Grenzen der
Wahrnehmungssituation und entwickeln ein im Prinzip unbegrenz-
tes Zukunftsbewusstsein. Damit kommt es zu einer ungeheuren Ver-
änderungsdynamik, es entsteht, so habe ich gesagt, ein völlig neu-
artiges Lebewesen. Dem Wollen öffnen sich durch den Ausgriff in
die Zukunft und die hinzukommende Erfindung der Sprache riesige
neue Gegenstandsfelder, und es gewinnt eine bis dahin unbekannte
Vielfalt und Komplexität. Will man verstehen, wie die Menschen
funktionieren und wie sie ihr Verhalten steuern, muss man nun zu-
nächst die Frage stellen, wie das Wollen zu seinen Gegenständen fin-
det und auf welche Gegenstände es sich richtet. Was also bestimmt
die Ausrichtung des Wollens? Warum wollen die Menschen, was
sie wollen? Das ist die Frage, um die es in diesem zweiten Teil der
Untersuchung gehen wird.

1. Zwei Unterscheidungen

Zuerst sind zwei einfache Unterscheidungen wichtig. Zum einen die


Unterscheidung von extrinsischem und intrinsischem Wollen. Wenn
ich gleich zum Tennisclub fahren will, weil ich ein Match spielen will,
ist das erste Wollen ein extrinsisches Wollen: ich will etwas, weil ich
etwas anderes will. Während ich (so nehme ich an) das Tennisspiel
nicht will, weil ich etwas anderes will, sondern, wie man gewöhn-
lich sagt, um seiner selbst willen. Dieses Wollen ist deshalb ein in-
trinsisches Wollen. Es ist typisch für unsere Art des Lebens, dass
wir das allermeiste, was wir wollen, extrinsisch wollen. Wir wollen
es, weil wir anderes wollen. Auch dies ist eine Folge des Zukunfts-
bewusstseins. Je mehr Zukunft man hat und je weiter das Wollen
in die Zukunft ausgreift, umso größer ist das Zwischenland des ex-
trinsischen Wollens. Wenn wir verstehen wollen, was die Ausrich-
tung des menschlichen Wollens bestimmt, müssen wir jedoch auf
das intrinsische Wollen schauen. Das extrinsische Wollen ist schließ-
lich in seiner Ausrichtung vom intrinsischen Wollen abhängig, es ist
von ihm abgeleitet und ihm gegenüber sekundär. Worauf es letzten

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104 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

­Endes ankommt, ist das intrinsische Wollen. Deshalb ist nur dieses
Wollen das Thema in den folgenden Untersuchungen. Es geht darum,
das zu identifizieren, was der gesamten volitionalen Struktur die
Ausrichtung gibt, nicht darum, diese Struktur einschließlich ­ihrer
extrinsischen Teile genauer zu beschreiben.
Die zweite Unterscheidung ist die zwischen dem Wollen über
dem Strich und dem Wollen unter dem Strich. Diese Unterschei-
dung ist von großer Bedeutung, dennoch wird sie häufig gar nicht
oder nicht klar und konsequent genug gemacht, was zu erheblichen
Konfusionen führt. Das Wollen über dem Strich ist das Wollen
vor der Koordination des Wollens. Man will vieles und muss erst
noch überlegen, welches Wollen in der Konkurrenz überwiegt und
zum Wollen unter dem Strich wird. Das Wollen unter dem Strich
ist das Wollen nach der koordinierenden Überlegung; es hat sich
in der Überlegung als das stärkste herausgestellt und wird deshalb,
wenn nichts dazwischenkommt, handlungsleitend. Angenommen,
ich will die vom Arzt empfohlene Rückenoperation machen lassen
(weil dann vermutlich meine Schmerzen verschwinden) und ich will
sie nicht machen lassen (weil sie mit erheblichen Risiken verbun-
den ist). Beide Wünsche sind Wünsche über dem Strich, und ich
muss erst noch überlegen, welcher den anderen überwiegt. Nach
der Überlegung kann ich dann sagen: Unter dem Strich will ich die
Operation – auch angesichts des gegenläufigen Wollens. Ein Wol-
len setzt sich also durch und wird handlungsleitend. Es ist ganz
so wie bei einer Rechnung: die Zahlen über dem Strich sind noch
nicht zusammengerechnet, es ist nur aufgelistet, was in die Rech-
nung eingeht. Während die Zahl unter dem Strich das Resultat des
Rechnens ist. Statt vom Wollen über und unter dem Strich kann
man auch vom pro-tanto-Wollen und vom konklusiven Wollen
sprechen.
Man sollte diese Unterscheidung nicht in der Weise zu fassen
versuchen, dass man im einen Fall vom Wünschen und im anderen
vom Wollen spricht. Das führt zu fehlgehenden Vorstellungen, vor
allem suggeriert es, das Wollen vor und nach dem Überlegen seien
unterschiedliche mentale Zustände. Das ist nicht der Fall. Das Wol-
len über dem Strich ist genauso ein Wollen wie das Wollen unter dem
Strich und nicht in irgendeiner Weise reduziert oder defizient. Alles,
was das Wollen unter dem Strich hat, hat auch das Wollen über dem
Strich. Der Unterschied liegt allein darin, dass bei dem Wollen über
dem Strich noch offen ist, wie viel es in der Konkurrenz mit dem,

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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 105

was man sonst noch will, wiegt und ob es aus dieser Konkurrenz
als Sieger hervorgeht.1
Der jetzt anstehende zweite Teil der Untersuchung wird aus-
schließlich das Wollen über dem Strich behandeln. Das im Auge zu
behalten, ist wichtig. Alle Fragen, die die Koordination des Wollens
betreffen, werde ich in Teil III behandeln.

2. Zwei Stämme des Wollens

Zwei Arten, in denen ein Wollen zu seinen Gegenständen kommt,


sind bisher zur Sprache gekommen. In der einen Variante ist ein
Wollen genetisch auf bestimmte Ziele festgelegt. Das Wollen bringt
seine Ziele gewissermaßen mit, es sucht und findet sie nicht erst in
der Welt. Ein Lebewesen hat auf diese Weise einfach von Natur aus
bestimmte Ziele. Ich habe von einem von der Natur »eingeramm-
ten« Wollen gesprochen.
In der anderen Variante richtet sich ein Wollen auf etwas, was
unabhängig von ihm und ihm vorausgehend anziehend ist. Etwas
Attraktives zieht das Wollen auf sich, – oder etwas Repulsives stößt
es ab. Die Lebewesen machen die Erfahrung, dass bestimmte Dinge
attraktiv und repulsiv sind, und ihr Wollen richtet sich entsprechend
aus.
Der nächstliegende Kandidat für das Attraktive ist nach allem,
was bisher gesagt wurde, das Angenehme, für das Repulsive das
Unangenehme. Das Wollen, von dem jetzt die Rede ist, geht folglich
auf das Angenehme und Unangenehme. Hiervon wird es angezo-
gen und abgestoßen. Ich werde vom »hedonischen« Wollen spre-
chen, im Unterschied zu dem anderen Typ, dem nicht-hedonischen
Wollen. Die Gegenstände, auf die das hedonische Wollen geht, sind,
wie gesagt, unabhängig von ihm in bestimmter Weise ausgezeichnet;
diese Auszeichnung ist aber, obwohl wollensunabhängig, geistab-
hängig, es gibt sie nur, weil es Lebewesen gibt, die in der Lage sind,
Empfindungen des Angenehmen und Unangenehmen zu haben. Die
Welt, unabhängig vom Geist der Menschen und dem Geist anderer
Lebewesen, bietet nichts, was für das Wollen ein Anziehungs- oder

1 Wie bereits gesagt, verwende ich, wenn ich von »Wünschen« spreche, das
Wort nur als Ersatz für das fehlende Substantiv zu »wollen«. Damit ist keine
begriffliche Unterscheidung von wollen und wünschen intendiert.

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106 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Abstoßungspunkt sein könnte, sie ist in dieser Hinsicht völlig in-


different.
Auch ein Wollen, das auf diese zweite Weise bestimmt wird, ist,
so könnte man sagen, in seiner Ausrichtung festgelegt, nicht anders
als ein Wollen der ersten Art. Es folgt starr dem, was angenehm und
unangenehm ist. Das ist richtig. Allerdings ist das Ziel in diesem Fall
nur generell bestimmt, die Lebewesen müssen erst noch herausfin-
den, welche konkreten Dinge angenehm und unangenehm sind. Und
das Wollen reagiert dann auf das, was sich konkret als angenehm und
unangenehm herausstellt.
Das Wollen der Menschen wird, so haben wir schon gesehen, in
beiden jetzt skizzierten Weisen bestimmt. Fraglich war aber, ob es
nur in diesen beiden Weisen bestimmt wird. Kommen bei den Men-
schen nicht noch ganz andere Elemente ins Spiel? Gibt es für sie
nicht andere Attraktoren und Repulsoren als das Angenehme und
Unangenehme? In der Geschichte des Denkens ist immer wieder
gesagt worden, das Wollen der Menschen gehe nicht nur auf das An-
genehme und Unangenehme, sondern auch und besonders auf das
Gute und Schlechte. Dies seien die für die Menschen charakteristi-
schen Attraktoren und Repulsoren. Oder es wurde angenommen,
das Wollen gehe zwar auf das Angenehme, aber nicht, wie in der
bisherigen Darstellung offenbar unterstellt, ohne jeden Spielraum.
Die Menschen hätten einen Spielraum, in dem sie entscheiden kön-
nen, ob sie in ihrem Wollen der Attraktion folgen oder nicht. Oder
– eine dritte konkurrierende Position – es gebe bei den Menschen
eine Bestimmung des Wollens aus einer ganz anderen Ressource,
nämlich aus der Überlegung oder, traditionell gesprochen, aus der
Vernunft. So dass das Wollen nicht auf etwas reagiert, sondern durch
die Vernunft aktiv gesteuert wird. Mit diesen alternativen Vorschlä-
gen, zumindest aber mit dem zweiten und dritten, verbindet sich
die traditionelle und für das Selbstbild der Menschen, wie es scheint,
elementare Vorstellung, das Wollen sei in seiner Ausrichtung nicht
festgelegt, zumindest nicht in toto, es bewege sich vielmehr in einem
Spielraum, die Menschen seien in ihrem Wollen frei. Sie könnten ge-
wissermaßen wollen, was sie wollen.
Meine These wird sein, dass es bei den Menschen genau die bei-
den beschriebenen Arten der Bestimmung des Wollens gibt und nur
diese. Die Besonderheit der Menschen und ihrer Handlungssteue-
rung erklärt sich nicht daraus, dass dieser Rahmen grundsätzlich
verändert wird. Sie ergibt sich vielmehr aus weitreichenden Verän-

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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 107

derungen innerhalb dieses Rahmens. Die Öffnung zur Zukunft und


der Einfluss der Imagination sind die Ursachen dieser Veränderun-
gen. Wir haben das, wenigstens zum Teil, schon gesehen. Die drei
genannten alternativen Ideen erfassen das nicht, sie gehen allesamt
ins Leere. Der weitere Gang wird das, so hoffe ich, zeigen.

3. Das eingerammte Wollen

Betrachten wir zunächst den ersten Stamm des Wollens, das einge-
rammte, das nicht-hedonische Wollen. Als erstes ist hier das Weiter-
leben-Wollen zu nennen, ein äußerst starkes Wollen, oft das stärkste,
das die Menschen haben. Sie haben dieses Wollen von Natur aus, es
ist nicht so, dass sie lernen, dass weiterzuleben angenehm ist, und das
Wollen dem dann folgt. Das Weiterleben ist nicht vorab durch eine
attrahierende Eigenschaft ausgezeichnet, es ist etwas Positives allein
dadurch, dass die Menschen es wollen. Und es ist für die Menschen
so wichtig allein dadurch, dass sie es so elementar wollen.
Die Menschen können nicht anders, sie wollen weiterleben, die-
ses Wollen steht nicht zur Disposition, man kann sich nicht von
ihm lösen. Harry Frankfurt hat deshalb im Blick auf dieses Wollen
und andere Wünsche dieser Art von »volitionalen Notwendigkei-
ten« gesprochen. »Wir können«, so sagt er, »uns selbst nicht dazu
bringen, diesen Dingen gegenüber völlig gleichgültig zu sein, und
noch weniger dazu, sie kategorisch abzulehnen.«2 Es kann allenfalls
sein, dass ein anderes Wollen überwiegt. So kann das Leben so un-
erträglich geworden sein, dass es nur noch den Ausweg zu geben
scheint, sich gegen das Weiterleben zu entscheiden. Aber selbst in
einer solchen Situation will man – über dem Strich – weiterleben,
man muss dieses Wollen aber opfern, um dem, was man nicht mehr
ertragen kann, zu entkommen.
Das Weiterleben-Wollen ist offenkundig ein intrinsisches ­Wollen.
Weil es so elementar ist und auch weil es ein permanentes Wollen
ist – die Menschen können absehen, dass sie es auch in Zukunft
haben werden –, ist es eine äußerst mächtige Quelle für zahllose
extrinsische Wünsche. Der Wunsch, weiterzuleben, strahlt auf alle
Bereiche des menschlichen Wollens und Handelns aus, und es wäre

2 H. G. Frankfurt: Taking Ourselves Seriously and Getting It Right (Stan-


ford 2006) 38; dt. Sich selbst ernst nehmen (Frankfurt 2007) 56.

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108 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

eine eigene Aufgabe, seine Reichweite und seine Wirkungswege im


Einzelnen auszuloten und offenzulegen. Ein wie großer Anteil des-
sen, was wir tun, ist über die verschiedensten Einflusslinien durch
dieses Wollen motiviert! Da die Menschen in die Zukunft schauen,
können sie vielfältige zukünftige Gefahren antizipieren und versu-
chen, sich zu wappnen. Gefahren gehen von der Natur aus, und sie
gehen von anderen Menschen aus. Um sich zu schützen, erfinden die
Menschen unter anderem komplexe Institutionen wie moralische
und rechtliche Normensysteme. Sie streben nach Macht, Geld und
Wissen. All das liegt im Wirkungsfeld dieses Wollens.
Das Weiterleben-Wollen, so wie es die Menschen haben, ist ein
Resultat ihres Zukunftsbewusstseins. Sultan interessiert sich nicht
dafür, ob er morgen etwas zu fressen hat. Und er interessiert sich
auch nicht dafür, ob er morgen noch leben wird. Er will heute, jetzt
an die Bananen. Sie zu fressen, bewirkt (unter anderem), dass er
weiterlebt. Aber er will sie nicht, um weiterzuleben. Das Weiter­
leben ist kein Ziel, das er kennt, es erscheint nicht auf seiner menta-
len Bühne. Er agiert in einer Dafür-dass-Struktur, von der er nichts
weiß.
Wie tief das Wollen, weiterzuleben, in uns verwurzelt ist, spiegelt
sich auch in der starken Emotion, die uns erfasst, wenn das Weiter-
leben bedroht ist. Wir reagieren auf eine Gefahr für unser Leben
mit starker Angst und mobilisieren außergewöhnliche Kräfte, um
sie abzuwehren. Emotionen sind Indikatoren für Wichtigkeit. Je
wichtiger uns etwas ist, umso stärker reagieren wir auf Verlust oder
Gefahr. Auch andere eingerammte Wünsche werden von starken
Emotionen flankiert.
Wie wichtig den Menschen das Weiterleben ist, zeigt sich auf ganz
andere Weise auch darin, dass sie sich in allen Kulturen irgendwann
vorzustellen begannen, nach dem Tod auf ewig weiterzuleben. Ihre
Imaginationskraft macht es ihnen möglich, das Ende des Weiter-
lebens, den Tod, zu überspringen und zu etwas nur Scheinbarem
herunter­zuimaginieren.
Ein zweites Beispiel für ein von der Natur eingepflanztes Wol-
len ist das schon erwähnte Interesse am Wohl der eigenen Kinder.
Frankfurt hat dieses Wollen immer wieder behandelt. Auch in die-
sem Fall ist es so, dass erst das Wollen seinen Gegenstand zu etwas
Positivem und Wichtigem macht. Er besitzt nicht vorab, vom Wol-
len unabhängig, eine attrahierende Eigenschaft. Und wiederum kön-
nen die Menschen nicht anders, als dieses Wollen zu haben. Dabei

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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 109

ist das Interesse am Wohl der Kinder in seiner Existenz ganz unab-
hängig davon, wie die Kinder sind, ob einem gefällt, was sie tun und
lassen. Selbst wenn man nicht akzeptieren kann, wie sie sich verhal-
ten, bleibt ihr Wohl etwas, was man vorbehaltlos will.
Ein drittes Beispiel ist der Wunsch nach Anerkennung durch an-
dere. Die Menschen leben mit anderen Menschen zusammen, und
sie haben, wahrscheinlich als einzige Spezies, eine Vorstellung davon,
was andere denken, und dann eben auch davon, was andere über sie
denken. Was die anderen über sie denken, ist für sie so wichtig, dass
sie gar nicht anders können, als auf das, was sie tun, ja nur erwägen
zu tun, auch mit den Augen der anderen zu sehen. Sie sind nicht in
der Lage, diese Perspektive auszuschalten und sich gleichgültig zu
machen gegenüber dem Urteil der anderen.
Wie tief dieses Wollen sitzt und wie stark es ist, spiegelt sich wie-
derum in den Emotionen, die mit ihm assoziiert sind. So reagiert
man, wenn man etwas tut, von dem man glaubt, es könne vor den
anderen nicht bestehen, mit dem Gefühl der Scham, einem negativen
Gefühl, das zeigt, dass etwas passiert ist, was man im Innersten nicht
will. Auch in der Angst davor, hinter dem zurückzubleiben, was die
anderen erwarten, und von ihnen zurückgewiesen zu werden, of-
fenbart sich dieses Wollen. Ebenso in dem Schmerz und dem Zorn,
wenn man glaubt, zu Unrecht zurückgewiesen zu werden oder nicht
die Anerkennung zu finden, die einem gebührt. In der Heftigkeit
dieser Gefühle kommt zum Ausdruck, wie sehr wir darauf fixiert
sind, die Anerkennung der anderen zu finden.
Wir wollen die Anerkennung intrinsisch. Sie ist uns als solche
wichtig. Und sie ist uns so wichtig, weil wir sie so elementar wol-
len. Erneut schafft das Wollen die Wichtigkeit und folgt nicht einer
ihm vorausgehenden Attraktivität. Damit ist nicht geleugnet, dass
wir die Anerkennung auch extrinsisch wollen. Sie verhilft uns of-
fenkundig zu anderen Dingen, die wir wollen. So gibt es sicherlich
einen Bezug zum Weiterleben-Wollen. Gut angesehen zu sein, bietet
einem Schutz, es verschafft einem Beziehungen, Freundschaften; die
Aussichten auf Hilfe und gute Ratschläge vergrößern sich. Gut an-
gesehen zu sein, dient auch materiellen Interessen. Es eröffnen sich
Chancen zu Kooperationen und deren Gewinnen. Die Anerken-
nung durch andere hilft uns zudem, uns selbst gut zu finden, etwas,
was für uns von sehr großer Bedeutung ist. Von anderen akzeptiert
zu sein und sich selbst gut zu finden, sind miteinander verknüpft
und das eine, die Anerkennung durch sich selbst, hängt offenbar von

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110 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

dem anderen, der Anerkennung durch andere, ab. Die Standards des
Gutseins, auf das man sich selbst prüft, können nicht völlig unab-
hängig von den Standards sein, anhand deren andere einen als gut
und schlecht beurteilen.
Wenn ich sage, Anerkennung sei uns so wichtig, weil wir sie so
elementar wollen, das Wollen schaffe die Wichtigkeit und folge nicht
einer vorausgehenden Attraktivität, könnte man dem entgegenhal-
ten, es sei doch angenehm, anerkannt zu werden. Das deute darauf
hin, dass es sich in Wahrheit um ein hedonisches Wollen handelt
und das Wollen sehr wohl dem Angenehmen folge. Das wäre jedoch
eine voreilige Schlussfolgerung. Es ist ohne Zweifel angenehm, An-
erkennung zu finden, aber es ist angenehm, weil man es so sehr will.
Das Angenehmsein folgt hier dem Wollen und geht ihm nicht vor-
aus. Der Wunsch nach Anerkennung geht nicht auf etwas, was von
ihm unabhängig und ihm vorausgehend angenehm ist, sondern auf
­etwas, was erst von ihm abhängig und ihm nachfolgend angenehm
ist. Das ist ein wesentlicher Unterschied, den ich im nächsten Kapitel
ausführlich erläutern werde. Macht man ihn, sieht man, dass beides
richtig ist: Es ist angenehm, anerkannt zu werden, aber der Wunsch
nach Anerkennung ist davon unabhängig. Die Menschen sind nicht
auf Anerkennung aus, weil sie die Erfahrung machen, dass es ange-
nehm ist; sie wollen es, weil es, solchen Erfahrungen vorausgehend,
Teil ihrer Natur ist.
Auch das Streben nach Anerkennung bringt unzählige andere,
extrinsische Wünsche hervor. Was tun die Menschen nicht alles, um
die Anerkennung derer, mit denen sie zusammenleben, zu gewin-
nen! Die materiellen Interessen, das Streben nach materiellen Gütern
und Reichtum, sind offensichtlich sehr eng mit dem Wunsch nach
Anerkennung verbunden. Die Menschen passen sich an und tun das,
was die anderen zum Preis ihrer Anerkennung machen. Dadurch
gewinnt eine Gesellschaft ein effektives Instrument, das Verhalten
der Einzelnen zu steuern. Indem sie die von ihr gewollten Verhal-
tensweisen mit Anerkennung belohnt und das nicht gewollte Ver-
halten mit Ansehensverlust bestraft, schafft sie künstliche Gründe,
sich entsprechend zu verhalten. Die Institution der Moral ist ein
solches System künstlicher Gründe. Weil die Gemeinschaft morali-
sches Verhalten mit Anerkennung belohnt und unmoralisches Ver-
halten mit sozialer Ächtung bestraft, wird es für die Einzelnen, da
sie auf Anerkennung aus sind, zu einem »Muss«, sich moralisch zu
verhalten. Dieses Beispiel allein zeigt schon, wie weit der Wunsch

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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 111

nach Anerkennung ausstrahlt und wie weit er die Organisation des


Zusammenlebens bestimmt.
Die nicht-hedonischen Wünsche, die jetzt angeführt wurden, sind
nur Exempel. Die Liste dieser Art von elementaren Wünschen ist si-
cherlich länger, wenn auch nicht allzu lang. Frankfurt nennt in loser
Anführung noch den Wunsch, seine psychische Identität zu bewah-
ren, den Wunsch, zumindest einen minimalen Kontakt zu anderen
Menschen aufrechtzuerhalten, und auch den Wunsch, nicht in end-
lose Langeweile zu verfallen.3 David Hume, der ebenfalls von diesen
Wünschen handelt, die, wie er sagt, »unserer Natur ursprünglich
eingepflanzt« sind (»originally implanted in our natures«)4, nennt
neben »the love of life«, »kindness to children« und »an original
propensity to fame« noch »benevolence and resentment«.5 »Benevo-
lence« meint ein allgemeines Wohlwollen anderen Menschen gegen­
über, »resentment« das Übelwollen und Auf-Rache-Sinnen denen
gegenüber, die einem etwas Übles angetan haben. Ich gehe nicht
­darauf ein, wie überzeugend diese und vielleicht andere Vorschläge
sind, ich begnüge mich damit, anhand der angeführten Beispiele
plausibel zu machen, dass die Menschen ein solches nicht-hedoni-
sches, fest auf einen Gegenstand fixiertes Wollen haben.
Es liegt nahe, zu fragen, warum uns die Natur mit Wünschen
dieser Art ausgestattet hat, und warum genau mit diesen. Für jedes
Wollen dieser Art muss es eine evolutionäre Geschichte geben, und
wir müssten sie erzählen können, wenn wir mehr über unsere evo-
lutionäre Vorgeschichte wüssten. Bei dem Weiterleben-Wollen und
dem Interesse am Wohl der eigenen Kinder liegt der Zusammen-
hang mit den biologischen Zwecken auf der Hand. Es geht um die
Selbst- und Arterhaltung. Bei dem Wunsch nach Anerkennung tritt
ein solcher Zusammenhang nicht so deutlich zutage. Dennoch darf
man vermuten, dass es ihn gibt, und genauso auch bei allen anderen
nicht-hedonischen Wünschen.

3 Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 38; dt. 56; siehe auch H. G. Frank-
furt: The Reasons of Love (Princeton 2004) 27, 45, 53 f.; dt. Gründe der Liebe
(Frankfurt 2005) 33, 49, 59.
4 D. Hume: A Treatise of Human Nature, ed. L. A. Selby-Bigge, 2nd edition
by P. H. Nidditch (Oxford 1978) II, iii, 3, p. 417.
5 Vgl. ebd. und D. Hume: Enquiries concerning Human Understanding
and concerning the Principles of Morals, ed. L. A. Selby-Bigge, 3rd edition
by P. H. Nidditch (Oxford 1975) app. II, p. 301.

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112 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Wenn das, was ich jetzt über das eingerammte Wollen gesagt habe,
stimmt, ist nicht richtig, was so viele Philosophen behauptet haben:
dass das Angenehme und Unangenehme alles (intrinsische) Wol-
len bestimmt. Im ersten Satz seiner Principles schreibt Bentham:
»Nature has placed mankind under the governance of two sover­
eign masters, pain and pleasure.«6 Sie allein, so meinte Bentham,
bestimmen, worauf das Wollen der Menschen geht. Offenbar ist
das nicht wahr.

4. Das hedonische Wollen

Für den größten Teil des menschlichen Wollens ist, was Bentham
sagt, hingegen richtig. Der größte Teil geht auf das Angenehme
und Unangenehme. Das Angenehme ist, so hat man oft gesagt, ein
Magnet, der das Wollen auf sich zieht und auf sich ausrichtet. Wir
können gar nicht anders, als das Angenehme zu wollen und das Un­
angenehme nicht zu wollen. Es gibt hier keinen Spielraum. Auch
hier besteht, um Frankfurts Formulierung aufzugreifen, eine voli­
tionale Notwendigkeit, die Teil unserer natürlichen Ausstattung ist.
Auch das hedonische Wollen ist auf einen bestimmten Gegenstand
fixiert.
Will man verstehen, wie der größte Teil des menschlichen Wol-
lens zu seinen Inhalten kommt und was das menschliche Verhalten
bestimmt, muss man also die Frage stellen, was für die Menschen
angenehm und unangenehm ist und warum gerade dies und nicht
anderes. Das Angenehme und Unangenehme ist der Beginn einer
Bewegung, die zum Handeln führt, und es ist die Ressource, aus der
diese Bewegung ihre Richtung gewinnt. Das Wollen ist bloß eine
Brücke, über die das zukünftige Angenehme, das gegenwärtig nicht
gefühlt, sondern nur imaginiert und antizipiert wird, bereits in der
gegenwärtigen Situation Handlungsrelevanz gewinnt. Thematisiert
man das für die Menschen Angenehme und Unangenehme, kommt
es schnell zu der Frage, ob die Menschen Einfluss darauf haben, was
für sie angenehm und unangenehm ist und, falls das so sein sollte, in
welcher Weise. Im Blick auf das Wollen nicht-menschlicher Lebewe-
sen hatten wir gesagt, dass sie vorfinden, was für sie angenehm und

6 J. Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation,


ed. J. H. Burns / H. L. A. Hart (London 1970) 11.

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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 113

unangenehm ist. Sie entdecken es und lernen es, aber sie bestimmen
nicht darüber. Die Natur hat es festgelegt, und sie hat es so festgelegt,
dass die Tiere damit, dass sie der Spur des Angenehmen und Unan-
genehmen folgen, zugleich das für sie und für ihre Art Zuträgliche
tun und das Abträgliche meiden. Das subjektiv Angenehme ist das
objektiv Nützliche, nützlich in Bezug auf die biologischen Zwecke
der Selbsterhaltung und der Reproduktion. Die Tiere leben in einem
festen, wie man gesagt hat, »biologischen Anreizsystem«.7 Es macht
die Verhaltensweisen, die nötig sind dafür, dass sie überleben und
Nachwuchs haben, angenehm und damit attraktiv und alles, was sie
meiden müssen, unangenehm und abstoßend. Diese prästabilisierte
Harmonie von Angenehmem und Zuträglichem wirkt, als habe ein
guter Ingenieur sie ausgedacht und eingerichtet. Aber natürlich ist
sie einfach das Resultat davon, dass es die Lebewesen, für die das
Falsche angenehm und unangenehm ist, nicht mehr geben kann.
Die Frage ist also, wie es bei den Menschen ist. Es ist anders. Aber
wie? Wie kommt es dazu, dass uns Dinge angenehm und unange-
nehm sind? Ohne Zweifel leben auch die Menschen in einem bio-
logischen Anreizsystem. So ist, etwas Süßes zu essen, für uns ange-
nehm. Genauso ist sexuelle Aktivität etwas Angenehmes. In beiden
Fällen ist die Verbindung mit den biologischen Zwecken offenkun-
dig. Sie ist auch offensichtlich beim Schmerz und dem Wunsch, ihn
zu vermeiden. Aber nicht alles, was für uns Menschen angenehm
und unangenehm ist, hat diese Verbindung zu den biologischen
Zwecken. Das Spektrum dessen, was wir wollen, geht weit darüber
hinaus. Was für die Menschen angenehm und unangenehm ist und
warum, wird das Thema des nächsten Kapitels sein.

5. David Hume

Zuvor sei aber wenigstens noch kurz festgehalten, dass die jetzt
skizzierte Auffassung darüber, wie das Wollen zu seinen Inhalten
kommt, in ganz ähnlicher Weise bei David Hume zu finden ist. Auch
Hume hat angenommen, dass es ein eingerammtes, nicht-hedoni-
sches Wollen gibt, er spricht, wie schon erwähnt, von Wünschen,
die »unserer Natur ursprünglich eingepflanzt« sind und auch von

7 Vgl. W. B. Irvine: On Desire. Why We Want What We Want (Oxford


2006) ch. 7.

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114 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

»Instinkten« und »natürlichen Impulsen«.8 Wesentlich für diese Art


des Wollens ist, dass ihm keine Attraktoren und Repulsoren vor-
ausgehen, das Wollen macht seine Gegenstände erst dadurch, dass
sie gewollt werden, wie Hume sagt, zu etwas Gutem und Schlech-
tem. »These passions … produce good and evil, and proceed not
from them, like the other affections.«9 Bei dem sehr viel größeren
Teil unseres Wollens ist es gerade anders. Dieses Wollen reagiert
auf von ihm unabhängige Anziehungs- und Abstoßungspunkte,
nämlich auf das Angenehme und Unangenehme. Die »Aussicht«
(»prospect«) auf etwas Angenehmes erzeugt in diesen Fällen das
Wollen, die Aussicht auf etwas Unangenehmes das Abgestoßensein,
das Nicht-Wollen.10 »The chief spring or actuating principle of the
human mind is«, so resümiert Hume, »pleasure or pain.«11 Interes-
santerweise spricht er auch in Bezug auf diesen zweiten Stamm des
Wollens von einem »original instinct«, der das Wollen auf das Ange-
nehme fixiert.12 Das gilt indes nur für die Ausrichtung generell auf
das Angenehme. Das Wollen ist nicht instinkthaft auf das konkrete
Angenehme fixiert, sondern generell auf das, was angenehm ist, was
immer es sei. Dennoch ist es richtig, im Blick auf Humes Ausfüh-
rungen zu sagen, dass für ihn alles Wollen, das der einen Art wie
das der anderen Art, ein instinkthaftes Wollen ist, also ein Wollen,
das auf bestimmte Ziele festgelegt ist. Die Menschen können nicht
anders, als ihr Wollen auf diese Gegenstände zu richten. Die Natur
hat hier keinen Spielraum vorgesehen. Umso mehr stellt sich dann
die Frage, was den Menschen konkret angenehm und unangenehm
ist und wodurch es das ist.

8 Hume, Treatise, II, iii, 3, p. 417; II, iii, 9, p. 439.


9 Ebd. II, iii, 9, p. 439.
10 Ebd. II, iii, 3, p. 414; II, iii, 9, p. 438.
11 Ebd. III, iii, 1, p. 574.
12 Ebd. II, iii, 9, p. 438. – Wenn Hume an dieser Stelle von »good« und »evil«
spricht, meint er damit das Angenehme und Unangenehme (»pleasure« und
»pain«). Das belegt unter anderem eine Passage, p. 439, in der er im selben
Kontext von »good and evil« spricht und hinzufügt: »or in other words, pain
and pleasure«. Vgl. auch die Seiten 276 und 399.

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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 115

6. Das formale Wollen

Ich möchte zum Abschluss dieses Kapitels noch auf eine besondere
und sehr wichtige Art des Wollens hinweisen und damit auf die
Unterscheidung zwischen intrinsischem und extrinsischem Wollen
zurückkommen. Wenn man etwas will, will man auch das tun kön-
nen, was zur Erlangung des Gewollten nötig ist. Darin liegt, dass
man alles das nicht will, was einen daran hindert, und im Speziellen,
dass man nicht will, dass andere einen daran hindern. Man will, mit
anderen Worten, frei und ungehindert seinem eigenen Wollen folgen
können. Dieser Wunsch nach Freiheit resultiert nicht daraus, dass
wir etwas Bestimmtes wollen, sondern daraus, dass wir überhaupt
etwas wollen. Indem wir darauf reflektieren, welche Bedingungen
dafür erfüllt sein müssen, dass wir das, was wir wollen (was immer
es sei), auch erreichen, können wir uns klarmachen, dass das Freisein
für uns ein sehr wichtiges Ziel ist. Und wenn man genauer nach-
denkt, wird man schnell darauf stoßen, dass es neben der Freiheit
noch andere Ziele dieser Art gibt.
Dass es sich hierbei um eine besondere Art des Wollens handelt,
bestätigt sich, wenn wir uns einige Überlegungen vergegenwärtigen,
die Kant in einer vermutlich im Winter 1781/82 gehaltenen Vorle-
sung über Anthropologie angestellt hat. »Alle unsere Neigungen
können«, so sagt Kant in dieser Vorlesung, »in formelle und mate-
rielle eingeteilt werden. Die Formellen gehen ohne Unterschied der
Gegenstände auf die Bedingungen, unter denen wir überhaupt un-
sere Neigungen befriedigen können; … die materiellen Neigungen
sind die, welche in Ansehung des Gegenstandes bestimmt sind.« Es
gibt, so Kant weiter, zwei formelle Neigungen: »Freiheit und Ver-
mögen«. Statt von »Vermögen« würden wir heute wohl von »Macht«
sprechen. »Die Freiheit«, so heißt es, »bedeutet die Entfernung alles
Widerstandes, nach seiner eigenen Neigung zu handeln; sie ist eine
formale negative Neigung; aber wir haben auch eine positive for-
male Neigung; dies ist die Neigung zum Vermögen, d. i. zum Besitz
der Mittel, seine Neigungen zu befriedigen.«13 Kant entwickelt das
weiter, indem er das »Vermögen« dreifach unterteilt, in »Talent, Ge-
walt und Geld«, und drei entsprechende Neigungen unterscheidet.14

13 Kant, Vorlesungen über Anthropologie, Menschenkunde (Nachschrift),


AA XXV/2, 1141.
14 Ebd.

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116 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

All dies sind also formale Wünsche. Wir haben dieses, offenbar kei-
neswegs so beschränkte, Wollen, weil wir überhaupt etwas wollen
und deshalb auch die Möglichkeit haben wollen, das Gewollte zu
erreichen.
Es ist evident, dass dieses, oft gar nicht gesehene, formale Wollen
im Netz unseres Wollens eine bedeutsame Rolle spielt und dass es ei-
nen großen Teil dessen, was wir tun, bestimmt. Man denke nur daran,
was alles aus dem Freisein-Wollen direkt und indirekt folgt. So ha-
ben die Menschen die Institutionen der Moral und des Rechts auch
erfunden, um für sich einen Raum der Freiheit zu etablieren, in den
andere nicht hineinhandeln dürfen. Wo dies nicht gelungen ist, kann
der Kampf für Freiheit und gegen Unterdrückung zum alles über-
ragenden Lebensinhalt werden. Kant ist so weit gegangen, von den
formalen Wünschen zu sagen, sie seien überhaupt die mächtigsten.15
Man muss allerdings sehen, dass das formale Wollen, wenn auch
in einer speziellen Weise, ein extrinsisches Wollen ist. Wir haben
dieses Wollen, weil wir etwas anderes wollen. Wobei es eben nicht
ganz zutrifft, zu sagen: weil wir etwas anderes wollen. Wir wollen,
was wir formal wollen, weil wir überhaupt etwas wollen, aber nicht
weil wir etwas bestimmtes anderes wollen. Wir wollen die Freiheit,
weil sie die Bedingung dafür ist, das tun zu können, was wir wollen,
und insgesamt so leben zu können, wie wir es wollen.
Dass das formale Wollen ein extrinsisches Wollen ist, zeigt sich
auch daran, dass es, wie es für ein solches Wollen typisch ist, aus
einer Überlegung hervorgeht. Wir wollen, dass wir die Dinge, die
wir wollen, auch tun können und überlegen, welche generellen Be-
dingungen dafür erfüllt sein müssen. Und das Wollen geht dann –
extrinsisch – auf diese Mittel und Bedingungen. Es ist, nebenbei be-
merkt, offensichtlich, dass Tiere, auch wenn sie zu einfachen Formen
instrumentellen Überlegens in der Lage sind, zu dieser Überlegung
nicht fähig sind. Sie kennen deshalb das formale Wollen nicht. Diese
Ziele kann es für sie nicht geben.
Im Folgenden wird es, wie gesagt, darum gehen, freizulegen, was
die Ausrichtung des Wollens originär bestimmt, und deshalb kann
das extrinsische Wollen beiseite bleiben. Dennoch werde ich auf
die spezielle Form des extrinsischen Wollens, die das formale Wol-
len darstellt, noch mehrfach zurückkommen. Wenn man sich dieser
Form des Wollens bewusst ist, tritt deutlich hervor, wie bedeutsam

15 Ebd. 1142.

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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 117

das extrinsische Wollen im Gefüge unseres Wollens und damit in


unserem Leben ist. Überdies wird einem klar, dass man, wenn man
nur das intrinsische Wollen thematisiert, nicht nur den größten Teil
unserer Wünsche, sondern auch Wünsche, die uns sehr wichtig sind,
beiseite lässt. Aber wie bedeutsam extrinsische Wünsche auch immer
für die Menschen sind, sie haben sie, weil sie etwas anderes wollen,
es sind abgeleitete, vom intrinsischen Wollen abgeleitete Wünsche.
Und es sind die intrinsischen Wünsche, die die Ausrichtung des Wol-
lens bestimmen. Es kann offen bleiben, wie Kants Aussage, dass die
formalen Wünsche die »mächtigsten« seien, zu verstehen ist. Sollte
es bedeuten, dass es uns mehr um die Mittel als um die Ziele geht,
wäre es nicht sehr einleuchtend, wenngleich es durchaus möglich
ist, dass formale Wünsche sich verselbständigen und dieses Über-
gewicht erlangen. Man denke an das ab einer bestimmten Schwelle
leerlaufende Streben nach Geld. Das Gewicht des formalen Wollens
zeigt auch ein weiteres Mal den immensen Einfluss des Zukunftsbe-
wusstseins auf die Gestalt unseres Wollens. Wenn wir nicht wüssten,
dass wir auch morgen und übermorgen Dinge wollen werden, wür-
den wir uns nicht in dieser Weise für die formalen Mittel interessie-
ren, die nötig sind, um das Gewollte auch zu erlangen.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens

1. Angenehmes, wollensunabhängig und wollensabhängig

Was ist für die Menschen angenehm? Worauf geht das Wollen, wenn
es auf das Angenehme und Unangenehme geht? Wer aufhellen will,
was die Ausrichtung des menschlichen Wollens bestimmt, muss
diese Frage beantworten. Denn der größte Teil des – intrinsischen –
menschlichen Wollens richtet sich auf das antizipierte Angenehme
und Unangenehme.
Man muss erneut mit einer elementaren Unterscheidung begin-
nen, der Unterscheidung zwischen dem Angenehmen, das wollens­
unabhängig ist, und dem Angenehmen, das von einem Wollen ab-
hängig ist. Diese Unterscheidung, wir haben sie im letzten Kapitel
schon berührt, ist begrifflich einfach, aber zu entscheiden, ob etwas
auf die eine Seite gehört oder auf die andere, ist bisweilen schwierig.
Wir haben das Angenehme bisher als wollensunabhängig verstanden.
Wenn man, sagen wir: eine Rückenmassage als angenehm empfindet,
setzt diese Erfahrung kein Wollen voraus, sie ist wollensunabhängig.
Das Wollen folgt dann dem von ihm unabhängigen Attraktor. Die
Massage ist, kurz gesagt, nicht angenehm, weil man sie will, man will
sie, weil sie – wollensunabhängig – angenehm ist. Genauso, wenn
man Schmerzen hat. Das ist unangenehm, und dieses Unangenehm-
sein setzt wiederum kein Wollen voraus. Die Schmerzen sind nicht
unangenehm, weil man sie nicht will, man will sie nicht, weil sie –
wollensunabhängig – unangenehm sind.
Aber es gibt andere, wollensabhängige Formen des Angenehmen.
Angenommen, jemand strebt die Meisterprüfung als Automechani-
ker an. Wenn er es schafft und die Prüfung besteht, stellt sich ein
angenehmes Gefühl der Freude und der Befriedigung ein. Dieses
Angenehmsein ist wollensabhängig. Die Prüfung geschafft zu ha-
ben, ist angenehm, weil der Automechaniker es gewollt hat, und es
ist umso angenehmer, je mehr er es gewollt hat und je mehr er in
die Sache investiert hat. In diesem Fall geht das Wollen voraus, und
das Angenehmsein folgt. Das Angenehme ist nicht die Ursache und
das Ziel des Wollens, sondern die Wirkung davon, dass es in Erfül-
lung gegangen ist. Entsprechend, wenn die Prüfung misslingt. Dann
stellt sich ein unangenehmes Gefühl der Frustration ein. Und das
Unangenehme ist offenkundig wiederum wollensabhängig, es ist die
Wirkung davon, dass das Wollen unerfüllt geblieben ist.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 119

Im Weiteren werden noch andere Formen des wollensabhängigen


Angenehmen zur Sprache kommen. Zuvor aber ist herauszustellen,
warum diese Unterscheidung für die jetzige Untersuchung so wich-
tig ist. Sie ist deshalb wichtig, weil es, wenn es um die Ausrichtung
des Wollens geht, nur auf das wollensunabhängige Angenehme an-
kommt. Denn das wollensabhängige Angenehme folgt dem Wollen
und hat deshalb keinerlei Auswirkung auf dessen Ausrichtung. Die
Ausrichtung ist bereits vorab, unabhängig vom wollensabhängigen
Angenehmen, bestimmt. Deshalb braucht uns, wenn es um die Aus-
richtung des Wollens geht, das wollensabhängige Angenehme nicht
zu interessieren. Das wollensunabhängige Angenehme folgt hinge-
gen nicht einem unabhängig von ihm ausgerichteten Wollen, es geht
dem Wollen vielmehr voraus, zieht es auf sich und bestimmt so seine
Ausrichtung.
Man kann einwenden, das Gesagte übergehe einen wesentlichen
Aspekt. Das wollensabhängige Angenehme, zum Beispiel das Ge-
fühl der Freude, ziehe, einfach weil es etwas Angenehmes sei, auch
ein Wollen auf sich. Es gehe auch einem Wollen voraus, ziehe es auf
sich und bestimme so seine Ausrichtung. Bei dem wollensabhängi-
gen Angenehmen seien offenkundig zwei Wünsche im Spiel. Zum
einen das Wollen, dessen Erfüllung das angenehme Gefühl auslöst
und in Relation auf das das Angenehme wollensabhängig ist. Und
zum anderen das Wollen, das das angenehme Gefühl, von ihm at-
trahiert, zu seinem Gegenstand hat. Auf die Ausrichtung des ersten
Wollens – des Wollens1 – habe das Angenehme keinen Einfluss, auf
die Ausrichtung des zweiten Wollens – des Wollens2 – hingegen sehr
wohl. Deshalb muss, so der Einwand, wer etwas über die Ausrich-
tung des menschlichen Wollens sagen will, das wollensabhängige
Angenehme durchaus mitthematisieren. Denn ein Teil unseres Wol-
lens geht, wie gesagt, auf das wollensabhängige Angenehme. In den
Fällen der bisher besprochenen Art geht das Wollen auf die angeneh-
men Gefühle der Freude, der Befriedigung, der Erleichterung, das
Vermeiden-Wollen auf die unangenehmen Gefühle der Frustration
und der Enttäuschung.
Diese Überlegung ist offensichtlich richtig. Jede Form des An-
genehmen zieht ein Wollen auf sich, also auch das wollensabhän-
gige Angenehme. Es ist aber unbedingt festzuhalten, dass der Auto­
mechani­ker die Meisterprüfung nicht will, weil er die Freude will,
die sich einstellt, wenn er sein Ziel erreicht. Er will die Prüfung, weil
er mit ihr beruflich weiterkommt. Das Wollen, von dem das Ange-

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120 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

nehme abhängig ist, und das Wollen, das auf dieses Angenehme geht,
sind zwei verschiedene Wünsche, und es wäre völlig falsch, anzuneh-
men, der Mechaniker habe das eine Wollen – das Wollen1 –, weil er
das andere Wollen – das Wollen2 – habe. Dieser Fehler ist fast schon
geschehen, wenn man, wie es viele Autoren, vor allem Psychologen
und Neurowissenschaftler, tun, die Freude als Belohnung beschreibt.
Denn damit wird suggeriert, dass der Mechaniker die Prüfung um
der Belohnung, also um der Freude willen anstrebt. Und das ist ge-
rade falsch. Es mag sein, dass der Mechaniker die Freude antizipiert
und auch die Frustration im Falle des Miss­erfolgs und der Wunsch,
die Meisterprüfung abzulegen, deshalb begleitet wird von dem
Wunsch, am Ende die angenehme Befriedigung darüber zu spüren,
das Gewollte erreicht zu haben. Aber es ist klar, dass das Wollen1, das
Wollen der Meisterprüfung der gesamten Bewegung ihre Richtung
gibt. Die Ausrichtung dieses Wollens ist das Entscheidende. Und
sie wird nicht durch das wollensabhängige ­Angenehme bestimmt.
Dies spiegelt sich auch darin, dass die Freude und die Frustra-
tion über das Erreichen bzw. Nicht-Erreichen von etwas Gewoll-
tem unabhängig davon ist, was man will. Und deshalb ist auch das
Wollen der Freude unabhängig davon, was man auf der ersten Ebene
will. Man könnte sagen, das Wollen der Freude sei auf einer zweiten
Ebene angesiedelt. Es ist Teil unseres Wollens. Aber es gibt keine
Auskunft darüber, was auf der ersten, unteren Ebene die Ausrich-
tung des Wollens bestimmt. Das Wollen auf der zweiten Ebene ist so
etwas wie ein ein anderes Wollen begleitendes Wollen. Und das an-
dere Wollen, das Wollen1, bestimmt die Richtung des Handelns. Und
deshalb muss man wissen, wie dieses Wollen zu seiner Ausrichtung
kommt. Das wollensabhängige Angenehme und das Wollen, das es
auf sich zieht, gibt uns darüber keinen Aufschluss. Und deshalb ist
es richtig, sich, wenn es um die originären Motivatoren geht, auf das
wollensunabhängige Angenehme zu konzentrieren.
Ich will jedoch kurz die vielleicht wichtigsten oder offensicht-
lichsten Formen des wollensabhängigen Angenehmen anführen, um
so zu markieren, welche Arten des Angenehmen bloß derivativ sind.
Eine erste Art ist die, die bereits beschrieben wurde: Wenn es gelingt,
etwas Gewolltes zu realisieren, ist das angenehm, wenn es misslingt,
ist das unangenehm. Doch hierbei handelt es sich nur um einen be-
sonderen Fall eines sehr viel größeren Bereichs. Es ist generell so,
dass, wenn etwas passiert, was dem eigenen Wollen zuwiderläuft,
dies ein Unbehagen auslöst. Das kann einem voll zu Bewusstsein

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 121

kommen, es kann aber auch nicht mehr sein als eine kurze, kaum
bemerkte Veränderung im Hintergrundrauschen des Bewusstseins.
Genauso, wenn etwas passiert, das dem eigenen Wollen entspricht.
Das löst ein freudiges Gefühl aus, das wiederum voll zu Bewusstsein
kommen kann, aber auch, kaum bemerkbar und kaum bemerkt, von
sehr flüchtiger Existenz sein kann. So kann die Wahl eines Kollegen
zum Verfassungsrichter mich freuen, weil sie zu dem passt, was ich
will, in Hinsicht auf die Qualität und die Ausrichtung des Gerichts
und auch in Hinsicht auf die Laufbahn des Kollegen. Derselbe Vor-
gang kann auch ein Unbehagen auslösen, dann, wenn er dem entge-
genläuft, was ich in dieser Sache gewünscht hätte. Das Angenehme
und Unangenehme ist in diesen Fällen offenkundig wollensabhän-
gig, ihm geht ein Wollen voraus, auf dessen Ausrichtung es kei-
nen Einfluss hat. Wir Menschen wollen vieles, und zu dem, was wir
wollen, gehören so umfassende Dinge wie eine bestimmte Art des
Lebens und eine bestimmte Art von Person zu sein. Deshalb kann
es nicht anders sein, als dass in unserer Welt ohne Unterlass Dinge
geschehen, die in der einen oder anderen Weise unserem Wollen
entsprechen und entgegenlaufen und die infolgedessen wie immer
getönte Gefühle der Freude und des Unbehagens auslösen. All die-
ses Angenehme und Unangenehme ist wollensabhängig und hat auf
die Ausrichtung des vorausgehenden Wollens keinen Einfluss. Ich
werde diesen großen Bereich des Angenehmen und Unangenehmen
insgesamt satisfaktiv nennen.
Eng verwandt damit ist das Angenehm- und Unangenehmsein,
das mit Gefühlen im Sinne von Emotionen einhergeht. So ist es un-
angenehm, eifersüchtig zu sein. Die Eifersucht setzt indes ein Wollen
voraus, mit ihr reagiert man emotional auf etwas, was man nicht will,
sehr stark nicht will. Auch mit anderen Emotionen reagiert man auf
etwas, was für einen positiv oder negativ ist, und das heißt, auf etwas,
was man will oder nicht will. Mit Angst, Zorn, Ärger, Neid, Scham
reagiert man auf etwas, was man nicht will; und diese Emotionen
sind unangenehm, weshalb man sie selbst nicht will. Dieses letzte
Wollen ist wiederum das Wollen2. Und mit Stolz zum Beispiel re-
agiert man auf etwas, was man will, und dieses Gefühl ist angenehm.
Emotionen sind, so zeigt sich, sekundär, sie sind abhängig von
einem ihnen vorausgehenden Wollen. Sie sind, so könnte man sa-
gen, nur spezielle, affektiv besonders aufgeladene Weisen, darauf
zu reagieren, dass etwas passiert ist oder passieren könnte, was dem
eigenen Wollen entspricht oder zuwiderläuft. Und es liegt auf der

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122 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Hand, dass sie nicht die Ausrichtung des ihnen vorausgehenden


Wollens bestimmen. Und dass sie angenehm und unangenehm sind,
bestimmt ebenso wenig die Ausrichtung des Wollens. Diese Form
des Angenehmseins gehört also deutlich zum wollensabhängigen
Angenehmen. Tatsächlich handelt es sich um eine weitere Variante
des satisfaktiv Angenehmen.
Man kann diese Analyse auf Stimmungen übertragen. Auch Stim-
mungen sind angenehm und unangenehm; es ist unangenehm, trau-
rig und deprimiert zu sein, und angenehm, heiter und glücklich zu
sein. Mit Stimmungen reagiert man darauf, wie einem das eigene Le-
ben und die Welt insgesamt erscheinen. Fügt sich alles positiv, geht
alles, wie Kant in seiner Definition des Glücks formuliert, »nach
Wunsch und Willen« oder wiederholt sich, als herrsche ein geheimes,
destruktives Gesetz, das Negative, ohne Ausweg, wie es scheint, so
dass alle Lebenslust und aller Tatendrang verebbt? Auch mit Stim-
mungen bezieht man sich auf etwas, was man positiv findet, was
also dem eigenen Wollen entspricht, oder auf etwas, was negativ
ist, was dem, was man will, zuwiderläuft. Stimmungen sind deshalb,
nicht anders als Emotionen, wollensabhängig. Und das Angenehm-
und Unangenehmsein der Stimmungen ist folglich ebenfalls wol-
lensabhängig. Es hat deshalb keinen Einfluss auf die Ausrichtung
des Wollens. Das Wollen geht dem Angenehmen voraus, und nicht
das Angenehme dem Wollen.
Es scheint allerdings, als bedürfe das Gesagte einer Einschrän-
kung. Schon sehr kleine Kinder haben Angst vor Abgründen, und
dies, obwohl sie noch nicht das in die Zukunft gerichtete Weiter­
leben-­Wollen haben. Die Angst vor dem Abgrund scheint angebo-
ren zu sein. Sie entsteht als automatische Reaktion auf bestimmte
Reize. Wir haben hier einen primitiven, evolutionär sehr alten Reiz-
Reaktionsmechanismus, in dem kein Wollen vorkommt. Die emo­
tio­nale Reaktion scheint in diesem Fall also nicht von einem vorgän-
gigen Wollen abhängig zu sein. Auch bei erwachsenen Menschen
gibt es zweifellos noch solche primitiven Mechanismen. Auch wenn
sie das Weiterleben längst zu einem Gegenstand ihres Wollens ge-
macht haben, ist ihre Angst-Reaktion auf eine lebensbedrohende
Situation fest verdrahtet und von diesem Wollen unabhängig. Es gibt
also primitive Emotionen, die wollensunabhängig sind.1 Man kann,

1 Vgl. hierzu auch H. Steinfath: Orientierung am Guten (Frankfurt 2001)


140–143.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 123

was das Wollen angeht, allenfalls Folgendes sagen: Auch wenn die
Angst-Reaktion in einer lebensbedrohlichen Situation wollensunab-
hängig ist, haben die Menschen dennoch das entsprechende Wollen.
Sie wollen die Gefahr nicht, die ihr Leben bedroht. Sie reagieren
insofern mit der Emotion auf etwas für sie Negatives. Aber die-
ses Wollen ist in diesem Fall nicht konstitutiv für das Auslösen der
Reak­tion, denn die Reaktion folgt automatisch auf einen bestimmten
Reiz, ohne a­ lles Wollen und ohne alle Negativität.
Ich nehme an, dass die Zahl der primitiven Emotionen klein ist,
dass sie immer eine Funktion in Bezug auf die biologischen Zwecke
des Weiterlebens und des Sich-Fortpflanzens haben und dass ihnen
immer ein eingerammtes Wollen korreliert, vor allem das Weiterle-
ben-Wollen und vielleicht auch andere Wünsche dieser Art. Natür-
lich sind auch die primitive Angst und andere primitive Emotionen
unangenehm (und gegebenenfalls angenehm). Und diese Form des
Angenehmseins ist dann offenkundig nicht von einem Wollen ab-
hängig, es ist ein – nicht sehr weit reichender – Typus des wollens­
unabhängigen Angenehmen. Freilich mit der Besonderheit, dass ihm
dennoch ein Wollen korreliert. Es gibt also auch in diesen Fällen
ein Wollen1, und dann das auf die angenehmen oder unangeneh-
men Emotionen gehende Wollen2. Und es ist auch hier, so meine
ich, offensichtlich, dass uns, wenn es um die originäre Ausrichtung
des menschlichen Wollens geht, nur die Ausrichtung des Wollens1
interessieren muss.
Eine weitere wichtige Form des wollensabhängigen Angenehmen
ist folgende. Für die Menschen, und in ganz besonderer Weise für
Kinder, ist es wichtig, Anerkennung und Akzeptanz zu finden. Das
Aussein auf Anerkennung ist, wie wir sahen, ein elementares Wollen
der Menschen, ein ihnen eingerammtes Wollen. Ein Effekt dieses
Wollens liegt darin, dass uns Tätigkeiten, durch die wir Anerken-
nung finden, angenehm sind. Sie gewinnen, weil wir durch sie den
anderen gefallen, Attraktivität. So kann es jemandem gefallen, besser
zu sein als die anderen, und er kann stetig nach diesem Überlegen-
sein streben. Dies, weil seine Eltern ihn von früh an durch Lob und
Tadel auf diesen Weg gebracht haben. Er muss sich dieses Zusam-
menhangs nicht bewusst sein. Er genießt das Bessersein, und es ist
ein Leitmotiv seines Wesens und eine hervorstechende Eigenschaft
seines Charakters. Aber es ist doch klar, dass das Angenehmsein
wollensabhängig ist. Es ist abhängig von dem Wunsch, den Eltern zu
gefallen, ihr Lob und ihre Anerkennung zu gewinnen. Selbst wenn

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124 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

die Eltern schon lange tot sind, kann dieser Zusammenhang fort-
bestehen. Die Eltern haben das Kind in dieser Weise geprägt, und
sie konnten es nur, weil das Kind nach ihrer Anerkennung strebte.
Diese Prägung verselbständigt sich dann, sie wirkt fort und wird
zur zweiten Natur.
Ganz ähnlich, wenn es einem gefällt, anderen zu helfen und für
andere da zu sein. Auch das kann seinen Grund darin haben, dass
die Eltern es besonders gelobt und mit Anerkennung verbunden
haben. Es gibt selbstverständlich nicht nur das Lob und den Tadel
der Eltern in der Kindheit, sondern auch die Anerkennung und
die Zurücksetzung durch die, mit denen man zusammenlebt. Jede
Gesellschaft etabliert ein System von Anerkennung und verschie-
dener Formen sozialer Zurückweisung und Exklusion. Das Lob
der anderen überzieht die entsprechenden Verhaltensweisen mit
einem Glanz, so dass es einem angenehm ist, sich so zu verhal-
ten. Genauso wie die Zurückweisung Handlungsweisen abstoßend
macht, so dass sie unangenehm sind und man sich mit ihnen nicht
wohlfühlt.
Auch der Bereich dessen, was in dieser Weise angenehm ist, ist
offenbar groß. Und das, was in dieser Weise angenehm ist, kann, wie
die Beispiele zeigen, eine dominante Rolle in unserem Leben spielen.
Dennoch ist diese Form des Angenehmen wollensabhängig. Es setzt
voraus, dass wir etwas wollen: die Anerkennung durch die ande-
ren. Dieses Wollen geht dem Angenehmen voraus, und ohne dieses
Wollen gäbe es dieses Angenehme nicht. Deshalb ist auch diese Art
des Angenehmen nicht zu berücksichtigen, wenn es um die grund-
sätzliche Ausrichtung des Wollens geht, die nicht schon ihrerseits
ein Wollen voraussetzt.
Diese Überlegungen lassen im Übrigen erkennen, dass die Unter-
scheidung zwischen intrinsischem und extrinsischem Wollen nicht
immer leicht anzuwenden ist. Das Streben danach, besser zu sein,
mag einem vielleicht wie ein intrinsisches Wollen vorkommen, bei
dem einem selbst nicht klar ist, warum man es hat und warum es
einem gefällt, die anderen hinter sich zu lassen. Aber in Wirklich-
keit ist es (so ist der Beispielfall gedacht) ein verdeckt extrinsisches
Wollen. Man will etwas, weil man etwas anderes will, und dass das,
was man extrinsisch will, selbst angenehm ist – so dass man auf die
Idee kommen kann, dann müsse das Wollen doch intrinsisch sein –,
ist nur das Ergebnis davon, dass man etwas anderes will. Es ist in
spezieller Weise angenehm, nämlich wollensabhängig angenehm.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 125

Man könnte auch sagen, es ist angenehm, aber extrinsisch angenehm.


­ amit zeigt sich deutlich, dass es sich auch bei dieser Art des Ange-
D
nehmen um eine (besondere) Variante des satisfaktiv Angenehmen
handelt. Weil man die Anerkennung will, ist einem das, wodurch
man sie erlangt, angenehm.
Für den zuletzt beschriebenen Bereich des Angenehmen lässt sich
leicht erklären, wie es kommt, dass den einen dies angenehm ist und
anderen anderes. Dass die Menschen auf Anerkennung aus sind, ist
etwas Allgemeines; was mit Anerkennung belohnt wird, liegt aber in
den Händen derer, um deren Anerkennung es uns geht. Und sie kön-
nen, in den verschiedenen Familien, den verschiedenen Gesellschaf-
ten und den verschiedenen Kulturen, sehr unterschiedliche Dinge
mit Lob und Tadel belegen.
Ich will noch auf eine weitere, sehr wichtige Art des Angenehmen
hinweisen. Es gibt ein Angenehmsein, das aus dem Kontrast zum
Unangenehmen resultiert. Man kann vom kontrastiv Angenehmen
sprechen. Wenn man sich Sorgen macht, betrübt und unruhig ist, ist
es angenehm, etwas zu tun, was die Sorgen vertreibt. Es ist ange-
nehm, eine Oper anzuhören und sich von dem Spiel und der Musik
einfangen zu lassen. Oder eine Bergwanderung zu machen, die so
anstrengend ist, dass kein Platz für trübe Gedanken bleibt. Oder
man findet es angenehm, sich auf etwas zu konzentrieren, weil auch
das die schlechten Imaginationen abhält und verdrängt. Ist man allzu
bedrängt, sehnt man sich nach einer Zeit der Unbeschwertheit, und
das Wort »unbeschwert« zeigt schon an, dass das ersehnte Glück
kontrastiv in der Abwesenheit des Schlechten liegt. Auch wenn man
Langeweile hat und sich das Leben leer anfühlt, wird alles angenehm,
was einen aus dieser Stimmungslage befreit. Eine Unternehmung, für
die man sich früher nicht hätte erwärmen können, kann in diesem
Licht attraktiv sein, weil sie einem etwas zu tun gibt und die entsetz-
liche Langeweile vertreibt.
Diese Beispiele zeigen bereits – und wir werden darauf noch zu-
rückkommen –, dass das aus dem Gegensatz kommende Angenehm-
sein in unserem Leben eine erhebliche Bedeutung hat. Dabei kann
das Unangenehme, zu dem es in Kontrast steht, wollensunabhängig
wie auch wollensabhängig sein. Das kontrastiv Angenehme lässt sich
also nicht geschlossen einer der beiden Seiten zuordnen. Dennoch
handelt es sich in jedem Fall um eine derivative Form des Angeneh-
men. Zunächst ist etwas unangenehm, und erst relativ auf dieses vor-
gängige Unangenehmsein ist etwas kontrastiv angenehm. An dieser

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126 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Art des Angenehmen lässt sich noch einmal sehr gut erkennen, dass
sich, ist erst einmal etwas Angenehmes und Unangenehmes in der
Welt, daraus wie von selbst weitere Formen des Angenehmen und
Unangenehmen ergeben.

2. Das sinnlich Angenehme

Was ist den Menschen nun wollensunabhängig angenehm? Was


sind die zentralen Formen dieses basalen Angenehmseins? Es gibt
zwei besonders offensichtliche Arten. In der einen Variante ist das
Angenehme verbunden mit Wahrnehmungen, die durch von au-
ßen kommende Einwirkungen auf den Körper verursacht sind; in
der anderen Variante hat es mit inneren Körperzuständen zu tun.
So sind uns manche Gerüche angenehm, andere unangenehm. Der
Geschmack mancher Dinge ist angenehm, während anderes unan-
genehm schmeckt. Manche Geräusche sind kaum erträglich, an-
dere wiederum angenehm. Berührungen können angenehm sein, so
Küsse und andere sexuelle Stimulierungen, sie können auch unan-
genehm und schmerzhaft sein. Ein Bad in der Sonne ist angenehm,
zu frieren, ist unangenehm. Angenehm ist der Anblick eines schö-
nen menschlichen Gesichts. Bei Frauen gefallen eine symmetrische
Form, große Augen und volle Lippen, bei Männern eine markante
Kiefer- und Kinnpartie. Alles, was Fruchtbarkeit, Gesundheit und
Widerstandsfähigkeit anzeigt, wirkt auf die Menschen attraktiv.
Dies sind Beispiele für die erste Art des wollensunabhängigen
Angenehmen. Wir kommen in diesen Fällen mit etwas in Berüh-
rung und reagieren darauf mit einer angenehmen oder unangeneh-
men Empfindung. Vor allem die Wirkungsweise von Gerüchen wirft
die Frage auf, ob etwas auch unbewusst angenehm oder unange-
nehm sein kann. Denn es scheint, dass wir unterhalb der Bewusst-
seinsschwelle Gerüche registrieren und von ihnen angezogen und
abgestoßen werden. Einige Wissenschaftler sprechen deshalb vom
unbewussten Angenehmen, andere meinen, man solle unter einer
­angenehmen Empfindung immer einen bewussten mentalen Zu-
stand verstehen.2 Ich hatte gesagt, dass mit der Fähigkeit, etwas als
angenehm oder unangenehm wahrzunehmen, eine Handlungssteu-

2 Vgl. hierzu M. L. Kringelbach / K. C. Berridge (eds.): Pleasures of the


Brain (Oxford 2010) 7 f.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 127

erung beginnt, die nicht mehr völlig am Kopf der Lebewesen vor-
beiläuft, sondern durch ihren Kopf hindurch. Deshalb scheint es
mir klarer, unter einer angenehmen Empfindung eine Empfindung
zu verstehen, deren man sich bewusst ist. Damit ist nicht geleugnet,
dass es unbewusste Äquivalente gibt. Aber für die Entstehung des
Geistes war es ein entscheidender Schritt, dass die unbewusste Ver-
arbeitung von Geruchs- und ähnlichen Reizen die Schwelle zum
Bewusstsein durchbricht und wenigstens zum Teil eine Verhaltens-
steuerung entsteht, für die die bewusste Empfindung des Angeneh-
men und U ­ nangenehmen konstitutiv ist.
Beispiele für die zweite Art des wollensunabhängigen Angeneh-
men, bei der innere Körperzustände die angenehmen oder unan-
genehmen Empfindungen verursachen, sind ebenfalls leicht anzu-
führen: Es ist unangenehm, hungrig zu sein. Wenn das Glucoseni-
veau im Blut unter eine bestimmte Schwelle fällt, löst das ein unan-
genehmes Gefühl aus. Ebenso ist es unangenehm, durstig zu sein.
Wenn Körperorgane oder andere Körpersysteme ihre Funktion nur
eingeschränkt erfüllen können, ist das in der Regel mit Schmerzen
verbunden. Eine Entzündung im Magen, eine Zerrung im Muskel,
Stiche im Herzen, all das ist unangenehm und schmerzhaft. Fieb-
rige Hitze ist unangenehm, ebenso Übelkeit und Ekel, ebenso er-
schöpft und müde zu sein, ebenso nervös und unruhig zu sein. Um-
gekehrt fühlt es sich gut an, ausgeruht und frisch zu sein. Es gibt
auch Formen des Erschöpftseins, die angenehm sind, zum Beispiel
nach sportlichen Anstrengungen. Und natürlich ist es angenehm,
sexuell erregt zu sein.
Die beiden jetzt angeführten Arten des Angenehmen hängen of-
fenbar eng zusammen. Es handelt sich im einen wie im anderen Fall
um körperliche oder sinnliche Empfindungen, die angenehm und
unangenehm sind. Ich werde deshalb vom sinnlich Angenehmen
sprechen.
Dass uns bestimmte Dinge sinnlich angenehm und unangenehm
sind, und dass es diese und keine anderen sind, ist mit der Beschaf-
fenheit des Körpers gegeben. Es ist einfach so, dass es für Menschen
angenehm ist, sich zu küssen, und es ist einfach so, dass es für Men-
schen angenehm ist, etwas Süßes zu essen. Es ist Teil ihrer Natur.
Sie sind, ohne ihr Zutun, so verdrahtet. Sie können allenfalls versu-
chen, direkt in das körperliche Geschehen einzugreifen, etwa indem
sie die Schmerzempfindung durch die Zuführung einer Chemikalie
blockieren. Das System des sinnlich Angenehmen ist, wie es scheint,

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128 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

ein ziemlich starres System, das nur wenig Raum für individuelle
Unterschiede lässt.
Klar ist auch, dass, wie der menschliche Körper ausgestattet ist
und funktioniert, mit den biologischen Zwecken zusammenhängt.
Der menschliche Körper ist ein Produkt der Evolution, die nur zwei
Effekte kennt, die zählen: das Weiterleben und das Sich-Fortpflan-
zen. Den Menschen sind die Dinge sinnlich angenehm und unange-
nehm, die ihr Wollen anziehen und abstoßen müssen dafür, dass sie
überleben und sich reproduzieren. Auch wenn es uns schwer fällt,
zu sehen, wie es mit den biologischen Zwecken zusammenhängt,
dass uns bestimmte Geräusche unangenehm sind, ist es doch so, dass
sie uns unangenehm sind, weil das Gehör so ist, wie es ist, und dass,
wie es ist, sehr wohl mit den biologischen Zwecken zu tun hat.
Das sinnlich Angenehme hat offensichtlich einen enormen Ein-
fluss auf das menschliche Wollen. Ich werde darauf noch kommen.
Zunächst aber müssen wir sehen, ob dieser Einfluss durch andere
Arten des wollensunabhängigen Angenehmen relativiert wird. Die
nächste Frage ist damit schon formuliert: Gibt es andere Formen des
wollensunabhängigen Angenehmen?

3. Andere Arten des wollensunabhängigen Angenehmen?

Die Tradition hat diese Frage überwiegend bejaht. Es gibt Dinge, die
neben dem sinnlich Angenehmen und unabhängig von den entspre-
chenden körperlichen Vorgängen wollensunabhängig angenehm und
unangenehm sind: bestimmte Tätigkeiten, in bestimmten Zuständen
zu sein, Erfahrungen anderer Art. Häufig hat man vom mental oder
intellektuell Angenehmen und von mentaler Lust gesprochen, meis-
tens bereits mit einer evaluativen Einfärbung: die mentale Lust ist
die höhere Lust, die sinnliche die niedere. Die Unterscheidung von
sinnlich und mental angenehm ist allerdings problematisch. Man
rutscht mit ihr leicht in dualistische Vorstellungen von Körper und
Geist hinein. Jede Empfindung des Angenehmen oder Unangeneh-
men beruht auf neurochemischen Prozessen und ist deshalb kör-
perlich angenehm und unangenehm. Aber innerhalb dessen soll es,
das ist die Idee, eine Form des Angenehmen geben, bei der die Sin-
nesorgane und solche inneren Zustände wie Hunger, Durst oder
Müdigkeit keine Rolle spielen. Ich werde in Ermangelung eines bes-
seren Terminus die traditionelle Redeweise hilfsweise übernehmen

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 129

und auch vom mental Angenehmen sprechen. Dieses steht dann, als
eine besondere Form des körperlichen Angenehmen, dem sinnlich
Angenehmen gegenüber.
Es ist nicht fraglich, ob es mental Angenehmes gibt. Das gibt es
ohne Zweifel. Das satisfaktiv Angenehme ist offenkundig von die-
ser Art. Wenn man etwas erreicht, was man gewollt hat, ist das an-
genehm. Und dieses Angenehmsein ist nicht durch Einwirkungen
auf die Sinne oder durch wahrgenommene innere Körperzustände
verursacht. Fraglich ist vielmehr, ob es Formen des mental Angeneh-
men gibt, die wie das sinnlich Angenehme wollensunabhängig sind.
Die Hypothese, die jetzt im Raum steht und die zu prüfen ist, besagt
also, dass uns auch andere Dinge als bestimmte Körpererfahrungen
angenehm und unangenehm sind, aber auf dieselbe unmittelbare
Weise. Die Natur muss uns dann so programmiert haben, dass uns
auch dies andere angenehm und unangenehm ist. Formuliert man es
so, liegt die Annahme nahe, dass auch diese alternative Form des An-
genehmen mit den biologischen Zwecken des Weiterlebens und der
Reproduktion verbunden sein muss und durch diese Verbindung zu
erklären ist. Denn die Natur kennt, wie gesagt, keine anderen Zwe-
cke. Jede These, dass dieses oder jenes wollensunabhängig mental
angenehm sei, ist also zu verbinden mit einer plausiblen Darlegung
über den Zusammenhang mit den biologischen Zwecken.
Für ein traditionelles Verständnis der Welt, nach dem nicht die
Evolution die Lebewesen so hat werden lassen, wie sie sind, sondern
Gott sie so ausgestattet hat, wie es ihm beliebt, stellen sich diese Fra-
gen nicht in gleicher Weise. Selbstverständlich müssen auch die von
Gott geschaffenen Lebewesen einschließlich der Menschen das tun,
was notwendig ist dafür, dass sie weiterleben und sich fortpflanzen.
Und Gott muss ihnen, sofern er sie nicht fest verdrahtet, die hierfür
richtigen Motivatoren geben. Aber jenseits dessen können sich die
Menschen auch an anderen Dingen erfreuen, weil Gott es so einge-
richtet hat, dass sie für sie angenehm sind. Einen Bezug auf die bio-
logischen Zwecke muss es nicht geben. Dass Gott es so gewollt hat,
erklärt ausreichend, wie es dazu kommt, dass diese Dinge angenehm
sind. Vielleicht liegt in dieser gegenüber einer aufgeklärten Sicht ein-
facheren Problemlage die Erklärung dafür, dass die Konzeptionen
des mental Angenehmen, die wir aus der Geschichte des Denkens
kennen, so enttäuschend sind. Sie wirken von heute aus gesehen
wie eine Mischung aus ad-hoc-Annahmen und Wunschdenken. Man
muss allerdings hinzufügen, dass die modernen Wissenschaftler bei

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130 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

diesem Thema auch nicht sehr viel weiterhelfen. Auch sie operieren
allzu oft mit luftigen ad-hoc-Annahmen über die adaptiven Vorteile
bestimmter Formen des Angenehmseins.
Welches sind nun die Vorschläge für das mental Angenehme?
Welche Dinge sind neben dem sinnlich Angenehmen wollensunab-
hängig angenehm? Ich werde drei Vorschläge diskutieren. Der erste
geht auf Aristoteles zurück. Er hat darauf hingewiesen, dass den
Menschen bestimmte Tätigkeiten angenehm sind, und hierin eine
vom sinnlich Angenehmen unterschiedene eigene Art des Angeneh-
men gesehen.3 Diese Sicht wird auch heute von vielen Autoren ge-
teilt.4 Wieder ist nicht die Frage, ob es diese Tätigkeitslust gibt, es
gibt sie ohne Zweifel; fraglich ist, ob die einschlägigen Tätigkeiten
nicht-sinnlich und vor allem wollensunabhängig angenehm sind.
Gerade dies wird für verschiedene Tätigkeiten behauptet.
Oft wird gesagt, kognitive Tätigkeiten: etwas zu erkennen oder
Probleme zu lösen, seien wollensunabhängig angenehm. So meint
zum Beispiel der Psychologe E. T. Rolls, »solving complex prob-
lems« und »working at the level of ideas, to increase understanding«
sei in sich belohnend, sprich: angenehm. Die Menschen seien gene-
tisch so programmiert. Und man solle sich nicht wundern, dass es so
ist, es sei ein Ergebnis der natürlichen Selektion und verbessere die
Fitness, also die Wahrscheinlichkeit zu überleben und sich fortzu-
pflanzen.5 Die Verbindung zu den biologischen Zwecken wird also
mitgedacht und das Phänomen auf diese Weise erklärt.
Rolls erläutert seine Formulierungen nicht weiter, und so bleibt
unklar, was er mit »Probleme lösen« genau meint. Man kann es als
Erfolgsverb verstehen, es bezeichnet dann den Schritt, durch den
ein Problem tatsächlich gelöst wird, das angestrebte Resultat also
erreicht wird. In diesem Fall ist, ein Problem zu lösen, sehr klar
satisfaktiv angenehm. Man freut sich, weil man Erfolg hat und das
erreicht, was man gewollt und worauf man hingearbeitet hat. Das

3 Vgl. hierzu U. Wolf: Aristoteles’ ›Nikomachische Ethik‹ (Darmstadt


2
2007) 191 f.
4 Vgl. zum Beispiel G. H. v. Wright: Varieties of Goodness (London 1963)
64, 78 f.; N. H. Frijda: On the Nature and Function of Pleasure, in: M. L.
Kringelbach / K. C. Berridge (eds.): Pleasures of the Brain (Oxford 2010)
99–112, 103.
5 Rolls, Emotion Explained, 51. – Ähnlich R. B. Brandt: A Theory of the
Good and the Right (Oxford 1979) 90. »to solve a puzzle«, so heißt es hier,
sei »natively … pleasant«.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 131

Angenehmsein ist dann wollensabhängig. Oder man versteht »Pro-


bleme lösen« im Sinne von »nach der Lösung eines Problems su-
chen«. Das Verb bezeichnet dann die Tätigkeit, die darauf zielt und
sich darum bemüht, das Problem zu lösen. Ich versuche, heraus-
zufinden, wie die Musikanlage funktioniert, weil ich Musik hören
möchte. Oder ich recherchiere im Internet, weil meine alte Taschen-
uhr kaputt ist und ich jemanden suche, der sie reparieren kann. Das
Nach-einer-Lösung-Suchen ist in diesen wie in anderen Fällen das
Mittel, durch das man ein angestrebtes Ziel erreichen will. Um zu
der instrumentellen Tätigkeit zu motivieren, bedarf es deshalb nicht
des Angenehmseins dieser Tätigkeit. Es reicht, das Ziel zu haben, das
motiviert bereits hinreichend dazu, das instrumentell Nötige zu tun.
In beiden Lesarten wirkt Rolls’ Überlegung also nicht überzeugend.
Man könnte vielleicht sagen, dass die Natur das Problem-Lösen (im
zweiten Sinne) nicht eigens angenehm machen muss, um dazu zu
motivieren, dass sie es aber dennoch tut. Aber das wäre nur ein
­Manöver in der Absicht, die These zu retten.
Doch vielleicht hat Rolls etwas anderes im Auge. Er spricht nicht
nur allgemein vom »Probleme-lösen«, sondern auch vom Probleme-
lösen »in language, mathematics, or music« und, wie zitiert, vom
»working at the level of ideas, to increase understanding«.6 Das
könnte man so verstehen, dass es nicht um instrumentelle intel-
lektuelle Tätigkeiten geht, sondern um ein intellektuelles Tätigsein
um seiner selbst willen. Es macht Freude, sich mit mathematischen
Problemen zu beschäftigen, nicht um dadurch etwas zu erreichen,
sondern in sich selbst. Wird die These so verstanden, stellt sich
aller­dings die Frage, wo der Zusammenhang mit den biologischen
Zwecken ist. Die Natur dürfte, um es noch einmal personalistisch
zu formulieren, nicht daran interessiert sein, dass die Menschen so
etwas wie reine Theorie treiben. Das könnte dann allenfalls ein Ne-
benprodukt sein, ohne biologische Funktion, – eine Idee, die jedoch
nicht zu Rolls’ Überlegungen passt.
Bleiben wir noch einen Moment bei der These, zweckfreie Theo-
rie sei den Menschen angenehm, ohne dass ein Wollen vorausginge.
Sie ist sehr viel enger als die Annahme, dass kognitive Tätigkeiten
generell angenehm seien. Ja, es scheint sich um ein eher peripheres
Phänomen zu handeln, weil wohl nur die wenigsten Menschen in
dieser Weise tätig sind. Dennoch spielt die Vorstellung in der euro­

6 Rolls, Emotion Explained, 51.

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132 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

päischen Tradition eine bedeutende Rolle. Von alters her haben sich
die Menschen als Wesen beschrieben, die dadurch ausgezeichnet
sind, zu zweckfreien intellektuellen Tätigkeiten fähig zu sein und an
ihnen besonderen Gefallen zu finden. Diese Vorstellung ist jedoch
nicht so unproblematisch, wie es womöglich auf den ersten Blick
erscheint. Zunächst bleibt es bei der schon genannten Schwierigkeit,
dass der Bezug auf die biologischen Zwecke fehlt. Wie aber kommt
es dann dazu, dass die Menschen diese Art von Tätigkeit angenehm
finden? Die Natur hat, wie gesagt, kein Interesse an dieser Tätigkeit.
Die reine Theorie hat keine adaptiven Effekte. So dass es hier einer
Erklärung bedarf.
Es kommt hinzu, dass die These, den Menschen sei die reine
Theo­rie angenehm, vielleicht sogar in höchstem Maße angenehm,
in Verdacht steht, von metaphysischen Wunschvorstellungen abhän-
gig zu sein. Die Menschen haben sich so beschrieben, weil sie sich
auf diese Weise von den Tieren abheben und den Göttern angleichen
wollten. Reine Theorie zu treiben, ist, so die Vorstellung, die Exis-
tenzform der Götter. Und die Fähigkeit der Menschen, dies auch zu
tun, ist etwas Göttliches in ihnen, das zu realisieren besonders ange-
nehm ist. Bei Aristoteles ist diese Vorstellung im 10. Buch der Niko-
machischen Ethik sehr deutlich zu greifen. Das Glück der Menschen
bestehe, so Aristoteles, darin, ihre Fähigkeit zu zweckfreier Theorie
möglichst gut zu realisieren. Wer dies tue, lebe ein göttliches oder
gottähnliches Leben.7 Erst vor diesem metaphysischen Hintergrund
gewinnt die Theorie um ihrer selbst willen ihren besonderen, alles
überstrahlenden Glanz.
Ein weiteres Problem liegt darin, dass viele Autoren die Freude
am Herausfinden, wie sich etwas verhält, auf ein vorgängiges Wollen
beziehen. Sie gehen davon aus, dass die Menschen, wie es wiederum
Aristoteles im ersten Satz der Metaphysik geschrieben hat, von Na-
tur aus nach Wissen streben.8 Aristoteles folgt damit seinem Lehrer
Platon, der das Streben nach Wahrheit und Wissen als ein Wollen
der Vernunft, also des höchsten Seelenteils, verstand.9 Dieses Wol-

7 Vgl. hierzu Vf., Aristoteles’ Ergon-Argument in der Nikomachischen


Ethik, in: G. Wolters / M. Carrier (Hg.): Homo Sapiens und Homo Faber
(Berlin 2005) 65–86, 83 f. – Zur Präsenz dieser Vorstellung in der frühen
Neuzeit siehe E. Craig: The Mind of God and the Works of Man (Oxford
1987) ch. 1.
8 Met. I,1. 980 a 20: πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει.
9 Vgl. hierzu J. M. Cooper: Plato’s Theory of Motivation, in: J. M. C.: Rea­

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 133

len ist mit der Vernunft selbst gegeben, es verdankt seine Ausrich-
tung nicht der Attraktion durch etwas Angenehmes. Das Aussein
auf Wissen, die Neugierde ist nach diesen Autoren also, wie ich
es formuliert habe, ein eingerammtes Wollen, es ist fest auf einen
Gegenstand fixiert. Wenn es so ist – und auch einige Neurowissen-
schaftler nehmen an, dass es so ist10 –, ist klar, warum es angenehm
ist, etwas zu erkennen und sich theoretisch zu betätigen: weil man
es will. Darin realisiert sich ein basales Wollen, das alle Menschen
haben. Das Angenehmsein ist dann ein satisfaktives Angenehmsein
und damit wollensrelativ.
Ich lasse offen, ob es dieses eingerammte Wissen-Wollen gibt und
ob das korrelierende Angenehmsein aus diesem Grunde wollens­
abhängig ist. Auch wenn man diese Hypothese beiseite lässt, bleibt
es möglich und naheliegend, das Angenehmsein des Erkennens auf
andere Weise als wollensabhängig zu verstehen. So könnte, theo-
retisch tätig zu sein, dem Bild entsprechen, das man von sich und
seinem Leben entwirft und das man realisieren möchte. Wenn man
glaubt, dass es Götter gibt, die exklusiv ein theoretisches Leben
führen, und dass es angenehm sein muss, das zu tun, was sie tun,
zumindest annäherungsweise, und wenn man deshalb sein Leben
so einrichten will, dass es diese Lebensform möglichst weitgehend
verwirklicht, dann wird es angenehm sein, reine Theorie zu treiben.
Aber es ist dann wollensabhängig angenehm. Es ist dann wiederum
satisfaktiv angenehm, denn es entspricht einem vorgängigen Wol-
len. Auch wenn man nicht mehr an die Götter glaubt, kann man die
Vorstellung haben, dass ein Leben nur dann gelingen könne, wenn
man die höchsten Potenzen, über die die Menschen verfügen, auch
realisiert. Man will diese Möglichkeiten umsetzen, so stellt man sich
ein – im emphatischen Sinne – menschliches Leben vor. Dann wird
es angenehm und zwar wollensabhängig angenehm sein, das zu tun.
Es entspricht dem Bild eines gelungenen Lebens und dem Wunsch,
ein Leben dieser Art zu führen.
Ein weiterer Aspekt: In einer Kultur, die intellektuelle Tätigkei-
ten besonders schätzt und vielleicht sogar bewundert, kann diese

son and Emotion. Essays on Ancient Moral Psychology and Ethical Theory
(Princeton 1999) 118–137, 121 f.
10 Vgl. z. B. W. Singer: Für und wider die Natur. Was weiß die Wissenschaft,
und was darf sie wissen? (1999), in: W. S.: Der Beobachter im Gehirn. Essays
zur Hirnforschung (Frankfurt 2002) 189–199, 189.

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134 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Form der Tätigkeit angenehm sein, weil man durch sie zu Ansehen
und Reputation kommt, etwas, was man will. Man muss sich dieser
Verbindung nicht bewusst sein. Dennoch findet man diese Tätigkei-
ten angenehm, weil man untergründig weiß, dass man damit das tut,
was die anderen – und dann auch man selbst – besonders schätzen.
Wenn man die jetzt angeführten Gesichtspunkte zusammenzieht,
entsteht der Eindruck, dass die These, das zweckfreie Erkennen und
Nach-Erkenntnis-Suchen sei wollensunabhängig angenehm, zerbrö-
selt und dass nicht mehr klar ist, wie man über ihre Richtigkeit ent-
scheiden kann. Konkurrierende Sichtweisen sind zumindest ebenso
plausibel. Außerdem bleibt das Problem, dass die These nicht erklärt,
wie es dazu kommt, dass diese Tätigkeit – wie behauptet – wol-
lensunabhängig angenehm ist, trotz des fehlenden Bezugs auf die
biologischen Zwecke. An dieser Stelle klafft eine erhebliche Erklä-
rungslücke. Es scheint also, als komme man zu keinem überzeugen-
den Ergebnis und zu keinem überzeugenden Kandidaten für etwas
mental und doch wollensunabhängig Angenehmes.
Und es sieht so aus, als gelange man auch bei anderen Tätigkei-
ten zu einer ähnlichen Diagnose. Warum ist es, zumindest für einige,
angenehm, zu wandern? Wandern hat offenkundig eine körperliche
Seite. Die Bewegung bringt den Kreislauf auf Touren, und das be-
wirkt ein angenehmes Körpergefühl und ein Wohlbefinden. Dane-
ben können kontrastive Elemente eine Rolle spielen. Man macht
sich frei vom Trubel und Lärm der Stadt, frei von seinen Sorgen und
Bedrängnissen und empfindet das als angenehm. Genauso können
satisfaktive Elemente wichtig sein. Man will aktiv sein, man will in
Ruhe über etwas nachdenken, man will ungestört ein Gespräch füh-
ren. Das Wandern ist in diesen Fällen in ein Wollen eingebettet, das
es angenehm macht. Eine weitere Möglichkeit ist, dass das Wandern
mit glücklichen Assoziationen verbunden ist. Man hat das Wandern
erst richtig aufgenommen mit einer Frau, die man liebte, und jede
Wanderung ist eine Erinnerung an diese große Liebe. Oder man ging
als Kind mit den Eltern wandern, und an den Wandertagen standen
die Kinder besonders im Mittelpunkt und fanden Aufmerksamkeit
und Zuwendung, wie es ansonsten in der Geschäftigkeit des Alltags
nur selten der Fall war.
Warum ist, um ein weiteres Beispiel anzuführen, das Tanzen für
einige angenehm? Auch in diesem Fall steht die körperliche Seite
im Vordergrund, die Bewegung ist sinnlich angenehm. Außerdem
spielt ein sexueller Aspekt hinein, der das Tanzen attraktiv macht.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 135

Ferner ist das Tanzen eine Tätigkeit, die man lernen muss. Wenn das
Tanzen einigermaßen gelingt oder sogar virtuos gelingt, ist das etwas,
was man, während man es lernte, angestrebt hat. Man realisiert also,
was man wollte, und genießt jetzt die glatt laufende, gelingende Be-
wegung und das Übereinkommen der eigenen Fähigkeiten mit den
Anforderungen, die die Tätigkeit stellt. Genau wie ein Chirurg, der
das besonders komplizierte, fordernde Operieren genießt, wenn es
so läuft, wie er sich das vorstellt. Diese Tätigkeiten sind unter die-
sem Aspekt satisfaktiv und damit wiederum wollensrelativ ange-
nehm. Beim Tanzen können auch kontrastive Elemente hinzukom-
men. Man ist ganz durch diese Tätigkeit gefangen und alles andere ist
vergessen. Eine wichtige Rolle können auch frühes Lob und früher
Tadel spielen. Man hat schon als Kind Tanzunterricht gehabt, und
die Eltern waren sehr darauf aus, das zu fördern. Jeder Erfolg und
jedes Extra-Engagement wurden mit Lob und Belohnung bedacht.
Das Tanzen ist von daher dauerhaft zu etwas geworden, was einen
anzieht und was einem Freude macht. Wenn es deshalb so wirkt, als
sei es wollensunabhängig angenehm, dann nur, weil diese Vorge-
schichte ausgeblendet bleibt. Tatsächlich hat man sich so sehr für das
Tanzen engagiert, weil es gelobt wurde und die Eltern es so wollten.
Die Freude am Tanzen ist unter diesem Aspekt etwas Abgeleitetes.
Und der ursprüngliche Motivator, der Anfang der Bewegung, ist der
Wunsch nach Anerkennung durch die Eltern. Auf dieses Wollen ist
das Angenehmsein auf versteckte Weise bezogen.
Diese Beispiele zeigen erneut, wie viele Aspekte in einem kon-
kreten Fall zusammenkommen können. Spricht angesichts all dieser
Faktoren noch etwas für die These, diese Tätigkeiten seien – auch –
wollensunabhängig mental angenehm? Wenn man das sinnliche
Angenehmsein und die verschiedenen Spielarten des wollensabhän-
gigen Angenehmseins wegnimmt, bleibt dann noch ein Rest, das
gesuchte wollensunabhängige mentale Angenehmsein? Es ist wie-
derum nicht klar, wie man das entscheiden will. Man braucht ein
solches Element nicht, um die Attraktivität des Wanderns oder des
Tanzens zu erklären. Und wenn man dennoch annehmen wollte,
dass es diesen Rest gibt, wie ist dann zu erklären, dass uns diese
Tätig­keiten in dieser speziellen Weise angenehm sind? Einen Zusam-
menhang mit den biologischen Zwecken wird man kaum aufdecken
können. Außerdem ist es keineswegs allen Menschen angenehm, zu
wandern oder zu tanzen. Auch diese Beispiele bieten also offenbar
keine klaren Kandidaten für den gesuchten Typus des Angenehmen.

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136 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Ich komme zu einem zweiten Vorschlag für etwas mental Ange-


nehmes, das, so die Idee, wollensunabhängig ist. Einen wichtigen
Typus des Angenehmen bilden, so einige Autoren, die »social pleas­
ures«, also Formen des Angenehmen, die sich aus dem Zusammen-
leben mit anderen ergeben. K. C. Berridge und M. L. Kringelbach,
zwei Neurowissenschaftler, halten es für wahrscheinlich, dass diese
»social pleasures« zu den, wie sie sagen, »fundamental pleasures« ge-
hören.11 Ihre Bemerkungen fallen jedoch äußerst knapp aus, und die
Gruppe der »social pleasures« ist offenbar sehr weit gefasst; jeden-
falls zählen die Autoren auch »sensory pleasures«, also sinnlich An-
genehmes dazu. Immerhin wird deutlich, dass sie einen Zusammen-
hang mit den biologischen Zwecken sehen. Soziale Interaktionen
mit Mitgliedern der eigenen Spezies seien bei allen sozial lebenden
Tieren einschließlich der Menschen für die Verbreitung der Gene
(»the propagation of genes«) wichtig.12 Die vielleicht wichtigste »so-
ziale Lust« sei die, die aus Lob und Anerkennung durch andere
entsteht. Berridge und Kringelbach sprechen von »social reward«.
Wenn es so ist, dass den Menschen das Streben nach Anerkennung
eingerammt ist und dass sie sich ständig darum sorgen, wie andere
über sie denken, ist dieses Angenehmsein allerdings wollensrelativ.
Man erreicht, was man will, und das ist satisfaktiv angenehm. Wir
finden also wiederum nicht das, was wir suchen.
Wenn man in dieser Weise argumentiert, liegt ein Einwand nahe,
der einen grundsätzlichen Punkt betrifft. Wenn Berridge und Krin-
gelbach sagen, die »social pleasures« gehörten zu den »fundamental
pleasures«, dann meinen sie damit, in der hier verwendeten Termi-
nologie, dass sie wollensunabhängig sind. Die Menschen sind ge-
netisch so programmiert, dass ihnen soziale Interaktionen, unab-
hängig von einem vorgängigen Wollen, angenehm sind. Und weil
sie angenehm sind, wollen die Menschen sie. Die Auffassung, die
dem gerade als die bessere entgegengesetzt wurde, besagt hingegen,
dass die Menschen genetisch so programmiert sind, dass sie Aner-
kennung und Zuspruch wollen. Dies zu erreichen, ist dann satis-
faktiv, also wollensabhängig angenehm. Es liegt auf der Hand, wo
die Differenz zwischen diesen Konzeptionen liegt. Sie betrifft die

11 Vgl. K. C. Berridge / M. L. Kringelbach: Affective Neuroscience of Pleas­


ure: Reward in Humans and Animals. Psychopharmacology 199 (2008) 457–
480, 459; ähnlich Frijda, On the Nature and Function of Pleasure, 103.
12 Ebd.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 137

Priorität: Im einen Fall hat das Angenehmsein die Priorität, und


das Wollen folgt, im anderen Fall hat das Wollen die Priorität, und
das Angenehme folgt. Der Ort der genetischen Programmierung
liegt an verschiedenen Stellen. Für die Ausrichtung des Wollens ist
das allerdings einerlei. Das Wollen geht nach der einen wie nach der
anderen ­Konzeption auf die Anerkennung. Wofür also die Kontro-
verse? Warum so tun, als müsse man die eine Auffassung der ande-
ren entgegensetzen?
Wenn man diese Überlegung, so der Einwand weiter, beherzi-
gen würde, könnte man auch die Auffassung von den zwei Stäm-
men des Wollens, nach der ein Teil des Wollens fest auf bestimmte
Gegenstände fixiert ist – das eingerammte oder nicht-hedonische
Wollen – und der andere Teil dem Angenehmen folgt, aufgeben und
käme stattdessen zu der Auffassung, dass das Wollen insgesamt auf
das Angenehme geht. Diese Revision brächte in der Frage, was die
Inhalte des Wollens sind, möglicherweise keine Veränderung, aber
die Theorie würde einfacher und eleganter.
So weit der Einwand. Er bringt die Frage der Priorität in einem
Teilbereich des Wollens zur Sprache: Was geht voraus, das Wollen
dem Angenehmen oder das Angenehme dem Wollen? Gleichzeitig
suggeriert er, es sei gleichgültig, wie man das sieht. Ist es das? Und
gibt es nicht doch einen Weg, zwischen den beiden Alternativen
zu entscheiden? Es scheint eine Frage der Phänomenologie zu sein:
Welche Beschreibung trifft die Wirklichkeit besser? Es ist angenehm,
zu sehen, dass es den eigenen Kindern gut geht. Streben wir deshalb:
weil wir diese Erfahrung gemacht haben, nach ihrem Wohl? Oder
wollen wir ihr Wohlergehen, weil es zu unserer Natur gehört, und
freuen uns deshalb, wenn es ihnen gut geht? In diesem Fall ist es,
meine ich, nicht schwer, zu entscheiden, welche Beschreibung die
Sache besser trifft. Die zweite Beschreibung trifft das Phänomen, die
erste wirkt merkwürdig. Das Wohl der eigenen Kinder zu wollen,
ist den Menschen, wie Hume gesagt hat, von Natur aus eingepflanzt.
Und es ist offensichtlich, dass es bei nicht-menschlichen Lebewesen
ein Äquivalent dieses Wollens gibt.
Genauso scheint es bei dem anderen basalen Wollen, dem Wei-
terleben-Wollen, zu sein. Auch dieses Wollen ist Teil unserer Natur.
Wir haben dieses Wollen nicht, weil wir die Erfahrung gemacht ha-
ben, dass es angenehm ist, weiterzuleben. Man spricht häufig auch
vom Überlebenstrieb. Mit dem Wort »Trieb« wird zum Ausdruck
gebracht, dass dieser Motivator nicht auf Erfahrungen oder auf ir-

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138 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

gendeine Form des Lernens zurückgeht. Beim Streben nach An-


erkennung ist die Sachlage weniger eindeutig. Streben wir danach,
weil, anerkannt zu werden, angenehm ist, oder streben wir unab-
hängig davon nach Anerkennung, weshalb es angenehm ist, sie zu
bekommen? Auch in diesem Fall scheint mir die erste Auffassung
richtig zu sein. Dass die Menschen auf Anerkennung aus sind, ist
etwas für sie zu Elementares, als dass es von der Erfahrung abhinge,
die sie mit Zuspruch und Ablehnung durch andere machen. Auch
in diesem Fall gibt es Vorformen dieses Wollens bei anderen sozial
lebenden Wesen. Und es gibt zweifellos, wie auch in den ande-
ren beiden Beispielen, einen Zusammenhang mit den biologischen
Zwecken.
Die Vereinfachung der Theorie, die der Einwand offeriert, wirkt
attraktiv, aber der Blick auf die Phänomene spricht, so meine ich,
für eine andere Sicht der Dinge. Es gibt dieses eingerammte Wollen,
und wenn es so ist, ist das ihm nachfolgende Angenehmsein wollens­
abhängig. Ich nehme also weiter an, dass es richtig ist, zwei Stämme
des Wollens zu unterscheiden.
Ich komme jetzt zu den »social pleasures« und der Art ihres An-
genehmseins zurück. Es ist nicht nur das Gelobt- und Anerkannt-
Werden angenehm, es ist, basaler, überhaupt angenehm, Kontakt mit
anderen Menschen zu haben. Es sei daran erinnert, dass Frankfurt
der Meinung ist, wenigstens einen minimalen Kontakt mit anderen
haben zu wollen, sei eine volitionale Notwendigkeit. Es ist Teil un-
serer Natur, und wir können nicht anders, als dies zu wollen.13 Wenn
dies richtig ist, erweist sich das Angenehmsein sozialer Kommuni-
kation wiederum als wollensabhängig.
Es kommen vermutlich häufig starke kontrastive Elemente hinzu.
Einsamkeit und Langeweile haben ein bedrohliches Potential; man
spürt, dass da Kräfte schlummern, die das eigene Leben nach unten
ziehen und es unerträglich machen können. Das Zusammensein mit
anderen, die Bereicherung und die Inspirationen, die daraus entste-
hen, sind ein wirkungsvolles Gegenmittel. Das Angenehmsein so-
zialer Kommunikation ist unter diesem Aspekt wollensabhängig, es
kommt aus dem Kontrast zu dem, was man fürchtet und verhindern
will. Eng mit diesen kontrastiven Elementen können instrumentelle
Motive verbunden sein. Die Menschen wollen Kontakt zu anderen

13 Vgl. Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 38; dt. 56; ders., The Reasons
of Love, 45; dt. 49 f.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 139

Menschen, weil sie wissen, dass, wenn sie isoliert sind, ihre geistige
Vitalität, ihre Fähigkeit, sich für andere und anderes zu öffnen, Scha-
den leidet. Das wollen sie nicht. Auch deshalb ist es angenehm, mit
anderen zusammen zu sein.
Aus dem Gesagten ergibt sich, scheint mir, dass auch die »social
pleasures« keine überzeugenden Kandidaten für etwas mental und
wollensunabhängig Angenehmes sind. Auch sie sind eingebettet in
vorgängige Wünsche und von diesen abhängig.
Ein dritter Vorschlag besagt, das ästhetische Angenehmsein sei
wollensunabhängig, es sei eine autochthone Form des Angenehmen.
Diese These ist sicherlich am schwersten zu beurteilen. Die Philo-
sophen lassen uns in dieser Sache, soweit ich sehe, genauso im Stich
wie die Wissenschaftler. Sie bieten kaum mehr als einige ambitiöse
Intuitionen. Nehmen wir, um Konkretion zu gewinnen, den Fall,
dass uns das Hören von Musik gefällt. Menschen ist es angenehm,
Musik zu hören, und zwar offenbar als einzigen Lebewesen. Selbst
Schimpansen kennen dieses Angenehmsein nicht.14 Finden wir hier
das gesuchte Angenehmsein?
Zuallererst hat, dass einem Musik gefällt, natürlich eine sinnli-
che Seite. Etwas zu hören, ist angenehm. Die Töne und Tonfolgen
wirken auf den Körper und das Hörsystem ein, und bestimmte to-
nale Beziehungen und Tonmuster sind den Menschen unabhängig
von jedem Wollen angenehm. Sie finden, was sie hören, interesse-
los schön. Wobei allerdings unklar bleibt, wodurch sich der Unter-
schied zu den anderen Lebewesen erklärt. Man genießt die Musik
vermutlich intensiver, wenn man von klein auf musikalisch trainiert
wurde. Man hat gelernt, was es überhaupt zu hören gibt, und hört
mehr und anders. Durch die höhere Sensibilität wird das sinnliche
Erlebnis gesteigert. Angesichts dieses sinnlichen Geschehens ist es
keineswegs klar, was es heißen könnte, Musik zu hören, sei daneben
auch mental angenehm.
Dann gibt es eine ganze Reihe von Aspekten, unter denen das
Hören von Musik wollensabhängig angenehm ist. Ein erster Aspekt
hängt mit dem gerade Gesagten zusammen. Wenn man etwas über
die Musik weiß, wenn man etwas von ihr versteht, kommen auch sa-
tisfaktive Elemente ins Spiel. Man hat sich mit Musik beschäftigt, sie

14 So P. Vuust / M. L. Kringelbach: The Pleasure of Music, in: M. L. K. / K. C.


Berridge (eds.): Pleasures of the Brain (Oxford 2010) 255–269, 255.

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140 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

studiert, und es ist angenehm, zu erleben, wie das, was man sich an-
geeignet hat, in das Aufnehmen der Musik einfließt und es bereichert.
Auch kontrastive Elemente können eine Rolle spielen. Sie spie-
len häufig, meine ich, sogar eine große Rolle. Zunächst kann Musik
angenehm sein, weil sie entspannt, beruhigt und zerstreut. Sie kann
auch angenehm sein, weil sie aus der Stumpfheit des Alltags heraus-
hebt. Sie ist etwas Besonderes, Außergewöhnliches, verlangt Kön-
nen und Meisterschaft. Oder man verliert sich in der Musik, man
ist bei nichts anderem, die Welt versinkt, nichts beschwert einen,
man genießt dieses Entrückt- und Verzaubertsein, diesen Zustand
der Sorglosigkeit, der Untätigkeit und der Wollenslosigkeit. Man
findet eine Insel der Ruhe im Getöse des Lebens, des Tätigseins
und Ausseins auf etwas. Verschiedene Weisheitslehren haben diesen
Zustand der Untätigkeit und der Wollenslosigkeit in hellen Farben
ausgemalt und als besonders attraktiv gepriesen. Die Musik vermag
uns in diesen Zustand zu führen. Ihr Angenehmsein kommt unter
diesem Aspekt aus dem Kontrast, aus etwas, an dem wir leiden oder
zumindest leiden können, dem dauernden Tätigsein und dem nicht
abreißenden Strom von Gedanken, Überlegungen, Plänen, Sorgen,
Hoffnungen und Befürchtungen, die uns in Atem halten.
Häufig wird das Angenehmsein der Musik wesentlich dadurch
erklärt, dass sie in uns Gefühle und Stimmungen erzeugt15, so zum
Beispiel Gefühle der Lebenslust, Heiterkeit, Beschwingtheit, Ge-
fühle der Erhabenheit, der Kraft und der Macht. Diese Gefühle sind
angenehm, und sie gehen mit einem Wohlbefinden einher. Sie sind
deshalb etwas, was wir wollen. Die Musik versetzt uns zweifellos in
Zustände, die uns gefallen und die wir wollen. Dieses Auslösen der
Gefühle durch die Musik ist etwas sehr Merkwürdiges. Denn nor-
malerweise reagieren wir mit Gefühlen und Stimmungen auf etwas,
was in der Welt oder in unserem Leben geschieht. Man ist freudig
gestimmt, wenn etwas gelungen ist, was man sich sehr gewünscht
hat, und in diesem Licht alles leicht und einfach erscheint. Die Musik
evoziert Gefühle, wie es scheint, auf eine ganz andere Weise, gewis-
sermaßen ohne Blick auf die Welt, vielmehr direkt durch den Klang
der Töne. Als würde eine Gehirnregion durch eine Sonde stimuliert,
mit dem Ergebnis, dass in einem – weltlos – ein angenehmes Gefühl
aufsteigt. Diese Macht der Musik eröffnet, darauf haben viele Auto­

15 So etwa K. Duncker: On Pleasure, Emotion, and Striving. Philosophy and


Phenomenological Research 1 (1940/41) 391–430, 405 f.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 141

ren, von Platon an, hingewiesen, die Möglichkeit, sie manipulativ


oder selbstmanipulativ zu gebrauchen und zu instrumentalisieren.
Musik erzeugt nicht nur Gefühle und Stimmungen, sie bringt
auch Gefühle zum Ausdruck, die dumpfe, in keine Worte zu fas-
sende Trauer, die Leiden der Liebenden, den Wahn der Eifersüch-
tigen. Musik sei, so eine alte Vorstellung, die Sprache der Affekte
und Empfindungen. Die, die Musik hören, erfreuen sich an diesen
Expressionen, sie werden davon erfasst und berührt, weil sie spü-
ren, dass in ihnen basale Gegebenheiten des menschlichen Lebens
auf eine ungemein intensive Weise zum Ausdruck kommen. Das
gefällt ihnen, vielleicht weil darin etwas hervortritt, was sie selbst
sehr gut kennen, im Funktionieren des Alltags aber beiseite gedrückt
wird und ohnehin kaum in Worten zu artikulieren ist, vielleicht weil
sie darin etwas sehen, was, obzwar schwer fassbar, wesentlich zum
menschlichen Leben gehört, dessen man gewahr sein muss, wenn
man verstehen will, wie die Menschen sind und leben. Wie immer
man die hier hineinspielenden Interessen und Wünsche bestimmen
mag, ich gehe davon aus, dass das Angenehmsein der Musik un-
ter diesem Aspekt wollensabhängig ist. Ihm gehen Wünsche, wahr-
scheinlich wenig artikulierte und eher diffuse Wünsche, voraus; und
sie sind der Boden dafür, dass den Menschen die Musik gefällt.
Ich habe jetzt verschiedene Aspekte angeführt, unter denen die
Musik angenehm ist. In erster Linie ist sie sinnlich angenehm, wol-
lensunabhängig. Dann ist sie auf verschiedene Weisen wollensabhän-
gig angenehm. Es muss offen bleiben, ob das Gefallen, das die Men-
schen an der Musik finden, auf diese Weise vollständig zu erklären
ist, – oder ob man doch eine wie immer beschaffene wollensunab-
hängige Art des mentalen Angenehmseins annehmen muss. Offen
bleiben muss auch, ob sich die Überlegungen zur Musik auf andere
Bereiche der ästhetischen Lust übertragen lassen. Trotz der offenen
Fragen möchte ich das Gesagte so resümieren, dass wir auch hier
keinen eindeutigen Kandidaten für etwas mental Angenehmes ge-
funden haben, das auch wollensunabhängig ist.
Ich will noch eine Überlegung anfügen. Es wurde mehrfach er-
wähnt, dass die Menschen eine Reihe von Aktivitäten im Kontrast
zur Langeweile angenehm finden. Das Vermeiden-Wollen der Lan-
geweile ist, so scheint es, ein starkes, wenn auch eher untergründi-
ges menschliches Bedürfnis. Die Menschen unternehmen sehr viel,
weil sie Angst vor diesem Zustand haben. Warum ist die Langeweile
unangenehm? Dass sie einem sinnlich unangenehm ist, wäre eine

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142 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

unplausible Annahme. Finden wir in ihr einen Kandidaten für das


wollensunabhängige mental Unangenehme? In einer schweren Form
der Langeweile ergreift einen mehr und mehr das Gefühl, dass es
im Leben nichts wirklich Wichtiges zu tun gibt, dass alles, was man
tut, letzten Endes nur ein Totschlagen der Zeit ist. Man rutscht in
einen Zustand hinein, in dem einem nichts mehr wichtig erscheint,
vielmehr alles gleichgültig und bedeutungslos. Es gibt, so das Gefühl,
nichts im Leben, was der Mühe wert wäre, nichts, was einen Einsatz
lohnte. So kommt es zu einer Lähmung aller Antriebe und jeglicher
Vitalität, zudem verliert man alle Freude an dem, was man tut. Das
Leben besteht indes darin, etwas wichtig zu finden und darauf aus
zu sein, dieses Wichtige zu erreichen. Wenn das wegbricht, wenn
das Interesse am Wohl der Kinder, das Streben nach Anerkennung
im Sog der Langeweile keine Kraft mehr entwickelt, gerät auch der
elementare Wunsch, weiterzuleben, in Gefahr. Und ich nehme an,
dass die Angst vor der Langeweile aus einem Gespür für diese Ge-
fahr kommt, man spürt dunkel, dass sich in der Langeweile eine
lebensbedrohliche, die tragenden Säulen des Lebens zerstörende
Macht ausbreitet.16 Aus diesem Grund liegt den Menschen so sehr
daran, dass ihnen im Leben etwas wichtig ist. Jede Arbeit und jedes
Engagement sind deshalb eine Form der Lebensbewältigung und als
solche für die, die sich der latenten Gefahr der Langeweile bewusst
sind, immer auch satisfaktiv angenehm.
Wenn diese Beschreibung richtig ist, ist das Unangenehmsein der
Langeweile wollensabhängig. Sie ist uns unangenehm, weil sie etwas
bedroht, was wir elementar wollen, das Weiterleben. Es kann sein,
dass es Formen der Langeweile gibt, die etwas anders gelagert sind.
Die Menschen wollen nicht nur weiterleben, sie wollen gut leben.
Und es kann sein, dass die Langeweile durch das Gefühl bestimmt
wird, das, was man sich als gutes Leben vorstellt, sei nicht zu er-
reichen. Weil das Leben dafür zu kurz sei oder weil es zu viele ge-
genläufige Faktoren gebe. So dass alles Versuchen von vorneherein
vergeblich sei und das Leben eigentlich darin bestehe, jenseits der
Existenzsicherung die Last der leeren Zeit zu ertragen. Auch dieses
Gefühl, das Leben, wie man es sich vorstellt, sei unerreichbar, kann

16 Diesen Zusammenhang von Angst vor der Langeweile und dem Inter-
esse an der Selbsterhaltung hat bereits H. Frankfurt zur Sprache gebracht.
Vgl. The Reasons of Love, 53 ff.; dt. 59 f.; ebenso I. Kant: Anthropologie in
pragmatischer Absicht (1789), AA VII, 233.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 143

den Wunsch, weiterzuleben, angreifen. In jedem Fall ist die Lange-


weile unangenehm, weil sie etwas bedroht, was die Menschen ele-
mentar wollen, sei es ein gutes Leben oder das Leben überhaupt. Das
Unangenehmsein ist also wollensabhängig. Ihm geht ein elementares
Interesse voraus.
Blicken wir zurück. Am Anfang dieses Abschnitts stand die Frage,
ob es neben dem sinnlich Angenehmen, das wollensunabhängig ist,
noch andere: mentale Arten des Angenehmen gibt, die ebenfalls wol-
lensunabhängig sind. Sind, anders gesagt, die Menschen genetisch so
programmiert, dass ihnen auch unabhängig von Sinneserfahrungen
und inneren Körperzuständen bestimmte Zustände und Tätigkei-
ten direkt, sprich: wollensunabhängig angenehm sind? Es wurden
verschiedene Beispiele untersucht. Auf einen klaren und eindeuti-
gen Fall des gesuchten Angenehmseins sind wir nicht gestoßen. Die
Idee, dass es auch im Bereich des mental Angenehmen Dinge gibt,
die wollensunabhängig angenehm sind, hat keine eindeutige Unter-
stützung gefunden. Bei allen Beispielen aber hat sich gezeigt, dass
die Erklärung des Angenehmseins einerseits durch sinnliche und
andererseits durch wollensabhängige Elemente sehr weit reicht. In
allen Fällen reichten diese Elemente aus, um das Angenehmsein der
jeweiligen Tätigkeit oder des jeweiligen Zustandes zu erklären. Das
mental Angenehme gibt es, wie gesagt, ohne Zweifel, aber, wie es
scheint, nur in der Form des satisfaktiv Angenehmen, also nur wol-
lensabhängig. Genauso natürlich das mental Unangenehme.

4. Die originären Motivatoren und die Ausfächerung des


Wollens

Je deutlicher die Bedeutung und das Ausmaß des wollensabhängi-


gen Angenehmen hervortritt, umso dringlicher wird die Frage, wo-
rauf das jeweils vorgängige Wollen geht und was seine Ausrichtung
bestimmt. Das Wollen ist entweder (in seinem nicht-hedonischen
Teil) eingerammt und auf bestimmte Inhalte fixiert, oder es geht
(in seinem hedonischen Teil) auf die primären Attraktoren, eben
auf das wollensunabhängige Angenehme. Als primäre Attraktoren
haben sich bis hierhin die verschiedenen Varianten des sinnlich An-
genehmen erwiesen. Dazu kommt das Angenehm- bzw. Unange-
nehmsein der primitiven Emotionen. Die Menschen reagieren auf
bestimmte Situationen unmittelbar, ohne dass ein Wollen voraus-

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144 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

geht, mit posi­tiven oder negativen Emotionen, die angenehm oder


unangenehm sind.
Wenn man die so weit entwickelte Konzeption auf sich wirken
lässt, kommen leicht Zweifel an ihrer Richtigkeit auf. Ist der hedo-
nisch bestimmte Teil des menschlichen Wollens wirklich, wenn man
von den primitiven Emotionen einmal absieht, im Ganzen auf das
sinnlich Angenehme gerichtet? Sind die verschiedenen Spiel­arten
des sinnlich Angenehmen wirklich die einzigen originären Attrakto-
ren des hedonischen Wollens? Und liegt, auch wenn man das einge-
rammte Wollen und seine Gegenstände mitberücksichtigt, in der so
weit entfalteten Darstellung der Struktur des menschlichen Wollens
nicht eine Reduktion, eine Depotenzierung des Menschen und ein
Missverständnis seiner Existenzform? Fehlt, mit anderen Worten,
nicht etwas Wesentliches?
Um in dieser Frage zu einem Urteil zu kommen, muss man sich
verschiedene Seiten des menschlichen Wollens vergegenwärtigen.
Ich werde sieben wesentliche Punkte anführen. Einige wurden be-
reits angesprochen. Die Liste ließe sich ohne große Mühe verlängern.
Als das entscheidende, alles verändernde Faktum wird sich wiede-
rum erweisen, dass die Menschen über ein unbegrenztes Zukunfts-
bewusstsein und, damit einhergehend, über eine immense Imagina-
tionskraft verfügen.
(i) Zuerst ist es nötig, sich wenigstens annäherungsweise vor
­Augen zu bringen, welch enormen Einfluss das sinnlich Angenehme
und Unangenehme auf die Ausrichtung des menschlichen Wollens
und damit des menschlichen Verhaltens hat. Was tun die Menschen
nicht alles, um gesund zu bleiben oder, wenn sie krank sind, wieder
gesund zu werden! Eine Gesellschaft wie die unsrige hat ein äu-
ßerst ausdifferenziertes Gesundheitssystem geschaffen, in dem hun-
derttausende Menschen arbeiten und das große Mengen an Energie
und Engagement bindet. Weltweit forschen Mediziner mit dem Ziel
der Krankheitsbekämpfung, mit großem Aufwand werden Medika-
mente entwickelt. Die Mediziner, Chemiker und Pharmakologen,
die in diesem Bereich tätig sind, mussten ausgebildet werden. Die
dazu nötigen Universitäten müssen gegründet, aufgebaut, ausgestat-
tet und finanziert werden. Dies alles (und sehr viel mehr), weil die
Menschen nicht krank sein wollen, weil, krank zu sein, unangenehm
und mit Schmerzen verbunden ist und weil die Menschen weiter-
leben wollen. Auch die großen gesellschaftlichen Institutionen der
Moral und des Rechts haben hierin wiederum einen ihrer Gründe.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 145

Man versucht sich davor zu schützen, von anderen verletzt zu wer-


den, indem man entsprechende Verbote etabliert. Was tun die Men-
schen nicht alles, um sich vor Kälte und Nässe zu schützen! Wie
viele Tage im Jahr müssen sie arbeiten, um das, was dafür nötig ist,
finanzieren zu können? Was tun wir nicht alles, um im Sommer im
Süden und im Winter in den Alpen die Sonne zu genießen! Wie
große Teile des Einkommens werden dafür aufgewandt? Und was
tun die Menschen nicht alles, um attraktiv zu sein und einen Sexual­
partner zu finden und Sex anzubahnen? Und welche unendlichen
Verwicklungen ergeben sich aus dieser Lust?
Wenn man nur etwas weiter ausmalen würde, was an Zwischen-
schritten erforderlich ist, um die verschiedenen Arten des sinnlich
Angenehmen zu erlangen und das sinnlich Unangenehme zu ver-
meiden, würde sich das Bild schnell weiter füllen und das Ausmaß
dessen, was wir in Verfolgung dieser Ziele tun, noch sehr viel ein-
drucksvoller hervortreten. Wichtiger als das weiter zu konkretisie-
ren, ist es, auf den grundsätzlichen Umstand hinzuweisen, dass die
Wirkung des sinnlich Angenehmen durch die menschliche Spezi-
fik eines unbegrenzten Zukunftsbewusstseins wesentlich gesteigert
wird. Die Menschen haben nicht nur heute Hunger, sie antizipieren
bereits den Hunger von morgen und übermorgen. Das hat weitrei-
chende Konsequenzen für ihren Charakter und ihr Verhalten. Und
sie haben nicht nur die Schmerzen von heute, sie antizipieren zu-
künftige Schmerzen oder deren Möglichkeit. Und sie sind damit be-
schäftigt, was die heutigen und womöglich zukünftigen Schmerzen
für ihre Zukunft bedeuten, sie tasten ab, was von ihren Plänen und
Vorhaben durch sie gefährdet ist oder vielleicht sogar schon begra-
ben werden muss. Das Unangenehmsein des Schmerzes generiert
bei einem Wesen mit Zukunftsbewusstsein einen Kontext von Sorge,
Befürchtung und möglicherweise von Frustration und Traurigkeit, –
alles Gefühls- und Stimmungslagen, die ihrerseits unangenehm sind.
Auf diese Weise verändert und verlängert sich das Unangenehmsein
des Schmerzes.
(ii) Der Einfluss des sinnlich Angenehmen und Unangenehmen
verlängert sich auch deutlich infolge von Assoziationen und der da-
mit sich vollziehenden Übertragungen. Man kann einen Aprikosen­
nachtisch wollen, weil er gut schmecken wird. Man kann ihn aber
auch wollen, weil er an den Sommer und seine Annehmlichkeiten
erinnert. Man kann einen Cappuccino angenehm finden, weil man
sich, ihn trinkend, schon halb auf einer Terrasse an der italienischen

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146 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Riviera sitzen sieht. Ein Bild des Angenehmen wirkt in diesen Fäl-
len auf das zurück, was dieses Bild auslöst. Man kann das ehema-
lige Haus der Eltern nicht mehr betreten wollen, weil man dort als
Kind vor Jahrzehnten von seinem Vater geschlagen und geprügelt
wurde. Das Haus ist einem bleibend unerträglich. Man will nicht
einmal mehr in seine Nähe kommen. Fast alles, was uns begegnet,
ist assoziativ mit anderem und gerade auch mit Angenehmem und
Unangenehmem verknüpft, so dass es über die Fäden der Asso-
ziation oft eine angenehme oder unangenehme Färbung gewinnt.
Dinge, die für sich genommen indifferent sind, können durch die
Assoziationen, die sie auslösen, attraktiv oder unattraktiv werden
und dadurch ein Wollen oder Nicht-Wollen auf sich ziehen. Und
Dinge, die für sich genommen angenehm sind, können durch den
assoziativen Transfer auch unangenehm werden, und das Unange-
nehmsein kann das Angenehmsein sogar überwiegen. Genauso um-
gekehrt. Die Menschen assoziieren auf Grund unterschiedlicher Er-
fahrungen und unterschiedlicher Erinnerungen Verschiedenes. Das
erklärt einen Teil der individuellen Unterschiede in der Ausrichtung
ihres Wollens.
(iii) Der Einfluss des sinnlich Angenehmen und Unangenehmen
vergrößert sich im Zusammenspiel mit anderen originären Motiva-
toren noch auf eine andere Weise. Auch diese Extension hängt mit
dem Zukunftsbewusstsein zusammen. Wenn den Menschen die Mo-
ral so wichtig ist, weil sie vor Verletzungen, vor Ausgrenzung und
Diskriminierung, vor Zurücksetzung und Benachteiligung schützt,
dies Letzte alles Dinge, die sie nicht wollen, weil sie auf Anerken-
nung und Dazu-Gehören aus sind, ergibt es sich von selbst, dass
sie von anderen Menschen wollen, dass sie sich moralisch verhalten,
und zwar nicht nur unter dem Druck der moralischen Norm, son-
dern aus einer verlässlichen charakterlichen Disposition heraus. Auf
diese Weise wird die Einstellung zur Moral ein wesentliches Krite-
rium dafür, was ein guter und was ein schlechter Mensch ist. Und
dieses Kriterium gilt dann nicht nur für die anderen, sondern auch
für einen selbst. Wenn man überlegt, wie man sein und leben will,
gewinnt die Einstellung zur Moral und die moralische Verlässlich-
keit auf diese Weise erhebliche Bedeutung. Der Wunsch, moralisch
zu sein, wird in dem Bild, das man von sich selbst und seinem Le-
ben hat und haben will, verankert, man identifiziert sich, wie man
sagt, mit diesem Wunsch, und dadurch gewinnt er ein ganz neues
Gewicht. Das führt unter anderem dazu, dass man, wenn man sich

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 147

unmoralisch verhält, Schwierigkeiten mit sich selbst bekommt, man


kommt mit sich selbst ins Unreine, – etwas, was einem unangenehm
ist und was man nicht will. Dadurch, dass die Menschen Wesen sind,
die nicht umhin können, zu überlegen, wie sie sein und leben wol-
len, verändert sich also das motivationale Gefüge, und es kommen
neue Motivatoren hinzu. Und dies nicht nur in dem geschilderten
Fall, sondern auch in anderen Fällen, in denen ein Wunsch, etwas zu
tun oder etwas zu sein, mit dem Bild des eigenen Selbst, eines guten
Menschen und eines guten Lebens verbunden wird. Die gesamte
Bewegung und ihre Entwicklung kommt indes aus den originären
Motivatoren, sie setzt nicht die Einführung alternativer originärer
Motivatoren voraus. Vielmehr generieren die bekannten ursprüng-
lichen Antriebskräfte aus sich heraus neue Motivationen, die ihrer-
seits eben nicht originär, sondern derivativ sind.
(iv) In zahllosen Biographien ist beschrieben worden, wie ein-
schneidend und dauerhaft frühe Zurückweisung, Ausgrenzung oder
Diskriminierung einen Menschen prägen können. Aus solchen ne-
gativen Schlüsselerlebnissen können kontrastiv äußerst starke, mög-
licherweise lebensbestimmende Wünsche entstehen. Als erstes na-
türlich der Wunsch, dass einem so etwas nicht wieder passiert, dann
vielleicht das Streben nach einer Machtposition, die einen schützt,
vielleicht der ausgeprägte Wunsch, dazuzugehören, vielleicht eine
übermäßige Gefallsucht, vielleicht der Wunsch, möglichst für sich
zu leben und in sozialen Kontakten verschlossen und zurückhal-
tend zu bleiben, um sich so vor Kränkungen und Enttäuschungen
zu schützen. Alle diese neuen Motivationen haben, so die Annahme,
ihren Ursprung kontrastiv in der frühen Erfahrung von Zurückset-
zung und Ausgrenzung. Auch sie sind also, trotz ihres Gewichts,
derivativ. Auch sie setzen nicht die Existenz alternativer originärer
Motivatoren voraus.
Weiterhin kann man, wenn man in der angesprochenen Weise ver-
letzt wurde, eine Welt imaginieren, in der so etwas nicht vorkommt
oder möglichst selten vorkommt. Man kann die negative Erfahrung
in ein persönliches und auch politisches Ideal umsetzen und sich für
seine Realisierung engagieren. Der Anfang wird darin liegen, selbst
eine Person sein zu wollen, die so etwas unter keinen Umständen
tut. Tatsächlich muss man, um diesen Wunsch und weiterreichende
Ideale zu entwickeln, die Verletzung gar nicht selbst erlitten haben,
es reicht aus, zu sehen, dass andere sie erleiden, und sich vorzustel-
len, was das für sie bedeuten muss.

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148 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Man denke auch an die Erfahrungen von Tod, Verletzung, Er-


niedrigung und Elend in Kriegen oder an die erschütternde Erfah-
rung, dass Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder ih-
res Herkommens bekämpft, ausgesondert und getötet werden. Diese
Erfahrungen treiben kontrastiv die höchsten und erhabensten Ideale
der Menschen, Gewaltlosigkeit, Brüderlichkeit, normative Gleich-
heit, die universelle Geltung vorstaatlicher Menschenrechte, hervor.
Alle diese Ziele sind, trotz ihres überragenden Gewichts, derivativ,
ihr Ursprung liegt in elementaren Formen des Unangenehmen oder,
wie man jetzt besser sagt, des Unerträglichen.
(v) Die Menschen imaginieren nicht nur eine Zukunft, sondern
mehrere mögliche Varianten der Zukunft. Und sie imaginieren, wie
bruchstückhaft und vorläufig auch immer, nicht nur ein zukünfti-
ges Leben, sondern mehrere mögliche Varianten ihres Lebens. Sie
kommen deshalb nicht umhin, zumindest vage und unausdrücklich
Standards für ein gutes Leben zu entwickeln. Dadurch geraten sie
in eine reflexive Distanz zu ihrem Leben, sie können gar nicht an-
ders, als es auf gut und schlecht hin zu beurteilen. Ein Leben, das
den Kriterien des Gutseins nicht entspricht, wird sich unangenehm
anfühlen, es wird sich ein Gefühl der Unzufriedenheit und Frus­tra­
tion einnisten. Während, wenn es gelingt, das gewollte Leben we-
nigstens im Großen und Ganzen zu realisieren, sich ein angeneh-
mes Gefühl der Zufriedenheit einstellen wird. Diese Gefühle bilden
offenkundig eine besondere Art des satisfaktiv Angenehmen und
Unangenehmen. Nur Wesen, die wie die Menschen eine Vorstellung
davon entwickeln, welche Form des Lebens sie anderen Möglich-
keiten vorziehen, kennen diese spezielle Art des Angenehmen und
Unangenehmen.
Wenn die Menschen mit ihrem Leben unzufrieden sind, können
sie, um aus dieser unglücklichen Situation herauszukommen, die
Kriterien des Gutseins bewusst oder unbewusst abmildern und die
hinter ihnen liegenden ambitiösen Wünsche fallenlassen oder zu-
rückschneiden. Falls das gelingt, können sie zu diesem Preis even-
tuell zu einem besseren Gleichgewicht finden. Die Besonderheit der
Menschen, Standards für ein gelungenes Leben auszubilden, bringt
aber noch eine ganz andere Möglichkeit mit sich. Man kann den
Wunsch, ein Leben zu führen, das den eigenen Vorstellungen und
Idealen entspricht, so mit Energie aufladen, dass, wenn es nicht ge-
lingt, das zu realisieren, das Leben als nicht mehr erträglich erscheint,
weil es verpfuscht ist, oder weil es sinnlos ist. Die Unerträglichkeit

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 149

kann als so groß empfunden werden, dass der Wunsch, sie zu be-
enden, sogar den Wunsch, weiterzuleben, überwiegt. Das mag sich
übertrieben anhören, gleichwohl ist es ein bekanntes Phänomen.
Man denke an den Kaufmann, der bankrott geht und das nicht er-
trägt. Wobei, was er nicht erträgt, genau genommen die unterstell-
ten stigmatisierenden Gedanken und Urteile der anderen sind. Oder
man denke an den, der im Affekt einen anderen Menschen getötet
hat und damit nicht leben kann.
Es unterscheidet die Menschen von allen anderen Lebewesen,
dass für sie etwas anderes wichtiger sein kann als weiterzuleben –
und natürlich auch als sich fortzupflanzen. Dies, obwohl die ori-
ginären Motivatoren, die ich aufgezählt habe, alle in deutlichem
Zusammenhang mit den biologischen Zwecken der Selbst- und Art­
erhaltung stehen. Es ist sehr wichtig, zu verstehen, was dieses ein-
zigartige Faktum erklärt. Es erklärt sich, so meine ich, daraus, dass
die Menschen ein kritisches, ein evaluatives Verhältnis zu ihrem
eigenen Leben haben und selbst Standards des besser und schlech-
ter, des Gelingens und Misslingens entwickeln. Und dies wiederum
gründet in ihrem Zukunftsbewusstsein. Nur weil sie in die Zukunft
ausgreifen, imaginieren sie verschiedene Möglichkeiten auch für ihr
Leben und kommen nicht umhin, sie zu vergleichen und nach besser
und schlechter zu beurteilen. Das führt unweigerlich dazu, dass sie
auch ihr Leben, wie es faktisch ist, in diesem evaluativen Licht se-
hen und beurteilen. Wenn die Diskrepanz zwischen dem gewollten
guten Leben und dem faktischen Leben zu groß wird oder als zu
groß empfunden wird, kann einem das Leben unerträglich werden,
und der Wunsch, das, was man nicht ertragen kann, zu beenden,
kann, wie gesagt, stärker werden als der elementare Wunsch, wei-
terzuleben. Nicht nur der Wunsch, Schmerzen nicht mehr ertragen
zu müssen, kann also den Wunsch, weiterzuleben, überwiegen. Im
jetzigen Kontext kommt es darauf an, zu sehen, dass man dieser
Besonderheit des menschlichen Wollens und Lebens gerecht wer-
den kann, ohne andere originäre Motivatoren einzuführen als die
bisher genannten.
(vi) Wir müssen im Rahmen der jetzigen Überlegungen noch
einmal auf die formalen Wünsche zurückkommen, die Wünsche
nach Freiheit und Handlungsmacht. Sie sind an dieser Stelle aus
zwei Gründen von Belang. Zunächst: Die Menschen haben diese –
extrin­sischen – Wünsche notwendigerweise, was immer sie intrin-
sisch wollen. Das heißt, dass es dafür, dass sie diese Wünsche haben,

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150 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

keiner alternativen originären Motivatoren bedarf. Dies ist ein wich-


tiger Befund angesichts der großen Bedeutung, die diese Wünsche
im Netz des menschlichen Wollens haben. Jeder weiß, welche her-
ausragende Rolle der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung
im persönlichen und politischen Leben der Menschen gespielt hat,
spielt und spielen wird. Und dann: Der Wunsch nach Freiheit kann
wiederum, sogar trotz seines bloß extrinsischen Charakters, so mit
Energie aufgeladen werden, dass einem ein Leben in Unfreiheit und
Unterdrückung, in dem andere über einen bestimmen, unerträglich
wird und man den Tod einem solchen geknebelten Leben vorzieht –
oder ihn im Kampf für die eigene Freiheit oder die seines Landes
riskiert.
(vii) Die menschliche Imaginationskraft ist, wie wir sahen, nicht
nur reproduktiv, sie ist höchst produktiv. Das hat weitreichende
Konsequenzen für die Ausrichtung des menschlichen Wollens. Die
Menschen können nicht nur eine angenehme Erfahrung in der Zu-
kunft wiederholen wollen, sie können auch etwas anstreben, mit
dem sie keine Erfahrung haben, das sie aber als angenehm imagi-
nieren. Wie das konkret abläuft, ohne die Bindung an die originä-
ren Motivatoren zu verlieren, kann man sich verdeutlichen, wenn
man genauer zwischen dem, was ein Merkmal hat, das uns ange-
nehm oder unangenehm ist, und dem Merkmal selbst unterschei-
det. Schokolade hat das Merkmal, süß zu schmecken, und der süße
Geschmack ist das, was uns angenehm ist. Nennen wir ein solches
Merkmal, das uns angenehm oder unangenehm ist, ein h-Merkmal.
Dann scheint es so zu sein, dass es nicht in unserer Hand liegt,
welche Merkmale h-Merkmale sind. So haben wir nicht festgelegt,
dass das Merkmal, süß zu schmecken, etwas für uns Angenehmes
ist. Aber, und das ist die andere Seite der Sache, wir können von
sehr vielen Dingen imaginieren, dass sie ein h-Merkmal haben wer-
den. Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Jemand wohnt in einem
Haus, an dem neuer­dings eine Schnellstraße vorbeiläuft. Der Lärm
ist kaum auszuhalten. Die Person ist deshalb darauf aus, die Situ-
ation zu verändern. Sie kann an einen Umzug in einen ruhigeren
Stadtteil denken. Oder, verschreckt wie sie ist, an ein Haus auf dem
Land, vielleicht in den Bergen, abgelegen und mit dem Auto kaum
zu erreichen, oder gar an eine Wohnung auf einer Insel, auf der es
keine A ­ utos gibt. Jedes dieser Szenarien kann sie sich im Einzelnen
ausmalen. Dabei haben die imaginierten Möglichkeiten eines ge-
meinsam: es ist ruhig. Das ist das h-Merkmal, das, was im Kontrast

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 151

zu dem Lärm im jetzigen Haus angenehm ist. In dieser Beispiel-


situation ist der Umstand, dass Lärm unangenehm ist (und dann,
kontrastiv, Ruhe angenehm), etwas Gegebenes; die Person kann die
Situation nicht auf die Weise verändern, dass sie dem Lärm dieses
Merkmal nimmt. Sie muss auf der Basis dieses Faktums agieren. Jen-
seits dessen sind ihrer Phantasie aber keine Grenzen gesetzt, und
tatsächlich entwickelt sie, so sei angenommen, den Wunsch, in ein
kleines Bergdorf zu ziehen, dies, obwohl sie vielleicht noch nie in
einem solchen Dorf gewesen ist.
Die Menschen verlängern und erweitern in der Imagination die
gemachten Erfahrungen, kombinieren sie und kommen so zu Vor-
stellungen darüber, was, jenseits des bereits Erlebten, angenehm und
unangenehm sein wird. Der »imaginative Überschuss«, das Maß, in
dem die Imagination die Erfahrungen auszieht und über sie hin-
ausgeht, kann gering, er kann aber auch äußerst groß sein. Wer ei-
nen kleinen Erfolg genießt, kann imaginieren, wie angenehm es sein
muss, noch größere Erfolge zu haben. Ein Hobby-Historiker, der
in seinem Heimatort Anerkennung für seine Arbeiten findet, kann
imaginieren, wie angenehm es sein muss, mit anspruchsvolleren
Unter­suchungen Anerkennung und Ansehen in einer größeren Öf-
fentlichkeit zu finden. Wer Geld besitzt und das als angenehm emp-
findet, kann imaginieren, wie angenehm es sein muss, noch sehr viel
mehr Geld zu haben. Das »muss« zeigt hier jeweils an, dass so etwas
wie eine Conclusio vorliegt. Aus dem, was man kennt und weiß, er-
schließt man, wie angenehm etwas sein wird, was man nicht kennt.
Der imaginative Überschuss spielt eine große Rolle in Über­legun­
gen darüber, wie das eigene Leben sein soll, in welche Richtung
man es führen will. Man kann nicht vorab wissen, wie es sich von
innen anfühlen wird, Richter, Entwicklungshelfer oder Rocksänger
zu sein. Man kann sich nur vorstellen, dass einem ein solches Leben
das geben wird, was man will, dass es angefüllt sein wird mit Tätig-
keiten, die man gerne tut, dass es einem erlaubt, sich selbst und seine
Ideale zu verwirklichen, dass es einem vielleicht Ansehen und An-
erkennung bringt. Man geht dabei von seinen eigenen Erfahrungen
aus, dem, was man über sich und die Welt weiß, muss aber über diese
Ausgangsbasis deutlich hinausgehen. Die produktive Kraft der Ima-
ginationsfähigkeit wird stark durch den Umstand gesteigert, dass die
Menschen sprechen und sich mit anderen austauschen können. Man
bekommt erzählt, dass etwas angenehm ist, und schon stellt man sich
selbst, ohne dass das durch eigene Erfahrungen gedeckt wäre, vor,

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152 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

dass es angenehm ist. Und dieses imaginierte Angenehme attrahiert


das Wollen. Der Stoff, aus dem wir das zukünftige Angenehme und
Unangenehme imaginieren, sind nicht nur unsere eigenen Erfahrun-
gen, sondern auch die der anderen.
Wie weit die Flügel der Imagination tragen können und wie sehr
das die Ausrichtung des Wollens zu bestimmen vermag, zeigt sich
besonders eindrucksvoll, wenn man noch einmal auf die religiösen
Überzeugungen der Menschen blickt. Die Menschen können sich
eine übernatürliche Wirklichkeit, eine Wirklichkeit jenseits dessen,
was ihnen in der Erfahrung zugänglich ist, vorstellen. Und sie tun
es in ihrer großen Mehrzahl. Häufig imaginieren sie eine übernatür-
liche Person, die die Welt geschaffen hat, die sich für die Menschen
interessiert, will, dass sie sich in bestimmter Weise verhalten, und
sie, falls sie davon abweichen, bestraft, in diesem Leben, vor allem
aber in jenem jenseitigen Leben, das sie, so die Vorstellung, nach
ihrem Tod leben werden.
Lebt man in einer solchen religiösen Vorstellungswelt, wird man
glauben, dass es äußerst unangenehm ist, Gott zu missfallen und sei-
nen Zorn auf sich zu ziehen, und dass es außerordentlich angenehm
ist, vielleicht das Angenehmste überhaupt, Gott zu gefallen, vor ihm
gut dazustehen und seine Anerkennung zu finden. Die Gottgefällig-
keit des eigenen Handelns und der eigenen Person wird so zu einem
dominanten Ziel. Es hängt dann alles davon ab, was Gott von den
Menschen will, was ihm gefällt und missfällt. Das, was ihm gefällt,
stellt man sich als angenehm vor, das, was ihm missfällt, als höchst
unangenehm. Über diese Brücke – Gott gefällt es, Gott gefällt es
nicht – kann praktisch alles zu etwas imaginiertem Angenehmen
und Unangenehmen werden, und damit praktisch alles zu einem
Gegenstand des Wollens.
Ein aufschlussreiches Beispiel bietet die Vorstellung, dass Gott
nicht von allen Menschen, aber von einer bestimmten Gruppe will,
dass ihre Mitglieder sexuell enthaltsam leben. Auch für die Mit-
glieder dieser Gruppe bleiben sexuelle Aktivitäten angenehm, da-
ran kann man nichts ändern. Aber dem steht jetzt etwas anderes
Angenehmes und wahrscheinlich sehr viel Angenehmeres entgegen,
nämlich Gott dadurch zu gefallen, dass man sich dieser Lust ent-
hält. Auch mischt sich in das Angenehme des Sexuellen etwas sehr
Unangenehmes, man tut etwas, was Gott missfällt und gegen sein
Gesetz ist. Auf diese Weise entstehen völlig neue, dazu genau ent-
gegengesetzte Attraktoren und Repulsoren. Die Situation verschärft

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 153

sich noch, weil das neue Angenehme mit etwas Angenehmem kon-
kurriert, der sexuellen Lust, das aufs Engste mit dem biologischen
Zweck der Fortpflanzung verbunden ist. Durch die religiösen Vor-
stellungen wird es also möglich, dass eine basale, sinnliche Lust in
ihr Gegenteil umgedeutet wird. Es zeigt sich damit, dass selbst das
sinnlich Angenehme, das unmittelbar auf die biologischen Zwecke
bezogen ist, durch die Imagination umgepolt werden kann.
Diese, wie Nietzsche gesagt hat, »Umwertung der Werte« ist
unter religiösen Vorzeichen überall möglich. Etwas Angenehmes
verkehrt sich in etwas höchst Unangenehmes und etwas Unange-
nehmes in etwas höchst Angenehmes. Ein Leben in Verzicht und
Enthaltsamkeit kann als angenehm imaginiert und deshalb gewollt
werden. Ein Leben in Armut kann als gottgefällig vorgestellt wer-
den, Reichtum als etwas, was Gott missfällt, so dass Reiche ihr Ver-
mögen weggeben, um vor Gott gut dazustehen. In einem Kreuz-
zug erscheint, andere zu töten und zu unterwerfen, als ein Werk
der Heiligkeit, das Gott gefällt und ihn mit Freude erfüllt. Selbst
Schmerzen zu haben und zu leiden, kann zu etwas (auch) Angeneh-
mem werden, weil das Leiden, so eine christliche Vorstellung, eine
imitatio Christi darstellt. Oder das Unangenehme des Leidens wird
zumindest durch die Vorstellung gebrochen, dass es, weil Gott es
zulässt, letztlich einen guten, wenn auch unverstandenen Sinn haben
muss. Die göttliche ­Alchemie vermag es, aus etwas, was niemand
will, Gold zu machen und das, was alle wollen, in wertloses Zeug
zu verwandeln.
Offenkundig muss es nicht immer gleich zu solchen »Umwer-
tungen« kommen. Es kann auch sein, dass etwas, was uns bereits
diesseits religiöser Vorstellungen gefällt, durch solche Vorstellungen
auf eine zusätzliche Weise angenehm wird. So hat man zum Beispiel
Musik immer wieder als Offenbarung und Gegenwart des Absolu-
ten verstanden. In der Musik finden wir, so eine Vorstellung, einen
Vorschein einer anderen, jenseitigen und ungeheuer attraktiven Welt.
Wer die Musik so versteht und sie in dieser Deutung hört, dem ist
sie auf ganz neue Weise angenehm.
Wenn man sich bewusst gemacht hat, wie durch religiöse Vorstel-
lungen neue und zum Teil genau entgegengesetzte Attraktoren und
Repulsoren entstehen, kann man fragen, ob auf diese Weise auch
neuartige originäre Antriebskräfte eingeführt werden oder ob das
Wasser, das aus den Quellen der bekannten originären Motivatoren
kommt, durch die Imagination nur in eine neue Richtung gelenkt

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154 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

wird. Es scheint, als treffe eher die zweite Annahme zu. Warum
ist es den Menschen, die diesen religiösen Vorstellungen anhängen,
angenehm, vor Gott gut dazustehen, ihm zu gefallen und seine An-
erkennung zu finden? Weil die Menschen anerkannt werden wol-
len von den anderen und, wenn sie an Gott glauben, auch von Gott
und gerade von Gott. Denn sein Urteil stützt sich wie keines der
Menschen auf sicheres Wissen, sein Urteil ist wie kein anderes un-
voreingenommen und unparteiisch. Wenn man seine Anerkennung
findet, dann ist man wirklich gut. Das Angenehmsein des Vor-Gott-
gut-Dastehens ist satisfaktiv angenehm; in ihm erfüllt sich, was die
Menschen wollen: Anerkennung. Dieses eingerammte Wollen haben
sie aber unabhängig von allen Imaginationen religiöser oder anderer
Art. Es kommt also keine neue originäre Motivation hinzu.
Und was befürchten die Menschen, wenn sie Angst haben, von
Gott bestraft zu werden? Was ist das Unangenehme, das ihnen
droht? Und was das Angenehme, was ihnen im Jenseits verheißen
wird? Natürlich stößt man mit diesen Fragen in einen Nebel. Es
bleibt unklar, was einem konkret droht und worauf man konkret
hoffen kann. Die Wirkung dieser Vorstellungen ist unabhängig von
ihrer Konkretisierung. Es reicht, sich vorzustellen, dass eine Strafe
Gottes schlimm sein wird, worin auch immer sie bestehen wird, und
dass eine Belohnung etwas Wunderbares sein wird. Wenn doch et-
was gesagt wird, trifft man auf recht einfache Vorstellungen, die
mit den Formen des Angenehmen operieren, die wir kennen. So
gibt es die Vorstellung, für eine besonders entsagungsvolle gottge-
fällige Handlung, vielleicht für die Opferung des eigenen Lebens,
werde man mit einer stattlichen Zahl von Jungfrauen belohnt, also
mit sexuellem Vergnügen und unendlicher sexueller Erfüllung. Oder
man wird bestraft, indem man an einen Ort kommt, tief unter der
Erde, wo völlige Finsternis herrscht, wo Ströme kochenden Was-
sers fließen und es unerträglich heiß ist, wo man in Schlamm und
Kot existiert und wo es nur einen fauligen, übel riechenden Fraß zu
essen gibt.
All dies sind Formen des sinnlich Angenehmen und Unangeneh-
men, also die deutlichsten Exempel des wollensunabhängigen Ange-
nehmen. Auch an dieser Stelle scheinen also keine neuen originären
Motivatoren hinzuzukommen. Der italienische Renaissance-Philo-
soph Lorenzo Valla hat sich in seiner Schrift De voluptate sive de
vero bono ausführlich mit der Frage beschäftigt, welche Freuden auf
die Menschen im Jenseits warten. Er stellt sich ebenfalls eine Redu-

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 155

plikation des Angenehmen vor, das wir aus dem diesseitigen Leben
kennen, allerdings in der für das Jenseits typischen Steigerung.17 So
wird es wunderbare Dinge zu sehen geben, die süßesten Stimmen
und Klänge werden das Ohr erfreuen, die Körper werden einen
wunderbaren Wohlgeruch ausströmen, die Speisen und Getränke
werden unbeschreiblich angenehm sein, »eine beständige Süßigkeit
wird«, so Valla, »in unserem Munde haften bleiben«, von der Hitze
wird man in den kühlen Schatten wechseln, von der Kälte in die
Wärme.18 Das sind offensichtlich alles Varianten des Angenehmen,
die uns, wenn auch nicht in dieser Intensität, vertraut sind. Valla fügt
aber noch einiges Angenehme hinzu, das es in unserem Leben nicht
gibt: die Lust, wie die Vögel zu fliegen, die Lust, über Halme und
über Wasser zu gehen, die Lust, so schnell wie ein Tiger zu sein, die
Lust, niemals zu ermatten, Hitze und Frost zu ertragen und ande-
res dieser Art.19 Dieses Angenehme resultiert offenbar daraus, dass
man Begrenzungen, wie sie für das menschliche Leben typisch sind,
überwindet. Valla sagt nichts darüber, warum diese Tätigkeiten und
Leistungen angenehm sind. Er hält es wohl für evident, dass es so
ist. Dem liegt vermutlich die unausgesprochene Prämisse zugrunde,
dass wir uns an unseren Grenzen stoßen, dass wir sie nicht wollen,
dass wir leidvoll erfahren, dass wir diese Dinge nicht können. Wenn
es so ist, ist es kontrastiv angenehm, diese Grenzen zu überwinden.
Wenn man darunter leidet, zu ermatten, ist es kontrastiv angenehm,
immer weitermachen zu können. Das kontrastive Angenehme ist in
dieser Form offenkundig wollensabhängig, mithin kein originärer
Motivator.
Es scheint also, als bedürften die weitreichenden religiösen Vor-
stellungen, die jetzt beispielhaft angeführt wurden, keiner neuen ori-
ginären Motivatoren. Auch ohne dies ist es möglich, durch die Ima-
gination das Wollen auf völlig neue Gegenstände auszurichten. Die
Macht der Imagination auf die Ausrichtung des Wollens ist gewaltig.
Sie vermag sogar die Ausrichtung auf die biologischen Zwecke zu
unterlaufen, indem sie das ihnen entsprechende Verhalten als un­
angenehm imaginiert und das ihnen zuwiderlaufende als angenehm.

17 L. Valla: Von der Lust oder Vom wahren Guten / De voluptate sive de
vero bono, lat.-dt. Ausgabe, hg. u. übers. v. P. M. Schenkel, eingel. v. E. Kess-
ler (München 2004) III, XXIV, S. 344–359.
18 Ebd. III, XXV, 9–12, S. 350–353.
19 Ebd. III, XXVI, 13, S. 352–355.

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156 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Ich möchte noch drei kurze Bemerkungen über den Einfluss der
Imagination auf die Vorstellungen des Angenehmen und Unange-
nehmen nachtragen: Zunächst ist leicht zu sehen, dass die Menschen
auf Grund ihres Zukunftsbewusstseins und ihrer Fähigkeit, Ange-
nehmes produktiv zu imaginieren, eine Vielzahl von Dingen wol-
len. Sie wollen sehr viel, sehr viel mehr als sie realisieren können.
Das muss Auswirkungen auf die Art ihres Lebens haben. Und es ist
eine eigene Aufgabe, sich über diese Auswirkungen klarzuwerden.
Einige glauben, weil die Menschen so vieles wollen, seien sie dazu
verurteilt, Getriebene zu sein, sie könnten niemals einen Zustand der
Ruhe und Zufriedenheit erreichen, weil immer noch so viel Gewoll-
tes offen und unerreicht sei. Dem Sog des Immer-weiter sei nicht
zu entkommen. Die Imagination, so hat Bertrand Russell bemerkt,
ist »der Stachel«, der die Menschen in rastlose Aktivitäten treibt.20
Doch das kann nicht die ganze Wahrheit sein. Denn die Menschen
können, weil sie unter dem Getriebensein leiden, den Wunsch ent-
wickeln, sich davon frei zu machen. Sie setzen diesen – höherstu-
figen – Wunsch, der auf etwas kontrastiv Angenehmes geht, dem
anderen Wollen entgegen, und dann ist die Frage, wie viel Gewicht
er gewinnt und wie das Regime des Wollens ausfällt.
Dann, zweitens: Die Ausführungen zur Imagination des Ange-
nehmen und Unangenehmen stoßen einen erneut darauf, dass die
Imagination selbst der Steuerung und Lenkung bedarf. Man kann
viel und wenig imaginieren, man kann in diese Richtung imaginieren
oder in jene. Hier bestehen große Spielräume. Aber nicht alles, was
man da tut, ist tunlich und zuträglich. Wie bereits erwähnt, glaubte
Kant, man könne zu viel und das Falsche imaginieren, weshalb es
einer »Moderation« der Vorstellungskraft bedürfe. Kant nimmt da-
mit einen Gedanken auf, der vor allem in der stoischen Philosophie
zur Geltung gebracht wurde. Die richtige Lenkung der Imagina­
tions­kraft bildet, so lehrten die Stoiker, ein wichtiges Element eines
geglückten Lebens. Sie empfahlen deshalb »Exerzitien« der Einbil-
dungskraft. Man kann und soll die imaginative Praxis trainieren und
sie auf die richtige Weise ausüben.21 Angesichts religiöser Vorstellun-
gen drängt sich vor allem ein Aspekt auf: die Notwendigkeit e­ iner

20 B. Russell: Power (1938, London 1975) 7 f.; dt. Macht (Zürich 22010) 8.
21 Siehe hierzu bes. P. Hadot: La citadelle intérieure. Introduction aux Pen-
sées de Marc Aurèle (Paris 1997, zuerst 1992) 62 ff.; dt. Die innere Burg
(Frankfurt 1997) 78 ff.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 157

kognitiven Kontrolle. Spricht, so lautet dann eine entscheidende


Frage, etwas dafür, in der beschriebenen Art eine übernatürliche
Person zu imaginieren, wobei »imaginieren« in diesem Fall ja nicht
heißt, etwas als möglich vorzustellen, sondern es als etwas Wirkli-
ches, als etwas, was tatsächlich so ist, vorzustellen? Oder spricht
etwas dagegen? Es liegt auf der Hand, dass die Ergebnisse einer
solchen Prüfung weitgehende Konsequenzen für das menschliche
Wollen haben können. Für die, die zu dem Ergebnis kommen, dass
die religiösen Vorstellungen, wie sie beschrieben wurden, einer kog­
nitiven Kritik nicht standhalten, kann, sich gottgefällig zu verhalten,
kein Gegenstand des Wollens sein. Auch die religiös begründete
Umpolung des Angenehmen zum Unangenehmen und umgekehrt
ist für sie keine Möglichkeit. Die Bedeutung einer kognitiven Kon-
trolle steht also außer Frage.
Schließlich, drittens: Was die Menschen imaginieren und was
nicht, wird, das zeigt sich nicht nur, aber besonders eindrücklich
an religiösen Vorstellungen, von Lebensformen und Kulturen be-
einflusst. Religiöse Vorstellungen sind kulturelle Phänomene. Kul-
turelle Prägungen haben also Einfluss darauf, was die Menschen als
angenehm imaginieren und worauf sich ein Teil ihres Wollens richtet.
Auch dies ist, wie es scheint, etwas spezifisch Menschliches, das es
bei anderen Lebewesen nicht gibt.
Wenn man das menschliche Wollen im Licht der sieben jetzt zu-
sammengestellten Überlegungen betrachtet, tritt deutlich hervor,
wie es sich, ausgehend von den originären Motivatoren, in verschie-
denen Schritten und Strängen weit über diesen Ursprung hinaus
entfaltet und ausfächert. Der spezifisch menschliche Zukunftsbezug
und die ebenso spezifische Imaginationskraft sind die Treibsätze
dieser Dynamik. Aus ihr entsteht eine Vielfalt des Wollens, das auf
das Weiterleben, die Anerkennung durch andere und das sinnlich
Angenehme geht, sich aber auch auf weitreichende, unter Umstän-
den lebens­bestimmende Ideale wie Gleichheit, Brüderlichkeit und
Gewaltlosigkeit richten kann, wie auch, in einem bestimmten Kon-
text, auf ein Ziel wie die Gottgefälligkeit des eigenen Lebens. ­Dabei
bedarf diese Entwicklung, das zeigen die zurückliegenden Erörte-
rungen, nicht der Einführung neuer, zusätzlicher Motivatoren. Ich
kann offen lassen, ob es noch andere originäre Antriebskräfte als
die genannten gibt. Aber man braucht, so scheint es, einen solchen
zusätzlichen Input nicht, um die geschilderte Ausfächerung des
menschlichen Wollens erklären zu können.

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158 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Die angestellten Überlegungen zeigen auch, dass es auf verschie-


denen Wegen dazu kommt, dass den Menschen etwas wichtiger
sein kann als die biologischen Zwecke der Selbst- und Arterhal-
tung, dies – scheinbar paradox –, obwohl die originären Motivato-
ren alle mit den biologischen Zwecken zusammenhängen und sich
aus ihnen erklären.
Weiterhin zeigt sich, dass das menschliche Wollen einerseits gene-
tisch auf seine Ziele fixiert ist – was die originären Motivatoren sind,
ist festgelegt –, und dass es andererseits weit über diesen fixierten
Bereich hinausragt. Das eingerammte Wollen ist in seiner Ausrich-
tung genetisch festgelegt, ebenso ist genetisch festgeschrieben, dass
das hedonische Wollen auf das Angenehme geht, und es ist auch
festgelegt, was den Menschen wollensunabhängig angenehm und
unangenehm ist, was also die primitiven Attraktoren und Repulso-
ren sind. Aber dass die Menschen von anderen und von sich selbst
moralische Verlässlichkeit wollen, dass sie, sich so zu verhalten und
so disponiert zu sein, zum Teil ihres Selbstbildes und zu einem Kri-
terium eines guten Lebens machen, dass sie Freiheit, Gleichheit und
Gewaltlosigkeit wollen, ist nicht genetisch festgeschrieben, genauso
wenig wie dass sie gottgefällig leben und das ewige, jenseitige Heil
erlangen wollen. Diese – und andere – Wünsche entwickeln sich bei
einem Wesen, das ein Zukunftsbewusstsein und eine dazu passende
Imaginationskraft hat, innerhalb des genetisch fixierten Rahmens
und über ihn hinaus. Dass Menschen ihren Wunsch, anerkannt zu
werden, so umformen, dass er einschließt, auch und gerade von Gott
anerkannt zu werden, ist nicht festgelegt, erst die religiöse Vorstel-
lung gibt dem Wunsch diese zusätzliche Ausrichtung.
Es empfiehlt sich meines Erachtens nicht, den Umstand, dass die
Menschen ihr Wollen auch in einer Weise ausrichten können, die den
biologischen Zwecken zuwiderläuft, so zu beschreiben, als seien sie
dadurch der Natur enthoben und, wie Kant es formuliert hat, »aus
dem Mutterschoße der Natur« »entlassen«.22 Und als lebten sie in
zwei Welten, der Welt der Natur und in einer höheren, der Deter-
mination durch die Natur enthobenen zweiten Welt. Und als mache
es gerade ihre Einzigartigkeit aus, sich in dieser Weise aus der Natur
herauszudrehen. Die Idee der Überwindung der Natur ist falsch.
Die Natur hat unendlich viele Arten des Lebens hervorgebracht, und

22 Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, Akademie-Aus-


gabe VIII, 114.

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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 159

das menschliche Leben ist eine davon. Das Zukunftsbewusstsein,


das die Menschen besitzen, ist ein natürliches Phänomen, Teil ihrer
biologischen Ausstattung. Und die menschliche Imaginationskraft
ist ebenso ein biologisches Phänomen. Die Menschen schaffen dank
dieser Ausstattung kulturelle Phänomene, auch dies ist Teil ihrer
Biologie, und diese kulturellen Hervorbringungen wirken zurück
auf das, was sie wollen. Ohne Zweifel ist das etwas Einzigartiges,
aber nichts, was die Menschen über die Natur und ihre Gesetze
hinaushebt.

5. Abschließende Bemerkungen

Wir können jetzt die Frage, die zu Beginn des 5. Kapitels formuliert
wurde, beantworten. Worauf geht das menschliche Wollen? Was be-
stimmt seine Ausrichtung? Was sind die originären Motivatoren? Es
sind das eingerammte Wollen und das wollensunabhängige Ange-
nehme. Das eingerammte – nicht-hedonische – Wollen bringt seine
Gegenstände mit. Es setzt keine vorgängigen Motivatoren voraus.
Das andere – hedonische – Wollen geht hingegen auf einen vor-
gängigen Attraktor, das wollensunabhängige Angenehme. Dieses
Angenehme geht dem Wollen voraus und attrahiert es. Das Set der
originären Motivatoren ist, so scheint es, relativ klein. Aber durch
ihre Kombination und vor allem durch die Möglichkeiten und auch
die Notwendigkeiten, die durch das Zukunftsbewusstsein und die
Imaginationsfähigkeit entstehen, kommt es, wie gezeigt, zu einer
Entwicklung des menschlichen Wollens und seiner Gegenstände
weit über diesen Ursprung hinaus. Wenn man die Imagination nicht
kontrolliert und bändigt, kann praktisch alles zum Gegenstand des
Wollens werden.
Möglicherweise kann man das Erreichte noch deutlicher kontu-
rieren, indem man noch einmal fragt, wie sich im Licht der zurück-
liegenden Überlegungen die Antriebsstruktur der Menschen, die Be-
stimmung ihres Wollens von der der anderen Lebewesen, die auch
etwas wollen, unterscheidet. Zunächst gibt es eine unübersehbare
Kontinuität. Das ist nicht überraschend. Denn die motivationale
Maschinerie der Menschen ist offenkundig ein Abkömmling und
eine Fortsetzung der entsprechenden Maschinerie bei ihren nächs-
ten Verwandten. So kommt das eingerammte Wollen aus entspre-
chenden Reiz-Reaktionsmechanismen bei den Tieren. Wo die Tiere

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160 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

in ihrem Verhalten fest verdrahtet sind, haben die Menschen ein auf
die entsprechenden Gegenstände gerichtetes Wollen. Und auch das
wollensunabhängige Angenehme schließt eng an elementare For-
men des Angenehmen an, wie wir sie von Tieren kennen. Dieser
Rahmen, der Rahmen der originären Motivatoren, zeigt also eine
große Kontinuität. Aber innerhalb dieses Rahmens verändert sich
fast alles. Drei entscheidende Veränderungen seien noch einmal ge-
nannt: Durch das Zukunftsbewusstsein wird – erstens – der Raum
für das instrumentell Gewollte unermesslich groß. Und es entste-
hen vielstufige Kaskaden des abgeleiteten Wollens. Zweitens, eben-
falls durch das Zukunftsbewusstsein bedingt, wird das eigene Leben
und das eigene Selbst zu einem Gegenstand des Wollens. Das führt
zu erheblich komplexeren Strukturen des Wollens. Und schließlich
kommt es durch die menschliche Imaginationskraft, die ihrerseits
bei den meisten ihrer Leistungen die Sprache voraussetzt, zu unbe-
grenzt vielen Möglichkeiten, etwas als angenehm oder unangenehm
zu imaginieren.

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§ 7 Vernunft und Wollen

Das Wollen geht, so das Ergebnis der letzten beiden Kapitel, zum
Teil auf fest fixierte Ziele und zum anderen, größeren Teil auf das
Angenehme und Unangenehme. Aber gibt es wirklich nur diese bei-
den Möglichkeiten? Gibt es nicht noch andere Möglichkeiten in der
Bestimmung des Wollens? Drei alternative Ideen habe ich bereits er-
wähnt: Es gebe, so eine erste Vorstellung, noch andere Attraktoren
und Repulsoren für das Wollen, nämlich das Gute und das Schlechte.
Eine andere Konzeption meint, es sei schon richtig, dass das Ange-
nehme das Wollen anzieht, aber es gebe einen Spielraum, in dem man
überlegen und entscheiden könne, ob das Wollen dem Angenehmen
tatsächlich folge oder nicht. Und eine dritte Idee votiert schließlich
dafür, dass es noch eine ganz andere Ressource für die Bestimmung
des Wollens gebe, nämlich das Überlegen oder, anders gesagt, die
Vernunft. Das Wollen reagiere nicht nur auf vorgängige Attrakto-
ren, sondern werde durch die Vernunft auch aktiv gesteuert und auf
bestimmte Gegenstände gerichtet. Alle drei Ideen sind tief in der
Geschichte des europäischen Denkens verwurzelt. Alle drei haben
großen Einfluss ausgeübt. Dennoch sind sie alle falsch. Sie zeichnen
ein falsches Bild davon, wie die Menschen ihr Verhalten steuern.
Es ist die Aufgabe dieses Kapitels, dieses Urteil zu erläutern und
zu begründen. Die zweite Idee wurde bereits zurückgewiesen1, den-
noch werde ich noch einmal auf sie zurückkommen. Im Kern geht
es um zwei Fragen: Erstens, sind das Gute und das Schlechte al-
ternative Attraktoren und Repulsoren? Und zweitens, in welcher
Form wirkt die Vernunft auf die Ausrichtung des Wollens ein? Es
ist dabei sehr wichtig, sich daran zu erinnern, dass es in diesem Teil
der Unter­suchung um die Ausrichtung des intrinsischen Wollens
über dem Strich geht. Es geht nicht um das Wollen unter dem Strich,
also um das Wollen, das aus der Konkurrenz der vielen Dinge, die
man will, als Sieger hervorgeht und deshalb handlungsleitend wird.

1. Das Gute, ein weiterer Attraktor?

Ich beginne mit der Vorstellung, das Gute und das Schlechte seien
dem Wollen vorausgehende und von ihm unabhängige Attrakto-

1 Vgl. oben § 5, S. 112.

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162 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

ren und Repulsoren. Da man nicht bestreiten kann, dass das An-
genehme und Unangenehme Anziehungs- und Abstoßungspunkte
für das Wollen sind, kann die These nur sein, dass das Gute und
das Schlechte auch – neben dem Angenehmen und Unangeneh-
men – eine anziehende und abstoßende Wirkung haben. Es wäre
also falsch, das Wollen generell als Hunger nach dem Guten zu
bestimmen und zu sagen, alles Wollen richte sich auf etwas Gutes.
Das stimmt nicht für das Wollen, das auf das Angenehme geht. Und
es stimmt auch nicht für das eingerammte Wollen. Die Vorstellung,
dass ein Teil des menschlichen Wollens sich auf das Gute richtet,
geht auf Platon und Aristoteles zurück. Sie unterscheiden mehrere
Seelenteile mit jeweils spezifischen Arten des Wollens. Das Wollen
eines Seelenteiles gehe, so nahmen sie an, auf das Angenehme, und
das Wollen eines anderen, höheren Seelenteiles auf das Gute.2 Dabei
sahen sie in dem auf das Gute gerichteten Wollen das Streben, durch
das sich die Menschen von den übrigen Lebewesen abheben. Die
anderen Arten des Wollens teilen sie hingegen mit nicht-mensch-
lichen Lebewesen.
Wenn man diese Annahme, dass das Gute ein Attraktor des Wol-
lens ist, prüfen will, muss man sich zunächst klarmachen, dass sie nur
dann einen Sinn ergibt, wenn für die Rede vom Guten Folgendes gilt:
(i) Dass etwas gut ist, kann nicht einfach bedeuten, dass es gewollt
ist. So ist »gut« immer wieder verstanden worden, zum Beispiel von
Hobbes.3 Aber in diesem Verständnis wäre das Gutsein von etwas
natürlich nichts, was dem Wollen vorausginge und von ihm unab-
hängig wäre.
(ii) Dass etwas gut ist, kann auch nicht einfach bedeuten, dass es
angenehm ist. Auch so wurde »gut« gelegentlich verstanden.4 Aber
dann würde keine alternative These vertreten, sondern das schon
Gesagte nur in anderen Worten wiederholt.
(iii) Das Gutsein von etwas muss schließlich nicht nur von dem
Wollen unabhängig sein, das es, wie die These annimmt, attrahiert,

2 Vgl. z. B. Platon: Charmides 167 e 1–5; Aristoteles: De anima II, 3.


414 b 5 f.; Nikomachische Ethik III, 6. 1113 a 15 ff.; Topik VI, 8. 146 b 5 f.;
Rhetorik I, 10. 1369 a 2 ff.
3 Vgl. Th. Hobbes, De homine, ch. 11, § 4, p. 96: »Omnibus rebus, quae
appetuntur, quatenus appetuntur, nomen commune est bonum.« Siehe auch
Hobbes, Leviathan, ch. 6, p. 39.
4 Vgl. zu Hume oben § 5, S. 114; siehe auch J. Locke: An Essay concerning
Human Understanding, ed. P. Nidditch (Oxford 1975) II, xxviii, § 5, p. 351.

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§ 7 Vernunft und Wollen 163

es muss von jedem Wollen unabhängig sein. Denn sonst wäre es kein
originärer Motivator, weil ihm mit dem Wollen schon ein anderer
Motivator vorausginge. Außerdem wäre das auf das Gute gerichtete
Wollen dann kein intrinsisches, sondern ein extrinsisches Wollen.
Folgendes Beispiel kann das verdeutlichen. Ich stehe vor einer kom-
plizierten Herzoperation, und ich will von einem möglichst erfah-
renen Chirurgen operiert werden. Denn es ist gut, wenn in einem
solchen Fall ein erfahrener Chirurg operiert. Mein Wollen folgt also
dem Guten. Wenn dieses Gutsein nun aber auf ein anderes Wollen
relativ ist, wenn, von einem möglichst erfahrenen Chirurgen ope-
riert zu werden, deshalb gut ist, weil es etwas verspricht, was ich will,
nämlich dass die Operation gelingt, dann will ich etwas, weil ich et-
was anderes will. Ich will von einem erfahrenen Chirurgen operiert
werden, weil das gut ist, es ist aber gut, weil es etwas wahrscheinlich
macht, was ich will: den Erfolg der Operation. Das Gutsein ist auf
dieses zweite Wollen relativ, und deshalb ist das erste Wollen ein nur
derivatives, sprich: extrinsisches Wollen.
Die alternative Konzeption muss also annehmen, dass das Gute
wollensunabhängig ist. In der Regel wird das Gute dann als von al-
len mentalen Zuständen unabhängig verstanden, als ein Teil der ob-
jektiven Wirklichkeit. Oft spricht man statt vom Guten auch vom
Wertvollen oder von Werten und nimmt an, Werte seien Teil der
subjektunabhängigen, ontologisch objektiven Wirklichkeit. Aber
das ist nur eine andere Formulierung für dasselbe. Es gibt hiernach
also in der von uns und auch dem Geist anderer Lebewesen unab-
hängigen Wirklichkeit Attraktoren und Repulsoren. Die objektive
Wirklichkeit ist nicht indifferent und neutral, sie bietet dem Wollen
vielmehr Anziehungs- und Abstoßungspunkte, eben das Gute und
Schlechte. Während das Angenehme, wie wir sahen, selbst etwas
Subjektives ist. Angenehm kann etwas nur sein, wenn es als ange-
nehm empfunden wird.
Nach dieser Konzeption erkennt zunächst der menschliche In-
tellekt, dass etwas gut ist, und das Wollen richtet sich dann infolge
dieser Erkenntnis auf das Gute aus. Dabei kann es passieren, dass
man meint, etwas sei gut, ohne dass es so ist. Das Wollen geht dann
dennoch auf diesen Gegenstand. Es geht also auf das, was gut zu sein
scheint. Aristoteles hat vom phainomenon agathon gesprochen. Wie
ein Teil des Wollens auf das als angenehm Empfundene geht, geht
ein anderer Teil des Wollens auf das tatsächlich oder vermeintlich
als gut Erkannte.

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164 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Häufig hat man dieses Zusammenspiel von Wollen und Intellekt


so beschrieben, dass der Intellekt bestimmt, worauf das Wollen geht.
Der Intellekt, so sagt man dann, bewegt das Wollen. Aber das ist
eine nicht nur einseitige, sondern irreführende Beschreibung. Denn
der Intellekt schafft nur den Zugang zum Guten, er zeigt nur, wo
das Ziel ist, auf das sich das Wollen richtet. Was die Ausrichtung
des Wollens aber wirklich bestimmt, ist das Gute. Das Gute ist der
Beweger, die Erkenntnis spürt die motivationale Energie nur auf.
Dass es dabei zu Fehlern kommen kann, ändert nichts daran, dass
das Gute die motivationale Quelle ist und nicht die Erkenntnis. Der
Intellekt legt ja nicht fest, was das Gute ist, er erkennt nur, was,
­unabhängig von ihm, gut ist.
Das Wollen folgt in dieser Sichtweise dem Guten, und was das
Gute ist, ist uns vorgegeben, dadurch, dass die Welt so ist, wie sie ist,
und eben genau diese Attraktoren und Repulsoren bereithält. Nicht
wir sind es, die bestimmen, was das Gute ist. Offenkundig kann man
auch im Rahmen dieser Theorie der Meinung sein, die Attraktion
des Wollens durch das Gute dürfe nicht als determinierender Me-
chanismus gedacht werden, es gebe einen Spielraum, in dem man
entscheiden könne, ob das Wollen dem Guten folge oder nicht. Das
Wollen werde also nicht einfach durch etwas bestimmt, was von
außen vorgegeben sei, es bleibe die Möglichkeit, der Attraktion zu
folgen oder ihr zu widerstehen.
Wie ist diese Konzeption zu beurteilen? Sie ist, ohne Umschweife
gesagt, vollkommen falsch. Denn dieses ontologisch objektive Gute,
unabhängig vom Wollen und insgesamt von allen mentalen Zustän-
den und Einstellungen, gibt es nicht. Wir haben keinerlei Gründe,
anzunehmen, dass die subjektunabhängige Wirklichkeit die Eigen-
schaft des Gutseins oder des Wertvollen kennt. Und wir haben nicht
einmal den Schatten einer Vorstellung davon, von welcher Art solche
Eigenschaften sein könnten. In Wahrheit ist das Gutsein von etwas
immer auf ein Wollen relativ. So ist, ein Medikament gegen Kopf-
schmerzen zu nehmen, gut, weil es die Schmerzen vertreibt und das
etwas ist, was man will. Und morgens kalt zu duschen, ist gut, weil
es Erkältungen vorbeugt und das etwas ist, was man will. Wäre es
einem gleichgültig, ob man erkältet ist oder nicht, wäre es auch nicht
gut, kalt zu duschen. Und wenn man es sogar anstrebte, erkältet zu
sein, wäre es schlecht, morgens kalt zu duschen. Genauso ist, ge-
sund zu sein, etwas Gutes, weil wir keine Schmerzen wollen und
weil wir leben und nicht sterben wollen. Das Gutsein ist in diesen

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§ 7 Vernunft und Wollen 165

wie anderen strukturgleichen Beispielen offenkundig wollensrela-


tiv. Es setzt ein Wollen voraus, und ohne dieses Wollen gibt es das
Gutsein nicht. So ist es auch bei einer anderen Art des Gutseins. Ein
Arzt ist gut, wenn er das leistet, was wir von einem Arzt erwarten
und wollen. Eine Uhr ist gut, wenn sie das kann und tut, was wir
gewöhnlich von einer Uhr wollen. Und auch ein Mensch ist gut,
wenn er sich so verhält, wie wir es von einem Menschen, mit dem
wir zusammenleben, erwarten und wollen. Bei Dingen, auf die sich
kein Wollen bezieht, ist es hingegen unmöglich, von einem Gutsein
zu sprechen. Eine gute Wolke, eine schlechte Wolke. Was sollte das
sein? Ein guter Regenwurm, ein schlechtes Zebra. Was sollte das
sein? Diese Dinge sind nicht Gegenstand eines Wollens und deshalb
ist es nicht möglich, sie »gut« oder »schlecht« zu nennen. Anders ist
es bei Reitpferden oder Wachhunden. Von ihnen wollen wir etwas.
Und deshalb gibt es gute und schlechte Reitpferde und gute und
schlechte Wachhunde. Dabei bestimmt das Wollen, was die Kri-
terien des Gut- und Schlechtseins sind. Diese Beispiele zeigen, so
meine ich, dass das Gutsein wollensrelativ ist. Wo kein Wollen, da
kein Gutsein. In einer Welt von Lebewesen, die nichts wollen, kann
es überhaupt nichts Gutes geben. Das Gutsein von etwas ist folglich
immer eine ontologisch subjektive Tatsache und nicht Teil der sub-
jektunabhängigen Wirklichkeit. Wir unterscheiden Dinge nach gut
und schlecht, weil wir Wesen sind, die etwas wollen und für die es
deshalb wichtig ist, zu wissen, wie sich die Welt und ihre Zustände,
wie sich Personen und Handlungen im Licht ihres Wollens ausneh-
men, ob sie dem Wollen entsprechen oder nicht.5
Ich bin mir bewusst, dass viele, vor allem auch Biologen und an
der Biologie orientierte Philosophen in dieser Sache anders denken.
Es ist ganz natürlich, zu sagen, dass es für die Pflanzen der-und-der
Art gut ist, täglich viel Wasser aufzunehmen, und dass es für Tiere
der-und-der Art gut ist, besonders leistungsfähige Augen zu haben.
Dieses Gutsein scheint unabhängig von irgendeinem Wollen zu sein.
Es ist, so scheint es, eine der Natur immanente Tatsache, dass diese
Dinge gut sind. Aber diese Art, vom Gutsein zu sprechen, wirkt nur
deshalb so selbstverständlich, weil wir der Natur bewusst oder un-
bewusst eine Teleologie unterschieben. Wir setzen voraus, dass das
Gedeihen, das Weiterleben und die Reproduktion der Lebewesen

5 Vgl. hierzu auch die detaillierten sprachlichen Analysen von P. Ziff:


Seman­tic Analysis (Ithaca 1960) ch. 6: The word ›good‹, S. 200–247.

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166 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

etwas ist, worauf die Natur zielt, etwas, was die Natur will. Auch
dieses Gutsein wird also unter der Hand als wollensrelativ verstan-
den. Und wenn wir uns bewusst machen, dass es diese Teleologie
unabhängig von uns nicht gibt, dass wir sie den kausalen Prozessen
der Natur imponieren, dass also die Natur nichts will, dann entfällt
die Möglichkeit, in dieser Weise vom Gutsein und vom Guten zu
sprechen. Wir haben schon gesehen, dass die biologischen »Zwecke«
in Wahrheit keine Zwecke sind. Sie sind Effekte, die sich einstellen,
wenn die Lebewesen sich in bestimmter Weise verhalten. Genauso
ist das Gedeihen der Pflanzen nichts Gutes, es ist ein Effekt, den
bestimmte Umstände nach sich ziehen. Erst wenn wir wollen, dass
die Pflanzen gedeihen, verändert sich die Situation; dann können wir
mit allem Recht sagen, dass es gut ist, dass sie ausreichend Wasser
bekommen. Aber dann ist das Gutsein offenkundig wollensrelativ.
Der Auffassung, alles Gutsein sei wollensrelativ, wird auch immer
wieder entgegengehalten, dass wir doch die Dinge, die wir wollen,
deshalb wollen, weil sie gut sind, und sie nicht gut sind, weil wir sie
wollen. Ich will doch dieses Auto kaufen, weil es gut ist, und es ist
nicht dadurch gut, dass ich es kaufen will. Natürlich ist es so, aber
darin liegt kein Argument. Ich will den Mercedes kaufen, weil er
gut ist, und dieses Wollen folgt dem Gutsein und konstituiert es
nicht. Aber das heißt nicht, dass das Gutsein des Autos nicht auf ein
­anderes Wollen relativ ist. Und tatsächlich ist es so. Ich will, wie an-
dere auch, von einem Auto, dass es bestimmte Leistungen erbringt.
Und weil dieser Mercedes das tut, ist er ein gutes Auto. Und des-
halb will ich ihn kaufen. Das Gutsein ist nur eine Brücke, die von
einem Wollen zum anderen führt. Und deshalb ist es wollensrelativ.
Das Kaufen-Wollen dieses Autos ist abgeleitet von einem anderen,
allgemeineren Wollen.
All dies bedeutet, dass es das Gute, das sich die alternative Kon-
zeption als zweiten Attraktor für das Wollen vorstellt, gar nicht
gibt. Diese Konzeption handelt mit Waren, die es in Wirklichkeit
nicht gibt. Wenn das Gute aber wollensrelativ ist, ist es kein origi-
närer Motivator. Und dann ist, wie gezeigt, das Wollen, das auf das
Gute geht, kein intrinsisches, sondern ein extrinsisches Wollen. Wir
können die Idee, ein Teil des intrinsischen Wollens über dem Strich
gehe auf einen neben dem Angenehmen zweiten Attraktor, das
Gute, also zurückweisen. Wir können damit auch die Vorstellung,
die vom Geist der Menschen wie auch vom Geist anderer Lebewe-
sen unabhängige Wirklichkeit enthalte Attraktoren und Repulsoren,

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§ 7 Vernunft und Wollen 167

zurück­weisen. Tatsächlich ist die objektive Wirklichkeit, wie schon


gesagt, in dieser Hinsicht völlig stumm. Sie bietet dem Wollen nichts,
wodurch es attrahiert oder abgestoßen würde. Solche Anziehungs-
und Abstoßungspunkte entstehen erst dadurch, dass wir und andere
Lebe­wesen etwas als angenehm oder unangenehm empfinden. Nur
wer die Attraktions- und Repulsionspunkte im Angenehmen und
Unangenehmen sieht, kann, so scheint es, zwei essentielle Einsichten
miteinander verbinden: zum einen die Einsicht, dass es dem Wollen
vorausgehende und von ihm unabhängige Attraktoren und Repul-
soren gibt, und zum anderen die Einsicht, dass die Welt, unabhängig
vom Geist der Menschen und anderer Lebewesen, in belangloser
Neutralität daliegt und nichts enthält, was das Wollen auf sich zieht.

2. Gründe für das intrinsische Wollen?

Die Vernunft, verstanden als das Erkennen des Guten, beeinflusst,


wie jetzt gezeigt, das Wollen nicht. Aber hat die Vernunft nicht auf
andere Art Einfluss auf das menschliche Wollen? Menschen sind
Wesen, die überlegen. Sie überlegen, was sie tun, und sie überlegen,
was sie für wahr halten. In der Überlegung beziehen sie sich auf Tat-
sachen, die für oder gegen etwas sprechen, und danach entscheiden
sie, wie sie sich verhalten. Diese Tatsachen nennen wir »Gründe«.
Die Menschen beziehen sich im Überlegen also auf Gründe. Wenn
das Überlegen und der Bezug auf Gründe für sie so wesentlich ist
und sie Gründe haben, etwas zu tun, und Gründe, etwas für wahr
zu halten, haben sie dann nicht auch Gründe, etwas zu wollen? Ist
nicht auch ihr eigenes Wollen und seine Ausrichtung Gegenstand
ihres Überlegens? Ist also nicht auch das Wollen gründegeleitet und
in diesem Sinne durch die Vernunft gesteuert?6
Ein deutlicher Hinweis darauf, dass es so ist, liegt, wie es scheint,
darin, dass wir nicht nur fragen: Warum tust du das? und: Warum
meinst du das?, sondern auch: Warum willst du das? Sind es also
nicht Gründe, die uns dahin bringen, das zu wollen, was wir wollen?
Zunächst drei Vorbemerkungen zu dieser Frage: (i) Wir können

6 Vgl. zu dieser Frage auch Vf., Was geht voraus: das Wollen den Gründen
oder die Gründe dem Wollen? (2012), in: P. S.: Begründen, Rechtfertigen und
das Unterdrückungsverbot (Berlin 2013) 139–165. – Im Folgenden habe ich
gelegentlich kleinere Passagen aus diesem Text übernommen.

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168 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

selbstverständlich fragen, warum jemand etwas will, und wir kön-


nen diese Frage in allen Fällen extrinsischen Wollens leicht beant-
worten. Wenn jemand x will, weil er y will, und x eine notwendige
Bedingung für y ist, hat er offensichtlich einen Grund, x zu wollen.
Es gibt folglich ohne Zweifel Gründe auch fürs Wollen. Das kann
niemand leugnen. Die Begründung enthält in den Fällen extrinsi-
schen Wollens einen Bezug auf ein weiteres, höheres Wollen. Man
will etwas, weil man etwas anderes will. In den Fällen intrinsischen
Wollens kann es diese Art von Begründung nicht geben, weil es das
weitere, höhere Wollen nicht gibt. Uns interessiert aber nur die Be-
stimmung des intrinsischen Wollens, nicht die des derivativen ex­
trin­sischen Wollens. Die Frage, um die es geht, lautet also nicht, ob
es Gründe fürs Wollen gibt, sondern speziell, ob es Gründe für das
intrinsische Wollen gibt. Und ob das intrinsische Wollen in seiner
Ausrichtung durch Gründe geleitet wird.
(ii) Als Zweites ist erneut daran zu erinnern, dass es in diesem
Teil der Untersuchung um die Bestimmung des Wollens über dem
Strich geht. Wie dieses Wollen dann zu koordinieren ist, ist eine
andere Frage, auf die ich erst später kommen werde. Es liegt auf
der Hand, dass, wenn es um die Koordination der Wünsche geht,
diese Wünsche schon zuvor, jeder für sich, eine Ausrichtung haben,
also auf einen bestimmten Gegenstand gehen. Und die Frage, die
uns beschäftigt, ist, wie sie zu dieser Ausrichtung kommen, wie es
kommt, dass sie auf diese Gegenstände gehen und ob Gründe da-
bei eine Rolle spielen. Es ist völlig klar, dass wir überlegen, wenn
es darum geht, auf welchem Wege man etwas, was man will, errei-
chen kann. Und es ist auch völlig klar, dass wir überlegen, wenn es
darum geht, die vielen Wünsche, die die Menschen auf Grund ihres
Zukunftsbewusstseins haben, zu koordinieren. Aber um diese bei-
den Leistungsfelder des Überlegens geht es jetzt nicht. Es geht, wie
gesagt, darum, wie das intrinsische Wollen über dem Strich zu sei-
nen Gegenständen findet und ob das Überlegen und der Bezug auf
Gründe dabei einen Einfluss haben.
(iii) Es ist – drittens – wichtig, sich bewusst zu machen, dass
die Frage »warum« und das respondierende »weil« nicht eindeutig
sind. Die »Warum«-Frage fragt nach einer Erklärung. Eine Erklä-
rung kann etwas durch Gründe erklären, aber auch durch Ursachen,
die mit Gründen nichts zu tun haben. Wenn man die Frage, warum
die Brücke zusammengebrochen ist, beantwortet mit: weil es ein
Erdbeben gab, gibt man eine Ursache an, die mit Gründen nichts

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§ 7 Vernunft und Wollen 169

zu tun hat. Das Zusammenbrechen der Brücke war keine Handlung,


und niemand hat überlegt, ob die Brücke zusammenbrechen soll.
Das zeigt, dass die Angemessenheit einer »Warum«-Frage und einer
entsprechenden »Weil«-Antwort noch nicht bedeutet, dass Gründe
vorliegen oder dass überhaupt nach Gründen gefragt wird. Es wird
nach einer Erklärung gefragt, und in ihr müssen keine Gründe vor-
kommen. Man kann diesen Punkt leicht verwischen, weil es im
Deutschen möglich ist, alles, was ein Ereignis erklärt, einen Grund
zu nennen. Man kann ohne weiteres sagen, dass das Erdbeben der
Grund für den Zusammenbruch der Brücke war. Aber dann verwen-
det man »Grund« im weiten Sinn von: was etwas erklärt, und nicht
im engen, spezifischen Sinn von: was für etwas spricht.
Dass es passend ist, zu fragen, warum man etwas will, und man
auch beim intrinsischen Wollen so fragen kann, bedeutet demnach
noch nicht, dass es Gründe für dieses Wollen gibt. Oder dass über-
haupt nach Gründen gefragt wird. Es wird nach einer Erklärung
gefragt. Und welche Art von Erklärung angemessen ist, eine durch
Gründe oder eine bloß kausale, bleibt dabei noch offen.
Wie also ist es? Ist das intrinsische Wollen über dem Strich in sei-
ner Ausrichtung durch Gründe bestimmt? Zuerst ist festzuhalten,
dass das eingerammte Wollen sehr deutlich ein Wollen ohne Gründe
ist und dass die Frage nach Gründen für dieses Wollen ganz de-
placiert wäre. Das Weiterleben-Wollen, gewöhnlich das mächtigste
Wollen, das wir haben, ist Teil unseres evolutionären Erbes, es geht
nicht aus einer Überlegung hervor. Man kann nicht fragen, aus wel-
chen Gründen man dieses Wollen hat. Wir haben es, und wir können
nicht anders. Wir können es nicht wählen, und wir können es nicht
abwerfen. Genauso verhält es sich mit dem Streben nach Anerken-
nung durch andere und dem Interesse am Wohl der eigenen Kinder.
Diese basalen Wünsche hat die Natur in uns eingepflanzt, und wir
haben sie nicht, an Gründen orientiert, auf diese Ziele hin ausgerich-
tet. Das heißt selbstverständlich nicht, dass man nicht erklären kann,
wie es dazu gekommen ist, dass die Menschen diese Wünsche haben.
Natürlich kann man das erklären und nach dieser Erklärung mit der
Frage: Warum wollen wir das? fragen. Je mehr man über die evolu-
tionäre Vorgeschichte der Menschen weiß, um so detaillierter wird
man die Genese dieser Wünsche erklären und die Ursachenkette, die
zu ihnen führt, auseinanderlegen können.
Auch für das Wollen, das auf das Angenehme geht, gilt, dass wir
es nicht haben, weil wir Gründe dafür haben. Wenn etwas ange-

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170 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

nehm ist oder als angenehm imaginiert wird, wollen wir es, so habe
ich bereits gesagt, automatisch. Und wenn etwas unangenehm ist,
wollen wir es automatisch nicht. Das ist ein kausaler Mechanismus
und keine Gründe-Relation.
Ohne Zweifel ist es, wenn man gefragt wird, warum man etwas
will, plausibel, zu antworten: weil es angenehm ist. Man verweist
damit auf das, was das Wollen erklärt. Aber man gibt damit kei-
nen Grund für das Wollen an. Die, die annehmen, hier liege eine
Gründe-Relation vor, unterscheiden vermutlich häufig nicht hinrei-
chend zwischen einem Grund im weiteren Sinn und einem Grund
im spezifischen Sinn des Sprechens-für. Außerdem haben wir viel-
leicht ohnehin eine Tendenz, im Bereich des Mentalen, dessen Ver-
ständnis für unser Selbstbild so wichtig ist, Ursachen in Gründe
und selbstläufige Vorgänge in aktive und selbstgesteuerte Prozesse
umzudeuten.
Wenn man auf die Phänomene schaut, tritt indessen deutlich her-
vor, dass die Beziehung des Angenehmen zum Wollen eine kausale
und nicht eine normative ist. Stellen wir uns vor, jemand leidet aktu-
ell an Migräne. Dann ist es ein Automatismus, dass er das nicht will
und dass er aus diesem Zustand heraus will. Dieses Wollen ist nicht
das Ergebnis einer Überlegung, und es spricht nichts dafür, dieses
Wollen zu haben. Es ist einfach da, verursacht durch die Schmerzen,
die das Wollen notwendigerweise auf sich ziehen. Es ist gar nicht
möglich, die Schmerzen zu haben und nicht zu wollen, dass sie auf-
hören. Deshalb bedarf es auch keiner Gründe.7 Und wenn jemand
die Schmerzen hat und sagen würde, er wolle nicht, dass dieser Zu-
stand aufhört, hätten wir den Eindruck, dass mit ihm etwas nicht
stimmt. Er ist in einem äußerst unangenehmen Zustand, will aber
nicht, dass es anders wird. Wir könnten das gar nicht verstehen.

7 Th. Nagel hingegen meint, dieses Wollen bedürfe eines Grundes. Und
er findet ihn im »objektiven Schlechtsein« der Schmerzen. Damit sei aber
nichts anderes gemeint als, dass »there is reason for anyone capable of view-
ing the world objectively to want it (the pain) to stop.« Das läuft, so scheint
es, darauf hinaus, dass die Schmerzen selbst den Grund geben, sie nicht zu
wollen. Vgl. The View from Nowhere (Oxford 1986) 144; dt. Der Blick von
nirgendwo (Frankfurt 1992) 249. – Auch Parfit glaubt, man brauche einen
Grund, Schmerzen nicht zu wollen. Die Frage, was dafür spricht, Schmer-
zen nicht zu wollen, ist demnach eine sinnvolle Frage. Das scheint mir völlig
verfehlt zu sein. Vgl. D. Parfit: Rationality and Reasons, in: D. Egonsson et
al. (eds.): Exploring Practical Philosophy: From Action to Values (Aldershot
2001) 19–39, 22.

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§ 7 Vernunft und Wollen 171

Zwei weitere Überlegungen weisen in dieselbe Richtung. Wenn


jemand die Prüfungen im Herbst erfolgreich absolvieren will und
deshalb jetzt mit den Vorbereitungen beginnen muss, er also einen
Grund hat, anzufangen, kann es sein, dass er es dennoch nicht tut.
Man kann sich gegen einen Grund verhalten. Und diese Möglich-
keit ist charakteristisch für das normative Müssen, das mit einem
Grund gegeben ist: Es ist nicht determinierend, man kann anders
als »gemusst« handeln. Es ist aber, wie gesagt, nicht möglich, dass
jemand starke Kopfschmerzen hat und nicht will, dass sie weggehen.
Wenn das Unangenehmsein der Schmerzen der Grund für das Wol-
len sein sollte, müsste es möglich sein, sich anders zu verhalten als
es der Grund verlangt. Man müsste also den Schmerzen indifferent
gegenüberstehen können. Das scheint aber nicht möglich zu sein.
Die zweite Überlegung hängt direkt damit zusammen. Wenn
jemand einen Grund hat, mit den Prüfungsvorbereitungen zu be-
ginnen, aber zögert oder die Situation nicht erfasst, kann man ihm
sagen: Du solltest jetzt anfangen, dich um die Prüfungen zu küm-
mern. Man kann ihn auffordern oder ihm raten, das zu tun, was er
tun muss. Es wäre aber bizarr, wenn man jemandem, der Migräne
hat, sagte: Du solltest diesen Zustand nicht wollen. Für eine solche
Aufforderung gibt es keinen Ort.
Diese Überlegungen bestätigen noch einmal, dass das Ange-
nehme nicht der Grund, sondern die Ursache des Wollens ist. Das
menschliche Wollen geht auch in diesem Fall von Natur aus auf das
Angenehme. Und deshalb können wir nicht anders, als das Ange-
nehme zu wollen und das Unangenehme nicht zu wollen. Und des-
halb bedarf es an dieser Stelle überhaupt keiner Gründe. Hume hat
das Phänomen bereits in dieser Weise beschrieben. Es ist, so sagt er,
ein »original instinct«, der das Wollen auf das Angenehme und Un-
angenehme ausrichtet.8 Deshalb ist es, wenn jemand das Angenehme
will und das Unangenehme nicht will, sinnlos, nach einem Grund
dafür zu fragen. Wenn jemand etwas für seine Gesundheit tut, weil
Kranksein mit Schmerzen verbunden ist, ist die Frage, warum er
keine Schmerzen haben will, verfehlt. Denn es gibt, so Hume, kei-
nen Grund (»reason«), »why he hates pain«. Hier nach einem Grund
zu fragen, ist »an absurdity«.9 Mit dieser Überlegung ist auch noch
einmal die Vorstellung zurückgewiesen, das Angenehme attrahiere

8 Hume, A Treatise of Human Nature, II, iii, 9, p. 438.


9 Hume, Enquiry concerning the Principles of Morals, app. I, p. 293.

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172 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

zwar das Wollen, es bestehe aber ein Spielraum, in dem man ent-
scheiden könne, ob das Wollen dem Angenehmen folge oder nicht.
Tatsächlich besteht ein solcher Spielraum nicht.
Auch das Wollen, das auf das Angenehme geht, ist also ein Wollen
ohne Gründe. Es kann daher nur fraglich sein, ob es neben diesem
Wollen und neben dem eingerammten Wollen ein Wollen gibt, das
in seiner Ausrichtung durch Gründe bestimmt ist.10 – Wie könnte
ein solcher Grund aussehen? Da es ein Grund für ein intrinsisches
Wollen sein soll, muss er selbst wollensunabhängig sein. Es muss also,
wie man sagt, ein externer Grund sein. Aber gibt es solche Gründe?
Ein Grund ist, wie wir sahen, etwas, das für etwas spricht. Das ist
die Kerndefinition eines Grundes. Damit verbinden sich drei wei-
tere wesentliche Eigenschaften: Ein Grund ist normativ, das heißt,
mit ihm ist, wie mit einer Norm, ein Müssen gegeben. Ein Grund
bedeutet, dass man etwas tun muss, er setzt uns unter Druck, er nö-
tigt uns, so wird manchmal gesagt, in bestimmter Weise zu handeln.
Ein Grund hat zudem ein motivationales Potential. Wenn man einen
Grund für eine Handlung hat und sich dessen bewusst ist, moti-
viert einen das normalerweise dazu, entsprechend zu handeln. Und
schließlich hat ein Grund ein Gewicht. Deshalb kann man Gründe
gegeneinander abwägen. Ein Grund muss diese verschiedenen Leis-
tungen erbringen, und es scheint fraglich, ob ein externer Grund, der
keinen Wollensbezug hat, dies kann.
Aber betrachten wir die konkreten Vorschläge für die Idee, zu-
mindest ein Teil des Wollens werde durch Gründe bestimmt. Was
sind diese Gründe? Es gibt, wie es scheint, zwei Kandidaten. Der
erste Vorschlag besagt, das Gutsein von etwas sei ein Grund, es zu
wollen. Und der zweite besagt, natürliche, nicht bereits evaluativ
oder normativ ausgezeichnete Tatsachen könnten Gründe fürs Wol-
len sein. Beide Vorschläge, so werden wir sehen, scheitern, beide

10 Wenn es ein Wollen ohne Gründe gibt, und dies ohne Zweifel in nen-
nenswertem Umfang, ist damit im Übrigen auch gezeigt, dass es nicht rich-
tig ist, das Wollen durch einen Bezug auf Gründe zu definieren, wie es T. M.
Scan­lon tut. Ein »desire« enthält, so Scanlon, ein »seeing something as a
reason«, also ein Urteil, dass etwas ein Grund ist. Vgl. What We Owe to
Each Other (Cambridge, Mass. 1998) 18, 40; vgl. auch 7 f. Ganz ähnlich auch
Ch. Larmore: Vernunft und Subjektivität (Berlin 2012) 49. Zum »Wesen des
Wollens« gehöre, so heißt es hier, ein »Sich-Richten nach Gründen«. Und,
ebenfalls sehr deutlich: »… das Wesen eines Wunsches ist, wie im Fall einer
Überzeugung, durch eine Bezogenheit auf Gründe bestimmt« (61).

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§ 7 Vernunft und Wollen 173

können die Idee, dass es Gründe für das intrinsische Wollen gibt,
nicht einlösen.
Im ersten Vorschlag kehrt das Gutsein wieder, dieses Mal nicht als
ein Attraktor, der das Wollen auf sich zieht, sondern als ein Grund,
der dafür spricht, das, was gut ist, zu wollen. Wir können diese
Konzeption aus denselben Gründen zurückweisen wie die andere:
Dieses Gute, das, so wie es konzipiert ist, wollensirrelativ ist, gibt es
nicht. Es ist nicht Teil der von uns und dem Geist anderer Lebewe-
sen unabhängigen Wirklichkeit. Es ist, wie schon gesagt, vollkom-
men mysteriös, von welcher Seinsart ein solches objektives Gutsein
oder, anders formuliert, solche objektiven Werte sein könnten. ­Alles
Gute ist vielmehr wollensrelativ. Und deshalb kann etwas Gutes
nicht ein Grund für ein intrinsisches Wollen sein.
Es hilft nicht, sich in der Weise aus dem ontologischen Abseits
manövrieren zu wollen, dass man sagt: Mit der Rede vom Gutsein
spreche man nicht von einer objektiven nicht-natürlichen Eigen-
schaft, man sage damit, dass etwas gut ist, nicht mehr, als dass man
einen Grund hat, dieses Etwas zu wollen.11 Denn wenn das Gutsein
den Grund nicht konstituiert, es vielmehr nur darin besteht, dass ein
Grund vorliegt, dann ist – erstens – die Rede vom Gutsein redundant,
und dann muss man – zweitens – erst noch zeigen, worin der Grund
für das Wollen besteht und was ihn konstituiert. Man hat die Frage,
was der Grund für das Wollen ist, dann noch gar nicht beantwortet.
Der zweite Vorschlag versucht auf andere Weise, den ontologi-
schen Schwierigkeiten, in die man mit der Annahme eines objektiven
Gutseins oder objektiver Werte gerät, zu entkommen. Er nimmt an,
dass ganz normale natürliche, ontologisch unverdächtige Tatsachen
wollensunabhängige Gründe für das Wollen sein können. Dabei
kann, das ist nach dem zuvor Gesagten klar, nicht an die Tatsache
gedacht sein, dass etwas angenehm ist. Dies ist zwar eine natürliche
Tatsache, zudem ist sie wollensunabhängig, aber die Relation zwi-
schen dem Angenehmen und dem Wollen ist, wie gesehen, keine
Gründe-Relation, sondern eine kausale Relation. Es muss also an
eine andere Art natürlicher Tatsachen gedacht sein. Ein Beispiel ist
die Tatsache, dass Autofahren unter Alkoholeinfluss gefährlich ist.12

11 Vgl. hierzu oben Anm. 7.


12 Das Beispiel stammt von Scanlon, What We Owe to Each Other, 34. –
Die Position, die ich hier vorstelle und kritisiere, deckt sich allerdings nicht
vollständig mit der von Scanlon. Scanlon nimmt zwar an, dass natürliche

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174 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Diese Tatsache ist, so die Idee, ein Grund, in diesem Zustand nicht
fahren zu wollen und es dann auch nicht zu tun. Dass es gefährlich
ist – für einen selbst und für andere –, alkoholisiert zu fahren, ist eine
empirische Tatsache ohne evaluative oder normative Eigenschaften,
so dass in diesem Fall in der Tat keine ontologischen Probleme ent-
stehen. Und es wirkt zweifellos natürlich, zu sagen, diese Tatsache
sei ein Grund, in diesem Zustand nicht fahren zu wollen. Aber ge-
nauer betrachtet zeigt sich schnell, dass das Beispiel nicht leistet,
was es leisten soll. Denn die Tatsache, dass es gefährlich ist, unter
Alkoholeinfluss zu fahren, ist nur dann ein Grund, wenn ein Wollen
hinzukommt. Nur wenn man die Gefahr nicht will, ist, dass etwas
gefährlich ist, ein Grund, es nicht zu wollen. Wenn einem die Ge-
fahr gleichgültig ist, gibt einem die Tatsache, dass etwas gefährlich ist,
hingegen keinen Grund. Und wenn man die Gefahr gar sucht, gibt
einem die Tatsache, dass Autofahren unter Alkoholeinfluss gefähr-
lich ist, sogar einen Grund, in diesem Zustand fahren zu wollen und
es zu tun. Die empirische Tatsache allein gibt einem also überhaupt
keinen Grund. Es muss ein Wollen hinzukommen. Damit entpuppt
sich der Grund, der in diesem Beispiel ins Auge gefasst ist, selbst
als wollensrelativ. Und das heißt, dass ich etwas nicht will: Auto-
fahren unter Alkohol­einfluss, weil ich etwas anderes nicht will: die
Gefahr für mich und für andere. Wir haben hier folglich nicht, was
wir suchen: einen wollensunabhängigen Grund für ein intrinsisches
Wollen, sondern einen wollensabhängigen Grund für ein extrinsi-
sches Wollen.
Es scheitert nicht nur dieses Beispiel. Es ist grundsätzlich so, dass
eine natürliche Tatsache ohne Wollensbezug und ohne eine sonstige
mentale Komponente kein Grund sein kann, weder ein Grund fürs
Wollen noch ein Grund fürs Handeln. Denn eine solche Tatsache
betrifft mich nicht, ihr fehlt der Ich-Bezug, das Element des »für
mich«. Die Tatsache, dass es in unserer Familie eine lange Tradition
gibt, nach der die Söhne zur Armee gehen, bedeutet für mich nichts,
solange ich nicht den Wunsch habe, diese Tradition fortzusetzen.

Tatsachen wie die Tatsache, dass Autofahren mit Alkohol im Blut gefährlich
ist, Gründe sein können. Aber er beschreibt sie als Handlungsgründe, nicht
als Gründe fürs Wollen. Seine Vorstellung ist, das Gefährlichsein alkoholi-
sierten Fahrens sei ein Grund, nicht zu trinken oder, wenn man getrunken
hat, nicht zu fahren. Und das Wollen besteht, so Scanlon, darin, zu realisieren,
dass dieser Grund vorliegt und dadurch motiviert zu sein, die entsprechen-
den Handlungen nicht zu tun.

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§ 7 Vernunft und Wollen 175

Und dass alkoholisiertes Autofahren die-und-die statistisch nach-


weisbaren Konsequenzen hat, bedeutet für mich nichts, solange ich
diese Konsequenzen nicht als negativ ansehe, das heißt, als Kon-
sequenzen, die ich nicht will. Wollte man sagen, die Tatsache, dass
Autofahren unter Alkoholeinfluss gefährlich ist, sei unabhängig von
einem solchen Wollen ein Grund, würde das beinhalten, dass auch
derjenige, der die Gefahr sucht und sie will, einen Grund hat, in
diesem Zustand nicht fahren zu wollen. Aber wieso spricht die Tat-
sache, dass es gefährlich ist, auch für ihn dafür, es nicht zu wollen?
Man könnte antworten: Unter Alkoholeinfluss zu fahren, ist an sich
selbst schlecht, etwas mit einem inhärenten negativen Wert. Aber
damit würde man in die erste Konzeption zurückfallen und wie-
derum in einem objektiven Schlechtsein und nicht in einer natura-
len Eigenschaft den Grund sehen. Die jetzt diskutierte Konzeption
vermag, so zeigt sich, nicht zu erklären, wie es möglich ist, dass eine
wollensunabhängige natürliche Tatsache dafür oder dagegen spricht,
etwas zu wollen. Und sie vermag auch nicht zu erklären, wie eine
solche Tatsache die anderen Leistungen, die für einen Grund essenti-
ell sind, erbringen kann. Wie kann eine solche Tatsache Normativität,
das heißt ein praktisches, mit einem Handlungsdruck verbundenes
Müssen generieren? Wie kann sie ein motivationales Potential haben,
und wie in einer Überlegung ein bestimmtes Gewicht? Diese Fragen
bleiben alle unbeantwortet. Und deshalb können wir die Idee, dass
natürliche Tatsachen Gründe für das Wollen sein können, verwer-
fen. Sie ist aussichtslos.
Ich kann jetzt zusammenfassen und sagen, dass die Idee, dass
dem intrinsischen Wollen über dem Strich Gründe, wollensunab-
hängige Gründe vorausgehen und dass die Menschen einen Teil ih-
res Wollens im Blick auf diese Gründe steuern, insgesamt scheitert.
Zum einen gibt es keine externen Gründe in Form eines objektiven
Gutseins oder objektiver Werte. Eine solche Annahme würde in
unlösbare ontologische Probleme führen. Und zum anderen ist es
unmöglich, dass wollensunabhängige natürliche Tatsachen Gründe
sind und deren Leistungen erbringen. Einen Einfluss der Vernunft
auf das Wollen gibt es also auch in dieser Form nicht. Unser intrin-
sisches Wollen über dem Strich reagiert nicht auf vorgängige Gründe,
wir haben es von Natur aus, oder es wird attrahiert von dem, was
uns angenehm ist oder was wir als angenehm imaginieren.
Es ist also nicht so, dass Gründe dem Wollen vorausgehen, viel-
mehr geht das Wollen den Gründen voraus. Dem basalen Wei-

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176 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

terleben-Wollen gehen keine Gründe voraus, aber dieses Wollen


schafft, zusammen mit Dafür-dass-Tatsachen, eine Unmenge von
Gründen. Wir haben, weil wir weiterleben wollen und weil wir da-
für, das sicherzustellen, sehr viel tun müssen, eine riesige Zahl von
Handlungs- und Wollensgründen. Nicht die Vernunft bestimmt das
Wollen entlang wollensunabhängiger Gründe, sondern das Wollen
schafft, zusammen mit Dafür-dass-Strukturen, Gründe und damit
erst den Raum für die Vernunft und das Überlegen. Man muss, so
kann man auch sagen, schon etwas wollen, um sich überhaupt fragen
zu können, ob man Gründe hat, dieses oder jenes zu wollen. Hume
hat diese Einsicht in seinem berühmten dictum provokativ gegen
die Tradition gerichtet: »Reason is, and ought only to be the slave
of the passions, and can never pretend to any other office than to
serve and obey them.«13
Diese Auffassung zieht bis heute erhebliche intellektuelle und
emotionale Widerstände auf sich. Man sieht darin erneut eine Re-
duktion des Menschen. Der Mensch ist, so nimmt man seit der An-
tike an, ein animal rationale, ein Vernunftwesen, und dazu gehört,
dass er nicht nur seine Handlungen, nicht nur seine Meinungen,
sondern auch sein Wollen, und insbesondere auch sein intrinsisches
Wollen, im Blick auf Gründe ausbildet. Auch und gerade hinter dem
Wollen müssen Gründe liegen. Nur so werden die Menschen im
Ganzen ihres Lebens von Gründen gelenkt und von der Vernunft ge-
steuert. Tatsächlich ist diese Vorstellung und dieses Selbstverständ-
nis eine Chimäre, eine ihrerseits von Wünschen getriebene Illusion.
Es ist hier nicht der Ort, genauer auszubuchstabieren, was
Gründe sind und was sie konstituiert.14 Im jetzigen Kontext geht es
allein um die Frage, ob es Gründe für das intrinsische Wollen über
dem Strich gibt. Dennoch sei wenigstens noch festgehalten, dass die
Leistungen, die ein Grund zu erbringen hat, ohne Wollensbezug gar

13 Hume, A Treatise of Human Nature, II, iii, 3, p. 415. – Der Sache nach
ist diese Auffassung nicht neu. Hobbes hatte sie zuvor schon sehr deutlich
formuliert. Im Leviathan heißt es zum Beispiel: »… the Thoughts, are to
the Desires, as Scouts, and Spies, to range abroad, and find the way to the
things Desired …« (ch. 8, p. 53). Vgl. hierzu auch Q. Skinner: Hobbes and
Republican Liberty (Cambridge 2008) 26 ff.
14 Vgl. dazu Vf., Normativität. Eine ontologische Untersuchung (Berlin
2008), bes. § 4 und § 6 und Vf., Welche Tatsachen sind Gründe? Zu Parfits
On What Matters, in: M. Hoesch / S. Muders / M. Rüther (Hg.): Derek Parfit
in der Diskussion (Hamburg 2016).

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§ 7 Vernunft und Wollen 177

nicht möglich sind. Schon die zentrale Bestimmung eines Grundes:


dass er für etwas spricht, ist ohne einen solchen Bezug nicht zu expli-
zieren. Denn wodurch spricht etwas dafür, eine Handlung zu tun –
oder ein Wollen auszubilden? Es spricht deshalb etwas dafür, weil,
wenn man es nicht tut, etwas Negatives die Konsequenz ist. Und
eine Konsequenz ist dadurch negativ, dass sie nicht gewollt wird.
Nehmen wir ein Beispiel: Warum spricht etwas dafür, jetzt aufzu-
brechen? Wie kommt es, dass ich einen Grund habe, dies zu tun?
Ich habe diesen Grund, weil, jetzt aufzubrechen, die notwendige Be-
dingung dafür ist, dass ich den 14.00 Uhr-Zug nach Luzern erreiche,
und das etwas ist, was ich will. So dass, wenn ich anders handele, et-
was Negatives die Konsequenz ist: ich erreiche den Zug nicht. Eine
Dafür-dass-Tatsache oder, genauer gesagt, ein Müssen der notwendi-
gen Bedingung plus ein Wollen konstituieren den Grund. Ohne das
Wollen hätte ich offensichtlich keinen Grund, jetzt aufzubrechen.
Wo ein Grund, da die Struktur: Wenn nicht, dann etwas Negatives,
oder: Nur wenn, etwas Positives. Negativität und Positivität sind
aber wollensrelativ. Ohne dieses Element des Wollens ist mithin
nicht zu erklären, was es heißt, dass etwas für etwas spricht, was es
also heißt, ein Grund zu sein.
Und nur durch die Wollenskomponente lassen sich auch die an-
deren Leistungen eines Grundes verstehen. Wenn ich den Zug er-
reichen will und das nur möglich ist, wenn ich jetzt aufbreche, dann
muss ich jetzt aufbrechen, und dieses Müssen ist offenkundig mit
einem Handlungsdruck verbunden. Der Grund nötigt mich, jetzt
aufzubrechen. Und diese Nötigung kommt aus der Struktur: Wenn
nicht, dann etwas Negatives. Damit ist auch schon klar, dass ich in
dieser Situation ein Motiv habe, aufzubrechen. Und es ist auch klar,
dass dieser Grund ein Gewicht hat und dass dieses Gewicht durch
die Intensität des Wollens bestimmt wird. Wenn ich den Zug um
14.00 Uhr unbedingt erreichen will, habe ich einen entsprechend
starken Grund, jetzt aufzubrechen. Wenn ich den Zug zwar gerne
erreichen möchte, es aber auch kein Beinbruch wäre, zwei Stunden
später zu fahren, habe ich einen sehr viel schwächeren Grund.
Natürlich bedeuten die zurückliegenden Ausführungen nicht,
dass das menschliche Wollen völlig dem Überlegen entzogen ist. Das
stimmt, wie schon gesagt, nicht für das extrinsische Wollen. Und es
stimmt nicht für das Wollen unter dem Strich. Natürlich können wie
überlegen, wie ein Wollen angesichts eines anderen, konkurrieren-
den Wollens zu beurteilen ist und wie hier abzuwägen ist. Die Ko-

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178 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

ordination des Wollens wird in Teil III das Thema sein. Außerdem
scheint es, als habe das Überlegen auf eine indirekte, bisher noch
unberücksichtigte Weise doch einen Einfluss auf das intrinsische
Wollen über dem Strich.

3. Kognitive Defizite

Wenn das intrinsische Wollen über dem Strich nicht auf vorgängige
Gründe reagiert, kann es nicht in der Weise fehlgerichtet sein, dass
es nicht zu vorgegebenen Gründen passt. Es kann jedoch auf andere
Weise fehlgehen. Angenommen, jemand will Entwicklungshelfer in
einem fernen Land werden, weil er sich das als angenehm, als erfül-
lend vorstellt. Er weiß allerdings nur sehr wenig darüber, wie das
Leben eines Entwicklungshelfers konkret aussieht. Er hat sich nicht
um genauere Informationen bemüht. Wenn er seinen Wunsch in die
Tat umsetzt, kann es deshalb sein, dass er einsehen muss, dass alles
ganz anders als vorgestellt ist und ein solches Leben für ihn keines-
wegs erfüllend, sondern belastend und frustrierend ist. In diesem
Fall fehlen der Imagination die nötigen Informationen. Die Person
imaginiert deshalb etwas als angenehm, was sich dann als nicht an-
genehm herausstellt. Und weil das Wollen dem als angenehm Vorge-
stellten folgt, geht es auf einen Gegenstand, der als angenehm imagi-
niert wird, es in Wahrheit aber nicht ist. Das Wollen ist also wegen
eines kognitiven Defizits in seinem Vorfeld fehlgeleitet. Es handelt
sich, so ein englischer Kunstausdruck, um ein »miswanting«.15
Auch wenn die Person sich so gut wie möglich informiert hat,
kann sie vorab nicht wirklich wissen, wie es sein wird, Entwick-
lungshelfer zu sein, und wie es sich von innen anfühlen wird. Die
Imagination geht auch in diesem Fall über die bisherigen Erfahrun-
gen und die eingeholten Informationen hinaus, sie enthält auch in
diesem Fall einen imaginativen Überschuss. Das bedeutet für das
Wollen, dass die Gefahr besteht, auf etwas als angenehm Vorgestell-
tes zu gehen, das sich dann als nicht angenehm – oder als weniger
angenehm – entpuppt. Sollte es so kommen, läge wiederum ein »mis-

15 Vgl. D. T. Gilbert / T. D. Wilson: Miswanting. Some Problems in the Fore-


casting of Future Affective States, in: J. P. Forgas (ed.): Feeling and Thinking.
The Role of Affect in Social Cognition (Cambridge 2000) 178–197.

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§ 7 Vernunft und Wollen 179

wanting« vor, erneut auf Grund eines kognitiven Defizits im Vorfeld


des Wollens, das in diesem Fall aber unvermeidlich wäre.
Es kann auch sein, dass das Wollen nicht deshalb fehlgerichtet ist,
weil man zu wenig über seinen Gegenstand weiß, sondern weil man
zu wenig über sich weiß. Man kennt sich und seine Dispositionen
nicht gut genug und kann deshalb nicht genau genug antizipieren,
was einem angenehm und unangenehm sein wird. Auch aus diesem
Grunde kann man etwas Zukünftiges fälschlich als angenehm ima-
ginieren. Es kommt dann wiederum durch das kognitive Defizit im
Vorfeld des Wollens zu einem »miswanting«.
Es gibt, das zeigen diese Überlegungen, eine Dependenz des Wol-
lens und seiner Ausrichtung von kognitiven Elementen. Ob man
mehr oder weniger weiß, hat eine Wirkung darauf, was man als an-
genehm imaginiert, und damit indirekt auch auf das Wollen. Wenn
man hier von »Vernunft« – im Sinne von Wissen und Erkennen –
sprechen will, kann man sagen, dass die Vernunft auf diesem indirek-
ten Weg Einfluss auf das Wollen hat. Damit ist indes nicht gemeint,
dass sie das Wollen in irgendeinem Sinne steuert. Man erkennt und
induziert vielmehr, wie etwas ist und wie etwas sein wird, und das
hat Konsequenzen für die Imagination des zukünftigen Angeneh-
men und somit für das Wollen.
Man kann hier einhaken und darauf hinweisen, dass, Entwick-
lungshelfer zu werden, in den allermeisten Fällen nur ein extrinsi-
sches Wollen sein dürfte. Man will es, weil man etwas anderes will:
Man will anderen Menschen helfen, die Welt verbessern, neue Er-
fahrungen in anderen Teilen der Welt machen. Bei diesen allgemei-
neren, intrinsischen Wünschen scheint es, so der Einwurf, weniger
wahrscheinlich zu sein, dass sich im Vorfeld kognitive Defizite fin-
den. Sie scheinen in dieser Hinsicht weniger anfällig zu sein. Der
Wunsch, die Welt zu verbessern, ist nicht so wie der konkretere
Wunsch, Entwicklungshelfer zu werden, von Informationen abhän-
gig. Und es könnte sein, dass das für das intrinsische Wollen generell
gilt. Ich glaube, dass diese Überlegung richtig ist. Aber auch wenn
kognitive Defizite beim intrinsischen Wollen weniger wahrschein-
lich sind, kann man seine bisherigen Erfahrungen in einem falschen
Licht sehen, man kann sie vorschnell und in eine falsche Richtung
verallgemeinern, und man kann sich selbst falsch einschätzen und
glauben, man werde etwas als angenehm empfinden, obwohl es nicht
so ist. Und es dürfte unstrittig sein, dass man sich einen Gegenstand
eines intrinsischen Wollens als sehr viel angenehmer oder als sehr

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180 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

viel weniger angenehm vorstellen kann, als er dann in Wirklichkeit


ist. So kann man sich in einer Lebenssituation, in der alles gegen ei-
nen läuft, man frustriert und voller Verdruss ist, mehr oder weniger
unbedacht und unter Ausblendung wichtiger Aspekte eine andere
Art des Lebens in den schönsten Farben als angenehm ausmalen und
die Veränderung sehr stark wollen. Wenn man sie dann realisiert,
kann sich herausstellen, dass das herbeigesehnte andere Leben längst
nicht so angenehm ist wie vorgestellt. Auch bei einem intrinsischen
Wollen kann es, so müssen wir also annehmen, kognitive Defizite ge-
ben, die eine Wirkung auf das Wollen haben und es in die Irre führen.
Die Dependenz des Wollens von seinem kognitiven und imagi-
nativen Vorfeld tritt besonders deutlich bei religiös fundierten Wün-
schen hervor. Die Wünsche, gottgefällig zu leben und die ewige Se-
ligkeit zu erlangen, sind offensichtlich von einem ganzen Ensem-
ble religiöser Vorstellungen abhängig. Für die, die glauben, in die-
sen Imaginationen werde etwas vorgestellt, was wirklich so ist, ist
das davon abhängige Wollen richtig ausgerichtet. Für die, die das
nicht glauben und meinen, es gebe keine Gründe, das Imaginierte
für wahr zu halten, ist das Wollen hingegen krass fehlgeleitet, ein
krasses »miswanting«. Wiederum infolge eines Defizits an Wissen
oder, vielleicht sagt man besser, infolge eines Defizits an rationaler
und epistemischer Kontrolle. Die, die die Dinge in dieser Weise se-
hen, könnten ihre Einschätzung auch so formulieren, dass sie sagen,
die Vorstellungen seien unbegründet und deshalb sei auch das auf
sie gestützte Wollen unbegründet. In diesem Sinn ist es, so zeigt sich,
offenbar doch möglich, auch in Bezug auf ein Wollen vom Unbe-
gründetsein zu sprechen.
Über ein Wollen in dieser Art zu sagen, es sei unbegründet, er-
scheint in der Tat ganz natürlich. Umso wichtiger ist es, sich genau
bewusst zu machen, was diese Redeweise trägt. Es gibt, so sei hy-
pothetisch unterstellt, keinen Grund für die vorgängigen religiösen
Vorstellungen. Der Grund, der hier fehlt, ist klarerweise ein theore-
tischer Grund: Es spricht nichts dafür, das Imaginierte für wahr zu
halten. Es geht darum, ob Annahmen darüber, wie die Welt beschaf-
fen ist, wahr sind oder nicht. Wenn wir ein Wollen »unbegründet«
nennen, weil die Imaginationen, von denen es abhängig ist, unbe-
gründet sind, trägt diese Redeweise also das Fehlen eines theoreti-
schen Grundes. Es fehlt ein Grund für die Imaginationen, und allein
dies führt dahin, auch das Wollen »unbegründet« zu nennen. Dass
das Unbegründetsein des Wollens nur eine abgeleitete Eigenschaft

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§ 7 Vernunft und Wollen 181

ist, zeigt sich auch daran, dass der Ort des Überlegens, des Für und
Wider nicht beim Wollen liegt, sondern bei den Imaginationen.
Man muss nun sehen, dass auch theoretische Gründe, wie alle
Gründe, wollensrelativ sind. Man kann nur einen Grund haben, et-
was für wahr oder nicht für wahr zu halten, wenn man mit seinen
Annahmen die Wahrheit treffen will, wenn es einem darum geht,
dass das, was man über die Welt annimmt, auch wirklich so ist. Ohne
dieses basale Wollen könnten wir gar keine Gründe für oder gegen
unsere Annahmen haben. Es ist also, wenn wir sagen, eine Imagina-
tion sei unbegründet, bereits ein Wollen im Spiel. Dies bedeutet, dass
auch die Charakterisierung des Wollens als unbegründet nur unter
Voraussetzung eines anderen Wollens möglich ist. Diese Charakte-
risierung kommt also bereits aus der Koordination zweier Wünsche:
Wenn man mit seinen Annahmen die Wahrheit treffen will, kann
man diese Imaginationen nicht haben, und dann kann man auch
dieses Wollen nicht haben. Nimmt man ein intrinsisches Wollen für
sich allein und bringt es noch nicht mit einem anderen Wollen zu-
sammen, ist es, so zeigt sich, nicht einmal möglich, zu sagen, es sei
in dem jetzt erörterten Sinn unbegründet.
Offensichtlich stellen sich diese Fragen nicht nur im Blick auf
religiöse Vorstellungen, sondern in Bezug auf alle Annahmen und
Imaginationen, von denen ein Wollen abhängt. Will man sagen, sie
seien unbegründet und deshalb auch das dependente Wollen, ist im-
mer schon ein zweites Wollen vorausgesetzt.
Es scheint, als gebe es noch andere Arten eines kognitiven De-
fizits als die bisher behandelten und als könne das Wollen deshalb
noch auf andere Weise fehlgehen. Man kann nicht nur zu wenig
über den Gegenstand des Wollens wissen, oder zu wenig über sich
selbst und darüber, was man als angenehm und unangenehm emp-
finden wird, man kann auch zu wenig über die Genese seines Wol-
lens wissen. Auch hierin liegt eine Quelle des »miswanting«. Stellen
wir uns vor, jemand wird von dem Wunsch bestimmt, zu arbeiten
und zu schaffen und zu schaffen. Nicht weil er dadurch zu etwas
kommen will, sondern intrinsisch. Sein halbes Leben hat er schon
so verbracht. Doch nach und nach dämmert ihm, dass er damit nur
seinen inzwischen längst verstorbenen Vater kopiert und ihm damit
offenbar schon von früh an imponieren wollte. Ein untergründiger,
verdeckter Wunsch hat ihn bestimmt und dazu bewegt, permanent
zu arbeiten. Dieser Wunsch ist durch den Tod des Vaters schon lange
gegenstandslos geworden, und deshalb hängt auch der Wunsch, im-

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182 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

merzu zu arbeiten, in der Luft. Er hat seine Basis verloren. Wenn die
Person sich dessen bewusst wird, wird dieser Wunsch verschwinden
oder sich zumindest verändern. Auch in diesem Fall hat das kogni-
tive Defizit die Konsequenz, dass man einen Wunsch hat, den man,
wüsste man mehr, nicht hätte, zumindest nicht in der Weise.
Das Besondere dieses Falles liegt darin, dass das kognitive Defizit
ein verborgenes Wollen betrifft. Der Mann ist sich dieses untergrün-
digen Wunsches zunächst nicht bewusst, und er weiß deshalb nicht,
dass sein anscheinend intrinsischer Wunsch, ohne Unterlass zu ar-
beiten, in Wahrheit einen extrinsischen Charakter hat. Tatsächlich
will er dies, weil er etwas anderes will, nämlich seinem Vater gefallen.
Und da dieser andere Wunsch durch den Tod des Vaters obsolet ge-
worden ist, wird auch der dependente Wunsch obsolet. Wir haben es
also wiederum bereits mit der Koordination zweier Wünsche zu tun,
die allerdings zunächst durch ein kognitives Defizit, durch den Um-
stand, dass einer der Wünsche gar nicht bewusst ist, blockiert wird.
Betrachten wir noch einen anderen interessanten Fall. Ein Teil
unseres Wollens ist, wie wir sahen, genetisch auf bestimmte Ge-
genstände fixiert. Diese Programmierung, vor vielen Jahrtausenden
entstanden, hat sich, so könnte man denken, teilweise überlebt. Wir
leben nicht mehr in den Savannen Afrikas. Überlebt hat sich, so die
Idee, zum Beispiel unser Streben nach sozialem Status. Man könne
heutzutage auch ohne besonderen sozialen Status seine Existenz si-
chern und, wenn man will, viele Kinder haben. Für ein Leben in der
heutigen Welt liege folglich eine Fehlsteuerung des Wollens vor, also
ein »miswanting«.16 Ich unterstelle einmal, diese Diagnose sei richtig.
In diesem Fall würde der kognitive Zugewinn allerdings nicht dazu
führen, dass das fehlgerichtete Wollen verschwindet. Das Streben
nach sozialer Anerkennung und sozialem Status ist zu tief verwur-
zelt, als dass es gelingen könnte, es auf Grund dieser Einsicht ab-
zuwerfen. Die Annahme, dass ein »miswanting« vorliegt, bewirkt
etwas anderes: Man empfindet das Wollen als etwas Fremdes, man
will sich von einem solchen anachronistischen Wollen möglichst
nicht bestimmen lassen. Es betritt also erneut ein zweites, in diesem
Fall höherstufiges Wollen die Bühne, und es entsteht ein Konflikt
im Wollen. Wir bewegen uns also wiederum bereits im Feld der
Koordination mehrerer Wünsche. Und der Beitrag der Kognition

16 Diese These vertritt W. B. Irvine: A Guide to the Good Life (Oxford 2009)
235 ff.

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§ 7 Vernunft und Wollen 183

liegt allein darin, durch das Freilegen einer Eigenschaft des Wollens
diesen Konflikt ermöglicht zu haben. Solange das Streben nach so-
zialem Status nicht als »miswanting« gesehen wird, kommt es nicht
zu diesem Konflikt im Wollen.
Mir scheint, dass an diesem Beispiel etwas deutlich wird, das auch
für andere Fälle gilt und generell wichtig ist. Man kann erkennen,
dass ein Wollen eine bestimmte Eigenschaft hat: es ist einem nur von
anderen eingeimpft, es ist moralisch problematisch, es ist patholo-
gisch, es ist zwanghaft. Aber nur wenn man will, dass das eigene
Handeln nicht durch ein derartiges Wollen bestimmt wird, kommt
es zu einer Relativierung dieses Wollens. Nicht die Kognition führt
zu dieser Relativierung, sondern ein anderes, gegenläufiges Wollen.
Die Kognition legt nur etwas frei, und das ist dann die Vorausset-
zung dafür, dass ein anderes Wollen die Szenerie betritt und es zu
einem Konflikt der Wünsche kommt.
Wenn ich jetzt auf die verschiedenen Fälle, in denen ein kogniti-
ves Defizit im Vorfeld eines Wollens eine Rolle spielt, zurückblicke,
kann ich Folgendes festhalten. Das hedonische Wollen ist immer da-
von abhängig, dass die vorausgehende Imagination des Angenehmen
kognitiv hinreichend abgestützt ist und deshalb das, was man als an-
genehm imaginiert, auch wirklich angenehm sein wird. Das ändert
aber nichts daran, dass dieses Wollen auf das Angenehme geht. Das
ist seine von der Natur fixierte Ausrichtung. Die Kognition ändert
daran nichts und sie fügt dem nichts hinzu. Sie hat, durch ihr Mehr
oder Weniger, allein einen Einfluss darauf, was als angenehm vor-
gestellt wird.
In den Fällen, in denen ein kognitives Defizit über die Genese
des Wollens oder über eine seiner Eigenschaften vorliegt, kann das
Defizit eine Dependenz des Wollens von einem anderen Wollen ver-
decken, oder einen Konflikt im Wollen blockieren, der, wüsste man
mehr, entstünde. Das Wollen wird dann durch das Defizit gleichsam
künstlich in einer isolierten Position gehalten. Wüsste man mehr,
käme eine Beziehung zu einem anderen Wollen zutage. Und das
würde das Wollen zum Verschwinden bringen oder aber in eine
Konkurrenz zu einem anderen Wollen stellen. In diesen Fällen geht
es bereits um die Koordination des Wollens und eine Leistung, die
die Kognition dafür erbringt, nicht um ihren Einfluss auf ein ein-
zelnes intrinsisches Wollen. Der eigentliche Einfluss der Kognition
– oder der Vernunft – auf das Wollen über dem Strich scheint also
im Feld des hedonischen Wollens zu liegen. Hier geht es, wie gesagt,

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184 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

darum, dass die Imagination des Angenehmseins jeweils ausreichend


kognitiv abgestützt ist.
Festzuhalten ist auch, dass es durchaus sinnvoll sein kann, ein
Wollen »unbegründet« zu nennen. Eine solche Charakterisierung
ist allerdings nur »geliehen«: Ein Wollen ist deswegen unbegründet,
weil die Imagination, von der sie abhängt, unbegründet ist.

4. Zusammenfassung, ontologische Fragen und die Idee einer


kategorischen Bestimmung des Wollens durch die Vernunft

Ich habe zu Beginn dieses Kapitels drei einflussreiche Vorstellungen


über die Bestimmung des menschlichen Wollens angeführt, die in
Konkurrenz stehen zu dem, was ich über die Ausrichtung des Wol-
lens und darüber, wie es zu ihr kommt, entwickelt habe. Alle drei
Vorstellungen sind falsch, und das Ziel dieses Kapitels war es, dieses
Urteil zu begründen. Die erste besagte, es gebe neben dem Angeneh-
men und Unangenehmen noch andere Attraktoren und Repulsoren
des intrinsischen Wollens, nämlich das Gute und das Schlechte. Das
erwies sich als falsch, weil es dieses – notwendigerweise wollens­
unabhängige – Gut- und Schlechtsein nicht gibt. Die Wirklichkeit,
wie sie unabhängig von uns (und dem Geist anderer Lebewesen)
ist, enthält nichts Gutes und Schlechtes, sie enthält weder evalua-
tive noch normative Elemente. Sie enthält überhaupt nichts, was das
Wollen auf sich zieht oder es abstößt. In Wirklichkeit ist das Gutsein
von etwas immer wollensrelativ und deshalb nicht Teil der von uns
unabhängigen Welt.
Die zweite alternative Vorstellung nahm an, dass das Wollen, oder
zumindest ein Teil des Wollens, zwar von dem Angenehmen attra-
hiert werde, dass aber ein Spielraum bestehe, in dem man überlegen
und entscheiden könne, ob das Wollen dem Angenehmen folgen
soll oder nicht. Diese Idee erwies sich als falsch, weil das Wollen
dem Angenehmen automatisch folgt und deshalb kein Platz für eine
Überlegung ist. Die Beziehung zwischen dem Wollen und dem An-
genehmen ist eine kausale, nicht eine normative.
Die Kernidee der dritten Konzeption war, dass es Gründe fürs
Wollen gebe und die Vernunft das Wollen im Blick auf diese Gründe
aktiv steuern und ausrichten könne. Auch diese Idee scheitert. Denn
dem intrinsischen Wollen über dem Strich können, wie gezeigt,
keine Gründe vorausgehen. Diese Gründe müssten wiederum wol-

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§ 7 Vernunft und Wollen 185

lensunabhängig sein. Aber solche – externen – Gründe gibt es nicht.


Die objektive Wirklichkeit, unabhängig von unserem Geist, enthält
keine Gründe, genauso wenig wie evaluative Phänomene. Gründe
sind etwas, was für uns Bedeutung hat, was für uns wichtig ist und
uns deshalb nötigt und motiviert, etwas zu tun. Die von uns un-
abhängige Wirklichkeit ist in diesem Punkt indessen vollkommen
indifferent. Alles Wichtigsein kommt durch uns in die Welt, durch
unser Wollen. Und deshalb gehen nicht Gründe dem Wollen voraus,
sondern das Wollen den Gründen. Gründe kann es erst geben, wenn
es ein vorgängiges Wollen gibt. Es wird oft gesagt, Menschen seien
die Lebewesen, die Gründe kennen und ihr Verhalten durch Gründe
steuern können.17 Natürlich können sie das, aber diesen Gründen
geht ein Wollen voraus. Und wofür wir Gründe haben, hängt da-
von ab, worauf dieses vorgängige Wollen geht. Deshalb ist unser
Wollen das elementarere Phänomen, und deshalb ist es, wenn man
die Existenzform der Menschen verstehen will, so wichtig, sich klar
darüber zu werden, was die Ausrichtung ihres Wollens bestimmt
und worauf das Wollen geht.
Es mag überraschen, wie sehr in diesen kritischen Überlegun-
gen ontologische Fragen eine Rolle spielen und wie sehr Annah-
men darüber, was es gibt, darauf zurückschlagen, wie wir unseren
Geist und im Speziellen unser Wollen und die Art seiner Ausrich-
tung beschreiben und verstehen. Auf den ersten Blick ist das in der
Tat überraschend, auf den zweiten Blick ist es hingegen genau das,
was man erwarten muss. Denn die philosophische Tradition hat in
weiten Teilen angenommen, das Wollen werde durch dem mensch-
lichen Geist vorgängige, objektive evaluative oder normative Phä-
nomene in seiner Ausrichtung bestimmt. Wenn dies so ist, ist die
Einsicht, dass es kein objektives Gut- und Schlechtsein, keine ob-
jektiven Werte, keine objektiven Gründe gibt, dass vielmehr alles
Evaluative und Normative eine subjektive Ontologie hat, für die
Selbstbeschreibung und das Selbstverständnis der Menschen von
elementarer Bedeutung. Ein aufgeklärtes Verständnis unserer selbst
setzt, so zeigt sich damit, neben einer wissenschaftlich informier-
ten Haltung und sonstigen philosophischen Klärungen auch eine
Antwort auf die Frage voraus, was es gibt und was es nicht gibt.
Von entscheidender Bedeutung ist dabei, ob wir Gründe haben, die

17 Vgl. z. B. D. Parfit: On What Matters (Oxford 2011) vol. I, 31: »We are
the animals that can both understand and respond to reasons.«

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186 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Existenz überempirischer Phänomene anzunehmen. Ein ontologisch


objektives Gut- und Schlechtsein, objektive Werte und objektive
Gründe können nur überempirische (oder, wenn man dieses Wort
vorzieht: nicht-natürliche) Phänomene sein. Wir haben aber, so habe
ich gesagt, nicht einmal einen Hauch einer Vorstellung davon, von
welcher Art solche Phänomene sein könnten. Noch weniger haben
wir Gründe, anzunehmen, dass es sie wirklich gibt.
Lässt man die metaphysischen Annahmen über Überempirisches
fallen, ergibt sich ein anderes Verständnis des menschlichen Wollens
und seiner Determinanten. Was den Einfluss der Vernunft auf das
Wollen, auf das intrinsische Wollen über dem Strich, angeht, hat
sich ergeben, dass sie nur einen indirekten Einfluss hat. Er gründet
darin, dass ein Teil des menschlichen Wollens auf das als angenehm
Imaginierte geht und diese Imaginationen kognitiv defizient sein
können. Die Kognition kann zudem, eine zweite Leistung, Eigen-
schaften des Wollens freilegen mit der Folge, dass ein anderes, zwei-
tes Wollen ins Spiel kommt, das darauf zielt, sich von einem Wollen
mit der jetzt aufgedeckten Eigenschaft nicht oder möglichst wenig
bestimmen zu lassen.
Ein substantieller Einfluss der Vernunft auf das Wollen läge nur
dann vor, wenn sie aus sich heraus das Wollen auf bestimmte Ge-
genstände auszurichten vermöchte, und nicht nur, wie in den dis-
kutierten metaphysischen Theorien, den epistemischen Zugang zu
vorgängig evaluativ oder normativ ausgezeichneten Phänomenen er-
möglichte. Doch genau diese Fähigkeit, aus sich heraus das Wollen
zu bestimmen, hat sie nicht. Wie sollte sie auch, wenn ihre Funktion
darin liegt, zu erkennen, wie etwas ist, und im Überlegen proble-
matische Situationen zu analysieren und in ihren relevanten Zügen
freizulegen? Kant hat allerdings angenommen, die Vernunft habe
aus sich heraus diese wollensbestimmende Potenz. Kant lehnte alle
metaphysischen Vorstellungen über die Objekte des Wollens ab. Die
Vernunft bestimmt das Wollen nicht dadurch, dass sie erkennt, was
das objektiv Gute und Schlechte ist. Sie bestimmt das Wollen, zu-
mindest bei den Menschen, in Form von Imperativen, also in Form
von Vernunftgeboten: Man muss vernünftigerweise dieses oder je-
nes wollen. Es gibt zwei Arten dieser Gebote, hypothetische und
kategorische. Ein hypothetischer Imperativ gebietet, etwas zu wol-
len, wenn man etwas anderes will. Und es ist klar, dass es in diesem
Fall nicht um die Ausrichtung eines intrinsischen Wollens geht. Ein
kategorisches Vernunftgebot enthält hingegen keinen Bezug auf ein

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§ 7 Vernunft und Wollen 187

anderes Wollen. Es bestimmt das Wollen, wie Kant sagt, »für sich
selbst«, »nicht im Dienste der Neigungen«.18 Deshalb ist die Idee
eines solchen Gebots, wenn es um das intrinsische Wollen geht, von
Interesse. Ein kategorischer Imperativ gebietet nun nicht, dass das
Wollen auf bestimmte Gegenstände geht, sondern dass es eine be-
stimmte Form hat. Man muss etwas auf eine bestimmte Weise wollen,
nämlich so, dass das Wollen von einem speziellen anderen Wollen
begleitet werden kann. Formt man sein Wollen in dieser Weise, ist
man, so ergibt sich überraschenderweise, davor gefeit, etwas Unmo-
ralisches zu wollen. Es ist hier nicht nötig, zu erläutern, wie diese
formale Bestimmung des Wollens genau aussieht und wie an dieser
Stelle die Moral hineinkommt. Denn der entscheidende Punkt liegt
woanders. Er liegt darin, dass dieses Müssen: das Wollen muss eine
bestimmte Form haben, ein kategorisches, das heißt wollensirrelati-
ves Müssen ist. Man muss sein Wollen nicht in eine bestimmte Form
bringen, um dadurch etwas zu erreichen, was man will, man muss
es einfachhin, man muss es, Punkt. Und die Frage ist dann, was ein
solches kategorisches Müssen konstituiert, wie ein solches Müssen
in die Welt kommt. Tatsächlich gibt es ein solches Müssen nicht,
dieses Müssen ist nur eine Erfindung. Jedes normative Müssen ist
auf ein Wollen relativ. Wir können uns die Idee eines kategorischen
Müssens in Wahrheit nicht einmal verständlich machen.19 Und es
ist unschwer zu sehen, dass Kant mit seinem Versuch, diese Idee zu
plausibilisieren, gescheitert ist. Er nahm an, die Vernunft könne in
einem höheren Reich der Dinge an sich, in einer, wie er selbst sagt,
»intelligiblen Welt« solche Vernunftgebote kreieren.20 Aber es bleibt

18 I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788), AA V, 24 f.


19 Vgl. hierzu genauer Vf., Handeln zugunsten anderer (Berlin 2000) 63–66
und Normativität, § 4.
20 I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 457. – Es ist
hier keineswegs mehr klar, wovon Kant spricht, wenn er »Vernunft« sagt.
Wohin sich seine Spekulationen bewegen, zumindest auch bewegen, zeigen
spätere Äußerungen im Opus postumum. »Gott«, so schreibt Kant, »ist das
Subject des categorischen Imperativs der Pflichten …« Dabei denkt er aller-
dings nicht an einen Gott außerhalb von uns, sondern an einen Gott in uns:
»Dieses gebietende Wesen ist nicht außer dem Menschen als vom Menschen
unterschiedene Substanz …« Und: »Gott kann nur in uns gesucht werden.«
(Opus postumum, 1. Hälfte, AA XXI, 22, 21, 150). »Es ist«, so heißt es auch,
»ein Gott in der Seele des Menschen.« (Opus postumum, 2. Hälfte, AA XXII,
120). – Vgl. zu diesen Zusammenhängen bei Kant R. Enskat: Religion trotz
Aufklärung?, in: C. Bickmann et al. (Hg.): Religion und Philosophie im Wi-
derstreit? (Nordhausen 2008) 45–102, 92 ff., 96–99.

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188 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

völlig unklar, wie das gehen soll, und es bleibt völlig unklar, warum
wir eine solche dualistische Metaphysik in der Tradition Platons
akzeptieren sollten. Wir können deshalb die in gewisser Weise in-
geniöse Idee einer nicht materialen, sondern formalen Bestimmung
des Wollens durch die Vernunft beiseite lassen. Sie operiert mit Fik-
tionen und hilft uns deshalb nicht, zu verstehen, wie die Menschen
sind und wie es zu der Ausrichtung ihres Wollens kommt.
Man muss sich also auf beiden Seiten vor metaphysischen Annah-
men hüten, auf der Gegenstandsseite: es gibt kein wollensunabhängi-
ges, ontologisch objektives Gut- und Schlechtsein, und es gibt keine
wollensunabhängigen, externen Gründe, und auf der Subjektseite:
es gibt keine »reine« Vernunft, die aus sich heraus das Wollen auf
Ziele auszurichten vermöchte. Es ist eine alte und wiederkehrende
Hoffnung der Philosophen, es gebe letzte Ziele für das menschliche
Wollen, die sich allein den Forderungen der Vernunft verdanken.
Aber das ist nur ein Wunschbild ohne Realität. In Wahrheit ist die
Vernunft motivational impotent. Ihre biologische Funktion liegt da-
rin, uns die Welt zu zeigen, wie sie ist, und dies im Dienste unseres
Wollens. Das schließt nicht aus, dass die Fähigkeit, zu erkennen, sich
partiell aus dem praktischen Kontext löst und sich eine theoretische
Neugierde ohne praktische Absichten entwickelt.
Diese Überlegungen beinhalten die Einsicht, dass es einen Kon-
flikt zwischen einem intrinsischen Wollen über dem Strich und der
Vernunft gar nicht geben kann. Wenn jemand etwas will, kann es
nicht sein, dass die Vernunft verbietet, dies zu wollen. Genauso wie
es nicht sein kann, dass die Vernunft ein bestimmtes Wollen gebietet.
Die Vernunft ist nicht die Herrscherin, die über das Wollen befindet
und es zum Gegenstand ihrer Gebote und Verbote macht. Einen
Konflikt kann es tatsächlich nur zwischen einem Wollen und einem
anderen Wollen geben.
Es ist, mit anderen Worten, nicht die Vernunft, die die menschli-
che Antriebsstruktur von der anderer Lebewesen abhebt. Es ist, wie
wir sahen, vielmehr die Imagination, die die motivationale Struktur
der Menschen vollkommen verändert. Das menschliche Zukunfts-
bewusstsein und die mit ihr entstehende unendliche Imaginations-
fähigkeit ermöglichen Imaginationen des Angenehmen und Unan-
genehmen, wie sie keinen anderen Lebewesen möglich sind. Und
damit entstehen Attraktions- und Repulsionspunkte für das Wollen,
die allein die Menschen kennen.

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens

Die Auffassung, die in den zurückliegenden Kapiteln über die De-


terminanten und die Ausrichtung des menschlichen Wollens ent-
faltet wurde, könnte als zutiefst beunruhigend empfunden werden.
Durch sie werde, so vielleicht das Gefühl, unser Selbstverständ-
nis als aktive und selbstbestimmte Wesen bedroht. Wenn man auf
Grund seiner genetischen Ausstattung nicht anders kann, als be-
stimmte festgeschriebene Dinge zu wollen, wenn man nicht anders
kann, als das Angenehme zu wollen und das Unangenehme nicht
zu wollen, wenn die Vernunft keinen substantiellen Einfluss auf die
Ausrichtung des intrinsischen Wollens über dem Strich hat, und
wenn es hinter dem intrinsischen Wollen keine Gründe für dieses
Wollen gibt, – dann scheinen wir in unserem Wollen in einer Weise
festgelegt zu sein, die die Vorstellung, dass wir unser Leben aktiv
steuern, wir selbst es sind, die ihm seine Richtung geben, ins Wan-
ken bringt.
Die Angst der Menschen vor einem Bild von sich selbst, nach dem
sie als zu wenig selbstbestimmt erscheinen und als zu sehr von Kon-
tingenzen und bloßen Gegebenheiten bestimmt, gehört von Beginn
an zu den stärksten Antriebskräften der europäischen Philosophie.
Sind die Menschen nur Hamster in einem Laufrad, unablässig Ziele
verfolgend, die ihnen vorgegeben sind und die sie nicht selbst ge-
wählt haben? Um ein solches Selbstbild abzuwehren, entwickelte
die traditionelle Theorie des Wollens zwei komplementäre Theo-
riestücke: Zum einen nahm man an, die Menschen könnten sehr
wohl aus sich heraus aktiv das Wollen bestimmen, zumindest zum
Teil, nämlich durch die Vernunft. Und zum andern wertete man das
nicht in dieser Weise selbstbestimmte Wollen ab und deutete es als
etwas, was dem eigentlichen Ich fremd und äußerlich ist, was nicht
zum wahren Selbst gehört, sich vielmehr wie ein Eindringling von
außen widerrechtlich Einfluss zu verschaffen versucht.
Wir haben gesehen, dass die Vorstellung, die Vernunft könne das
Wollen bestimmen, entweder indem sie erkennt, was objektiv gut ist,
oder aber aus eigenen Ressourcen, nicht zu halten ist. Wir müssen
diese Idee vollständig aufgeben. Wie aber sieht es mit dem anderen
Teil der traditionellen Strategie aus, mit der Enteignung und der Ab-
wertung des Wollens? Diese Idee ist in verschiedenen Formen ent-
wickelt und verteidigt worden und wird es bis heute mit ungebro-
chener Energie. Man begegnet ihr bereits in Platons Phaidon. Die

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190 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

menschliche Seele, so sagt Sokrates hier, soll sich vom Wollen und
Begehren, das die Natur in uns eingepflanzt hat, losmachen. Wer
das nicht tut, lebt in »einem Gefängnis des Wollens«, seine Seele
ist durch diese Wünsche »gefesselt«.1 In diesen Äußerungen finden
sich wesentliche Motive, die sich bis zum heutigen Tag durch die
Diskussion ziehen: das Unterjochtsein durch die Wünsche und der
Freiheitsverlust, der eintritt, wenn man sich von ihnen bestimmen
lässt. Kant steht sehr deutlich in dieser Tradition, und er hat sie
weiter verstärkt. Er vertritt, ganz wie der Sokrates des Phaidon, die
extreme Position, es müsse der Wunsch eines jeden vernünftigen
Wesens sein, von allen »Neigungen« »gänzlich … frei zu sein.«2 Die
Menschen haben ihre Neigungen, das, was sie wollen, nicht frei ge-
wählt, sie verantworten ihre »Neigungen und Antriebe« nicht und
schreiben sie deshalb nicht ihrem »eigentlichen Selbst« zu.3 Sich von
ihnen bestimmen zu lassen, bedeutet, unfrei zu handeln, und es be-
deutet zudem, auf die Lebensweise der Tiere herabzusinken.4 Ganz
auf dieser Linie sagt Kant in einer seiner Anthropologievorlesungen,
es sei »kein Glück Neigungen zu haben.«5 Und in einer anderen die-
ser Vorlesungen heißt es, »etwas zu begehren, ist schon eine Krank-
heit der Seele.«6 Neigungen sind, so sagt Kant auch, »knechtisch«7,
sie sind »Feinde der Freiheit« und »setzen uns in Sklaverei.«8 Diese
gleichförmigen Aussagen sind bei Platon wie bei Kant Teil einer
Theorie, nach der das »eigentliche Selbst« der Menschen außerhalb
der empirischen Welt und ihrer Gesetze steht. Diese Theorien sind,
es ist kaum nötig, das explizit zu sagen, durch und durch metaphy-
sisch. Dennoch haben sie, wie wir sehen werden, bis in die Gegen-
wart hinein tiefe Spuren hinterlassen.

1 Platon: Phaidon 82e–83d.


2 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 428. So auch Kri-
tik der praktischen Vernunft, AA V, 118.
3 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 457 f.
4 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 802.
5 I. Kant: Vorlesungen über Anthropologie, Mrongovius (1784/85) (Nach-
schrift), AA XXV/2, 1339.
6 I. Kant: Vorlesungen über Anthropologie, Friedländer (1775/76) (Nach-
schrift), AA XXV/1, 583.
7 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 118.
8 I. Kant: Vorlesungen über Anthropologie, Collins (1772/73) (Nachschrift),
AA XXV/1, 208.

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 191

Angesichts der jetzt zumindest angedeuteten Tradition der Ab-


wertung und Enteignung des Wollens und angesichts der ihr zugrun-
deliegenden Befürchtungen und Depotenzierungsängste möchte ich
in diesem Kapitel einige für diese Thematik wesentliche Eigenschaf-
ten des Wollens untersuchen. Im Kern geht es dabei um die Zugehö-
rigkeit des Wollens zu uns selbst. Sie wird gegen eine Reihe basaler,
miteinander vernetzter Irrtümer verteidigt. – Es ist erneut wichtig,
sich daran zu erinnern, dass es in diesem Teil der Untersuchung
­allein um das intrinsische Wollen über dem Strich geht.

1. Die Aktivität der Imagination

Vergegenwärtigen wir uns zunächst noch einmal, was schon über die
einerseits fixen und andererseits flexiblen Elemente im menschlichen
Wollen gesagt wurde, über die Elemente also, die nicht in unserer
Hand liegen, und die, die in unserer Hand liegen. Es liegt nicht in
unserer Hand, auf welche Gegenstände das eingerammte Wollen
geht. Es liegt nicht in unserer Hand, dass das hedonische Wollen
auf das Angenehme und Unangenehme geht. Und es liegt auch nicht
in unserer Hand, was uns wollensunabhängig angenehm und un-
angenehm ist. In unserer Hand liegt hingegen, ausgehend von den
originären Motivatoren, das intrinsische Wollen weit über diesen
Rahmen hinaus zu entfalten und in die verschiedensten Richtungen
auszufächern. Die Menschen können zum Beispiel von sich und
anderen moralische Verlässlichkeit wollen, sie können ein entspre-
chendes Verhalten und eine entsprechende charakterliche Disposi-
tion zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Selbstbildes und zum
Kriterium eines guten Lebens machen. Sie können Gewalt­losig­keit,
Gleichheit und die Etablierung von Menschenrechten wollen. Sie
können gottgefällig leben wollen und ein jenseitiges Leben nach
dem Tod anstreben. All dies – und tausend anderes – können sie
wollen, und nichts davon ist genetisch festgeschrieben. Wie es zu
dieser Ausgestaltung des Wollens kommt und in welche Richtungen
sie gehen kann, wurde oben (in § 6) beschrieben. Der entscheidende
Treibsatz dieser Entwicklung ist die menschliche Imaginationskraft.
Wenn man die Imagination nicht kontrolliert, kann, so wurde gesagt,
praktisch alles zum Gegenstand des Wollens werden.
Die Imagination ist aber etwas, das bei uns liegt, es ist eine Akti-
vität, etwas, was wir tun. Und es scheint, als verfügten wir darin, in

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192 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

welchem Ausmaß wir es tun, wie wir es tun und dann auch mit wel-
chen Ergebnissen wir es tun, über deutliche Spielräume. Das zeigt
sich in verschiedener Weise:
(i) Angenommen, meine Frau bittet mich während eines Galerie-
besuchs, mir einmal vorzustellen, wie das Wolken-Bild gleich neben
dem Eingang in unserem Wohnzimmer wirken würde. Sie fordert
mich damit auf, etwas zu tun. Und es liegt bei mir, der Bitte nach-
zukommen oder ihr nicht nachzukommen. Vielleicht gefällt mir das
Bild von vorneherein nicht, deshalb stelle ich mir erst gar nicht vor,
wie es wäre, wenn es zuhause hinge. In diesem Fall liegt es offen-
sichtlich bei mir, ob ich überhaupt beginne, etwas zu imaginieren.
Und so ist es auch in sehr vielen anderen Fällen.
(ii) Ganz allgemein ist es so, dass wir in unserem Imaginieren
akti­ver und passiver sein können, energischer und weniger energisch,
phantasievoller und weniger phantasievoll, offener und weniger of-
fen. In alle Richtungen gibt es ein Mehr oder Weniger, und es liegt,
zumindest zum Teil, bei uns, wie wir uns verhalten. Unsere Imagi-
nationskraft kann sich zum Beispiel im Großen und Ganzen in den
gewohnten Bahnen des bisherigen Lebens bewegen. Auch inner-
halb dieses Rahmens gibt es sehr viele verschiedene Möglichkeiten
und Varianten. Wir können die Imagination aber auch über diese
Grenze hinausführen und sie auf weniger naheliegende Möglich-
keiten lenken. So kann jemand darüber sinnieren, wie es wäre, sein
bisheriges Leben aufzugeben und als Maler auf einer Südseeinsel zu
leben. Diese Imagination kann einen solchen Sog entwickeln, dass
der Wunsch, sein Leben in dieser Weise zu ändern, in der Konkur-
renz der Wünsche zu einem ernsthaften Faktor wird und möglicher-
weise sogar die Oberhand gewinnt, so dass der Betreffende schließ-
lich seine Familie verlässt und in das neue Leben aufbricht. Vielleicht
will man sagen, eine solche Ausweitung des Imaginationsfeldes liege
nicht immer in der Hand der betreffenden Person. So habe die Ima-
gination eines anderen Lebens doch sicherlich ihren Grund in großer
Unzufriedenheit mit dem jetzigen Leben. Diese Unzufriedenheit
treibe, ganz ohne das Zutun der Person, die Imagination des alter-
nativen Lebens hervor. Das mag im Einzelfall so sein, aber es ändert,
so meine ich, nichts daran, dass die Imagination eine Aktivität ist,
etwas, was wir tun, und dass wir darin, wie wir imaginieren und in
welche Richtung die Imagination geht, erhebliche Spielräume haben
oder haben können. Es gibt viele Arten, anders zu leben. Und bei
entsprechender Phantasie kann man sich sehr verschiedene Varian-

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 193

ten ausmalen. Unserer imaginativen Energie und Kreativität sind


hier wenig Grenzen gesetzt. Wir können den Imaginationsraum, in
dem wir bisher gelebt haben, im Übrigen sehr bewusst erweitern
und der Imagination neue Gebiete eröffnen, zum Beispiel indem
wir reisen oder über längere Zeit in einem anderen Kulturkreis leben.
(iii) Nehmen wir noch einmal an, jemand bildet – schlecht in-
formiert – den Wunsch aus, Entwicklungshelfer zu werden, und
er wird, als er ihn verwirklicht, schwer frustriert, weil er feststellen
muss, dass alles ganz anders ist als gedacht. Wer eine solche Erfah-
rung macht, wird sich vermutlich für die Zukunft vornehmen, sich
sorgfältiger zu informieren und seine Vorstellungen, wie etwas in
Zukunft sein wird, kognitiv besser abzustützen. Wir können uns
vor kognitiv ungedeckten oder riskanten Imaginationen hüten und
so etwas wie eine kognitive Kontrolle unserer Imaginationen prak-
tizieren. Entsprechende Regeln kommen offenbar aus dem eigenen
Wollen. Man will nicht, dass einen das, was man angestrebt hat und
für dessen Realisierung man möglicherweise viel investiert hat, frus-
triert und einem nicht das gibt, was man erwartet hatte. Und deshalb
entwickelt man Verfahren der kognitiven Kontrolle. Dabei gibt es
ohne Zweifel Spielräume. Man kann seine eigenen Imaginationen in
unterschiedlicher Art und in unterschiedlichem Ausmaß kontrollie-
ren und damit beeinflussen.
(iv) Man kann sich – ein weiterer Punkt – in seinen Imaginati-
onen in allen möglichen zukünftigen Gefahren verlieren, so in den
verschiedensten Krankheiten, die einem zustoßen könnten. Und
man kann sich dann durch eine Fülle von Vorsichtsmaßnahmen das
Leben verstellen. Ganz allgemein kann man eine Tendenz haben,
seine Aufmerksamkeit auf mögliche negative Umstände zu richten
und alles Positive abzublenden. Genauso wie man umgekehrt den
Blick ausschließlich auf das mögliche Positive und Günstige rich-
ten kann. Kant hat, wie bereits erwähnt, angesichts solcher Einsei-
tigkeiten in der imaginativen Aufmerksamkeit dafür plädiert, die
Einbildungskraft zu »moderieren«. Auch in dieser Hinsicht bedarf
es einer Kontrolle, damit die Aufmerksamkeit nicht allzu einseitig
nur auf bestimmte Aspekte des zukünftigen Lebens gerichtet ist.
Auch diese Moderation der Imagination setzt Spielräume voraus;
wir selbst können uns Regeln geben und durch sie das Wie der Ima-
gination beeinflussen.
Diese Überlegungen machen nicht nur deutlich, dass das Imagi-
nieren eine Aktivität ist, sondern auch, dass wir darin, wie wir das

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194 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

tun, über viele Möglichkeiten verfügen. Wir können die Tätigkeit


des Imaginierens in verschiedener Weise ausüben. Und davon, wie
wir das tun, hängt ab, was wir wollen.
Man kann dem entgegenhalten, man dürfe die aktiven Elemente
in der Imagination nicht übertreiben, es gebe auch Elemente, und gar
nicht wenige, die nicht in der Hand der jeweiligen Person liegen. Es
wurde schon gesagt, dass ein Unzufriedensein mit dem eigenen Le-
ben zur Imagination einer Veränderung führen könne. Die Imagina-
tion komme dann wie von selbst, ohne dass man sich das vornimmt
oder danach strebt. Man denke auch daran, dass manche Menschen
bestimmte Situationen als beängstigend imaginieren, während an-
dere derartige Situationen nicht mit Angst verbinden. So kann, wer
als Kind von einem Hund gebissen wurde, zukünftige Begegnun-
gen mit Hunden mit Angst assoziieren. Die Imagination wird dann
durch Faktoren mitbestimmt, die die jeweilige Person nicht in der
Hand hat. Man denke auch an Tagträume (um von richtigen Träu-
men abzusehen), in denen die Imaginationen einfach kommen, ziel-
los umherschweifen und ein Bild das nächste nach sich zieht und
eine ungesteuerte Folge von Assoziationen das Geschehen bestimmt.
Die Rede von der Aktivität scheint hier kaum noch zu passen.
Es gibt diese passiven Elemente ohne Zweifel. Und es ließen sich
noch weitere anführen. Dennoch scheint die Imagination überwie-
gend eine Aktivität zu sein, die bei uns liegt und auf die wir, mehr
oder weniger, Einfluss haben. Auch in den Fällen, in denen die Ima-
ginationen sich von selbst einstellen, in denen der Anfang der Imagi-
nation also nicht bei uns liegt, haben wir meistens dennoch Einfluss
auf ihren Verlauf und ihre Richtung. Die imaginative Kreativität
kann in diese Richtung gehen oder in eine ganz andere. Außerdem
kann man die Imaginationen forcieren, aber auch versuchen, sie zu
blockieren und beiseite zu schieben. Wichtig ist auch, auf eine wei-
tere Eigenschaft der Imagination hinzuweisen, die bisher noch nicht
zur Sprache kam. Eine Imagination ist immer auf Aufmerksamkeit
angewiesen. Es ist nicht möglich, etwas zu imaginieren und seine
Aufmerksamkeit gleichzeitig auf etwas anderes zu richten. Das Weg-
nehmen der Aufmerksamkeit bedeutet deshalb das Ende der Ima-
gination.9 Wenn ich mir eine Reise ausmale, ihre einzelnen Etappen
und die verschiedenen Unternehmungen, dann aber ein Kind ins
Zimmer kommt und meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die

9 Vgl. hierzu McGinn, Mindsight 26–29; dt. 36–39.

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 195

Imagination der Reise beendet. Man muss, so kann man auch sagen,
bei dem, was man imaginiert, »dabei« sein, und dieses Dabei-Sein
kann man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, jederzeit beenden,
indem man seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtet. Selbst
meine Tagträume kann ich jederzeit beenden, sie sind ganz davon ab-
hängig, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit bei ihnen bleibe. Auch
in dieser Weise haben wir also Einfluss auf unsere Vorstellungen.
Wittgenstein hat auf einem seiner »Zettel« notiert: »Der Begriff
des Vorstellens ist eher wie der eines Tuns, als eines Empfangens.
Das Vorstellen könnte man einen schöpferischen Akt nennen.«10 In
dem »eher« können wir die Anerkenntnis der passiven Elemente in
der Imagination sehen. Diese Anteile gibt es. Dennoch ist die Ima-
gination »eher« ein Tun, eine Aktivität, die bei uns liegt, und die
wir – mehr oder weniger – beeinflussen können.
Es gibt, so können wir jetzt festhalten, in Form der Imagination
aktive Elemente in der Ausrichtung des menschlichen Wollens. Die
Imagination ist eine Aktivität, etwas, was wir tun. Wir stellen uns
fortwährend neue Dinge als angenehm und unangenehm vor, so dass
das Wollen auf immer neue Gegenstände geht. Der größte Teil des
menschlichen Wollens ist also in seiner Ausrichtung nicht einfach
fixiert, sondern kombiniert flexible und festliegende Elemente. All
dies gilt, wie gesagt, für das intrinsische Wollen über dem Strich.
Dieses Wollen ist sehr deutlich durch Anteile bestimmt, die bei uns
liegen.
Die Tradition hat, wenn es um die aktive Beeinflussung des Wol-
lens geht, immer nur an eine mögliche Quelle dieser Aktivität ge-
dacht, nämlich an die Vernunft. Die Vernunft sei es, die aktiv die
Ausrichtung des Wollens bestimmt. Aber die Vernunft hat, wie ge-
zeigt, keinen substantiellen Einfluss auf das Wollen über dem Strich.
In Wahrheit ist nicht die Vernunft, sondern die Imagination das ak-
tive Element in der Formung des Wollens. Das im Prinzip unbe-
grenzte Zukunftsbewusstsein und die entsprechende Imaginations-
fähigkeit sind der Grund dafür, dass die Menschen im Unterschied
zu allen anderen Lebewesen einen aktiven Einfluss haben auf das,
was sie wollen.

10 L. Wittgenstein: Zettel, Nr. 637, in: L. W.: Werkausgabe, Bd. 8 (Frankfurt


1984) 424. – Wittgenstein nennt das Vorstellen auch eine »Willenshandlung«,
Vorstellungen seien »dem Willen unterworfen«. Vgl. Zettel, Nr. 627 und 621,
ebd. S. 422, 420.

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196 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

2. Passivität, Versklavtsein, Heteronomie

Die Einsicht in die aktiven Anteile in der Ausrichtung des Wollens


lässt erkennen, wie irreführend es ist, unsere Wünsche als »passions«
zu beschreiben, wie es Hobbes und Hume, einer langen Tradition
folgend, tun. Damit werden die aktiven Anteile im Wollen verkannt
oder zumindest verdeckt. Auch Kant versteht, was er Begierden und
Neigungen (das sind habituelle Begierden) nennt, als etwas Passives,
als etwas, was man erleidet, und dieses Verständnis des Wollens setzt
sich bis in die Gegenwartsphilosophie fort. Wir haben es hier mit
einer groben Fehlbeschreibung des tatsächlichen Phänomens zu tun.
Die Unterscheidung von »action« und »passion«, von aktiv und
passiv bezieht sich, das ist ihr eigentlicher Ort, auf Bewegungen.11
Wenn etwas durch etwas anderes, also von außen bewegt wird, han-
delt es sich um eine »passion«, eine passive Bewegung. So wenn
eine Billardkugel durch einen Stoß des Billardstocks bewegt wird.
Oder wenn ein Mensch – Aristoteles’ Beispiel12 – durch einen star-
ken Windstoß auf die andere Straßenseite befördert wird. Wenn der
Bewegungsimpuls hingegen aus einem selbst, von innen kommt, ist
die Bewegung eine »action«, eine aktive Bewegung. Es liegt auf der
Hand, dass ein Wollen weder das eine noch das andere ist. Ein Wol-
len ist keine Bewegung, sondern ein Zustand. Es ist ein motivatio­
naler Zustand, der eine Bewegung initiiert, aber nicht selbst eine
Bewegung ist. Das Wollen ist folglich weder etwas Aktives noch
etwas Passives in diesem Sinne.
Doch wie ist es zu einem Wollen gekommen? Wie ist man in
diesen Zustand gelangt? Durch eine passive Bewegung, durch eine
»passion«? Mein Wunsch, weiterzuleben, ist nicht durch einen Stoß
von außen entstanden. Ich bin nicht von außen in eine Bewegung
versetzt worden, die in diesem Zustand endet. Die Menschen ha-
ben dieses Wollen vielmehr auf Grund ihrer genetischen Ausstat-
tung. Dass ich dieses Wollen habe, ist ein Faktum, ein nicht durch
mich selbst geschaffenes Faktum, insofern etwas, was ich nicht in
der Hand habe. Aber das heißt nicht, dass ein Bewegungsimpuls
von außerhalb vorliegt. Es gibt keine äußere Instanz, die etwas in
mir bewirkt, was ich passiv erleide.

11 Vgl. hierzu besonders deutlich Locke, Essay, II, xxi, § 4, p. 235 f.


12 Aristoteles, Nikomachische Ethik, III, 1. 1109 b 35–1110 a 4.

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 197

Aber es wurde doch immer wieder gesagt, das hedonische Wol-


len werde vom Angenehmen attrahiert und vom Unangenehmen
repelliert. Durch Attraktion und Repulsion werden aber Dinge in
Bewegung versetzt. Also werde doch zumindest das hedonische
Wollen von außen bewegt, und dies sei etwas Passives. Man muss
sich an dieser Stelle bewusst machen, dass die Rede von Attraktion
und Repulsion metaphorisch ist. Die Metaphorik stammt aus der
Sphäre der Bewegungen und Kräfte. Deshalb suggeriert sie auch
die Vorstellung der Passivität. Der wirkliche Sachverhalt ist indes-
sen dieser: Der mentale Zustand, etwas angenehm zu finden, zieht
einen anderen mentalen Zustand, das Angenehme zu wollen, nach
sich. Das ist ein Automatismus, über den wir keine Kontrolle haben.
Wir funktionieren so. Die Rede von aktiv und passiv, von Stoß und
Gestoßen-Werden oder (wie bei einem Magnet) von Anziehung und
Angezogen-Werden passt hier offensichtlich nicht. Die Vorstellung,
dem Angenehmen eigne eine Kraft, durch die es das Wollen anzieht,
ist nur ein eingängiges Bild. Man kann es verwenden, muss sich aber
davor hüten, diese Metaphorik buchstäblich zu verstehen und sich
von ihr gefangen nehmen zu lassen.
Man kann die Rede von der Passivität so zu verteidigen versuchen,
dass man sagt, »passiv« werde, wenn man es als ein Bewegt-Werden
von außen verstehe, zu stark verstanden, man müsse es schwächer,
im Sinne von »ohne eigenes Zutun« verstehen. Das eingerammte
Wollen sei passiv und gehe auf passive Prozesse zurück, weil es ohne
unser Zutun dahin kommt, dass wir dieses Wollen haben. Und das
hedonische Wollen kenne neben den aktiven Anteilen eben Anteile,
die nicht in unserer Hand liegen und die in diesem Sinne passiv sind.
Wenn man »passiv« in diesem schwachen Sinne verstehe, könne man
an der Rede von der Passivität festhalten, und üblicherweise werde
das Wort wohl auch so verstanden.
Natürlich kann man »passiv« in dieser Weise verwenden. Ich
habe selbst in diesem Sinn von passiven Elementen in der Imagi-
nation gesprochen. Aber der ursprüngliche anschauliche Kontext
lässt sich nicht so einfach abstreifen. Das führt leicht dazu, dass sich
die stärkere Lesart doch immer wieder zur Geltung bringt. Man
rutscht wieder in sie hinein. Außerdem bildet die stärkere Lesart
den assoziativen Hintergrund für andere traditionelle Beschreibun-
gen des menschlichen Wollens. Das zeigt sich, wenn, wie so oft, ge-
sagt wird, das Wollen, sofern und soweit es nicht in unserer Hand
liegt, »versklave« uns. Die Neigungen »setzen uns in Sklaverei«, so

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198 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

sagt, wie schon gesehen, Kant.13 Und ganz auf dieser Linie spricht
er auch vom »Despotismus der Begierden«.14 Und ein zeitgenössi-
scher Autor, W. B. Irvine, schreibt im Blick auf die fixen Anteile im
Wollen, wir seien »like slaves who, because we have been slaves all
our lives, don’t think to ask what gives our master the right to or-
der us about.«15 Wer versklavt ist, muss tun, wozu ein anderer ihn
nötigt. Offenkundig liegt in dem Gedanken des Versklavtseins die
Vorstellung eines Akteurs von außerhalb, der auf uns einwirkt und
uns festlegt. Und diese Vorstellung wirkt umso überzeugender, je
mehr man sich das Wollen selbst als von außen bestimmt vorstellt.
Die Einwirkung des Wollens auf uns bedeutet gerade deshalb eine
Versklavung, weil das Wollen selbst von außen, durch eine uns äu-
ßerliche Macht verursacht und in seiner Ausrichtung bestimmt ist.
Der Gedanke des Versklavtseins forciert also die Vorstellung der
Passivität noch. Umso deutlicher verfehlt diese Beschreibung das
Phänomen. Sie führt zudem zu einem verzerrten Verständnis unse-
res Selbst wie auch zu falschen Reaktionen: Wenn wir versklavt sind,
müssen wir etwas dagegen tun, dann müssen wir uns gegen unsere
eigene Natur, dagegen, wie wir sind und wie unser Geist funktio-
niert, auflehnen. Es kommt hinzu, dass eine solche Beschreibung
der Dinge dualistische Vorstellungen nahelegt und befördert. Denn
wenn uns unsere eigene Natur versklavt, können wir uns davon nur
befreien, indem wir uns – oder unser »eigentliches Selbst« – aus der
Natur herauslösen und eine Position außerhalb, in einer intelligib-
len Welt, in einem Reich der Dinge an sich oder etwas Ähnlichem
beziehen. Die Möglichkeit einer solchen Position müssen wir dazu
aber zunächst herbeierfinden.
In Wahrheit versklavt uns unsere eigene Natur und unser eige-
nes Wollen nicht. Es gibt, das ist der tatsächliche Sachverhalt, in
unserem Wollen fixe Elemente, die nicht in unserer Hand liegen.
Sie resultieren aus unserer biologischen Ausstattung, mit anderen
Worten daraus, dass wir die Wesen sind, die wir sind. Und es ist ir-
reführend, so zu sprechen, als resultierten sie aus dem Wollen und
der Nötigung anderer Personen. Nirgendwo gibt es eine andere Per-
son, einen Zwang, eine Nötigung, eine Versklavung. Diese Asso-

13 Kant, Vorlesungen über Anthropologie, Collins, AA XXV/1, 208.


14 I. Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), AA V, 432.
15 Irvine, On Desire, 153 f. Auf S. 178 sagt Irvine, wir seien in den Händen
eines »Tyrannen«.

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 199

ziationen sind alle falsch und tendenziös. Sie stammen alle aus der
Sphäre zwischenmenschlicher Machtbeziehungen. Und sie sind alle
darauf angelegt, die Erfahrung der Unfreiheit zu evozieren, die wir
machen, wenn andere Menschen uns unsere Freiheit nehmen oder
sie einschränken. Dass Menschen einander nötigen, Dinge zu tun,
die sie von sich aus nicht tun würden, ist eine Sache. Eine ganz an-
dere Sache ist, dass es in der Ausrichtung unseres Wollens Faktoren
gibt, die von Natur aus festliegen und die deshalb nicht in unserer
Hand liegen.
Eng mit der Vorstellung des Versklavtseins verwandt ist die Idee,
unsere Instinkte, Begierden und Neigungen würden uns in einen
Zustand der Heteronomie versetzen. Es war wiederum Kant, der
diese Idee besonders wirkmächtig zur Geltung gebracht hat. Und sie
wirkt erneut umso überzeugender, je mehr man sich das Wollen sei-
nerseits als von außen verursacht, als etwas Fremdes, das von ­außen
in uns gelangt ist, vorstellt. Etwas außerhalb unserer selbst bewirkt
das Wollen und seine Ausrichtung, und eben deshalb ist seine Macht
über uns eine Form der Heteronomie. Heteronomie bedeutet, un-
ter dem Gesetz eines anderen zu stehen. Ein anderer, eine fremde
Macht bestimmt, was bei uns geschieht. Kant nahm an, dass sowohl
das instinkthafte Wollen, das nicht auf das Angenehme geht, wie
auch das hedonische, auf das Angenehme und Unangenehme gerich-
tete Wollen fremdbestimmt sind und uns deshalb fremd bestimmen.
Sehr sprechend sagt er zum Beispiel von den Instinkten, mit ihnen
folgten wir »einer fremden und eingedrückten Idee«.16 Eine fremde
Macht hat uns ihre Idee »eingedrückt«, und wir unterliegen diesem
äußeren Gesetz.
Es scheint, als sei diese Vorstellung der Heteronomie von vorne­
herein unplausibel. Wenn ich den Wunsch habe, in einem Haus am
See zu wohnen, weil ich mir das als angenehm vorstelle, erlebe ich
dieses Wollen nicht als etwas, worin ich fremdbestimmt bin. Ich
selbst bin es, der sich das Leben in einem solchen Haus als angenehm
vorstellt. Und ich selbst bin es, der deshalb in einem solchen Haus
leben möchte. Die Vorstellung der Heteronomie wirkt hier abwegig.
Mit ihr werden die Elemente in unserem Wollen, über die wir
nicht verfügen, erneut umgefälscht in etwas, was eine fremde Instanz
uns – zu Unrecht – antut. Dadurch erscheint das Wollen sogleich
als etwas uns Fremdes, als etwas uns nicht Zugehöriges, als etwas,

16 I. Kant: Reflexionen, AA XVIII, 419.

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200 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

von dem man sich möglichst nicht bestimmen lassen darf und von
dem man sich am besten ganz befreien würde. Die eigenen Antriebe
sind damit, ganz wie in Platons Phaidon, das Schlechte und Niedrige.
Und die Therapie kann, ganz platonisch, nur darin liegen, von sich
selbst, von seiner eigenen psychischen Konstitution loszukommen.
Vielleicht wird man einwenden, dass es sehr wohl Situationen
gebe, in denen man das Opfer oder der Sklave eines Wunsches sei.
So, wenn man immer wieder dem Wunsch nachgibt, ins Spielcasino
zu gehen, obwohl man sich schon tausendmal geschworen hat, es
nicht mehr zu tun. Der Wunsch, zu spielen, hat eine unwiderstehli-
che Macht. Die Rede vom Opfer, vom Sklaven, von einer fremden
Macht liegt an dieser Stelle nahe, sie passt sehr gut. – Ohne Zweifel
gibt es solche Fälle. Aber man muss sehen, dass der Einwand auf ein
anderes Feld wechselt und deshalb sein Ziel verfehlt. Das Problem
liegt nicht darin, dass der Betreffende ins Casino gehen will und da-
rin angeblich fremdbestimmt ist, das Problem ist, dass es ihm nicht
gelingt, diesen Wunsch mit seinen anderen Wünschen zu koordinie-
ren. Wenn er überlegt und die verschiedenen Wünsche, die er hat,
gegeneinander abwägt, steht unter dem Strich immer der Wunsch,
nicht ins Casino zu gehen. Die verheerenden Folgen der Casino-
Aufenthalte wiegen ungleich schwerer als das abendliche Vergnügen
am Spiel. Und dennoch geht er wieder. Das heißt, die Überlegung
vermag keinen Einfluss zu nehmen auf den Weg vom Wollen zur
Handlung. Stattdessen ist ein Automatismus entstanden, der sich
unabhängig von der Überlegung durchsetzt. Es geht in diesem Fall
also nicht um die Ausrichtung des Wollens, nicht darum, auf wel-
chen Gegenstand das Wollen geht, sondern um den Weg vom Wollen
zum Handeln. Und deshalb bringt der Einwand ein ganz anderes
Phänomen zur Sprache, ein Phänomen, das es über dem Strich noch
gar nicht geben kann, das vielmehr erst unter dem Strich, bei der
Umsetzung des Wollens ins Handeln, entstehen kann.
Wenn man die aktiven Elemente in der Ausrichtung des mensch-
lichen Wollens nicht sieht und es stattdessen als »passion« zu fassen
versucht, liegt darin auch bereits die Vorstellung, wir seien in un-
serem Wollen unfrei. Die Vorstellung der Passivität und dann auch
die der Versklavung und der Heteronomie implizieren die Annahme,
das Wollen über dem Strich sei unfrei. Es wird eben von außen, von
einer fremden Macht, der Natur und ihren Gesetzen, in seiner Aus-
richtung bestimmt. Häufig entsteht dann das Bild, das Wollen über
dem Strich sei passiv und unfrei, aber der Überlegens- und Auswahl-

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 201

prozess, der zum Wollen unter dem Strich führt, sei aktiv und frei.
Mir geht es angesichts dieser Diskussionen im Moment nur darum,
festzuhalten, dass bereits das Wollen über dem Strich wesentliche
aktive Anteile enthält. Was wir wollen, hängt in Teilen davon ab, in
welcher Weise, wie energisch, wie phantasievoll, wie unkonventio-
nell, wie informiert oder wie begrenzt, festgefahren, zögerlich und
unwissend wir zukünftige Geschehnisse und Umstände als ange-
nehm und unangenehm imaginieren. Die Imagination ist etwas, was
bei uns liegt, und eben deshalb auch etwas, wofür wir uns Maximen
und Regeln geben können. Wie diese Einsicht in die aktiven Anteile
im Wollen mit der anderen Einsicht, dass auch unser Wollen, das
über dem Strich genauso wie das unter dem Strich, Teil der kau-
salen Welt ist und dass die Naturgesetze nicht vor unserem Kopf
haltmachen, zu verbinden ist, ist an dieser Stelle nicht das Thema.
Gleichgültig wie die Antwort auf diese Frage ausfällt, die Einsicht,
dass aktive Anteile in die Formung des menschlichen Wollens über
dem Strich eingehen, bleibt in jedem Fall erhalten.17

3. Enteignung und Abwertung des Wollens

Die Vorstellung der Passivität des menschlichen Wollens ist, so habe


ich gesagt, irreführend. Und das alarmierende und zur Rebellion
aufrufende Vokabular: »Passivität!«, »Versklavung!«, »Heterono-
mie!« ist unangebracht. Was so anstößig und beunruhigend zu sein
scheint, erweist sich, untendenziös und ohne falsche Dramatisierung
beschrieben, als die schlichte Tatsache, dass wir nicht selbst festlegen,
dass das Wollen auf das Angenehme geht und ein anderer Teil des
Wollens auf bestimmte andere Gegenstände. Das scheint aber kein
Grund zur Beunruhigung und Auflehnung zu sein. Denn es ist eine
einfache Wahrheit des Lebens, dass wir nicht selbst unsere Konsti-
tution festlegen. Wir erfinden uns nicht selbst, legen nicht selbst fest,
wie wir funktionieren. Wir sind Lebewesen einer bestimmten Art.
Und wie Lebewesen dieser Art funktionieren, auch volitiv funktio­
nieren, liegt nicht bei uns, es ist das Ergebnis einer langen evolu­tio­
nären Geschichte.

17Vgl. hierzu die klugen Bemerkungen von Jacob Rosenthal: Handlungs-


wahl, Rationalität und moralische Verantwortung in ihrem Verhältnis zum
Determinismus (Habilitationsschrift, Bonn 2011) 70–77 sowie unten § 10.

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202 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Mit der Idee der Passivität des Wollens ist aufs engste die Vorstel-
lung verbunden, das Wollen sei etwas, was nicht eigentlich zu uns
gehört. Das Wollen wird uns auf diese Weise enteignet und zu et-
was bloß Äußerlichem abgewertet. Es ist etwas, das wie ein Fremd-
körper in uns hineingeraten ist und von dem man sich, wie Platon
und Kant gesagt haben, am liebsten ganz losmachen würde. Da das
nicht geht, muss man sich mit ihm notgedrungen arrangieren, es zum
Teil adoptieren und sich zu eigen machen und zum anderen Teil auf
Dauer expropriieren und auf Distanz halten. Auch hier haben wir
es, wie ich zeigen möchte, mit einer krassen Fehlbeschreibung des
menschlichen Wollens zu tun, die notwendigerweise ein falsches
Verständnis unserer selbst nach sich zieht.
Platon hat, wie wir sahen, schon die Idee entwickelt, das Wollen
und Begehren des Menschen sei nicht Teil seines wahren Selbst. Das
eigentliche Selbst ist die denkende und erkennende Seele. Und sie
entscheidet über den Einfluss des Wollens, sie sagt »ja« oder »nein«
und bestimmt, ob und wieweit das Wollen handlungsbestimmend
wird. Diese Vorstellung, dass das Wollen dem eigentlichen Selbst
fremd und äußerlich ist, hat die europäische Geschichte des Den-
kens und die Selbstinterpretation des Menschen tief beeinflusst. Das
eigene Selbst wird in dieser Sichtweise zerlegt in einen eigentlichen
Teil, das überlegende und kontrollierende Selbst, und in externe Um-
stände, die zwar noch Teil des Selbst, aber doch extern sind. Zu die-
sem externen, dazu gehörenden und doch nicht dazu gehörenden
Teil zählt das Wollen. Das Wollen ist, so schreibt Kant18, »ein fremder
Antrieb« in uns. Man muss also zwischen dem eigentlichen Selbst
und etwas in dem Selbst, zwischen »ich« und »etwas in mir« unter-
scheiden. Das Wollen gehört nicht zum Ich, es ist nur etwas in mir.
In dieser Tradition der Enteignung und Abwertung des Wollens
steht sehr deutlich auch Frankfurts Philosophie des Wollens. Alle
für diese Tradition typischen Elemente finden sich in ihr. Frankfurt
spricht über unser Wollen immer so, als schwimme es gleichsam
subjektlos in uns herum. Er spricht von »Kräften« (»forces«), die
zufälligerweise in uns auftauchen und in uns vorhanden sind, die
aber nicht die unsrigen sind.19 Natürlich schwingt darin die Vorstel-

18Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 444.


19Siehe Frankfurt, The Reasons of Love, 18; dt. 23; H. G. Frankfurt: The
Importance of What We Care about (1982), in: H. G. F.: The Importance of
What We Care about (Cambridge 1988) 80–94, 87; dt. Über die Bedeutsam-

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 203

lung der Passivität mit. Es wirken Kräfte auf uns ein, die von außen
kommen und denen wir ausgeliefert sind. Das Wollen ist etwas in
uns, wir sind indessen, wie bei einem Krampf20, nur der Ort, in dem
dieses Geschehen ohne unser Zutun stattfindet. Entsprechend heißt
es immer wieder, wir seien hinsichtlich unserer Wünsche bloß »by-
standers«, Dabei-Steher, die nur zuschauen, was, ohne ihre Beteili-
gung, geschieht.21 Frankfurt sagt auch häufig, das Wollen, das in uns
ist, sei für uns nur ein »psychisches Rohmaterial«, durch die Natur
und die Umstände gegeben, etwas, was da ist, zu dem man sich ver-
halten muss und aus dem man erst etwas machen muss.22
Angesichts dieser Beschreibung drängt sich die Frage auf, wie es
zu der Distanz zu unserem eigenen Wollen kommt. Wenn ich etwas
will, weil ich es mir angenehm vorstelle, wie kommt es dann zu die-
ser Distanz meinem eigenen Wollen gegenüber? Warum ist es nur
eine »Kraft«, die in mir wirkt, mit der ich aber, wie es scheint, nichts
zu tun habe? Für Frankfurt sind hier sicherlich die Suchtbeispiele
wichtig, die für die Entwicklung seiner Theorie so prägend waren.
In diesen Fällen scheint es so, als habe ein fremdes Wollen Macht
über einen und als sei man dazu verurteilt, dem hilflos zuzuschauen.
Doch tatsächlich können diese Beispiele die Vorstellung der Fremd-
heit des Wollens nicht stützen. Denn das Phänomen, um das es in
ihnen geht, kann es, wie erläutert, erst unter dem Strich, erst in der
Konkurrenz mehrerer Wünsche geben. Die Vorstellung, unser Wol-
len sei uns äußerlich und fremd, betrifft aber das Wollen über dem
Strich. Im Übrigen sind die Suchtbeispiele sehr besondere Beispiele.
Frankfurt entwickelt jedoch eine generelle Theorie des Wollens. Die
allermeisten unserer Wünsche zeigen nicht die typischen Spezifika

keit des Sich-Sorgens, in: H. G. F.: Freiheit und Selbstbestimmung (Berlin


2001) 98–115, 106 f.
20 H. G. Frankfurt: Identification and Wholeheartedness (1987), in: H. G. F.:
The Importance of What We Care about (Cambridge 1988) 159–176, 170;
dt. Identifikation und ungeteilter Wille, in: H. G. F.: Freiheit und Selbstbe-
stimmung (Berlin 2001) 116–137, 129; siehe auch Frankfurt, Taking Oursel-
ves Seriously, 9; dt. 23.
21 Frankfurt, The Reasons of Love, 20; dt. 25; Taking Ourselves Seriously, 8;
dt. 23.
22 H. G. Frankfurt: Autonomy, Necessity, and Love (1994), in: H. G. F.: Ne-
cessity, Volition, and Love (Cambridge 1999) 129–142, 137; dt. Autonomie,
Nötigung und Liebe, in: H. G. F.: Freiheit und Selbstbestimmung (Berlin
2001) 166–183, 177; Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 5 f., 7, 10; dt. 20,
22, 24.

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204 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

der Suchtfälle. Dennoch spricht Frankfurt von dieser grundsätzli-


chen inneren Distanz zu unserem Wollen. Warum? Er gibt auf diese
Frage eine Antwort, er spricht von »a more general lack of confi-
dence«, das wir unseren Wünschen gegenüber haben, einem allge-
meinen Mangel an Vertrauen.23 Uns fehlt das Vertrauen, dass wir mit
unseren Wünschen zufrieden sein können. Aber wieso? Wo kommt
dieser Zweifel her? Was ist der Anlass für diesen Zweifel? Das bleibt,
wie es scheint, unbeantwortet.
Wenn man das eigene Wollen in der Weise enteignet und als etwas
Fremdes und Äußeres beschreibt, wie es Frankfurt tut, braucht man
eine Vorstellung davon, wie das Wollen, oder ein Teil des Wollens,
in einem zweiten Schritt angeeignet werden kann. Die Enteignung
erfordert als ihr Gegenstück die Aneignung. Schließlich können sich
die Menschen nicht davon freimachen, dass sie Wesen sind, die etwas
wollen. Auch Frankfurt kennt, wie Platon und Kant, eine höhere
Instanz über dem Wollen, die das Wollen kontrolliert, prüft, »ja«
und »nein« sagt, also einen Teil des »Rohmaterials« akzeptiert und
einen anderen Teil verwirft und endgültig ausschließt. Allerdings ist
diese höhere Instanz bei Frankfurt, anders als in der Tradition, nicht
die Vernunft, sondern selbst volitiv. Es gibt, so nimmt Frankfurt an,
ein höheres Wollen, ein Wollen zweiter Stufe. Wenn man will, dass
ein Wollen erster Stufe einen bestimmt, wird dieses damit akzep-
tiert, es betritt damit gewissermaßen den inneren Bereich des Selbst
und »darf« das eigene Handeln bestimmen. Es ist dann nicht mehr
nur eine Kraft, sondern hat, wie Frankfurt metaphorisch sagt, auch
»Autorität«. Wenn man hingegen nicht will, dass ein Wollen erster
Stufe das Handeln bestimmt, wird dieses Wollen dadurch endgültig
»externalisiert«24, es bleibt eine Kraft außerhalb des eigenen Selbst.25
Man macht es damit zu einem »outlaw«.26 Es kann sein, dass man
sich dennoch seinem Einfluss nicht zu entziehen vermag, aber diese
Macht hat dann keine »Autorität« und keine »Legitimität«.27 Man

23 Frankfurt, Identification and Wholeheartedness, 169; dt. 128.


24 Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 10; dt. 25.
25 H. G. Frankfurt: Freedom of the Will and the Concept of a Person (1971),
in: H. G. F.: The Importance of What We Care about (Cambridge 1988) 11–
25, 18; dt. Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: H. G. F.: Freiheit
und Selbstbestimmung (Berlin 2001) 65–83, 74.
26 Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 10; dt. 24.
27 Frankfurt, Autonomy, Necessity, and Love, 137; dt. 177; Taking Oursel-
ves Seriously, 8; dt. 22.

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 205

ist dann ein »Opfer« seines Wollens28 und, auch dieses Element der
traditionellen Konzeption kehrt also bei Frankfurt wieder, durch
sein Wollen »versklavt«.29 Die Macht des Wollens ist dann die ei-
ner »Tyrannei«, die ohne Zustimmung des Betroffenen ihre Macht
durchsetzt.30 Man kann, das zeigt sich mit diesen Äußerungen, bei
Frankfurt zwei Arten, in denen uns das Wollen fremd ist, unterschei-
den: die grundsätzliche Fremdheit allen Wollens vor der Stellung-
nahme der höheren Instanz und die endgültige Fremdheit bestimm-
ter Wünsche nach der Stellungnahme dieser Instanz.
Frankfurt verbindet seine Konzeption, auch darin genau in der
Spur von Kant und der Tradition, mit einem bestimmten Verständnis
des Unterschiedes von Menschen und Tieren. Die Tiere lassen sich
von ihrem Wollen unmittelbar, ohne eingeschaltete höhere Instanz,
bewegen, die Menschen hingegen kontrollieren das fremde Wol-
len. Darin liegt das typisch Menschliche, das die Tiere nicht ken-
nen. Wenn wir diese höhere Instanz ausbilden, wenn wir also ein
Wollen zweiter Stufe ausbilden, konstituieren wir uns dadurch als
Personen. Wir sind dann, so Frankfurt, mehr als »just biologically
qualified members of a certain animal species«.31 Auch bei Frankfurt
klingt also, das zeigt diese bemerkenswerte Formulierung, noch die
alte metaphysische Idee an, den Menschen sei es möglich, sich aus
der Natur herauszuheben und mehr zu sein als ein Wesen einer be-
stimmten biologischen Spezies.
Frankfurts Theorie illustriert eindrucksvoll, wie die verschie-
denen Elemente eines Bildes, nur leicht verfremdet, immer wie-
der zusammenkommen und sich gegenseitig anziehen und stützen.
Dennoch ist die Vorstellung, das Wollen sei etwas uns Fremdes und
Äußer­liches, das erst vor dem Gericht einer höheren Instanz erschei-
nen und von dieser adoptiert oder verworfen werden müsse, falsch.
Sie ist so falsch wie die Beschreibung des Wollens als passiv und wie
die Verfälschung der Tatsache, dass die Menschen von Natur aus so-
und-so sind, in einen Fall von Heteronomie und Versklavung. Ver-
suchen wir uns klarzumachen, warum die Enteignung des W ­ ollens
ein Fehlweg ist.

28 Frankfurt, The Reasons of Love, 16, 20; dt. 21, 25.


29 Frankfurt, Autonomy, Necessity, and Love, 136; dt. 176.
30 Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 10; dt. 25.
31 Ebd. 6; dt. 20.

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206 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Zunächst bietet sie eine artifizielle und höchst unplausible Phäno-


menologie. Wenn ich etwas als angenehm imaginiere, sagen wir, ein
Fest mit Verwandten und Freunden zu meinem 60. Geburtstag, und
ich das Fest deshalb veranstalten will, dann habe ich dieses Wollen,
es ist mein Wollen. Es bewegt mich (wenn keine anderen Wünsche
entgegenstehen) und bringt mich dazu, etwas zu tun. Dieses Wollen
als etwas Fremdes und Äußerliches zu beschreiben, ist unplausibel.
Dem entspricht, dass ich es nicht als etwas Fremdes in mir, sondern
als unzweifelhaft mein Wollen erlebe. Es muss nicht erst, bevor es
zu meinem Wollen werden kann, einer übergeordneten Instanz vor-
gestellt werden. Ich muss es mir nicht durch etwas Zusätzliches erst
aneignen. Ich muss, anders gesagt, das Wollen und das eigene Ich
nicht erst zusammenbringen. Und wenn ich, um ein anderes Beispiel
zu nehmen, will, dass es meinen Kindern gut geht, ist das ebenfalls
von Beginn an mein Wollen, nicht ein Wollen, das zunächst in mir
mehr oder weniger zufällig herumschwimmt und das ich mir erst
aneignen und zu meinem Wollen machen muss.
Dieses – oder jenes – Wollen muss nicht erst durch die Vernunft
approbiert und daraufhin geprüft werden, ob das, was ich da will,
auch wirklich wollenswert ist, ob es gut und wertvoll ist. Die Ver-
nunft hat, wie gezeigt, jenseits einer kognitiven Kritik ohnehin keine
Ressourcen, das Wollen zu beurteilen. Sie kann das faktische, ver-
meintlich irgendwie vorläufige und noch in Frage stehende Wol-
len nicht im Blick auf objektive, wollensirrelative Werte prüfen und
ihr »placet« oder »non placet« sprechen. Denn solche Werte gibt
es nicht. Und sie hat auch nicht aus sich heraus, unabhängig von
einer ihr vorgegebenen Welt der Werte, irgendwelche Mittel, das
faktische Wollen als vernünftig oder unvernünftig zu beurteilen und
entsprechend zu akzeptieren oder zu verwerfen. Das Wollen bedarf
also, um ein eigenes Wollen zu werden, nicht der Adoption durch
die Vernunft, und außerdem gibt es diese Vernunft, die eine solche
Funktion wahrnehmen könnte, gar nicht. Sie ist nur ein philosophi-
sches Konstrukt.
Mein Interesse, dass es meinen Kindern gut geht, und mein Wol-
len der Geburtstagsfeier bedürfen auch nicht der Instanz des höhe-
ren Wollens, um zu meinem Wollen zu werden, zu einem Wollen,
hinter dem ich stehe. Beide Wünsche sind, wie gesagt, von Anfang an
meine Wünsche, sie sind nicht zunächst in der Schwebe und so lange
irgendwie verdächtig, bis sie durch ein zusätzliches, übergeordnetes
Wollen approbiert werden. All dies ist eine verquere Phänomenolo-

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 207

gie. Tatsächlich gibt es nichts, was diese vermeintliche prinzipielle


Distanz zum eigenen Wollen, dieses, wie Frankfurt sagt, mangelnde
Vertrauen ins eigene Wollen begründet. Wenn ich mir das Geburts-
tagsfest als angenehm vorstelle und es deshalb will, dann ist dieses
Wollen ohne Verdacht und ohne Misstrauen mein Wollen.
Wenn man genauer hinsieht, zeigt sich außerdem, dass es auch die
höhere Instanz des höherstufigen Wollens als eine Instanz, die etwas
Eigenes einbringt und aus Eigenem das Wollen der ersten Stufe ak-
zeptiert oder nicht akzeptiert, gar nicht gibt. Auch in dieser Form
ist die dem Wollen übergeordnete Instanz nur eine Chimäre. Denn
in Wahrheit ist das höherstufige Wollen da, wo es überhaupt ins
Spiel kommt, keine unabhängige Instanz, sondern darin, auf welches
Wollen es sich positiv oder negativ bezieht, immer abhängig von der
Konstellation des Wollens auf der ersten Ebene. Das, was bestimmt
und zählt, ist das Wollen auf der ersten Stufe.
Wir können uns das an dem schon erwähnten Casino-Beispiel
verdeutlichen. Jemand hat den Wunsch, ins Casino zu gehen, und
er hat zugleich den gegenläufigen Wunsch, das nicht zu tun, weil
es sich längst als ruinös erwiesen hat. Es liegt also ein Wollenskon-
flikt auf der ersten Stufe vor. In dieser Situation bedarf es kaum ei-
ner Über­legung, um zu sehen, dass der Wunsch, nicht ins Casino
zu gehen, die stärkeren Bataillone hinter sich hat. Aber obwohl die
Präferenz so klar ist und die Person sich das wieder und wieder
vor Augen geführt hat, geht sie doch wieder ins Casino. Der in der
Überlegung unterlegene Wunsch bestimmt ihr Handeln. Das ist das
Suchtphänomen, ein Defekt in der motivationalen Steuerung. Das
Normale, dass das stärkere Wollen das Handeln bestimmt, geschieht
nicht. Vielmehr setzt sich der unterlegene Wunsch durch und wirft
die Überlegung über den Haufen.
Das empfindet man als Ohnmacht. Man will nicht, dass der unter-
legene Wunsch sich durchsetzt. Man will es in dieser Situation nicht,
und man will es auch in keiner anderen Situation. Dieser Wunsch
ist generell und hat mit den Besonderheiten des jeweiligen Wol-
lenskonflikts nichts zu tun. Wenn die Überlegung auf der ersten
Ebene ergibt, dass einer von zwei konkurrierenden Wünschen das
größere Gewicht hat, ist klar, dass man nicht will, dass der schwä-
chere Wunsch die Handlung bestimmt. Wenn ich am Abend lieber
den Kino-Film mit Julia Roberts sehen will, als weiter Augustinus
zu studieren, was ich auch will, dann liegt darin schon, dass dieses
stärkere Wollen, und nicht das schwächere, mein Handeln bestim-

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208 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

men soll. Wobei das höherstufige Wollen wahrscheinlich erst zum


Vorschein kommt, wenn es in der Handlungssteuerung irgendwel-
che unvorhergesehenen Schwierigkeiten gibt.
Wir stoßen hier also auf ein Wollen zweiter Stufe, ganz so, wie
Frankfurt es beschreibt: Man will nicht, dass das unterlegene Wol-
len handlungsleitend wird. Dreierlei scheint aber im Blick auf die-
ses Wollen klar zu sein. Erstens: Das höherstufige Wollen setzt
den Konflikt auf der ersten Ebene und ein bestimmtes Ergebnis
der Über­legung voraus. Dabei wird, was das überwiegende und das
unterlegene Wollen ist, nicht etwa durch das höherstufige Wollen
entschieden, es ist vielmehr das Ergebnis der Überlegung auf der
ersten Stufe. Das höherstufige Wollen trägt dazu überhaupt nichts
bei. Von welchem Wollen das höherstufige Wollen will, dass es nicht
handlungsleitend (bzw. handlungsleitend) wird, entscheidet folg-
lich nicht dieses Wollen selbst, es entscheidet sich nicht auf der hö-
heren Stufe, sondern wird dem Wollen von der Überlegung, also
»von unten« vorgegeben oder, wie Anna Kusser treffend gesagt hat,
»souffliert«.32 Es gibt also einen Einfluss von der unteren hinauf zur
höheren Ebene, aber nicht umgekehrt einen Einfluss von der höhe-
ren hinab zur unteren Ebene.
Zweitens. Dass ein Wollen unterlegen ist, bedeutet, dass es in der
Konkurrenz mit einem anderen Wollen unterlegen ist. Das Unter­
legensein eines Wollens gibt es, mit anderen Worten, nur unter dem
Strich, da, wo mehrere Wünsche konkurrieren und durch eine Über-
legung koordiniert werden. Folglich bezieht sich das höherstufige
Wollen immer auf eine Situation unter dem Strich. Und es geht auf
ein Wollen, gerade weil es in einer bestimmten Relation zu einem
anderen Wollen steht. Es ist also nicht so, dass ein Wollen auf der
unteren Stufe, für sich genommen, eine Stellungnahme auf der über-
geordneten Ebene verlangt, um überhaupt zu einem »eigenen« Wol-
len zu werden. Ein Wollen, für sich genommen, kann gar nicht der
Gegenstand des höherstufigen Wollens sein.
Schließlich, drittens. Wenn man die Beispielsituation mit den
Wünschen auf der unteren Ebene und dem höherstufigen Wollen
­unvoreingenommen beschreibt, greift man, wie es scheint, nirgend-

32 Vgl. A. Kusser: Zwei-Stufen-Theorie und praktische Überlegung, in:


M. Betzler / B. Guckes (Hg.): Autonomes Handeln. Beiträge zur Philoso-
phie von H. G. Frankfurt (Berlin 2000) 85–99, 94. Dieser Aufsatz bietet eine
ausgezeichnete Analyse und Kritik der Zwei-Stufen-Theorie von Frankfurt.

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 209

wo zu dem Vokabular »eigen«, »fremd«, »aneignen«, »externalisie-


ren« etc. Dieses ganze Vokabular passt nicht zu den tatsächlichen
Gegebenheiten. Wenn man in einer Überlegung zu dem Ergebnis
kommt, dass einer der konkurrierenden Wünsche weniger schwer
wiegt als der andere, bedeutet das nicht, dass er aufhört, ein eigener
Wunsch zu sein. Dadurch dass der Wunsch, ins Casino zu gehen, in
der Überlegung unterliegt, hört er, solange die betreffende Person
ihn hat, nicht auf, ihr eigener Wunsch zu sein. Genauso wird der
stärkere Wunsch nicht erst dadurch, dass er stärker ist, ein eige­
ner Wunsch. Und dass die betreffende Person will, was jeder in je-
dem Falle will, nämlich dass der schwächere Wunsch nicht hand-
lungsleitend wird, führt auch nicht dazu, dass er aufhört, ihr eigener
Wunsch zu sein. Sie hat ihn, aber etwas anderes ist wichtiger. Das
ist die schlichte Wahrheit. Und auch in dem Fall, in dem der unter-
legene Wunsch gegen das konklusive Wollen auf der ersten Stufe
und infolge­dessen auch gegen das höherstufige Wollen das Handeln
bestimmt, wird er, wie es scheint, nicht zu einem fremden Wollen.
Er bleibt ein eigenes Wollen, aber er entzieht sich der Steuerung
durch die Überlegung. Dieser Steuerungsmechanismus ist defekt.
Es scheint wenig angemessen zu sein, so zu tun, als würde da ein
fremder Eindringling, mit dem man nichts zu tun hat, die Macht an
sich reißen. In Wahrheit funktioniert die Koordinierung der eigenen
Wünsche nicht, etwas, was man nicht will und gerne ändern würde,
weil es zum eigenen Nachteil ist.
Diese Überlegungen lassen, so meine ich, erkennen, dass das jetzt
besprochene höherstufige Wollen – Frankfurt spricht von Volitionen
zweiter Stufe – keineswegs die Funktion haben kann, das Wollen der
ersten Stufe aus eigener Macht zu adoptieren und damit anzueignen
oder es eben abzuweisen und damit zu externalisieren. Auch diese
Variante der übergeordneten Instanz gibt es nicht. Sie ist ebenfalls
nur ein erfundenes Konstrukt, das nötig wird, weil man das Wollen
als etwas Fremdes und Externes begreift.
Bevor ich eine abschließende Conclusio formuliere, ist es erfor-
derlich, noch auf eine andere Form des höherstufigen Wollens ein-
zugehen. Es gibt nicht nur den höherstufigen Wunsch, ein Wollen
der ersten Stufe solle nicht handlungsleitend werden, sondern auch
den weitergehenden Wunsch, ein Wollen der ersten Stufe erst gar
nicht zu haben. Und vielleicht auch den Wunsch, einen Wunsch, den
man hat, zu haben. Ist es nicht, so kann man fragen, diese Art eines
höherstufigen Wunsches, durch die wir uns ein bis dahin fremdes

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210 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Wollen aneignen oder es endgültig verwerfen? Es gibt gewiss Wün-


sche, von denen man nicht will, dass man sie hat. Aber das sind ein-
zelne Wünsche. Und es gibt vielleicht auch Fälle, in denen es sinnvoll
ist, von einem Wunsch, den man faktisch hat, zu sagen, dass man
ihn haben will. Aber auch dies sind nur einzelne Wünsche. Dass es
sie gibt, vermag aber nicht die Annahme zu begründen, dass unser
Wollen grundsätzlich zunächst in der Schwebe ist und erst durch ein
höheres Wollen der jetzt beschriebenen Art adoptiert werden müsse.
Ein Beispiel kann das verdeutlichen. Nehmen wir einen katholi-
schen Priester. Er hat sexuelle Wünsche, aber es ist ihm verboten, sie
zu befriedigen. Er akzeptiert das Verbot und er hat sich verpflichtet,
es zu erfüllen. Das will er, und es ist für ihn klar, dass dieser Wunsch
in dem Konflikt überwiegt. Trotzdem fällt es ihm schwer, seine se-
xuellen Wünsche verlässlich zu beherrschen. Er leidet unter diesem
Konflikt und wünscht sich deshalb, das Verlangen erst gar nicht zu
haben. – Zunächst ist klar, dass das Hinzukommen des höherstu-
figen Wollens nicht der Normalfall ist, vielmehr etwas Besonderes.
Wenn ich überlege, ob ich am Abend eher ins Kino gehen oder meine
Augustinus-Studien weiterführen will, und das Kino vorziehe, ver-
bindet sich das nicht mit dem Wunsch, den Wunsch, Augustinus
zu studieren, gar nicht zu haben. Und auch nicht mit dem Wunsch,
den Wunsch, ins Kino zu gehen, zu haben. Solche Meta-Wünsche
kommen, wie gesagt, nur in besonderen Situationen auf.
Dann: Auch im jetzigen Beispielfall richtet die Person das höher-
stufige Wollen auf ein Wollen der ersten Stufe, weil es in Konflikt
zu einem anderen Wollen steht. Es ist also wiederum nicht so, dass
der Wunsch auf der unteren Stufe, für sich genommen, eine Stellung-
nahme auf der übergeordneten Ebene verlangt. Das höherstufige
Wollen kommt überhaupt nur ins Spiel, weil der Wunsch auf der
unteren Ebene in der Konkurrenz zu einem anderen Wollen steht.
Auch in diesem Fall kann es also das höherstufige Wollen über dem
Strich noch gar nicht geben. Erst durch die Konkurrenz mehrerer
Wünsche, das heißt, erst unter dem Strich, kann dieses Wollen ent-
stehen. Und deshalb kann es nicht die Funktion haben, das Wollen,
das grundsätzlich und jedes für sich genommen fremd und äußerlich
sein soll, ins Ich hineinzuziehen oder aus dem Ich zu verbannen.
Schließlich noch eine weitere Überlegung. Der Wunsch des
Priesters, seine sexuellen Wünsche los zu sein, dient einem anderen
Wunsch, dem, die Kraft der Selbstbeherrschung nicht mehr aufbrin-
gen zu müssen. Der höherstufige Wunsch ist also ein extrinsischer

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 211

Wunsch, und zwar ein extrinsischer Wunsch im Dienste, entweder


unmittelbar oder über mehrere Zwischenschritte, eines Wollens auf
der ersten Stufe. Damit zeigt sich, dass er, auch als Meta-Wunsch,
Teil des jeweiligen Wollensgeflechts ist und innerhalb dieses Ge-
flechts eine gegenüber den intrinsischen Wünschen untergeordnete,
vermutlich über verschiedene Zwischenwünsche mehrfach unterge-
ordnete Rolle spielt. Sowohl seine Existenz wie seine Ausrichtung
leiten sich von anderen Wünschen ab. Wenn es so ist, kann er aber,
wie es scheint, nicht die herausgehobene Funktion haben, überhaupt
erst über den Status der Wünsche erster Stufe zu entscheiden und zu
bestimmen, ob sie eigene Wünsche sind oder nicht. Es gibt diesen
höherstufigen (und zugleich untergeordneten) Wunsch nur, weil es
andere Wünsche, Wünsche erster Stufe gibt. Und diese müssen, un-
abhängig von ihm, bereits eigene Wünsche sein.
Diese Überlegungen machen deutlich, dass es auch diese Spielart
des höherstufigen Wollens in der Funktion, das zunächst fremde
Wollen der ersten Stufe zu adoptieren oder nicht zu adoptieren, nicht
gibt. Und damit kann ich sagen, dass diese Idee insgesamt scheitert.
Das Wollen bedarf dieser Adoption nicht, um ein »eigenes« Wollen
zu werden. Und außerdem gibt es die übergeordnete Instanz nicht,
die diese Adoption vornehmen soll, weder in Gestalt der Vernunft
noch in Gestalt eines höherstufigen Wollens.
Mit diesem Befund wird nicht geleugnet, dass es Wünsche gibt,
zu denen man innerlich auf Distanz geht, Wünsche, bei denen man
merkt, dass sie kognitiv womöglich nicht hinreichend abgestützt
sind, oder Wünsche, von denen jetzt die Rede war: von denen man
nicht will, dass sie handlungsleitend werden oder dass man sie über-
haupt hat. Ohne Zweifel gibt es auch Wünsche, bei denen es passt, zu
sagen, sie seien einem fremd, sie seien einem von den Eltern oder von
anderen aufgedrückt worden. Aber dies sind einzelne, bestimmte
Wünsche. Dass es sie gibt – ich gehe gleich darauf ein, wie es zu die-
ser inneren Distanzierung kommt –, stützt nicht die Annahme, dass
unser Wollen grundsätzlich etwas uns Fremdes und Äußerliches sei
und erst, zumindest zum Teil, durch einen Akt der Adoption zu
unserem eigenen Wollen gemacht werden müsse.
Wir müssen diese Annahme verwerfen. Ihr eigentlicher Hinter-
grund ist die Vorstellung, dass man, worauf das Wollen geht, nicht
selbst in der Hand habe, dass das festgelegt sei und dass man deshalb
mit dem Wollen etwas Kontingentem, einer bloßen Gegebenheit
gegenüberstehe. Dies macht seine Fremdheit und Ich-Ferne aus. Es

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212 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

ist deshalb nicht überraschend, dass die traditionelle Theorie das,


was durch die höhere, das Wollen adoptierende Instanz geschieht,
betont als Aktivität beschreibt. Die Begutachtung und Akzeptanz
des Wollens durch die Vernunft stellen eine Aktivität dar. So dass
zwar nicht, dass das Wollen auf den-und-den Gegenstand geht, aber
doch, dass es jetzt mein Wollen ist und deshalb legitimerweise das
Handeln bestimmen »darf«, das Ergebnis eigenen Tuns ist. Auch für
Frankfurt ist es zentral, dass das Geschehen auf der höheren Ebene
eine Aktivität ist.33 Das höherstufige Wollen ist zwar selbst keine
Aktivität, aber er reichert es mit weiteren Elementen an, Evaluation,
Akzeptanz, Adoption, Identifikation sind die zentralen Begriffe,
und hierbei handelt es sich eindeutig um Aktivitäten.
Durch die höhere Instanz wird in diesen Theorien das, was das
menschliche Handeln bestimmt, wieder zu etwas, was sich einer ei-
genen Aktivität verdankt. Das fremde Wollen muss erst hereinge-
lassen werden, und dieses Hereinlassen ist etwas, was man selbst tut.
Man muss, so könnte man sagen, das Wollen zunächst enteignen und
zu etwas Fremdem machen, um auf diese Weise Platz zu schaffen
für die dann notwendig werdende Aktivität der Aneignung. Das
Ganze ist ein verdeckter, aber äußerst verbissen geführter Kampf
dagegen, dass etwas das Handeln bestimmt, was man nicht selbst
hervorgebracht hat oder, das ist die Schwundform, nicht zumindest
selbst akzeptiert hat. Man könnte auch sagen, es ist ein Kampf ge-
gen die eigene Natur.
Dabei wird übersehen, dass unser Wollen aktive, nämlich imagi-
native Anteile enthält. Es gibt in unserem Wollen neben den Elemen-
ten, die nicht in unserer Hand liegen, auch solche, die bei uns liegen.
Überdies ist es irreführend, etwas, was zu mir gehört, aber nicht
auf Grund eigenen Handelns zu mir gehört, als etwas mir Fremdes
und Äußerliches zu beschreiben. Die Menschen haben von Natur
aus eine bestimmte Konstitution. Sie haben sie nicht selbst hervor-
gebracht, aber sie bestimmt, was sie sind und wie sie funktionieren.
Es ist tendenziös, dies in etwas ihnen Fremdes und Äußerliches um-
zumünzen. Und dass das Wollen der Menschen in bestimmter Weise

33 Vgl. z. B. H. G. Frankfurt: Three Concepts of Free Action (1975), in:


H. G. F.: The Importance of What We Care about (Cambridge 1988) 47–57,
54; dt. Drei Konzepte freien Handelns, in: H. G. F.: Freiheit und Selbstbe-
stimmung (Berlin 2001) 84–97, 93; Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 7;
dt. 22.

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 213

fixiert ist, ist auch Teil ihrer Konstitution, nichts Fremdes, sondern
das, was die Lebewesen, die sie sind, ausmacht. Das eigene Wollen
muss nicht, weil es diese fixen Determinanten enthält, erst durch ein
eigenes Tun in das Ich hineingezogen werden.
Ich will noch auf einen zusätzlichen, allerdings nicht leicht zu
fassenden Umstand aufmerksam machen. Es scheint, als habe das
Wollen als ein mentaler und insbesondere motivationaler Zustand
eine besondere Ich-haftigkeit. Auch wenn ich nicht gewählt habe,
dass ich das Angenehme will, ist es doch so, dass ich es will und
dass ich in dieses Wollen in bestimmter Weise involviert bin: Es
motiviert mich, es treibt mich an, etwas zu tun. Es hat ein Gewicht,
wenn es darum geht, was ich tue. Ich kann meinem eigenen Wollen
gegenüber gar nicht gleichgültig sein. Dass ich schwarzhaarig bin,
auch etwas, was zu mir gehört, ohne dass ich es selbst gewählt habe,
ist hingegen eine Tatsache, der gegenüber ich gleichgültig sein kann.
Ich bin es, der diese Haarfarbe hat, aber ich bin in diese Sache nicht
in der Art involviert wie in ein eigenes Wollen. Das Wollen ist also
nicht einfach etwas, was ich habe wie ich eine Haar- oder Augen-
farbe habe, es zeigt vielmehr eine spezifische Ich-haftigkeit. Auch
dies lässt erkennen, dass das Wollen nicht nur ein »Rohmaterial« ist,
von dem man erst einmal sehen muss, was man damit anstellt und
ob man es mit dem eigenen Ich verbindet.

4. Distanz zum eigenen Wollen

Werfen wir noch einen Blick auf eine etwas andere Variante des Mo-
dells, das das Wollen auf Distanz zum eigenen Selbst bringt. Für sie
ist nicht das Gegensatzpaar fremd – eigen zentral, die dominante
Idee ist vielmehr die einer konstitutiven Lücke zwischen Wollen und
Handeln. Wenn man etwas will, so die These, stellt sich immer erst
einmal die Frage, ob man dem Wollen folgen soll. Habe ich, wenn
ich etwas will, einen Grund, entsprechend zu handeln? Diese Vor-
stellung ist, wiederum inspiriert durch Kant, besonders von Chris-
tine Korsgaard entfaltet worden. Ein Wollen ist, so sagt sie, nur ein
»Vorschlag« (»proposal«), etwas zu tun, und man muss erst entschei-
den, ob man diesem Vorschlag folgt oder nicht. Ein Wollen ist immer
»something we need to make a decision about«.34 Der menschliche

34 Chr. M. Korsgaard: Self-Constitution (Oxford 2009) 116, 119.

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214 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

Geist ist reflexiv, die Menschen können sich, im Unterschied zu den


Tieren, auf ihre eigenen mentalen Zustände, so auch auf ihr eigenes
Wollen beziehen. Und so stellt sich, wenn man etwas will, immer die
Frage: »Shall I act? Is this desire really a reason to act?«35
Man könnte das so verstehen, dass ein Wunsch immer mit an-
deren Wünschen konkurriert und deshalb die Frage entsteht, was
man angesichts der Pluralität der Wünsche tun soll. Aber so ist es
nicht gemeint. Die Notwendigkeit der Frage entsteht nicht durch
die Konkurrenz, in der das fragliche Wollen steht, sondern durch
seine Natur als Wollen. Das Wollen ist, so auch Korsgaard, nur ein
»Impuls«, »etwas in uns«36, und deshalb stellt sich bei jedem Wol-
len, völlig für sich genommen, die Frage, ob man ihm folgen soll.
Es wird eine grundsätzliche Lücke zwischen dem Wollen und dem
Handeln angenommen, die sich aus der Natur des Wollens ergibt.
Und natürlich muss diese Lücke dann durch etwas gefüllt werden,
nämlich durch eine eigene Aktivität. Nach Korsgaard bestimmen
Vernunftprinzipien, letzten Endes kategorische Vernunftprinzipien,
welches Wollen das Handeln bestimmen darf und welches nicht. Sie
betont dabei sehr stark, dass die Vernunft, die diese Prinzipien kre-
iert, ein aktives Vermögen ist, dass es also ein eigenes Tun ist, durch
das wir entscheiden, ob ein Wollen handlungsbestimmend werden
darf oder nicht. So wird erneut die autonome Selbststeuerung auch
im Bereich des Volitiven gesichert.37
Doch auch diese Vorstellung, dass das Wollen nur ein »Vorschlag«
sei und man fragen müsse, ob man ihm folgen solle, ist falsch und
irreführend. Als erstes ist erneut die Phänomenologie verquer und
unplausibel. Das eigene Wollen wird so beschrieben, als sei es das
an einen adressierte Wollen eines anderen. Wenn jemand von mir
etwas will, kann ich fragen, warum das für mich ein Motiv sein soll,
entsprechend zu handeln. Ein solches an mich gerichtetes Wollen
eines anderen kann ich als einen Vorschlag oder eine Aufforderung

35 Chr. M. Korsgaard: The Sources of Normativity (Cambridge 1996) 93;


vgl. auch Korsgaard, Self-Constitution, 115; T. Schapiro: The Nature of In-
clination. Ethics 119 (2009) 229–256, 236.
36 Vgl. Korsgaard: The Normativity of Instrumental Reason (1997), in:
Chr. M. K.: The Constitution of Agency (Oxford 2008) 27–68, 45–59; Kors-
gaard, The Sources of Normativity, 92 f.; Korsgaard, Self-Constitution, 72,
75.
37 Vgl. Korsgaard, Self-Constitution, 153 und Korsgaard: The Activity of
Reason. Proceedings and Addresses of the APA 83 (2009) 23–43.

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 215

betrachten, und dann ist es sinnvoll, zu fragen, wie ich mich dazu
stellen will. Aber das eigene Wollen, das mein Wollen ist, zu einem
bloßen Vorschlag zu degradieren und so zu beschreiben, als sei es das
Wollen eines anderen, bei dem ganz offen ist, wie ich darauf reagiere,
ist irreführend und stark tendenziös. Es ist schwer zu verstehen, wie
man glauben kann, das sei eine angemessene Beschreibung.
Dann stellt sich offenkundig wieder die grundsätzliche Frage, was
denn die Distanz zu meinem eigenen Wollen begründen soll. Wo
kommt der Anstoß her, das Wollen auf Distanz zu halten und zum
Teil zu etwas zu machen, das das Handeln nicht bestimmen darf?
Warum sollte ich, was ich tun will, nicht tun? Ich bin es doch, der
dieses Wollen hat, und als Wollen hat es die biologische Funktion,
mich zum Handeln zu bewegen. Es ist gerade seine Natur und sein
Sinn, mich zu motivieren. Warum also sollte ich das, was ich tun will,
nicht tun? Wenn ich tanzen will, intrinsisch, und wenn dieses Wol-
len für sich genommen wird und nicht in Konkurrenz mit anderen
Wünschen steht, was könnte mich dazu bringen, das, was ich will,
nicht zu tun oder zu fragen, ob ich es tun soll?
Diese Distanzierung vom eigenen Wollen ist ohne Anlass, und –
außerdem – gibt es gar keine Kriterien, anhand deren man die Frage,
ob man dem Wollen folgen soll, beantworten könnte. Die Vernunft
ist, wie wir sahen, in keiner Weise in der Lage, ein intrinsisches Wol-
len über dem Strich als vernünftig oder unvernünftig zu beurteilen.
In Wirklichkeit wird die unmittelbare Verbindung von Wollen
und Handeln allein dann suspendiert, wenn das Wollen in Konkur-
renz mit einem anderen Wollen oder mehreren anderen Wünschen
steht. Erst wenn ich tanzen will, zugleich aber auch etwas Gegen-
läufiges will, muss ich überlegen, was ich tun soll. Jetzt löst sich die
Verbindung von Wollen und Handeln, und es tritt die Überlegung,
die Koordinierung der verschiedenen Wünsche dazwischen. Auf
diese Weise »suspendiert« man, so hat Locke gesagt38, die »execu-
tion« oder »prosecution« des Wollens. Es ist also nicht so, dass die
Verbindung von Wollen und Handeln erst hergestellt werden muss;
sie existiert von sich aus, weil das Wollen ein motivationaler Zustand
ist. Es ist umgekehrt: Gerade weil diese Verbindung von sich aus
existiert, muss sie, in einer Konkurrenz mit einem anderen Wollen,
suspendiert werden, so dass man, wenn man überlegt, nicht überlegt,

38 Locke, An Essay concerning Human Understanding, II, xxi, § 47, p. 263.

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216 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

ob man einem einzelnen, isolierten Wollen folgen soll, sondern was


man angesichts der Pluralität dessen, was man will, tun soll.
Die Fähigkeit des menschlichen Geistes, vom eigenen Wollen
zurückzutreten, die Handlungsauslösung zu suspendieren und das
Wollen zunächst zum Gegenstand einer Überlegung zu machen, ist
also keine Fähigkeit, die vom Himmel fällt, als habe Gott oder Pro-
metheus uns mit dieser Fähigkeit ausgestattet, einfach um die Men-
schen von den Tieren zu unterscheiden. Diese Fähigkeit rührt viel-
mehr daher, dass die Menschen Lebewesen sind, die vieles wollen.
Und dies ist ein Ergebnis ihres Zukunftsbewusstseins. Weil die Men-
schen vieles zugleich wollen, Nahes und Fernes, und weil sie bereits
zukünftige Wünsche antizipieren und berücksichtigen können, wird
es nötig, das eigene Wollen auf die mentale Bühne zu bringen und zu
überlegen, was wichtiger und was weniger wichtig ist.
Die Menschen, so habe ich jetzt gesagt, suspendieren ihr Wollen
nur im Licht anderer Wünsche, nicht aber von einem Standpunkt
aus, der das Wollen transzendiert und von ihm unabhängig ist. Man
kann diese elementare und äußerst folgenreiche Einsicht an allen
möglichen Einzelfällen durchprobieren und bestätigen. Nehmen wir
noch einmal den Fall, dass ich meine, das starke Aussein auf Re-
putation und Anerkennung, ein Wollen, das alle Menschen teilen,
sei ein evolutionäres Erbe aus einer Zeit, als die Menschen noch in
Stämmen zusammenlebten und der Zusammenhalt der Gruppe für
das Überleben wichtig war. Dieses Wollen sei aber überholt, weil
wir heute anders leben und es auf andere Dinge ankommt. (Setzen
wir wiederum voraus, diese Sicht der Dinge sei plausibel.) Dafür,
wie ich zu diesem Wollen stehe, ob ich zu ihm auf Distanz gehe
oder nicht, bedeutet diese Einschätzung, für sich genommen, aber
zunächst noch nichts. Entscheidend ist, ob es mich stört, von einem
Wollen dieser Art im Handeln bestimmt zu werden. Erst wenn es
mich stört, kommt es zu einer Distanzierung von diesem Wollen.
Dass es mich stört, bedeutet aber, dass es einem anderen Wollen von
mir entgegenläuft. Es muss also ein anderes, gegenläufiges Wollen
im Spiel sein. Nur dadurch kann mir das fragliche Wollen proble-
matisch werden.
Genauso ist es mit Wünschen, die auf andere Weise problema-
tisch sind: zwanghafte Wünsche, suchthafte Wünsche, pathologische
Wünsche, von anderen andressierte Wünsche. Auch diese Wünsche
werden nicht einfach dadurch problematisch, dass sie diese Eigen-
schaften haben, sondern dadurch, dass es einen stört, von Wünschen

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 217

dieser Art in seinem Handeln bestimmt zu werden. Und dies: dass


es einen stört, setzt, wie gesagt, immer ein anderes Wollen voraus.
Dasselbe gilt auch für kognitiv defiziente Wünsche. Die kogni-
tive Kritik eines Wollens interessiert uns nur, weil wir etwas anderes
wollen. Wenn ich Entwicklungshelfer in einem fernen Land werden
will, mein Wollen aber kognitiv unzureichend abgesichert ist, inter­
essiert mich dieses Faktum deshalb, weil ich noch etwas anderes
will: Ich will möglichst vermeiden, meinen Wunsch in die Wirklich-
keit umzusetzen und dann sehen zu müssen, dass alles ganz anders
ist als gedacht. Das würde in einer Frustration enden, die ich mir
gerne ersparen möchte. Die Feststellung, dass mein Wollen kogni-
tiv defizient ist, bedeutet also, für sich genommen, noch nichts. Es
muss mich stören, dass es so ist, und das setzt wiederum ein anderes
Wollen voraus. Nur deshalb lasse ich vielleicht davon ab, meinen
Wunsch zu verwirklichen.
Wie aber, so könnte man sagen, ist es mit dem Gesichtspunkt der
Moral? Müssen wir nicht, bevor wir einem Wollen folgen, fragen,
ob das moralisch in Ordnung ist? Auch in diesem Fall ergibt sich
nichts anderes. Auch eine Distanzierung von einem Wollen aus mo-
ralischen Gründen setzt immer ein anderes Wollen voraus. Auch hier
muss es mich stören, dass die Exekution des Wollens unmoralisch
wäre. Und dass es mich stört, setzt wiederum ein anderes Wollen
voraus. Tatsächlich kann die Moral für jemanden nur Bedeutung
haben, wenn sie ihrerseits in einem Wollen verankert ist. Entweder
muss man von sich aus die Moral wollen und ihre Gebote befolgen
wollen. Oder die Moral verschafft sich über – innere und äußere –
Sanktionen Geltung; das gelingt aber nur, wenn die Adressaten die
drohenden Sanktionen vermeiden wollen. So oder so kann die Moral
nur Bedeutung gewinnen, wenn sie an ein eigenes Wollen andocken
kann. Und deshalb ist ein Konflikt zwischen der Exekution eines
Wollens und der Moral immer ein – offener oder verdeckter – Kon-
flikt zwischen verschiedenen Dingen, die man will.
Natürlich können auch allgemeine Maximen und Prinzipien,
die man sich selbst gegeben hat, bestimmen, ob man einem Wollen
folgt oder nicht. So kann ich Lust haben, auf dem gerade zugefro-
renen See Schlittschuh zu laufen, die Verwirklichung dieses Wun-
sches wird aber durch meine Maxime, vermeidbaren Gefahren aus
dem Weg zu gehen, blockiert. Es liegt auf der Hand, dass hinter
solchen Maximen und Regeln Wünsche liegen. Man hat sie, weil
man bestimmte Dinge will oder nicht will. Sie haben instrumentel­

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218 Teil II: Die Gegenstände des Wollens

len Charakter. Es konkurrieren in einer solchen Situation also auch


verschiedene Wünsche miteinander. Häufig wird, wenn man sich
in einem Konflikt für die Maxime und gegen die momentane Lust
entscheidet, das als ein Sieg der Vernunft über die Lust oder die
Neigung beschrieben. Der Wunsch, aufs Eis zu gehen, hat in der
Tat den Charakter einer momentanen Lust, und der Wunsch, der
hinter der Maxime liegt, hat diesen Charakter nicht. Dennoch kon-
kurrieren in dieser Situation offensichtlich zwei Wünsche, nicht ein
Wunsch und die Vernunft.

5. Zusammenfassung

Ich ziehe die Überlegungen dieses Kapitels jetzt noch einmal zu-
sammen. Das platonisch-kantisch inspirierte Modell des Wollens
ist, so das zentrale Ergebnis, falsch. Es bietet in einem Kranz von
ineinander greifenden Theorieelementen eine Fehlbeschreibung des
menschlichen Wollens, – und damit auch ein falsches Bild von der
Existenzweise der Menschen. Das Wollen ist nicht etwas uns Frem-
des und Äußerliches, etwas, was nicht wirklich zu uns gehört. Es ist
nicht etwas Bedrohliches, das uns, wenn wir es nicht kontrollieren,
in die Heteronomie stößt, unterjocht und die Freiheit nimmt. All
dies trifft nicht zu. Und es ist nicht so, dass das Wollen, weil es etwas
Externes und Passives ist, erst – durch eine eigene Aktivität – geprüft,
approbiert und ins Ich hineingelassen werden muss. Diese Beschrei-
bung kommt aus der Angst vor der Depotenzierung des Menschen,
sie versucht die Aktivität und Selbststeuerung auch im Bereich des
Volitiven zu retten. Sie enteignet zunächst das Wollen, um die so
entstehende Lücke zwischen dem Wollen und dem Ich dann durch
einen Akt der Aneignung, durch ein eigenes Tun wieder schließen zu
können. Doch dieser aus der Defensive geborene Rettungsversuch
verfehlt die Phänomene gleich mehrfach. Zum einen übersieht er,
wenn er das Wollen über dem Strich als fremd und passiv beschreibt,
die aktiven, imaginativen Elemente in diesem Wollen. Was wir wol-
len, hängt bereits zu einem großen Teil von einem eigenen Tun ab,
davon, wie wir imaginieren und was wir uns als angenehm und un-
angenehm vorstellen. Zum anderen erfindet das traditionelle Modell
eine höhere Instanz, die die Funktion hat, einen Teil des Wollens zu
approbieren und sich zu eigen zu machen. Aber diese Instanz gibt
es nicht, weder in der Form einer von allem Wollen abgelösten Ver-

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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 219

nunft, noch in der Form eines höherstufigen Wollens, das wie aus
dem Nichts das Wollen akzeptiert oder verwirft.
Es sei auch noch einmal festgehalten, dass das kritisierte Modell
des Wollens eine verhängnisvolle Tendenz zu der Idee in sich trägt,
der Mensch sei ein Wesen, das sich aus der Natur und ihren Geset-
zen herausbewegen und eine davon unabhängige Position einneh-
men könne. Diesen Fluchtpunkt eines von allen natürlichen Deter-
minanten unabhängigen Selbst gibt es nicht. Ein solches Selbst ist
nur eine Phantasie. In Wahrheit ist es immer die Konkurrenz mit
einem anderen Wollen, die einen inneren Abstand zu einem Wollen
schafft und die bewirkt, dass man vorläufig und dann vielleicht auch
endgültig die Exekution der entsprechenden Handlung suspendiert.
Wir sind immer im Wollen. Es gibt kein dem Wollen vorgelagertes
und übergeordnetes Selbst. Auch wenn wir überlegen und unsere
Wünsche koordinieren, dient das einem Wollen: Wir überlegen, weil
wir möglichst viel von dem vielen, was wir wünschen, verwirkli-
chen wollen. Es hat keinen Sinn, den Selbstverkleinerungsängsten
mit theo­retischen Erfindungen und irreführenden Phänomenbe-
schreibungen zu begegnen.

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Teil III
Die Koordination des Wollens

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen

Die Menschen wollen niemals nur eine Sache, sie wollen immer vie-
les. Jeder einzelne Wunsch steht deshalb in Konkurrenz mit ande-
ren Wünschen. Das Wollen über dem Strich, von dem bisher die
Rede war, zeigt sich jeweils als eine Pluralität von Wünschen, die
alle darum konkurrieren, zum Wollen unter dem Strich und damit
handlungsleitend zu werden. Die Menschen sind folglich ständig mit
der Frage befasst, was sie nun, alles in allem betrachtet, tatsächlich
tun wollen. Sie müssen fortwährend aus der Vielzahl des Wollens
das eine Wollen herausdestillieren, das am meisten Gewicht hat und
deshalb das Handeln bestimmt. Sie tun das durch eine spezifische
Form des Überlegens. Wir haben bereits das instrumentelle Über­
legen und das koordinative Überlegen unterschieden. Das eine sucht
nach Mitteln, durch die ein Ziel erreicht werden kann, das andere
sucht angesichts einer Vielzahl von Zielen nach dem Wunsch, der
die Konkurrenz gewinnt und zum Wollen unter dem Strich wird.
Zum instrumentellen Überlegen, zumindest in einer rudimentären
Form, sind, wie wir sahen, auch nicht-menschliche Lebewesen fä-
hig. Der Schimpanse Sultan überlegt in diesem Sinne, wie er an die
außerhalb seiner Reichweite befestigten Bananen kommt. Das koor-
dinative Überlegen scheint hingegen ein Spezifikum der Menschen
zu sein. Es kann zwar auch bei Tieren zu Motivationskonflikten
kommen. Aber das geschieht offenbar eher selten, und wenn, scheint
es genetisch oder durch erlernte Mechanismen fixiert zu sein, wel-
cher Impuls sich durchsetzt. Bei den Menschen ist die – ungleich
kompliziertere – Koordination des Wollens dagegen etwas, was sie
selbst tun, es ist eine eigene geistige Leistung. Was bisher am Kopf
der L­ ebewesen vorbeilief, läuft jetzt durch ihren Kopf hindurch.
In vielen Fällen vollzieht sich die Koordination des Wollens mehr
oder weniger unbewusst, ohne Aufmerksamkeit und Anstrengung.
Es ist klar, welches Wollen das stärkste ist und welche anderen Wün-
sche dahinter zurückstehen müssen. Nur in einem Teil der Fälle
stellen wir eine explizite, bewusste Überlegung an. Man zieht den
Fall dann auf die mentale Bühne und richtet seine Aufmerksamkeit
darauf.
Wie funktioniert nun eine koordinative Überlegung? Was sind,
das ist besonders wichtig, die Ressourcen, aus denen sie schöpft?
Worauf greift sie zurück, um herauszufinden, was das Wollen unter
dem Strich ist? – Bevor ich hierauf komme, möchte ich zunächst

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224 Teil III: Die Koordination des Wollens

einige Bemerkungen dazu machen, wie die Lebewesen, die zu ko-


ordinativen Überlegungen fähig sind, beschaffen sein müssen. Zu
welchen geistigen Leistungen müssen sie imstande sein, um diese
spezielle Form des Überlegens praktizieren zu können?

1. Was muss ein Wesen können, um zu koordinativen


­Überlegungen fähig zu sein?

Ich habe oben, als es um die Entstehung eines Lebewesens ging, das
fähig ist, zu überlegen, bereits gefragt, was es dafür können muss.
Mit welchen Fähigkeiten muss ein fiktiver Ingenieur ein solches We-
sen ausstatten?1 Ich habe sechs Merkmale angeführt, die wesentlich
sind. Ein zur Überlegung fähiges Wesen muss (i) Handlungen und
ihre Konsequenzen imaginieren können, auch solche Handlungen,
die niemals realisiert werden, vielmehr nur »im Geist« ausprobiert
werden. Es muss (ii) ein Gedächtnis haben, in dem es, was es über
die Welt weiß, speichert und präsent hält. Es muss sich (iii) auf die
Zukunft beziehen können. Jede praktische Überlegung ist auf die
Zukunft gerichtet. Es muss (iv) über Bewusstsein verfügen und über
ein zusammenhängendes Bewusstseinsfeld, in dem verschiedene
Dinge aufeinander bezogen werden können. Das mentale Gesche-
hen des Überlegens hat (v) die Eigenschaft der Subjektivität. Das
Wesen, das die Überlegung anstellt, hat einen speziellen Zugang zu
dem Geschehen. Es besteht eine Asymmetrie zwischen der eigenen
Perspektive und der anderer. Und (vi) ist das Überlegen ein Tätig­
sein vor dem Tätigsein. Die Handlung, zu der es schließlich kommt,
geht auf eine vorgeschaltete Aktivität des Handelnden selbst zurück.
Dadurch gewinnt sie den Charakter von etwas Eigenem: es ist seine
Handlung, sie geht auf ihn, auf etwas, was er zuvor getan hat, zu-
rück. – Diese Feststellungen bezogen sich alle auf das instrumentelle
Überlegen. Deshalb konnte ich (vii) hinzufügen, dass diese Form
des Überlegens offenbar keine Sprache voraussetzt. Was unmittelbar
daran zu erkennen sei, dass Schimpansen zu instrumentellen Über-
legungen fähig sind, aber nicht sprechen können.
Was muss nun ein Lebewesen können, um auch zum koordina-
tiven Überlegen fähig zu sein? Es muss ohne Zweifel noch mehr
hinzukommen. Eine der vielen Fragen, die sich hier auftun, ist er-

1 Vgl. oben § 1, S. 28–32.

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 225

neut die Frage nach der Rolle der Sprache. Ist sie ein notwendiges
Element dieser Entwicklung? Folgende vier Merkmale scheinen für
ein Wesen, das auch koordinativ zu überlegen vermag, zusätzlich
wesentlich zu sein:
(i) Ein Lebewesen, das mehrere Dinge will und überlegt, was
es angesichts dessen unter dem Strich will, muss offenbar über die
Fähigkeit zur Reflexivität verfügen. Damit meine ich, dass es in
der Lage sein muss, sich intentional auf seine eigenen mentalen Zu-
stände, in diesem Fall auf sein eigenes Wollen, zu beziehen. S­ ultan
will an die Bananen, die er an der Decke sieht, und er überlegt, wie er
sie erreichen kann. Aber sein Wollen wird dabei nicht zum Gegen­
stand der Überlegung, und Sultan bezieht sich auch nicht auf an-
dere Weise intentional auf sein Wollen. Schimpansen und andere
Menschenaffen sind, wie wir sahen, vermutlich grundsätzlich nicht
in der Lage, sich auf – eigene oder fremde – mentale Zustände zu
beziehen. Mentale Zustände sind Dinge, die sie nicht kennen. Sie
sind perzeptuell nicht zugänglich und erscheinen deshalb nicht auf
der Bühne ihres Geistes. Schimpansen wie Sultan befinden sich in
Bewusstseinszuständen, sie empfinden etwas, sie wollen etwas, sie
machen Annahmen über die Welt, aber all das wird nicht selbst zum
Gegenstand ihres Geistes.
Die Menschen hingegen können ihre eigenen Wünsche, ihre ei-
genen Meinungen, ihre eigenen Gefühle zum Gegenstand des Über-
legens, des Erkennens und auch des Wollens machen. Sie besitzen
die Fähigkeit zur Reflexivität. Ohne sie wäre es zum Beispiel gar
nicht möglich, zukünftige Wünsche zu antizipieren und vorab zu
berücksichtigen. Ohne sie wäre es nicht möglich, darüber nachzu-
denken, wie es zu einem bestimmten Wollen gekommen ist, ob etwas
mit einem Wollen nicht stimmt, wie ein Wollen mit einem anderen
zusammenhängt, ob man das eine nur will, weil man etwas anderes
will, etc. Und ohne diese Fähigkeit zur Reflexivität wäre es offen-
kundig auch nicht möglich, koordinativ zu überlegen. Diese Form
des Überlegens bezieht sich auf das eigene Wollen, sie zielt darauf,
das eigene Wollen nach wichtiger und weniger wichtig zu ordnen
und herauszufinden, was man am meisten will.
Ich will nicht ausschließen, dass es auf dem langen Weg zum
Homo sapiens und zur Fähigkeit der Menschen zur Reflexivität
auch Vorformen koordinativen Überlegens gegeben hat, die dieser
Voraussetzung nicht bedurften. Man kann sich vorstellen, dass für
frühere Menschen Ereignisse, die sie für die Zukunft erwarteten, mit

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226 Teil III: Die Koordination des Wollens

einem Positiv- oder Negativ-Index verbunden waren. Ein imaginier-


tes zukünftiges Flusshochwasser war negativ indiziert. Und dass sie
in einem Konflikt zwischen verschiedenen positiv oder negativ indi-
zierten Optionen in der Lage waren, nach einem Mehr oder Weni-
ger des Positiven oder des Negativen zu entscheiden. Sie bräuchten
sich dazu der Dependenz der Positiv-negativ-Markierungen von ih-
rem eigenen Wollen gar nicht bewusst zu sein. Diese Markierungen
sind ihnen einfach ein Teil der Welt, von der sie Kenntnis haben.
Es ist leicht zu sehen, dass diese Art der Koordination begrenzt
wäre, und man kann sich auch klarmachen, was diese Lebewesen
im Unterschied zu denen, die dann eines Tages zur Reflexivität fähig
sind, alles nicht könnten. Sie könnten zum Beispiel nicht überlegen,
ob mit ihren Wünschen etwas nicht stimmt. Sie wären zu keinerlei
kritischer Distanz zu ihrem eigenen Wollen und zu ihren anderen
intentio­nalen Zuständen in der Lage.
(ii) Die Fähigkeit zur Reflexivität führt sogleich zu einer weiteren
Voraussetzung des koordinativen Überlegens. Die Fähigkeit, sich auf
ein eigenes Wollen zu beziehen, verlangt nicht nur, dass man reprä-
sentiert, dass man etwas will, man muss auch repräsentieren, was
man will. Man will etwas Bestimmtes, und der Inhalt des Wollens
ist komplex, man will, dass etwas geschieht oder jemand etwas tut.
Folglich hat man es, wenn man ein Wollen repräsentiert, zumindest
mit vier Elementen zu tun: man repräsentiert zum Beispiel, dass je-
mand (1) will (2), dass jemand (3) etwas tut (4). Ich habe oben die
Auffassung entwickelt, dass man eine komplexe Struktur dieser Art
wahrscheinlich nur mit Hilfe sprachlicher Symbole adäquat zu re-
präsentieren vermag.2 Nur durch sprachliche Symbole kann eine im
Fluss der Gedanken stabile Repräsentation entstehen, und dies ist
wiederum die Voraussetzung dafür, mit dieser Repräsentation und
ihrem Inhalt auch operieren zu können. Man muss das Wollen und
seinen Inhalt nicht nur repräsentieren können, man muss es auch
zu anderen Wünschen in Beziehung setzen können, und man muss
zum Beispiel auch über seine Genese und über seine Eigenschaften
nachdenken können.
Wenn das richtig ist, ergibt sich, dass das koordinative Über­
legen, zumindest in der Entwicklungsform, die wir untersuchen,
ohne Sprache nicht möglich ist. Die Entstehung der Sprache und die
Entwicklung zum koordinativen Überlegen müssen, wie es scheint,

2 Vgl. oben § 4, S. 93 f.

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 227

miteinander verknüpft sein. – Es war schon gesagt worden, dass die


Sprache nicht nur eine kommunikative Funktion hat, sondern auch
außer-kommunikative Funktionen. Zu diesen nicht-kommunikati-
ven Effekten gehört, dass sie neue Gegenstände des Wollens möglich
macht. Vieles können wir nur wollen, weil wir durch die Sprache in
der Lage sind, die Komplexität des Gewollten darzustellen. Damit
trägt die Sprache erheblich dazu bei, dass die Menschen so vieles
wollen und es einer aufwendigen Koordination ihrer Wünsche be-
darf. Zugleich trägt die Sprache aber auch dazu bei – eine weitere
nicht-kommunikative Leistung –, mit der Vielzahl der Wünsche zu-
rechtzukommen, nämlich auf dem Wege des koordinativen Über­
legens. Die Sprache, so kann man sagen, verschärft das Problem, und
zugleich ermöglicht sie seine Lösung.
(iii) Stellen wir uns, um eine dritte charakteristische Eigenschaft
eines koordinativ überlegenden Wesens zu erläutern, folgende ein-
fache Situation vor: Ich liege an einem schönen Spätsommernach-
mittag auf einer Wiese am See und genieße die warme Sonne. Es ist
so angenehm, dass ich, wie es scheint, nur eines will: liegen bleiben.
Aber da ist noch etwas. Ich will am Abend in die Oper. Dazu muss
ich jetzt aufbrechen. Ich habe deshalb auch den Wunsch, mich auf
den Weg zu machen. Nehmen wir an, dass mir die Abwägung an
diesem Nachmittag nicht schwer fällt: unter dem Strich will ich in
die Oper, und deshalb will ich aufbrechen.
In dieser Situation konkurrieren ein Wunsch, der, wie Aristoteles
gesagt hat3, auf das »jetzige Angenehme« geht, und ein Wunsch, der
sich auf ein erst zukünftiges Vergnügen richtet. Eine koordinative
Überlegung hat nun offenbar nur dann Sinn, wenn man in der Lage
ist, auf das jetzige Angenehme, das man sofort, hier und jetzt haben
kann, zugunsten des noch abwesenden, aber zukünftigen Angeneh-
men zu verzichten. Wenn man jedes Mal dem Reiz des momentan
Attraktiven erläge, also jedes Mal die Gegenwart gegen die Zukunft
gewönne, wäre die koordinative Überlegung umsonst und sinnlos.
Die Fähigkeit, auf das sofort Angenehme zu verzichten und auch
das aktuell Unangenehme zu ertragen zugunsten eines in der Zu-
kunft liegenden größeren Gutes, ist keineswegs selbstverständlich,
sie stellt eine spezifische Leistung eines Wesens dar, das mit der Zu-
kunft lebt und fortwährend die Zukunft in die Gegenwart hinein-
zieht. Ein Zugvogel tut, ohne die Zukunft zu antizipieren, das für

3 τὸ ἤδη ἡδύ; vgl. Aristoteles, de anima III, 10. 433a 8 f.

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228 Teil III: Die Koordination des Wollens

die Zukunft Notwendige; seine genetische Ausstattung determiniert


ihn dazu, sich zukunftsbezogen zu verhalten. Die Menschen anti-
zipieren hingegen die Zukunft, sie müssen, was sie in der Zukunft
wollen und nicht wollen, in den Prozess des Überlegens einbringen,
und das kann nur gelingen, wenn sie in der Lage sind, das jetzige
Angenehme und Unangenehme abzuwägen gegen andere, auf die
Zukunft gerichtete Wünsche und, wenn die Überlegung das ergibt,
die Wünsche, die auf das Hier und Jetzt gehen, zurückzustellen. Um
einen Terminus zu haben, spreche ich von der Fähigkeit zur Relati-
vierung der Hier-und-Jetzt-Wünsche.
Es könnte so aussehen, als handele es sich dabei nur um eine
spezielle Facette der generellen Fähigkeit des menschlichen Geis-
tes, vom eigenen Wollen zurückzutreten, die Handlungsauslösung
zu suspendieren und die konkurrierenden Wünsche zunächst zum
Gegenstand der Überlegung zu machen. Aber tatsächlich handelt es
sich um mehr. Denn das jetzige Angenehme hat allen anderen Kon-
kurrenten gegenüber den Vorteil der Gegenwärtigkeit: Man kann
es sofort haben, alles andere aber erst später. Und die Menschen ha-
ben eine Neigung zum Gegenwärtigen. Deshalb bedeutet das »jetzt
sofort« für sie eine Versuchung, auch wenn ihre Überlegung erge-
ben hat, dass ihnen etwas anderes, in der Zukunft Liegendes wich-
tiger ist. Man kann in dieser, wie Hume gesagt hat4, »inclination to
the present good« eine Erbschaft sehen, die uns die Lebewesen, die
keine Zukunft haben, mitgegeben haben. Es ist deshalb nicht ver-
wunderlich, dass die Relativierung der Hier-und-Jetzt-Wünsche kei-
neswegs immer gelingt, und auch nicht, dass kleine Kinder sich da-
mit äußerst schwertun. Es bedarf oft einer besonderen Anstrengung,
um der Versuchung des unmittelbar Angenehmen zu widerstehen.
Man spricht dann häufig von Willensstärke, manchmal auch von
Ich-Stärke. Es geht um die Koordination von Überlegung und tat-
sächlichem Handeln, darum, das Ergebnis der Überlegung tatsäch-
lich umzusetzen. Es geht also um eine exekutive Stärke. Da sich, wer
sich anders verhält, gegen seine Überlegung und damit gegen sein
überwiegendes Wollen verhält und das irrational ist, kann man auch

4 Vgl. Hume, Treatise III, ii, sect. vii, p. 536. – Hume hat in dieser Neigung
zum Hier-und-Jetzt, meines Erachtens übertrieben, eine zentrale Schwäche
des Menschen gesehen. »This great weakness«, so sagt er, »is incurable in hu-
man nature.« Vgl. D. Hume: Of the Origin of Government, in D. H.: Essays,
Moral, Political and Literary, ed. E. F. Miller (Indianapolis 1985) 37–41, 38.

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 229

von einer Leistung der exekutiven Rationalität sprechen.5 In dieser


Weise rational zu sein, ist eine charakterliche, nicht eine intellektu-
elle Tugend. Sie zu haben, dient dem eigenen Wollen, und deshalb
sollte man sich darum bemühen, sie auszubilden und zu kultivieren.
Diese Disposition zu besitzen, ist also selbst etwas – instru­mentell –
Gewolltes. Auch damit sind wir im Wollen.
(iv) Das Überlegen ist, so wurde gesagt, ein Tätigsein vor dem Tä-
tigsein. Einer Handlung geht schon eine andere Aktivität des Han-
delnden, eben das Überlegen, voraus. Dadurch gewinnt das Han-
deln den Charakter einer spezifischen Eigenheit. Der Handelnde
ist der Autor der Handlung, sie ist in diesem spezifischen Sinne
seine Handlung. Wir können diesen Gedanken, der sich zunächst
auf das instrumentelle Überlegen bezog, ohne weiteres auf das ko-
ordinative Überlegen übertragen. In diesem Fall ist es jedoch nicht
so, dass einer Handlung eine eigene Aktivität vorausgeht, vielmehr
geht dem Wollen, dem Wollen unter dem Strich, ein Überlegen und
damit eine eigene Aktivität voraus. Dadurch gewinnt das Wollen
diese spezifische Eigenheit. Es ist in diesem speziellen Sinn mein
Wollen. Es ist ein überlegtes, durch eine Überlegung an diese Posi-
tion gelangtes Wollen.
Man kann demnach drei Stufen des Eigenseins unterscheiden.
(1) Wenn ein Frosch eine Fliege fängt, ist das seine Handlung, weil
er es ist, der sie tut. Der Auslöser der Handlung ist indes ein Reiz,
auf den er – fest programmiert – nur reagiert. (2) Wenn jemand
­etwas tut, um dadurch etwas Gewolltes zu erreichen, und die Wahl
der Handlung auf eine Überlegung zurückgeht, ist dies in einem
gesteigerten Sinn eine eigene Handlung. Der Handelnde tut sie,
und sie geht zudem auf eine eigene vorgeschaltete Aktivität zu-
rück. Und (3) kann auch das Wollen, dem die Handlung dient, auf
eine Überlegung zurückgehen. Das Wollen ist dann – im zweiten,
gesteigerten Sinne – ein eigenes Wollen. Und man kann dann sa-
gen, dass die Handlung, die man relativ auf ein solches Wollen tut,
eine eigene Handlung in einem dritten Sinne ist. Sie geht auf zwei
vorgeschaltete Phasen des Überlegens zurück, auf die koordinative
Überlegung, die aus dem Wollen über dem Strich das Wollen unter
dem Strich herausdestilliert, und auf die instrumentelle Überlegung,
die im Blick auf das Wollen unter dem Strich die richtige ­Handlung
auswählt. Je weiter man die Stufen des Eigenseins hochsteigt, umso

5 Vgl. hierzu Vf., Normativität, 57 f.

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230 Teil III: Die Koordination des Wollens

größer wird der Anteil des eigenen Ichs, umso größer wird die ei-
gene Einflusszone.
Die Einschaltung zweier Phasen des Überlegens in den Prozess
der Handlungsvorbereitung zeigt, wie stark das Verhalten der Men-
schen in ihrer eigenen Hand liegt und wie stark die Bestimmung des
Verhaltens durch ihren Kopf läuft. Natürlich begründet diese Art der
Verhaltenssteuerung die unvergleichliche Flexibilität des menschli-
chen Verhaltens und damit die unvergleichliche Anpassungs- und
Überlebensfähigkeit der Menschen.
Diese Sachlage hat außerdem große Bedeutung für unser Selbst-
verständnis. Wir sind und sehen uns als wirkliche Autoren unserer
Handlungen. Was wir tun, hängt vom Ergebnis des eigenen Über-
legens, des koordinativen und des instrumentellen, ab. Wir sind und
sehen uns nicht als bloße »bystanders« und Beobachter von subjekt-
losen Prozessen, die in uns ablaufen, an denen wir nicht beteiligt sind
und auf die wir keinen Einfluss haben. Wir sind und sehen uns nicht
als Spielball unseres Wollens. Wir selbst sind es, die das Wollen über
dem Strich koordinieren, die überlegen, was wichtiger und weniger
wichtig ist, und die bestimmen, was das Wollen unter dem Strich
ist. Es ist noch auszuloten, welche Spielräume beim koordinativen
Überlegen genau bestehen. Aber klar ist von vorneherein, dass wir
das gut und schlecht tun können, dass wir uns mehr oder weniger
Mühe geben können, dass wir die Aufmerksamkeit auf dieses oder
jenes lenken können, dass wir die Überlegung vorschnell abbrechen
oder zum richtigen Zeitpunkt abschließen können. Es bestehen also
zweifellos deutliche Spielräume, in denen man sich so oder so ver-
halten kann. Es sei auch daran erinnert, dass bereits in die Ausbil-
dung des Wollens über dem Strich eine eigene Aktivität eingeht, die
Imagination. Von ihr hängt zu großen Teilen ab, was wir über dem
Strich wollen, was also in die Koordination des Wollens eingeht.
Die vier jetzt angeführten Charakteristika eines Wesens, das nicht
nur zum instrumentellen, sondern auch zum koordinativen Über-
legen fähig ist, lassen erkennen, wie stark sich ein solches Lebewe-
sen von weniger entwickelten Lebewesen unterscheidet. Es muss
zusätzlich die Fähigkeit zur Reflexivität haben, es muss komplexe
Sachverhalte, die perzeptuell nicht greifbar sind, sprachlich reprä-
sentieren können, und es muss imstande sein, auch seine Hier-und-
Jetzt-Wünsche zu relativieren. Durch die Fähigkeit, das eigene Wol-
len zu koordinieren, wird die Art der Handlungssteuerung, so zeigt
der vierte Punkt, noch einmal verändert. Es wandern weitere Ele-

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 231

mente in den Kopf des Lebewesens hinein. Die Anteile des Ichs an
der Handlungssteuerung werden dadurch, dass dem maßgeblichen
Wollen eine Überlegung vorgeschaltet ist, noch einmal vergrößert.

2. Das koordinative Überlegen, erste Schritte

Wenn wir jetzt zu der Frage kommen, wie das koordinative Über-
legen funktioniert, ist es hilfreich, als erstes die Situation, in der wir
eine solche Überlegung anstellen, in einigen wesentlichen Grundzü-
gen zu beschreiben. Betrachten wir dazu noch einmal das schon ver-
wandte Beispiel. Ich liege auf einer Wiese am See, genieße die Sonne
und möchte bleiben. Zugleich will ich aber auch am Abend in die
Oper und deshalb jetzt aufbrechen. Tatsächlich will ich, während ich
da liege, untergründig noch tausend andere Dinge. So möchte ich in
einigen Wochen meiner Frau ein schönes Geburtstagsfest ausrichten.
Aber dafür brauche ich heute noch nichts zu tun. Das hat noch Zeit.
An diesem Beispiel lässt sich Folgendes ablesen: (i) Die prakti-
sche Überlegung zielt letzten Endes auf eine Handlung. Es geht in
dieser Situation am Ende darum, ob ich liegen bleibe oder aufbreche.
(ii) Um zu der Handlungswahl zu kommen, ist es aber nötig,
zwei Wünsche zu koordinieren und in ihrem relativen Gewicht zu
bestimmen, den Wunsch, noch weiter in der Sonne zu liegen, und
den Wunsch, die Oper zu hören. Beide Wünsche sind intrinsisch.
Der Wunsch, jetzt aufzubrechen, fällt hingegen heraus, er ist ein ex-
trinsischer Wunsch, dessen Gewicht allein durch den intrinsischen
Wunsch bestimmt ist, von dem er abgeleitet ist. Die Koordination
des Wollens hat es, so zeigt sich, nur mit intrinsischen Wünschen
zu tun und findet zwischen ihnen statt. Die extrinsischen Wünsche
werden gleichsam heraussubtrahiert, sie haben kein eigenes Gewicht,
es sei denn, dass das extrinsisch Gewollte außerdem auch intrinsisch
gewollt oder nicht gewollt wird.
(iii) Die Beispielsituation zeigt überdies, dass in der koordinie-
renden Überlegung nur Wünsche eine Rolle spielen, die einen Be-
zug zum Hier und Jetzt enthalten. Der Wunsch, meiner Frau ein
Geburtstagsfest auszurichten, ist zwar ein gegenwärtiger Wunsch,
aber er geht auf etwas Zukünftiges, und es besteht nicht die Not-
wendigkeit, hier und jetzt etwas zu tun. Der Wunsch ist, so kann
man sagen, gegenwärtig, aber nicht aktuell. Wir haben viele solcher
im Moment nicht aktueller Wünsche. Sie sind da, gehören aber nicht

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232 Teil III: Die Koordination des Wollens

zu den Wünschen, die Gegenstand der koordinativen Überlegung


sind. Die Überlegung setzt also schon eine vorausgehende Unter-
scheidung von aktuellen und nicht aktuellen Wünschen voraus. Sie
erfolgt vermutlich häufig unbewusst und kommt aus dem Hinter-
grund, in dem sich unsere Erfahrungen und unser Wissen über die
Welt sedimentiert haben.
(iv) Es könnte sein, dass ich, wenn ich auf der Wiese liegend über
die Situation nachdenke, noch auf andere relevante Wünsche auf-
merksam werde. So angenehm es ist, noch weiter in der Sonne zu
liegen, ich kann doch vorhersehen, dass ich mich am Abend nach der
vielen Sonne betäubt und unwohl fühlen werde, etwas, was ich nicht
will. Ich stoße damit auf ein weiteres Wollen, das zu berücksichtigen
ist. Und wenn ich in die Oper gehe, werde ich, so mache ich mir be-
wusst, mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Freundin treffen, mit der
ich anschließend noch etwas trinken und plaudern kann, etwas, was
mir Freude machen wird. Auch das ist ein weiteres Wollen, das zu
beachten ist. Man kann also in vielen Fällen dadurch, dass man die
Situation und ihre Alternativen eingehender analysiert, entdecken,
dass noch weitere Wünsche im Spiel sind, die in der Koordination
zu berücksichtigen sind. Die Handlungen, zwischen denen zu wäh-
len ist, bleiben die gleichen, aber die Wünsche, auf die es ankommt,
werden mehr.
Man darf das Gewicht dieses Punktes nicht verkennen. Das ko-
ordinative Überlegen setzt bereits eine weitere Leistung voraus: die
Freilegung des Wollens, das koordiniert werden soll. In dem Bei-
spielfall war das einfach. Der Überlegende macht sich klar, dass das
eine wie das andere Gewollte Konsequenzen haben würde, die ih-
rerseits Gegenstände intrinsischen Wollens sind. So sind auch diese
Wünsche in der Überlegung zu berücksichtigen. In vielen Situatio-
nen stößt man allerdings, wenn es um die Konsequenzen von etwas
Gewolltem geht, an Grenzen. Wir wissen oft nicht, welche Wünsche
berührt sein könnten und zu berücksichtigen wären. Wir müssen
uns deshalb mit dem begnügen, was absehbar ist und uns der Gren-
zen der Überlegung bewusst sein.
Die Freilegung des relevanten Wollens kann auch aus anderen
Gründen schwierig sein. Wir waren schon dem Mann begegnet, der
immerzu arbeiten will, nicht um dadurch etwas zu erreichen, son-
dern intrinsisch. Dieses Wollen hat in vielen seiner Abwägungen
eine dominante Rolle gespielt, und viele andere Wünsche mussten
dahinter zurücktreten. Eines Tages aber geht ihm auf, dass dieses

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 233

Wollen eine konkrete Vorgeschichte hat. Es verdankt sich einem früh


entwickelten, aber uneingestandenen und verborgenen Wunsch, sei-
nem Vater zu gefallen und sich vor ihm zu beweisen. Der Wunsch,
fortwährend zu arbeiten, ist also in Wahrheit immer nur ein extrin-
sischer Wunsch gewesen. Doch der leitende Wunsch ist längst gegen­
standslos geworden, weil der Vater schon lange nicht mehr lebt.
Durch diese Form der Selbstaufklärung verschwindet der Wunsch,
zu arbeiten und zu arbeiten. Der Mann kann sich davon frei machen.
Der Wunsch verschwindet von dem Tableau der Wünsche, die in den
verschiedenen Situationen zu koordinieren sind.
Wieder anders ist es, wenn wir von einem Wollen entdecken oder
uns bewusst machen, dass es eine Eigenschaft hat, die uns stört. Dass
es etwa auf ungesicherten, rational nicht geprüften Annahmen be-
ruht, dass es in uns hineinmanipuliert wurde oder moralisch be-
denklich ist. In diesen Fällen kommt jeweils ein anderes Wollen ins
Spiel, das bis dahin nicht berücksichtigt wurde. Wenn einem aufgeht,
dass ein Wollen moralisch bedenklich ist, würde, das Gewollte zu
realisieren, ein Unrecht sein, und das will man nicht. Damit wird
ein Wollen wichtig, das bisher nicht im Blick war und nicht zu den
Wünschen gehörte, die in der Koordination zu berücksichtigen sind.
Diese wenigen Beispiele zeigen, wie sehr die Freilegung des Wol-
lens das Tableau der Wünsche, die in einer Entscheidungssituation
zu koordinieren sind, verändern kann. Es können Wünsche dazu-
treten, und es können Wünsche verschwinden. Die Beispiele lassen
aber auch erkennen, dass die Freilegung des relevanten Wollens in
vielen Fällen eher eine regulative Idee ist als etwas, was sich ohne
größere Mühe erreichen ließe. Die Konsequenzen dessen, was wir
wollen, sind nicht immer absehbar, der Selbstexploration und der
Aufdeckung der Genese unseres Wollens sind enge Grenzen gesetzt,
unsere Wünsche sind mit anderen, möglicherweise unter der Ober-
fläche verborgenen Wünschen vernetzt, für intrinsisch gehaltene
Wünsche können sich als extrinsisch entpuppen, etc. Wir können
also oft nicht sicher sein, ob die Wünsche, die wir in einer koordi-
nativen Überlegung berücksichtigen, wirklich die relevanten sind.
Damit zeigt sich auch an dieser Stelle etwas, was zuvor schon
hervorgehoben wurde: Es bestehen Spielräume. Auch bei der Frei-
legung des für die Koordination relevanten Wollens bestehen be-
reits in vielen Fällen Spielräume, in denen man sich in verschiedener
Weise verhalten kann. Es gibt keinen deutlich markierten Punkt, an
dem es richtig ist, auf weitere Überlegungen zu verzichten. Wie viel

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234 Teil III: Die Koordination des Wollens

man investiert, wie weit man geht, liegt in der Hand des Überlegen-
den, er muss so oder so agieren.
Ich will wenigstens anmerken, dass man den Konflikt zwischen
gegenläufigen Wünschen häufig lösen kann, indem man die Er-
füllung der Wünsche zeitlich staffelt. Ich bleibe jetzt am See und
nehme mir vor, in die nächste Aufführung der Oper in zehn Tagen
zu gehen. So kann man beide Wünsche erfüllen. Es mag sein, dass in
zehn Tagen, wenn der Opernbesuch ansteht, dem wieder Hier-und-
Jetzt-Wünsche entgegenstehen, aber dieser mögliche, in jedem Fall
erst zukünftige Konflikt muss mich im Moment nicht kümmern.
Es liegt auf der Hand, dass die Möglichkeit, Wunsch-Konflikte
durch zeitliche Staffelung zu lösen, im Leben der Menschen eine
große Rolle spielt. Und dass, solche Zeitpläne zu machen, äußerst
anspruchsvoll ist. Sie implizieren ein aktives Zeitmanagement und
setzen die Fähigkeit voraus, sich für bestimmte Zeitpunkte in der
Zukunft bestimmte Handlungen vorzunehmen. Tiere können das
nicht und Kinder auch nicht. Aber natürlich steht uns dieser Weg
nicht immer offen, und uns interessiert, wie die Koordination des
Wollens funktioniert, wenn ein Konflikt wirklich entschieden wer-
den muss.

3. Die Ressourcen des koordinativen Überlegens.


Falsche Theorien

Was sind nun die Ressourcen, auf die das koordinative Überlegen
zurückgreift? Anhand wovon kommt diese Art des Überlegens zu
ihren Ergebnissen? Es liegt viel daran, in dieser Sache zunächst eine
Reihe einflussreicher traditioneller Vorstellungen zurückzuweisen.
Ich kann mich dabei weitgehend auf Ergebnisse stützen, die bereits
in den vorangegangenen Kapiteln, als es um die Ausrichtung des
Wollens ging, erreicht wurden.
Eine Grundidee, die verschiedene traditionelle Konzeptionen
verbindet, besagt, es gebe einen objektiven Maßstab jenseits des
Wollens, der es erlaubt, das Wollen zu evaluieren und nach wichti-
ger und weniger wichtig zu ordnen. Das koordinative Überlegen hat
folglich auf diesen Maßstab zu sehen, um die gegenläufigen Wün-
sche an ihm zu messen und zu reihen. Wie wir sahen, hat man über
Jahrhunderte die Vorstellung für überzeugend gehalten, man könne
ein Wollen an seinem Gegenstand messen. Wenn das, was man will,

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 235

etwas Gutes ist, ist das Wollen in Ordnung, wenn es etwas Schlech-
tes ist, ist das Wollen hingegen fehlgeleitet, ein »miswanting«. Und
folglich ist, wenn von zwei konkurrierenden Wünschen beide auf
etwas Gutes gehen, das eine aber auf ein größeres Gut, damit klar,
welches Wollen seinen Rivalen aussticht. Das Gut- und Schlechtsein
des Gewollten verstand man in dieser Tradition als eine objektive
Eigenschaft, die den Gegenständen subjektunabhängig und damit
auch wollensunabhängig zukommt. Wir haben jedoch gesehen, dass
es dieses objektive Gute und Schlechte nicht gibt. Es kann deshalb
weder in der Ausrichtung des Wollens noch in seiner Koordination
eine Rolle spielen.
Das traditionelle Modell tritt, wie erläutert, häufig auch in einem
etwas anderen Gewand auf. Man kann das Wollen, so nimmt man
an, daraufhin prüfen, ob es begründet ist, und auch daraufhin, wie
stark der jeweilige Grund ist. Gründe haben ein Gewicht, sie kön-
nen stärker und schwächer sein. Das koordinative Überlegen prüft
demnach, welche der konkurrierenden Wünsche begründet sind und
in welchem Maße sie begründet sind. Der Wunsch, für den am meis-
ten spricht, der also den stärksten Grund hinter sich hat, gewinnt
dann die Konkurrenz und wird zum Wollen unter dem Strich. Die
Gründe, um die es geht, müssen, da sie Gründe für das intrinsische
Wollen sein sollen, offenkundig selbst wollensirrelativ sein.
Doch auch hier wurde gezeigt, dass es solche Gründe nicht gibt.
Alle Gründe sind wollensrelativ. Und das bedeutet, dass es für das
intrinsische Wollen keine Gründe geben kann. Wir können diese
Variante des traditionellen Modells also ebenfalls verwerfen. Und
damit können wir die Vorstellung, das koordinative Überlegen be-
stehe darin, das Wollen im Blick auf eine von ihm unabhängige, ob-
jektive Realität zu evaluieren und zu reihen, insgesamt verwerfen.
Wir müssen eine weitere Konzeption zurückweisen, die Vorstel-
lung, das Überlegen oder, wenn man so will, die Vernunft könne
aus sich selbst heraus Kriterien entwickeln, anhand deren man das
Wollen nach besser und schlechter sortieren könne. Der Maßstab ist
in diesem Fall nicht eine objektive Realität, sondern kommt aus dem
Inneren des Subjekts, eben aus der Überlegung. Mit dieser Kon-
zeption verbindet sich gewöhnlich die traditionelle Enteignung und
Abwertung des Wollens. Das Wollen ist etwas uns Fremdes, etwas,
was nicht wirklich zu uns gehört, während das Überlegen, die Ver-
nunft etwas Eigenes ist, aus dem die Kriterien für die Evaluation
des Wollens kommen.

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236 Teil III: Die Koordination des Wollens

Das Überlegen hat jedoch nur eine kognitive Funktion, die Ver-
nunft erkennt, was ist und wie sich etwas verhält. Sie kann kognitive
Defizite des Wollens aufdecken und so indirekten Einfluss auf das
Wollen haben. Aber sie kann nicht, jenseits dessen, Kriterien aus
sich herausziehen, die eine Reihung der Wünsche ermöglichen. Wie
sollte das gehen? Man kann durch eine Überlegung erkennen, dass
es bestimmte Minimalbedingungen gibt, die eine Reihung von Wün-
schen erfüllen muss, so etwa die Bedingung der Transitivität: wenn
man x will und auch y und z und wenn man x gegenüber y vorzieht
und y gegenüber z, dann muss man auch x gegenüber z vorziehen.
Doch solche Regeln formulieren nur formale Bedingungen für eine
Reihung der Wünsche, sie sagen aber nichts darüber, wie die kon-
kreten Wünsche materialiter zu reihen sind, und sie bieten dafür
keinerlei Kriterien. Sie sagen einem offensichtlich nicht, ob man x
gegenüber y und y gegenüber z vorziehen soll.
Kant hatte, wie oben erläutert, die Vorstellung, die Instanz, die er
»reine« Vernunft nennt, könne aus sich heraus eine generelle Forde-
rung an das Wollen richten, die sich nicht aus dem Bezug auf wei-
tere Wünsche ergibt, sondern wollensirrelativ oder, wie Kant sagt,
kategorisch ist. Es braucht hier nicht geklärt zu werden, ob sich
mit dieser Theorie überhaupt eine Konzeption des koordinativen
Überlegens verbindet. Denn wir haben gesehen, dass es die »reine«
Vernunft, von der Kant spricht, nicht gibt. Sie ist ein Konstrukt, und
deshalb ist auch das auf das Wollen gerichtete kategorische Müssen
ein Konstrukt. Auch in dieser Form hat das Überlegen also keine ei-
genen Ressourcen für die Evaluation und die Ordnung des Wollens.
Es gibt, wie sich zeigt, weder auf der Objektseite noch auf der
Subjektseite Faktoren außerhalb des Wollens, die ein Maßstab für
die Reihung des Wollens sein können. Die traditionellen Theorien,
die das eine oder das andere annehmen, handeln mit Dingen, die es
nicht gibt.
Auch Frankfurts Theorie des Wollens steht, überraschend deut-
lich, in der Tradition, die glaubt, man müsse das eigene Wollen an ei-
nem externen Maßstab messen und bewerten. Frankfurt spricht aus-
drücklich vom »Evaluieren« der eigenen Wünsche.6 Man muss dem
eigenen Wollen gegenüber eine »evaluative attitude« einnehmen7,

6 Frankfurt, Freedom of the Will, 19 (mit n. 6); dt. 74 f.


7 Frankfurt, Identification and Wholeheartedness, 164; dt. 122; siehe auch
The Reasons of Love 11; dt. 16.

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 237

und zwar anhand eines Maßstabs außerhalb des Wollens. Den Maß-
stab bilden nicht die Gegenstände des Wollens und ihre vermeint-
lichen objektiven evaluativen Eigenschaften, er kommt wiederum
aus dem Inneren des Subjekts. Doch nicht die Vernunft evaluiert
das Wollen, sondern ein höherstufiges Wollen. Auch in diesem Fall
ist keineswegs klar, ob dieses Stufenmodell zu einer Konzeption
des koordinativen Überlegens führt. Frankfurt hat eine solche Kon-
zeption jedenfalls nicht entwickelt. Der eigentliche Anlass für die
Ausbildung der Wünsche zweiter Ordnung ist das generelle Miss-
trauen, das wir, wie Frankfurt glaubt, den eigenen Wünschen gegen-
über hegen. Das hat mit der Koordination konkurrierender Wün-
sche nichts zu tun. Dennoch denkt Frankfurt, wenn er auf das Phä-
nomen konfligierender Wünsche erster Stufe zu sprechen kommt,
immer sofort an das Wollen zweiter Stufe. Dieses Wollen bringt die
Lösung für den Konflikt auf der unteren Stufe. So sagt er, auch die
Tatsache, dass Wünsche konfligieren können, sei ein Grund, Wün-
sche zweiter Ordnung auszubilden.8 Ein Konflikt des Wollens auf
der ersten Stufe verlangt, so scheint es, immer eine Entscheidung
auf der höheren Ebene.9 Er führt immer von den konfligierenden
Wünschen weg und ruft nach einer Intervention »von oben«. Man
muss sich »von oben« volitiv hinter einen Wunsch stellen und für
ihn Partei ergreifen.10
Dieser Gedanke Frankfurts spiegelt sich auch in seiner Beschrei-
bung der »wantons«: »wantons« sind Wesen, Tiere und kleine Kin-
der gehören dazu, die über keine höherstufigen Wünsche verfügen,
zumindest nicht über solche, die zum Inhalt haben, ein Wunsch ers-
ter Ordnung solle handlungseffektiv werden. Dem »wanton« fehlt
damit, so meint Frankfurt, jegliches Instrument, einen Konflikt von
Wünschen erster Stufe zu lösen. Der »wanton« kümmert sich nicht
darum, ja er kann sich gar nicht darum kümmern, welcher seiner
Wünsche handlungsleitend wird.11 Stattdessen setzt sich einer seiner

8 Frankfurt, Identification and Wholeheartedness, 169; dt. 128.


9 Vgl. z. B. Frankfurt, Freedom of the Will, 17 f.; dt. 73.
10 Vgl. Frankfurt, The Reasons of Love, 18, 91; dt. 23 f., 98 f. – Wie selbst-
verständlich vielen Autoren diese Idee des Eingreifens »von oben« ist, zeigt
z. B. eine Passage in S. Shoemaker: On Knowing One Own’s Mind (1988),
in: S. S.: The First-Person Perspective and Other Essays (Cambridge 1996)
25–49, 29.
11 Vgl. Frankfurt, Freedom of the Will, 16 ff.; dt. 71 ff.

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238 Teil III: Die Koordination des Wollens

Wünsche, ohne sein Zutun, durch und bestimmt das Handeln.12 Der
»wanton« ist ein Spielball seiner Wünsche, er ist völlig passiv, allen-
falls ein Beobachter dessen, was unabhängig von ihm in ihm abläuft.
Auch in dieser Art, den »wanton« zu charakterisieren, kommt zum
Vorschein, dass Frankfurt die Lösung eines Wunschkonflikts auf der
ersten Ebene immer von einem Geschehen auf der höheren Ebene
erwartet. Man muss sich, wie gesagt, volitiv auf die Seite eines Wol-
lens schlagen und wollen, dass es handlungsleitend wird.
Es ist nicht nötig, zu überlegen, wie diese Gedanken Frankfurts
zum Problem des Wunschkonflikts weiterzuentwickeln wären.
Denn wir haben schon gesehen, dass seine Theorie des mehrstufigen
Wollens in zentralen Punkten nicht überzeugend ist und die Struk-
tur unseres Wollens keineswegs adäquat abbildet. Es gibt zweifellos
höherstufige Wünsche, aber sie spielen nicht die Rolle, die Frank-
furt ihnen zuschreibt. Vor allem haben wir gesehen, und das ist im
jetzigen Zusammenhang das Entscheidende, dass das höherstufige
Wollen immer einer bereits erfolgten Abwägung und Koordination
der Wünsche auf der ersten Stufe folgt. Wenn ich noch in der Sonne
liegen bleiben will, aber auch wegen der Oper am Abend aufbrechen
will und wenn mir nach einer Überlegung klar ist, dass mir die Oper
wichtiger ist, dann will ich nicht, dass der Hier-und-Jetzt-Wunsch,
noch liegen zu bleiben, mein Handeln bestimmt. Dieses höherstu-
fige Wollen gewinnt allerdings wohl nur dann Bedeutung, wenn ich
Gefahr laufe, dem in der Überlegung unterlegenen Wunsch zu fol-
gen. Die Überlegung erfolgt hier offenkundig auf der ersten Stufe,
und der höherstufige Wunsch folgt, wenn er überhaupt ins Spiel
kommt, in seiner Ausrichtung der unabhängig von ihm erreichten
Reihung der Wünsche erster Ordnung. Und genauso ist es generell.
Dem höherstufigen Wollen wird von unten »souffliert«, auf wel-
ches Wollen es sich positiv oder negativ zu richten hat. Es ist also
keine Instanz, die etwas Eigenes einbringt und aus Eigenem über
das Wollen erster Stufe entscheidet. Das Abwägen und die Koor-
dination gegenläufiger Wünsche findet, wie gesagt, auf der Ebene
erster Ordnung statt. Dieses koordinative Überlegen kommt bei
Frankfurt gar nicht vor. Er übergeht es. Folglich sagt er uns auch
nicht, wie es funktioniert.

12 Frankfurt, Identification and Wholeheartedness, 168, 175; dt. 127, 135;


The Reasons of Love, 18; dt. 23; Taking Ourselves Seriously, 13; dt. 28.

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 239

Keine der jetzt diskutierten Theorien bietet, so zeigt sich, eine


überzeugende Theorie des koordinativen Überlegens. Ihre Gemein-
samkeit liegt darin, dass sie das Wollen von außen evaluieren und
testen wollen und glauben, auf diese Weise zu einer Reihung der
konkurrierenden Wünsche kommen zu können.

4. Die Stärke der Wünsche

Wenn ein externer Maßstab ausfällt, muss man, so scheint es, auf
das Wollen selbst schauen. Hat es nicht an sich selbst etwas, was als
Maßstab für eine Reihung dienen kann? Haben die Wünsche nicht
an sich selbst etwas, was es möglich macht, sie zu koordinieren und
in eine Reihung zu bringen? Am besten sollten alle Wünsche dieses
Merkmal aufweisen, weil nur so alle Wünsche miteinander vergleich-
bar sind. Es liegt nahe, anzunehmen, dass die fragliche Eigenschaft
die Stärke oder, anders formuliert, die Intensität der Wünsche ist.
Ein Wunsch hat eine bestimmte Stärke, man will das eine stark, das
andere hingegen nur schwach. Und wenn zwei Wünsche konkur-
rieren und der eine stärker als der andere ist, wird der stärkere zum
Wollen unter dem Strich und der schwächere muss zurückstehen.
Die Stärke von Wünschen bietet offenkundig einen praktikablen
Maßstab für ihre Koordination. Und es scheint, als sei sie, wenn es
keinen externen Maßstab gibt, zugleich der einzige Maßstab, den wir
haben. Das koordinative Überlegen besteht demnach darin, heraus­
zufinden, welcher der relevanten – intrinsischen – Wünsche der re-
lativ stärkste ist. Was ist es, so die Frage, was ich am meisten will?
Was ist mir am wichtigsten?
Die Rede vom stärksten oder stärkeren Wollen bedarf einer Er-
läuterung. Sie ist missverständlich, und es ist wichtig, dieses Missver-
ständnis zu vermeiden. Nehmen wir noch einmal das Casino-Bei-
spiel: Ich will am Abend wieder ins Casino gehen und spielen, und
zugleich will ich es nicht, weil ich weiß, welche desaströsen Folgen
es hat. Es bedarf keiner langen, expliziten Überlegung, um zu wissen,
was mir wichtiger ist. Das kurze Vergnügen am Abend ist mir ganz
gewiss nicht so wichtig wie die gesicherten Verhältnisse, in denen
ich und meine Familie leben und die auf dem Spiel stehen, wenn ich
weiter ins Casino gehe. Meine Lebensverhältnisse zu erhalten und
deshalb nicht ins Casino zu gehen, ist eindeutig der stärkere Wunsch.
Die beiden widerstreitenden Wünsche sind eindeutig in dieser Weise

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240 Teil III: Die Koordination des Wollens

koordiniert. Nicht ins Casino zu gehen, ist das Wollen unter dem
Strich, das überlegte Wollen.
Dennoch gehe ich am Abend wieder ins Casino, weil der Wunsch,
dies zu tun, der Wunsch eines Süchtigen ist. Das Ergebnis der Über-
legung, die eindeutige Koordination nach wichtiger und weniger
wichtig bestimmt also nicht das Handeln. Man könnte das nun so
fassen, dass der Wunsch, ins Casino zu gehen, offenbar der stär-
kere Wunsch sei. Denn er hat sich durchgesetzt, er hat effektiv das
Handeln bestimmt. Das vermeintlich stärkste Wollen bleibt hinge-
gen ineffektiv. Aber gerade so wird die Rede vom stärksten Wollen
hier nicht verstanden. Der stärkste Wunsch ist der, der sich in der
Überlegung als der stärkste herausstellt, und das ist der Wunsch,
nicht ins Casino zu gehen. Dies ist das Wollen unter dem Strich der
Deliberation. Ob man in der Lage ist, das Ergebnis der Überlegung
auch ins Handeln umzusetzen, steht auf einem anderen Blatt. Im
Normalfall ist der stärkste Wunsch, das Wollen unter dem Strich,
zugleich auch der handlungseffektive Wunsch. Aber in speziellen
Fällen gilt das nicht. Wunschstärke und Handlungseffektivität sind
deshalb verschiedene Dinge. Um den Unterschied auch termino-
logisch zu markieren, kann man einerseits vom »stärksten« oder
»deliberativ stärksten« und andererseits vom »handlungseffektiven«
Wunsch sprechen.
Wodurch ist die Stärke eines Wollens bestimmt? Wo kommt sie
her? Beim hedonischen Wollen hängt die Stärke oder Intensität des
Wollens davon ab, wie angenehm etwas ist oder als wie angenehm
etwas vorgestellt wird. Wenn ich aus zurückliegenden Erfahrungen
weiß, wie selig ich bin, wenn ich eine Oper höre, ist der Wunsch, in
die Oper zu gehen, ein anderer, als wenn ich den Eindruck habe, dass
mein Gefallen an diesem Spektakel schon seit längerem nicht mehr
so groß ist. Wie das Wollen dem Angenehmen folgt, so reflektiert
die Stärke des Wollens die Vorstellung davon, wie angenehm etwas
sein wird. Man kann daher, wenn zwei Wünsche dieser Art konkur-
rieren, statt zu fragen, was man mehr will, auch fragen, was einem
angenehmer sein wird.
Für das eingerammte Wollen gilt dies nicht. Es ist da, ohne eine
vorgängige Imagination von etwas Angenehmem, und es ist, wie
es scheint, von Natur aus stark. Die Menschen wollen weiterleben,
das ist ein fundamentales und äußerst starkes Wollen. Sie sind am
Wohl ihrer Kinder interessiert, auch das ist ein elementares und sehr
starkes Wollen. Und sie sind auf Anerkennung aus, auch dies ist ein

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 241

äußerst starker Antrieb. Dass Wünsche dieser Art uns von der Natur
»eingepflanzt« sind, schließt indessen nicht aus, dass variable Fakto-
ren ihre Stärke mitbestimmen. Wer in der Kindheit und Jugend die
Erfahrung der Ausgrenzung und des Nicht-dazu-Gehörens gemacht
hat, wird möglicherweise mehr auf Anerkennung aus sein als der, der
so etwas nicht erlebt hat.
In vielen Situationen fällt es uns nicht schwer, zu wissen, welches
Wollen stärker ist und was uns wichtiger ist. Aber in anderen Fällen
müssen wir überlegen. Auf welche Weise können wir herausfinden,
wie stark ein Wollen ist und ob es stärker ist als ein anderes? Of-
fensichtlich haben wir unser Wollen und seine Stärke nicht durch
eine innere Wahrnehmung vor uns. Wir können nicht in uns hin-
einschauen, dort Wünsche sehen und bei genauerem Hinsehen auch
entdecken, welche von mehreren rivalisierenden Wünschen stärker
als die anderen sind. Wir können auch nicht fühlen, wie stark unsere
Wünsche sind. Die meisten Wünsche haben keine phänomenalen
Qualitäten. Es fühlt sich nicht irgendwie an, eine längere Reise in
die USA machen zu wollen. Und man kann auch nicht fühlen, ob
man das eine stärker oder schwächer als das andere will. Aber wie
dann? Es ist am besten, diese Frage möglichst praktisch anzugehen
und zu überlegen, was wir konkret tun und tun müssen, wenn uns
nicht klar ist, was wir mehr wollen, dieses oder jenes.
Zwei Dinge, so scheint es, sind wesentlich. Zuerst muss man sich
von dem, was man will, ein möglichst konkretes und differenziertes
Bild machen. Nur so kann man einschätzen, wie angenehm es sein
wird. Es reicht nicht, eine bloß vage Vorstellung zu haben. Man
darf nicht blind auf etwas fliegen, sondern muss sich, so gut es geht,
vorstellen, wie das Gewollte sein wird, mit all dem, was einen an-
zieht, aber auch mit den negativen Seiten, die es möglicherweise hat.
Wenn man in einem Haus am See leben will und fraglich ist, welches
Gewicht diesem Wollen in der Konkurrenz mit anderen Wünschen
zukommt, muss man versuchen, sich das, was man da will, möglichst
konkret auszumalen. Wie wird es sein, in einem solchen Haus zu
leben, und was wird es mir bedeuten, nicht nur am ersten Tag, son-
dern dauerhaft? Ist es nur ein Bild, dem ich nachjage, eine trügeri-
sche Phantasie, oder wird es mir wirklich wichtig sein? Natürlich
kann man nicht genau antizipieren, wie es sich anfühlen wird, wirk-
lich in einem solchen Haus zu leben. Aber man kann sich um eine
möglichst konkrete Vorstellung bemühen. Genauso, wenn jemand
Cellist werden möchte: wie wird das im Berufsalltag konkret sein,

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242 Teil III: Die Koordination des Wollens

und wie wird es einem damit ergehen? Ist das etwas, was einem dau-
erhaft Freude machen wird, oder ist es nur ein verträumter Wunsch?
Sich das, was man will, konkret und lebendig vor Augen zu füh-
ren, wird es in vielen Fällen leichter machen, zu erkennen, ob ein
fragliches Wollen die gegenläufigen Wünsche überwiegt oder nicht.
Die konkrete und lebendige Imagination des Gewollten spielt im
koordinativen Überlegen also eine wesentliche Rolle.
Als Zweites ist es wesentlich, sich zu vergegenwärtigen, was man
schon weiß. Man hat in der Vergangenheit bereits Erfahrungen da-
mit gemacht, was einem angenehm und unangenehm ist und wie
angenehm oder unangenehm etwas ist. Und man hat diese Erfahrun-
gen miteinander in Beziehung gebracht, systematisiert und zu allge-
meineren Überzeugungen darüber, welche Dinge in welchem Maße
angenehm sind, geformt. Wenn man für die Zukunft etwas will, mit
dem man der Art nach schon Erfahrungen gemacht hat, hat man
folglich eine Vorstellung davon, wie angenehm es sein wird. Und
man hat damit auch eine Vorstellung davon, wie stark das Wollen ist.
Und wahrscheinlich kann man auf Grund dieses Erfahrungsmate-
rials auch bereits wissen, dass dieses Wollen stärker oder schwächer
ist als ein anderes, konkurrierendes Wollen.
Wir verfügen aber nicht nur über Erfahrungen mit dem unmittel-
bar Angenehmen, sondern auch mit dem satisfaktiv Angenehmen.
Das heißt, wir haben erlebt, wie sehr es uns gefreut hat, dass ein
Wunsch in Erfüllung ging, und wie sehr es uns geschmerzt hat, wenn
das nicht geschah. In diesen Gefühlen und ihrer Intensität spiegelt
sich die Stärke des Wollens. Je mehr man sich freut und je mehr es
einen schmerzt, umso stärker ist das Wollen, umso mehr liegt uns
an dem Gewollten. Das Spektrum der möglichen emotionalen Re-
aktionen ist indessen größer und differenzierter. So reagieren wir
auf bestimmte Dinge, die wir tun oder die uns geschehen, mit Är-
ger, Wut, Scham, Empörung, Stolz. In jeder dieser Emotionen zeigt
sich, dass etwas geschehen ist, was man will oder nicht will. Und
die Stärke der emotionalen Reaktion ist wiederum ein Gradmesser
für die Intensität des vorausgehenden Wollens. Wenn man jemals in
einer Situation war, in der das eigene Leben bedroht war, hat man er-
lebt, wie stark die Reaktionen sind, die Angst und die gesamte auto-
matische Gegenmobilisierung. In der Stärke dieser Reaktionen zeigt
sich, wie stark und elementar der Wunsch weiterzuleben ist. Wir er-
fahren also aus den Gefühlen der Freude und der Frustration wie aus
den anderen, komplexeren Emotionen und Reaktionen ­etwas über

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 243

unser Wollen, wir erfahren, wie sehr uns an einer Sache liegt, und
manchmal wohl überhaupt erst, dass uns an einer Sache liegt. Wir
machen »volitionale Selbsterfahrungen« und erkennen ­etwas über
unsere Wünsche und ihre Intensitäten.13
Diese Darlegungen zeigen, dass wir, wenn wir in einer konkreten
Situation überlegen, wie die gegenläufigen Wünsche zu koordinie-
ren sind, schon viel über unser Wollen wissen. Und in den meisten
Situationen dürfte dieses Wissen ausreichen, um zu einem klaren
Ergebnis zu kommen. Wesentlich in der koordinativen Überlegung
ist also, sich die Erfahrungen, die man mit dem Angenehmen und
Unangenehmen und mit dem eigenen Wollen gemacht hat, möglichst
genau und möglich unverzerrt zu vergegenwärtigen und sie für die
Klärung der aktuellen Konfliktsituation zu nutzen.
Es kommt noch ein weiteres wichtiges Element hinzu. Wenn je-
mand auf sein Verhalten in der Vergangenheit zurückschaut, kann
ihm etwas auffallen, was ihm bisher gar nicht bewusst war, nämlich
wie viel Negatives er in Kauf genommen hat, um ein bestimmtes Ziel
zu erreichen. Andere hätten, so denkt er dann vielleicht, angesichts
der Widrigkeiten das Ziel längst aufgegeben. Er aber hat daran fest-
gehalten. Auf diese Weise wird ihm bewusst, wie wichtig ihm die
Sache war und wie stark er sie gewollt hat. Die Stärke des Wollens
manifestiert sich in diesem Fall in dem faktischen Verhalten. Wenn
andere die Umstände gut genug kennen, können auch sie, aus der
Perspektive des Beobachters, feststellen, dass die Person die betref-
fende Sache offenbar sehr stark gewollt hat.
Bei Wünschen, um deren Koordination es in einer aktuellen
Überlegung geht und deren mögliche Verwirklichung deshalb erst
in der Zukunft liegt, kann man eine solche zurückblickende Beur-
teilung nicht vornehmen. Der behaviorale Indikator für die Stärke
des Wollens lässt sich nicht anwenden. Allerdings kann man das Ver-
fahren ins Imaginative wenden. Man kann sich fragen, was an Ne-
gativem man bereit wäre hinzunehmen, um ein bestimmtes Wollen
zu befriedigen. Was wäre man bereit zu geben dafür, das Gewollte
zu erreichen? So kann man sich zum Beispiel vorstellen, einem der
eigenen Kinder gehe es schlecht, es sei krank, rauschgiftabhängig

13 Die Formulierung »volitionale Selbsterfahrung« stammt von Gottfried


Seebaß, der sie im Blick auf verschiedene Überlegungen Frankfurts ge-
braucht hat. Vgl. Was heißt, sich im Wollen orientieren? (2000), in: G. S.:
Handlung und Freiheit (Tübingen 2006) 111–130, 126.

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244 Teil III: Die Koordination des Wollens

oder im Gefängnis. Was würde man dafür geben, das zu ändern? Fast
alles, so könnte die Antwort lauten, und darin zeigte sich dann, wie
sehr einem am Wohl der eigenen Kinder liegt. Was wäre man bereit
zu tun, was wäre man bereit hinzunehmen, um das Ziel, Cellist zu
werden, zu erreichen? Wenn es einem gelingt, zu sagen, dies gewiss,
jenes gewiss nicht, zeichnet sich, mehr oder weniger genau, ab, wie
wichtig einem die Sache ist und wie stark der entsprechende Wunsch
ist. 1971 starb der Komponist Igor Strawinsky in New York. Seine
Musik hatte die junge Susan Sontag fasziniert. Kurz nach seinem
Tod notiert sie – inzwischen Ende dreißig und ein Star der amerika-
nischen Literatur – in ihrem Tagebuch: »Ich weiß noch, wie Merrill
und ich immer darüber diskutierten, ob wir unser Leben dafür op-
fern würden, dass Strawinsky ein Jahr länger leben könnte – oder
fünf. Ich war damals vierzehn oder vielleicht fünfzehn.« Die beiden
Freundinnen Merrill und Susan lieben die Musik von Strawinsky
und wollen nicht, dass er stirbt. Und sie überlegen, was sie geben
würden, ob es gar das eigene Leben wäre, damit das, was sie nicht
wollen, nicht geschieht. Das ist gewiss das Spiel zweier aufgekratzter
Teenager, aber ihre Imagination zeigt die Struktur des gedanklichen
Experiments. Welchen Preis wäre man bereit zu zahlen dafür, dass
das Gewollte Realität wird?
Man schaut auf diese Weise nicht auf vergangene Verhaltenswei-
sen zurück und erkennt an ihnen, wie stark ein Wollen war, sondern
imaginiert, was man bereit wäre zu tun, um daran abzulesen, wie
stark ein Wollen ist. Man experimentiert mit imaginierten Hand-
lungsverläufen, für die man sich entscheiden würde, um ein Ziel zu
erreichen, und mit Handlungsverläufen, die man nicht bereit wäre
zu realisieren, um das Ziel zu erreichen. So erkennt man, zuneh-
mend genauer, wie stark ein aktuelles Wollen ist. Man kann auch
sagen, dass man auf diese Weise mit imaginierten Wunschkonflikten
experimentiert: man stellt dem, was man will, in der Imagination
Dinge entgegen, die man nicht will, und tastet ab, wie viel Nega-
tives man bereit wäre zu tun oder hinzunehmen, um das Gewollte
zu erreichen.
Dabei kann man, wie man einen imaginierten Wunschkonflikt
entscheiden würde, nur wissen im Rückgriff auf die Erfahrungen,
die man mit dem Angenehmen und Unangenehmen und dem ei-
genen Wollen schon gemacht hat. Das ganze Verfahren mit seinen
experimentellen Teilen funktioniert nur im Rückgriff auf das vor-
handene Wissen. Man vergegenwärtigt es sich und macht es sich

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 245

durch die imaginativen Experimente in seiner Differenziertheit neu


bewusst. Dies in der Hoffnung, dass dadurch auch die Lösung des
aktuellen Wunschkonflikts möglich wird.
Damit wie auch mit den anderen Bemerkungen über die Metho-
den des koordinativen Überlegens schält sich heraus, dass wir, wenn
wir in dieser Form überlegen, wesentlich eines tun: wir führen uns
vor Augen, was wir darüber, was uns wichtig ist und wie wichtig es
uns ist, schon wissen, in der Hoffnung, dadurch den aktuellen Kon-
flikt lösen und die einander entgegenstehenden Wünsche koordi-
nieren zu können. Das koordinative Überlegen ist der Versuch, aus
altem Wissen neues Wissen herauszuziehen. Wir versuchen, in dem,
was wir über unsere Wünsche, ihre Gegenstände und das Ausmaß
ihrer Wichtigkeit schon wissen, Elemente zu finden, die es erlauben,
die Stärke der in der momentanen Situation konkurrierenden Wün-
sche zu erkennen und so zu ihrer Reihung zu kommen. Auch die
beschriebenen imaginativen Experimente dienen, wie gesagt, dazu,
sich unser Wissen zu vergegenwärtigen, es in seiner Differenziertheit
zu entfalten, und auch dazu, herauszufinden, wie weit es reicht und
wo seine Grenzen sind. Dieses Wissen ist, so scheint es, die einzige
Ressource, über die das koordinative Überlegen verfügt. Man kann
sie allerdings – dank der menschlichen Sprache – massiv vergrößern,
indem man sich nicht nur auf die eigenen Erfahrungen stützt, son-
dern auch die Erfahrungen anderer berücksichtigt.

5. Zwei Einwände

Das Bild des koordinativen Überlegens, wie es jetzt skizziert wurde,


kann verschiedene Einwände auf sich ziehen. Auf zwei besonders
wichtige möchte ich eingehen. Zunächst könnte man einwenden, das
koordinative Überlegen sei so dargestellt worden, als gehe es darum,
zu erkennen, wie stark die einzelnen Wünsche sind, um sie dann
entsprechend zu ordnen. Aber ist es nicht eher so, dass die Stärke
der Wünsche erst durch die Überlegung bestimmt und den Wün-
schen beigelegt wird? Geht die Stärke der Wünsche, anders gesagt,
der Überlegung voraus und erkennt diese nur, wie groß sie ist, oder
wird sie den Wünschen vielmehr erst im Zuge der Überlegung ge-
geben? – Im Falle des Weiterleben-Wollens scheint die Stärke des
Wollens vorgegeben zu sein. Genauso bei dem Interesse am Wohl
der eigenen Kinder. Wenn wir über die Stärke eines Wollens dieser

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246 Teil III: Die Koordination des Wollens

Art im Vergleich mit einem anderen Wollen unsicher sind, müssen


wir versuchen, zu erkennen, welches Wollen stärker ist. Wir können
nicht wählen, welches stärker ist und was uns wichtiger ist. Und wir
legen auch nicht durch den Prozess des Überlegens den Wünschen
erst eine bestimmte Stärke bei. Ich habe erwähnt, dass selbst bei ei-
nem eingerammten Wollen variable Faktoren die Stärke mitbestim-
men können. Aber auch wenn es so ist, müssen wir erkennen, wie
stark das Wollen im Ergebnis ist.
Dasselbe gilt, so meine ich, für das hedonische Wollen. Wenn ich
den Wunsch habe, in den nächsten Jahren einmal eine längere Reise
in die USA zu machen, ist dieser Wunsch, was seine Stärke angeht,
kein unbeschriebenes Blatt. Denn mir ist ganz klar, dass ich, um
die Reise zu realisieren, nicht den Erfolg meines Betriebs riskieren
werde, und ich weiß auch, dass ich bereit sein werde, die ansehnliche
Summe, die die Reise kosten wird, dafür auszugeben. Der Wunsch
hat also bereits eine mehr oder weniger fixierte Position im Gefüge
meines Wollens. Man könnte das vielleicht so beschreiben, dass ich
dem Wollen durch die Einfügung in die anderen Wünsche und die
dabei vollzogenen Vergleiche erst eine bestimmte Stärke gegeben
habe. Und wenn ich diesen Prozess durch weitere Vergleiche mit
anderen Dingen, die ich will oder nicht will, fortsetze, würde ich
ihm eine immer genauere Stärke geben. Dieser Prozess sei kein Er-
kenntnisprozess, sondern ein Prozess, durch den dem Wollen erst
eine bestimmte Stärke beigelegt wird.
Diese Sichtweise mag ansprechend wirken, aber sie trifft die Phä-
nomene nicht. Denn ein Vergleich setzt immer voraus, dass das, was
verglichen wird, unabhängig vom Vergleich die für den Vergleich
relevanten Eigenschaften hat. Wenn man wissen will, ob ein Apfel
schwerer ist als ein anderer, und beide Äpfel auf eine Waage legt, ist
der Vergleich nur möglich, wenn jeder der Äpfel unabhängig von
dem Vergleich ein bestimmtes Gewicht hat. Das Gewicht wird den
Äpfeln nicht durch den Prozess des Wiegens gegeben. Es wird nur
erkannt, dass der eine Apfel schwerer ist als der andere. Das zeigt,
dass man auch die Stärke zweier Wünsche nur vergleichen kann,
wenn sie unabhängig von dem Vergleich bereits eine Stärke haben.
Auch in diesem Fall dient der Vergleich nur der epistemischen Auf-
deckung eines Sachverhalts, aber er schafft ihn nicht.
Die Stärke eines hedonischen Wollens hängt, wie gesagt, davon
ab, wie angenehm das Gewollte ist oder, genauer gesagt, als wie an-
genehm es vorgestellt wird. Sie ist durch die Vorstellung des Ange-

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 247

nehmen bestimmt und liegt dadurch, unabhängig von Vergleichen


mit anderen Wünschen, fest. Wie angenehm ich mir die Amerika­
reise vorstelle, hängt wiederum davon ab, welche Erfahrungen ich
mit ähnlichen Reisen oder verwandten Unternehmungen gemacht
habe. Sich dies vor Augen zu bringen, ist aber ein Erkenntnispro-
zess, man macht sich durch die Vergegenwärtigung und Auswer-
tung zurückliegender Erfahrungen ein Bild davon, wie angenehm
eine solche Reise vermutlich sein wird. Der Erkenntnis sind dabei
zweifellos Grenzen gesetzt; die Reise ist noch nicht gemacht, sie ist
etwas Zukünftiges und Neues, und sie wird auch ganz unerwartete
Erfahrungen bereithalten. Aber dass es so ist und wie sehr mir das
gefällt, ist wiederum etwas, was ich aus der Erfahrung weiß. Es wäre
also falsch, zu meinen, ich könne, ganz ungebunden, bestimmen, als
wie angenehm ich mir die Reise vorstelle, und damit auch bestimmen,
wie sehr ich diese Reise will.
Es bestätigt sich damit – gegen den Einwand –, dass das koordi-
native Überlegen ein Prozess des Erkennens ist. Man erkennt, oder
bemüht sich zu erkennen, wie wichtig einem etwas ist und dass ei-
nem das eine wichtiger ist als das andere. Die Überlegung legt dies
den Wünschen nicht bei. Genauer betrachtet, kann man gar nicht
verstehen, was mit dieser Vorstellung gemeint sein könnte.
Dieser Befund enthält noch eine weitere Einsicht: Es ist nicht
richtig oder zumindest irreführend, den Weg von den vielen Wün-
schen über dem Strich zu dem einen Wunsch unter dem Strich, wie
es oft geschieht, als eine Entscheidung zu verstehen. Es handelt sich,
wie gesagt, um einen Erkenntnisprozess. Wir wollen erkennen, wel-
cher Wunsch der stärkste ist. Tatsächlich können wir nicht durch
eine Entscheidung bewirken, dass uns etwas wichtig ist oder dass
uns etwas am Herzen liegt, – und auch nicht, dass uns etwas wich-
tiger als etwas anderes ist. Wir haben hier keine Wahl.
In vielen Fällen können wir allerdings nicht vollständig antizipie-
ren, welche Erfahrungen wir mit Dingen machen werden, die in der
Zukunft liegen. Unsere zurückliegenden Erfahrungen mit dem An-
genehmen und mit unserem Wollen müssen keineswegs ausreichend
sein, um einschätzen zu können, wie angenehm oder unangenehm
etwas Zukünftiges sein wird. Und sie müssen keineswegs so bewusst
und artikuliert sein, dass man sie leicht abrufen und für die Einschät-
zung des Zukünftigen nutzen kann. Die früheren Erfahrungen, die
die entscheidende Ressource für das koordinative Überlegen darstel-
len, liegen keineswegs völlig transparent und wohlsystematisiert da,

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248 Teil III: Die Koordination des Wollens

es handelt sich vielmehr um ein nicht wirklich überschaubares Ge-


füge, dem ständig neue Elemente hinzugefügt werden, die indessen
nicht nur additiv dazukommen, sondern auch die bisherigen Muster
und Ordnungen verändern und umgestalten.
Auf Grund dieser sowohl prinzipiellen wie auch individuellen
Grenzen führt der epistemische Prozess nicht immer zu einem Er-
gebnis. Und dann muss man, weil man ja, zumindest vorerst, nur
ein Wollen realisieren kann, eine Entscheidung treffen und zusehen,
wie es werden wird. Wobei man jedoch nicht entscheidet, welches
Wollen das stärkere ist, sondern was man tut. Welches Wollen das
stärkere ist, bleibt unentschieden. Doch auch eine solche Entschei-
dung kommt nicht aus dem Nichts; oft wird einen ein Bauchgefühl
leiten, das sich aus untergründigen, unartikuliert gebliebenen und
kaum bewussten Erfahrungen speist.
Der zweite Einwand gegen die vorgetragene Analyse des koor-
dinativen Überlegens ist anders gelagert und grundsätzlicher. Die
Analyse sei, so sagt er, viel zu primitiv. Selbst wenn man einsieht,
dass es die verschiedenen externen Standards für das Wollen nicht
gibt, ist es dann wirklich so, dass im koordinativen Überlegen al-
lein die Stärke der verschiedenen Wünsche zählt? In Wirklichkeit
interessieren uns doch noch eine Reihe anderer Aspekte. So, ob ein
Wollen besonders ich-nah ist oder eher peripher, ob es authentisch ist
oder unselbständig, bloß von anderen übernommen, oder vielleicht
sogar zwanghaft und pathologisch, ob es kognitiv in Ordnung ist
oder kognitiv defizient. All das ist für uns doch auch wichtig, und
deshalb müssen diese Aspekte, so die Vorstellung, in der koordina-
tiven Überlegung auch eine Rolle spielen. Man kann sie nicht auf die
Stärke des Wollens reduzieren.14
Das gezeichnete Bild ist ohne Zweifel primitiv, es bietet nicht
mehr als eine Skizze, die nicht entfernt die Komplexität und Viel-
gestaltigkeit des koordinativen Überlegens spiegelt (weshalb ich
im Folgenden noch einige zusätzliche Einträge vornehmen werde).
Aber das ist nicht die Frage. Entscheidend ist, ob es im Grundsätzli-
chen richtig ist oder falsch, ob nämlich wirklich die Stärke des Wol-
lens der einzige Vergleichsgesichtspunkt im koordinativen Über­

14 Eine einflussreiche Ausformung dieses Einwandes findet sich bei Ch.


Taylor: What is Human Agency? (1977), in: Ch. T.: Human Agency and
Language. Philosophical Papers, vol. 1 (Cambridge 1985) 15–44.

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 249

legen ist oder ob auch andere, von der Stärke des Wollens unabhän-
gige Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind.
Im Sinne des Einwandes könnte man folgendes Szenario anfüh-
ren. Jemand ist neidisch auf seine Cousine, sie hat eine unerwartete
Erbschaft gemacht und beginnt, ein Haus zu bauen, etwas, was er
selbst auch immer wollte, aus finanziellen Gründen aber nie konnte.
Der Neid frisst sich ein, und daraus entsteht der Wunsch, auch an
eine Erbschaft zu kommen. Die Person entwickelt deshalb die Idee,
sich von nun an um eine alte, reiche Tante zu kümmern und sich ihr
gefällig zu machen. Das wird allerdings einen erheblichen Zeitein-
satz erfordern und kollidiert folglich mit einer Reihe anderer Wün-
sche. Die Vorstellung ist nun, dass in der Koordination der kon-
kurrierenden Wünsche nicht nur ihre Stärke zählt, sondern auch
der Umstand, dass einer der Wünsche einer problematischen Emo-
tion, eben einem Neidgefühl, entspringt. Das sei ein zweites, von der
Stärke unabhängiges Element, das diesen Wunsch abwertet, und dies
müsse in die Überlegung eingehen.
Es ist, denke ich, leicht zu sehen, dass diese Analyse der Situa-
tion oberflächlich ist. Dass ein Wunsch neidgetrieben ist, gewinnt
für einen nur eine Bedeutung, wenn einen diese Tatsache stört. Und
sie stört einen nur, wenn man das Gefühl des Neides missbilligt,
wenn man es nicht will und deshalb auch einen aus diesem Gefühl
entspringenden Wunsch nicht will. Die Tatsache, dass ein Wunsch
die-und-die Eigenschaft hat, gewinnt, wie wir sahen, generell nur
Relevanz unter der Voraussetzung eines anderen Wollens. Dadurch,
dass ein Wollen in irgendeiner Weise problematisch ist, kommt also
nicht ein zweites Vergleichskriterium hinzu; es bedeutet vielmehr,
dass ein gegenläufiges Wollen im Spiel ist, nämlich der Wunsch, sich
von einem so qualifizierten Wollen in seinem Handeln nicht bestim-
men zu lassen. Das Tableau der Wünsche, die zu koordinieren sind,
ist also in Wirklichkeit um einen wesentlichen Wunsch reicher. Der
– um in unserem Beispiel zu bleiben – neidgetriebene Wunsch steht
auch gegen den Wunsch, sich von einem solchen Wunsch nicht lei-
ten zu lassen. Und wie zwischen diesen Wünschen entschieden wird,
hängt allein von ihrer Stärke ab.
Man darf sich an dieser Stelle nicht durch die Tatsache verwirren
lassen, dass einer der konkurrierenden Wünsche ein Wunsch zwei-
ter Stufe ist, und glauben, dies bringe etwas Besonderes ein. Der
Wunsch, sich nicht von einem Wunsch bestimmen zu lassen, der aus
einem Neidgefühl kommt, leitet sich von dem basalen Wunsch ab,

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250 Teil III: Die Koordination des Wollens

das Gefühl des Neides nicht zu wollen, bei sich selbst nicht und auch
bei anderen nicht. Dieser Wunsch hat eine bestimmte Stärke, und
die Stärke des höherstufigen Wollens übernimmt genau diese Stärke.
Der Wunsch zweiter Stufe ist in seiner Existenz und in seiner Stärke
ein bloßes Derivat des basalen Wunsches erster Stufe. So dass der
eigentliche Wunschkonflikt ein Konflikt zwischen Wünschen erster
Stufe ist. Und er wird durch die Stärke dieser Wünsche entschieden.
Die Idee, auch andere Eigenschaften neben der Stärke des Wol-
lens müssten im koordinativen Überlegen als eigenständige, von
der Stärke des Wollens unabhängige Vergleichsgesichtspunkte eine
Rolle spielen, führt, wie sich zeigt, ebenfalls in die Irre. Man muss
auch diese Vorstellung zurückweisen.
Wie aber, so könnte man wieder fragen, wenn ein Wollen etwas
Unmoralisches zum Gegenstand hat? Ist das nicht etwas, was in der
Koordination des Wollens neben der Stärke ein eigenes Gewicht hat?
Wird dadurch das Wollen nicht unabhängig von seiner Stärke abge-
wertet, so dass es in der Konkurrenz der Wünsche zurückfällt oder
erst gar nicht berücksichtigt wird? Doch auch in diesem Fall gilt,
wie oben schon erläutert, das, was generell gilt. Auch die Tatsache,
dass ein Wollen auf etwas Unmoralisches geht, gewinnt für einen
nur Bedeutung, wenn man ein anderes, gegenläufiges Wollen hat,
den Wunsch, nichts Unmoralisches zu tun. Die Moral muss, wenn
sie etwas bedeuten und praktische Relevanz erlangen soll, in einem
Wollen verankert sein. Man muss sie, aus welchen Gründen auch im-
mer, wollen. Wenn man das tut, kollidiert der Wunsch, etwas zu tun,
was unmoralisch ist, mit dem allgemeinen Wunsch, sich moralisch zu
verhalten. Dass es etwas Unmoralisches ist, was man will, bedeutet
also für sich genommen noch nichts. Erst wenn diesem Wollen ein
anderes Wollen, und zwar ein stärkeres entgegensteht, kommt es zu
seiner Zurücksetzung und Subordinierung. Dies ist aber allein ein
Effekt der Stärke des konkurrierenden allgemeinen Wollens.
Wir sprechen oft nicht so, der allgemeine Wunsch, nichts Unmo-
ralisches zu tun, kommt gar nicht ins Bild, und vielleicht tendieren
wir mehr oder weniger unbewusst zu der Vorstellung, die Moral
sei durch sich selbst für uns von Bedeutung. Wir nehmen deshalb
an, der Umstand, dass ein Wollen auf etwas Unmoralisches gehe,
disqualifiziere es eo ipso und nehme ihm alles Gewicht in der Kon-
kurrenz der Wünsche. Aber tatsächlich kommt dieses Wollen nicht
zum Zuge, weil wir einen anderen, stärkeren Wunsch haben, eben
den allgemeinen Wunsch, nichts Unmoralisches zu tun.

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 251

Es ist im Übrigen, wie jeder weiß, nicht nur möglich, sondern


tägliche Realität, dass die Abwägung anders ausfällt, dass es einem
wichtiger ist, in einer konkreten Situation etwas Bestimmtes zu tun,
obwohl es unmoralisch ist, und dass es einem weniger wichtig ist,
die Maxime, nichts Unmoralisches zu tun, ausnahmslos umzuset-
zen. Auch in einem solchen Fall, das muss man sich bewusst machen,
entscheidet allein die Stärke des Wollens. Wir können den zweiten
Einwand also auch in dieser Variante zurückweisen.

6. Maximen und Prinzipien der Rationalität

Ich habe das koordinative Überlegen bisher so dargestellt, als wäge


man in jeder Situation neu die Stärke der rivalisierenden Wünsche
ab. So ist es selbstverständlich nicht. Ähnliche Situationen mit ähn-
lichen Wunschkonflikten wiederholen sich, und deshalb bildet man
Regeln oder Maximen aus, die für die Zukunft festlegen, welches
Wollen man vorzieht und welches Wollen zurückzustehen hat. Sol-
che Prioritäts- oder Präferenzregeln entstammen der Auswertung
und Systematisierung zurückliegender Erfahrungen und zurück-
liegender Überlegungen. Sie sind Instrumente der Abkürzung und
Vereinfachung. Mit ihnen gelangen allgemeine und tendenziell dau-
erhafte Schemata in den Prozess des koordinativen Überlegens. Die
Bestimmung des Wollens unter dem Strich gewinnt durch sie in ei-
nem bestimmten Maße eine feste Struktur. Mit den Maximen kom-
men aber offensichtlich keine neuen Vergleichskriterien neben der
Stärke des Wollens hinein.
Den Maximen kommt zusätzlich zur Vereinfachung noch eine
zweite Funktion zu. Sie helfen uns, unserer Neigung zu widerste-
hen, Hier-und-Jetzt-Wünsche zu bevorzugen. Man verfestigt das
Ergebnis früherer Überlegungen, die bestimmte wiederkehrende
Hier-und-Jetzt-Wünsche anderen Interessen, längerfristigen und
wichtigeren, nachordneten, zu einer dauerhaften Maxime, so dass
für alle neuen Situationen derselben Art festliegt, dass die länger-
fristigen Wünsche das Übergewicht haben und die Hier-und-Jetzt-
Wünsche zurücktreten müssen. So, wenn man sich nach einer ent-
sprechenden Überlegung zur Maxime macht, nicht mehr als eine
halbe Tafel Schokolade am Tag zu essen. Damit ist fixiert, dass es,
auch bei gegenläufigen Hier-und-Jetzt-Wünschen, bei dieser Menge
bleibt. Die Regel hilft einem, gegen die Versuchung des Hier und

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252 Teil III: Die Koordination des Wollens

Jetzt das Ergebnis der Überlegung und damit das stärkere Wollen
in die Tat umzusetzen.
Auch bei den Maximen ist es nicht so, dass wir sie einfach wählen
und uns für sie entscheiden können. Wir können, wie gesagt, nicht
wählen, was uns wichtig ist und was uns mehr am Herzen liegt. Die
Maximen sind das Ergebnis zurückliegender Überlegungen, und sie
hatten zum Ziel, zu erkennen, was einem wichtiger ist. Es kommt in
diesem Punkt häufig zu erheblichen Übertreibungen in der Theorie,
so als würden wir uns durch die Ausbildung von Maximen selbst
wählen und uns selbst zu dem machen, was wir sind. Die Maximen,
von denen die Rede ist, sind zurückgebunden an Erfahrungen des
Angenehmen und Unangenehmen und an Imaginationen des An-
genehmen und Unangenehmen, die ihrerseits durch entsprechende
Erfahrungen inspiriert und geleitet sind.
Natürlich sind diese Regeln nicht in Stein gemeißelt. Sie verän-
dern sich im Lichte neuer Erfahrungen; man passt sie an, bewusst
oder mehr oder weniger unbewusst, zumindest kann man das. Un-
fraglich ist auch, dass wir im Umgang mit solchen Regeln Spielräume
haben. Man kann sehr viele Regeln ausbilden oder wenige, man kann
sehr kleinteilige Regeln ausbilden oder es bei eher allgemeinen be-
lassen, man kann die Regeln strikt handhaben oder flexibel. Es gibt
also durchaus Möglichkeiten des so oder so, auch des Besser und
Schlechter, und daraus erklären sich zum Teil die Unterschiedlich-
keit der Personen und die Verschiedenheit ihres Charakters.
Wir befolgen im koordinativen Überlegen nicht nur Maximen
der geschilderten Art, sondern auch formale Prinzipien der Ratio-
nalität, so etwa das Prinzip der Transitivität in der Ordnung dessen,
was wir wollen. Wenn das Gefüge unseres Wollens einem solchen
Prinzip nicht entspricht, ist etwas falsch. Doch auch diese Prinzi-
pien kommen aus dem Wollen und dienen ihm. Denn wenn wir das
Wollen nicht richtig ordnen, laufen wir Gefahr, nicht das zu tun, was
wir am meisten wollen, und stattdessen etwas zu tun, was wir zwar
auch wollen, bei besserem Überlegen aber zugunsten eines stärkeren
Wollens zurückgestellt hätten. Wir würden uns ins eigene Fleisch
schneiden. Und deshalb sind wir – extrinsisch – daran interessiert,
die Prinzipien der Rationalität zu beachten. Auch mit den Prinzipien
der Rationalität verbleiben wir, das ist die entscheidende Einsicht,
im Wollen. Die Vorstellung, es könne formale rationale Prinzipien
fürs Überlegen geben, die in ihrem Inhalt wie in ihrer Wirksamkeit
wollensunabhängig sind, und man müsse im praktischen Überlegen

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 253

und dann speziell auch im koordinativen Überlegen bestimmte kate-


gorische Imperative befolgen, scheint mir völlig verfehlt zu sein. Es
gibt weder hier noch anderswo kategorische Imperative. Die Prin-
zipien der Rationalität haben wie das Überlegen insgesamt eine in-
strumentelle Funktion, und damit ist gesagt, dass sie auf ein Wollen
bezogen sind.

7. Übergreifende Wünsche

Betrachten wir wenigstens kurz die Rolle, die übergreifende Wün-


sche in der Koordination des Wollens spielen. Menschen haben sta-
bile und dauerhafte Wünsche, und sie wissen das. Sie haben sogar
sehr viele solcher Wünsche. Sie sind nicht nur jetzt darauf aus, von
anderen und durch sich selbst anerkannt zu werden, sie werden es
auch in Zukunft sein. Und sie können das leicht antizipieren. Sie
wollen nicht nur jetzt einen zumindest minimalen Kontakt zu an-
deren Menschen aufrechterhalten, sie werden es auch in Zukunft
wollen, und auch das können sie leicht vorhersehen. Man will keine
Schmerzen, keine Leiden, man will keine Angst, man will nicht in
negativen Assoziationen und Stimmungen versinken und jede Lust
am Leben verlieren. Auch das sind elementare Wünsche, von de-
nen man vorhersehen kann, dass sie stabil sind und bleiben werden.
Man will von anderen nicht verletzt, nicht gedemütigt, nicht zurück-
gesetzt werden. Folglich will man – extrinsisch – in einer sozialen
Ordnung leben, die einen davor schützt. Man kann Ideale haben, das
Ideal, sich für die Armen zu engagieren, das Ideal der Wahrhaftig-
keit oder das der Tapferkeit. Man hat sie nicht für jetzt und gleich,
sondern über längere Zeit, und vielleicht kann man sich gar nicht
vorstellen, sie aufzugeben und ohne sie zu leben. Es kommen die
formalen Wünsche hinzu: Weil wir überhaupt etwas wollen, wol-
len wir auch ungehindert das tun können, was zur Realisierung des
Gewollten nötig ist. Wir wollen mithin frei sein. Und aus demselben
Grund, wenn auch vielleicht nicht nur aus diesem, streben wir nach
Geld, Macht und Einfluss. Auch an diesen – extrinsischen – Wün-
schen wird sich nichts ändern. Und noch ein Wunsch sei genannt.
Die Menschen haben in der Tiefe Angst vor dem Gefühl, ihr Leben
sei leer und sinnlos, alles sei bedeutungslos. Deshalb sind sie ver-
deckt, aber doch ungemein stark darauf aus, überhaupt tragende
Ziele zu haben und überhaupt etwas mit ganzem Herzen zu wollen.

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254 Teil III: Die Koordination des Wollens

Das füllt ihr Leben, und das wollen sie. Und auch dieses untergrün-
dige Wollen wird sie nicht verlassen.
Die Liste von Wünschen, die die Menschen dauerhaft haben oder
haben können, ließe sich noch deutlich erweitern. Doch auch in
dieser Form lässt sie erkennen, wie stark das Geflecht des mensch-
lichen Wollens durch stabile Wünsche, intrinsische und extrinsische,
durchzogen ist. Und es zeigt sich damit, wie falsch die traditionelle
Phänomenologie des Wollens lag, wenn sie wieder und wieder die
Unbeständigkeit, die Instabilität und die Flüchtigkeit der menschli-
chen Wünsche betonte und auch damit die Abwertung des Wollens
betrieb. Die Wünsche, so bereits Platon, wogen hin und her, heute
wollen die Menschen dies, morgen jenes. Die Wünsche sind wechsel-
und flatterhaft, sie geben dem Leben kein Ziel und keine Richtung.
In Wahrheit durchziehen unser Wollen eine große Zahl langer und
stabiler Wollenslinien, die dem menschlichen Leben feste Konturen
geben und eine grundlegende Kontinuität und Einheit stiften.
Man könnte den Eindruck haben, dadurch, dass wir bestimmte
Wünsche dauerhaft haben, gewönnen diese Wünsche an Stärke und
Intensität. Doch das ist nicht der Fall. Mein Wunsch, jetzt nicht
krank zu werden, wird nicht dadurch stärker, dass ich weiß, dass ich
denselben Wunsch auch in Zukunft haben werde. Tatsächlich ergibt
sich etwas anderes: Ich muss, wie bei allen antizipierten zukünftigen
Wünschen, überlegen, ob der zukünftige Wunsch jetzt schon aktuell
ist, das heißt, ob ich jetzt schon etwas dafür tun (oder unterlassen)
muss, dass er in Erfüllung gehen wird.
Aus dem, was man über sein gegenwärtiges und antizipiertes zu-
künftiges Wollen weiß und insbesondere über die langen, stabilen
Wollenslinien im eigenen Leben, baut sich eine Vorstellung davon
auf, wie das Leben besser und schlechter verlaufen könnte. Dies
umso mehr, je mehr man sich auch bewusst zu machen vermag, wie
stark die einzelnen Wünsche sind und wie sie relativ aufeinander zu
gewichten sind. Das Wollen schafft einen Maßstab für die Evalua-
tion möglicher Varianten des eigenen Lebens als besser und schlech-
ter und als gut und schlecht. Je mehr das Leben das bietet, was man
will, umso besser ist es, je weniger es das bietet, umso schlechter ist
es. Auch wenn wir von einem Leben sagen, es sei gut oder besser, ist
dieses Gutsein wollensrelativ. Nur weil wir etwas wollen, können
wir das Leben in dieser Weise evaluieren. Wo wir die Schwelle an-
setzen, jenseits deren wir das eigene Leben nicht nur besser, sondern
nicht-komparativ gut nennen, ist weitgehend uns überlassen. Das

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 255

kann jeder für sich festlegen, wobei allerdings in der Regel Verglei-
che mit dem Leben anderer maßgeblich sind.
Wenn man im Licht seines Wollens auf sein zukünftiges Leben
schaut und verschiedene Weisen, in denen es verlaufen könnte, ima-
giniert, kann man sich einen optimalen oder besonders positiven
Verlauf vorstellen, in dem es zur Befriedigung aller Wünsche kommt
oder in erheblichem Maße kommt. Diesen – idealen – Modus des
Lebens nennt man gewöhnlich Glück. Glück ist, so hat Kant gesagt,
»der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Gan-
zen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht …«15 Oder,
einfacher: Glück ist »die Befriedigung aller unserer Neigungen …«16
So ergibt sich, dass man, je mehr man weiß, was man will und wollen
wird, und je mehr man die verschiedenen Wünsche ihrer Stärke nach
einzuschätzen und zu ordnen imstande ist, eine umso konturiertere
Vorstellung vom Glück oder vom guten Leben zu entwickeln ver-
mag. Das Glück ist selbst etwas, was wir wollen. Oft wurde gesagt,
es sei das, was wir am meisten und letzten Endes wollen. Man muss
aber sehen, dass mit dem Wollen des Glücks kein substantiell neues
Wollen neben das tritt, was man sonst will. Das Glück zu wollen,
bedeutet nur, zu wollen, dass das Leben nach den eigenen Wün-
schen verlaufen wird. Die Richtung des Lebens wird also von den
intrinsischen Wünschen und ihrer Ordnung bestimmt, nicht durch
das Wollen des Glücks oder des guten Lebens. Das Glück bestimmt
sich von den Wünschen her, nicht umgekehrt, und auch die Ordnung
der Wünsche nach stärker und schwächer bestimmt sich nicht vom
Glück her, sondern umgekehrt: die Ordnung der Wünsche bestimmt,
was wir als Glück anstreben.
Ein ganz anderes Bild ergäbe sich, würde man das Glück ob-
jektivistisch bestimmen, wie es Platon und Aristoteles getan haben.
Nach Aristoteles ist das Leben der zweckfreien Theorie objektiv,
ganz unabhängig vom Wollen der Menschen, das beste Leben. Denn
mit dieser Lebensweise kommen die Menschen, wie schon erwähnt,
der Lebensweise der Götter am nächsten.17 Wenn eine Lebensform
in dieser Weise objektiv als die beste ausgezeichnet ist, kann man
das, was die Menschen faktisch wollen, an diesem Maßstab mes-
sen und erkennen, welches Wollen zu dieser Lebensform hinführt

15 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 124.


16 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 834.
17 Siehe Aristoteles, Nikomachische Ethik X, 7. 1177 b 21–27, 30 f.

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256 Teil III: Die Koordination des Wollens

und zu ihm beiträgt und welches nicht. Man verfügt dann wiede-
rum über einen externen, vom Wollen unabhängigen Standard für
die Beurteilung und dann auch für die Koordinierung des Wollens.
Der objektiven Hierarchie der Lebensformen korrespondiert eine
objektive Hierarchie des Wollens. Doch wir haben keinen Grund,
eine solche objektivistische Glückskonzeption und die sie tragenden
Wert­annahmen zu akzeptieren.
Die Menschen machen, wie gesehen, nicht nur ihr eigenes Leben
zum Gegenstand ihres Wollens, sondern auch ihre eigene Person. Sie
sind, wie von einem unstillbaren Drang getrieben, damit beschäftigt,
was und wie sie sind. Und sie haben ein in Teilen scharf gezeichnetes
Bild davon, wie sie sein (und nicht sein) wollen. Auch dieses Wollen
ist ein übergreifendes, dauerhaftes und häufig stabiles Wollen. Und
es ist normalerweise ein äußerst starkes Wollen. Wenn man etwas
tun will (oder soll), was mit dem gewollten Selbst nicht vereinbar
ist, bedeutet das fast immer, dass die Sache keine Chance hat. Ich
kann das nicht tun, so sagt man dann oft, es ist eine Unmöglichkeit.
Denn es hieße, sein Ich-Ideal zu beschädigen oder aufzugeben. Man
könnte nicht mehr der sein, der man sein will. Das gewollte Selbst
schafft, so scheint es, eine existentielle Grenze, die man nicht oder
nur mit kaum tragbaren Kosten für das eigene Leben übertreten
kann. Eine gesteigerte Form dieser Art von Exklusion liegt darin,
dass nicht nur, etwas zu tun, mit dem Ich-Ideal nicht vereinbar ist,
sondern sogar, etwas zu wollen, oder auch, etwas nur zu denken.
Bereits ein Wollen oder ein bestimmter Gedanke kollidieren dann
mit dem Bild davon, wie man sein will. Diese Fälle gibt es, aber sie
enthalten häufig eine Übertreibung.
Wenn wir überlegen, warum wir eine solche Vorstellung davon,
wie wir sein wollen, entwickeln und warum dieses Wollen so stark
ist, liegt es nahe, einen Zusammenhang mit dem Aussein der Men-
schen auf Anerkennung durch andere und durch sich selbst zu ver-
muten. Die Menschen sind damit beschäftigt, was und wie sie sind,
weil sie unablässig die Frage bewegt, was andere über sie denken. Sie
können nicht leben, ohne zu glauben, dass andere und zwar ihnen
wichtige andere sie schätzen und gut finden, oder zumindest, dass
die anderen sie schätzen müssten, wenn sie nur über ihre verborge-
nen Motive und Intentionen besser Bescheid wüssten und zu einem
freien und gerechten Urteil fähig wären. Und Menschen können
nicht leben, wenn sie, wie sie sind, nicht selbst gut finden und schät-
zen können. Sie wollen deshalb so sein, dass sie durch sich selbst und

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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 257

durch andere geschätzt und anerkannt werden können. Und sie kön-
nen nichts tun, was diese Schätzung unmöglich machte.
Auch der Wunsch, eine bestimmte Art von Person zu sein, ist,
wie gesagt, oft ein dauerhaftes und in seiner Ausformung stabiles
Element im Gefüge des Wollens, und er spielt eine maßgebliche und
figurierende Rolle, weil andere Dinge, die wir wollen, daraufhin ge-
prüft werden, ob sie mit ihm vereinbar sind oder nicht, und, falls
nicht, die Konkurrenz schon entschieden ist. Wobei es, das ist der
Punkt, auf den es in unserem Kontext besonders ankommt, die re-
lative Stärke der konkurrierenden Wünsche ist, die entscheidet, und
nichts anderes. Es kommt auch in diesem Fall kein anderes Ver-
gleichskriterium hinzu.

8. Zusammenfassung

Als es oben um den Einfluss der Vernunft auf das intrinsische Wollen
über dem Strich ging, wurde gesagt, die Vernunft habe allein eine
kognitive Funktion, ihre Aufgabe sei es, herauszufinden, zu erken-
nen und offenzulegen, wie sich etwas verhält. Sie habe indessen kei-
nerlei motivationale Energie, motivational sei sie gänzlich impotent.
Diese Einsicht hat sich in den Analysen dieses Kapitels auch für das
koordinative Überlegen bestätigt. Das koordinative Überlegen hat
die Aufgabe, aus den vielen Wünschen über dem Strich das Wollen
unter dem Strich herauszudestillieren. Und dieser Prozess ist ein
Prozess des Erkennens. Auch in dieser Funktion hat die Vernunft
keine eigenen Ressourcen. Das Überlegen ist nicht in der Lage, aus
eigenen Mitteln die einzelnen konkurrierenden Wünsche als mehr
oder weniger vernünftig zu evaluieren und sie auf diese Weise zu
ordnen. Die traditionelle Vorstellung, die Vernunft adoptiere oder
verwerfe anhand eines Maßstabs, den sie aus sich selbst kreiert, die
Wünsche als richtig oder falsch, geht in die Irre und ist Teil einer
verkehrten Selbstbeschreibung der Menschen. Und auch ein jünge-
rer Abkömmling dieser Konzeption, die Vorstellung der Stellung-
nahme: die Vernunft nimmt zu dem Wollen Stellung und spricht ihr
»ja« oder »nein«, geht genauso in die Irre. Die Vernunft ist nicht die
Herrscherin, die über das Wollen befindet. Sie findet dazu keine Res-
sourcen in sich selbst (was immer das überhaupt heißen sollte), und
sie findet sie auch nicht in der objektiven, vom Geist der Menschen
unabhängigen Realität, in Form von Dingen, die an sich selbst, wol-

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258 Teil III: Die Koordination des Wollens

lensirrelativ gut und schlecht sind, oder in Form externer Gründe


für das intrinsische Wollen.
Die Leistung des koordinativen Überlegens liegt in etwas ande-
rem. In einem ersten Schritt muss man die fragliche Situation frei-
legen und klären, welches Wollen zu berücksichtigen ist und insbe-
sondere auch, welches auf die Zukunft gerichtete Wollen und wel-
ches erst zukünftige Wollen schon zu berücksichtigen ist. Wenn es
möglich ist, die Konkurrenz der Wünsche durch eine zeitliche Staf-
felung der Realisierung aufzulösen, ist auch dies eine durch starke
Anteile der Imagination angereicherte Leistung der Vernunft. Wo
dies nicht möglich ist, liegt die Leistung darin, die relative Stärke
der konkurrierenden Wünsche zu erkennen. Dazu muss man sich
zum einen möglichst konkret und lebendig vorstellen, wie beschaf-
fen das, was man will, ist und sein wird. Und zum anderen muss
man sich vergegenwärtigen, welche Erfahrungen man mit dem, was
einem angenehm und unangenehm, was einem wichtig und weniger
wichtig ist, mit dem, was einen freut und was einen schmerzt, ge-
macht hat, um auf diese Weise zu einer Einschätzung der Stärke der
in Frage stehenden Wünsche zu kommen. Die eigentliche Ressource
der Koordination sind die zurückliegenden Erfahrungen, sie werden
ausgewertet und daraufhin getestet, ob sie eine Einschätzung der
Stärke der rivalisierenden Wünsche ermöglichen. Das koordinative
Überlegen versucht also, aus altem Wissen neues Wissen herauszu-
ziehen. Diese Basis zurückliegender Erfahrungen kann man wesent-
lich verbreitern, indem man die Erfahrungen anderer miteinbezieht
und berücksichtigt. Insgesamt, so ergibt sich, steht das koordinative
Überlegen im Dienste des stärksten Wollens. Von diesem Wollen
wollen wir, dass es handlungseffektiv wird, und deshalb koordinie-
ren wir unsere Wünsche.

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit

Die Menschen schalten ihrem Handeln, so haben wir gesagt, ein


mentales Geschehen vor. Sie überlegen, was ihnen von dem vielen,
was sie wollen, am wichtigsten ist, und wenn nichts dazwischen-
kommt, tun sie das, was sie am meisten wollen, oder das, was not-
wendig ist, um das am meisten Gewollte zu erlangen. Ihrem Han-
deln geht also, wenn sie überlegt und nicht per Autopilot agieren,
bereits ein anderes Handeln, eben das Überlegen, voraus. Wenn
wir uns ein Bild von unserer Art der Handlungspräparation ma-
chen, interessieren uns vor allem drei – eng miteinander verwo-
bene – ­Aspekte: Freiheit, Aktivität und Urheberschaft. Wir haben
die Vorstellung, dass wir in diesem Prozess frei und ungehindert
sind oder sein können, dass es folglich von uns abhängt, was wir
am Ende tun. Dass also wir die Urheber unserer Handlungen sind.
Das schließt die weitere Vorstellung ein, dass das Geschehen, das
dem Handeln vorausgeht, eine eigene Aktivität ist, etwas, was wir
tun, und nicht etwas, was einem passiert, an dem man selbst aber
keinen Anteil hat. Nur so können wir wirklich die Urheber unse-
rer Handlungen sein.
Das Ziel dieses Kapitels ist es, auszuloten, welche Bedeutung und
Berechtigung diese Vorstellungen haben. Die Menschen sind, wie
gesagt, Teil der Natur und Ergebnis ihrer Geschichte. Sie bestehen
aus physikalischen Teilchen und aus nichts sonst. Die Natur funk-
tioniert nach Naturgesetzen, und es wäre ganz falsch, anzunehmen,
die Naturgesetze machten an der Schädeldecke der Menschen halt
und die neurochemischen Prozesse in ihrem Kopf vollzögen sich
nicht nach diesen Gesetzen. Auch das mentale Geschehen ist Teil
der kausalen Welt. Angesichts dieser unabweisbaren Tatsachen stellt
sich mit aller Schärfe die Frage, ob Freiheit, Aktivität und Urheber-
schaft überhaupt intelligible Ideen sind. Können wir also von uns
sagen – und wenn ja, in welchem Sinne –, dass wir frei und aktiv
das tun, was wir tun, und dass deshalb wir selbst es sind, die unser
Verhalten steuern? Ich habe zu Beginn dieses Buches gesagt, dass
ich überzeugt bin, dass wir noch weit davon entfernt sind, in diesen
Fragen zu befriedigenden Antworten zu finden, und noch gar nicht
die Mittel in der Hand haben, die nötig sind, um zu einem stabilen
Bild von uns selbst zu kommen. Dennoch kommen wir nicht umhin,
uns ein Bild zu machen. – Ich beginne mit der Freiheit.

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260 Teil III: Die Koordination des Wollens

1. Freiheit und Urheberschaft

1. Man setzt am besten mit der Frage ein, wann eine Handlung frei
ist und wann unfrei. Sie ist, zumindest im Grundsätzlichen, nicht
schwer zu beantworten. Wenn ich, weil ein Tyrann mich dazu
zwingt, etwas tue, was ich nicht tun will, bin ich in diesem Tun un-
frei. Ich tue es gezwungenermaßen, wider mein Wollen. Und wenn
ich, weil ein Tyrann mich dazu zwingt, etwas unterlasse, was ich
tun will, dann bin ich ebenfalls unfrei. Ich unterlasse es wiederum
wider mein Wollen. In beiden Fällen bestimmt nicht mein Wollen,
was ich tue und lasse; eine äußere Macht verhindert das, sie bestimmt,
was ich tue. Frei wäre mein Handeln eben dann, wenn mein Wollen,
ohne eine solche Hinderung, mein Handeln bestimmen würde. Ich
selbst würde mein Verhalten bestimmen, durch mein Wollen. »A
free agent«, so sagt Hobbes, »is he that can do if he will, and for-
bear if he will.«1
Nicht nur ein äußerer Zwang kann verhindern, dass man tut, was
man will, sondern auch ein innerer Zwang, etwa ein Waschzwang.
Man will sich nicht die Hände waschen, tut es aber trotzdem. In
diesem Fall verhindert nicht eine äußere Macht, dass das Wollen das
Verhalten bestimmt, sondern ein psychischer Defekt.
Bei einer freien Handlung kann man immer sagen: Wenn ich es
nicht gewollt hätte, hätte ich nicht so gehandelt. Damit betont man,
dass das eigene Wollen und nichts anderes die Ursache des Handelns
war. Mit dieser Aussage im Irrealis wird allerdings nicht behaup-
tet, dass die Möglichkeit bestand, anders zu wollen und dann auch
anders zu handeln. Häufig wird gesagt, wenn jemand frei handelt,
impliziere das, dass er die Handlung auch hätte unterlassen können.
Ja, er hätte sie unterlassen können, dann nämlich, wenn er das ge-
wollt hätte. Ob dieses Anders-Wollen und das daraus resultierende
Anders-Handeln eine reale Möglichkeit ist, bleibt dabei jedoch of-
fen. Die Annahme, dass es eine verfügbare Möglichkeit ist, ist nicht
Teil der Idee des freien Handelns, wie sie jetzt eingeführt wurde. Im
Handeln frei zu sein, bedeutet, dass der Weg vom Wollen zum Han-
deln nicht versperrt ist, dass sich, was man tut und lässt, ungehindert
aus dem eigenen Wollen und aus nichts anderem ergibt.

1 Th. Hobbes: Of Liberty and Necessity, The English Works, ed. W. Mo-
lesworth, vol. IV (London 1811) 229–278, 275.

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 261

Wenn ich etwas wider mein Wollen tue, weil mich ein Tyrann
dazu zwingt, bin noch immer ich es, der handelt, aber es ist – in ei-
nem anspruchsvolleren Sinne – nicht meine Handlung. Und wenn
ich mir auf Grund eines inneren Zwanges die Hände wasche, bin
durchaus ich es, der dies tut, aber es ist wiederum, in dem anderen
Sinne, nicht meine Handlung. Durch die Unfreiheit des Handelns
kommt es zu einer Distanzierung von den eigenen Handlungen,
man steht nicht hinter dem, was man tut, die eigenen Handlun-
gen sind einem fremd und äußerlich. Sollte sich jemand wundern,
dass ich mich so verhalte, oder es mir vorhalten, würde ich sagen:
»Ich konnte nicht anders« oder: »Ich habe es nicht gewollt.« Dass
ich so gehandelt habe, lag, wie es Aristoteles formuliert hat, nicht
»bei mir«.2 Diese Erfahrung der Distanz und der Fremdheit eige-
nen Handlungen gegenüber ist in der Geschichte der Philosophie in
verschiedenen Wendungen zur Sprache gebracht worden. Man kann
von fehlender Autarkie sprechen, oder von Heteronomie: fremde
Kräfte haben Einfluss auf das eigene Handeln. Wenn wir im Han-
deln frei sind, sind wir, so hat Aristoteles gesagt, »Herr« über unsere
Handlungen.3 Es liegt bei uns, ob sie geschehen oder nicht. In der
Stoa wurde, in einer nur selten verwandten Formulierung, Freiheit
als exousia autopragias definiert, also als die Macht, aus sich selbst
zu handeln.4 Das trifft sehr genau die Sache.
Es ist klar, dass uns die Unfreiheit im Handeln stört und dass uns
an der Freiheit liegt. Wenn wir etwas wollen, wollen wir das Ge-
wollte auch in die Tat umsetzen können. Wir wollen, was immer es
ist, was wir wollen, dass der Übergang vom Wollen zum Handeln
funktioniert und nicht durch ein Hindernis versperrt ist. Wir können
überhaupt nichts wollen, ohne auch dies zu wollen. Der Wunsch, im
Handeln frei zu sein, ist, wie Kant gesagt hat, ein formaler Wunsch.
Er begleitet alles Wollen. Und erst in Bezug auf dieses formale Wol-
len wird der äußere oder innere Zwang und sein Einfluss auf das
­eigene Handeln zu einem Hindernis, zu etwas ­Negativem.
Damit ist auch schon klar, warum wir die Freiheit wollen. Wir
wollen sie, weil wir sonst nicht erreichen, was wir wollen. Nur wenn
der Weg vom Wollen zum Handeln frei ist, kann mein Wunsch in

2 Aristoteles, Nikomachische Ethik III, 1. 1110 a 17.


3 Ebd. III, 8. 1114 b 30 ff.; Eudemische Ethik II, 6. 1223 a 4–9.
4 Vgl. hierzu M. Frede: A Free Will. Origins of the Notion in Ancient
Thought (Berkeley 2011) 66 ff.

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262 Teil III: Die Koordination des Wollens

Erfüllung gehen. Wir wollen die Freiheit also im Dienste eines ande-
ren Wollens. Das Freisein im Handeln ist ein instrumenteller Wert.
Der Wunsch nach Freiheit geht, so sagt Kant, »ohne Unterschied
der Gegenstände auf die Bedingungen, unter denen wir überhaupt
unsere Neigungen befriedigen können.«5 Es ist sehr wichtig, sich
diese instrumentelle Funktion der Freiheit bewusst zu machen. Wir
wollen nicht frei sein, weil wir freiheitsliebend sind, oder weil wir
eine spezielle Lebensform, für die Freiheit und Autonomie zen­trale
Ideale sind, anderen Weisen des Lebens vorziehen. Der Wunsch nach
Freiheit wurzelt sehr viel tiefer. Er wurzelt in der Tatsache, dass wir
Wesen sind, die etwas wollen. Weil wir etwas wollen, wollen wir
notwendigerweise auch die Freiheit. Wer etwas will, dem es aber
gleichgültig ist, ob das Gewollte verwirklicht werden kann, der will
das Betreffende nicht.
Mit dem bisher Gesagten ist nur ein erster Schritt getan. Die Ana-
lyse ist angesichts der Art, wie Menschen ihre Handlungen vorbe-
reiten und steuern, unterkomplex. Denn die Menschen wollen nicht
nur eine Sache, sie wollen vieles, und sie müssen deshalb herausfin-
den, was ihnen am wichtigsten ist. Angenommen, ich will x und
zugleich auch y und z, und der Wunsch nach x erweist sich als der
deliberativ stärkste. Dann kommt alles darauf an, dass der Übergang
von diesem Wollen, dem überlegten Wollen, zum Handeln ungehin-
dert funktioniert.
Wie bereits gesehen, kann es jedoch passieren, dass das Wollen
von y, obwohl in der Überlegung unterlegen, an der Überlegung
vorbei handlungseffektiv wird und ich y tue. So, wenn der Wunsch
nach y suchtartigen Charakter hat. Wenn das geschieht, ist der Weg
vom überlegten Wollen zum Handeln versperrt. Und darin liegt eine
neue Art von Unfreiheit. Die Sucht verhindert, dass das überlegte
Wollen das Handeln bestimmt. Erneut gewinnt ein psychischer De-
fekt eine Bedeutung in der Handlungssteuerung. Ich tue zwar, was
ich will, der Wunsch nach y gehört ja durchaus zu meinen Wün-
schen, aber ich tue nicht, was ich unter dem Strich, was ich über-
legterweise will. Ich handele nicht wider mein Wollen, aber wider
mein überlegtes Wollen.
Wenn sich jemand wundert oder mir vorhält, dass ich so handele,
werde ich wiederum sagen: Es lag nicht an mir. Ich habe nicht dies,

5 Kant, Vorlesungen über Anthropologie, Menschenkunde, AA XXV/2,


1141.

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 263

sondern etwas anderes am stärksten gewollt. Das falsche Wollen ist


handlungswirksam geworden.
Dass es sich um eine neue Art von Unfreiheit handelt, ist leicht
zu sehen. Es kann sein, dass an dieser Stelle alles in Ordnung ist, das
überlegte Wollen nicht umgangen wird, dass es aber dennoch auf
Grund von äußeren oder inneren Hindernissen nicht zu einem ent-
sprechenden Handeln kommt. Und es kann umgekehrt sein, dass es
an dieser Stelle falsch läuft, sich ein falsches Wollen durchsetzt, der
Übergang von diesem Wollen zum Handeln dann aber hinderungs-
frei verläuft. Frei in der Handlungssteuerung sind wir folglich, wenn
wir von beiden Arten von Unfreiheit nicht betroffen sind, wenn wir
also tun, was wir unter dem Strich, überlegterweise wollen.
Auch bei der zweiten Art der Unfreiheit ist klar, dass wir sie nicht
wollen. Wir wollen auch an dieser Stelle die Freiheit. Und auch hier
ist dieser Wunsch ein formaler Wunsch. Wenn man nicht nur eines
will, sondern vieles, gleichgültig, was es ist, will man auch, dass das
überlegte Wollen, das Wollen unter dem Strich und nichts anderes
das Handeln bestimmt. Ein anderes, in der Abwägung unterlegenes
Wollen zu realisieren, hieße, gegen das eigene stärkere Wollen zu
handeln. Man würde von dem, was man will, weniger realisieren als
möglich. In der Sprache der Entscheidungstheorie kann man sagen:
Wenn man nicht nur eines will, sondern vieles, liegt es in der Natur
der Sache, dass man »den Nutzen maximieren« will. Man will das
Maximum dessen, was man in der jeweiligen Situation will, ver-
wirklichen, und das tut man, wenn das Wollen unter dem Strich das
Handeln bestimmt und nicht ein anderes Wollen.
Damit ist auch schon gesagt, warum wir diese zweite Freiheit
wollen: weil wir sonst nicht erreichen, was wir am meisten wollen.
Der – formale – Wunsch nach Freiheit ist also auch in dieser Form
ein extrinsischer Wunsch. Wir wollen die Freiheit im Dienste eines
anderen Wollens.
Mit diesen Überlegungen tritt erneut noch etwas anderes deutlich
hervor: die instrumentelle Funktion des Überlegens oder, anders ge-
sagt, der Vernunft. Wenn wir vieles wollen, wollen wir, dass ein ganz
bestimmtes Wollen das Handeln bestimmt, das stärkste Wollen. Und
dafür, herauszufinden, was unter den verschiedenen Wünschen der
stärkste Wunsch ist, brauchen wir das Überlegen. Auch das Über­
legen steht, wie sollte es anders sein, im Dienste des Wollens.
Diese Einsicht gewinnt besonderes Gewicht, wenn wir uns ver-
gegenwärtigen, dass nicht nur eine Sucht uns daran hindern kann,

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264 Teil III: Die Koordination des Wollens

gemäß dem Wollen unter dem Strich zu handeln. Es gibt andere


Faktoren, die das verhindern können, so zum Beispiel die heftigen
Impulse, die Kant »Leidenschaften« nennt. Damit meint er Wünsche,
die aus starken Emotionen kommen und so intensiv und mächtig
sind, dass sie sich der Abwägung mit anderen Wünschen und da-
mit auch der Relativierung durch andere Wünsche entziehen. Sie
füllen den gesamten inneren Raum einer Person aus und drücken
alle anderen Wünsche beiseite. Für die koordinierende Überlegung
bleibt kein Platz. »Bei der Leidenschaft«, so Kant, »ist man nicht im
Stande, die Neigung mit der Summe aller anderen [Neigungen] – zu
vergleichen.«6 Man ist nicht imstande, »die gesamte Absicht«, das
»gesamte Interesse« zu berücksichtigen.7 Man agiert in einer Art
Rausch und wird von dem leidenschaftlichen Wunsch fortgerissen,
»ohne das Ganze in Erwägung zu ziehen.«8 Zum Beispiel, wenn
einen ein Rachegefühl erfasst und der emotionsgeladene Wunsch,
den anderen zu schädigen, alles andere beiseite drängt und an jeder
Überlegung vorbei handlungseffektiv wird. In einem solchen Fall
bestimmt nicht das überlegte Wollen oder das, was das überlegte
Wollen hätte sein können, das Handeln. Die Person ist unfrei, sie
handelt nicht gegen ihr Wollen, aber gegen ihr überlegtes, erwoge-
nes Wollen. Wir bringen diese Erfahrung der Unfreiheit gewöhn-
lich durch verschiedene passivische Formulierungen zum Ausdruck:
man wird von einer Leidenschaft erfasst, überwältigt, beherrscht.
Wenn wir einen solchen ungebremsten Durchmarsch eines einzel-
nen – leidenschaftlichen – Wunsches nicht wollen, vielmehr wollen,
dass unser überlegtes Wollen das Handeln bestimmt, dann nicht,
weil das Überlegen, die Vernunft, unser Wesen ausmacht, die Lei-
denschaften aber nicht, dann nicht, weil das Überlegen etwas Höhe-
res, uns Menschen Eigenes ist, die Leidenschaften aber etwas Niedri-
ges sind, das wir mit anderen, nicht-menschlichen Lebewesen teilen,
dann nicht, weil wir uns mit dem Überlegen, der Vernunft, identifi-
zieren, sie das eigentliche Selbst ausmacht, die Leidenschaften aber
etwas uns Fremdes und Äußerliches darstellen, dann nicht, weil eine
uns vorgegebene Ordnung bestimmt, dass die Vernunft über die Lei-
denschaften herrsche. Diese metaphysischen Vorstellungen und ihre

6 Kant, Vorlesungen über Anthropologie, Mrongovius, AA XXV/2, 1339.


7 Kant, Vorlesungen über Anthropologie, Menschenkunde, AA XXV/2,
1120, 1141.
8 Ebd. 1115.

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 265

zahlreichen Varianten, in die die europäische Philosophie so unge-


heuer viel investiert hat, gehen alle am Kern der Sache vorbei. Wir
wollen, dass unser überlegtes Wollen, das Wollen unter dem Strich
unser Handeln bestimmt, weil wir nur so das Maximum dessen, was
wir wollen, realisieren. Die Option für das überlegte Wollen und ge-
gen die Leidenschaften steht wiederum im Dienste unseres Wollens.
Die, um es traditionell auszudrücken, »Herrschaft der Vernunft« ist
selbst etwas Gewolltes, und zwar etwas extrinsisch Gewolltes. Weil
wir möglichst viel von dem, was wir wollen, realisieren möchten,
müssen wir überlegen und wollen wir, dass das überlegte Wollen
das Handeln bestimmt und der Weg von diesem Wollen zum Han-
deln frei ist.
Wenn ich sage: wir wollen, dass ein bestimmtes Wollen, das über-
legte Wollen, uns zum Handeln bewegt, kann man das als ein Wollen
zweiter Stufe beschreiben und Anklänge an Frankfurts Modell eines
zweistufigen Wollens hören. Vielleicht will man sogar eine, zumin-
dest strukturelle, Ähnlichkeit mit Frankfurts Verständnis der Wil-
lensfreiheit sehen. Denn Frankfurt meint, man sei willensfrei, wenn
das Wollen, von dem man will, dass es das Handeln bestimmt, dies
auch tatsächlich tut, und nicht etwa ein anderes Wollen.9 Das Wol-
len, von dem ich spreche, ist in der Tat ein höherstufiges Wollen, es
bezieht sich auf ein anderes Wollen, und es will, dass dieses andere
Wollen handlungsleitend wird und kein davon verschiedenes Wollen.
Aber es ist – contra Frankfurt – ein rein formales Wollen. Man will,
dass das Wollen, das sich in der Überlegung als das stärkste heraus-
stellt, das Handeln bestimmt, gleichgültig, worauf es sich richtet.
Welches Wollen das stärkste ist, entscheidet sich auf der ersten Stufe.
Dort findet die Überlegung statt. Es entscheidet sich gerade nicht,
ganz ohne Überlegung, durch einen materialen Eingriff »von oben«,
durch ein Wollen zweiter Stufe. Das höherstufige Wollen, von dem
ich spreche, hat nicht die Funktion, den Konflikt der Wünsche erster
Stufe zu entscheiden, es hat nichts anderes zum Inhalt als die Ab-
wesenheit von Hindernissen, die es unmöglich machen, das Maxi-
mum dessen, was man will, zu realisieren. Dabei liegt der Ursprung

9 Vgl. Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 15, dt. 30: »… we will freely
… when the will behind what we do is exactly the will by which we want our
action to be moved.« Genauso bereits 35 Jahre früher in Freedom of Will, 20;
dt. 77: »… the statement that a person enjoys freedom of the will means …
that he is free … to have the will he wants.«

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266 Teil III: Die Koordination des Wollens

dieses Wollens offen zutage. Denn dieses höherstufige Wollen ist


ein extrinsisches Wollen. Wenn wir vieles wollen und deshalb mög-
lichst viel davon realisieren wollen, müssen wir als Bedingung dafür
auch wollen, dass das jeweils stärkste Wollen und kein anderes das
Handeln bestimmt. Damit ist bereits gesagt, dass in der Konzeption,
wie ich sie hier entfalte, das Wollen, von dem auf der zweiten Stufe
gewollt wird, dass es handlungsleitend wird, immer das Wollen ist,
das sich in der Überlegung als das stärkste erweist. Während bei
Frankfurt der Wunsch, der handlungsleitend werden soll, der ist,
mit dem man sich – aus mysteriös bleibenden Gründen – von der
zweiten Stufe aus volitiv identifiziert oder hinter den man sich, wie
Frankfurt gerne sagt, stellt, warum auch immer.

2. Ich habe jetzt zwei Arten der Unfreiheit (und der Freiheit) be-
schrieben. Einmal wird das Handeln nicht durch ein eigenes Wol-
len bestimmt, sondern durch etwas anderes, das andere Mal wird es
durch ein eigenes Wollen bestimmt, aber durch ein falsches, nämlich
durch ein Wollen, das an der Überlegung vorbei handlungseffektiv
wird. Nun kann ein handlungseffektives Wollen nicht nur in dieser
Weise falsch sein, es kann auch falsch sein, wenn es zwar als Ergeb-
nis einer Überlegung handlungseffektiv wird, diese Überlegung aber
fehlerhaft oder deformiert war. Man stößt auf diese Möglichkeit,
wenn man den Prozess der Handlungsvorbereitung weiter zurück-
verfolgt. Es liegt dann nahe, zu fragen, ob es nicht in der Phase des
Überlegens noch weitere Formen der Unfreiheit geben kann. Kann
nicht der Prozess des Überlegens selbst behindert und unfrei sein?
Wenn man will, dass das richtige, nämlich das stärkste Wollen das
Handeln bestimmt, dann muss man auch wollen, dass die Überle-
gung, die herausfindet, was das stärkste Wollen ist, ungestört und
ungehindert abläuft. Der Prozess des Überlegens muss zum rich-
tigen Ergebnis führen. Kein äußerer oder innerer Zwang darf das
verhindern. Andernfalls bestünde eine neue Art von Unfreiheit. –
Mit dieser Überlegung kommt etwas Wichtiges zum Vorschein: Zu
sagen, dass wir wollen, dass das überlegte Wollen das Handeln be-
stimmt, ist vorläufig. Wir wollen eigentlich, dass das stärkste Wollen
das Handeln bestimmt, und hoffen, durch die Überlegung zu erken-
nen, welches das stärkste Wollen ist, so dass das überlegte Wollen
und das stärkste Wollen zusammenfallen. Da das Überlegen aber
misslingen kann, können das überlegte und das stärkste Wollen auch
auseinanderfallen. Genau das aber wollen wir nicht. Präziser müsste

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 267

man also sagen: Wir wollen, dass das überlegte Wollen das Handeln
bestimmt, vorausgesetzt die Überlegung war erfolgreich und das
überlegte Wollen fällt deshalb mit dem stärksten Wollen zusammen.
Man muss sich, wenn es um die Freiheit bzw. Unfreiheit des
Überlegens geht, vorab einen elementaren, häufig jedoch übersehe-
nen Sachverhalt vor Augen führen. Eine Überlegung ist ein kom-
plexes Geschehen, und sie kann viele verschiedene Wege nehmen.
Der Überlegende hat erhebliche Spielräume. Und natürlich kann er
etwas falsch machen. Jemand kann zu wenig überlegen, er kann sich
nicht die nötige Zeit nehmen, er kann ungeduldig, unaufmerksam,
ohne Umsicht überlegen, er kann mehr oder weniger durchgehend
nur die Hier-und-Jetzt-Wünsche beachten und die in die Zukunft
gerichteten Wünsche unberücksichtigt lassen. Aber all dies liegt, wie
es scheint, bei ihm. Wenn in dieser Weise etwas schief läuft und am
Ende das falsche Wollen handlungseffektiv wird, ist das deswegen
kein Fall von Unfreiheit. Es ist zwar auch etwas, was die Person
nicht will. Sie handelt, wenn sie schlecht überlegt und deshalb etwas
falsch läuft, also durchaus gegen ihr eigenes Wollen. Aber es ist, wie
gesagt, kein Fall von Unfreiheit. Kein äußerer oder innerer Zwang
führt dazu, dass etwas anders läuft als gewollt. Kein äußerer oder
innerer Zwang hindert sie, besser zu überlegen. Sie ist an dieser Stelle
frei, aber sie macht in den Spielräumen, die sie hat, Fehler. Oft wird
angenommen, da, wo die Bestimmung des handlungseffektiven Wol-
lens durch eine gelungene Überlegung erfolgt, bestehe Freiheit und
da, wo die Überlegung misslingt, bestehe Unfreiheit. Letzteres ist,
so meine ich, nicht richtig. Wenn wir nach Elementen der Unfreiheit
suchen, suchen wir nach Faktoren, die das Überlegen beeinflussen,
die aber dem Überlegenden entzogen sind.
Welche Faktoren dieser Art könnten den richtigen Gang der
Überlegung verhindern? Es fällt nicht schwer, sich science-fiction-
Szenarien auszudenken, in denen ein missgünstiger Dämon oder
ein externer Manipulateur unser Gehirn so beeinflusst, dass das ko-
ordinierende Überlegen systematisch in die Irre geht und am Ende
ein Wollen als das stärkste erscheint, das keineswegs das stärkste ist.
Würden wir einem solchen äußeren Eingriff unterliegen, wäre das
offenkundig eine neue Form von Unfreiheit.
Auch in der tatsächlichen Welt kann man das Überlegen eines an-
deren von außen beeinflussen, zum Beispiel indem man ihm Alkohol
oder Drogen einflößt. Sie können ihn unruhig, überdreht, hektisch
machen, so dass keine gute Überlegung mehr möglich ist. Sie können

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268 Teil III: Die Koordination des Wollens

auch dazu führen, dass er Negatives systematisch zu leicht nimmt


und Positives übermäßig in rosaroten Farben sieht. Wenn man dem,
dem das geschieht, vorhält, dass er schlecht überlegt hat und infolge-
dessen das Falsche getan hat, kann er wieder entgegnen: Ich konnte
nicht anders, es lag nicht an mir. Hätte ich besser überlegt, hätte ich
sicherlich anders gehandelt, aber mein Überlegen war korrupt, es
wurde von außen, gegen mein Wollen, deformiert.
Eine andere Spielart der Unfreiheit, um die es jetzt geht, liegt vor,
wenn wiederum infolge eines psychischen Defekts etwas schief läuft.
Herauszufinden, wie wichtig einem etwas ist und ob es wichtiger ist
als etwas anderes, verlangt, wie wir sahen, dass wir uns an zurück-
liegende Erfahrungen erinnern, uns diese möglichst lebendig vor
Augen führen und für die anstehende Abwägung auswerten. Diese
Erinnerungen sind die Ressource, aus der die Überlegung schöpft,
und es kann sein, dass durch eine psychische Blockade Teile der Er-
innerungen abgeblendet sind oder dass andere Teile überbelichtet
sind und so eine übermäßige Bedeutung gewinnen. Das eine wie
das andere kann das Ergebnis der Überlegung erheblich verfälschen.
Auch in der Aufdeckung der Wünsche, die in der jeweiligen Si-
tuation überhaupt zu berücksichtigen sind, dies ist, wie gezeigt, ein
wesentlicher Teil des Überlegens, kann es durch psychische Defekte
dazu kommen, dass relevante Wünsche verborgen bleiben und nicht
ins Licht der Überlegung gezogen werden können. Auch dies kann
das Ergebnis der Überlegung empfindlich beeinträchtigen.
Es ist offensichtlich, dass die Phänomene in diesem Feld schnell
diffus werden. Wo hört der ungestörte Gang der Dinge auf, wo
beginnt die Hinderung durch einen inneren Zwang? Die psychi-
sche Maschinerie ist zu kompliziert und zu intransparent, als dass
wir, von Ausnahmefällen abgesehen, eine Trennlinie ziehen könnten.
Deshalb kann man nur allgemein sagen: Wenn der Weg des Über-
legens durch inneren oder äußeren Zwang behindert und verzerrt
wird, ist das eine Form der Unfreiheit. Der Weg vom Wollen über
dem Strich zum Handeln ist dann an einer dritten Stelle versperrt.
Und erneut ist klar, dass wir diese Unfreiheit nicht wollen. Denn wir
wollen möglichst viel von dem, was wir wollen, verwirklichen. Und
dazu brauchen wir eine funktionierende Überlegung.

3. Vielleicht erscheint es folgerichtig, noch einen Schritt weiter zu-


rückzugehen und zu fragen, ob auch der Weg zu den Wünschen
über dem Strich, also zu den Wünschen, um deren Koordination

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 269

es in der Überlegung geht, frei von Hindernissen ist. Nicht nur der
Weg vom Wollen über dem Strich zum Wollen unter dem Strich und
dann weiter zum Handeln würde dann auf Elemente der Unfreiheit
hin untersucht, sondern auch der Weg zum Wollen über dem Strich.
Man könnte sogar meinen, diese Frage habe ganz besonderes Ge-
wicht. Schließlich geht es an dieser Stelle darum, was der Input, das
eigentliche Material des gesamten sich anschließenden Prozesses ist,
in dem es dann nur noch koordiniert und in eine Handlung trans-
feriert wird.
Diese Frage ist allerdings, gegen den ersten Anschein, nicht ein-
fach ein weiterer, sich wie von selbst anschließender Schritt in der
bisherigen Fragebewegung. Mit ihr beginnt vielmehr etwas Neues,
man verfolgt mit ihr ein anderes, deutlich unterschiedenes Inter-
esse. Wer etwas will, will, so hatte ich gesagt, das, was er will, auch
verwirklichen können. Er will daran nicht gehindert werden, son-
dern frei sein. Und wer vieles will, will das, was er am meisten, am
stärksten will, verwirklichen können. Es geht in all dem um den Weg
vom Wollen zum Handeln. Dass dieser Weg frei ist, das wollen wir.
Nennen wir diese Freiheit Verwirklichungsfreiheit. Sie zu wollen,
wurzelt, wie gezeigt, darin, dass wir überhaupt etwas wollen. Wir
können nicht etwas wollen, ohne auch diese Freiheit zu wollen. Es
ist ein notwendiges Wollen. Und es ist ein formales Wollen, und es
ist, drittens, ein extrinsisches Wollen.
Die Frage, wie wir zu unserem Wollen über dem Strich kommen,
speist sich offenkundig nicht aus dem Interesse an der Verwirkli-
chungsfreiheit, sondern aus einem anderen Interesse. An unserem
Wollen über dem Strich kann uns, wie wir sahen, manches stören.
Es kann uns stören, dass es kognitiv nicht in Ordnung ist, es kann
uns stören, dass es aus einer Quelle kommt, die einem nicht gefällt.
Und ebenso kann uns stören, dass sein Zustandekommen auf äuße-
ren oder inneren Zwang zurückgeht. Warum stört uns diese Unfrei-
heit? Nicht, weil wir das, was wir wollen, auch verwirklichen wollen.
Sie stört uns, wie es scheint, weil wir die Freiheit lieben, weil wir in
bestimmter Weise, autonom und möglichst wenig fremdbestimmt,
leben wollen. Dieser Freiheitswunsch ist weder ein notwendiger
Wunsch, man hat dieses Ideal des autonomen Lebens nicht schon
dadurch, dass man überhaupt etwas will. Noch ist es ein extrinsi-
scher Wunsch im Dienste eines anderen Wollens. Der Wunsch, im
Wollen über dem Strich frei zu sein, ist also nicht Teil des Wunsches
nach der Verwirklichungsfreiheit. Er resultiert aus einem Ideal der

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270 Teil III: Die Koordination des Wollens

Freiheit, das vielleicht naheliegt, aber nicht annähernd so tief ver-


wurzelt ist wie der Wunsch nach der Verwirklichungsfreiheit. Man
muss also eine gut sichtbare Trennlinie ziehen. Sprechen wir, um
auch hier einen Terminus zu haben, von der Freiheit der Autonomie.
Es gehört nicht zu den Aufgaben dieses Kapitels, zu untersuchen,
in welcher Weise das Wollen über dem Strich konkret unfrei sein
kann. Deshalb nur eine Bemerkung. Dass die Menschen das Wohl
ihrer Kinder wollen und eine Reihe anderer eingerammter Wünsche
haben, ist Teil ihrer Natur und nicht eine Form von Unfreiheit. Dass
man das Wesen ist, das man ist, ist nicht durch einen selbst gewählt,
aber es stellt keine Unfreiheit dar. Kein anderes Wesen hat uns diese
Wünsche, gegen unser Wollen, aufgezwungen, und es ist auch nicht
das Ergebnis irgendwelcher inneren Zwänge, dass wir diese Wün-
sche haben. Auch dass unser Wollen auf das Angenehme und die
Vermeidung des Unangenehmen geht, ist Teil unserer Natur, nicht
eine Form von Unfreiheit. Erst recht macht uns natürlich, dass wir
überhaupt etwas wollen, nicht unfrei. Es wäre unsinnig, anzuneh-
men, unsere biologische Natur versklave uns und mache uns unfrei.
Jemand kann an seinen sexuellen Antrieben leiden, weil sie das Le-
ben oft so kompliziert machen, und das kann so weit gehen, dass er
sich wünscht, diese Antriebe gar nicht erst zu haben. Er hätte gerne
die Macht, sich von ihnen zu lösen. Aber deswegen ist, dass er diese
Antriebe hat, nicht eine Form von Unfreiheit. Und dass er nicht in
der Lage ist, sich von ihnen zu lösen, ist auch keine Form von Un-
freiheit. Die Person kann etwas nicht tun, weil ihr die Macht dazu
fehlt, aber nicht weil äußere oder innere Zwänge es verhindern. Kant
hat ganz zu Recht den Wunsch nach Freiheit eine »negative« Nei-
gung genannt, sie zielt auf die »Befreiung von Hindernissen, nach
unserer Neigung zu leben«, und er unterscheidet sie von der »posi-
tiven« Neigung »zum Vermögen, d. i. zum Besitz der Mittel, seine
Neigungen zu befriedigen.«10
In welcher Weise also kann man in seinem Wollen über dem Strich
unfrei sein? Man kann es offenbar da, wo das flexible Element der
Imagination die Ausrichtung des hedonischen Wollens mitbestimmt,
also da, wo man etwas als angenehm oder unangenehm imaginiert.
Hier können wir von außen manipuliert werden, und hier können
psychische Defekte zu Verzerrungen führen und bewirken, dass wir

10 Kant, Vorlesungen über Anthropologie, Menschenkunde, AA XXV/2,


1141 f.; vgl. auch Kant, Reflexionen über Anthropologie, AA XV/2, 854.

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 271

bestimmte Dinge wollen oder nicht wollen oder dass wir sie so stark
oder so schwach wollen. Es mag eindeutige Fälle der Manipulation
geben, es mag Defekte mit nachvollziehbaren Wirkungen geben, und
auch andere klare Fälle, so deutliche Fälle von Hörigkeit, in denen
jemand völlig willfährig das Wollen eines anderen übernimmt. Aber
in den meisten Fällen werden die Phänomene in einem kaum zu
durchdringenden Nebel liegen. Es ist gar nicht aufzuklären, warum
die Imagination die Wege nimmt, die sie nimmt.

4. Fassen wir die zurückliegenden Überlegungen zur Freiheit und


Unfreiheit in der Handlungssteuerung und zu der Frage, warum uns
an dieser Freiheit so sehr liegt, jetzt kurz zusammen. Eine Person
kann auf dem Weg vom Wollen zum Handeln, so scheint es, an drei
verschiedenen Stellen frei oder unfrei sein. Es kann, erstens, sein,
dass das Handeln nicht durch das eigene Wollen bestimmt wird,
sondern durch etwas anderes. In diesem Fall tritt etwas zwischen
Wollen und Handeln und verhindert die Bestimmung des Handelns
durch das Wollen. Es kann, zweitens, sein, dass ein falsches Wollen
das Handeln bestimmt, nämlich ein Wollen, das sich der koordi-
nierenden Überlegung entzieht, aber dennoch, an der Überlegung
vorbei, handlungseffektiv wird. Und es kann, drittens, sein, dass
wiederum ein falsches Wollen das Handeln bestimmt, aber dieses
Mal ein Wollen, das durch eine Unfreiheit im Überlegen an die Posi­
tion des handlungsleitenden Wollens gelangt. Schon eine von die-
sen drei möglichen Unfreiheiten reicht aus, um zu verhindern, dass
das Maximum dessen, was man will, verwirklicht wird. Diese drei
Arten der Unfreiheit sind Teile der Verwirklichungsunfreiheit, die
entsprechenden Arten der Freiheit Teile der Verwirklichungsfreiheit.
An dieser Freiheit sind wir so stark interessiert, weil man, wenn man
etwas will, immer die Realität des Gewollten will. Wir können des-
halb nichts wollen, ohne auch die Verwirklichungsfreiheit zu wol-
len. Der Wunsch, im Wollen über dem Strich frei zu sein, entspringt
hingegen einer anderen Quelle. Diese Freiheit der Autonomie ist
etwas Eigenes neben der Verwirklichungsfreiheit. Wenn man nach
einer Gemeinsamkeit sucht, kann man sagen, beide Freiheiten seien
Formen einer Hindernisfreiheit.

5. Wenn eine Person frei im Sinne der Verwirklichungsfreiheit ist


und wenn sie zusätzlich frei im Sinne der Autonomie ist, gewinnen
ihre Handlungen dadurch eine Reihe spezifischer Merkmale. Zuerst

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272 Teil III: Die Koordination des Wollens

ist das, was die Person tut, in einem anspruchsvollen Sinn ihre eigene
Handlung. Sie ist durch ihr Wollen und ihre Überlegung oder ein-
fach durch sich, und nicht durch etwas anderes, bestimmt. Sie selbst
ist Ursache und Urheber der Handlung, sie selbst ist es, die hinter
der Handlung steht und sie steuert.
Dann: Die Handlung kommt nicht nur aus etwas Eigenem, ihr ge-
hen mit dem Überlegen und gegebenenfalls der Imagination bereits
eigene Aktivitäten voraus. Als solche ist vor allem das Überlegen
kein bloßes Geschehen, das in einem oder an einem passiert, son-
dern etwas, was die Person selbst tut, was sie aktiv vollzieht. Wenn
das Überlegen ungehindert erfolgt, kommt es aus einem selbst, es ist
durch einen selbst motiviert, und es hängt von einem selbst ab, ob
und wie man überlegt. Dabei bestehen, wie schon gesehen, deutliche
Spielräume. Wie man in ihnen agiert, hängt, ich komme darauf noch,
davon ab, was man will. Dem Überlegen geht also bereits selbst
ein Wollen voraus, ein eigenes Wollen. Das Überlegen, das innere
Tätigsein vor dem Tätigsein, ist also selbst bereits eine autopragia.
Aus diesen Punkten ergibt sich schließlich etwas Drittes. Wenn
eine Person in der beschriebenen Weise Urheber dessen ist, was sie
tut, kann sie etwas dafür, dass sie so handelt. Die Handlung ist ihr
zurechenbar. Sie hat sie getan. Die Freiheit geht, so zeigt sich, mit
der Zurechenbarkeit der Handlungen einher. Wenn man jemandem,
der in dieser Weise handelt, das, was er getan hat, vorhält, kann
er nicht sagen: Es lag nicht an mir. Wenn er versuchen sollte, sich
heraus­zureden, kann man entgegnen: Die Handlung kam aus dir, du
selbst hast sie gewollt, und dass du sie (unter dem Strich) gewollt
hast, ging auf eine Überlegung zurück, die du selbst angestellt hast.
Nirgendwo bist du gehindert worden, auch nicht im Vorfeld des
Wollens über dem Strich. Die Handlung geht deshalb auf dich zu-
rück. Du hast die Verantwortung für sie. Es zeigt sich damit, dass
der Ort der Freiheit auch der Ort der Verantwortlichkeit ist. Wer
unfrei ist, sich zum Beispiel infolge eines Waschzwanges die Hände
wäscht, ist hingegen nicht verantwortlich. Die Handlung kommt
nicht aus seinem Wollen und seiner Überlegung.

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 273

2. Offene Möglichkeiten, Zonen des Anders-Könnens,


­Spielräume

1. Die zuletzt gemachten Feststellungen evozieren leicht den Ein-


wand, unter den genannten Bedingungen von »verantwortlich«
zu sprechen, sei vorschnell. Verantwortlichkeit setze ein Element
­voraus, das bisher noch gar nicht zur Sprache gekommen sei, näm-
lich ein Anders-Können in einem stärkeren Sinn. Bei einer freien
Handlung kann man, wie schon erläutert, immer sagen: Wenn ich es
nicht gewollt hätte, hätte ich nicht so gehandelt. Und entsprechend:
Wenn ich anders gewollt hätte, hätte ich anders gehandelt. Es wird
also ein Anders-handeln-Können angenommen, aber in dem Sinne,
dass man anders handeln würde, wenn man anders wollte. Ob das
Anders-Wollen und dann auch das Anders-Handeln reale, verfüg-
bare Möglichkeiten sind, bleibt dabei allerdings offen. Der Einwand
besagt nun, um von Verantwortlichkeit sprechen zu können, müsse
man das Anders-Können stärker verstehen, so, dass reale alternative
Möglichkeiten verfügbar sind. Verantwortlich sei man dadurch, dass
es zu der Handlung, die man getan hat, eine verfügbare Alterna-
tive gab, die man hätte ergreifen können. Man hätte anders handeln
können, hat aber diese Handlung getan, und deshalb ist man für sie
verantwortlich. Das Anders-Können, in diesem Sinne verstanden,
sei für Verantwortung konstitutiv. Nur unter dieser Voraussetzung
sei es möglich, einem anderen oder auch sich selbst vorzuhalten,
dass man so oder so gehandelt hat, aber anders hätte handeln sollen
oder müssen.
Man muss diesen Einwand gar nicht am besonders schwierigen
Begriff der Verantwortlichkeit festmachen. Was er betreibt, ist eine
Verschärfung der Idee der Urheberschaft. Zunächst ist jemand der
Urheber seiner Handlungen, wenn er mit seinem Wollen und seiner
Überlegung hinter ihnen steht und nichts anderes sie bestimmt. Jetzt,
in der verschärften Form, ist jemand der Urheber seiner Handlun-
gen, wenn er irgendwo auf dem Weg zum Handeln in einem be-
stimmten Sinne anders konnte. Diese Verschärfung scheint nötig,
um zentrale Elemente unseres Selbstverständnisses zu fundieren. Im
Kern geht es um die Vorstellung, dass wir es sind, die unser Han-
deln bestimmen und steuern und darin Spielräume haben und anders
können. Diese Vorstellung sei nur zu verteidigen, wenn man das
Anders-Können im starken Sinne offener Möglichkeiten verstehe.
Nur so werde die Vorstellung der Urheberschaft verständlich. Es

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274 Teil III: Die Koordination des Wollens

muss, so die Idee, auf dem Weg zum Handeln eine Stelle gegeben
haben, an der man die Möglichkeit hatte, in diese Richtung zu ge-
hen, aber auch in eine andere. Es muss diese Zone offener Möglich-
keiten geben, und in ihr eine Aktivität, auf Grund deren man in die
eine oder andere Richtung geht. Diese Aktivität vor den Optionen
ist, so scheint es, das, worauf es ankommt. Nennen wir sie die ur-
sprüngliche Aktivität.
Diese Aktivität wird gewöhnlich mit Freiheit assoziiert. Wer zu
ihr fähig ist, ist frei, unter ein und denselben Bedingungen in diese
oder jene Richtung zu gehen. Oft wird das Problem der »Willens-
freiheit« genau in diesem Sinne verstanden. Wenn es diese Aktivität
gibt, sind wir frei, wenn nicht, sind wir unfrei. Man kann, in die-
sem Sinne von Freiheit zu sprechen, jedoch irritierend finden. Denn
wenn jemand auf diese Weise frei ist, wovon ist er dann frei? Offen-
bar nicht von einem Zwang. Wovon dann? Und wenn jemand die
Möglichkeit, anders zu handeln (im starken Sinn), nicht hat, wieso
ist er dann unfrei? Die Menschen funktionieren dann anders. Ihre
Handlungsvorbereitung kennt dann ein bestimmtes Element nicht.
Aber wieso sind sie dadurch unfrei? Sie besitzen dann eine be-
stimmte Art von Aktivität nicht. Wenn man hier von Freiheit spre-
chen will, muss man sich klarmachen, dass diese Freiheit etwas ganz
anderes als die Hindernisfreiheit ist. Frei bedeutet in dieser Verwen-
dung nicht: ungehindert durch äußeren oder inneren Zwang. Wer
in diesem Sinne unfrei ist, ist nicht durch etwas an etwas gehindert.
Es gibt in der Handlungspräparation nur diese Zone der offenen
Möglichkeiten und die ursprüngliche Aktivität nicht. Bezeichnen
wir diese zweite Freiheit, um sie deutlich von der Hindernisfreiheit
abzugrenzen, als Optionsfreiheit. Denn es geht darum, ob man die
Möglichkeit hat, unter denselben Bedingungen so oder anders zu
optieren. Dass es sich um völlig verschiedene Phänomene handelt,
zeigt sich auch daran, dass man, auch wenn man die Optionsfreiheit
nicht hat, sehr wohl frei im Sinne der Hindernisfreiheit sein kann.
Die Idee der Optionsfreiheit und die mit ihr verbundene ver-
schärfte Vorstellung von Urheberschaft stehen noch aus einem an-
deren Grund von vorneherein unter einem schlechten Stern. Die
Natur funktioniert, so habe ich gesagt, nach Naturgesetzen. Das be-
deutet unter anderem, dass wir, selbst wenn wir vielleicht denkbare
Ausnahmen nicht ausschließen wollen, annehmen müssen, dass die
mentalen Geschehnisse und die neuronalen Prozesse, die ihnen zu-
grundeliegen, jeweils die notwendige Folge des unmittelbar voraus­

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 275

gehenden Geschehens sind. Die Naturgesetze machen, wie gesagt,


nicht an unserer Schädeldecke halt. Ich wüsste nicht, wie man ver-
stehen will, wie die Menschen sind, ohne dies anzuerkennen.
Wenn dies zutrifft, gibt es in dieser Welt keinen Platz für eine ur-
sprüngliche Aktivität, durch die man unter ein und denselben Be-
dingungen in die eine oder die andere Richtung zu gehen vermag.
Wenn dies zutrifft, gibt es keinen Platz für ein Anders-Können im
starken Sinne offener Möglichkeiten.
Aber nehmen wir den vorgebrachten Einwand zum Anlass, den
Prozess der Handlungssteuerung unter den fraglichen Aspekten
weiter auszuleuchten. Wie ist der tatsächliche Ablauf? Und in wel-
chem Sinne berechtigt er uns dazu, uns als Urheber dessen, was wir
tun, zu verstehen?

2. Sehen wir zunächst, wo es auf dem Weg zum Handeln Zonen des
Anders-Könnens oder, anders gesagt, wo es Spielräume gibt. Als
erstes ist hier natürlich das Überlegen zu nennen. Wie es verläuft
und zu welchen Ergebnissen es kommt, hängt selbstverständlich in
erster Linie von seinen Gegenständen ab, also von den einschlägigen
Wünschen und ihrem Verhältnis zueinander. Es hängt aber auch da-
von ab, wie man überlegt, wie gut und wie schlecht. Das Überlegen
kennt mannigfache Möglichkeiten. Man hat nicht nur die Möglich-
keit, zu überlegen oder nicht zu überlegen. Man kann, wie erwähnt,
sorgfältig und hastig, konzentriert und fahrig, umsichtig und kurz-
schlüssig überlegen. Man kann es versäumen, sich hinreichend über
die zu berücksichtigenden Wünsche klar zu werden. Man kann sich
die Vor- und Nachteile der verschiedenen Möglichkeiten lebendig
und konkret vor Augen führen oder sich damit wenig Mühe machen.
Man kann immer auf das Nächstliegende blicken und alles Ferner-
liegende abblenden. Man kann die Erfahrungen der Vergangenheit
gründlich oder nur oberflächlich durchforsten, um herauszufinden,
wie etwas in Zukunft sein wird, wie angenehm oder unangenehm.
Dies zeigt, dass es im Überlegen viele Möglichkeiten gibt, es gut
oder schlecht zu machen. Und wie man es macht, hängt von dem
ab, der überlegt.
Es ist nicht zu bestreiten, dass sich in den Prozess des Überlegens
auch immer Elemente mischen, die man nicht in der Hand hat. Es
kommt einem etwas in den Sinn, es fällt einem etwas auf, man »sieht«
etwas einfach nicht, man hat etwas vergessen oder im Moment nicht
präsent. Dennoch ist das Überlegen ganz überwiegend etwas, was

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276 Teil III: Die Koordination des Wollens

man tut. Dass wir es so verstehen, spiegelt sich auch darin, dass wir,
zumindest in der Regel, nicht sagen, es sei glücklich oder unglücklich
gelaufen, sondern man habe es gut oder schlecht gemacht.
Das Überlegen kennt also Spielräume des Anders-Könnens. Und
es liegt bei uns, wie wir sie nutzen. Weil es so ist, kritisieren wir uns
und andere dafür, nicht genug, nicht gut genug oder vielleicht auch
gar nicht überlegt zu haben. Angenommen, ich hatte den Wunsch,
mein Leben zu ändern. Ich habe deshalb meine Anstellung aufge-
geben und meine Familie verlassen und in einem anderen Land ein
neues Leben ohne diese Bindungen begonnen. Schon bald kommt
mir, was ich getan habe, falsch vor. Und ich hätte es, wenn ich nur
besser überlegt hätte, wissen können. Du hättest, so sage ich zu mir,
besser überlegen müssen, du hättest dir die Konsequenzen für dich
und andere konkreter und sorgfältiger vor Augen bringen müssen.
Diese Selbstreflexion enthält nicht nur eine Fehleranalyse, es geht
nicht nur darum, aufzudecken, an welcher Stelle etwas schief ge-
laufen ist. Ich halte mir auch vor, es nicht besser gemacht zu haben.
Diese Selbstvorhaltung setzt die Vorstellung eines Spielraums und
des Anders-Könnens voraus.
Der nachträglichen Vorhaltung entspricht, dass man sich, wäh-
rend man überlegt, auffordern kann, sich anzustrengen, die Situation
angemessen zu prüfen, sorgfältig zu überlegen und sich zu konzen­
trieren.11 So kann man sich auffordern, deutlich vor Augen zu haben,
wie sehr man etwas in der Zukunft Liegendes will und was auf dem
Spiel steht, wenn man die Hier-und-Jetzt-Wünsche übergewich-
tet. Tugendhat meint, man könne sich ermuntern, etwas »stärker zu
wollen«.12 Aber das trifft die Sache meines Erachtens nicht. Wie stark
wir etwas wollen, hängt nicht von unserem Wollen ab. Wir können
nicht bestimmen, wie sehr wir etwas wollen. Wir können aber mehr
tun, um aufzudecken, was unsere Wünsche sind, wie stark sie sind
und wie sie zueinander stehen.
Wir haben jetzt eine erste Zone des Anders-Könnens auf dem
Weg zum Handeln identifiziert. Das Überlegen bewegt sich in einer
Vielzahl von Spielräumen. Innerhalb der Spielräume muss es jeweils
etwas geben, auf Grund dessen man in die eine oder andere Rich-
tung geht. Ein Vertreter der stärkeren Konzeption würde nun erneut
sagen: Wenn wir uns und andere kritisieren können, in die falsche

11 Vgl. hierzu Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, 50.


12 Ebd. 52.

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 277

Richtung gegangen zu sein, muss dieses Etwas eine ursprüngliche


Aktivität des Überlegenden sein, eine Aktivität vor offen stehenden
Möglichkeiten, die dann, ohne festgelegt zu sein, diese oder jene
Option ergreift.
Gibt es auf dem Weg vom Wollen zum Handeln noch weitere
­Zonen des Anders-Könnens? Einige nehmen an, eine solche Zone sei
zwischen dem überlegten Wollen und dem Handeln angesiedelt. Es
sei falsch, zu glauben, das überlegte Wollen determiniere das Han-
deln. Unmittelbar vor der Handlung gebe es vielmehr immer die
Möglichkeit, auch anders zu handeln. Man könne dem überlegten
Wollen folgen oder es auch nicht tun. Diese Idee wirkt jedoch wenig
überzeugend. Wenn ich überlegterweise x tun will, was könnte mich
dann dazu bringen, y zu tun? Es kann sein, dass ich infolge eines
Zwanges oder einer Sucht, obwohl ich x tun will, y tue. Aber dann
bin ich nicht frei, und dass ich y tue, ist gerade nicht das Ergebnis
eigener Aktivität.
Aber es ist doch, so könnte man insistieren, diesseits der Frei-
heitshindernisse immer möglich, das Steuer noch herumzureißen
und doch y zu tun. Ja, es ist möglich, so wenn plötzlich Zweifel an
der Richtigkeit der Überlegung und der vorgenommenen Abwägun-
gen aufkommen und man den Eindruck gewinnt, der Wunsch, y zu
tun, sei in Wahrheit, anders als bisher angenommen, der stärkste.
Oder wenn einem aufgeht, dass ein bisher noch nicht berücksichtig-
ter Gesichtspunkt wichtig ist und sich das Ergebnis der Überlegung
dadurch zugunsten des Wunsches von y verschiebt. Dies sind Fälle,
in denen man anders handelt als zunächst überlegt, aber es sind Fälle
einer korrigierten Überlegung: Weil man seine Überlegung korri-
giert – oder zumindest annimmt, bei einer besseren und genaueren
Überlegung käme man zu einem anderen Ergebnis, handelt man
anders, und nicht deswegen, weil zwischen dem überlegten Wol-
len und dem Handeln eine Zone des Anders-Könnens liegt. Es gibt
keine andere Möglichkeit als der Überlegung zu folgen. An dieser
Stelle findet sich kein Raum für eine Aktivität, die einen doch noch
in eine andere Richtung führt. Dies anzunehmen, entspräche auch
nicht der Innenperspektive des Überlegens. Wir überlegen nicht in
dem Bewusstsein, dass, wenn die Überlegung zu einem deutlichen
Ergebnis gekommen ist und einem klar geworden ist, was man am
meisten will, noch offen ist, was man tut, und dass es nach der Über-
legung noch einer weiteren Aktivität bedarf, um zu bestimmen, was
man tut. Wir überlegen gerade deshalb, weil es die Überlegung und

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278 Teil III: Die Koordination des Wollens

das überlegte Wollen sind, die – von Fällen der Unfreiheit abgese-
hen – das Handeln bestimmen.
Man kann allenfalls an Situationen denken, in denen die Über-
legung ergibt, dass man x und y gleich stark will. In diesen Fällen
muss man, wie es scheint, nach der Überlegung noch entscheiden,
ob man x oder y tut. Allerdings besteht auch in einem solchen Fall
keine Möglichkeit, nicht x oder y, sondern z zu tun. Auch hier
bestimmt die Überlegung das Handeln, wenngleich nur disjunktiv.
Außerdem handelt es sich, wie immer man erklärt, warum dann die
eine der beiden Optionen ergriffen wird, offenkundig um Sonder-
fälle und um eine kleine Teilklasse. Aus beiden Gründen vermag
der Hinweis auf Situationen dieser Art nicht die These zu stützen,
dass bei Handlungen generell eine Zone des Anders-Könnens zwi-
schen dem überlegten Wollen und dem Handeln besteht. Das ist
keineswegs der Fall.
Wichtiger als diese Buridan-Situationen, die es ohnehin wahr-
scheinlich kaum gibt (ich komme darauf noch), sind andere Fälle:
Wir kommen manchmal infolge epistemischer Grenzen nicht zu ei-
nem eindeutigen Resultat der Überlegung. Wir haben unsere kon-
kurrierenden Wünsche nicht so vor uns wie verschiedene Dachlatten,
von denen sich ohne Mühe feststellen lässt, welche die längste ist,
oder wie verschiedene Gewichte, von denen sich ebenfalls unschwer
feststellen lässt, welches das größte ist. Man muss sich in solchen
Fällen auf sein Bauchgefühl verlassen und darauf setzen, dass man
auf Grund diffuser, kaum bewusster und kaum greifbarer Intuitio-
nen das Richtige tut.
Offensichtlich sind auch diese Fälle kein Beleg für die These, dass
zwischen dem überlegten Wollen und dem Handeln grundsätzlich
eine Lücke existiert, in der es erst noch einer weiteren Aktivität nach
der Überlegung bedarf, um das Handeln zu bestimmen. Es handelt
sich um deviante Fälle. Dennoch stoßen wir in ihnen auf ein zusätz-
liches Element nach dem Überlegen. Weil die Überlegung nicht zu
einem deutlichen Ergebnis kommt, muss der fehlende Rest durch
etwas anderes ersetzt werden. Ich habe vom Bauchgefühl oder einer
Intuition gesprochen. Wie weit hier eine Aktivität eine Rolle spielt,
ist nicht klar.
Ich kann jetzt die Idee, dass es zwischen dem überlegten Wollen
und dem Handeln generell eine Lücke gibt, in der es einer Aktivi-
tät bedarf, um zum Handeln zu bestimmen, zurückweisen. Es hat
sich allerdings gezeigt, dass es in besonderen Situationen, solchen,

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 279

in denen das koordinative Überlegen sein Ziel nicht erreicht, so et-


was geben könnte.
Es gibt im Vorfeld des Handelns in jedem Fall noch eine weitere
Zone des Anders-Könnens, nicht auf dem Weg vom Wollen über
dem Strich zum Handeln, sondern auf dem Weg zum Wollen. Die
Imaginationen, die die Ausrichtung des hedonischen Wollens mit-
bestimmen, sind, zumindest zum Teil, Aktivitäten, etwas, was man
tut, und man hat darin, in welchem Ausmaß und in welcher Art man
imaginiert, erhebliche Spielräume. Man kann sich uninspiriert in im-
mer gleichen Bahnen bewegen oder kreativ und phantasievoll sein.
Man kann sich in die Imagination hineinträumen, sie weiter und
weiter treiben, man kann sie aber auch beenden, indem man ihr die
Aufmerksamkeit entzieht. Man kann seine Imaginationen kognitiv
kontrollieren und kognitiv ungedeckte oder riskante Imaginationen
vermeiden oder darin sorglos und undiszipliniert sein. Man kann
sich für die Art seines Imaginierens Maximen und Regeln geben, was
voraussetzt, dass man es steuern und beeinflussen kann. Es bestehen
also vielfache Spielräume, und wie wir in ihnen agieren, liegt bei uns.
Das Wollen über dem Strich ist keineswegs vollständig oder auch nur
überwiegend einfach gegeben. Man darf die flexiblen Elemente im
hedonischen Wollen nicht übersehen, und nicht die Aktivität, die in
die Ausbildung und Ausrichtung ­dieses Wollens eingeht.
Wir haben jetzt für den Fall, dass das koordinative Überlegen
zu einem klaren Ergebnis kommt, vor dem Handeln zwei Zonen
des Anders-Könnens identifiziert. Auf dem Weg vom Wollen zum
Handeln das Überlegen, platziert zwischen dem Wollen über dem
Strich und dem Wollen unter dem Strich, und auf dem Weg zum
Wollen über dem Strich die Imagination, die die Ausrichtung des
hedonischen Wollens mitbestimmt. Wenn das Überlegen zu keinem
deutlichen Ergebnis kommt und unklar bleibt, was man unter dem
Strich will, bedarf es, wie es scheint, eines weiteren Schritts nach der
Überlegung, um das Handeln zu bestimmen. Ob das bedeutet, dass
in diesen Situationen eine dritte Zone mit Möglichkeiten entsteht,
ist allerdings fraglich. Selbst wenn wir von diesem dritten Fall ab-
sehen, zeigt sich, dass die Menschen bereits im Vorfeld ihrer Hand-
lungen in Spielräumen agieren und in ihnen anders und besser oder
schlechter handeln können.

3. Was aber geschieht in den Spielräumen? Wovon hängt ab, welche


der Möglichkeiten man ergreift? Es hängt von uns ab, es liegt, so ha-

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280 Teil III: Die Koordination des Wollens

ben wir gesagt, bei uns. Aber was bedeutet das konkret? Die Antwort
liegt nach den vorangegangenen Analysen nahe. Das, was bestimmt,
ob und wie man handelt, ist ein Wollen. Das Wollen ist der Moti-
vator, der die Menschen in Bewegung setzt und bestimmt, was sie
tun und auch wie sie es tun. Und wenn das, was in einem Spielraum
geschieht, eine Handlung ist, eine äußere oder innere, dann handeln
wir, wie wir es tun, weil wir es so wollen. Und wenn, einen Spielraum
zu haben, bedeutet, so, aber auch anders handeln zu können, dann
hängt, dass man so handelt, wie man es tut, davon ab, dass man es
so will. Und dass man anders handeln könnte, bedeutet dann, dass
man anders handeln würde, wenn man etwas anderes wollen würde.
Prüfen wir zunächst im Blick auf das zentrale Phänomen des
Überlegens, wohin diese Antwort führt und ob sie überzeugt. Wo-
von hängt es also ab, wie man überlegt, ob gut oder schlecht und ob
man überhaupt überlegt? Man muss sich an dieser Stelle vergegen-
wärtigen, dass das Überlegen eine Tätigkeit ist, die ein immanentes
Ziel hat. Wer überlegt, zielt auf eine Erkenntnis, in unserem Fall
darauf, zu erkennen, was in der jeweiligen Situation das stärkste
Wollen ist. Damit ist schon gesagt, warum wir überlegen: Wir wollen
es, um dadurch etwas zu erreichen. Und damit ist auch bereits klar,
was bestimmt, wie wir überlegen. Auch dies wird durch das Ziel
festgelegt, das wir durch das Überlegen erreichen wollen. Weil wir
etwas erkennen wollen, müssen und wollen wir so überlegen, dass
wir dieses Ziel erreichen. Grundsätzlich leitet uns im Überlegen also
ein Wollen, das sich aus einem höheren Ziel ableitet. Es kommt, was
das Wie des Überlegens angeht, eine instrumentelle Einschätzung
darüber hinzu, wie man sich verhalten muss, um dieses Ziel zu er-
reichen. So wie ein Schlosser ein Metallstück so bearbeiten will, wie
es nach seiner Einschätzung nötig ist dafür, dass es die vorgesehene
Funktion erfüllt. Es taucht damit, verborgen unter der Rede von der
instrumentellen Einschätzung, so könnte man sagen, eine weitere
Überlegung auf, eine Überlegung, die das Wie des Überlegens zum
Gegenstand hat. Man überlegt, wie die Überlegung ausfallen muss,
wie eingehend, wie sorgfältig, um das angestrebte Ziel zu erreichen.
Dies ist im Prinzip richtig, nur dass es sich dabei wohl weniger um
eine explizite Überlegung handelt. Man hat dank seiner Erfahrun-
gen vielmehr ein Gespür dafür, wie die Überlegung in der jeweiligen
Situation sein muss.
Wie aber kommt es dazu, dass man schlecht überlegt? Niemand
kann das wollen, weil man damit Gefahr läuft, nicht das, was man

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 281

am meisten will, zu realisieren. Man würde sich ins eigene Fleisch


schneiden. Wenn man schlecht überlegt, tut man das folglich wider
sein Wollen. Man glaubt, eine Überlegung sei gut genug, und sie ist
es dann doch nicht. Die instrumentelle Einschätzung war falsch. Ein
solcher Fehler kann unvermeidlich sein, aber auch vermeidbar, man
hätte es dann besser machen können.
Es spielen noch weitere Faktoren eine Rolle, wenn es darum geht,
warum jemand gut oder schlecht überlegt. So spielt eine Rolle, dass
dem Überlegen auch immer etwas entgegensteht: es kostet Zeit, Auf-
merksamkeit und Konzentration, man muss sich anstrengen, sich
gegebenenfalls informieren, Meinungen und Einschätzungen einho-
len. Deshalb neigt man dazu, nicht mehr als nötig zu tun, und darin
liegt die Gefahr, zu wenig zu tun. Man hat es gewissermaßen immer
mit dem Gegengewicht der eigenen Trägheit zu tun13, und die ge-
wöhnlich unausdrückliche Abwägung zwischen Anstrengung und
Trägheit kann so und so ausfallen. Nun kann man sich, so habe ich
gesagt, nicht ins eigene Fleisch schneiden wollen. Aber man kann
es in Kauf nehmen. Dies umso eher, je unwichtiger das ist, was auf
dem Spiel steht. Ja, man will etwas, aber es tut nicht weh, wenn man
es nicht bekommt. Wir wollen viele Dinge auf diese Weise. Überdies
sind wir daran gewöhnt, ständig Wünsche begraben zu müssen. Alle
Wünsche, die in der Konkurrenz mit anderen Wünschen erfolglos
sind und nicht zu Wünschen unter dem Strich werden, müssen, viel-
leicht bis auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, aufgeschoben oder aufge-
geben werden. Es ist deshalb kein Beinbruch, wenn wir etwas, was
wir erreichen könnten, wegen einer schlechten Überlegung nicht
erreichen, vorausgesetzt, es ist nicht allzu wichtig. Je wichtiger es
ist, je mehr auf dem Spiel steht, umso wahrscheinlicher ist es, dass
wir uns im Überlegen anstrengen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist dieser: Wir können auf Grund
zurückliegender Erfahrungen antizipieren, dass wir uns, wenn wir
in einer Sache von einigem Gewicht schlecht überlegen, später Vor-
haltungen machen werden. Möglicherweise werden auch andere uns
Vorhaltungen machen und negativ auf das reagieren, was wir getan
haben. Das wollen wir nicht, wir wollen keinen Konflikt und keine
Missbilligung durch andere und durch uns selbst. In diesem Wollen
liegt ein zusätzlicher Grund, gut zu überlegen. Wir wollen es nicht

13 Vgl. hierzu D. Kahneman: Thinking, Fast and Slow (New York 2011)
40–43; dt. Schnelles Denken, langsames Denken (München 2012) 56–59.

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282 Teil III: Die Koordination des Wollens

nur, weil wir dadurch zu der gesuchten Erkenntnis kommen, son-


dern auch weil wir so innere und äußere Konflikte vermeiden.
Wiederholen wir noch einmal, wovon es abhängt, was in dem
Spielraum, in dem sich das Überlegen bewegt, geschieht. Das Wie
des Überlegens wird bestimmt durch ein Wollen, man tut es so, weil
man es so will. Und man will es so, weil man – erstens – etwas durch
die Überlegung erreichen will und weil man – zweitens – annimmt,
dass man das Ziel durch die so geartete Überlegung erreichen wird.
Ein Wollen und eine instrumentelle Einschätzung generieren ein ex-
trinsisches Wollen, das das Wie des Überlegens zum Gegenstand hat.
Diese Struktur finden wir bei allen Handlungen, durch die wir et-
was erreichen wollen. Sie enthält überhaupt nichts Spezifisches. Es
kommt dann noch dazu, dass man auch deshalb in bestimmter Weise
überlegen will, weil man es andernfalls mit eigenen Vorhaltungen
und vielleicht auch mit Vorhaltungen anderer zu tun bekäme. Man
kann hier noch einmal den Vergleich mit dem Schlosser heranzie-
hen. Er bearbeitet das Metallstück so, weil er es so will. Und er will
es so, weil er – erstens – will, dass es am Ende die ihm zugedachte
Funktion zu erfüllen vermag, und weil – zweitens – nach seiner Ein-
schätzung diese Art der Bearbeitung zu diesem Ziel führen wird.
Außerdem will er es auch deshalb gut machen, weil er sonst Ärger
mit sich selbst und wohl auch mit seinem Meister bekäme. Darin
liegt ein zusätzliches Motiv.
Man könnte auf die Frage, wovon es abhängt, wie wir überlegen,
auch die aristotelische Antwort geben und sagen, dass es davon ab-
hängt, wie wir in dieser Hinsicht disponiert sind. Ist man jemand, der
gewohnheitsmäßig gut überlegt, oder jemand, der schlecht überlegt?
Diese Antwort ist völlig in Ordnung, aber sie lässt nicht erkennen,
was die konstitutiven Elemente sind, die in einer konkreten Situa-
tion, noch vor der Ausbildung der Disposition, bestimmen, wie man
überlegt. Eine Disposition hat ja eine Vorgeschichte, sie entsteht
aus dem Verhalten in vielen Einzelsituationen. Und in diesen sind
es eben ein Wollen und eine instrumentelle Einschätzung, die das
Wie des Überlegens bestimmen. – Tatsächlich sind, wenn es um das
Wie des Überlegens geht, offenkundig noch andere Dispositionen
von Bedeutung. So hängt, wie gut oder schlecht man überlegt, auch
davon ab, wie leichtsinnig, risikofreudig und draufgängerisch man
ist oder wie vorsichtig, bedacht und ängstlich. Auch diesen Dispo-
sitionen gehen ursprünglichere Elemente voraus.

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 283

Ich kann jetzt festhalten, dass wir in der Analyse dessen, was im
Spielraum des Überlegens geschieht, keineswegs auf eine ursprüng-
liche Aktivität stoßen. Was geschieht, ist vom Wollen bestimmt, von
Wünschen, aus denen sich andere Wünsche ableiten. Und was diese
extrinsischen Wünsche zum Gegenstand haben, hängt von Ein-
schätzungen über die geeigneten Mittel ab. Wenn wir in der-und-
der Weise überlegt haben, aber anders hätten überlegen können (und
vielleicht sollen), bedeutet das demnach, dass wir es anders gemacht
hätten, wenn wir es anders gewollt hätten. Und wir hätten anders
gewollt, wenn wir die instrumentelle Notwendigkeit anders einge-
schätzt hätten.
Man kann nun noch weiter fragen, ob es auch möglich war, zu
einer anderen Einschätzung zu kommen. Wenn nicht, kommt der
zurücklaufende »Wenn«-Regress an dieser Stelle zum Stehen. Wenn
doch, setzt er sich weiter fort. Man wäre zu einer anderen Einschät-
zung gekommen, wenn man anders, besser nachgedacht hätte. Der
»Wenn«-Regress kommt dann an einer anderen Stelle zum Stehen,
oder er verliert sich im nicht mehr Greifbaren. Oft aber wird man
gar nicht entscheiden können, ob man die Chance zu einer ande-
ren Einschätzung hatte. Abstrakt vielleicht, aber gab es konkret für
mich, in dieser Situation, bei diesem Wissensstand diese Möglich-
keit? Sprach etwas dafür, noch weiter zu gehen? Wer will das im
Nachhinein entscheiden? Man kann sich im Nachhinein nicht mehr
in die Situation zurückversetzen und rekonstruieren, ob alterna-
tive Möglichkeiten bestanden. Es sei auch daran erinnert, dass diese
Einschätzungen sich in aller Regel einem Gespür für die Situation
verdanken und nicht einem vorgängigen expliziten Nachdenken. Es
ist deshalb häufig gar nicht zu klären, ob man zu einer anderen Ein-
schätzung hätte kommen können. Es ist einfach so gekommen. Und
das muss man hinnehmen.
Kommen wir jetzt, wenigstens kurz, auf die Imagination, die vor
einem Teil des Wollens über dem Strich liegt. Auch sie stellt, wie
gesagt, eine Zone des Anders-Könnens dar, auch sie bewegt sich
in einem Spielraum, so dass sich wiederum die Frage stellt, wovon
es abhängt, welche der Möglichkeiten man ergreift. Man kann hier,
was über das Überlegen gesagt wurde, übertragen. Das Imaginieren
ist ohne Zweifel stärker mit passiven Elementen durchsetzt als das
Überlegen, aber auch die aktiven Anteile sind stark. So, wenn wir
unsere Imaginationen kognitiv kontrollieren. Wovon hängt ab, ob
und in welchem Maße wir das tun? Auch in diesem Fall hängt es

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284 Teil III: Die Koordination des Wollens

von einem Wollen ab. Wenn wir es wollen, werden wir es tun. Die-
ses Wollen ist wiederum extrinsisch; wie stark es ist und worauf es
sich genau richtet, hängt deshalb erneut von dem höheren Wollen
ab, von dem es sich ableitet, und von einer instrumentellen Einschät-
zung. Man kann folglich wiederum sagen, man hätte anders gewollt,
wenn die instrumentelle Einschätzung anders gewesen wäre. Und
da das leitende Wollen in diesem Fall nicht das invariable Wollen
ist, das auf die maximale Realisierung der Wünsche zielt, muss man
hinzufügen: Man hätte auch dann anders gewollt, wenn das leitende
Wollen anders, stärker oder schwächer, gewesen wäre. Damit zeich-
net sich bereits ab, dass die Dinge im Falle des Imaginierens, was
seine aktiven Anteile angeht, im Prinzip genauso liegen wie beim
Überlegen. Der Regress des »Wenn« kommt auch in diesem Fall
irgendwann bei etwas zum Stehen, das so ist oder das so gekom-
men ist. Oder er verliert sich im nicht mehr Greifbaren, so dass sich
nicht mehr entscheiden lässt, ob man es anders hätte machen kön-
nen. Auch in diesem Fall bleibt einem nichts anderes als zu sagen,
dass es so gekommen ist.
Und was ergibt sich für die sogenannten Buridan-Situationen, in
denen man x und y gleich stark will, und für die Fälle, in denen es in-
folge epistemischer Grenzen nicht gelingt, in der Überlegung zu klä-
ren, was man stärker will, x oder y? Es ist keineswegs klar, wieweit es
Buridan-Situationen gibt. Wir wollen so viel, das Netz unseres Wol-
lens ist so komplex, unsere Erfahrungen sind so mannigfaltig, dass
es unwahrscheinlich ist, dass sich daraus bei längerem Überlegen
keine Anhaltspunkte für das Vorziehen von x oder von y ergeben
sollten. Je wichtiger das ist, worum es geht, umso wahrscheinlicher
ist es, dass wir herausfinden können, was wir stärker wollen. Am
ehesten kommt es zu Buridan-Situationen, wenn man keine Zeit hat,
besser nachzudenken. Aber damit werden sie bereits zu Fällen der
zweiten Art, in denen man als Folge epistemischer Beschränkungen
keine Klarheit über das stärkere Wollen erreichen kann.
In diesen Fällen entscheidet sich, wie man handelt, so hatte ich
gesagt, am ehesten auf Grund eines Bauchgefühls oder einer Intui-
tion. Dies ist ein Ersatz für die explizite und bewusste Überlegung.
Während das Überlegen eine Aktivität ist und sich in einem Hand-
lungsspielraum bewegt, gilt das für ein Bauchgefühl offenbar nicht.
Wir wissen nicht so genau, was die Ursachen für ein solches Gefühl
sind. Es scheint jedenfalls keine greifbare Aktivität im Spiel zu sein,
von der sich annehmen ließe, man könne es so, aber auch anders

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 285

machen. Deshalb liegt in diesen Fällen allem Anschein nach keine


Zone des Anders-Könnens vor.
Dies mag, so könnte man sagen, richtig sein, aber es gibt zweifel-
los Situationen, in denen das Bauchgefühl nicht so distinkt und ein-
deutig ist wie bisher unterstellt, sondern vage und ambivalent, und
natürlich auch Situationen, in denen sich ein solches Gefühl nicht
einstellt, in denen man wirklich hin- und herschwankt und in denen
man dann springen muss. Und dieses Springen sei offenkundig eine
Aktivität in einem Spielraum, man kann dem einen Wunsch folgen
und x tun, aber auch, genauso gut, dem konkurrierenden Wunsch
und y tun. Wenn es so ist, gibt es dann etwas, das einen in die eine
oder die andere Richtung gehen lässt? Wir müssen, so meine ich,
davon ausgehen, dass dann unbewusste Faktoren bestimmen, was
wir tun, und solche Faktoren, die zu flüchtig und zu ungreifbar sind,
als dass sie in einer bewussten Abwägung eine Rolle spielen könn-
ten. In unsere Entscheidungen wirken ohne Zweifel unbewusste,
uns verborgene Faktoren hinein: weit zurückliegende Prägungen,
unbewusste Gewohnheiten des Präferierens, Erinnerungsbestände,
die wir nicht bewusst, aber unbewusst beiziehen und auswerten, un-
bewusste Assoziationen und Wahrnehmungen, und auch Faktoren,
die am Rande des Bewusstseins angesiedelt sind, aber, wie gesagt,
zu luftig, zu flüchtig sind, als dass sie als greifbare Elemente in eine
bewusste Abwägung eingehen könnten.14 Wenn wir das, was wir als
Springen beschreiben, in dieser Weise verstehen, dann liegt offenbar
auch an dieser Stelle keine ursprüngliche Aktivität vor, die aus dem
Nichts entweder so oder so optiert. Ja, es ist fraglich, ob überhaupt
eine Aktivität vorliegt und ein Handlungsspielraum besteht. Ein
Handlungsspielraum liegt, wie wir fanden, vor, wenn man so, aber
auch anders handeln kann und wenn, was man tut, von einem selbst
abhängt, und zwar in dem Sinne, dass man so handelt, wie man es
tut, weil man es so will, und dass man anders handeln würde, wenn
man etwas anderes wollen würde. Ob eine solche Situation vorliegt,
wenn unbewusste Faktoren dazu führen, dass man einem der kon-
kurrierenden Wünsche folgt, ist nicht leicht zu sagen. Das muss hier
ungeklärt bleiben.

14 Vgl. hierzu z. B. W. Singer: Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten auf-
hören, von Freiheit zu sprechen, in: Chr. Geyer (Hg.): Hirnforschung und
Willensfreiheit (Frankfurt 2004) 30–65, 47, 49 f., 57, 59.

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286 Teil III: Die Koordination des Wollens

Fassen wir die zurückliegenden Überlegungen zusammen. So-


wohl im Falle des Überlegens wie auch im Falle des Imaginierens
erweist sich das Anders-Können in den Spielräumen, in denen sich
diese Tätigkeiten bewegen, als konditional oder, wie es Austin ge-
sagt hat, als »iffy«.15 Man hat so gehandelt, weil man es so gewollt
hat, und man hätte anders gehandelt, wenn man anders gewollt hätte.
Das, was man tut, kommt also uneingeschränkt aus dem eigenen
Wollen. Würde das Wollen variieren, würde man auch anders han-
deln. In den Fällen, in denen einen nicht eine Überlegung, sondern
ein Bauchgefühl oder eine Intuition leitet, liegt allem Anschein nach
kein Anders-Können vor. Und wenn man nicht einmal eine Intu-
ition hat, vielmehr hin- und herschwankt und scheinbar aus dem
Nichts so oder so optiert, ist unklar, ob man von einem Handlungs-
spielraum sprechen kann. Denn unbewusste, dem inneren Auge ver-
borgene Faktoren bestimmen, so müssen wir annehmen, in welche
Richtung man geht. Wie immer man Situationen dieser speziellen
Art genauer analysiert, wir finden in ihnen auf jeden Fall auch keine
ursprüngliche Aktivität.
Würde man die Entscheidung in diesen Fällen stattdessen als ur-
sprüngliche Aktivität verstehen, so dass, in welche Richtung sie geht,
nicht von vorgängigen Faktoren abhängig wäre, sondern sich, un-
bedingt, durch sie selbst entschiede, stieße das nicht nur auf den
grundsätzlichen Einwand, dass auch eine solche Entscheidung, wie
alles mentale Geschehen, auf Gehirnprozessen beruht und deshalb
die notwendige Folge vorausgehender kausaler Faktoren ist. Man
würde damit auch hinsichtlich der Verantwortlichkeit und der Mög-
lichkeit, sich und anderen etwas vorzuhalten, gar nichts gewinnen.
Denn die Entscheidung käme aus dem Nichts. Sie wäre überdies an
einer Stelle angesiedelt, wo die eine Handlung so gut wie die andere
wäre, wo man folglich nichts besser oder schlechter und auch nichts
falsch machen kann. Und deshalb könnte man sich oder anderen
auch nicht vorhalten, es nicht anders gemacht zu haben. Man käme
also mit dieser – ohnehin nur ausgedachten – Vorstellung einer ur-
sprünglichen Aktivität gar nicht weiter.16 Man fiele vielmehr hinter
ein vernünftiges Verständnis zurück.

15 Vgl. J. L. Austin, Ifs and Cans (1956), in J. L. A.: Philosophical Papers. 3rd
edition, ed. J. O. Urmson and G. J. Warnock (Oxford 1979) 205–232, 205.
16 Vgl. hierzu treffend M. Schlick: Fragen der Ethik (1930) (Frankfurt 1984)
164 f.

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 287

Damit können wir den Einwand, Verantwortlichkeit setze ein


Anders-Können im starken Sinne offener Möglichkeiten voraus,
jetzt endgültig zurückweisen. Die Idee eines solchen Anders-Kön-
nens, die Idee einer ursprünglichen Aktivität und damit auch die
Idee der Optionsfreiheit lassen sich, so meine ich, nicht plausibel
machen. Wir stoßen in der konkreten Analyse dessen, was in den
Spielräumen vor dem Handeln geschieht, nicht auf eine solche Ak-
tivität und auf eine solche Freiheit. Wir müssen diese Ideen also
verwerfen. Es gibt nach allem, was wir wissen, in dieser Welt keinen
Platz für ein unbedingtes Anders-Können.

3. Urheberschaft und Verantwortlichkeit

1. Was bedeutet dieses Ergebnis nun für unsere Vorstellung, dass


wir die Urheber dessen sind, was wir tun, dass wir unsere Handlun-
gen aktiv steuern und dass uns deshalb, was wir tun, zuzurechnen
ist? – Es bedeutet, dass wir an dem Verständnis der Urheberschaft
festhalten können, das vor dem Einwand bereits entwickelt worden
war. Urheber seiner Handlungen ist man, wenn sie aus dem eige-
nen Wollen und dem eigenen Überlegen kommen und keine äuße-
ren oder inneren Zwänge die Handlungspräparation deformieren.
Da das Überlegen und die Abwesenheit von Zwang selbst gewollt
sind, kann man auch einfach sagen: Urheber seiner Handlungen ist
man, wenn sie aus dem eigenen Wollen kommen. Und sie kommen
aus dem eigenen Wollen, wenn man frei ist im Sinne der Verwirkli-
chungsfreiheit und auch im Sinne der Autonomie.
Wenn ich in dieser Art Urheber dessen bin, was ich tue, bin ich
es, der so handelt. Ich bin es, der der Autor der Handlung ist und
diese Handlung initiiert und vollzieht. Aristoteles hat diese elemen-
tare Einsicht in verschiedener Weise zur Geltung gebracht. So sagt er,
dass das, was wir durch unser Wollen tun, etwas ist, was wir »durch
uns selbst« tun, und dass wir davon »selbst die Ursache« sind.17
Man muss sich an dieser Stelle daran erinnern, wie falsch es ist,
das eigene Wollen als etwas zu verstehen, das wie etwas Fremdes
in einem herumschwimmt und nicht wirklich zu einem gehört. In
Wirklichkeit ist das Wollen mein Wollen, ich bin es, der das Gewollte
will, ich bin es, der, weil er dieses Wollen hat, eine Bewegung initi-

17 Aristoteles, Rhetorik I, 10. 1368 b 37–1369 a 2.

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288 Teil III: Die Koordination des Wollens

iert, und ich bin es, dem es angenehm ist, wenn das Gewollte Wirk-
lichkeit wird, und den es schmerzt, wenn das nicht geschieht. Man
ist in das eigene Wollen involviert und kann ihm gegenüber nicht
gleichgültig sein. Ich habe oben von der besonderen Ich-haftigkeit
des Wollens gesprochen.18 Und wenn ein Wollen eine Eigenschaft
hat, die einen stört, so dass man von einem solchen Wollen nicht in
seinem Handeln bestimmt werden will, kann diese Distanzierung
ihren Ursprung nur in einem anderen Wollen haben. Wir sind, so
habe ich gesagt, immer im Wollen. Ein dem Wollen vorgelagertes
und von ihm ablösbares Selbst gibt es nicht. Diese Position diesseits
des Wollens existiert nicht. Das Ich und das Wollen sind grund-
sätzlich nicht dissoziierbar. Deshalb kann es niemals einen Konflikt
zwischen dem Ich und dem Wollen geben. Dies ist der Grund dafür,
dass wir, wenn wir etwas durch unser Wollen tun, es durch uns tun
und dass wir dann selbst die Ursache davon sind. Die Gleichung
»durch mein Wollen« und »durch mich« ist nicht eine bloße façon
de parler, sie bringt eine tiefe Wahrheit über die Existenzweise der
Menschen zum Ausdruck.
Mit diesem Verständnis des Urheberseins ist, wie wir sahen, nicht
geleugnet, dass wir darin, wie wir handeln, Spielräume haben und
anders können. Das Handeln bewegt sich in Spielräumen, und die
ihm vorausgehenden Aktivitäten bewegen sich ebenfalls in Spiel-
räumen. Was in ihnen geschieht, ist aber bedingt durch ein Wollen.
Wir tun etwas, weil wir es wollen, und wir tun es so, wie wir es tun,
weil wir es so wollen. Würden wir etwas anderes wollen, würden wir
etwas anderes tun. Ein Spielraum besteht, wie gezeigt, gerade darin,
dass man etwas tut, weil man es will, und dass man etwas anderes
tun würde, wenn man etwas anderes wollte.
Ich möchte drei weitere Bemerkungen anfügen. (i) Davon, dass
ich der Urheber einer Handlung bin, wenn ich sie tue, weil ich es
will, wird nichts weggenommen durch die Tatsache, dass wir in er-
heblichem Maße nicht selbst fixieren, was wir intrinsisch wollen. Die
fixen Elemente in der Ausrichtung des menschlichen Wollens ändern
nichts daran, dass, wenn ich etwas will, es mein Wollen ist; es bewegt
mich und es legt fest, was mir gefällt und nicht gefällt. Ich bin es,
der auf seine Verwirklichung aus ist und sich dafür engagiert. Und
deshalb sind wir, wenn wir etwas tun, was wir wollen, die Urheber
dieser Handlungen. Es ist keineswegs problematisch, sich, weil man

18 Vgl. § 8, S. 213.

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 289

eine Handlung gewollt hat, als ihr Urheber zu begreifen und sich
zugleich bewusst zu sein, dass man das motivierende Wollen hat,
weil man das Wesen ist, das man ist.
Es wäre ein schwerwiegender Fehler, der es unmöglich machte,
unsere Lebensweise zu verstehen, wenn man annähme, Urheber-
schaft und Aktivität müssten rekursiv sein in dem Sinne, dass dem
Urhebersein kausal nichts vorausgehen dürfe, dessen Urheber man
nicht wiederum sei, oder dass dem Aktivsein nichts vorausgehen
dürfe, was man nicht selbst wiederum aktiv herbeigeführt habe. Es
wäre ganz falsch, zu meinen, weil wir nicht die Autoren oder nicht
die vollständigen Autoren unseres Wollens sind, könnten wir auch
nicht die Autoren unserer Handlungen sein. Tatsächlich beginnt die
Urheberschaft mit unserem Wollen und damit mit uns. Wollte man
hier eine Rekursivität annehmen, führte das zu grotesken Vorstel-
lungen über die Selbsterschaffung des Menschen.
(ii) Es ist durchaus richtig, die Menschen – und alle anderen Le-
bewesen, die fähig sind, etwas zu wollen – als unbewegte Beweger
zu verstehen. Sie sind unbewegte Beweger, weil sie Wesen sind, die
etwas wollen. Das gründet einfach darin, dass ein Wollen ein moti-
vationaler, ein eine Bewegung erzeugender Zustand ist.
Man könnte dem die alte Vorstellung entgegenhalten, im Falle
hedonischer Wünsche attrahiere das Angenehme das Wollen, so dass
das Wollen, soweit es aufs Angenehme geht, selbst schon durch sei-
nen Gegenstand bewegt und deshalb ein bewegter Beweger sei. Dem
Angenehmen eignet, so die Idee, eine Kraft, durch die es das Wollen
anzieht und auf sich ausrichtet. Wir haben jedoch gesehen, dass diese
Rede von der Attraktion (und entsprechend der Repulsion) nur eine
Metapher ist, die uns ein eingängiges Bild bietet. Was wirklich pas-
siert, ist, dass der mentale Zustand, etwas angenehm zu finden oder
auch nur etwas als angenehm zu imaginieren, einen anderen men-
talen Zustand, das Angenehme zu wollen, nach sich zieht. Das ge-
schieht automatisch. Es hängt nun in der Sache nichts davon ab, ob
man das Angenehm-Finden bereits einen Motivator nennt und sagt,
es sei der Beginn der Bewegung (wie ich es oben getan habe), oder
ob man dies für das Wollen reserviert. Das Angenehm-Finden und
das Wollen hängen so oder so aufs Engste miteinander zusammen.
Und es bleibt in jedem Fall richtig, dass der Beginn der Bewegung
in uns liegt. Denn etwas kann nur angenehm sein, wenn man es als
angenehm empfindet. So dass die Menschen auf die eine oder an-
dere Weise – durch ihr Wollen oder, wenn man so will, im Falle der

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290 Teil III: Die Koordination des Wollens

hedonischen Wünsche durch ihre Empfindungen des Angenehmen


und Unangenehmen – erste und unbewegte Beweger sind.
Natürlich impliziert das nicht die Vorstellung von etwas Akausa­
lem. Das wäre ein völliges Missverständnis. Natürlich hat die Tat-
sache, dass wir etwas wollen, eine kausale Vorgeschichte, genauso
wie die Empfindung des Angenehmen und Unangenehmen. Worauf
es ankommt, ist etwas anderes: Eine Empfindung des Angenehmen
und ein Wollen haben die spezifische Eigenschaft, motivationale Zu-
stände zu sein; als solche erzeugen sie eine Bewegung. Und dadurch
sind die Lebewesen, die etwas angenehm finden und die etwas wol-
len, unbewegte Beweger.
(iii) Nach dem, was in diesem Kapitel entwickelt wurde, ist aller-
dings klar, dass sich die Vorstellung, die Menschen seien die Urheber
ihrer Handlungen nicht allein auf die Tatsache stützt, dass sie Wesen
sind, die etwas wollen. Die Menschen sind in besonderem Maße Ur-
heber ihrer Handlungen, weil, was sie tun, auch von verschiedenen,
ihren Handlungen vorausgehenden Aktivitäten abhängt.
Dabei stützt die Tatsache, dass wir überlegen, die Vorstellung der
Urheberschaft in besonderer Weise. Denn wenn ich überlege, ob ich
noch weiter in der Sonne am See liegen bleibe oder aufbreche, um in
die Oper zu fahren, habe ich beide Möglichkeiten vor mir, und ich
überlege, weil noch unklar ist, was ich tun werde. Ich kann beides
tun, und es ist noch nicht bestimmt, welche der Optionen ich er-
greifen werde. Nach der Überlegung werde ich dann das eine oder
das andere tun. So dass, was ich tue, ganz offensichtlich von meiner
Überlegung und ihrem Ergebnis abhängt. Diese Erfahrung der zu-
nächst unbestimmten Situation mit verschiedenen Möglichkeiten,
die dann durch die Überlegung auf die eine reduziert werden, die
man ergreift, prägt zutiefst unser Selbstverständnis. Was wir tun, ist
nicht einfach abhängig von dem, was wir wollen, sondern darüber
hinaus auch davon, dass und wie wir die vielen Wünsche, die wir
haben, koordinieren. Wir sind deshalb auf ganz andere Weise die
Urheber dessen, was wir tun, als andere Lebewesen.

2. Und was ergibt sich aus alledem für die Frage der Zurechenbar-
keit und Verantwortlichkeit? Sind die Menschen, so wie sie funk­
tio­nieren, für das, was sie aus freien Stücken tun, verantwortlich?
Ich kann jetzt wiederholen, was schon gesagt wurde. Wenn ich aus
freien Stücken etwas getan habe, was Anstoß erregt – nehmen wir
an, es kollidiert mit einer sozialen Norm –, kann ein anderer, oder

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 291

auch ich selbst, zu mir sagen: »Die Handlung kam aus dir, du selbst
hast sie gewollt. Und nicht nur das, du hast sie überlegterweise ge-
wollt. Du hast nicht im Affekt gehandelt. Du warst in der Lage, die
verschiedenen Handlungsoptionen abzuwägen, und hast es getan.
Überdies waren es doch wohl«, so könnte man hinzufügen, »deine
Vorstellungen des Angenehmen und Unangenehmen, die dein Wol-
len über dem Strich inhaltlich mitbestimmt haben. Niemand und
nichts hat dich behindert. Die Handlung geht deshalb auf dich selbst
zurück, sie geht auf dein Konto. Du bist ihr Ursprung und Urheber,
und folglich für sie verantwortlich.«
All dies trifft zu. All dies muss ich einräumen. Und deshalb kann
ich sagen: »Ja, ich bin der Urheber der Handlung, ich habe sie aus
freien Stücken getan. Und wenn in dieser Gesellschaft eine solche
Handlung sanktioniert wird, dann muss ich das hinnehmen. Dann
muss ich für das, was ich getan habe, geradestehen.« Normaler-
weise wird es nicht schwerfallen, nachzuvollziehen, warum die Ge-
sellschaft Handlungen dieser Art sanktioniert, vielleicht würde ich
selbst dafür eintreten und mich dafür engagieren, dass sie das tut.
Aber, so nun wieder die nachstoßende Frage, war es denn mög-
lich, anders zu handeln? Es kann sein, dass diese Frage jetzt auf ei-
nen gewissen Unwillen stößt: »Was soll«, so könnte ich sagen, »die
Frage jetzt noch? Es wurde doch deutlich gesagt: ich habe es getan,
und ich habe es so gewollt. Niemand hat mich gezwungen, kein
psychischer Defekt hat mein Handeln beeinflusst. Niemand hat Al-
ternativen, die ich gerne ergriffen hätte, verschlossen. Es gab keine
Behinderungen. Die Handlung kam uneingeschränkt aus mir. Was
also soll die Frage nach dem Anders-Können noch? Und im Übri-
gen: Natürlich gab es Alternativen. Schließlich wollte ich nicht nur
eine Sache. Wenn es keine Alternativen gegeben hätte, wofür habe
ich dann überlegt? Ganz gewiss hätte ich anders gehandelt, wenn
ich (unter dem Strich) etwas anderes gewollt hätte. Und ich hätte
etwas anderes gewollt, wenn das Ergebnis meiner Überlegung an-
ders gewesen wäre. Die Frage nach dem Anders-Können ist also
längst beantwortet.«
Offenkundig steckt hinter der Frage, ob es möglich war, an-
ders zu handeln, wieder die Vorstellung eines unbedingten Anders-
Könnens, also die Idee einer ursprünglichen Aktivität, die aus dem
Nichts dazu führt, dass man in die eine oder die andere Richtung
geht. Doch eine solche Aktivität kann es aus den genannten Grün-
den nicht geben. Und unsere Analyse des mentalen Geschehens vor

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292 Teil III: Die Koordination des Wollens

einer Handlung hat gezeigt, dass man alle Phänomene auf andere
Weise verstehen kann. Niemand hat jemals in der Geschichte des
Denkens zeigen können, dass es eine solche Aktivität gibt. Man hat
sie immer nur postulieren können. Es gibt keine akausale Options-
freiheit. Und wenn es sie gäbe, wüssten wir mit ihr nichts anzufan-
gen. Sie könnte uns keine Verantwortlichkeit geben. In Wirklichkeit
reicht, so scheint es, das tatsächliche Geschehen, wie es beschrieben
wurde, ohne unbedingtes Anders-Können, dafür aus, dass jeman-
dem eine Handlung zugerechnet werden kann und er für sie ver-
antwortlich ist.
Das Anders-Können, das es wirklich gibt, das bedingte Anders-
Können, führt, wie gezeigt, in eine Iteration. Ich hätte anders gehan-
delt, wenn ich anders gewollt hätte, anders gewollt, wenn … und so
weiter. Wenn dieser Regress nicht in einem absoluten, unbedingten
Anders-Können endet und wenn er andererseits nicht ins Unendli-
che weiterlaufen kann, muss er bei etwas zum Stehen kommen, das
einfach so ist, oder bei etwas, bei dem man nicht mehr zu erken-
nen vermag, wovon es abhängt und wie es dazu gekommen ist. Wir
kommen, so haben wir gesehen, in der zurückgehenden Analyse des
mentalen Prozesses schließlich an einen Punkt, an dem wir sagen
müssen, es ist so gekommen, und es ist nicht möglich, zu entschei-
den, ob es dazu Alternativen gab oder nicht.
Eine wesentliche Station in diesem Prozess sind die intrinsischen
Wünsche über dem Strich. Wenn man hinter sie zurückgeht und
fragt, wie es zu ihnen gekommen ist, stoßen wir auf die einerseits
fixen, andererseits flexiblen Faktoren, die festlegen, was wir intrin-
sisch wollen. Neben generellen Elementen gibt es eine Vielzahl von
Einflussfaktoren, die zu deutlichen individuellen Unterschieden in
den volitionalen Prägungen und Charakterzügen führen. Dazu ge-
hören genetische Determinanten, zum Beispiel genetisch bedingte
Über- oder Unteraktivierungen in den für die Motivation relevanten
Gehirnarealen, frühe Einflüsse in der Kindheit, das sozio-kulturelle
Umfeld, die Erziehung, die persönliche Geschichte. Alle diese Fak-
toren haben die unüberschaubare Zahl zurückliegender, zum größ-
ten Teil nicht mehr bewusster Erfahrungen des Angenehmen und
Unangenehmen geprägt. Wie und in welchem Zusammenspiel sie
das eigene Wollen bestimmen, bleibt letzten Endes intransparent.
Selbstverständlich bedeutet, dass die Vorgeschichte unserer in-
trinsischen Wünsche und unseres volitionalen Charakters weitge-
hend im Dunkel liegt, nicht, dass die Menschen keinen Einfluss auf

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 293

ihre volitionalen Dispositionen und die Art ihres Wollens nehmen


können. Das können sie ohne Zweifel. Aber auch der Versuch der
Selbständerung und der Selbsterziehung ist durch ein Wollen moti-
viert, etwa durch den Wunsch, eine Person bestimmter Art zu sein.
Und auch dieses Wollen, seine besondere Prägung, seine spezifi-
sche Stärke, hat eine Vorgeschichte, die sich früher oder später in
der nicht wirklich aufhellbaren Genese der eigenen Person verliert.
Man kommt also, so meine ich, auch wenn man sich der Möglich-
keiten der Selbständerung bewusst ist, nicht umhin, zuzugestehen,
dass man in der Analyse des eigenen Wollens und seiner kausalen
Vorgeschichte über kurz oder lang einen Punkt erreicht, an dem man
nur noch sagen kann, es sei so gekommen, dass man dieses Wollen
in dieser Ausprägung und in dieser Stärke hat.
Wenn es so ist, so kann man jetzt einwenden, ist damit aber doch,
allem zuvor Gesagten zum Trotz, klar, dass niemand für etwas, was
er tut, verantwortlich ist. Verantwortlichkeit ist rekursiv. Verant-
wortlich für eine Handlung kann man nur sein, wenn man auch für
alles verantwortlich ist, was bewirkt, dass man diese Handlung tut.19
Nun haben wir gesehen, dass es ein schwerer Fehler wäre, Ur-
heberschaft und Aktivität rekursiv zu verstehen. Ist es dann nicht
auch falsch, Verantwortlichkeit rekursiv zu verstehen? Hängt Ver-
antwortlichkeit nicht an Urheberschaft, so dass, wenn diese nicht-
rekursiv ist, jene es auch nicht ist?
Stellen wir uns, um an diesem Punkt weiterzukommen, noch ein-
mal jemanden vor, der ein Unrecht begangen hat und deswegen an-
geklagt ist. Er sagt vor dem Richter das, was wir ihm zuvor schon in
den Mund gelegt haben: Es sei zweifelsfrei seine Tat, er habe sie aus
freien Stücken begangen. Es habe in ihrem Vorfeld keine ungewoll-
ten Einflüsse gegeben, die er als Entschuldigungsgründe anführen
könne. Er verstehe die Notwendigkeit, die Handlung zu sanktionie-
ren, und akzeptiere deshalb, bestraft zu werden.

19 Ph. Pettit nimmt an, Verantwortlichkeit sei rekursiv: »Responsibility is


inherently recursive in nature.« Vgl. A Theory of Freedom (Cambridge 2001)
11. Im weiteren Verlauf des Buches entwickelt Pettit dann aber ein Verständ-
nis von Verantwortlichkeit, das dieser so betonten Aussage keineswegs ent-
spricht; vgl. 97–100. – Vgl. zum Problem der Rekursivität des Verantwort-
lichseins auch M. Klein: Determinism, Blameworthiness, and Deprivation
(Oxford 1990) und R. Kane: The Significance of Free Will (Oxford 1996)
32–43, 60–81.

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294 Teil III: Die Koordination des Wollens

Nachdem der Angeklagte dies zugestanden hat, fügt er aber, an


den Richter gewandt, noch Folgendes hinzu: »Mit dieser Erklärung
dürfte alles, was für Sie wichtig ist, gesagt sein. Für Ihr Urteil brau-
chen Sie wohl nicht mehr. Gleichwohl will ich noch etwas anspre-
chen, was für mich sehr wichtig ist, weil davon abhängt, wie Sie
meine Person sehen und mir begegnen. Ebenso klar wie das, was ich
bisher gesagt habe, ist, dass die spezielle volitionale Konstellation,
die hinter dem lag, was ich getan habe, ihre äußerst komplexe Vor-
geschichte hat und dass diese Vorgeschichte früher oder später auf
Faktoren zurückgeht, die sich nicht mehr im Einzelnen rekonstruie-
ren lassen, von denen man aber wissen kann, dass sie nicht in meiner
Hand gelegen haben. Warum mich die Erlebnisse, die zu dieser Tat
geführt haben, dermaßen erschüttert haben, warum sie mir so un­
erträg­lich waren, warum sie eine solche Aggressivität in mir auslös-
ten, warum ich mich davon nicht mehr lösen konnte, warum mich
die Tatsache, dass ich ein Unrecht begehen würde, und die drohen-
den Strafen nicht stärker abgeschreckt haben – möglicherweise gibt
es auf alle diese Fragen Antworten, aber sie werden auf Faktoren
führen, die meinem Einfluss entzogen waren.«
Vielleicht mag man in dieser Äußerung nur einen schwächlichen
Versuch sehen, sich herauszureden. Aber so ist es nicht gemeint. Er
ist es, der die Handlung getan hat, aus freien Stücken und aus eige-
nem Wollen. Davon nimmt er nichts zurück. Beides steht neben-
einander, das, was er zuerst gesagt hat, und das, was er dann noch
hinzugefügt hat. Und beides ist richtig. Der Angeklagte akzeptiert,
wie gesagt, die Strafe, er sieht ein, dass man ihm das, was er getan
hat, vorhält und dass es nicht anders geht, als ihn zu bestrafen. Aber
im Letzten ist, dass er bestraft wird, eine Kontingenz, – eine Kon-
tingenz, die sich aus anderen Kontingenzen ergibt.
Womöglich drängt es den Mann, noch eine letzte Bemerkung an-
zuschließen. »Ich sehe«, so wendet er sich noch einmal an den Rich-
ter, »wie gesagt, ein, dass ich bestraft werden muss. Aber seien Sie
vorsichtig mit einem Urteil über mich und meine Person. Gewiss,
ich bin kein gutes Mitglied der Rechtsgemeinschaft, und die, die
so etwas, wie ich es getan habe, nicht tun, sind bessere Mitglieder.
Aber seien Sie vorsichtig mit der Annahme, Sie seien besser aus eige-
nem Verdienst. Warten wir das endgültige, das göttliche Gericht am
Ende der Zeiten ab. Gott weiß, was wir getan haben, aber er weiß
auch sehr genau, wie es dazu gekommen ist. Warten wir ab, ob es
in der Welt, in der wir dann leben werden und in der es nicht mehr

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 295

nötig sein wird, durch Strafen und Strafandrohungen das Zusam-


menleben der Menschen zu ordnen, überhaupt noch Strafen geben
wird. Wird es nicht eher so sein, dass Gott keine Strafen verhängen
wird, nicht weil er barmherzig ist, sondern weil er weiß, wie alles
gekommen ist?«
Es ist durchaus möglich, dass der Richter dem, was der Ange-
klagte vorgebracht hat, zustimmt. Auch den hinzugefügten Bemer-
kungen könnte er zustimmen. Das hinderte ihn aber nicht daran, ein
Urteil zu fällen und eine Strafe zu verhängen. Und er muss dabei
aus den Gründen, die der Angeklagte selbst angesprochen hat, kein
schlechtes Gefühl haben.
Ist es, wenn die Dinge so liegen, wie sie jetzt geschildert wur-
den, wirklich richtig, zu sagen, die Menschen seien für das, was sie
aus freien Stücken tun, verantwortlich? Es ist, so meine ich, richtig.
Denn wenn sie frei handeln und ihre Handlungen gegen eine Norm
verstoßen, passt es, sie dafür zu bestrafen. Für normwidrige Hand-
lungen, die nicht aus dem eigenen Wollen und Überlegen kommen,
sondern auf einen äußeren oder inneren Zwang zurückgehen, wer-
den sie hingegen nicht bestraft. In diesen Fällen passt die Strafe nicht.
Denn sie tun diese Handlungen zwar, sind aber nicht ihre Urheber.
Sie können sagen, sie hätten es nicht gewollt, es sei nicht durch sie
geschehen. Handlungen, die so sind, dass – im Falle eines Norm-
verstoßes – eine Strafe passt, sind aber Handlungen, für die man
verantwortlich ist. Während man für Handlungen, die nicht so sind,
dass eine Strafe passt, nicht verantwortlich ist.
Genauso ist es im Falle des Mannes, der sein bisheriges Leben
aufgegeben hat, um etwas Neues anzufangen, sich aber schon nach
kurzer Zeit eingestehen muss, dass er schlecht überlegt hat und seine
Entscheidung falsch war. Er reagiert nur dann mit einem negativen
Affekt oder einem Selbst-Tadel, wenn er selbst es war, der über-
legt hat und die Entscheidung getroffen hat. Wenn seine Entschei-
dung durch eine Manipulation von außen zustande gekommen wäre,
würde er nicht in dieser Weise auf sein Verhalten reagieren. Ein Tadel
passte dann nicht. Im ersten Falle ist er verantwortlich, sein Verhal-
ten ist so, dass eine negative zurechnende Reaktion passt; im zweiten
Fall wäre er hingegen nicht verantwortlich.
Wir können jetzt auch verstehen, warum es richtig war, zu sagen,
ein solcher Selbst-Tadel – wie auch jeder andere Tadel – sei mehr als
eine Fehleranalyse und setze ein Anders-Können voraus. Wenn der
Mann so gehandelt hat, weil er es so wollte, und es so wollte, weil er

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296 Teil III: Die Koordination des Wollens

so überlegt hat, aber anders gehandelt hätte, wenn er anders gewollt


und zuvor anders überlegt hätte, dann ist klar, wo man ansetzen
muss, wenn man erreichen will, dass er es beim nächsten Mal besser
macht. Man muss dafür sorgen, dass er besser überlegt und deshalb
unter dem Strich etwas anderes will. Und genau dies ist die Inten-
tion des Tadels. Ein Tadel ist eine negative Konsequenz, etwas, was
man nicht will, und deshalb schafft man, wenn man schlechtes, un-
bedachtes Überlegen mit dieser Konsequenz verbindet, einen Grund,
es anders, besser zu machen. Die Praxis des Tadelns und ein Akteur,
der, wenn er anders überlegte und folglich anders wollte, anders han-
delte, passen also genau zusammen. Nur ein Akteur von dieser Art
ist der richtige Adressat für einen Tadel, für eine Vorhaltung oder
eine ähnliche negative Reaktion.
Wenn jemand unfrei handelt, die Handlung also nicht durch das
eigene Überlegen und Wollen bestimmt ist, ist diese Art von Ein-
flussversuch hingegen sinnlos. So ist, wenn ein Tyrann mich zwingt,
etwas zu tun, ein Tadel unpassend. Die Handlung ist erzwungen, sie
kommt nicht aus meinem Überlegen und Wollen. Und deshalb muss
man, wenn man erreichen will, dass ich in Zukunft in vergleichba-
ren Situationen anders handle, woanders ansetzen. Man muss den
Tyrannen beeinflussen. Der Tyrann ist der richtige Adressat, nicht
ich. Und wenn ein Geisteskranker, dessen Fähigkeit zu überlegen
gestört ist, etwas Falsches getan hat, ist ein Tadel ebenfalls nicht
passend, weil er ein Instrument ist, das nur über die Überlegung zu
wirken vermag. Wenn man erreichen will, dass, was geschehen ist,
nicht wieder passiert, muss man versuchen, falls das möglich ist, die
Person von ihrer Krankheit zu heilen. Denn da liegt der Ursprung
des Übels. Der Geisteskranke ist erneut der falsche Adressat für
einen Tadel. Diese Art der Reaktion passt, wie gesagt, nur, wenn
die Handlung aus dem eigenen Überlegen und Wollen kommt und
­insofern aus einem Spielraum des Anders-Könnens.
Ich kann jetzt generell sagen: Man ist für eine Handlung verant-
wortlich, wenn in dem Fall, dass man etwas falsch macht, ein Tadel,
eine Missbilligung oder eine Strafe durch andere oder durch sich
selbst passt. Genauso ist man verantwortlich, wenn in dem Fall, dass
man etwas gut oder richtig macht, ein Lob, eine Belohnung oder
eine Anerkennung passt. Und diese negativen oder positiven Reak-
tionen passen eben, wenn man der Urheber der Handlung ist und
sie einem deshalb zugerechnet werden kann. Offensichtlich gibt es
zwischen den Handlungen, die Lob und Tadel verdienen, ein breites

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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 297

Feld »neutraler« Handlungen, deren Urheber man genauso ist und


die einem deshalb ebenfalls zuzurechnen sind. Auch für diese Hand-
lungen ist man verantwortlich. Sie rufen keine tadelnden oder loben-
den Reaktionen hervor; aber sie kommen auf dieselbe einschlägige
Weise zustande. Es zeigt sich also, dass Urheberschaft das Entschei-
dende ist. Man ist – das ist der Kern der Sache – für die Handlungen
verantwortlich, deren Urheber man ist.
Urheberschaft ist aber, wie wir sahen, nicht rekursiv; sie beginnt
mit unserem Wollen. Dasselbe gilt für die Verantwortlichkeit. Auch
sie ist nicht rekursiv, auch sie beginnt mit unserem Wollen. Und
wenn man in die Vorgeschichte des eigenen Wollens hinabsteigt, en-
det die Spur entweder bei etwas, was einfach als Teil unserer gene-
rischen Natur so ist, oder sie verliert sich früher oder später in der
nicht mehr aufhellbaren Genese der eigenen Person. Sie endet also
so oder so bei Elementen, für die wir nicht verantwortlich sein kön-
nen, weil sie nicht das Ergebnis eigenen Wollens und Handelns sind.
Verantwortlichkeit kann, das ist der Befund, nicht rekursiv sein, so
wenig wie Urheberschaft und Aktivität rekursiv sind. Auch eine
postulierte ursprüngliche Aktivität kann hier in Wahrheit keine Al-
ternative bieten. Entweder sie agiert aus dem Nichts, dann kann sie
keine Grundlage für Verantwortlichkeit sein. Oder sie agiert doch
auf Grund von etwas, dann gilt für dieses Etwas und die Faktoren,
die zu ihm geführt haben, erneut, dass man für sie nicht verant-
wortlich ist.
Man kann lange darüber nachsinnen, was diese Einsicht, dass
auch unsere Verantwortlichkeit nicht rekursiv ist, für unser Leben
bedeutet. Einen wesentlichen Hinweis hat bereits der fiktive Ange-
klagte gegeben, als er sagte, auf diesen Sachverhalt aufmerksam zu
machen, sei wichtig, weil davon abhänge, wie man ihm als Person
begegne. Es geht um einen angemesseneren und humaneren Umgang
mit anderen und auch mit sich selbst. Das wäre weiter zu entwickeln.
Meines Erachtens ist der Gedanke, dass Verantwortlichkeit nicht re-
kursiv sein kann, den Menschen nicht fremd. Jeder weiß das, wenn
er nur ein wenig nachdenkt. In unserer Praxis und d ­ arin, wie wir auf
andere und ihre Handlungen und auch auf unsere eigenen Hand-
lungen reagieren, auch emotional reagieren, kommt dieses Wissen
allerdings kaum zum Tragen. Hier scheinen wir von übertriebenen
Vorstellungen der Zurechnung und der Verantwortlichkeit bestimmt
zu sein. Obwohl uns das hintergründige Gefühl nicht verlässt, dass
mit unserer Praxis des Schuld-Zusprechens, des Vorwerfens und der

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298 Teil III: Die Koordination des Wollens

Empörung etwas grundsätzlich nicht stimmt. Auch in diesem Punkt


sind wir noch weit davon entfernt, die Ambivalenzen aufzulösen
und zu einer austarierten Praxis zu finden, die zu dem passt, was
wir schon heute über uns wissen und in Zukunft vermutlich noch
sehr viel genauer wissen werden.

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Sachregister

Abwertung des Wollens 189, – mental angenehm 128 ff.,


191, 202, 235, 254 134 ff., 139, 141 ff.
aktiv, Aktivität 12, 24, 30 f., – satisfaktiv angenehm 121 f.,
106, 161, 170, 184, 189, 191– 125, 129 f., 133–136, 139 f.,
197, 200 f., 212, 214, 218, 142 f., 148, 154, 242
229 f., 259, 272, 277 ff., 284 f., – sinnlich angenehm 126–130,
287–290, 293, 297 134 ff., 139, 141, 143–146,
Aktivität, ursprüngliche 274 f., 153 f., 157
277, 283, 285 ff., 291 f., 297 – wollensunabhängig,
Anders-Können 260, 273–280, wollens­abhängig angenehm
283–288, 291 f., 295 f. 110, 118–126, 128–131,
Aneignung, Adoption, Akzep- 133–136, 138 f., 141 ff., 154,
tanz des Wollens 204–207, 158 ff., 191
209–212, 218 f. Arterhaltung 24 f., 35, 41 ff.,
Anerkennung, Wunsch nach 111, 149, 158
Anerkennung 109 ff., 123 ff., s. auch Fortpflanzung, sich
134–138, 142, 146, 151 f., fortpflanzen, Reproduktion
154, 157 f., 169, 182, 216, Assoziationen 145 f., 194, 285
240 f., 253, 256 f. Autonomie s. frei, Freisein,
angenehm, unangenehm 36–44, Freiheit: Freiheit der Auto-
55 f., 63, 67 f., 73, 105 ff., 110, nomie
112 ff., 118–148, 150–160,
161 ff., 166–173, 178–181, Bedeutung, etwas bedeuten 61,
183 f., 189, 191, 195, 197, 77, 79 ff., 84, 98
199, 201, 218, 227 f., 240– Bewusstsein, Bewusstseinsfeld
244, 246 f., 252, 258, 270, 30 f., 73, 224
289 f., 292
– ästhetisch angenehm 139 ff. Charakter, volitiver 292 f.
– kontrastiv angenehm 125 f.,
134 f., 138, 140 f., 147 f., Dafür-dass-Struktur 22, 24 f.,
150 f., 155 f. 42, 46 f., 77, 79, 108, 128,
176 f.

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310 Sachregister

Defizite, kognitive 178–183, Gefühle s. Emotionen, Gefühle


186, 217, 236, 248, 269 Gewicht des Wollens s. Stärke,
s. auch Kritik, kognitive Gewicht, Intensität des Wol-
Distanz zum eigenen Wollen lens
203 f., 207, 211, 213, 215 ff., Grund, Gründe 110, 167–177,
226 180 f., 184 ff., 188, 235, 258
– für etwas sprechen 169 f.,
eigen, Eigenheit 30 f., 224, 177
229 f., 272 – Gewicht 172, 175, 177
Emotionen, Gefühle 108 f., – motivationales Potential
121 ff., 140 f., 143 ff., 242 f., 172, 175, 177
264 – Normativität 171 f., 175,
Enteignung, Externalisierung 177
des Wollens 189, 191, 202, gut, Gutsein, das Gute 65, 106,
204 f., 209, 212, 218, 235 110, 148, 161–167, 172 f.,
Entscheidung 247 f., 252, 285 f. 175, 184 ff., 188 f., 206, 235,
Erinnerung s. Gedächtnis 258

Fortpflanzung, sich fortpflan- heteronom, Heteronomie 12,


zen, Reproduktion 113, 199 ff., 205, 218, 261
123, 128 ff., 149, 153, 165
s. auch Arterhaltung Ich, zukünftiges 55 f., 62, 90–
frei, Freisein, Freiheit 106, 93, 95
115 f., 149 f., 158, 190, 200 f., ich, etwas in mir 202 f., 206
218, 253, 259–272, 274, Ideale, persönliche, politische
277 f., 295 f. 147 f., 151, 157, 253, 262,
– Freiheit der Autonomie 269 f.
269 ff., 287 Imagination, Imaginations­
– Hindernisfreiheit 271, 274 fähigkeit 13, 29, 31, 53–62,
– Optionsfreiheit 274, 287, 67 ff., 71, 82 ff., 91, 107 f.,
292 144, 150–160, 178–181,
– Verwirklichungsfreiheit 183 f., 186, 188, 191–195,
269 ff., 287 197, 201, 212, 218, 224, 230,
Freilegung des relevanten Wol- 240, 242–245, 252, 258,
lens 232 f., 258, 268 270 ff., 279, 283 f., 286
Funktion, Funktionszuweisung – religiöse Imaginationen 55,
79 f., 84 f., 88 67 f., 152–158, 180 f.
Imperativ, hypothetischer,
Gedächtnis 29, 31, 54, 56, 62, ­kategorischer 186 f., 236,
100, 224, 268 253

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Sachregister 311

Intensität des Wollens s. Stärke, Reflexivität 97, 148, 214, 225 f.,
Gewicht, Intensität des Wol- 230
lens Reiz-Reaktionsmechanismen
20–24, 33, 35 f., 41, 43, 76,
Kommunikation der Tiere 75– 122 f., 159
79, 81 Rekursivität 289, 293, 297
Kontrolle, kognitive 156 f., Relativierung der Hier-und-
193, 279 Jetzt-Wünsche 228, 230,
Koordination des Wollens 33, 251 f.
63 f., 69 ff., 104, 168, 177 f., Repräsentation eines mentalen
181 ff., 200, 208 f., 219, 223, Zustandes 92 ff., 96 f., 226
226 f., 230–234, 237 ff., 243, repräsentieren, Repräsenta-
250, 253, 256, 258, 268 f., tion 61 f., 84–89, 92–95,
290 98 ff., 226, 230
Kritik, kognitive 157, 206, 217
s. auch Defizite, kognitive schlecht, Schlechtsein, das
Schlechte s. gut, Gutsein,
Langeweile 111, 125, 139, das Gute
141 ff. Selbst, gewolltes 65 ff., 160, 256
Leben, gewolltes 65 ff., 148 f., Selbst, wahres, eigentliches
160, 256 189 f., 198, 202, 264
Leben, gutes, Glück 65, 142 f., Selbsterhaltung 21 f., 24 f., 35,
147 ff., 158, 191, 254 ff. 41 ff., 111, 113, 149, 158
Leben, zukünftiges 64 f., 255 s. auch Weiterleben, weiter-
leben wollen
Maximen, Regeln, Prinzipien Selbstevaluation, Selbstkritik
217 f., 251 f., 279 66 f., 69, 149
Möglichkeiten, offene 273 ff., Spielraum, Spielräume 106,
277, 287 112, 114, 156, 161, 164, 172,
Motivator, originärer 120, 135, 184, 192 f., 230, 233, 252,
146 f., 149 f., 153 ff., 157–160, 267, 272 f., 275 f., 279 f., 282–
163, 166, 191 288, 296
Müssen, normatives 171 f., 187 Sprache, sprechen können 31,
54, 62, 72–100, 103, 151, 160,
Notwendigkeit, volitionale 224–227, 230, 245
107, 112, 138 s. auch Kommunikation der
Tiere
passiv, Passivität 12, 192, 195– Stärke, Gewicht, Intensität des
198, 200–203, 205, 218, 238 Wollens 223, 231, 239–252,
254 f., 257 f.

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312 Sachregister

stehen für 61 f., 83 ff., 92 211 f., 214 f., 218 f., 235 ff.,
Stimmungen 122, 140 f. 257 f., 263 ff.
Subjektivität 30 f., 224 Versklavtsein, Sklaverei 190,
Symbole, Symbolisierung 83 f., 197–201, 205, 270
88 f., 92, 94, 98, 226 vorhalten, Vorhaltung, Tadel
261 f., 268, 273, 276, 281 f.,
Tadel s. vorhalten, Vorhaltung, 286, 295 ff.
Tadel
wann 57 ff., 61 f., 83
überlegen, Überlegung 12 ff., warum 167–170
19, 24–33, 35, 43, 45, 47, Weiterleben, weiterleben wol-
52 f., 55 f., 62–65, 71, 73, 76, len 22, 25, 28, 42 f., 64 f., 70,
104, 106, 116, 161, 167 f., 78, 81, 107 ff., 111, 122 f.,
170, 176 ff., 184, 200, 207 ff., 128 f., 137, 142 ff., 149, 157,
215 f., 219, 223 ff., 228–236, 165, 169, 175 f., 196, 240,
240 f., 251, 259, 262–268, 242, 245
271 f., 275–284, 286 f., 290, s. auch Selbsterhaltung
296 Wohl der Kinder, das Interesse
– instrumentelles Überlegen daran 43, 108 f., 111, 137,
33, 73, 116, 223 f., 229 f. 142, 169, 206, 240, 244 f., 270
– koordinatives Überlegen 33, wollen, wünschen 32, 104 f.
104, 223–227, 229–232, 234– Wollen, aktuelles, nicht aktuel-
239, 242 f., 245–253, 257 f., les 231 f., 254
264, 267, 271, 279 Wollen, eingerammtes 43, 105,
unfrei, Unfreisein, Unfreiheit 107–113, 123, 133, 137 f.,
s. frei, Freisein, Freiheit 143 f., 154, 158 f., 162, 169,
Urheber, Urheberschaft 258, 172, 191, 197, 240, 246, 270
272–275, 287–291, 293, Wollen, extrinsisches, intrin-
295 ff. sisches 103 f., 107, 109 f.,
115 ff., 118, 124, 149 f., 160 f.,
verantwortlich, Verantwort- 163, 166, 168 f., 173–184,
lichkeit 272 f., 286 f., 290– 186 ff., 189, 191, 195, 210 f.,
293, 295 ff. 215, 231 ff., 235, 253 ff.,
Vergangenheit, Vergangenheits- 257 f., 262 f., 265 f., 269,
bewusstsein 46, 48, 50, 56, 282 ff., 288, 292
66 f., 69, 78, 80 f., 242 f., 275 Wollen, formales 115 ff., 149 f.,
Vernunft 11–14, 20 f., 24, 106, 253, 261, 263, 265, 269
161, 167, 175 f., 179, 182 ff., Wollen, fremdes 189, 202–206,
186 ff., 189, 195, 204, 206, 209–213, 218, 235, 287

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Sachregister 313

Wollen, handlungsleitendes, zählen, zählen können 60 ff.,


handlungseffektives 63, 97, 83 f., 87 ff., 95, 99
104, 161, 208 f., 211, 214, Zeichen 61 f., 83–86, 89, 98
223, 237 f., 240, 258, 264, Zeit, Zeitstücke, zeitliche Rela-
265 ff., 271 tionen 57–61, 63 f., 73 f., 80,
Wollen, hedonisches 105, 110, 84–89, 95
112 f., 143 f., 158 f., 162, Zeitbewusstsein 53, 57–63, 69,
169 f., 172, 183, 191 f., 197, 72, 74, 84
199, 240, 246, 270, 279, 289 f. Zukunft, Zukunftsbewusstsein
Wollen, permanentes, dauer- 13, 29 f., 31, 34, 40, 43, 45,
haftes, übergreifendes 64, 49–58, 60–75, 78, 80–84, 87,
107, 253 f., 256 f. 89 ff., 93–96, 100, 103, 107 f.,
Wollen, über dem Strich, unter 117, 144 ff., 148 f., 156–160,
dem Strich 104 f., 161, 166, 188, 195, 216, 224, 227 f.,
168 f., 176 f., 184, 186, 188 f., 234, 247, 253 f.
191, 195, 200 f., 203, 208, – bei Tieren 45–49, 51, 56, 72,
210, 215, 218, 223, 225, 227, 108, 234
229 f., 235, 239 f., 247, 251, Zwang 260 f., 266–270, 272,
257, 262–265, 268–271, 279, 274, 277, 287, 291, 295
283, 296 Zwecke, biologische 41 f., 78 f.,
Wollen, zukünftiges 48, 51 f., 81, 111, 113, 123, 128–132,
64, 66, 69 f., 92–97, 216, 225, 134 ff., 138, 149, 153, 155,
254, 258 158, 166
Wollen, zweistufiges 52, 66, 69,
97 f., 265
Wollen zweiter Stufe, z­ weiter
Ordnung, höherstufiges,
höheres 182, 186, 204–212,
219, 237 f., 249 f., 265 f.

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Personenregister

Aristoteles 44, 65, 130, 132, Frankfurt, H. G. 107 f., 111 f.,
162 f., 196, 227, 255, 261, 138, 142, 202–205, 207 ff.,
282, 287 212, 236 ff., 243, 265 f.
Austin, J. L. 286 Fraser, J. T. 74
Frede, M. 261
Bentham, J. 112 Freud, S. 27
Bermúdez, J. L. 74 Frijda, N. H. 130, 136
Berridge, K. C. 126, 136
Bickerton, D. 74 Gärdenfors, P. 74 f.
Bischof, N. 27, 48, 51 Gilbert, D. T. 178
Bischof-Köhler, D. 48
Bonner, J. T. 24 Hadot, P. 156
Brandt, R. B. 130 Heyes, C. M. 93
Burge, T. 31 Hobbes, Th. 70, 75, 162, 176,
196, 260
Cheney, D. L. 76 f. Hoerl, C. 48
Cooper, J. M. 132 f. Hölldobler, B. 76
Corballis, M. C. 48 f., 56, 74, Hume, D. 111, 113 f., 137, 162,
90, 92 171, 176, 196, 228
Craig, E. 132
Irvine, W. B. 113, 182, 198
Darwin, Ch. 12, 28
Dawkins, R. 65, 74 Kahneman, D. 281
Dehaene, S. 61 Kane, R. 293
Dennett, D. C. 73, 91 Kant, I. 11, 20 f., 24, 44, 70 f.,
Descartes, R. 11 115 ff., 122, 142, 156, 158,
Dickinson, A. 49 186 f., 190, 193, 196, 198 f.,
Duncker, K. 140 202, 204 f., 213, 236, 255,
261 f., 264, 270
Enskat, R. 187 Klein, M. 293
Köhler, W. 28 f., 46, 48, 72
Fischer, J. 77, 93 Korsgaard, Chr. M. 213 f.

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316 Personenregister

Kringelbach, M. L. 126, 136, Schlick, M. 286


139 Searle, J. R. 73, 99
Kusser, A. 208 Seebaß, G. 243
Seyfarth, R. M. 76 f.
Larmore, Ch. 172 Shoemaker, S. 237
Locke, J. 162, 196, 215 Singer, W. 133, 285
Lorenz, K. 28 Skinner, Q. 176
Sousa, R. de 64
Macphail, E. M. 91 Steinfath, H. 122
McGinn, C. 53, 194 Sterelny, K. 37
McTaggart, J. E. 58 Suddendorf, Th. 48 f., 56, 74,
Millikan, R. G. 27, 48 90, 92

Nagel, Th. 170 Taylor, Ch. 248


Newton-Smith, W. H. 59, 84 Tinbergen, N. 33
Nietzsche, F. 70, 153 Tomasello, M. 93
Tugendhat, E. 73 f., 91 f., 276
Parfit, D. 170, 185
Penn, D. C. 93 Valla, L. 154 f.
Pettit, Ph. 293 Vuust, P. 139
Platon 11, 87, 132, 141, 162,
188 ff., 200, 202, 204, 254 f. Whitrow, G. J. 74
Povinelli, D. J. 93 Wilson, E. O. 76
Wilson, T. D. 178
Roberts, W. A. 46, 48 Wittgenstein, L. 195
Rolls, E. T. 26, 41, 130 f. Wolf, U. 130
Rosenthal, J. 201 Wright, G. H. v. 130
Russell, B. 156 Wundt, W. 19

Scanlon, T. M. 172 ff. Zentall, Th. R. 48


Schapiro, T. 214 Ziff, P. 165

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