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Der Vorrang Des Wollens
Der Vorrang Des Wollens
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Peter Stemmer
KlostermannRoteReihe
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Originalausgabe
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Inhalt
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
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Vorbemerkung
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Einleitung
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10 Einleitung
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Einleitung 11
Wir können, wie gesagt, auch wenn wir keinen sicheren Boden
unter den Füßen haben, die Frage, was für Wesen wir sind, nicht
suspendieren. Wir müssen versuchen, mit den Mitteln, über die wir
verfügen, uns ein Bild zu machen, ein möglichst adäquates, wenn
auch provisorisches Bild.
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12 Einleitung
3. Die Leitfrage dieses Buches wird sein: Was steuert die Menschen
in ihrem Verhalten? Wie kommt es zu unseren Handlungen? Wo
liegt der Anfang der Bewegung, die unser Leben ist? Ich werde das
Thema angehen, indem ich einige zentrale Strukturmerkmale des
menschlichen Geistes analysiere. Es liegt nahe, zunächst der Tradi-
tion zu folgen und mit der schon in der Antike besonders heraus-
gestellten Tatsache zu beginnen, dass wir Wesen sind, die überlegen.
Wir können unserem Handeln ein inneres mentales Geschehen vor-
schalten: das Überlegen, und dann aus der Überlegung so handeln,
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Einleitung 13
wie wir es tun. Man kann hier auch davon sprechen, dass die Men-
schen Vernunft haben. Aber das nehme ich nur als eine andere, we-
niger konkrete Formulierung dafür, dass wir die Fähigkeit zu über-
legen haben. Der Beginn beim Überlegen führt allerdings schnell
auf etwas Elementareres, darauf, dass die Menschen Wesen sind, die
etwas wollen. Und tatsächlich liegt die Substanz des menschlichen
Lebens, so sollen die nachfolgenden Untersuchungen zeigen, nicht
im Überlegen, sondern im Wollen. Das Überlegen verweist auf das
Wollen. Im einfachsten Fall überlegt man, was man tun muss dafür,
etwas Gewolltes zu erreichen. Das Überlegen ist auf etwas, was man
will, bezogen. Dasselbe, wenn man überlegt, welche von zwei mög-
lichen Handlungen man tun soll, und dann infolge der Überlegung
die eine der anderen vorzieht. Warum zieht man die eine vor? Weil
sie, wie die Überlegung herausbringt, dem, was man will, mehr ent-
spricht als die andere Handlung.
Ein einfaches Beispiel: Was soll ich, so fragt sich jemand, wäh-
len, CDU oder SPD ? Er überlegt und entscheidet sich dann für die
Wahl der CDU . Warum? Weil er annimmt, dass die von der CDU
vorgeschlagene Kanzlerin und eine von ihr geführte Regierung mehr
von dem realisiert, von dem er will, dass es realisiert wird. Wesen,
die überlegen, sind notwendigerweise Wesen, die etwas wollen. Das
eine ist eine Conditio für das andere. Die Menschen können nur
Lebewesen sein, die überlegen, weil sie Wesen sind, die etwas wollen.
Das menschliche Wollen ist ungeheuer komplex und darin vom
Wollen anderer Lebewesen deutlich unterschieden. Es ist eine wich-
tige Aufgabe, zu klären, wie es zu dieser Komplexität kommt und
wodurch sie möglich wird. Zwei Merkmale des menschlichen Geis-
tes sind hier, so möchte ich zeigen, von entscheidender Bedeutung:
das Zukunftsbewusstsein der Menschen, das weit über das der uns
nächsten Tiere hinausgeht, und zum anderen die menschliche Fähig-
keit der Imagination, die ebenfalls sehr weit über ähnliche Fähigkei-
ten bei Tieren hinausgeht. Komplexe Strukturen des Wollens, Zu-
kunftsbewusstsein und Imaginationsfähigkeit gehen, wie es scheint,
aufs Engste zusammen.
Wenn das Wollen die Ergebnisse des Überlegens und damit das
Handeln bestimmt, was bestimmt dann die Ausrichtung des Wol-
lens? Was bestimmt, was man will? Auf welche Gegenstände geht
das Wollen? Diese Frage schließt unmittelbar an und ist für die Frage,
wie die Menschen funktionieren, offensichtlich von zentraler Be-
deutung. Sie wird eine der Kernfragen der folgenden Untersuchun-
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14 Einleitung
gen sein. Dabei wird auch zu klären sein, ob das Überlegen nicht
nur zwischen Handlungen am Maßstab eines vorgängigen Wollens
zu entscheiden vermag, sondern auch die Potenz hat, auf die Aus-
richtung des Wollens selbst Einfluss zu nehmen. Die Tradition hat
ganz überwiegend angenommen, dass das Überlegen, die Vernunft
diese Potenz hat und es zu ihren vornehmsten Aufgaben gehört,
das Wollen zu lenken. Natürlich stellt sich dann die Frage nach den
Ressourcen des Überlegens. Anhand wovon vermag das Überlegen
das Wollen in bestimmter Weise auszurichten? Oder ist es, gegen die
dominante Tradition, anders, ist das Überlegen, ist die Vernunft in
der Bestimmung des Wollens impotent? Und wenn dies, was ist es
dann, was dem Wollen seine Ausrichtung gibt? Was bestimmt dann,
auf welche Gegenstände es sich richtet? Warum, so also die Frage,
wollen wir, was wir wollen?
Insgesamt wird sich ein Bild ergeben, in dem das Überlegen keine
eigenen Ressourcen hat, das Wollen zu bestimmen. Die Ausrichtung
des Wollens kommt aus anderen Quellen. Das Überlegen ist in allem
auf ein vorgängiges, anderweitig bestimmtes Wollen bezogen und in
seinen Ergebnissen von diesem Wollen abhängig. Was also bestimmt
wirklich unser Wollen, und wie ist seine Vielfalt und Komplexität
zu erklären?
4. Wenn man diese Fragen angeht und dazu Grundzüge des mensch-
lichen Geistes thematisieren will, liegt es, statt die Menschen aus
der Natur herauszunehmen, nahe, das Thema in eine evolutionäre
Perspektive zu stellen. Die Menschen stehen in einer evolutionären
Kontinuität mit den Tieren oder, wenn man so will, mit den ande-
ren Tieren. Nicht nur die Menschen haben einen Geist, auch Tiere
haben mentale Fähigkeiten. Und natürlich ist der menschliche Geist
aus dem Geist unserer nicht-menschlichen Vorfahren entstanden. Es
gibt eine Geschichte des Geistes. Von daher scheint es so, als habe
man die Arbeitsweise des menschlichen Geistes erst wirklich ver-
standen, wenn man seine evolutionäre Geschichte und seine Genese
aus primitiveren Formen des Geistes in ihren einzelnen Entwick-
lungsschritten nachvollziehen kann. Dieses große Design nachzu-
zeichnen, ist wünschenswert, aber heute allenfalls in Ansätzen mög-
lich. Zumal es zwischen den gemeinsamen Vorfahren von Schim-
pansen und Menschen und dem Homo sapiens eine Entwicklung
gegeben hat, die trotz der Kontinuität zu einem völlig neuartigen
Wesen geführt hat, das sich radikal von seinen Vorfahren unterschei-
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Einleitung 15
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Teil I
Überlegen und Wollen
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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen
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20 Teil I: Überlegen und Wollen
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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 21
dig« ihre Lebensweise ist. Ihr Verhalten ist extrem zweckmäßig, sie
tun, geleitet von ihren Instinkten, genau das, was für sie gut und
notwendig ist. Es sieht so aus, als stehe dahinter eine Vernunft, die
die Instinkte auf die Lebenszwecke der Tiere abgestimmt hat. Kant
spricht tatsächlich von einer »fremden Vernunft«, die das Verhal-
ten der Tiere leite.1 Die Tiere haben keine eigene Vernunft, aber in
ihren Instinkten offenbart sich eine fremde Vernunft, die sie über das
Vehikel der Instinkte bestimmt. Tiere sind also, obwohl selbst ver-
nunftlos, dennoch Vernunftwesen, bestimmt durch eine allerdings
fremde, äußere Vernunft. Und sie können, ganz anders als die Men-
schen, die Spur der Vernunft niemals verlassen. Der Gegensatz von
vernunftbegabt und vernunftlos wird auf diese Weise umgedeutet
zum Gegensatz von eigener und fremder Vernunft. Wenn Kant von
einer fremden Vernunft spricht, liegt es nahe, an Gott zu denken,
der die Tiere so geschaffen hat, dass sie auch ohne eigene Vernunft
perfekt funktionieren. Kant nennt die Instinkte gelegentlich unum-
wunden »diese Stimme Gottes, der alle Thiere gehorchen.«2 Auch
hier haben wir also die Idee einer absichtsvollen Konstruktion auf
ein bestimmtes Ziel hin.
Wenn wir die theistische Prämisse beiseite lassen, fallen alle diese
Ideen weg. Natürlich kann man die Vorstellungen des Zwecks und
der Zielgerichtetheit auch nicht auf den evolutionären Prozess selbst
anwenden. Die Evolution ist ein blindes Geschehen, ohne Ziele und
ohne Zwecke.
Hinter den Lebewesen steht also keine äußere Vernunft und kein
äußeres Wollen. Und die Lebewesen, die in ihrem Verhalten von
Reiz-Reaktionsmechanismen bestimmt sind, verfolgen auch nicht
selbst Ziele. Diese Lebewesen wollen nichts. Sie wollen nicht über-
leben oder sich fortpflanzen. Sie tun es, weil sie auf Grund ihres
genetischen Programms auf bestimmte Reize reagieren. Dass ein
Frosch, wenn eine Fliege vorbeifliegt, automatisch seine Zunge
herausschnellen lässt, die Fliege fängt und dann frisst, dient seiner
Selbsterhaltung. Aber damit es so ist, muss der Frosch seine Selbst-
erhaltung nicht wollen. Ein Frosch hat dieses Ziel nicht. Er hat einen
Mechanismus, der – hinter seinem Rücken – seiner Selbsterhaltung
dient. Lebewesen dieser Art sind auf ein Wollen gar nicht angewie-
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22 Teil I: Überlegen und Wollen
sen. Die Selbsterhaltung ist Effekt, aber nicht Ziel oder Zweck ihres
Verhaltens.
Die Lebewesen, von denen jetzt die Rede ist, leben in »Dafür-
dass-Strukturen«. Der Frosch muss Fliegen fangen dafür, dass er
weiterlebt. Das eine ist eine notwendige Bedingung für das andere.
Der Frosch weiß davon nichts, er agiert in einer Struktur, von der
er nicht den leisesten Schimmer hat. Und nicht nur die einfachen
Lebewesen, sondern alle Lebewesen leben in Dafür-dass-Struktu-
ren dieser Art. Das Weiterleben und die Reproduktion ergeben sich
nirgendwo von selbst, alle Lebewesen müssen dafür etwas tun. Und
alle Lebewesen, die nicht zu den dafür notwendigen Handlungen
finden, gibt es logischerweise nicht mehr. So erstaunt es nicht, dass
wir überall diese Struktur finden. Warum schaffen die Ameisen ihre
toten Artgenossen weg? Das müssen sie tun dafür, dass ihr Bau nicht
durch die Verwesungsprodukte verunreinigt wird. Die Natur kennt
verschiedene Strategien, sicherzustellen, dass die Lebewesen das tun,
was sie tun müssen. Bei den einfachen Lebewesen, die wir jetzt be-
trachten, läuft die Strategie, wie gesehen, über starre, genetisch pro-
grammierte Reiz-Reaktionsmechanismen.
Es ist nicht überraschend, dass wir die für alles Leben grundle-
gende Dafür-dass-Struktur auch bei Artefakten finden. Die Auf-
gabe eines Thermostats ist es, die Zimmertemperatur bei schwan-
kenden Außentemperaturen konstant zu halten. Er ist deshalb so
gebaut, dass er genau das tut, was er tun muss dafür, dass dieser Ef-
fekt erreicht wird. Der Mechanismus ist in diesem Fall das Ergebnis
menschlicher Konstruktion. Für einen Ingenieur sind Dafür-dass-
Strukturen das tägliche Brot. Er will, dass eine Maschine etwas Be-
stimmtes leistet, und er überlegt, wie sie beschaffen sein muss dafür,
dass sie diese Leistung erbringt. Und natürlich gibt es am Ende nur
Maschinen, die genau das tun, was sie tun müssen dafür, dass es zu
der intendierten Leistung kommt. Diese Gemeinsamkeit von Lebe
wesen und Artefakten ist offenkundig Teil des intuitiven Hinter-
grunds, der die Vorstellung, Tiere seien Maschinen, trägt. Sie sind
so, also ob Ingenieure sie bauen würden. Nur dass es in ihrem Fall
keine Ingenieure gibt, sondern den vernunft- und willenlosen Gang
der natürlichen Selektion.
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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 23
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26 Teil I: Überlegen und Wollen
von dem angestrebten Effekt auf diese Handlung über. Das motiva-
tionale Element richtet sich primär auf die Ziele und erst sekundär
auf die notwendigen Handlungen. Die motivationale Energie läuft
also durch eine Schleife, deren Ausgang erst durch das Überlegen
von Situation zu Situation bestimmt wird.
Wie es kommt, dass das Wollen gerade auf die Inhalte geht, auf
die es gehen muss, wenn die Lebewesen lebensfähig sein sollen, lasse
ich an dieser Stelle noch beiseite. Eine sehr einfache Option für den
Ingenieur bestünde darin, das Wollen genetisch auf diese Inhalte
festzulegen. Die Lebewesen würden dann auf Grund eines geneti-
schen Programms bestimmte Dinge wollen. Und die Veränderung
zwischen den einfachen und den neu entworfenen Lebewesen läge
im Wesentlichen darin, die genetische Programmierung von den
Mitteln, den Handlungen, auf die Ziele zu verlagern und die mit
der Fähigkeit des Überlegens ausgestatteten Lebewesen die Mittel
selbst suchen zu lassen.4 Dieses Bild ist nicht falsch, aber es ist zu
einfach. Es gibt für den Ingenieur verschiedene Möglichkeiten, das
Wollen auf die richtigen Inhalte auszurichten. Wir werden das im
nächsten Kapitel sehen.
Wie immer die Fragen, die das Wollen betreffen, im Einzelnen zu
beantworten sein werden, wir können nach diesem Gedankenexpe-
riment festhalten, dass die entscheidende Innovation auf dem Weg
zu Lebewesen, die sich unter sehr verschiedenen Lebensbedingun-
gen behaupten können, die Entstehung eines Geistes ist, zu dessen
basalen Leistungen das Überlegen und das Wollen gehört. Das alte
Steuerungssystem kannte nur reaktive Handlungen, das neue kennt
überlegte und willentliche Handlungen.
Die Entstehung eines zur Deliberation und zum Wollen fähigen
Geistes ist natürlich nicht nur eine Idee des fiktiven Ingenieurs. Sie
ist Teil der realen Geschichte, sie gehört zur evolutionären Vergan-
genheit der Menschen und anderer entwickelter Lebewesen. Die
Gene haben in einem äußerst langsamen, viele Millionen Jahre dau-
ernden Anpassungsprozess einen Geist geschaffen, der das Han-
deln situationsgerecht steuert und es sofort an veränderte Umstände
anpassen kann. Das eine handlungssteuernde System hat ein ganz
anderes handlungssteuerndes System, die Kombination von Über-
legen und Wollen, hervorgebracht.
4 Vgl. hierzu E. T. Rolls: Emotion Explained (Oxford 2005) 25, 41 und auch
62.
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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 31
Lebewesens, das nicht überlegt, sondern auf einen Reiz reagiert, ha-
ben diese Qualität des Eigenen nicht. Gewiss, das Fliegen-Fangen
des Frosches ist etwas, was der Frosch tut, und in diesem Sinne
seine Handlung. Aber sie ist nicht eigen dadurch, dass der Frosch
sie durch eine eigene mentale Aktivität vorbereitet hat.
Dieser Unterschied ist für die Menschen und ihr Selbstverständ-
nis von großer Bedeutung. Wir sind nicht nur Wesen, die etwas
tun, wir sind – in dem erläuterten Sinne – die Autoren dessen, was
wir tun. Mit einem etwas anderen Akzent könnte man auch sagen:
Unsere Handlungen sind durch uns selbst bestimmt, durch unser
Überlegen. Der Ort der Handlungssteuerung liegt bei uns, in ei-
ner Tätigkeit, die wir selbst vollziehen, nicht in einem genetischen
Programm, das am eigenen Kopf vorbei, ohne jedes eigene Zutun,
bestimmt, was man tut.
Es ist vielleicht angebracht, noch eine – siebte – Bemerkung an-
zufügen. Wenn es richtig ist, dass Schimpansen und damit nicht-
menschliche Lebewesen überlegen können, bedeutet das, dass das
Überlegen-Können nicht das Sprechen-Können voraussetzt. Das
Gegenteil ist in der Philosophie des 20. Jahrhunderts oft behaup-
tet worden. Es ist allerdings ein Charakteristikum der Philosophie
dieser Zeit, die Bedeutung der Sprache massiv überschätzt zu ha-
ben. Viele mentale Fähigkeiten, die auch Tieren zuzusprechen wir
allen Grund haben, wegen ihres Verhaltens und wegen der Konti-
nuität in der neuronalen Ausstattung, wurden als sprachabhängig
beschrieben. Es liegt nahe, zu vermuten, dass sich auch die Vor-
stellung, Überlegen-Können setze Sprechen-Können voraus, dieser
Obsession verdankt.9 Im jetzigen Kontext lässt sich jedenfalls sagen,
dass das An-die-Bananen-herankommen-Wollen des Schimpansen
Sultan offenkundig keine Sprache voraussetzt. Und auch die imagi-
native Assoziation von Handlungen und ihren Konsequenzen, wie
sie für jeden Gebrauch von Werkzeugen und Hilfsmitteln nötig ist,
scheint etwas zu sein, zu dem Schimpansen in der Lage sind und
wofür folglich kein Sprechen-Können nötig ist. Auch die anderen
genannten Merkmale des Überlegens: Gedächtnis, ein begrenzter
Zukunftsbezug, Bewusstsein, Subjektivität und Eigenheit des Han-
delns setzen nicht die Fähigkeit zu sprechen voraus. Die Sprache
kommt, wie es scheint, erst ins Spiel, wenn das Wollen und Über
9 Vgl. zu diesen Fragen das wichtige Buch von T. Burge: Origins of Objec-
tivity (Oxford 2010).
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32 Teil I: Überlegen und Wollen
10 Wenn ich hier und im Folgenden von »Wunsch« (oder »Wünschen«) spre-
che, gebrauche ich das Wort nur als Ersatz für das im Deutschen fehlende
Substantiv zu »wollen«. Damit ist also keine Unterscheidung von wollen
und wünschen intendiert.
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§ 1 Vom genetischen Programm zum Überlegen und Wollen 33
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§ 2 Die Genese des Wollens
1. Mit dem Wollen ist etwas völlig Neues in die Welt gekommen:
eine Handlungssteuerung, die durch einen Ausgriff auf die Zukunft
geleitet wird. Alles Wollen geht auf etwas Zukünftiges. Auch im
Falle des Schimpansen Sultan, der die Bananen vor sich sieht, geht
das Wollen auf das zukünftige Erreichen und Fressen der Früchte.
Die Zukunft ist hier sehr klein, sie klebt gewissermaßen noch an
der Gegenwart. Die Menschen haben diese Bindung der Zukunft an
etwas Gegenwärtiges hinter sich gelassen. Sie können morgen etwas
essen wollen, was sie jetzt nicht vor Augen haben – Schimpansen
können das offenbar nicht –, sie können etwas in sechs Monaten tun
oder erreicht haben wollen, – oder in sechs Jahren. Mit der Hand-
lungssteuerung durch ein Wollen löst sich ein Lebewesen aus der
gegenwärtigen Situation, es gewinnt etwas Bedeutung, was jenseits
der gegenwärtigen Situation, eben in der Zukunft liegt. Das Wollen
zieht die Zukunft als handlungsrelevante Größe in die Gegenwart
hinein. Das ist ein Schritt mit immensen Folgen.
Ein Verhalten, das durch einen Stimulus ausgelöst wird, wird
durch etwas erklärt, was zeitlich vor dem Verhalten liegt. Das Ver-
halten wird »von hinten«, durch eine Ursache erklärt. Ein wollens-
geleitetes Handeln geschieht hingegen um eines Gewollten, um ei-
nes Zieles willen. Dieses Ziel liegt zeitlich nach dem Verhalten. Das
Verhalten wird jetzt »von vorne«, durch ein Ziel erklärt. Diese Kon-
trastierung, so richtig und eingängig sie ist, darf man freilich nicht
überstrapazieren. Natürlich ist das Wollen auch etwas »vor« dem
Handeln. Aber es ist, und darin liegt die Innovation, bezogen auf
etwas, was jenseits des Handelns in der Zukunft liegt.
Die außerordentliche Tragweite der Entstehung des Wollens zeigt
sich auch darin, dass mit ihm ein Motivator entsteht, der nicht nur
zum ersten Male Ziele und Zwecke in die Welt bringt, sondern auch
die Grundlage dafür ist, dass es Gründe, Werte, alle Formen des
Normativen, alle Formen des Gut- und Schlechtseins, alle Elemente
der artifiziellen und institutionellen Wirklichkeit gibt. Alle diese
Dinge sind in ihrer Ontologie wollensrelativ. Deshalb kann es sie in
einem Universum ohne Wollen nicht geben. Mit dem Wollen ent-
steht also die Existenzbedingung für eine Fülle neuer Dinge.
Angesichts der Bedeutung, die dem Aufkommen des Wollens zu-
kommt, ist es nützlich, sich noch einmal auf eine genealogische Spe-
kulation einzulassen und zu fragen: Wie ist das Wollen auf diesen
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§ 2 Die Genese des Wollens 35
Planeten gekommen? Wie und warum sind aus Lebewesen, die kein
Wollen kennen, Lebewesen entstanden, die etwas wollen? In allge-
meiner Form haben wir die Frage schon beantwortet. Ein Lebewe-
sen muss dafür, dass es weiterlebt und sich fortpflanzt, bestimmte
Dinge tun. Deshalb muss es so gebaut sein, dass es zu diesen Hand-
lungen, die für die Selbst- und Arterhaltung notwendig sind, fin-
det und auch motiviert ist, sie zu tun. Das Wollen ist eine Variante
des Motivators. Es erfüllt damit eine Funktion, die bei Lebewesen,
die durch Reiz-Reaktionsmechanismen gesteuert werden, der Reiz
erfüllt. Die motivationale Leistung des Wollens ist also funktional
äquivalent mit der Leistung anderer, primitiverer Motivatoren. Dies
ist gewissermaßen die »alte« Leistung, die es erbringt. Man muss hier
sehen, dass evolutionäre Innovationen grundsätzlich gefährlich sind.
Es steht immer die Überlebensfähigkeit der Individuen und der Art
auf dem Spiel. Wenn ein verhaltenssteuerndes Element ein anderes
ersetzt, kann das nur erfolgreich sein, wenn die Leistung, die das alte
Element erbrachte, genauso verlässlich auch nach der Veränderung
erbracht wird. Das Wollen muss also auch ein Motivator sein, der
die Lebewesen zu den »richtigen« Handlungen bewegt, zu denen,
die für die Selbst- und Arterhaltung notwendig sind. Hinzukom-
men muss dann eine »neue«, zusätzliche Leistung, das evolutionäre
Plus, das das Aufkommen des Wollens erklärt. Was ist diese neue
Leistung des Wollens? Wir haben es schon gesagt: Das Wollen rich-
tet sich nicht direkt auf bestimmte Handlungen, sondern auf Ziele,
und welche Handlungen zu diesen Zielen führen, kann das Lebewe-
sen situationssensitiv selbst herausfinden. Die motivationale Energie
wird dann vom Ziel an die jeweils gewählte Handlung weitergelei-
tet. Je weiter das Gewollte in der Zukunft liegt, umso mehr öffnet
sich der Raum für die Wahl der Mittel und damit für das Überlegen.
Und damit für ein situationsgerechtes Agieren in den verschiedens-
ten Umständen. Offensichtlich besteht die »neue« Leistung, die das
Wollen als Motivator erbringt, in einem enormen Zuwachs an Ver-
haltensflexibilität. Und dadurch verbessern sich für die Lebewesen,
die über diesen Motivator verfügen, die Chancen, zu überleben und
Nachwuchs zu haben.
2. Wie also können wir uns die Genese des Wollens vorstellen? Bei
Wesen, die durch Reiz-Reaktionsmechanismen funktionieren, kann
die starre Koppelung von Reiz und Reaktion, wie schon erwähnt,
durchaus flexibilisiert werden, zum Beispiel so, dass die Reaktion
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36 Teil I: Überlegen und Wollen
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§ 2 Die Genese des Wollens 37
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38 Teil I: Überlegen und Wollen
blindes Probieren relativ schnell auf Nahrung stoßen. Sollte sich die
Umwelt zum Schlechteren verändern und weniger Nahrung bieten,
hätten sie kaum Chancen, zu überleben. Ihr Design verlangt gera-
dezu nach einer Veränderung.
Zu einer solchen Veränderung – dem zweiten, nicht minder be-
deutenden Schritt – kommt es, wenn die Lebewesen nicht nur von
dem gegenwärtigen Zustand, in dem sie sind, abgestoßen werden,
sondern auch durch einen zukünftigen Zustand angezogen werden.
Wir können zwei Varianten unterscheiden. In der einen probieren
die Lebewesen, die in einem auf Grund von Nahrungsmangel un-
angenehmen Zustand sind, verschiedene Handlungen, und einige
davon, solche der Nahrungsaufnahme, haben den Effekt, dass das
unangenehme Gefühl verschwindet. Die Lebewesen vermögen das
zu registrieren und eine Assoziation zwischen der Aufnahme der
Nahrung und dem Verschwinden des unangenehmen Gefühls auf-
zubauen. Das wird sie dahin bringen, jedes Mal, wenn sie dieses Ge-
fühl haben, etwas zu fressen oder nach etwas Fressbarem zu suchen.
Das Sich-weg-Bewegen bekommt auf diese Weise eine Richtung, die
Lebewesen haben jetzt ein Ziel. Wobei das Fressen in diesem Fall
nicht selbst angenehm ist, es bewirkt nur, dass etwas Unangeneh-
mes verschwindet. Dadurch liegt allerdings schon ein Schimmer des
Angenehmen auf ihm.
In der anderen Variante macht der Ingenieur die Handlungen, die
nötig sind dafür, dass der unangenehme Zustand und der dahinter
liegende Mangelzustand verschwinden, selbst angenehm, zumindest
so lange, wie die negativen Zustände bestehen. Die nötigen Hand-
lungen werden attraktiv gemacht, und auf diese Weise werden die
Lebewesen dahin gebracht, diese Handlungen zu tun.
Mit diesen beiden Varianten entsteht eine Handlungssteuerung
»von vorne«: die Lebewesen haben ein Ziel, sie werden von einem
Zustand abgestoßen, aber sie werden auch angezogen von einem
Zustand, der eintritt, wenn sie bestimmte Dinge tun. Ihr Sich-weg-
Bewegen hat jetzt ein Wohin. Und deshalb spricht nun nichts mehr
dagegen, von einem Wollen zu sprechen. Diese Lebewesen wollen
etwas. Das Wollen geht auf das Angenehme, und die Lebewesen
handeln, wie sie handeln, weil sie etwas Angenehmes in der Zukunft
erreichen wollen. Hier also liegt der Anfang des Wollens.
Unangenehme Mangelzustände oder Schmerzempfindungen sind
mentale Zustände, aber sie haben keinen intentionalen Gehalt, sie
gehen nicht auf etwas. Etwas zu wollen, ist hingegen ein intentiona-
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§ 2 Die Genese des Wollens 39
ler Zustand, das Wollen geht auf etwas, es hat einen Gegenstand. Das
Wollen ist also ein zweiter und andersartiger mentaler Zustand ne-
ben dem Unangenehm- und Angenehmsein. Die Motivation erreicht
deshalb mit dem Wollen nicht nur die mentale Ebene, sie kommt mit
dem Wollen auf der intentionalen Ebene an. Mit dem Wollen ent-
steht etwas Neues: eine intentionale Handlungssteuerung.
Wenn die Lebewesen von einem zukünftigen angenehmen Zu-
stand angezogen werden, der nicht nur aus dem Kontrast, sondern
»richtig« angenehm ist, werden sie nicht durch einen Motivator, son-
dern durch zwei bewegt. Sie werden von einem gegenwärtigen un-
angenehmen Zustand abgestoßen und zudem von einem zukünfti-
gen angenehmen Zustand angezogen. Ist dieser zweite Motivator
aber erst einmal im Spiel, wird der erste, so könnte man vermuten,
überflüssig. Wenn, die nötige Nahrung aufzunehmen, selbst ange-
nehm ist, wofür bedarf es dann noch des mit dem Mangelzustand
gegebenen unangenehmen Gefühls? Das braucht man, so scheint
es, zur Handlungssteuerung nicht mehr. Das Angenehme, das das
Wollen anzieht und auf sich ausrichtet, scheint als Motivator auszu-
reichen. Tatsächlich führt das Zusammenkommen von Abstoßung
und Anziehung allerdings wohl nur selten zu einer Verdoppelung
der Motivation, es entsteht eher ein komplexes Zusammenspiel.
Außerdem sind keineswegs immer beide Motivatoren im Spiel. Bei
Schmerzen ist es nicht so, dass die Handlungen und Verhaltens-
weisen, die der Wiederherstellung der Gesundheit dienen, an sich
angenehm wären und die Lebewesen von sich aus dazu brächten,
sie zu tun. Man tut sie, weil sie, wie man gelernt hat, die unange-
nehmen Schmerzen beenden. Der entscheidende Motivator bleiben
ohne Zweifel die Schmerzen, und davon, dass sie überflüssig würden,
kann keine Rede sein.
Es ist also richtig, dass auch nach dem Aufkommen des Wollens
unangenehme Zustände wie Hunger, Durst und Schmerzen als Mo-
tivatoren erhalten bleiben und offenkundig nach wie vor eine wich-
tige Funktion in der motivationalen Energetik haben. Und dennoch:
Mit dem Aufkommen des Wollens eröffnet sich die Möglichkeit,
dass das Wollen, das Aussein auf etwas Angenehmes allein zum
Handeln motiviert. Es muss nicht die Abstoßung durch einen gegen-
wärtigen unangenehmen Zustand hinzukommen. In dieser Verselb-
ständigung des Wollens besteht der dritte Schritt. Mit ihm entstehen
völlig neue Möglichkeiten. Die Motivation kann sich jetzt ganz aus
der Gegenwart lösen, sie kann, unabhängig von gegenwärtigen Rei-
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40 Teil I: Überlegen und Wollen
3. Das Wollen geht, so hat sich gezeigt, auf das Angenehme und
Unangenehme. Es ist in seiner Ausrichtung gebunden, es ist auf be-
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§ 2 Die Genese des Wollens 41
2 Vgl. hierzu wiederum Rolls, Emotion Explained, 25, 37, 41, 61.
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42 Teil I: Überlegen und Wollen
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§ 2 Die Genese des Wollens 43
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44 Teil I: Überlegen und Wollen
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination
Das Wollen richtet sich, so haben wir gesehen, auf etwas Zukünfti-
ges. Ein Lebewesen, das sein Verhalten intentional durch ein Wol-
len steuert, zieht etwas Zukünftiges in die Gegenwart hinein und
macht es handlungsrelevant. Diese Öffnung zur Zukunft ist eine
bedeutende Innovation in der Geschichte des Lebens. Sie ist auch
deshalb so bedeutend, weil sie einen weiteren, äußerst folgenreichen
Schritt ermöglicht: die Entstehung eines im Prinzip unbegrenzten
Zukunftsbewusstseins. Ist die Tür zur Zukunft erst einmal geöffnet,
zunächst nicht mehr als einen kleinen Spalt weit, wird es möglich,
sie sehr viel weiter aufzumachen. Die Zukunft löst sich dann aus
der Bindung an etwas Gegenwärtiges und wird größer und grö-
ßer. Damit entsteht eine explosive Dynamik, aus der eine neue Art
des Lebens hervorgeht. Es verändert sich beinahe alles. Vor allem
entstehen komplexe Strukturen des Wollens und damit neue For-
men des Überlegens. Wer die weitere Geschichte des Wollens erzäh-
len will und aufhellen will, wie die Menschen ihr Verhalten steuern,
muss sich deshalb über ihren Zukunftsbezug, seine Voraussetzungen
und seine Konsequenzen klar werden. Das Entstehen des Zukunfts-
bewusstseins ist das Schlüsselereignis, aus dem sich die besondere
Form der menschlichen Existenz und einige der wichtigsten Diffe-
renzen, die uns von anderen Lebewesen unterscheiden, verstehen
lassen.
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46 Teil I: Überlegen und Wollen
der Gegenwart und ist deshalb sehr klein. Er hat die Gegenwart um
nicht mehr als ein winziges Stück Zukunft erweitert. Die Wissen-
schaftler sind sich einig, dass ein Schimpanse nicht den Wunsch ha-
ben kann, am folgenden Tag Bananen zu fressen. Und dass er nicht
heute etwas tun kann, um für seinen morgigen Hunger vorzusorgen.
Den Hunger von morgen kennt er nicht, er agiert immer nur, weil
er jetzt Hunger hat. Schimpansen leben von der Hand in den Mund
und sind, was die Zukunft angeht, überraschend kurzsichtig.1
Köhler hat am Ende seines Buches über die Intelligenz von Men-
schenaffen bereits die Frage nach dem Zukunfts- und auch dem Ver-
gangenheitsbewusstsein der Schimpansen gestellt. Zunächst notiert
er, aus seinen Experimenten könne man nicht ersehen, »wieweit nach
rückwärts und vorwärts die Zeit reicht«, in der die Schimpansen le-
ben; er fügt dann aber hinzu: »Reichliches Zusammensein mit den
Schimpansen« lasse ihn vermuten, dass ihr Zeitbewusstsein »recht
enge Grenzen« habe und dass hierin und im Fehlen der Sprache »der
gewaltige Unterschied begründet ist, der ja immer noch zwischen
Anthropoiden und selbst den allerprimitivsten Menschen besteht.«2
Will man ein volleres Bild vom Zukunftsbezug nicht-menschli-
cher Lebewesen, ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, dass ihr
Verhalten häufig so aussieht, als sei es von einem Zukunftsbewusst-
sein gesteuert, dies tatsächlich aber nicht so ist. Für viele Lebewe-
sen gibt es zukünftige Gefahren, für deren Abwehr es zu spät ist,
wenn sie erst einmal da sind. Um sie abzuwenden, müssen sie deshalb
schon im Vorhinein das Notwendige tun. Doch dafür bedarf es kei-
nes Zukunftsbewusstseins. Eichhörnchen zum Beispiel müssen im
Herbst beginnen, Nahrungsvorräte für den Winter anzulegen, und
sie tun es. Aber sie tun es nicht, weil sie den Nahrungsmangel im
Winter voraussehen, sondern weil sie auf einen Reiz reagieren, der
die Reaktion des Nahrungsammelns auslöst. Sobald die Tage kürzer
werden, wird ein Stoff, Melatonin, ausgeschüttet, und die Eichhörn-
chen beginnen mit ihrer Arbeit. Sie zeigen damit ein antizipatori-
sches Verhalten ohne Antizipation. Die Eichhörnchen wollen nichts,
und sie haben kein Zukunftsbewusstsein. Ihr Verhalten ist nicht das
Ergebnis eines vorausschauenden Plans. Sie handeln in einer Dafür-
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 47
dass-Struktur, wissen aber nichts davon. Dass sie genau das tun, was
sie tun müssen, ist durch ihr genetisches Programm so festgeschrie-
ben, ganz ohne ihr Zutun. Ähnlich ist es bei Zugvögeln, die in den
Süden fliegen, um über den Winter zu kommen, oder bei Vögeln, die
für das spätere Ablegen der Eier Nester bauen. Auch in diesen Fällen
lösen Reize das notwendige Verhalten aus. Die Vögel haben nicht
den Wunsch, der zukünftigen Kälte zu entkommen. Auch hier gibt
es also ein zukunftsorientiertes Handeln ohne Zukunftsbewusstsein.
Der Zukunftsbezug geht am Kopf dieser Lebewesen vorbei. Bei Le-
bewesen mit einem Zukunftsbewusstsein geht er hingegen durch den
Kopf hindurch. Wir stoßen also auf die typische Entwicklung: Steu-
erungsmechanismen, die zunächst am Kopf der Lebewesen vorbei-
laufen, wandern nach und nach in den Kopf der Lebewesen hinein,
so dass es ihnen selbst zufällt, ihr Verhalten im Blick auf die Zukunft
zu steuern. Der Zukunftsbezug wird Teil des mentalen Geschehens,
und die Dafür-dass-Struktur wird zur Form des Überlegens. Sultan
zielt mit seinem Wollen auf etwas Zukünftiges, und er überlegt, was
er tun muss dafür, dass er das Gewollte erreicht.
Tiere, auch schon sehr einfache Tiere, haben innere Mechanismen,
die bewirken, dass ihr Verhalten an äußere zeitliche Rhythmen, vor
allem an den Tagesrhythmus, angepasst ist. So starten viele Tiere
täglich genau zur selben Zeit zur Suche nach Nahrung. Eine innere
Uhr spiegelt in ihnen den Tag-Nacht-Rhythmus und gibt zu einer
bestimmten Zeit den entsprechenden Handlungsimpuls. Diese zeit-
liche Steuerung ist angeboren, einprogrammiert, sie läuft ebenfalls
am Kopf der Lebewesen vorbei. Mit ihr ist auch die Fähigkeit ver-
bunden, Phasen innerhalb eines Zeitzyklus zu registrieren und zu
lernen, wann ein innerhalb des Zyklus stets zur selben Zeit wieder-
kehrendes Ereignis geschieht. Gibt man Ratten, Bienen oder Fischen
immer zur selben Tageszeit zu fressen, kommen sie zu dieser Zeit
und warten auf die Fütterung. Wird die Nahrung nicht alle vierund-
zwanzig, sondern alle fünfzehn Stunden gegeben, sind Bienen, und
vermutlich auch die anderen Tiere, hingegen nicht in der Lage, sich
auf diesen Rhythmus einzustellen. Es hängt am 24-Stundenrhyth-
mus, auf den die innere Uhr eingestellt ist. Man könnte sagen, die
Tiere, die täglich zur selben Zeit dahin kommen, wo es etwas zu
fressen gibt, zeigten damit ein antizipierendes Verhalten. Aber auch
in diesem Fall handelt es sich um ein solches Verhalten ohne Anti-
zipation, ohne ein Zukunftsbewusstsein. Das Zusammenspiel von
innerer Uhr und habitueller Erinnerung, diese findet sich ebenfalls
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48 Teil I: Überlegen und Wollen
3 Vgl. hierzu Roberts, Are Animals Stuck in Time?; Th. R. Zentall: Animals
May Not Be Stuck in Time. Learning and Motivation 36 (2005) 208–225;
ders.: Mental Time Travel in Animals. Behavioral Processes 72 (2006) 173–
183; C. Hoerl: On Being Stuck in Time. Phenomenology and the Cognitive
Sciences 7 (2008) 485–500.
4 N. Bischof: Das Rätsel Ödipus (München 1985) 540. Siehe auch D. Bi-
schof-Köhler: Zur Phylogenese menschlicher Motivation, in: L. H. Eckens-
berger / E.-D. Lantermann (Hg.): Emotion und Reflexivität (Wien 1985)
3–47, 27 f. – Genauso auch R. G. Millikan: Varieties of Meaning (Cambridge,
Mass. 2004) 214; dt. Die Vielfalt der Bedeutung (Frankfurt 2008) 291: »Selbst
unsere wohlrespektierten und gründlich untersuchten Verwandten, die Affen
und Menschenaffen, scheinen ihre Motivationen gänzlich aus der Wahrneh-
mung der gegenwärtigen Situation zu beziehen … Kein nichtmenschliches
Tier, so wage ich zu vermuten, wird sich fragen, wo seine nächste Mahlzeit
herkommen wird, wenn es nicht bereits hungrig ist, ebenso, wie es sich nicht
fragen wird, wie es den nächsten Winter überstehen soll.«
5 Vgl. Th. Suddendorf / M. C. Corballis: Mental Time Travel and the Evo-
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 49
lution of the Human Mind. Genetic, Social, and General Psychology Mono
graphs 123 (1997) 133–167; dies.: The Evolution of Foresight: What is Mental
Time Travel, and Is It Unique to Humans? Behavioral and Brain Sciences
30 (2007) 299–351; dies.: Behavioural Evidence for Mental Time Travel in
Nonhuman Animals. Behavioural Brain Research 215 (2010) 292–298. Siehe
auch Th. Suddendorf: The Gap. The Science of What Separates Us from
Other Animals (New York 2013) 103–111; dt. Der Unterschied (Berlin 2014)
143–154.
6 Besondere Aufmerksamkeit haben in diesem Zusammenhang die Busch-
häher auf sich gezogen, eine Vogelart, die zur Familie der Rabenvögel ge-
hört. Vgl. hierzu A. Dickinson: Goal-directed Behavior and Future Planning
in Animals, in: R. Menzel / J. Fischer (eds.): Animal Thinking (Cambridge,
Mass. 2011) 79–92.
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50 Teil I: Überlegen und Wollen
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 51
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52 Teil I: Überlegen und Wollen
Raum für das Überlegen, wie ihn nur die Menschen kennen. Klar
ist auch, dass sich mit der Antizipation zukünftigen Wollens eine
weitergehende Loslösung der Verhaltenssteuerung von der gegen-
wärtigen Situation vollzieht. War mit dem Aufkommen des Wollens
bereits die Zukunft zu einem handlungsbestimmenden Element ge-
worden, das Wollen selbst aber etwas Gegenwärtiges, so ist es jetzt
möglich, dass auch das Wollen etwas Zukünftiges ist und nur noch
seine Antizipation etwas Gegenwärtiges. Der Faden, der das Ver-
halten mit der Gegenwart verbindet, wird damit deutlich dünner.
Wenn man genauer hinsieht, zeigt sich allerdings, dass die bloße
Antizipation eines zukünftigen Wollens nicht ausreicht, um zu einer
Handlung zu motivieren. Dazu ist immer auch ein gegenwärtiges
Wollen nötig. Wenn ich zu einer Tageswanderung aufbreche, kann
ich leicht antizipieren, dass ich in einigen Stunden etwas trinken
und essen will. Dieses zukünftige Wollen vorherzusehen, ist aber
nicht genug, um mich dazu zu bringen, Proviant mitzunehmen. Ich
muss jetzt schon wollen, etwas zu trinken und zu essen zu haben,
wenn sich das zukünftige Wollen einstellen wird. Was mich in der
Gegenwart zu einem Handeln bewegt, kann nur ein gegenwärtiges
Wollen sein. Da das gegenwärtige Wollen aber das zukünftige Wol-
len voraussetzt und sich von ihm ableitet, ist es durchaus richtig, zu
sagen, das zukünftige Wollen bestimme mein jetziges Handeln. Das
gegenwärtige Wollen ist ein sehr spezielles Wollen: es will, dass ein
anderes, ein zukünftiges Wollen befriedigt wird. Ein Wollen bezieht
sich also auf ein anderes Wollen. Und nur wenn ein Lebewesen ein
solches auf ein anderes Wollen gerichtetes Wollen auszubilden ver-
mag, ist es möglich, dass bei der Bestimmung seines Handelns schon
jetzt ein erst zukünftiges Wollen eine Rolle spielt.
Das Wollen wird hier, wie sich zeigt, zweistufig. Wer zu dieser
Form von Zweistufigkeit in der Lage ist, wird sich vermutlich auch
noch in ganz anderen Varianten mental auf seine eigenen Gedan-
ken, Meinungen, Wünsche und Empfindungen beziehen können.
Tatsächlich ist diese Zweistufigkeit: ein intentionaler Zustand hat
einen anderen mentalen Zustand zum Gegenstand, eine essentielle
Struktur des menschlichen Geistes.
Die Menschen sind, das machen diese Überlegungen bereits deut-
lich, ungleich mehr als alle anderen Lebewesen auf die Zukunft be-
zogen. Sie ziehen wie kein anderes Lebewesen die Zukunft in die
Gegenwart hinein und sind in dem, was sie tun, deshalb ungleich
mehr durch die Zukunft bestimmt.
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 53
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54 Teil I: Überlegen und Wollen
Der Stoff, aus dem die Inhalte der Vorstellungen kommen, ist
das Wissen, das die Lebewesen von der Welt haben und das sie im
Gedächtnis speichern. Man weiß, wie die Jahreszeiten aufeinander
folgen und imaginiert das baldige Gehen des Winters und das Kom-
men des Frühlings und des Sommers. Man erinnert sich an das Fluss-
hochwasser vor einiger Zeit und an eines länger zurück und imagi-
niert ein weiteres in der Zukunft. Man spiegelt auf diese Weise die
Vergangenheit in die Zukunft und führt der Imagination ihre Inhalte
zu. Ein ausgeprägtes Zukunftsbewusstsein verlangt eine ausgeprägte
Erinnerungsfähigkeit und ein gut gefülltes Gedächtnis. Die Imagi-
nation hängt nicht mehr an der gegenwärtigen Wahrnehmung, aber
doch, so könnte man sagen, an einer ehemals gegenwärtigen und
jetzt im Gedächtnis festgehaltenen Wahrnehmung. Das ist richtig
und kann nicht anders sein. Die menschliche Imaginationskraft er-
schöpft sich aber bei weitem nicht in einer solchen einfachen Spie-
gelung des Vergangenen in die Zukunft.
Nehmen wir ein simples Beispiel: Wenn man eine Party in Paris
erlebt hat, im Sommer, mit etwa 30 Gästen, mehr Frauen als Män-
nern, kann man sich ohne Mühe eine Party in Berlin vorstellen, im
Winter, mit 60 Gästen, mehr Männern als Frauen. Ebenso kann man
sich jemanden, den man noch nie mit Hut gesehen hat, mit Hut vor-
stellen. Und man kann sich, wenn man Frauen und Fische kennt,
ohne weiteres ein Mischwesen, oben Frau, unten Fisch, vorstellen.
Das heißt, die Menschen sind in der Lage, Dinge und Situationen,
die sie wahrgenommen haben, in verschiedene Elemente zu zerle-
gen und sie in neuer Weise und über die bisherige Wahrnehmung
hinausgehend zu rekombinieren. Sie können einzelne Elemente va-
riieren, subtrahieren, addieren, neu arrangieren. So wie jemand, der
eine Sprache beherrscht, die vielen Wörter in neuen Situationen und
angesichts neuer Aufgaben zu immer neuen Sätzen und Satzfolgen
zusammensetzen kann. Die Imagination transportiert also nicht nur
Bekanntes eins zu eins in die Zukunft, sie ist kreativ und produziert
neue Gegenstände und Geschehensabläufe. Damit kommen genuine
Elemente der Imagination ins Spiel, das heißt, Elemente, mit denen
die Vorstellung über die wahrgenommenen und konservierten In-
halte hinausgeht. Der Raum der Imagination gewinnt damit eine
ungeheure Variabilität, und der Phantasie und Kreativität scheinen
keine Grenzen gesetzt zu sein. Die Menschen können imaginieren,
was es noch nie gab und was es vielleicht auch nie geben wird. Die
Kraft und Reichweite der Imagination zeigt sich vielleicht beson-
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 55
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56 Teil I: Überlegen und Wollen
nur wenn es so ist, hat die Fähigkeit, imaginativ in die Zukunft aus-
zugreifen, eine praktische Funktion. Der, der jetzt imaginiert, und
der, für den etwas Zukünftiges angenehm oder unangenehm sein
wird, müssen dasselbe Wesen sein. Sonst hätte der gesamte men-
tale Aufwand, das Antizipieren, Imaginieren und Überlegen keinen
Sinn, und der Zukunftsbezug keine Bedeutung für die Handlungs-
steuerung. Sonst könnte man allenfalls theoretisch an der Zukunft
interessiert sein. Der Zukunftsbezug kann, so ergibt sich, nur eine
praktische Bedeutung haben, wenn das Lebewesen, das zu ihm fähig
ist, auch in der Lage ist, sich selbst als etwas über die Zeit Dauern-
des vorzustellen.
Dasselbe gilt entsprechend für die Vergangenheit. Sich an etwas
als unangenehm zu erinnern, impliziert die Vorstellung des eigenen
Ichs in der Vergangenheit. Es bedarf also eines, wie man sagt, auto-
biographischen Gedächtnisses und einer Vergangenheit, zu der das
eigene Ich gehört. Auch in diese Richtung muss man sich als etwas
über die Zeit Dauerndes vorstellen können. Einige Forscher nehmen
an, ein autobiographisches Erinnerungsvermögen wie auch der Be-
zug auf das eigene Ich in der Zukunft seien spezifisch menschliche
Leistungen. Allein die Menschen seien zu einer »mentalen Zeitreise«
fähig.9 Damit ist gemeint, dass nur Menschen sich selbst in der Zu-
kunft imaginieren können. Tiere könnten das nicht. Und sie können
sich auch nicht, so die Annahme, an etwas erinnern, was sie selbst
in der Vergangenheit getan oder erlebt haben. Man muss allerdings
sehen: Wenn Sultan die Bananen fressen will und das in der Zukunft
liegt und wenn er überlegt, auf welchem Wege er an die Bananen
kommt, muss das auch in irgendeiner Form mit einer Vorstellung
von sich selbst in der Zukunft verbunden sein. Man darf also keine
allzu einfache Kontrastierung vornehmen. Dennoch ist es so, dass
der Bezug der Menschen auf das eigene zukünftige – und auch ver-
gangene – Ich ganz andere Zeiträume übergreift und schon allein
deshalb von deutlich anderer Art ist.
9 Vgl. hierzu die in Anm. 5 genannten Arbeiten von Suddendorf und Cor-
ballis.
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 57
Wie weitgehend die Veränderungen sind, die die Entstehung des Zu-
kunftsbewusstseins entfacht, tritt besonders deutlich hervor, wenn
man sich bewusst macht, dass sie unweigerlich die Entstehung eines
Zeitbewusstseins nach sich zieht. Die Zukunft der Menschen ist ein
riesiger Flickenteppich, mit Elementen, die sicher so kommen wer-
den, mit Elementen, die möglich sind, die wahrscheinlich, die un-
wahrscheinlich sind, mit Dingen, die man will, nicht will, die man
geschehen lässt, die man verhindern, die man herbeiführen will. All
das imaginieren die Menschen nicht als ein chaotisches Durcheinan-
der, sondern in einer zeitlichen Ordnung. Alles, was sie sich in der
Zukunft vorstellen, hat einen mehr oder weniger fixierten zeitlichen
Ort. Alles steht in zeitlichen Relationen zu anderem. Und deshalb
müssen die Menschen eine Vorstellung von zeitlichen Verhältnissen
und von der Zeit haben. Dies setzt ein ganzes Bündel von mentalen
Leistungen voraus, die weit über das Wahrnehmen und das Hinein-
spiegeln von Vergangenem in die Zukunft hinausgehen.
Allein sich etwas in der Zukunft vorzustellen, noch ohne jede
weitere zeitliche Fixierung, impliziert bereits, in bestimmten zeit
lichen Relationen zu existieren. Denn das Zukünftige ist das in Zu-
kunft Gegenwärtige. Das vorgestellte zukünftige Flusshochwasser
ist – wenn man es nicht verhindern kann – irgendwann ein gegen-
wärtiges Flusshochwasser. Nur deshalb beschäftigt es einen. Bliebe
es in der Zukunft, bräuchte man sich nicht dafür zu interessieren. Es
würde niemals Teil des eigenen Lebens, es würde niemals die Welt
berühren, in der man lebt. Wer sich mental auf die Zukunft bezieht,
lebt also mit dem Phänomen, dass Zukünftiges zu Gegenwärtigem
wird, und natürlich auch damit, dass Gegenwärtiges zu Vergange-
nem wird. Man muss dies nicht reflektieren oder sich eigens vor
Augen halten, es gehört zu den elementaren Erfahrungen des Lebens
und ist Teil des Hintergrundes eines jeden Wesens, das in der Lage
ist, sich auf Zukünftiges zu beziehen. Die Menschen können gar
nicht anders, als die Welt und ihr eigenes Leben in diesen zeitlichen
Verhältnissen zu sehen.
Wenn das in der Zukunft vorgestellte Hochwasser eine Gefahr
bedeutet, reicht es nicht aus, zu wissen, dass es eines Tages gegen-
wärtig sein wird, es ist wichtig, eine Vorstellung davon zu haben,
wann das sein wird. Wann wird das Hochwasser kommen? Viel-
leicht fürchtet man um sein Korn und will deshalb wissen, ob das
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58 Teil I: Überlegen und Wollen
Wasser kommen wird, nachdem das Korn reif und geerntet ist oder
vorher. In welcher Relation steht also das Hochwasser zum Reifsein
des Getreides? Ist es später, früher oder gleichzeitig? Diese zeitli-
chen Relationen bilden – neben der Differenz von Zukunft, Gegen-
wart und Vergangenheit – eine zweite Struktur, durch die Ereignisse
zeitlich fixiert werden. Auch innerhalb der Zukunft können damit
die imaginierten Geschehnisse zeitlich geordnet werden. McTaggart
hat diese Struktur des später- und früher-als und des gleichzeitig-mit
die B-Reihe genannt und die andere Struktur: Zukunft, Vergangen-
heit und Gegenwart die A-Reihe.10
Die Vorstellung des später- oder früher-als entwickeln die Men-
schen, weil sie Veränderungen wahrnehmen. Erst blühen die Apfel-
bäume, dann tragen sie Früchte, erst geht die Sonne im Osten auf,
dann geht sie im Westen unter. Das später-als kann man nicht als
etwas Gegenwärtiges wahrnehmen, man muss das, was vorausge-
gangen ist, in der Erinnerung festhalten und weiter präsent haben,
und man muss die Kontinuität der Veränderung registrieren. Eine
Zeiterfahrung dieser Art geht also über eine plane Wahrnehmung
deutlich hinaus, sie ist bereits mit imaginativen Elementen durch-
setzt. Komplizierter wird es, wenn zwei Ereignisse in eine zeitliche
Relation gebracht werden sollen, die nicht Teil einer kontinuierli-
chen Veränderung, sondern voneinander unabhängig sind. So wie es
bei dem Flusshochwasser und dem Reifsein des Korns der Fall ist.
Hier nach später und früher zu ordnen, steht in deutlich größerer
Distanz zur Wahrnehmung.
Noch komplizierter wird es, wenn es nicht nur wichtig ist, zu
wissen, dass das eine Ereignis nach dem anderen kommen wird, son-
dern auch, um wie viel später es kommen wird. So wird man, wenn
es darum geht, welche Schutzmaßnahmen noch möglich sind, bevor
das Hochwasser kommt, wissen wollen, wie viel Zeit noch bleibt.
Wie groß ist der zeitliche Abstand? Mit dieser Frage kommt wiede-
rum etwas Neues hinein.
Wie also ist es möglich, einen zeitlichen Abstand zu bestimmen?
Welche mentalen Leistungen sind dafür erforderlich? Man macht
die Erfahrung, dass Apfelbäume erst blühen und dann Früchte tra-
gen. Und dass es bei Kirschbäumen genauso ist. Und man macht
weiter die Erfahrung, dass Apfel- und Kirschbäume etwa zur glei-
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 59
chen Zeit blühen, die Kirschen aber deutlich früher reif sind als die
Äpfel. Aus diesen Erfahrungen baut sich eine Vorstellung von einer
Distanz oder einer Dauer zwischen verschiedenen Ereignissen auf,
zwischen der Apfelblüte und dem Reifsein der Äpfel einerseits und
der Kirschblüte und dem Reifsein der Kirschen andererseits. Und
diese Distanzen kann man offenkundig vergleichen. Der Weg von
der Kirschblüte zu den Früchten ist kürzer als der von der Apfel-
blüte zu den Früchten. Die eine Veränderung dauert weniger lang
als die andere.
Um solche Distanzen vergleichen zu können, braucht man ir-
gendeine Vorstellung von dem, was man vergleicht. Sprechen wir,
ohne damit zuviel vorauszusetzen, von einer Dauer. Eine Dauer
kann man offensichtlich nicht wahrnehmen. Man kann nicht auf sie
zeigen, sie nicht sehen, sie nicht in die Hand nehmen. Sie ist, solange
sie noch mit einer Veränderung assoziiert ist, ein imaginierter Ge-
genstand. Je mehr sich die Vorstellung aber von dem anschaulichen
Hintergrund löst, umso mehr wird sie zu einem bloß gedachten
Gegenstand.11 Die Imagination geht dann mehr und mehr in das
Denken eines intelligiblen Gegenstandes über.
Die Frage nach dem Wann des Hochwassers erfordert bereits
eine solche Weiterentwicklung. Denn das Heute und das zukünftige
Hochwasser sind nicht durch eine Veränderung miteinander ver-
bunden, die vom einen zum anderen führt und die man Schritt für
Schritt verfolgen kann. Diese anschauliche Stütze fällt weg. In der
Vorstellung eines solchen Intervalls treten deshalb die imaginativen
Elemente stark zurück, an ihre Stelle treten intelligible Elemente.
Ein Intervall dieser Art ist mehr ein gedachter als ein imaginierter
Gegenstand.
Wie ist der zeitliche Abstand bis zum Hochwasser nun zu be-
stimmen? Wie man eine Raumstrecke nur durch eine andere Raum-
strecke messen kann, kann man eine zeitliche Dauer oder eine Zeit-
strecke auch nur durch eine andere zeitliche Dauer oder zeitliche
Strecke messen. Man braucht so etwas wie eine Standarddauer, eine
Zeiteinheit, mit der man verschiedene zeitliche Distanzen ausmessen
kann. Und dies kann nur eine Zeit sein, die eine bestimmte Verän-
derung braucht. Diese Veränderung muss sich, ist sie abgeschlos-
sen, gleich wiederholen, und wenn diese erneute Veränderung abge-
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60 Teil I: Überlegen und Wollen
schlossen ist, muss sie sich erneut wiederholen und so immer weiter.
Außerdem muss sie immer gleich verlaufen, damit die Zeit, die sie
braucht, immer dieselbe ist. Das hört sich kompliziert an, und ist es
vielleicht auch. Aber es ist die Voraussetzung dafür, eine Zeiteinheit
zu haben, mit der man andere Zeiteinheiten messen kann.
Erstaunlicherweise bietet die Natur gleich mehrfach Veränderun-
gen, die die beschriebenen Eigenschaften aufweisen. Die nächstlie-
gende ist das Aufgehen der Sonne, ihr Verschwinden und ihr erneu-
tes Aufgehen. Die Veränderung beginnt, wenn die Sonne aufgeht,
und sie endet damit, dass sie erneut aufgeht und die Veränderung
von neuem beginnt. Mit dieser Veränderung entsteht eine Zeiteinheit,
eben die Zeit, die diese Veränderung braucht. Und diese Zeiteinheit
ist für die Zeitmessung gut geeignet. Man kann jetzt leicht erkennen,
dass etwas dreimal diese Zeiteinheit gedauert hat, und man kann
imaginieren, dass in der Zukunft etwas dreimal diese Einheit dauern
wird oder etwas dreimal diese Einheit später als ein anderes Ereignis
geschehen wird. Die Natur bietet nicht nur den Tageszyklus, son-
dern auch den Jahres- und Monatszyklus, so dass die Menschen ein
System der Zeitmessung mit mehreren Zeitmaßen etablieren konn-
ten. Mit Hilfe künstlicher Instrumente wie Wasseruhren und ande-
ren Uhren konnten sie dieses System dann weiter verfeinern und auf
ihre praktischen Bedürfnisse zuschneiden.
Die bisherigen Überlegungen lassen erkennen, dass sich die Vor-
stellungen von zeitlichen Relationen, zeitlichen Distanzen und Zeit-
einheiten mehr und mehr von der Wahrnehmung lösen und es zu
einem Prozess kommt, in dem die an die Wahrnehmung zurückge-
bundene Imagination in das Denken intelligibler Gegenstände über-
geht. Das Zukunftsbewusstsein forciert eine Entwicklung, die zum
Umgang mit bloß gedachten Gegenständen führt. Das zeigt sich
besonders deutlich auch an dem einfachen Umstand, dass, wer die
zeitliche Distanz zwischen zwei Ereignissen bestimmen will, zu-
mindest in einer primitiven Form zählen können muss. Zwischen
zwei Ereignissen ist, so sei angenommen, die Sonne sechsmal auf-
gegangen. Eine solche zeitliche Bestimmung setzt die Fähigkeit des
Zählens voraus. Das Messen von Zeitabständen erfordert also eine
weitere sehr wichtige und, wie ich wenigstens kurz erläutern will,
sehr komplexe mentale Leistung.
Es gibt ohne Zweifel schon bei Tieren eine Sensibilität für die
Größe einer Menge. So können Schimpansen unterscheiden, ob da
eine, zwei oder drei Bananen liegen. Und sie können, wie andere
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 61
Tiere auch, die Größe von zwei Mengen, wenn sie nicht zu groß sind
und die Unterschiede zwischen ihnen nicht zu klein, abschätzen und
vergleichen.12 Diese Leistungen setzen allerdings noch nicht die Fä-
higkeit zu zählen voraus. Zu zählen, bedeutet, mit einer Reihe von
Zeichen zu operieren, von denen jedes für eine Anzahl von Dingen
steht, – so, dass (im elementarsten Fall) der Übergang von einem
Zeichen zum nächsten der Vergrößerung der Anzahl um ein Element
entspricht. Man kann sich vorstellen, dass jemand, der den zeitlichen
Abstand zwischen zwei Ereignissen mit Hilfe einer Wasseruhr be-
stimmen will, jedes Mal, wenn ein Wasserbehälter leergelaufen ist,
eine Kerbe in einen Stock schneidet. Zum Zeitpunkt des späteren
Ereignisses hat er sechs Kerben in seinem Stock. Und wenn er die
Tage bis zum nächsten Vollmond zählt, kann es sein, dass er auch
sechs Kerben in seinem Stock hat. Das Zeichen der sechs Kerben
steht also für eine bestimmte Anzahl von Dingen, gleichgültig, was
es für Dinge sind.
Für das Zählen braucht man offensichtlich Zeichen, – Zeichen,
die für etwas stehen oder die, anders gesagt, etwas repräsentieren.
Damit kommt abermals etwas Neues in die Welt: dass man einen
bestimmten Zug der Wirklichkeit nur mit Hilfe eines Systems von
Zeichen zu fassen bekommt. Und dass man ein solches Zeichensys-
tem aufbauen muss, um die Anzahl von etwas herausfinden zu kön-
nen. Dabei ist, mit Zeichen zu operieren, nach allem, was wir wissen,
etwas, was nur Menschen können. Die Zeichen sind wie die Kerben
im Holz etwas Wahrnehmbares, aber dass sie für etwas stehen, dass
sie etwas bedeuten, ist etwas nur Gedachtes und durch keine Wahr-
nehmung und durch keine aus der Wahrnehmung kommende Ima-
gination gestützt. Es ist etwas, was man für sich – oder zusammen
mit anderen – festgelegt hat und was nur durch diese Festlegung
existiert. Solche Bezüge des Stehens-für zu kreieren und mit ihnen
umzugehen, erfordert erheblich gesteigerte mentale Fähigkeiten. Es
wird damit erneut sichtbar, welcher weitreichenden mentalen Fä-
higkeiten es bedarf, um nicht mehr zu tun als zu bestimmen, wann,
in welchem zeitlichen Abstand ein zukünftiges Ereignis stattfinden
wird. Die Wann-Frage, die, will man sich ein Bild von der Zukunft
machen, so naheliegt und die so anspruchslos wirkt, setzt eine Reihe
12 Vgl. hierzu im Einzelnen S. Dehaene: The Number Sense. How the Mind
Creates Mathematics (Oxford 1997) ch. 1; dt. Der Zahlensinn (Basel 1999)
Kap. 1.
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 63
Ich komme jetzt zu der Frage zurück, was die Expansion des Zu-
kunftsbewusstseins für das Wollen, seine Gegenstände und seine
Struktur bedeutet. Auch hier gilt: es verändert sich beinahe alles. Es
entsteht eine Vielfalt und Komplexität des Wollens, die den Men-
schen eigen ist und die Art der Handlungssteuerung grundlegend
verändert. Ein Effekt liegt darin, dass das Überlegen eine überra-
gende Bedeutung gewinnt.
Es ist offenkundig, dass die Zukunft einen großen und immer
weiter vergrößerbaren Raum für mögliche Gegenstände des Wollens
schafft. Dieser Raum füllt sich mit einer großen Menge von Dingen,
die die Menschen als angenehm und unangenehm imaginieren und
folglich wollen bzw. nicht wollen. Jedes Wollen steht jetzt in einer
Konkurrenz mit anderen Wünschen. Das führt dazu, dass die Men-
schen ständig mit der Frage beschäftigt sind: Was zuerst? Was ist ei-
nem wichtiger? Welcher der vielen Wünsche soll handlungsleitend
werden? Es liegt auf der Hand, dass es weitgehender koordinativer
Leistungen bedarf, um damit umzugehen.
Da die Menge dessen, was die Menschen wollen, so groß ist,
kommt es dazu, dass sie mehr wollen, als sie realisieren können.
Die Zukunft produziert einen ständigen Überschuss an Wollen. Ein
Teil des Wollens wird sich niemals gegen anderes, wichtigeres Wol-
len durchsetzen und niemals in die Position des handlungsleiten-
den Wollens gelangen. Dieses Wollen bleibt folgenlos, es versandet
irgendwie. Man findet die Gegenstände, auf die es sich richtet, zwar
weiterhin attraktiv, deshalb ziehen sie das Wollen an, aber man weiß,
dass dieses Wollen nicht zum Zuge kommen wird.
Mit dem Zukunftsbewusstsein entsteht, wie gesehen, ein mehr
oder weniger elaboriertes Zeitbewusstsein. Und damit werden Ge-
genstände des Wollens möglich, die Schimpansen oder andere Tiere
nicht haben können, – nämlich zeit-indizierte Wollensinhalte. Men-
schen können etwas für morgen wollen, sie können etwas in einer
Woche tun wollen, sie können etwas in zwölf Monaten erledigt ha-
ben wollen. Sie können wollen, dass etwas dauerhaft so sein wird,
zum Beispiel dass sie dauerhaft gesund sein werden. Sie können
wollen, dass etwas regelmäßig geschieht, so können sie jeden Sonn-
tag einen Dauerlauf machen oder dreimal täglich ein Medikament
nehmen wollen. Und ich kann am 31.12. dieses Jahres zum 60. Ge-
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 65
zum Teil davon ab, welches Leben man will, welches Leben man ei-
nem anderen vorzieht. Das heißt, die Menschen sind mit verschiede-
nen Möglichkeiten des Lebens beschäftigt, und sie überlegen, mehr
oder weniger ausdrücklich, welches die Art des Lebens ist, die sie
am ehesten wollen. Ihr eigenes Leben wird so zum Gegenstand ih-
res Wollens. Ihr Wollen richtet sich auf das Wie des eigenen Lebens.
Wir stoßen damit auf die Tatsache, dass die Menschen nicht nur
weiterleben wollen, das wollen sie ohne Zweifel, aber sie wollen da-
rüber hinaus in bestimmter Weise leben, in einer Weise, die sie ande-
ren Weisen vorziehen. Menschen sind wie alle Lebewesen, um einen
Ausdruck Richard Dawkins’ aufzugreifen, »Überlebensmaschinen«
(»survival machines«)14, aber sie sind mehr. Sie streben etwas jenseits
dessen an: eine bestimmte Art des Lebens. Dadurch wachsen sie über
die Ausrichtung auf das biologische Ziel des Weiterlebens hinaus.
Die Erklärung für diese Besonderheit liegt eben darin, dass nur die
Menschen sich mental auf eine weiterreichende Zukunft beziehen
und verschiedene Varianten der Zukunft imaginieren können. Aris-
toteles hat diesen Punkt bereits zur Sprache gebracht. Die Menschen
sind, so sagt er, im Unterschied zu allen anderen Lebewesen, nicht
nur darauf aus, zu leben, sie wollen gut leben.15 Und in dem »gut«
liegt, dass sie verschiedene Arten zu leben vergleichen und eine den
anderen vorziehen können.
Mit dem Wunsch, ein bestimmtes Leben zu leben, ist ein anderer
Wunsch eng verbunden. Man kann für die Zukunft nicht nur ein
bestimmtes Leben wollen, man kann auch eine bestimmte Person,
ein Mensch bestimmter Art sein wollen. Auch was die eigene Per-
son angeht, kann man, sofern man Veränderungsmöglichkeiten sieht,
verschiedene Varianten vor Augen haben. Auch hier gibt es Mög-
lichkeiten. Und auch hier kann man überlegen, was man vorzieht.
Wie will man sein? Was für eine Person? Welche Eigenschaften und
Handlungsdispositionen sind die, die man am ehesten will? Durch
welche Gefühle und Wünsche möchte man in seinem Handeln be-
stimmt werden und durch welche gerade nicht? Das Wollen richtet
sich so auf das Wie der eigenen Person. Es gibt ein gewolltes Selbst.
Die Menschen haben also, weil sie eine Zukunft vor sich haben, die
Fähigkeit, sich selbst zu einem Gegenstand ihres Wollens zu machen.
14 R. Dawkins: The Selfish Gene (Oxford 1976, 2. ed. 1989) 19; dt. Das ego-
istische Gen (Reinbek 1996) 51.
15 Aristoteles, de partibus animalium II, 10. 656 a 4–8.
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66 Teil I: Überlegen und Wollen
Wenn zu dem, was man von der eigenen Person will, gehört, dass
bestimmte Wünsche das eigene Handeln leiten und dass man andere
Wünsche erst gar nicht hat oder sie wenigstens nicht handlungsbe-
stimmend werden, enthält diese Form des Selbstbezugs eine neue
Form der Zweistufigkeit des Wollens. Wir haben gesehen, dass es,
wenn ein erst zukünftiges Wollen schon jetzt berücksichtigt wer-
den soll, ein gegenwärtiges Wollen geben muss, das zum Inhalt hat,
dass das zukünftige Wollen, wenn es sich einstellt, befriedigt werden
kann. Das ist eine Form der Zweistufigkeit des Wollens. Jetzt tref-
fen wir auf eine andere Form. Man will, dass ein bestimmtes Wollen
für das eigene Handeln wichtig ist und dass man andere Wünsche
gar nicht hat oder dass sie zumindest nicht effektiv werden. So will
man zum Beispiel eine Person sein, die nicht durch den Wunsch
nach R ache bestimmt wird, für die der Wunsch, großzügig zu sein,
hingegen ein wichtiger Handlungsimpuls ist. Die Zweistufigkeit des
Wollens kennt offensichtlich verschiedene Spielarten.
Die beiden Wünsche, in bestimmter Weise zu leben und in be-
stimmter Weise zu sein, verändern das Leben der Wesen, die sie
haben, gravierend. Beide Wünsche bringen eine Welle von Innova-
tionen mit sich. Zunächst gelangen mit ihnen offenkundig äußerst
starke, oft maßgebliche Wünsche in das Gefüge des Wollens. Sich
klar zu werden, dass man etwas will, das nicht dazu passt, wie man
leben will, führt gewöhnlich dazu, das Wollen fallen zu lassen. Und
in Situationen, in denen man nicht weiß, ob einem dieses oder jenes
wichtiger ist, ob man dieses oder jenes tun soll, ist es naheliegend,
zu überlegen, was am besten dazu passt, wie man insgesamt leben
und sein will. Das gewollte Leben und das gewollte Selbst bilden so
den Maßstab, an dem sich Wollenskonflikte entscheiden lassen. Ja,
es scheint, als gewinne das Gefüge des Wollens auf diese Weise ins-
gesamt eine einheitsstiftende Ausrichtung auf diese zwei Ziele hin.
Das gewollte Leben und das gewollte Selbst sind nicht nur Maß-
stäbe für anderes Wollen, sondern auch dafür, wie das Leben faktisch
ist und was für eine Person man faktisch ist. Dadurch, dass wir diese
besonderen Wollensinhalte haben, sind wir Wesen, die zur Selbst-
evaluation und zur Evaluation des eigenen Lebens fähig sind. Wir
sind selbst-kritische Wesen und können uns selbst und unser Leben
gut und schlecht finden. Hat man die evaluative Perspektive auf das
eigene Leben erst einmal entwickelt, kann man auch die eigene Ver-
gangenheit in diesem Licht sehen und beurteilen. Das ganze Leben,
das zukünftige, das gegenwärtige und auch das vergangene, wird so
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 69
der Geschichte des Wollens. Ich werde diesen Punkt in Teil II, in
dem es um die inhaltliche Ausrichtung des menschlichen Wollens
gehen wird, genauer untersuchen.
Ich kann die zurückliegenden Überlegungen jetzt zusammenfas-
sen: Die Expansion des Zukunftsbewusstseins beim Menschen, ver-
bunden mit dem Entstehen einer leistungsstarken Imaginationskraft
und eines Zeitbewusstseins, verändern das Wollen, seine Struktur
und seine Ausrichtung massiv. Es entsteht eine Vielzahl von kon-
kurrierenden Wünschen, die Konkurrenz wird dadurch verschärft,
dass zukünftige Wünsche bereits antizipiert und einbezogen werden.
Damit entsteht die Notwendigkeit aufwendiger Koordination. Es
entstehen zudem völlig neuartige Gegenstände des Wollens, darun-
ter solche, die eine Selbstevaluation und Selbstkritik möglich ma-
chen. Es entstehen verschiedene Formen zweistufigen Wollens. Und
es werden Ziele möglich, auf die die Menschen nicht aus sind, weil
die Natur sie so ausgestattet hat, sondern weil sie imaginativ kreativ
sind. All dies sind entscheidende Ereignisse in der Geschichte des
Wollens. Und es ist keineswegs so, dass die Veränderung allein darin
besteht, dass zukünftiges Wollen antizipiert und mitberücksichtigt
wird. Dies ist nur ein Element innerhalb einer wesentlich breiteren
und weiter reichenden Neuformierung. Mit der Darlegung, wie sie
möglich wurde, durch die Entstehung einer im Prinzip unbegrenz-
ten Zukunft, ist jetzt zumindest im Umriss auch die zweite Hälfte
der Geschichte des Wollens erzählt.
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§ 3 Wollen, Zukunft, Imagination 71
Gedanke, mit der Zukunft beschäftigen, wie weit, wie oft und mit
welcher Intensität, liegt nicht einfach fest. Es gibt ein Mehr oder
Weniger und ein Zuviel und ein Zuwenig. Kant steht vor allem das
Zuviel vor Augen. Man kann die Imagination allzu sehr laufen las-
sen. Man kann »künftige Plagen in den gegenwärtigen Genuss mi-
schen« und sich das Leben auf diese Weise »sauer machen«.18 Man
kann immer schon in der Zukunft sein und darüber die Gegenwart
verlieren, die dann nur noch ein lästiger Übergang zur Zukunft ist.19
Der Hypochonder ist für Kant eine Figur, die sich zu sehr mit der
Zukunft beschäftigt und sich verrückt macht. »Es ist also nötig«,
so die Folgerung, »dass man das Vermögen der Seele, ins Künf-
tige herauszusehen, … moderiere und dirigiere.«20 Ansonsten seien
Schwächung der Nerven, Krankheiten und Laster die Folgen.21 Kant
nahm an, es sei Aufgabe des Verstandes, die Imagination zu zügeln.
Lassen wir offen, was das genau heißen soll und wie das vor sich
geht. Klar scheint zu sein, dass geschwächte Nerven, Krankheiten
und Laster Dinge sind, die man nicht will. Man muss also das rechte
Maß des Zukunftsbezugs im Blick auf das finden, was man will und
nicht will, und das Zuviel und das Zuwenig meiden, weil das eine
wie das andere den eigenen Zielen abträglich wäre. Auch an dieser
Stelle bedarf es also einer schwierigen Koordination, bei der das Wie
der Beschäftigung mit der Zukunft jetzt selbst zum Gegenstand des
Überlegens wird. Auch hier fällt es den Menschen zu, selbst, durch
eigenes Überlegen, den richtigen Weg zu finden. Wie sie in diesem
Punkt operieren, hat nicht die Natur für sie, an ihrem Kopf vorbei,
festgelegt.
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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen
Die Menschen, so haben wir gesehen, stoßen die Tür zur Zukunft
auf, sie stoßen sie sehr weit auf. Damit entsteht eine Dynamik, die
fast alles verändert. Es entsteht ein Lebewesen, das sich aus der Bin-
dung an das Hier und Jetzt zu lösen vermag, das sich mental auf
Dinge bezieht, die außerhalb der momentanen Wahrnehmungssitu-
ation liegen, und dessen Verhalten durch und durch auf die Zukunft
gerichtet ist. Bei den Tieren läuft der Zukunftsbezug hingegen zum
größten Teil an ihrem Kopf vorbei. Und wo sie sich doch mental
auf die Zukunft beziehen, ist sie, so scheint es, sehr klein und nicht
mehr als eine geringfügige Erweiterung der Gegenwart.
Wenn diese Differenz zwischen den Menschen und den anderen
Lebewesen von so großer Bedeutung ist, drängt sich die Frage auf,
ob sie etwas mit der anderen Differenz zu tun hat, die einem viel-
leicht als erstes einfällt, wenn es um die Unterschiede von Menschen
und Tieren geht, die Differenz, dass Menschen sprechen können
und Tiere nicht. Schon Köhler hatte, wie wir sahen, vermutet, »der
gewaltige Unterschied« zwischen Menschenaffen und Menschen
gründe im Fehlen eines ausgedehnten Zukunftsbewusstseins und
im Fehlen der Sprache auf Seiten der Menschenaffen.1 Gibt es also
einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Elementen? Ist, Spra-
che zu haben, eine Voraussetzung für die Entwicklung des Zukunfts-
bewusstseins und des damit verbundenen Zeitbewusstseins? Musste
der Ingenieur, der den Auftrag hatte, ein Lebewesen zu schaffen, das
auf die Zukunft gerichtet ist und sein zukunftsbezogenes Verhalten
mental steuert, dieses Lebewesen mit der Fähigkeit zur Sprache aus-
statten? Dieser Frage werde ich in diesem Kapitel nachgehen.
In der Frage steckt eine auf den ersten Blick überraschende Prä-
misse. Nämlich die Idee, dass die Sprache nicht nur eine kommuni-
kative Funktion hat, sondern möglicherweise auch ein Vehikel für
bestimmte geistige Leistungen ist, die es ohne Sprache nicht geben
könnte. Tatsächlich besteht in der heutigen Philosophie ein breiter
Konsens darüber, dass die Sprache auch diese zweite Funktion hat,
sie macht bestimmte mentale Operationen erst möglich. Fraglich
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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 73
ist dann, welches die nur durch Sprache möglichen mentalen Leis-
tungen sind. Wie schon erwähnt, haben vor allem in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgebliche Philosophen in dieser Sa-
che sehr weitgehende Positionen vertreten. Sprache sei, so wurde
gesagt, eine Voraussetzung dafür, zu denken, dafür, zu überlegen,
ja sogar dafür, Wünsche und Meinungen zu haben. Das impliziert
natürlich, dass Tiere nicht denken, nicht überlegen und keine Wün-
sche und Meinungen haben können. In diesen Auffassungen wird
die Bedeutung der Sprache jedoch weit überschätzt. Es scheint mir
offensichtlich zu sein, dass ein Schimpanse wie Sultan Bewusstsein
hat, ihm sind Dinge angenehm und unangenehm, und es ist nahe-
liegend, anzunehmen, dass er Wünsche hat, er will an die Bananen
heran, dass er Meinungen hat, Meinungen über das, was um ihn
herum ist, und auch dass er die Fähigkeit hat, zumindest einfache
instrumentelle Überlegungen anzustellen. Wenn er auf dem Tisch
sitzt und damit beschäftigt ist, wie er an die Bananen kommt, dann
überlegt er, auf welchem Weg er sein Ziel erreichen kann. All dies
geht ohne Sprache. Was Sultan nicht hat, ist ein nennenswertes Zu-
kunftsbewusstsein, und was er nicht hat, ist eine Sprache, er kann
nicht sprechen. Und deshalb stellt sich die Frage, ob die Sprache eine
Vehikel-Funktion speziell für das Zukunftsbewusstsein hat und ob
die Entstehung dieser beiden Fähigkeiten Dependenzen oder Inter-
dependenzen aufweist.
Ein Zusammenhang von Zukunftsbewusstsein und Sprache ist oft
behauptet worden. So sagt zum Beispiel Searle, es bedürfe sprachli-
cher Mittel, um »zeitliche Beziehungen zu repräsentieren« und um
»die Zukunft und ihre Beziehung zur Gegenwart und zur Vergan-
genheit zu repräsentieren«.2 Und Sprache sei nötig, um »die Zeit
zu ordnen«.3 Dennett schreibt, dass unsere Spezies nach der Erfin-
dung der Sprache »einen Weg nach oben« antrat, »auf dem sie alle
anderen biologischen Arten in ihrer Fähigkeit zum Vorausschauen
und Nachdenken weit hinter sich ließ.«4 Sprechen zu können, so
also die These, ist eine oder die Bedingung für die Expansion des
Zukunftsbezugs. Ähnlich allgemein spricht Tugendhat von »Struk-
turen des menschlichen Verstehens, die mit der Sprache eng zusam-
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74 Teil I: Überlegen und Wollen
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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 75
of Thinking (Oxford 2003) 141 hingegen vermutet, die Sprache sei sehr viel
früher: vor 200.000 bis 300.000 Jahren entstanden.
8 Th. Hobbes: Leviathan, ed. R. Tuck (Cambridge 1996) ch. 4, p. 24.
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76 Teil I: Überlegen und Wollen
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steuert. Ein Tier, das einen Alarmruf ausstößt, hat folglich nicht die
Intention, die anderen Tiere zu alarmieren. Es ruft einfach, ohne
Intention.11 Der Ruf hat einen bestimmten Effekt, aber er wurde
nicht um dieses Effekts willen ausgestoßen. Das Tier handelt in ei-
ner Dafür-dass-Struktur, weiß davon aber nichts. Die Reaktionen
der Meerkatzen auf die Alarmrufe werden offenbar nicht nur durch
angeborene, sondern auch durch erlernte Mechanismen bestimmt.
Junge Tiere reagieren nicht immer richtig auf die unterschiedlichen
Signale, oder sie schauen, bevor sie reagieren, auf ältere Tiere und
folgen ihnen in ihrem Verhalten.
(ii) Dass das Verhalten, vor allem das der Signalgeber, weitgehend
genetisch festgeschrieben ist, bedeutet, dass wir es mit einer Kom-
munikation ohne Bedeutungen zu tun haben. Die Meerkatze, die
den Alarmruf ausstößt, hat nicht die Vorstellung: der Ruf bedeu-
tet, dass ein Adler in der Luft ist. Vielmehr sieht sie den Adler und
stößt automatisch diesen Laut aus. Diese Kommunikation funktio
niert ohne Bedeutungen. Genauso wie das chemische Kommuni-
kationssystem der Ameisen ohne Bedeutungen funktioniert. Wenn
Grüne Meerkatzen und zum Beispiel auch Paviane auf Laute ihrer
Artgenossen nicht von Geburt an reagieren und erst lernen müssen,
was die verschiedenen Rufe signalisieren12, lernen sie offenbar, ei-
nen Laut mit einer bestimmten Situation zu assoziieren, so wie der
Pawlow’sche Hund lernte, den Klang einer Glocke mit der Bereit-
stellung von Futter zu assoziieren. Dieses Assoziieren ist noch weit
entfernt von der Zuweisung einer Bedeutung, aber möglicherweise
ein Schritt in diese Richtung.
(iii) Aus dem Gesagten folgt, dass die Kommunikation der Tiere
keine konventionellen Elemente enthält. Die Affen legen nicht fest,
mit welchem Laut sie auf eine Situation reagieren, es ist – genetisch –
festgelegt. Deshalb reagieren auch alle Grünen Meerkatzen, sieht
man von geringfügigen alters- und geschlechtsbedingten Schwan-
kungen ab, mit genau demselben Laut auf einen Adler in der Luft.
Der Kommunikation der Tiere fehlt damit jedes Element von Er-
findung.
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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 79
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80 Teil I: Überlegen und Wollen
eine Funktion, die er als solcher nicht hat. In beiden Fällen weise
ich, das ist das Wichtige, den Dingen aber eine Funktion auf Grund
ihrer physikalischen Eigenschaften zu. Zwischen den Eigenschaften,
die der Ast hat, und der Funktion, in der ich ihn nutze, besteht ein
Zusammenhang. Ich kann ihn nur in dieser Weise benutzen, weil er
diese Eigenschaften hat. Genauso kann ich den Stein nur als Brief-
beschwerer benutzen, weil er schwer ist. Anders ist es bei Lauten.
Ihnen wird die Funktion, eine bestimmte Bedeutung zu haben, nicht
kraft ihrer physikalischen Eigenschaften zugewiesen, sondern allein
durch eine Konvention. Zwischen ihren physikalischen Eigenschaf-
ten und ihrer Funktion besteht kein Zusammenhang.
Lebewesen können also nur dann eine wirkliche Sprache haben,
wenn sie mental dazu in der Lage sind, allein konventionell eine
Funktion zuzuweisen. Und es scheint so zu sein, dass nur Menschen
diese Fähigkeit besitzen. Im Werkzeuggebrauch, zu dem ohnehin
nur sehr wenige Tiere in der Lage sind, zeigt sich diese Fähigkeit
nicht. Denn Steine, Stöcke und andere Dinge werden auf Grund
ihrer materialen Eigenschaften als Werkzeuge gebraucht.
(iv) Natürlich ist die menschliche Sprache nicht nur gegenwarts-
bezogen. Sie besitzt Instrumente, um sich auf Dinge zu beziehen, die
nicht in der Wahrnehmung präsent sind. Sie vermag über Zukünfti-
ges, Vergangenes, Mögliches zu sprechen, genauso wie über zeitli-
che Relationen, Zeitpunkte, Zeiteinheiten, die Dauer von etwas, etc.
(v) Die menschliche Sprache kennt sprachliche Einheiten, die in
sich strukturiert sind, die in sich zwei oder mehrere Komponenten
enthalten und die aus diesen Komponenten gebildet werden. Das
macht es möglich, statt einfach Schlangenalarm zu geben, etwas über
eine Schlange mitzuteilen, zum Beispiel dass sie groß ist oder dass sie
verletzt ist. Die Elemente, die so kombiniert werden, können nicht
nur auf diese eine Weise, sondern auf vielfache andere Weise kombi-
niert werden. Man kann nicht nur über eine Schlange, sondern auch
über viele andere Dinge sagen, dass sie groß sind. Und über eine
Schlange kann man nicht nur sagen, dass sie groß ist, sondern noch
viele andere Dinge. Die menschliche Sprache arbeitet mit Elementen,
aus denen immer neue Kombinationen gebildet werden können, so
dass man die verschiedensten Dinge zur Sprache bringen kann. Man
kann dies die kombinatorische Struktur der Sprache nennen. Dabei
kann es einfache Formen der Kombinatorik geben, in denen man die
Elemente praktisch nur aneinanderreiht, dann aber, im Zuge einer
einsetzenden Dynamik, auch elaborierte Formen, in denen den ver-
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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 83
ersetze es durch ein Element, das ich woandersher kenne. Und wenn
ich über die Tonne sage, dass sie grau ist, setzt das ebenfalls voraus,
dass ich das Element des Grauseins aus der Einheit des Gegenstan-
des herausziehe. Nur so kann ich dem Gegenstand diese Eigenschaft
zusprechen. Es gibt also eine Isomorphie der imaginativen und der
sprachlichen Kombinatorik, und mehr als das: die imaginative Kom-
binatorik ist eine Voraussetzung für die sprachliche Kombinatorik.
Die Sprache ist, so zeigt sich, aufs engste mit der Imagination
verbunden. Dabei ist die Imagination die Bedingung für die Spra-
che und nicht umgekehrt. Es kann allenfalls sein, dass ab einem be-
stimmten Punkt die Sprache mit ihren unbegrenzten kombinatori-
schen Möglichkeiten die Imagination beflügelt und zu ungeahnten
Abenteuern inspiriert. Diese Überlegungen bestätigen noch einmal,
wie ungeheuer wichtig der Schritt zu einer von der Gegenwart ab-
gelösten Imagination ist. Ohne sie kein Zukunftsbewusstsein, und
ohne sie auch keine (menschliche) Sprache.
Die Imagination speist sich aus der Wahrnehmung. Trotz ihres
kreativen Potentials kommen alle Elemente, die sie kombiniert, aus
der Wahrnehmung. Das Zukunftsbewusstsein braucht aber auch
die Fähigkeit, mit bloß gedachten Gegenständen zu operieren. Bei
diesen Gegenständen gibt es keinen perzeptuellen Gehalt und des-
halb auch nicht die Möglichkeit, sie zu imaginieren. Wie aber kann
man solche bloß intelligiblen Gegenstände auf die Bühne des Geistes
bringen? Wie kann man derartige Gegenstände mental präsent ha-
ben? Eine Hypothese besagt, dass man dazu ein Hilfsmittel braucht,
einen wahrnehmbaren Stellvertreter, und dass dieses Vehikel etwas
Sprachliches ist, ein Wort oder etwas Wort-Ähnliches. So dass da,
wo die Imagination in das Operieren mit bloß gedachten Gegen-
ständen übergeht, die Sprache als ein notwendiges Hilfsmittel ins
Spiel kommt. Damit ist eine erste konkrete Hypothese über den
Zusammenhang von Zukunftsbewusstsein und Sprache formuliert.
Eine zweite Hypothese stützt sich auf folgende Überlegung. Die
Öffnung zur Zukunft führt, wie gezeigt, sehr schnell zu der Frage:
Wann? Wann wird etwas geschehen? Und wenn es nicht ausreicht,
diese Frage mit einem einfachen später- oder früher-als zu beantwor-
ten, es vielmehr nötig ist, zu wissen, um wie viel früher oder später
etwas geschieht, muss man, um sie beantworten zu können, zählen
können. Zählen zu können, setzt die Fähigkeit zur Symbolisierung
voraus. Man muss mit Zeichen operieren können, von denen jedes
für eine Anzahl von Dingen steht. Das heißt, um zählen zu können,
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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 87
plizit zu bestimmen, worauf sie sich beziehen. Platon hat diese Er-
fahrung in seinen Dialogen immer wieder zur Darstellung gebracht.
Sokrates’ Gesprächspartner können ohne Mühe mit den Wörtern
»besonnen« und »gerecht« umgehen, aber wenn er sie fragt, was das
ist: Besonnensein oder Gerechtsein, geraten sie ins Schlingern. Die
Wörter transportieren einen Inhalt, dessen man sich implizit bewusst
ist, den man aber nicht nur nicht bei jedem Wortgebrauch expliziert,
sondern den man gewöhnlich gar nicht ohne weiteres zu explizieren
vermag. Dies zeigt, dass Wörter eine vereinfachte, nicht-explizite
Form der Repräsentation ermöglichen. Der Abkürzungseffekt, der
damit entsteht, entlastet in erheblichem Maße die Komplexität des
geistigen Geschehens. Man muss sich klarmachen, dass es nicht da-
mit getan ist, einen intelligiblen Gegenstand zu denken, man muss
etwas über ihn denken, man muss ihn mit anderen Gegenständen
vergleichen, man muss seine Größe bestimmen, man muss, kurz ge-
sagt, mit ihm operieren. All das wird erleichtert – oder erst möglich –,
wenn man ein Label hat, durch das man ihn repräsentieren kann.
Wenn diese Überlegungen zutreffen, hat die Sprache eine mehrfa-
che Funktion für den Umgang mit intelligiblen Gegenständen, und
damit auch für das Zukunftsbewusstsein, soweit dieses den Umgang
mit nur gedachten Gegenständen voraussetzt. Die Sprache hat, so
habe ich gesagt, nicht die Funktion, die mentale Präsenz intelligibler
Gegenstände überhaupt erst zu ermöglichen, aber sie erleichtert –
oder macht es erst möglich –, mit diesen Gegenständen zu operieren.
Die Sprache gibt dem Denken in diesem Feld erst klar konturierte
und stabile Gegenstände, und sie schafft durch eine vereinfachte
Form der Repräsentation den Raum, in dem es möglich ist, etwas
über diese Gegenstände zu denken und mit ihnen mental zu arbeiten.
Ob diese Leistungen den Umgang mit Gegenständen wie Zeitinter-
vallen, Zeitpunkten, Zeitlängen nur erleichtern oder erst möglich
machen, muss offen bleiben. Die angeführten Überlegungen legen
aber, so meine ich, die Annahme nahe, dass man im Umgang mit
intelligiblen Gegenständen ohne Sprache nicht weit kommen kann.
Und dass ein Zukunftsbewusstsein ohne Sprache deshalb nur von
geringer Stabilität und Leistungskraft sein kann.
Die Untersuchung der zweiten Hypothese wird diesen Befund
bestätigen und ergänzen. Sie betrifft die Verbindung von Zukunfts-
bewusstsein, Zählen und Sprache. Wie das Zählen-Können mit der
Sprache zusammenhängt, kann vielleicht folgendes Beispiel etwas
genauer demonstrieren. Angenommen, ein Bauer legt für jedes Schaf,
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92 Teil I: Überlegen und Wollen
Spiel, die offenbar auch für Suddendorf und Corballis von Bedeu-
tung ist: Wenn man etwas sprachlich symbolisieren will, muss man
das, für das das Symbol stehen soll, vorab, unabhängig von dem
Symbol, präsent haben. Die Relation des Stehens-für ist anders
gar nicht möglich. Dies gilt zweifellos auch für den speziellen Fall
eines Symbols für das eigene Selbst. »Ein Kind«, so schreibt Tu-
gendhat, »hat die Verwendung von ›ich‹ gelernt, wenn es begriffen
hat, dass jeder Sprecher, wenn er ›ich‹ sagt, auf sich selbst Bezug
nimmt, …«20 In diesem Satz ist das Entscheidende (auf das Tugend-
hat selbst gar nicht zielt) bereits formuliert: Man muss lernen, dass
man mit »ich« von sich selbst spricht. Dazu muss man aber bereits
eine Vorstellung von sich selbst haben. Dieses Präsenthaben von
sich selbst geht der Symbolisierung durch ein Wort voraus. Es zeigt
sich damit also, dass Ich-Gedanken, oder für-mich-Gedanken, der
Verwendung von »ich« und »Ich«-Sätzen vorausgehen und nicht
etwa umgekehrt.
Wir kommen damit wieder zu der Conclusio, dass die Sprache
den Selbstbezug, auch den Bezug auf ein zukünftiges Ich nicht erst
ermöglicht. Sie kann ihn allenfalls erleichtern und verändern. In wel-
cher Form sie das tut, ist erneut kaum zu beantworten. Sicherlich
macht sie es leichter – vielleicht auch erst möglich, das, was implizit
präsent ist, explizit auf die mentale Bühne zu bringen. Durch seine
sprachliche Repräsentation wird es sicherlich auch leichter, etwas
über das zukünftige Ich, seine Beschaffenheit und seine Zustände
zu denken.
Man muss das Gesagte nun noch um einen wesentlichen Punkt
ergänzen. Wir hatten gesehen, dass Tiere einschließlich Schimpan-
sen und anderen Menschenaffen wahrscheinlich nicht in der Lage
sind, ein zukünftiges Wollen zu antizipieren und vorab in ihrem
Verhalten zu berücksichtigen. Das könnte seinen Grund darin haben,
dass sie grundsätzlich nicht in der Lage sind, mentale Zustände zu
repräsentieren, weder zukünftige noch gegenwärtige. Sultan könnte,
falls es so sein sollte, zwar imaginieren, dass er bestimmte Dinge tut,
aber nicht, dass er oder andere etwas wollen, denken, meinen. Und
die Erklärung dafür wäre offenkundig, dass das eine – die Hand-
lungen – perzeptuell zugänglich sind, das andere – die mentalen
Zustände – aber nicht. Ob Schimpansen und andere Tiere mentale
Zustände repräsentieren können, ist unter Naturwissenschaftlern
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§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 93
umstritten.21 Menschen können es. Sie können sich auch auf ein zu-
künftiges Wollen beziehen und es in ihre Überlegung einbeziehen.
Die Antizipation mentaler Zustände, eigener und auch fremder, ist
ein wesentliches Element ihres Zukunftsbewusstseins. Auch in die-
sem Fall ist es eine plausible Annahme, dass die Repräsentation von
mentalen Zuständen, eigenen und fremden, gegenwärtigen und zu-
künftigen (und vergangenen) zumindest leichter fällt, wenn man sie
sprachlich repräsentieren kann. Eigene mentale Zustände kann man
nicht wahrnehmen wie Gegenstände der äußeren Welt, und es ist
keineswegs klar, auf welchem Wege man von ihnen weiß. In jedem
Fall sind sie flüchtige und wenig konturierte Phänomene. Und men-
tale Zustände anderer kann man natürlich auch nicht wahrnehmen,
man kann sie nur aus dem Verhalten erschließen. In beiden Fällen
ist es äußerst hilfreich, diese schwer greifbaren Zustände durch eine
sprachliche Repräsentation zu fixieren, ihnen Eindeutigkeit und Sta-
bilität zu geben. Dies dürfte das Operieren mit ihnen erheblich er-
leichtern und ihm ganz neue Möglichkeiten verschaffen.
Es kommt aber noch etwas Entscheidendes hinzu. Wer ein zu-
künftiges eigenes Wollen repräsentiert, und überhaupt ein eigenes
oder fremdes Wollen, muss ja nicht nur repräsentieren, dass er oder
ein anderer etwas will, sondern auch, was er will. Er muss auch
den Inhalt des Wollens repräsentieren. Das bedeutet, dass die Re-
präsentation eines mentalen Zustandes von der Art eines Wollens
einen komplexen Gegenstand repräsentiert. Er enthält mindestens
drei Elemente: Jemand (1) will (2) etwas (3). Und diese Komplexität
steigert sich noch, da das, was gewollt wird, selbst in sich struktu-
riert ist, also selbst schon komplex ist. Man will, dass einem das-
und-das nicht passiert oder dass jemand etwas Bestimmtes tut. Der
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5. Zusammenfassung
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98 Teil I: Überlegen und Wollen
(i) In die erste Gruppe gehört der Fall, über den jetzt schon ge-
sprochen wurde: Wünsche, eigene oder fremde, wie auch andere
propositionale Zustände können, weil sie nur mit Hilfe einer Spra-
che repräsentiert werden können, nur bei Lebewesen mit Sprache
zum Gegenstand des Wollens werden. Dies ist freilich nur ein spe-
zieller Fall aus einer sehr viel größeren Gruppe. Alle Gegenstände,
die auf Grund ihrer Komplexität nur mit Hilfe einer Sprache re-
präsentiert werden können, können allein für die zum Gegenstand
des Wollens werden, die eine Sprache haben. Ich kann z. B. wollen,
dass meine Frau nach Genf fährt, um eine Testamentsangelegenheit
zu regeln, aber nur wenn ihre Ärzte ihr grünes Licht für die Reise
geben. Oder ich kann wollen, dass mein Sohn für den Fall, dass ich
ausfalle und außerdem meine Tochter weiterhin im Ausland leben
will, die Leitung der Firma übernimmt. In Fällen wie diesen kann
man den Gegenstand des Wollens nur repräsentieren, wenn man
seine Komplexität darstellen kann, und das geht nur mit Hilfe der
Sprache. Die Zahl dieser Fälle ist riesig.
(ii) Eine zweite Gruppe bilden die Gegenstände, die es ohne Spra-
che gar nicht geben kann. Sie können ohne Sprache nicht nur nicht
repräsentiert werden, es kann sie ohne Sprache nicht geben. Ein
gutes Beispiel ist ein Versprechen. Etwas zu versprechen, bedeutet,
dass man sich darauf festlegt, etwas Bestimmtes zu tun, und dass
man diese Festlegung anzeigt, damit die anderen sich darauf ver-
lassen können. Ob man die Festlegung anzeigt, indem man wie ge-
wohnt sagt: »Ich verspreche es« oder indem man mit einem Stock
dreimal auf den Boden schlägt, ist dabei gleichgültig. Man braucht
in jedem Fall ein Zeichen, das eine bestimmte Bedeutung hat. Und
damit ist klar, dass ein Lebewesen ohne Sprache, oder wenn man die-
sen Unterschied machen will: ohne die Fähigkeit zur Symbolisierung
kein Versprechen geben kann und deshalb auch nichts wollen kann,
was ein Versprechen einschließt.
Vielleicht wird man finden, ein Versprechen sei ein sehr speziel-
les Phänomen, und es handele sich deshalb um ein recht isoliertes
Beispiel. Aber das ist ganz und gar nicht der Fall. Tatsächlich ist die
Gruppe der Gegenstände, die es ohne Sprache nicht geben kann,
außerordentlich groß. Nehmen wir die Tatsachen, dass ich verhei-
ratet bin, dass Frau Greco die Eigentümerin des gegenüberliegenden
Hauses ist und dass Herr Möller Richter am Landgericht ist. Diese –
institutionellen – Tatsachen haben die Gemeinsamkeit, dass man sie
nicht sehen kann. Man kann nicht sehen, dass ich verheiratet bin, es
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Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
§ 4 Zukunft, Sprache, Wollen 99
sei denn, ich weise eigens durch ein sichtbares Zeichen, zum Beispiel
in Form eines Ringes, auf diesen selbst nicht sichtbaren Status hin.
Institutionelle Tatsachen haben, wie Searle gesagt hat, eine »unsicht-
bare Ontologie«.22 Unsere Welt ist voll von Tatsachen dieser Art,
Schimpansen und andere Tiere kennen sie hingegen überhaupt nicht.
Das erklärt sich daraus, dass institutionelle Tatsachen sprachabhän-
gig sind. Wo es keine Wesen mit Sprache gibt, kann es Tatsachen die-
ser Art nicht geben. Auch wenn die Frage, wie die konstitutive Rolle
der Sprache genau aussieht, hier unbeantwortet bleibt23, lässt sich
immerhin sagen, dass man diese unsichtbaren Tatsachen offenbar
nur mit Hilfe der Sprache repräsentieren kann und dass sie in ihrer
Existenz von der Möglichkeit des Repräsentiert-Werdens abhängig
sind. Das Wollen eines Schimpansen oder eines Menschen und an-
dere mentale Zustände gäbe es auch dann, wenn niemand in der Lage
wäre, sie zu repräsentieren. Aber die Tatsache, dass ich verheiratet
bin, kann es nur geben, wenn sie auch repräsentiert werden kann.
Und das geschieht eben mit Hilfe der Sprache. Man kann sich leicht
ausmalen, welche riesige Menge neuer Gegenstände des Wollens aus
der Existenz institutioneller Tatsachen entsteht.
(iii) Da man für ein mehr als rudimentäres Zählen Zahlwörter
braucht, kann ein Lebewesen ohne Sprache nicht am 30.10. nach
Frankfurt reisen wollen. Auch mein Wunsch, am 31.12. den 60. Ge-
burtstag meines Bruders zu feiern, ist nur möglich, weil ich und
andere über Sprache verfügen und weil die Menschen mit Hilfe der
Sprache ein System für zeitliche Lokalisierungen erfunden haben,
das solche Datierungen ermöglicht. Natürlich gibt es auch außerhalb
zeitlicher Bestimmungen Wünsche, die Zahlen und damit Sprache
voraussetzen. So kann man sich wünschen, sein Gewicht auf weniger
als 80 Kilo zu reduzieren. Viele unserer Wünsche gehen auf Gegen-
stände, die einen Bezug auf Zahlen enthalten.
(iv) Banalerweise kann man nur mit Sprache Wünsche haben, die
direkt auf etwas Sprachliches gehen. Man kann nur mit Sprache et-
was behaupten, etwas fragen, etwas befehlen wollen. Oder einen
Text schreiben oder etwas übersetzen wollen. Man braucht nicht viel
Phantasie, um sich eine große Menge weiterer Beispiele auszuden-
ken. Auch diese Gruppe ist offensichtlich sehr groß.
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100 Teil I: Überlegen und Wollen
Die Sprache schafft nicht nur neue Gegenstände für das Wollen;
ein weiterer Effekt liegt darin, dass die Gegenstände des Wollens
dadurch, dass sie sprachlich repräsentiert werden, eine festere, kon-
turiertere und besser greifbare Gestalt gewinnen. Das macht es auch
sehr viel einfacher, sie festzuhalten und im Gedächtnis zu verankern.
Das ist wichtig für alle Formen des unerledigten Wollens, also für
die Fälle, in denen man die Realisierung eines Wollens in die Zu-
kunft verschiebt und Pläne macht. Um dies zu können, muss man
unerledigte Wünsche im Gedächtnis wachhalten und zum richtigen
Zeitpunkt möglichst unverfälscht zurückrufen können. Es scheint,
als werde dies durch die sprachliche Repräsentation zumindest we-
sentlich erleichtert.
Als letztes noch ein weiterer wichtiger Punkt: Zu verstehen, dass
andere etwas wollen und dass andere etwas meinen, und dann auch
zu verstehen, dass sie etwas von einem wollen und etwas über ei-
nen meinen, lässt wiederum eine große Menge neuer Wollensinhalte
entstehen. Man kann feststellen, dass man gemeinsame Ziele hat. So
entstehen die Wünsche nach Koordination und Kooperation. Das
eigene Wollen wird Teil eines gemeinsamen Wollens, das auf ge-
meinsame Projekte und gemeinsame Erfolge zielt. Ebenso kann man
feststellen, dass man mit seinen Wünschen im Konflikt steht. Auch
in dieser Situation können die Wünsche nach Ausgleich und Ko-
ordination entstehen, aber auch die Wünsche nach Dominanz und
eigener Stärke. Aus der Entdeckung, dass andere etwas von einem
wollen und etwas über einen denken, kommt es auch zu den Wün-
schen nach Ansehen, Respekt und Selbstbehauptung, ebenso wie zu
dem Wunsch, Geringschätzung und Ablehnung zu vermeiden. Es
entstehen auch neue Arten von positiven und negativen Gefühlen,
die ihrerseits zu Gegenständen des Wollens und Vermeiden-Wollens
werden.
Diese Überlegungen zu der Frage, wie die Sprache das Wollen
verändert, lassen trotz ihrer Skizzenhaftigkeit deutlich erkennen:
Die Sprache verändert das Zukunftsbewusstsein, und dadurch ver-
ändert sie auch das Wollen und seine Struktur tiefgreifend. Sie eröff-
net dem Wollen riesige neue Gegenstandsbereiche, und sie gibt den
Gegenständen des Wollens eine Kontur und Prägnanz, die sie ohne
Sprache nicht haben könnten. Die Erfindung der Sprache erklärt
also ganz wesentlich die Besonderheit des menschlichen Wollens.
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Teil II
Die Gegenstände des Wollens
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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens?
Wir haben jetzt, nach den Untersuchungen des ersten Teils, ein Bild
davon, wie das Wollen in die Welt kommt, und auch davon, wie sehr
sich das Wollen der Menschen von dem anderer Lebewesen unter-
scheidet. Die Menschen überspringen geistig die engen Grenzen der
Wahrnehmungssituation und entwickeln ein im Prinzip unbegrenz-
tes Zukunftsbewusstsein. Damit kommt es zu einer ungeheuren Ver-
änderungsdynamik, es entsteht, so habe ich gesagt, ein völlig neu-
artiges Lebewesen. Dem Wollen öffnen sich durch den Ausgriff in
die Zukunft und die hinzukommende Erfindung der Sprache riesige
neue Gegenstandsfelder, und es gewinnt eine bis dahin unbekannte
Vielfalt und Komplexität. Will man verstehen, wie die Menschen
funktionieren und wie sie ihr Verhalten steuern, muss man nun zu-
nächst die Frage stellen, wie das Wollen zu seinen Gegenständen fin-
det und auf welche Gegenstände es sich richtet. Was also bestimmt
die Ausrichtung des Wollens? Warum wollen die Menschen, was
sie wollen? Das ist die Frage, um die es in diesem zweiten Teil der
Untersuchung gehen wird.
1. Zwei Unterscheidungen
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104 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
Endes ankommt, ist das intrinsische Wollen. Deshalb ist nur dieses
Wollen das Thema in den folgenden Untersuchungen. Es geht darum,
das zu identifizieren, was der gesamten volitionalen Struktur die
Ausrichtung gibt, nicht darum, diese Struktur einschließlich ihrer
extrinsischen Teile genauer zu beschreiben.
Die zweite Unterscheidung ist die zwischen dem Wollen über
dem Strich und dem Wollen unter dem Strich. Diese Unterschei-
dung ist von großer Bedeutung, dennoch wird sie häufig gar nicht
oder nicht klar und konsequent genug gemacht, was zu erheblichen
Konfusionen führt. Das Wollen über dem Strich ist das Wollen
vor der Koordination des Wollens. Man will vieles und muss erst
noch überlegen, welches Wollen in der Konkurrenz überwiegt und
zum Wollen unter dem Strich wird. Das Wollen unter dem Strich
ist das Wollen nach der koordinierenden Überlegung; es hat sich
in der Überlegung als das stärkste herausgestellt und wird deshalb,
wenn nichts dazwischenkommt, handlungsleitend. Angenommen,
ich will die vom Arzt empfohlene Rückenoperation machen lassen
(weil dann vermutlich meine Schmerzen verschwinden) und ich will
sie nicht machen lassen (weil sie mit erheblichen Risiken verbun-
den ist). Beide Wünsche sind Wünsche über dem Strich, und ich
muss erst noch überlegen, welcher den anderen überwiegt. Nach
der Überlegung kann ich dann sagen: Unter dem Strich will ich die
Operation – auch angesichts des gegenläufigen Wollens. Ein Wol-
len setzt sich also durch und wird handlungsleitend. Es ist ganz
so wie bei einer Rechnung: die Zahlen über dem Strich sind noch
nicht zusammengerechnet, es ist nur aufgelistet, was in die Rech-
nung eingeht. Während die Zahl unter dem Strich das Resultat des
Rechnens ist. Statt vom Wollen über und unter dem Strich kann
man auch vom pro-tanto-Wollen und vom konklusiven Wollen
sprechen.
Man sollte diese Unterscheidung nicht in der Weise zu fassen
versuchen, dass man im einen Fall vom Wünschen und im anderen
vom Wollen spricht. Das führt zu fehlgehenden Vorstellungen, vor
allem suggeriert es, das Wollen vor und nach dem Überlegen seien
unterschiedliche mentale Zustände. Das ist nicht der Fall. Das Wol-
len über dem Strich ist genauso ein Wollen wie das Wollen unter dem
Strich und nicht in irgendeiner Weise reduziert oder defizient. Alles,
was das Wollen unter dem Strich hat, hat auch das Wollen über dem
Strich. Der Unterschied liegt allein darin, dass bei dem Wollen über
dem Strich noch offen ist, wie viel es in der Konkurrenz mit dem,
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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 105
was man sonst noch will, wiegt und ob es aus dieser Konkurrenz
als Sieger hervorgeht.1
Der jetzt anstehende zweite Teil der Untersuchung wird aus-
schließlich das Wollen über dem Strich behandeln. Das im Auge zu
behalten, ist wichtig. Alle Fragen, die die Koordination des Wollens
betreffen, werde ich in Teil III behandeln.
1 Wie bereits gesagt, verwende ich, wenn ich von »Wünschen« spreche, das
Wort nur als Ersatz für das fehlende Substantiv zu »wollen«. Damit ist keine
begriffliche Unterscheidung von wollen und wünschen intendiert.
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106 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 107
Betrachten wir zunächst den ersten Stamm des Wollens, das einge-
rammte, das nicht-hedonische Wollen. Als erstes ist hier das Weiter-
leben-Wollen zu nennen, ein äußerst starkes Wollen, oft das stärkste,
das die Menschen haben. Sie haben dieses Wollen von Natur aus, es
ist nicht so, dass sie lernen, dass weiterzuleben angenehm ist, und das
Wollen dem dann folgt. Das Weiterleben ist nicht vorab durch eine
attrahierende Eigenschaft ausgezeichnet, es ist etwas Positives allein
dadurch, dass die Menschen es wollen. Und es ist für die Menschen
so wichtig allein dadurch, dass sie es so elementar wollen.
Die Menschen können nicht anders, sie wollen weiterleben, die-
ses Wollen steht nicht zur Disposition, man kann sich nicht von
ihm lösen. Harry Frankfurt hat deshalb im Blick auf dieses Wollen
und andere Wünsche dieser Art von »volitionalen Notwendigkei-
ten« gesprochen. »Wir können«, so sagt er, »uns selbst nicht dazu
bringen, diesen Dingen gegenüber völlig gleichgültig zu sein, und
noch weniger dazu, sie kategorisch abzulehnen.«2 Es kann allenfalls
sein, dass ein anderes Wollen überwiegt. So kann das Leben so un-
erträglich geworden sein, dass es nur noch den Ausweg zu geben
scheint, sich gegen das Weiterleben zu entscheiden. Aber selbst in
einer solchen Situation will man – über dem Strich – weiterleben,
man muss dieses Wollen aber opfern, um dem, was man nicht mehr
ertragen kann, zu entkommen.
Das Weiterleben-Wollen ist offenkundig ein intrinsisches Wollen.
Weil es so elementar ist und auch weil es ein permanentes Wollen
ist – die Menschen können absehen, dass sie es auch in Zukunft
haben werden –, ist es eine äußerst mächtige Quelle für zahllose
extrinsische Wünsche. Der Wunsch, weiterzuleben, strahlt auf alle
Bereiche des menschlichen Wollens und Handelns aus, und es wäre
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108 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 109
ist das Interesse am Wohl der Kinder in seiner Existenz ganz unab-
hängig davon, wie die Kinder sind, ob einem gefällt, was sie tun und
lassen. Selbst wenn man nicht akzeptieren kann, wie sie sich verhal-
ten, bleibt ihr Wohl etwas, was man vorbehaltlos will.
Ein drittes Beispiel ist der Wunsch nach Anerkennung durch an-
dere. Die Menschen leben mit anderen Menschen zusammen, und
sie haben, wahrscheinlich als einzige Spezies, eine Vorstellung davon,
was andere denken, und dann eben auch davon, was andere über sie
denken. Was die anderen über sie denken, ist für sie so wichtig, dass
sie gar nicht anders können, als auf das, was sie tun, ja nur erwägen
zu tun, auch mit den Augen der anderen zu sehen. Sie sind nicht in
der Lage, diese Perspektive auszuschalten und sich gleichgültig zu
machen gegenüber dem Urteil der anderen.
Wie tief dieses Wollen sitzt und wie stark es ist, spiegelt sich wie-
derum in den Emotionen, die mit ihm assoziiert sind. So reagiert
man, wenn man etwas tut, von dem man glaubt, es könne vor den
anderen nicht bestehen, mit dem Gefühl der Scham, einem negativen
Gefühl, das zeigt, dass etwas passiert ist, was man im Innersten nicht
will. Auch in der Angst davor, hinter dem zurückzubleiben, was die
anderen erwarten, und von ihnen zurückgewiesen zu werden, of-
fenbart sich dieses Wollen. Ebenso in dem Schmerz und dem Zorn,
wenn man glaubt, zu Unrecht zurückgewiesen zu werden oder nicht
die Anerkennung zu finden, die einem gebührt. In der Heftigkeit
dieser Gefühle kommt zum Ausdruck, wie sehr wir darauf fixiert
sind, die Anerkennung der anderen zu finden.
Wir wollen die Anerkennung intrinsisch. Sie ist uns als solche
wichtig. Und sie ist uns so wichtig, weil wir sie so elementar wol-
len. Erneut schafft das Wollen die Wichtigkeit und folgt nicht einer
ihm vorausgehenden Attraktivität. Damit ist nicht geleugnet, dass
wir die Anerkennung auch extrinsisch wollen. Sie verhilft uns of-
fenkundig zu anderen Dingen, die wir wollen. So gibt es sicherlich
einen Bezug zum Weiterleben-Wollen. Gut angesehen zu sein, bietet
einem Schutz, es verschafft einem Beziehungen, Freundschaften; die
Aussichten auf Hilfe und gute Ratschläge vergrößern sich. Gut an-
gesehen zu sein, dient auch materiellen Interessen. Es eröffnen sich
Chancen zu Kooperationen und deren Gewinnen. Die Anerken-
nung durch andere hilft uns zudem, uns selbst gut zu finden, etwas,
was für uns von sehr großer Bedeutung ist. Von anderen akzeptiert
zu sein und sich selbst gut zu finden, sind miteinander verknüpft
und das eine, die Anerkennung durch sich selbst, hängt offenbar von
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110 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
dem anderen, der Anerkennung durch andere, ab. Die Standards des
Gutseins, auf das man sich selbst prüft, können nicht völlig unab-
hängig von den Standards sein, anhand deren andere einen als gut
und schlecht beurteilen.
Wenn ich sage, Anerkennung sei uns so wichtig, weil wir sie so
elementar wollen, das Wollen schaffe die Wichtigkeit und folge nicht
einer vorausgehenden Attraktivität, könnte man dem entgegenhal-
ten, es sei doch angenehm, anerkannt zu werden. Das deute darauf
hin, dass es sich in Wahrheit um ein hedonisches Wollen handelt
und das Wollen sehr wohl dem Angenehmen folge. Das wäre jedoch
eine voreilige Schlussfolgerung. Es ist ohne Zweifel angenehm, An-
erkennung zu finden, aber es ist angenehm, weil man es so sehr will.
Das Angenehmsein folgt hier dem Wollen und geht ihm nicht vor-
aus. Der Wunsch nach Anerkennung geht nicht auf etwas, was von
ihm unabhängig und ihm vorausgehend angenehm ist, sondern auf
etwas, was erst von ihm abhängig und ihm nachfolgend angenehm
ist. Das ist ein wesentlicher Unterschied, den ich im nächsten Kapitel
ausführlich erläutern werde. Macht man ihn, sieht man, dass beides
richtig ist: Es ist angenehm, anerkannt zu werden, aber der Wunsch
nach Anerkennung ist davon unabhängig. Die Menschen sind nicht
auf Anerkennung aus, weil sie die Erfahrung machen, dass es ange-
nehm ist; sie wollen es, weil es, solchen Erfahrungen vorausgehend,
Teil ihrer Natur ist.
Auch das Streben nach Anerkennung bringt unzählige andere,
extrinsische Wünsche hervor. Was tun die Menschen nicht alles, um
die Anerkennung derer, mit denen sie zusammenleben, zu gewin-
nen! Die materiellen Interessen, das Streben nach materiellen Gütern
und Reichtum, sind offensichtlich sehr eng mit dem Wunsch nach
Anerkennung verbunden. Die Menschen passen sich an und tun das,
was die anderen zum Preis ihrer Anerkennung machen. Dadurch
gewinnt eine Gesellschaft ein effektives Instrument, das Verhalten
der Einzelnen zu steuern. Indem sie die von ihr gewollten Verhal-
tensweisen mit Anerkennung belohnt und das nicht gewollte Ver-
halten mit Ansehensverlust bestraft, schafft sie künstliche Gründe,
sich entsprechend zu verhalten. Die Institution der Moral ist ein
solches System künstlicher Gründe. Weil die Gemeinschaft morali-
sches Verhalten mit Anerkennung belohnt und unmoralisches Ver-
halten mit sozialer Ächtung bestraft, wird es für die Einzelnen, da
sie auf Anerkennung aus sind, zu einem »Muss«, sich moralisch zu
verhalten. Dieses Beispiel allein zeigt schon, wie weit der Wunsch
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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 111
3 Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 38; dt. 56; siehe auch H. G. Frank-
furt: The Reasons of Love (Princeton 2004) 27, 45, 53 f.; dt. Gründe der Liebe
(Frankfurt 2005) 33, 49, 59.
4 D. Hume: A Treatise of Human Nature, ed. L. A. Selby-Bigge, 2nd edition
by P. H. Nidditch (Oxford 1978) II, iii, 3, p. 417.
5 Vgl. ebd. und D. Hume: Enquiries concerning Human Understanding
and concerning the Principles of Morals, ed. L. A. Selby-Bigge, 3rd edition
by P. H. Nidditch (Oxford 1975) app. II, p. 301.
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112 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
Wenn das, was ich jetzt über das eingerammte Wollen gesagt habe,
stimmt, ist nicht richtig, was so viele Philosophen behauptet haben:
dass das Angenehme und Unangenehme alles (intrinsische) Wol-
len bestimmt. Im ersten Satz seiner Principles schreibt Bentham:
»Nature has placed mankind under the governance of two sover
eign masters, pain and pleasure.«6 Sie allein, so meinte Bentham,
bestimmen, worauf das Wollen der Menschen geht. Offenbar ist
das nicht wahr.
Für den größten Teil des menschlichen Wollens ist, was Bentham
sagt, hingegen richtig. Der größte Teil geht auf das Angenehme
und Unangenehme. Das Angenehme ist, so hat man oft gesagt, ein
Magnet, der das Wollen auf sich zieht und auf sich ausrichtet. Wir
können gar nicht anders, als das Angenehme zu wollen und das Un
angenehme nicht zu wollen. Es gibt hier keinen Spielraum. Auch
hier besteht, um Frankfurts Formulierung aufzugreifen, eine voli
tionale Notwendigkeit, die Teil unserer natürlichen Ausstattung ist.
Auch das hedonische Wollen ist auf einen bestimmten Gegenstand
fixiert.
Will man verstehen, wie der größte Teil des menschlichen Wol-
lens zu seinen Inhalten kommt und was das menschliche Verhalten
bestimmt, muss man also die Frage stellen, was für die Menschen
angenehm und unangenehm ist und warum gerade dies und nicht
anderes. Das Angenehme und Unangenehme ist der Beginn einer
Bewegung, die zum Handeln führt, und es ist die Ressource, aus der
diese Bewegung ihre Richtung gewinnt. Das Wollen ist bloß eine
Brücke, über die das zukünftige Angenehme, das gegenwärtig nicht
gefühlt, sondern nur imaginiert und antizipiert wird, bereits in der
gegenwärtigen Situation Handlungsrelevanz gewinnt. Thematisiert
man das für die Menschen Angenehme und Unangenehme, kommt
es schnell zu der Frage, ob die Menschen Einfluss darauf haben, was
für sie angenehm und unangenehm ist und, falls das so sein sollte, in
welcher Weise. Im Blick auf das Wollen nicht-menschlicher Lebewe-
sen hatten wir gesagt, dass sie vorfinden, was für sie angenehm und
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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 113
unangenehm ist. Sie entdecken es und lernen es, aber sie bestimmen
nicht darüber. Die Natur hat es festgelegt, und sie hat es so festgelegt,
dass die Tiere damit, dass sie der Spur des Angenehmen und Unan-
genehmen folgen, zugleich das für sie und für ihre Art Zuträgliche
tun und das Abträgliche meiden. Das subjektiv Angenehme ist das
objektiv Nützliche, nützlich in Bezug auf die biologischen Zwecke
der Selbsterhaltung und der Reproduktion. Die Tiere leben in einem
festen, wie man gesagt hat, »biologischen Anreizsystem«.7 Es macht
die Verhaltensweisen, die nötig sind dafür, dass sie überleben und
Nachwuchs haben, angenehm und damit attraktiv und alles, was sie
meiden müssen, unangenehm und abstoßend. Diese prästabilisierte
Harmonie von Angenehmem und Zuträglichem wirkt, als habe ein
guter Ingenieur sie ausgedacht und eingerichtet. Aber natürlich ist
sie einfach das Resultat davon, dass es die Lebewesen, für die das
Falsche angenehm und unangenehm ist, nicht mehr geben kann.
Die Frage ist also, wie es bei den Menschen ist. Es ist anders. Aber
wie? Wie kommt es dazu, dass uns Dinge angenehm und unange-
nehm sind? Ohne Zweifel leben auch die Menschen in einem bio-
logischen Anreizsystem. So ist, etwas Süßes zu essen, für uns ange-
nehm. Genauso ist sexuelle Aktivität etwas Angenehmes. In beiden
Fällen ist die Verbindung mit den biologischen Zwecken offenkun-
dig. Sie ist auch offensichtlich beim Schmerz und dem Wunsch, ihn
zu vermeiden. Aber nicht alles, was für uns Menschen angenehm
und unangenehm ist, hat diese Verbindung zu den biologischen
Zwecken. Das Spektrum dessen, was wir wollen, geht weit darüber
hinaus. Was für die Menschen angenehm und unangenehm ist und
warum, wird das Thema des nächsten Kapitels sein.
5. David Hume
Zuvor sei aber wenigstens noch kurz festgehalten, dass die jetzt
skizzierte Auffassung darüber, wie das Wollen zu seinen Inhalten
kommt, in ganz ähnlicher Weise bei David Hume zu finden ist. Auch
Hume hat angenommen, dass es ein eingerammtes, nicht-hedoni-
sches Wollen gibt, er spricht, wie schon erwähnt, von Wünschen,
die »unserer Natur ursprünglich eingepflanzt« sind und auch von
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114 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 5 Was sind die Gegenstände des Wollens? 115
Ich möchte zum Abschluss dieses Kapitels noch auf eine besondere
und sehr wichtige Art des Wollens hinweisen und damit auf die
Unterscheidung zwischen intrinsischem und extrinsischem Wollen
zurückkommen. Wenn man etwas will, will man auch das tun kön-
nen, was zur Erlangung des Gewollten nötig ist. Darin liegt, dass
man alles das nicht will, was einen daran hindert, und im Speziellen,
dass man nicht will, dass andere einen daran hindern. Man will, mit
anderen Worten, frei und ungehindert seinem eigenen Wollen folgen
können. Dieser Wunsch nach Freiheit resultiert nicht daraus, dass
wir etwas Bestimmtes wollen, sondern daraus, dass wir überhaupt
etwas wollen. Indem wir darauf reflektieren, welche Bedingungen
dafür erfüllt sein müssen, dass wir das, was wir wollen (was immer
es sei), auch erreichen, können wir uns klarmachen, dass das Freisein
für uns ein sehr wichtiges Ziel ist. Und wenn man genauer nach-
denkt, wird man schnell darauf stoßen, dass es neben der Freiheit
noch andere Ziele dieser Art gibt.
Dass es sich hierbei um eine besondere Art des Wollens handelt,
bestätigt sich, wenn wir uns einige Überlegungen vergegenwärtigen,
die Kant in einer vermutlich im Winter 1781/82 gehaltenen Vorle-
sung über Anthropologie angestellt hat. »Alle unsere Neigungen
können«, so sagt Kant in dieser Vorlesung, »in formelle und mate-
rielle eingeteilt werden. Die Formellen gehen ohne Unterschied der
Gegenstände auf die Bedingungen, unter denen wir überhaupt un-
sere Neigungen befriedigen können; … die materiellen Neigungen
sind die, welche in Ansehung des Gegenstandes bestimmt sind.« Es
gibt, so Kant weiter, zwei formelle Neigungen: »Freiheit und Ver-
mögen«. Statt von »Vermögen« würden wir heute wohl von »Macht«
sprechen. »Die Freiheit«, so heißt es, »bedeutet die Entfernung alles
Widerstandes, nach seiner eigenen Neigung zu handeln; sie ist eine
formale negative Neigung; aber wir haben auch eine positive for-
male Neigung; dies ist die Neigung zum Vermögen, d. i. zum Besitz
der Mittel, seine Neigungen zu befriedigen.«13 Kant entwickelt das
weiter, indem er das »Vermögen« dreifach unterteilt, in »Talent, Ge-
walt und Geld«, und drei entsprechende Neigungen unterscheidet.14
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116 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
All dies sind also formale Wünsche. Wir haben dieses, offenbar kei-
neswegs so beschränkte, Wollen, weil wir überhaupt etwas wollen
und deshalb auch die Möglichkeit haben wollen, das Gewollte zu
erreichen.
Es ist evident, dass dieses, oft gar nicht gesehene, formale Wollen
im Netz unseres Wollens eine bedeutsame Rolle spielt und dass es ei-
nen großen Teil dessen, was wir tun, bestimmt. Man denke nur daran,
was alles aus dem Freisein-Wollen direkt und indirekt folgt. So ha-
ben die Menschen die Institutionen der Moral und des Rechts auch
erfunden, um für sich einen Raum der Freiheit zu etablieren, in den
andere nicht hineinhandeln dürfen. Wo dies nicht gelungen ist, kann
der Kampf für Freiheit und gegen Unterdrückung zum alles über-
ragenden Lebensinhalt werden. Kant ist so weit gegangen, von den
formalen Wünschen zu sagen, sie seien überhaupt die mächtigsten.15
Man muss allerdings sehen, dass das formale Wollen, wenn auch
in einer speziellen Weise, ein extrinsisches Wollen ist. Wir haben
dieses Wollen, weil wir etwas anderes wollen. Wobei es eben nicht
ganz zutrifft, zu sagen: weil wir etwas anderes wollen. Wir wollen,
was wir formal wollen, weil wir überhaupt etwas wollen, aber nicht
weil wir etwas bestimmtes anderes wollen. Wir wollen die Freiheit,
weil sie die Bedingung dafür ist, das tun zu können, was wir wollen,
und insgesamt so leben zu können, wie wir es wollen.
Dass das formale Wollen ein extrinsisches Wollen ist, zeigt sich
auch daran, dass es, wie es für ein solches Wollen typisch ist, aus
einer Überlegung hervorgeht. Wir wollen, dass wir die Dinge, die
wir wollen, auch tun können und überlegen, welche generellen Be-
dingungen dafür erfüllt sein müssen. Und das Wollen geht dann –
extrinsisch – auf diese Mittel und Bedingungen. Es ist, nebenbei be-
merkt, offensichtlich, dass Tiere, auch wenn sie zu einfachen Formen
instrumentellen Überlegens in der Lage sind, zu dieser Überlegung
nicht fähig sind. Sie kennen deshalb das formale Wollen nicht. Diese
Ziele kann es für sie nicht geben.
Im Folgenden wird es, wie gesagt, darum gehen, freizulegen, was
die Ausrichtung des Wollens originär bestimmt, und deshalb kann
das extrinsische Wollen beiseite bleiben. Dennoch werde ich auf
die spezielle Form des extrinsischen Wollens, die das formale Wol-
len darstellt, noch mehrfach zurückkommen. Wenn man sich dieser
Form des Wollens bewusst ist, tritt deutlich hervor, wie bedeutsam
15 Ebd. 1142.
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens
Was ist für die Menschen angenehm? Worauf geht das Wollen, wenn
es auf das Angenehme und Unangenehme geht? Wer aufhellen will,
was die Ausrichtung des menschlichen Wollens bestimmt, muss
diese Frage beantworten. Denn der größte Teil des – intrinsischen –
menschlichen Wollens richtet sich auf das antizipierte Angenehme
und Unangenehme.
Man muss erneut mit einer elementaren Unterscheidung begin-
nen, der Unterscheidung zwischen dem Angenehmen, das wollens
unabhängig ist, und dem Angenehmen, das von einem Wollen ab-
hängig ist. Diese Unterscheidung, wir haben sie im letzten Kapitel
schon berührt, ist begrifflich einfach, aber zu entscheiden, ob etwas
auf die eine Seite gehört oder auf die andere, ist bisweilen schwierig.
Wir haben das Angenehme bisher als wollensunabhängig verstanden.
Wenn man, sagen wir: eine Rückenmassage als angenehm empfindet,
setzt diese Erfahrung kein Wollen voraus, sie ist wollensunabhängig.
Das Wollen folgt dann dem von ihm unabhängigen Attraktor. Die
Massage ist, kurz gesagt, nicht angenehm, weil man sie will, man will
sie, weil sie – wollensunabhängig – angenehm ist. Genauso, wenn
man Schmerzen hat. Das ist unangenehm, und dieses Unangenehm-
sein setzt wiederum kein Wollen voraus. Die Schmerzen sind nicht
unangenehm, weil man sie nicht will, man will sie nicht, weil sie –
wollensunabhängig – unangenehm sind.
Aber es gibt andere, wollensabhängige Formen des Angenehmen.
Angenommen, jemand strebt die Meisterprüfung als Automechani-
ker an. Wenn er es schafft und die Prüfung besteht, stellt sich ein
angenehmes Gefühl der Freude und der Befriedigung ein. Dieses
Angenehmsein ist wollensabhängig. Die Prüfung geschafft zu ha-
ben, ist angenehm, weil der Automechaniker es gewollt hat, und es
ist umso angenehmer, je mehr er es gewollt hat und je mehr er in
die Sache investiert hat. In diesem Fall geht das Wollen voraus, und
das Angenehmsein folgt. Das Angenehme ist nicht die Ursache und
das Ziel des Wollens, sondern die Wirkung davon, dass es in Erfül-
lung gegangen ist. Entsprechend, wenn die Prüfung misslingt. Dann
stellt sich ein unangenehmes Gefühl der Frustration ein. Und das
Unangenehme ist offenkundig wiederum wollensabhängig, es ist die
Wirkung davon, dass das Wollen unerfüllt geblieben ist.
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 119
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120 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
nehme abhängig ist, und das Wollen, das auf dieses Angenehme geht,
sind zwei verschiedene Wünsche, und es wäre völlig falsch, anzuneh-
men, der Mechaniker habe das eine Wollen – das Wollen1 –, weil er
das andere Wollen – das Wollen2 – habe. Dieser Fehler ist fast schon
geschehen, wenn man, wie es viele Autoren, vor allem Psychologen
und Neurowissenschaftler, tun, die Freude als Belohnung beschreibt.
Denn damit wird suggeriert, dass der Mechaniker die Prüfung um
der Belohnung, also um der Freude willen anstrebt. Und das ist ge-
rade falsch. Es mag sein, dass der Mechaniker die Freude antizipiert
und auch die Frustration im Falle des Misserfolgs und der Wunsch,
die Meisterprüfung abzulegen, deshalb begleitet wird von dem
Wunsch, am Ende die angenehme Befriedigung darüber zu spüren,
das Gewollte erreicht zu haben. Aber es ist klar, dass das Wollen1, das
Wollen der Meisterprüfung der gesamten Bewegung ihre Richtung
gibt. Die Ausrichtung dieses Wollens ist das Entscheidende. Und
sie wird nicht durch das wollensabhängige Angenehme bestimmt.
Dies spiegelt sich auch darin, dass die Freude und die Frustra-
tion über das Erreichen bzw. Nicht-Erreichen von etwas Gewoll-
tem unabhängig davon ist, was man will. Und deshalb ist auch das
Wollen der Freude unabhängig davon, was man auf der ersten Ebene
will. Man könnte sagen, das Wollen der Freude sei auf einer zweiten
Ebene angesiedelt. Es ist Teil unseres Wollens. Aber es gibt keine
Auskunft darüber, was auf der ersten, unteren Ebene die Ausrich-
tung des Wollens bestimmt. Das Wollen auf der zweiten Ebene ist so
etwas wie ein ein anderes Wollen begleitendes Wollen. Und das an-
dere Wollen, das Wollen1, bestimmt die Richtung des Handelns. Und
deshalb muss man wissen, wie dieses Wollen zu seiner Ausrichtung
kommt. Das wollensabhängige Angenehme und das Wollen, das es
auf sich zieht, gibt uns darüber keinen Aufschluss. Und deshalb ist
es richtig, sich, wenn es um die originären Motivatoren geht, auf das
wollensunabhängige Angenehme zu konzentrieren.
Ich will jedoch kurz die vielleicht wichtigsten oder offensicht-
lichsten Formen des wollensabhängigen Angenehmen anführen, um
so zu markieren, welche Arten des Angenehmen bloß derivativ sind.
Eine erste Art ist die, die bereits beschrieben wurde: Wenn es gelingt,
etwas Gewolltes zu realisieren, ist das angenehm, wenn es misslingt,
ist das unangenehm. Doch hierbei handelt es sich nur um einen be-
sonderen Fall eines sehr viel größeren Bereichs. Es ist generell so,
dass, wenn etwas passiert, was dem eigenen Wollen zuwiderläuft,
dies ein Unbehagen auslöst. Das kann einem voll zu Bewusstsein
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 121
kommen, es kann aber auch nicht mehr sein als eine kurze, kaum
bemerkte Veränderung im Hintergrundrauschen des Bewusstseins.
Genauso, wenn etwas passiert, das dem eigenen Wollen entspricht.
Das löst ein freudiges Gefühl aus, das wiederum voll zu Bewusstsein
kommen kann, aber auch, kaum bemerkbar und kaum bemerkt, von
sehr flüchtiger Existenz sein kann. So kann die Wahl eines Kollegen
zum Verfassungsrichter mich freuen, weil sie zu dem passt, was ich
will, in Hinsicht auf die Qualität und die Ausrichtung des Gerichts
und auch in Hinsicht auf die Laufbahn des Kollegen. Derselbe Vor-
gang kann auch ein Unbehagen auslösen, dann, wenn er dem entge-
genläuft, was ich in dieser Sache gewünscht hätte. Das Angenehme
und Unangenehme ist in diesen Fällen offenkundig wollensabhän-
gig, ihm geht ein Wollen voraus, auf dessen Ausrichtung es kei-
nen Einfluss hat. Wir Menschen wollen vieles, und zu dem, was wir
wollen, gehören so umfassende Dinge wie eine bestimmte Art des
Lebens und eine bestimmte Art von Person zu sein. Deshalb kann
es nicht anders sein, als dass in unserer Welt ohne Unterlass Dinge
geschehen, die in der einen oder anderen Weise unserem Wollen
entsprechen und entgegenlaufen und die infolgedessen wie immer
getönte Gefühle der Freude und des Unbehagens auslösen. All die-
ses Angenehme und Unangenehme ist wollensabhängig und hat auf
die Ausrichtung des vorausgehenden Wollens keinen Einfluss. Ich
werde diesen großen Bereich des Angenehmen und Unangenehmen
insgesamt satisfaktiv nennen.
Eng verwandt damit ist das Angenehm- und Unangenehmsein,
das mit Gefühlen im Sinne von Emotionen einhergeht. So ist es un-
angenehm, eifersüchtig zu sein. Die Eifersucht setzt indes ein Wollen
voraus, mit ihr reagiert man emotional auf etwas, was man nicht will,
sehr stark nicht will. Auch mit anderen Emotionen reagiert man auf
etwas, was für einen positiv oder negativ ist, und das heißt, auf etwas,
was man will oder nicht will. Mit Angst, Zorn, Ärger, Neid, Scham
reagiert man auf etwas, was man nicht will; und diese Emotionen
sind unangenehm, weshalb man sie selbst nicht will. Dieses letzte
Wollen ist wiederum das Wollen2. Und mit Stolz zum Beispiel re-
agiert man auf etwas, was man will, und dieses Gefühl ist angenehm.
Emotionen sind, so zeigt sich, sekundär, sie sind abhängig von
einem ihnen vorausgehenden Wollen. Sie sind, so könnte man sa-
gen, nur spezielle, affektiv besonders aufgeladene Weisen, darauf
zu reagieren, dass etwas passiert ist oder passieren könnte, was dem
eigenen Wollen entspricht oder zuwiderläuft. Und es liegt auf der
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122 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 123
was das Wollen angeht, allenfalls Folgendes sagen: Auch wenn die
Angst-Reaktion in einer lebensbedrohlichen Situation wollensunab-
hängig ist, haben die Menschen dennoch das entsprechende Wollen.
Sie wollen die Gefahr nicht, die ihr Leben bedroht. Sie reagieren
insofern mit der Emotion auf etwas für sie Negatives. Aber die-
ses Wollen ist in diesem Fall nicht konstitutiv für das Auslösen der
Reaktion, denn die Reaktion folgt automatisch auf einen bestimmten
Reiz, ohne a lles Wollen und ohne alle Negativität.
Ich nehme an, dass die Zahl der primitiven Emotionen klein ist,
dass sie immer eine Funktion in Bezug auf die biologischen Zwecke
des Weiterlebens und des Sich-Fortpflanzens haben und dass ihnen
immer ein eingerammtes Wollen korreliert, vor allem das Weiterle-
ben-Wollen und vielleicht auch andere Wünsche dieser Art. Natür-
lich sind auch die primitive Angst und andere primitive Emotionen
unangenehm (und gegebenenfalls angenehm). Und diese Form des
Angenehmseins ist dann offenkundig nicht von einem Wollen ab-
hängig, es ist ein – nicht sehr weit reichender – Typus des wollens
unabhängigen Angenehmen. Freilich mit der Besonderheit, dass ihm
dennoch ein Wollen korreliert. Es gibt also auch in diesen Fällen
ein Wollen1, und dann das auf die angenehmen oder unangeneh-
men Emotionen gehende Wollen2. Und es ist auch hier, so meine
ich, offensichtlich, dass uns, wenn es um die originäre Ausrichtung
des menschlichen Wollens geht, nur die Ausrichtung des Wollens1
interessieren muss.
Eine weitere wichtige Form des wollensabhängigen Angenehmen
ist folgende. Für die Menschen, und in ganz besonderer Weise für
Kinder, ist es wichtig, Anerkennung und Akzeptanz zu finden. Das
Aussein auf Anerkennung ist, wie wir sahen, ein elementares Wollen
der Menschen, ein ihnen eingerammtes Wollen. Ein Effekt dieses
Wollens liegt darin, dass uns Tätigkeiten, durch die wir Anerken-
nung finden, angenehm sind. Sie gewinnen, weil wir durch sie den
anderen gefallen, Attraktivität. So kann es jemandem gefallen, besser
zu sein als die anderen, und er kann stetig nach diesem Überlegen-
sein streben. Dies, weil seine Eltern ihn von früh an durch Lob und
Tadel auf diesen Weg gebracht haben. Er muss sich dieses Zusam-
menhangs nicht bewusst sein. Er genießt das Bessersein, und es ist
ein Leitmotiv seines Wesens und eine hervorstechende Eigenschaft
seines Charakters. Aber es ist doch klar, dass das Angenehmsein
wollensabhängig ist. Es ist abhängig von dem Wunsch, den Eltern zu
gefallen, ihr Lob und ihre Anerkennung zu gewinnen. Selbst wenn
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124 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
die Eltern schon lange tot sind, kann dieser Zusammenhang fort-
bestehen. Die Eltern haben das Kind in dieser Weise geprägt, und
sie konnten es nur, weil das Kind nach ihrer Anerkennung strebte.
Diese Prägung verselbständigt sich dann, sie wirkt fort und wird
zur zweiten Natur.
Ganz ähnlich, wenn es einem gefällt, anderen zu helfen und für
andere da zu sein. Auch das kann seinen Grund darin haben, dass
die Eltern es besonders gelobt und mit Anerkennung verbunden
haben. Es gibt selbstverständlich nicht nur das Lob und den Tadel
der Eltern in der Kindheit, sondern auch die Anerkennung und
die Zurücksetzung durch die, mit denen man zusammenlebt. Jede
Gesellschaft etabliert ein System von Anerkennung und verschie-
dener Formen sozialer Zurückweisung und Exklusion. Das Lob
der anderen überzieht die entsprechenden Verhaltensweisen mit
einem Glanz, so dass es einem angenehm ist, sich so zu verhal-
ten. Genauso wie die Zurückweisung Handlungsweisen abstoßend
macht, so dass sie unangenehm sind und man sich mit ihnen nicht
wohlfühlt.
Auch der Bereich dessen, was in dieser Weise angenehm ist, ist
offenbar groß. Und das, was in dieser Weise angenehm ist, kann, wie
die Beispiele zeigen, eine dominante Rolle in unserem Leben spielen.
Dennoch ist diese Form des Angenehmen wollensabhängig. Es setzt
voraus, dass wir etwas wollen: die Anerkennung durch die ande-
ren. Dieses Wollen geht dem Angenehmen voraus, und ohne dieses
Wollen gäbe es dieses Angenehme nicht. Deshalb ist auch diese Art
des Angenehmen nicht zu berücksichtigen, wenn es um die grund-
sätzliche Ausrichtung des Wollens geht, die nicht schon ihrerseits
ein Wollen voraussetzt.
Diese Überlegungen lassen im Übrigen erkennen, dass die Unter-
scheidung zwischen intrinsischem und extrinsischem Wollen nicht
immer leicht anzuwenden ist. Das Streben danach, besser zu sein,
mag einem vielleicht wie ein intrinsisches Wollen vorkommen, bei
dem einem selbst nicht klar ist, warum man es hat und warum es
einem gefällt, die anderen hinter sich zu lassen. Aber in Wirklich-
keit ist es (so ist der Beispielfall gedacht) ein verdeckt extrinsisches
Wollen. Man will etwas, weil man etwas anderes will, und dass das,
was man extrinsisch will, selbst angenehm ist – so dass man auf die
Idee kommen kann, dann müsse das Wollen doch intrinsisch sein –,
ist nur das Ergebnis davon, dass man etwas anderes will. Es ist in
spezieller Weise angenehm, nämlich wollensabhängig angenehm.
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 125
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126 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
Art des Angenehmen lässt sich noch einmal sehr gut erkennen, dass
sich, ist erst einmal etwas Angenehmes und Unangenehmes in der
Welt, daraus wie von selbst weitere Formen des Angenehmen und
Unangenehmen ergeben.
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 127
erung beginnt, die nicht mehr völlig am Kopf der Lebewesen vor-
beiläuft, sondern durch ihren Kopf hindurch. Deshalb scheint es
mir klarer, unter einer angenehmen Empfindung eine Empfindung
zu verstehen, deren man sich bewusst ist. Damit ist nicht geleugnet,
dass es unbewusste Äquivalente gibt. Aber für die Entstehung des
Geistes war es ein entscheidender Schritt, dass die unbewusste Ver-
arbeitung von Geruchs- und ähnlichen Reizen die Schwelle zum
Bewusstsein durchbricht und wenigstens zum Teil eine Verhaltens-
steuerung entsteht, für die die bewusste Empfindung des Angeneh-
men und U nangenehmen konstitutiv ist.
Beispiele für die zweite Art des wollensunabhängigen Angeneh-
men, bei der innere Körperzustände die angenehmen oder unan-
genehmen Empfindungen verursachen, sind ebenfalls leicht anzu-
führen: Es ist unangenehm, hungrig zu sein. Wenn das Glucoseni-
veau im Blut unter eine bestimmte Schwelle fällt, löst das ein unan-
genehmes Gefühl aus. Ebenso ist es unangenehm, durstig zu sein.
Wenn Körperorgane oder andere Körpersysteme ihre Funktion nur
eingeschränkt erfüllen können, ist das in der Regel mit Schmerzen
verbunden. Eine Entzündung im Magen, eine Zerrung im Muskel,
Stiche im Herzen, all das ist unangenehm und schmerzhaft. Fieb-
rige Hitze ist unangenehm, ebenso Übelkeit und Ekel, ebenso er-
schöpft und müde zu sein, ebenso nervös und unruhig zu sein. Um-
gekehrt fühlt es sich gut an, ausgeruht und frisch zu sein. Es gibt
auch Formen des Erschöpftseins, die angenehm sind, zum Beispiel
nach sportlichen Anstrengungen. Und natürlich ist es angenehm,
sexuell erregt zu sein.
Die beiden jetzt angeführten Arten des Angenehmen hängen of-
fenbar eng zusammen. Es handelt sich im einen wie im anderen Fall
um körperliche oder sinnliche Empfindungen, die angenehm und
unangenehm sind. Ich werde deshalb vom sinnlich Angenehmen
sprechen.
Dass uns bestimmte Dinge sinnlich angenehm und unangenehm
sind, und dass es diese und keine anderen sind, ist mit der Beschaf-
fenheit des Körpers gegeben. Es ist einfach so, dass es für Menschen
angenehm ist, sich zu küssen, und es ist einfach so, dass es für Men-
schen angenehm ist, etwas Süßes zu essen. Es ist Teil ihrer Natur.
Sie sind, ohne ihr Zutun, so verdrahtet. Sie können allenfalls versu-
chen, direkt in das körperliche Geschehen einzugreifen, etwa indem
sie die Schmerzempfindung durch die Zuführung einer Chemikalie
blockieren. Das System des sinnlich Angenehmen ist, wie es scheint,
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128 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
ein ziemlich starres System, das nur wenig Raum für individuelle
Unterschiede lässt.
Klar ist auch, dass, wie der menschliche Körper ausgestattet ist
und funktioniert, mit den biologischen Zwecken zusammenhängt.
Der menschliche Körper ist ein Produkt der Evolution, die nur zwei
Effekte kennt, die zählen: das Weiterleben und das Sich-Fortpflan-
zen. Den Menschen sind die Dinge sinnlich angenehm und unange-
nehm, die ihr Wollen anziehen und abstoßen müssen dafür, dass sie
überleben und sich reproduzieren. Auch wenn es uns schwer fällt,
zu sehen, wie es mit den biologischen Zwecken zusammenhängt,
dass uns bestimmte Geräusche unangenehm sind, ist es doch so, dass
sie uns unangenehm sind, weil das Gehör so ist, wie es ist, und dass,
wie es ist, sehr wohl mit den biologischen Zwecken zu tun hat.
Das sinnlich Angenehme hat offensichtlich einen enormen Ein-
fluss auf das menschliche Wollen. Ich werde darauf noch kommen.
Zunächst aber müssen wir sehen, ob dieser Einfluss durch andere
Arten des wollensunabhängigen Angenehmen relativiert wird. Die
nächste Frage ist damit schon formuliert: Gibt es andere Formen des
wollensunabhängigen Angenehmen?
Die Tradition hat diese Frage überwiegend bejaht. Es gibt Dinge, die
neben dem sinnlich Angenehmen und unabhängig von den entspre-
chenden körperlichen Vorgängen wollensunabhängig angenehm und
unangenehm sind: bestimmte Tätigkeiten, in bestimmten Zuständen
zu sein, Erfahrungen anderer Art. Häufig hat man vom mental oder
intellektuell Angenehmen und von mentaler Lust gesprochen, meis-
tens bereits mit einer evaluativen Einfärbung: die mentale Lust ist
die höhere Lust, die sinnliche die niedere. Die Unterscheidung von
sinnlich und mental angenehm ist allerdings problematisch. Man
rutscht mit ihr leicht in dualistische Vorstellungen von Körper und
Geist hinein. Jede Empfindung des Angenehmen oder Unangeneh-
men beruht auf neurochemischen Prozessen und ist deshalb kör-
perlich angenehm und unangenehm. Aber innerhalb dessen soll es,
das ist die Idee, eine Form des Angenehmen geben, bei der die Sin-
nesorgane und solche inneren Zustände wie Hunger, Durst oder
Müdigkeit keine Rolle spielen. Ich werde in Ermangelung eines bes-
seren Terminus die traditionelle Redeweise hilfsweise übernehmen
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 129
und auch vom mental Angenehmen sprechen. Dieses steht dann, als
eine besondere Form des körperlichen Angenehmen, dem sinnlich
Angenehmen gegenüber.
Es ist nicht fraglich, ob es mental Angenehmes gibt. Das gibt es
ohne Zweifel. Das satisfaktiv Angenehme ist offenkundig von die-
ser Art. Wenn man etwas erreicht, was man gewollt hat, ist das an-
genehm. Und dieses Angenehmsein ist nicht durch Einwirkungen
auf die Sinne oder durch wahrgenommene innere Körperzustände
verursacht. Fraglich ist vielmehr, ob es Formen des mental Angeneh-
men gibt, die wie das sinnlich Angenehme wollensunabhängig sind.
Die Hypothese, die jetzt im Raum steht und die zu prüfen ist, besagt
also, dass uns auch andere Dinge als bestimmte Körpererfahrungen
angenehm und unangenehm sind, aber auf dieselbe unmittelbare
Weise. Die Natur muss uns dann so programmiert haben, dass uns
auch dies andere angenehm und unangenehm ist. Formuliert man es
so, liegt die Annahme nahe, dass auch diese alternative Form des An-
genehmen mit den biologischen Zwecken des Weiterlebens und der
Reproduktion verbunden sein muss und durch diese Verbindung zu
erklären ist. Denn die Natur kennt, wie gesagt, keine anderen Zwe-
cke. Jede These, dass dieses oder jenes wollensunabhängig mental
angenehm sei, ist also zu verbinden mit einer plausiblen Darlegung
über den Zusammenhang mit den biologischen Zwecken.
Für ein traditionelles Verständnis der Welt, nach dem nicht die
Evolution die Lebewesen so hat werden lassen, wie sie sind, sondern
Gott sie so ausgestattet hat, wie es ihm beliebt, stellen sich diese Fra-
gen nicht in gleicher Weise. Selbstverständlich müssen auch die von
Gott geschaffenen Lebewesen einschließlich der Menschen das tun,
was notwendig ist dafür, dass sie weiterleben und sich fortpflanzen.
Und Gott muss ihnen, sofern er sie nicht fest verdrahtet, die hierfür
richtigen Motivatoren geben. Aber jenseits dessen können sich die
Menschen auch an anderen Dingen erfreuen, weil Gott es so einge-
richtet hat, dass sie für sie angenehm sind. Einen Bezug auf die bio-
logischen Zwecke muss es nicht geben. Dass Gott es so gewollt hat,
erklärt ausreichend, wie es dazu kommt, dass diese Dinge angenehm
sind. Vielleicht liegt in dieser gegenüber einer aufgeklärten Sicht ein-
facheren Problemlage die Erklärung dafür, dass die Konzeptionen
des mental Angenehmen, die wir aus der Geschichte des Denkens
kennen, so enttäuschend sind. Sie wirken von heute aus gesehen
wie eine Mischung aus ad-hoc-Annahmen und Wunschdenken. Man
muss allerdings hinzufügen, dass die modernen Wissenschaftler bei
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130 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
diesem Thema auch nicht sehr viel weiterhelfen. Auch sie operieren
allzu oft mit luftigen ad-hoc-Annahmen über die adaptiven Vorteile
bestimmter Formen des Angenehmseins.
Welches sind nun die Vorschläge für das mental Angenehme?
Welche Dinge sind neben dem sinnlich Angenehmen wollensunab-
hängig angenehm? Ich werde drei Vorschläge diskutieren. Der erste
geht auf Aristoteles zurück. Er hat darauf hingewiesen, dass den
Menschen bestimmte Tätigkeiten angenehm sind, und hierin eine
vom sinnlich Angenehmen unterschiedene eigene Art des Angeneh-
men gesehen.3 Diese Sicht wird auch heute von vielen Autoren ge-
teilt.4 Wieder ist nicht die Frage, ob es diese Tätigkeitslust gibt, es
gibt sie ohne Zweifel; fraglich ist, ob die einschlägigen Tätigkeiten
nicht-sinnlich und vor allem wollensunabhängig angenehm sind.
Gerade dies wird für verschiedene Tätigkeiten behauptet.
Oft wird gesagt, kognitive Tätigkeiten: etwas zu erkennen oder
Probleme zu lösen, seien wollensunabhängig angenehm. So meint
zum Beispiel der Psychologe E. T. Rolls, »solving complex prob-
lems« und »working at the level of ideas, to increase understanding«
sei in sich belohnend, sprich: angenehm. Die Menschen seien gene-
tisch so programmiert. Und man solle sich nicht wundern, dass es so
ist, es sei ein Ergebnis der natürlichen Selektion und verbessere die
Fitness, also die Wahrscheinlichkeit zu überleben und sich fortzu-
pflanzen.5 Die Verbindung zu den biologischen Zwecken wird also
mitgedacht und das Phänomen auf diese Weise erklärt.
Rolls erläutert seine Formulierungen nicht weiter, und so bleibt
unklar, was er mit »Probleme lösen« genau meint. Man kann es als
Erfolgsverb verstehen, es bezeichnet dann den Schritt, durch den
ein Problem tatsächlich gelöst wird, das angestrebte Resultat also
erreicht wird. In diesem Fall ist, ein Problem zu lösen, sehr klar
satisfaktiv angenehm. Man freut sich, weil man Erfolg hat und das
erreicht, was man gewollt und worauf man hingearbeitet hat. Das
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 131
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132 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
päischen Tradition eine bedeutende Rolle. Von alters her haben sich
die Menschen als Wesen beschrieben, die dadurch ausgezeichnet
sind, zu zweckfreien intellektuellen Tätigkeiten fähig zu sein und an
ihnen besonderen Gefallen zu finden. Diese Vorstellung ist jedoch
nicht so unproblematisch, wie es womöglich auf den ersten Blick
erscheint. Zunächst bleibt es bei der schon genannten Schwierigkeit,
dass der Bezug auf die biologischen Zwecke fehlt. Wie aber kommt
es dann dazu, dass die Menschen diese Art von Tätigkeit angenehm
finden? Die Natur hat, wie gesagt, kein Interesse an dieser Tätigkeit.
Die reine Theorie hat keine adaptiven Effekte. So dass es hier einer
Erklärung bedarf.
Es kommt hinzu, dass die These, den Menschen sei die reine
Theorie angenehm, vielleicht sogar in höchstem Maße angenehm,
in Verdacht steht, von metaphysischen Wunschvorstellungen abhän-
gig zu sein. Die Menschen haben sich so beschrieben, weil sie sich
auf diese Weise von den Tieren abheben und den Göttern angleichen
wollten. Reine Theorie zu treiben, ist, so die Vorstellung, die Exis-
tenzform der Götter. Und die Fähigkeit der Menschen, dies auch zu
tun, ist etwas Göttliches in ihnen, das zu realisieren besonders ange-
nehm ist. Bei Aristoteles ist diese Vorstellung im 10. Buch der Niko-
machischen Ethik sehr deutlich zu greifen. Das Glück der Menschen
bestehe, so Aristoteles, darin, ihre Fähigkeit zu zweckfreier Theorie
möglichst gut zu realisieren. Wer dies tue, lebe ein göttliches oder
gottähnliches Leben.7 Erst vor diesem metaphysischen Hintergrund
gewinnt die Theorie um ihrer selbst willen ihren besonderen, alles
überstrahlenden Glanz.
Ein weiteres Problem liegt darin, dass viele Autoren die Freude
am Herausfinden, wie sich etwas verhält, auf ein vorgängiges Wollen
beziehen. Sie gehen davon aus, dass die Menschen, wie es wiederum
Aristoteles im ersten Satz der Metaphysik geschrieben hat, von Na-
tur aus nach Wissen streben.8 Aristoteles folgt damit seinem Lehrer
Platon, der das Streben nach Wahrheit und Wissen als ein Wollen
der Vernunft, also des höchsten Seelenteils, verstand.9 Dieses Wol-
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 133
len ist mit der Vernunft selbst gegeben, es verdankt seine Ausrich-
tung nicht der Attraktion durch etwas Angenehmes. Das Aussein
auf Wissen, die Neugierde ist nach diesen Autoren also, wie ich
es formuliert habe, ein eingerammtes Wollen, es ist fest auf einen
Gegenstand fixiert. Wenn es so ist – und auch einige Neurowissen-
schaftler nehmen an, dass es so ist10 –, ist klar, warum es angenehm
ist, etwas zu erkennen und sich theoretisch zu betätigen: weil man
es will. Darin realisiert sich ein basales Wollen, das alle Menschen
haben. Das Angenehmsein ist dann ein satisfaktives Angenehmsein
und damit wollensrelativ.
Ich lasse offen, ob es dieses eingerammte Wissen-Wollen gibt und
ob das korrelierende Angenehmsein aus diesem Grunde wollens
abhängig ist. Auch wenn man diese Hypothese beiseite lässt, bleibt
es möglich und naheliegend, das Angenehmsein des Erkennens auf
andere Weise als wollensabhängig zu verstehen. So könnte, theo-
retisch tätig zu sein, dem Bild entsprechen, das man von sich und
seinem Leben entwirft und das man realisieren möchte. Wenn man
glaubt, dass es Götter gibt, die exklusiv ein theoretisches Leben
führen, und dass es angenehm sein muss, das zu tun, was sie tun,
zumindest annäherungsweise, und wenn man deshalb sein Leben
so einrichten will, dass es diese Lebensform möglichst weitgehend
verwirklicht, dann wird es angenehm sein, reine Theorie zu treiben.
Aber es ist dann wollensabhängig angenehm. Es ist dann wiederum
satisfaktiv angenehm, denn es entspricht einem vorgängigen Wol-
len. Auch wenn man nicht mehr an die Götter glaubt, kann man die
Vorstellung haben, dass ein Leben nur dann gelingen könne, wenn
man die höchsten Potenzen, über die die Menschen verfügen, auch
realisiert. Man will diese Möglichkeiten umsetzen, so stellt man sich
ein – im emphatischen Sinne – menschliches Leben vor. Dann wird
es angenehm und zwar wollensabhängig angenehm sein, das zu tun.
Es entspricht dem Bild eines gelungenen Lebens und dem Wunsch,
ein Leben dieser Art zu führen.
Ein weiterer Aspekt: In einer Kultur, die intellektuelle Tätigkei-
ten besonders schätzt und vielleicht sogar bewundert, kann diese
son and Emotion. Essays on Ancient Moral Psychology and Ethical Theory
(Princeton 1999) 118–137, 121 f.
10 Vgl. z. B. W. Singer: Für und wider die Natur. Was weiß die Wissenschaft,
und was darf sie wissen? (1999), in: W. S.: Der Beobachter im Gehirn. Essays
zur Hirnforschung (Frankfurt 2002) 189–199, 189.
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134 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
Form der Tätigkeit angenehm sein, weil man durch sie zu Ansehen
und Reputation kommt, etwas, was man will. Man muss sich dieser
Verbindung nicht bewusst sein. Dennoch findet man diese Tätigkei-
ten angenehm, weil man untergründig weiß, dass man damit das tut,
was die anderen – und dann auch man selbst – besonders schätzen.
Wenn man die jetzt angeführten Gesichtspunkte zusammenzieht,
entsteht der Eindruck, dass die These, das zweckfreie Erkennen und
Nach-Erkenntnis-Suchen sei wollensunabhängig angenehm, zerbrö-
selt und dass nicht mehr klar ist, wie man über ihre Richtigkeit ent-
scheiden kann. Konkurrierende Sichtweisen sind zumindest ebenso
plausibel. Außerdem bleibt das Problem, dass die These nicht erklärt,
wie es dazu kommt, dass diese Tätigkeit – wie behauptet – wol-
lensunabhängig angenehm ist, trotz des fehlenden Bezugs auf die
biologischen Zwecke. An dieser Stelle klafft eine erhebliche Erklä-
rungslücke. Es scheint also, als komme man zu keinem überzeugen-
den Ergebnis und zu keinem überzeugenden Kandidaten für etwas
mental und doch wollensunabhängig Angenehmes.
Und es sieht so aus, als gelange man auch bei anderen Tätigkei-
ten zu einer ähnlichen Diagnose. Warum ist es, zumindest für einige,
angenehm, zu wandern? Wandern hat offenkundig eine körperliche
Seite. Die Bewegung bringt den Kreislauf auf Touren, und das be-
wirkt ein angenehmes Körpergefühl und ein Wohlbefinden. Dane-
ben können kontrastive Elemente eine Rolle spielen. Man macht
sich frei vom Trubel und Lärm der Stadt, frei von seinen Sorgen und
Bedrängnissen und empfindet das als angenehm. Genauso können
satisfaktive Elemente wichtig sein. Man will aktiv sein, man will in
Ruhe über etwas nachdenken, man will ungestört ein Gespräch füh-
ren. Das Wandern ist in diesen Fällen in ein Wollen eingebettet, das
es angenehm macht. Eine weitere Möglichkeit ist, dass das Wandern
mit glücklichen Assoziationen verbunden ist. Man hat das Wandern
erst richtig aufgenommen mit einer Frau, die man liebte, und jede
Wanderung ist eine Erinnerung an diese große Liebe. Oder man ging
als Kind mit den Eltern wandern, und an den Wandertagen standen
die Kinder besonders im Mittelpunkt und fanden Aufmerksamkeit
und Zuwendung, wie es ansonsten in der Geschäftigkeit des Alltags
nur selten der Fall war.
Warum ist, um ein weiteres Beispiel anzuführen, das Tanzen für
einige angenehm? Auch in diesem Fall steht die körperliche Seite
im Vordergrund, die Bewegung ist sinnlich angenehm. Außerdem
spielt ein sexueller Aspekt hinein, der das Tanzen attraktiv macht.
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 135
Ferner ist das Tanzen eine Tätigkeit, die man lernen muss. Wenn das
Tanzen einigermaßen gelingt oder sogar virtuos gelingt, ist das etwas,
was man, während man es lernte, angestrebt hat. Man realisiert also,
was man wollte, und genießt jetzt die glatt laufende, gelingende Be-
wegung und das Übereinkommen der eigenen Fähigkeiten mit den
Anforderungen, die die Tätigkeit stellt. Genau wie ein Chirurg, der
das besonders komplizierte, fordernde Operieren genießt, wenn es
so läuft, wie er sich das vorstellt. Diese Tätigkeiten sind unter die-
sem Aspekt satisfaktiv und damit wiederum wollensrelativ ange-
nehm. Beim Tanzen können auch kontrastive Elemente hinzukom-
men. Man ist ganz durch diese Tätigkeit gefangen und alles andere ist
vergessen. Eine wichtige Rolle können auch frühes Lob und früher
Tadel spielen. Man hat schon als Kind Tanzunterricht gehabt, und
die Eltern waren sehr darauf aus, das zu fördern. Jeder Erfolg und
jedes Extra-Engagement wurden mit Lob und Belohnung bedacht.
Das Tanzen ist von daher dauerhaft zu etwas geworden, was einen
anzieht und was einem Freude macht. Wenn es deshalb so wirkt, als
sei es wollensunabhängig angenehm, dann nur, weil diese Vorge-
schichte ausgeblendet bleibt. Tatsächlich hat man sich so sehr für das
Tanzen engagiert, weil es gelobt wurde und die Eltern es so wollten.
Die Freude am Tanzen ist unter diesem Aspekt etwas Abgeleitetes.
Und der ursprüngliche Motivator, der Anfang der Bewegung, ist der
Wunsch nach Anerkennung durch die Eltern. Auf dieses Wollen ist
das Angenehmsein auf versteckte Weise bezogen.
Diese Beispiele zeigen erneut, wie viele Aspekte in einem kon-
kreten Fall zusammenkommen können. Spricht angesichts all dieser
Faktoren noch etwas für die These, diese Tätigkeiten seien – auch –
wollensunabhängig mental angenehm? Wenn man das sinnliche
Angenehmsein und die verschiedenen Spielarten des wollensabhän-
gigen Angenehmseins wegnimmt, bleibt dann noch ein Rest, das
gesuchte wollensunabhängige mentale Angenehmsein? Es ist wie-
derum nicht klar, wie man das entscheiden will. Man braucht ein
solches Element nicht, um die Attraktivität des Wanderns oder des
Tanzens zu erklären. Und wenn man dennoch annehmen wollte,
dass es diesen Rest gibt, wie ist dann zu erklären, dass uns diese
Tätigkeiten in dieser speziellen Weise angenehm sind? Einen Zusam-
menhang mit den biologischen Zwecken wird man kaum aufdecken
können. Außerdem ist es keineswegs allen Menschen angenehm, zu
wandern oder zu tanzen. Auch diese Beispiele bieten also offenbar
keine klaren Kandidaten für den gesuchten Typus des Angenehmen.
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136 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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138 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
13 Vgl. Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 38; dt. 56; ders., The Reasons
of Love, 45; dt. 49 f.
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 139
Menschen, weil sie wissen, dass, wenn sie isoliert sind, ihre geistige
Vitalität, ihre Fähigkeit, sich für andere und anderes zu öffnen, Scha-
den leidet. Das wollen sie nicht. Auch deshalb ist es angenehm, mit
anderen zusammen zu sein.
Aus dem Gesagten ergibt sich, scheint mir, dass auch die »social
pleasures« keine überzeugenden Kandidaten für etwas mental und
wollensunabhängig Angenehmes sind. Auch sie sind eingebettet in
vorgängige Wünsche und von diesen abhängig.
Ein dritter Vorschlag besagt, das ästhetische Angenehmsein sei
wollensunabhängig, es sei eine autochthone Form des Angenehmen.
Diese These ist sicherlich am schwersten zu beurteilen. Die Philo-
sophen lassen uns in dieser Sache, soweit ich sehe, genauso im Stich
wie die Wissenschaftler. Sie bieten kaum mehr als einige ambitiöse
Intuitionen. Nehmen wir, um Konkretion zu gewinnen, den Fall,
dass uns das Hören von Musik gefällt. Menschen ist es angenehm,
Musik zu hören, und zwar offenbar als einzigen Lebewesen. Selbst
Schimpansen kennen dieses Angenehmsein nicht.14 Finden wir hier
das gesuchte Angenehmsein?
Zuallererst hat, dass einem Musik gefällt, natürlich eine sinnli-
che Seite. Etwas zu hören, ist angenehm. Die Töne und Tonfolgen
wirken auf den Körper und das Hörsystem ein, und bestimmte to-
nale Beziehungen und Tonmuster sind den Menschen unabhängig
von jedem Wollen angenehm. Sie finden, was sie hören, interesse-
los schön. Wobei allerdings unklar bleibt, wodurch sich der Unter-
schied zu den anderen Lebewesen erklärt. Man genießt die Musik
vermutlich intensiver, wenn man von klein auf musikalisch trainiert
wurde. Man hat gelernt, was es überhaupt zu hören gibt, und hört
mehr und anders. Durch die höhere Sensibilität wird das sinnliche
Erlebnis gesteigert. Angesichts dieses sinnlichen Geschehens ist es
keineswegs klar, was es heißen könnte, Musik zu hören, sei daneben
auch mental angenehm.
Dann gibt es eine ganze Reihe von Aspekten, unter denen das
Hören von Musik wollensabhängig angenehm ist. Ein erster Aspekt
hängt mit dem gerade Gesagten zusammen. Wenn man etwas über
die Musik weiß, wenn man etwas von ihr versteht, kommen auch sa-
tisfaktive Elemente ins Spiel. Man hat sich mit Musik beschäftigt, sie
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140 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
studiert, und es ist angenehm, zu erleben, wie das, was man sich an-
geeignet hat, in das Aufnehmen der Musik einfließt und es bereichert.
Auch kontrastive Elemente können eine Rolle spielen. Sie spie-
len häufig, meine ich, sogar eine große Rolle. Zunächst kann Musik
angenehm sein, weil sie entspannt, beruhigt und zerstreut. Sie kann
auch angenehm sein, weil sie aus der Stumpfheit des Alltags heraus-
hebt. Sie ist etwas Besonderes, Außergewöhnliches, verlangt Kön-
nen und Meisterschaft. Oder man verliert sich in der Musik, man
ist bei nichts anderem, die Welt versinkt, nichts beschwert einen,
man genießt dieses Entrückt- und Verzaubertsein, diesen Zustand
der Sorglosigkeit, der Untätigkeit und der Wollenslosigkeit. Man
findet eine Insel der Ruhe im Getöse des Lebens, des Tätigseins
und Ausseins auf etwas. Verschiedene Weisheitslehren haben diesen
Zustand der Untätigkeit und der Wollenslosigkeit in hellen Farben
ausgemalt und als besonders attraktiv gepriesen. Die Musik vermag
uns in diesen Zustand zu führen. Ihr Angenehmsein kommt unter
diesem Aspekt aus dem Kontrast, aus etwas, an dem wir leiden oder
zumindest leiden können, dem dauernden Tätigsein und dem nicht
abreißenden Strom von Gedanken, Überlegungen, Plänen, Sorgen,
Hoffnungen und Befürchtungen, die uns in Atem halten.
Häufig wird das Angenehmsein der Musik wesentlich dadurch
erklärt, dass sie in uns Gefühle und Stimmungen erzeugt15, so zum
Beispiel Gefühle der Lebenslust, Heiterkeit, Beschwingtheit, Ge-
fühle der Erhabenheit, der Kraft und der Macht. Diese Gefühle sind
angenehm, und sie gehen mit einem Wohlbefinden einher. Sie sind
deshalb etwas, was wir wollen. Die Musik versetzt uns zweifellos in
Zustände, die uns gefallen und die wir wollen. Dieses Auslösen der
Gefühle durch die Musik ist etwas sehr Merkwürdiges. Denn nor-
malerweise reagieren wir mit Gefühlen und Stimmungen auf etwas,
was in der Welt oder in unserem Leben geschieht. Man ist freudig
gestimmt, wenn etwas gelungen ist, was man sich sehr gewünscht
hat, und in diesem Licht alles leicht und einfach erscheint. Die Musik
evoziert Gefühle, wie es scheint, auf eine ganz andere Weise, gewis-
sermaßen ohne Blick auf die Welt, vielmehr direkt durch den Klang
der Töne. Als würde eine Gehirnregion durch eine Sonde stimuliert,
mit dem Ergebnis, dass in einem – weltlos – ein angenehmes Gefühl
aufsteigt. Diese Macht der Musik eröffnet, darauf haben viele Auto
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142 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
16 Diesen Zusammenhang von Angst vor der Langeweile und dem Inter-
esse an der Selbsterhaltung hat bereits H. Frankfurt zur Sprache gebracht.
Vgl. The Reasons of Love, 53 ff.; dt. 59 f.; ebenso I. Kant: Anthropologie in
pragmatischer Absicht (1789), AA VII, 233.
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146 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
Riviera sitzen sieht. Ein Bild des Angenehmen wirkt in diesen Fäl-
len auf das zurück, was dieses Bild auslöst. Man kann das ehema-
lige Haus der Eltern nicht mehr betreten wollen, weil man dort als
Kind vor Jahrzehnten von seinem Vater geschlagen und geprügelt
wurde. Das Haus ist einem bleibend unerträglich. Man will nicht
einmal mehr in seine Nähe kommen. Fast alles, was uns begegnet,
ist assoziativ mit anderem und gerade auch mit Angenehmem und
Unangenehmem verknüpft, so dass es über die Fäden der Asso-
ziation oft eine angenehme oder unangenehme Färbung gewinnt.
Dinge, die für sich genommen indifferent sind, können durch die
Assoziationen, die sie auslösen, attraktiv oder unattraktiv werden
und dadurch ein Wollen oder Nicht-Wollen auf sich ziehen. Und
Dinge, die für sich genommen angenehm sind, können durch den
assoziativen Transfer auch unangenehm werden, und das Unange-
nehmsein kann das Angenehmsein sogar überwiegen. Genauso um-
gekehrt. Die Menschen assoziieren auf Grund unterschiedlicher Er-
fahrungen und unterschiedlicher Erinnerungen Verschiedenes. Das
erklärt einen Teil der individuellen Unterschiede in der Ausrichtung
ihres Wollens.
(iii) Der Einfluss des sinnlich Angenehmen und Unangenehmen
vergrößert sich im Zusammenspiel mit anderen originären Motiva-
toren noch auf eine andere Weise. Auch diese Extension hängt mit
dem Zukunftsbewusstsein zusammen. Wenn den Menschen die Mo-
ral so wichtig ist, weil sie vor Verletzungen, vor Ausgrenzung und
Diskriminierung, vor Zurücksetzung und Benachteiligung schützt,
dies Letzte alles Dinge, die sie nicht wollen, weil sie auf Anerken-
nung und Dazu-Gehören aus sind, ergibt es sich von selbst, dass
sie von anderen Menschen wollen, dass sie sich moralisch verhalten,
und zwar nicht nur unter dem Druck der moralischen Norm, son-
dern aus einer verlässlichen charakterlichen Disposition heraus. Auf
diese Weise wird die Einstellung zur Moral ein wesentliches Krite-
rium dafür, was ein guter und was ein schlechter Mensch ist. Und
dieses Kriterium gilt dann nicht nur für die anderen, sondern auch
für einen selbst. Wenn man überlegt, wie man sein und leben will,
gewinnt die Einstellung zur Moral und die moralische Verlässlich-
keit auf diese Weise erhebliche Bedeutung. Der Wunsch, moralisch
zu sein, wird in dem Bild, das man von sich selbst und seinem Le-
ben hat und haben will, verankert, man identifiziert sich, wie man
sagt, mit diesem Wunsch, und dadurch gewinnt er ein ganz neues
Gewicht. Das führt unter anderem dazu, dass man, wenn man sich
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 149
kann als so groß empfunden werden, dass der Wunsch, sie zu be-
enden, sogar den Wunsch, weiterzuleben, überwiegt. Das mag sich
übertrieben anhören, gleichwohl ist es ein bekanntes Phänomen.
Man denke an den Kaufmann, der bankrott geht und das nicht er-
trägt. Wobei, was er nicht erträgt, genau genommen die unterstell-
ten stigmatisierenden Gedanken und Urteile der anderen sind. Oder
man denke an den, der im Affekt einen anderen Menschen getötet
hat und damit nicht leben kann.
Es unterscheidet die Menschen von allen anderen Lebewesen,
dass für sie etwas anderes wichtiger sein kann als weiterzuleben –
und natürlich auch als sich fortzupflanzen. Dies, obwohl die ori-
ginären Motivatoren, die ich aufgezählt habe, alle in deutlichem
Zusammenhang mit den biologischen Zwecken der Selbst- und Art
erhaltung stehen. Es ist sehr wichtig, zu verstehen, was dieses ein-
zigartige Faktum erklärt. Es erklärt sich, so meine ich, daraus, dass
die Menschen ein kritisches, ein evaluatives Verhältnis zu ihrem
eigenen Leben haben und selbst Standards des besser und schlech-
ter, des Gelingens und Misslingens entwickeln. Und dies wiederum
gründet in ihrem Zukunftsbewusstsein. Nur weil sie in die Zukunft
ausgreifen, imaginieren sie verschiedene Möglichkeiten auch für ihr
Leben und kommen nicht umhin, sie zu vergleichen und nach besser
und schlechter zu beurteilen. Das führt unweigerlich dazu, dass sie
auch ihr Leben, wie es faktisch ist, in diesem evaluativen Licht se-
hen und beurteilen. Wenn die Diskrepanz zwischen dem gewollten
guten Leben und dem faktischen Leben zu groß wird oder als zu
groß empfunden wird, kann einem das Leben unerträglich werden,
und der Wunsch, das, was man nicht ertragen kann, zu beenden,
kann, wie gesagt, stärker werden als der elementare Wunsch, wei-
terzuleben. Nicht nur der Wunsch, Schmerzen nicht mehr ertragen
zu müssen, kann also den Wunsch, weiterzuleben, überwiegen. Im
jetzigen Kontext kommt es darauf an, zu sehen, dass man dieser
Besonderheit des menschlichen Wollens und Lebens gerecht wer-
den kann, ohne andere originäre Motivatoren einzuführen als die
bisher genannten.
(vi) Wir müssen im Rahmen der jetzigen Überlegungen noch
einmal auf die formalen Wünsche zurückkommen, die Wünsche
nach Freiheit und Handlungsmacht. Sie sind an dieser Stelle aus
zwei Gründen von Belang. Zunächst: Die Menschen haben diese –
extrinsischen – Wünsche notwendigerweise, was immer sie intrin-
sisch wollen. Das heißt, dass es dafür, dass sie diese Wünsche haben,
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sich noch, weil das neue Angenehme mit etwas Angenehmem kon-
kurriert, der sexuellen Lust, das aufs Engste mit dem biologischen
Zweck der Fortpflanzung verbunden ist. Durch die religiösen Vor-
stellungen wird es also möglich, dass eine basale, sinnliche Lust in
ihr Gegenteil umgedeutet wird. Es zeigt sich damit, dass selbst das
sinnlich Angenehme, das unmittelbar auf die biologischen Zwecke
bezogen ist, durch die Imagination umgepolt werden kann.
Diese, wie Nietzsche gesagt hat, »Umwertung der Werte« ist
unter religiösen Vorzeichen überall möglich. Etwas Angenehmes
verkehrt sich in etwas höchst Unangenehmes und etwas Unange-
nehmes in etwas höchst Angenehmes. Ein Leben in Verzicht und
Enthaltsamkeit kann als angenehm imaginiert und deshalb gewollt
werden. Ein Leben in Armut kann als gottgefällig vorgestellt wer-
den, Reichtum als etwas, was Gott missfällt, so dass Reiche ihr Ver-
mögen weggeben, um vor Gott gut dazustehen. In einem Kreuz-
zug erscheint, andere zu töten und zu unterwerfen, als ein Werk
der Heiligkeit, das Gott gefällt und ihn mit Freude erfüllt. Selbst
Schmerzen zu haben und zu leiden, kann zu etwas (auch) Angeneh-
mem werden, weil das Leiden, so eine christliche Vorstellung, eine
imitatio Christi darstellt. Oder das Unangenehme des Leidens wird
zumindest durch die Vorstellung gebrochen, dass es, weil Gott es
zulässt, letztlich einen guten, wenn auch unverstandenen Sinn haben
muss. Die göttliche Alchemie vermag es, aus etwas, was niemand
will, Gold zu machen und das, was alle wollen, in wertloses Zeug
zu verwandeln.
Offenkundig muss es nicht immer gleich zu solchen »Umwer-
tungen« kommen. Es kann auch sein, dass etwas, was uns bereits
diesseits religiöser Vorstellungen gefällt, durch solche Vorstellungen
auf eine zusätzliche Weise angenehm wird. So hat man zum Beispiel
Musik immer wieder als Offenbarung und Gegenwart des Absolu-
ten verstanden. In der Musik finden wir, so eine Vorstellung, einen
Vorschein einer anderen, jenseitigen und ungeheuer attraktiven Welt.
Wer die Musik so versteht und sie in dieser Deutung hört, dem ist
sie auf ganz neue Weise angenehm.
Wenn man sich bewusst gemacht hat, wie durch religiöse Vorstel-
lungen neue und zum Teil genau entgegengesetzte Attraktoren und
Repulsoren entstehen, kann man fragen, ob auf diese Weise auch
neuartige originäre Antriebskräfte eingeführt werden oder ob das
Wasser, das aus den Quellen der bekannten originären Motivatoren
kommt, durch die Imagination nur in eine neue Richtung gelenkt
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154 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
wird. Es scheint, als treffe eher die zweite Annahme zu. Warum
ist es den Menschen, die diesen religiösen Vorstellungen anhängen,
angenehm, vor Gott gut dazustehen, ihm zu gefallen und seine An-
erkennung zu finden? Weil die Menschen anerkannt werden wol-
len von den anderen und, wenn sie an Gott glauben, auch von Gott
und gerade von Gott. Denn sein Urteil stützt sich wie keines der
Menschen auf sicheres Wissen, sein Urteil ist wie kein anderes un-
voreingenommen und unparteiisch. Wenn man seine Anerkennung
findet, dann ist man wirklich gut. Das Angenehmsein des Vor-Gott-
gut-Dastehens ist satisfaktiv angenehm; in ihm erfüllt sich, was die
Menschen wollen: Anerkennung. Dieses eingerammte Wollen haben
sie aber unabhängig von allen Imaginationen religiöser oder anderer
Art. Es kommt also keine neue originäre Motivation hinzu.
Und was befürchten die Menschen, wenn sie Angst haben, von
Gott bestraft zu werden? Was ist das Unangenehme, das ihnen
droht? Und was das Angenehme, was ihnen im Jenseits verheißen
wird? Natürlich stößt man mit diesen Fragen in einen Nebel. Es
bleibt unklar, was einem konkret droht und worauf man konkret
hoffen kann. Die Wirkung dieser Vorstellungen ist unabhängig von
ihrer Konkretisierung. Es reicht, sich vorzustellen, dass eine Strafe
Gottes schlimm sein wird, worin auch immer sie bestehen wird, und
dass eine Belohnung etwas Wunderbares sein wird. Wenn doch et-
was gesagt wird, trifft man auf recht einfache Vorstellungen, die
mit den Formen des Angenehmen operieren, die wir kennen. So
gibt es die Vorstellung, für eine besonders entsagungsvolle gottge-
fällige Handlung, vielleicht für die Opferung des eigenen Lebens,
werde man mit einer stattlichen Zahl von Jungfrauen belohnt, also
mit sexuellem Vergnügen und unendlicher sexueller Erfüllung. Oder
man wird bestraft, indem man an einen Ort kommt, tief unter der
Erde, wo völlige Finsternis herrscht, wo Ströme kochenden Was-
sers fließen und es unerträglich heiß ist, wo man in Schlamm und
Kot existiert und wo es nur einen fauligen, übel riechenden Fraß zu
essen gibt.
All dies sind Formen des sinnlich Angenehmen und Unangeneh-
men, also die deutlichsten Exempel des wollensunabhängigen Ange-
nehmen. Auch an dieser Stelle scheinen also keine neuen originären
Motivatoren hinzuzukommen. Der italienische Renaissance-Philo-
soph Lorenzo Valla hat sich in seiner Schrift De voluptate sive de
vero bono ausführlich mit der Frage beschäftigt, welche Freuden auf
die Menschen im Jenseits warten. Er stellt sich ebenfalls eine Redu-
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 155
plikation des Angenehmen vor, das wir aus dem diesseitigen Leben
kennen, allerdings in der für das Jenseits typischen Steigerung.17 So
wird es wunderbare Dinge zu sehen geben, die süßesten Stimmen
und Klänge werden das Ohr erfreuen, die Körper werden einen
wunderbaren Wohlgeruch ausströmen, die Speisen und Getränke
werden unbeschreiblich angenehm sein, »eine beständige Süßigkeit
wird«, so Valla, »in unserem Munde haften bleiben«, von der Hitze
wird man in den kühlen Schatten wechseln, von der Kälte in die
Wärme.18 Das sind offensichtlich alles Varianten des Angenehmen,
die uns, wenn auch nicht in dieser Intensität, vertraut sind. Valla fügt
aber noch einiges Angenehme hinzu, das es in unserem Leben nicht
gibt: die Lust, wie die Vögel zu fliegen, die Lust, über Halme und
über Wasser zu gehen, die Lust, so schnell wie ein Tiger zu sein, die
Lust, niemals zu ermatten, Hitze und Frost zu ertragen und ande-
res dieser Art.19 Dieses Angenehme resultiert offenbar daraus, dass
man Begrenzungen, wie sie für das menschliche Leben typisch sind,
überwindet. Valla sagt nichts darüber, warum diese Tätigkeiten und
Leistungen angenehm sind. Er hält es wohl für evident, dass es so
ist. Dem liegt vermutlich die unausgesprochene Prämisse zugrunde,
dass wir uns an unseren Grenzen stoßen, dass wir sie nicht wollen,
dass wir leidvoll erfahren, dass wir diese Dinge nicht können. Wenn
es so ist, ist es kontrastiv angenehm, diese Grenzen zu überwinden.
Wenn man darunter leidet, zu ermatten, ist es kontrastiv angenehm,
immer weitermachen zu können. Das kontrastive Angenehme ist in
dieser Form offenkundig wollensabhängig, mithin kein originärer
Motivator.
Es scheint also, als bedürften die weitreichenden religiösen Vor-
stellungen, die jetzt beispielhaft angeführt wurden, keiner neuen ori-
ginären Motivatoren. Auch ohne dies ist es möglich, durch die Ima-
gination das Wollen auf völlig neue Gegenstände auszurichten. Die
Macht der Imagination auf die Ausrichtung des Wollens ist gewaltig.
Sie vermag sogar die Ausrichtung auf die biologischen Zwecke zu
unterlaufen, indem sie das ihnen entsprechende Verhalten als un
angenehm imaginiert und das ihnen zuwiderlaufende als angenehm.
17 L. Valla: Von der Lust oder Vom wahren Guten / De voluptate sive de
vero bono, lat.-dt. Ausgabe, hg. u. übers. v. P. M. Schenkel, eingel. v. E. Kess-
ler (München 2004) III, XXIV, S. 344–359.
18 Ebd. III, XXV, 9–12, S. 350–353.
19 Ebd. III, XXVI, 13, S. 352–355.
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156 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
Ich möchte noch drei kurze Bemerkungen über den Einfluss der
Imagination auf die Vorstellungen des Angenehmen und Unange-
nehmen nachtragen: Zunächst ist leicht zu sehen, dass die Menschen
auf Grund ihres Zukunftsbewusstseins und ihrer Fähigkeit, Ange-
nehmes produktiv zu imaginieren, eine Vielzahl von Dingen wol-
len. Sie wollen sehr viel, sehr viel mehr als sie realisieren können.
Das muss Auswirkungen auf die Art ihres Lebens haben. Und es ist
eine eigene Aufgabe, sich über diese Auswirkungen klarzuwerden.
Einige glauben, weil die Menschen so vieles wollen, seien sie dazu
verurteilt, Getriebene zu sein, sie könnten niemals einen Zustand der
Ruhe und Zufriedenheit erreichen, weil immer noch so viel Gewoll-
tes offen und unerreicht sei. Dem Sog des Immer-weiter sei nicht
zu entkommen. Die Imagination, so hat Bertrand Russell bemerkt,
ist »der Stachel«, der die Menschen in rastlose Aktivitäten treibt.20
Doch das kann nicht die ganze Wahrheit sein. Denn die Menschen
können, weil sie unter dem Getriebensein leiden, den Wunsch ent-
wickeln, sich davon frei zu machen. Sie setzen diesen – höherstu-
figen – Wunsch, der auf etwas kontrastiv Angenehmes geht, dem
anderen Wollen entgegen, und dann ist die Frage, wie viel Gewicht
er gewinnt und wie das Regime des Wollens ausfällt.
Dann, zweitens: Die Ausführungen zur Imagination des Ange-
nehmen und Unangenehmen stoßen einen erneut darauf, dass die
Imagination selbst der Steuerung und Lenkung bedarf. Man kann
viel und wenig imaginieren, man kann in diese Richtung imaginieren
oder in jene. Hier bestehen große Spielräume. Aber nicht alles, was
man da tut, ist tunlich und zuträglich. Wie bereits erwähnt, glaubte
Kant, man könne zu viel und das Falsche imaginieren, weshalb es
einer »Moderation« der Vorstellungskraft bedürfe. Kant nimmt da-
mit einen Gedanken auf, der vor allem in der stoischen Philosophie
zur Geltung gebracht wurde. Die richtige Lenkung der Imagina
tionskraft bildet, so lehrten die Stoiker, ein wichtiges Element eines
geglückten Lebens. Sie empfahlen deshalb »Exerzitien« der Einbil-
dungskraft. Man kann und soll die imaginative Praxis trainieren und
sie auf die richtige Weise ausüben.21 Angesichts religiöser Vorstellun-
gen drängt sich vor allem ein Aspekt auf: die Notwendigkeit e iner
20 B. Russell: Power (1938, London 1975) 7 f.; dt. Macht (Zürich 22010) 8.
21 Siehe hierzu bes. P. Hadot: La citadelle intérieure. Introduction aux Pen-
sées de Marc Aurèle (Paris 1997, zuerst 1992) 62 ff.; dt. Die innere Burg
(Frankfurt 1997) 78 ff.
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 157
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158 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 6 Formen des Angenehmen und die Ausfächerung des Wollens 159
5. Abschließende Bemerkungen
Wir können jetzt die Frage, die zu Beginn des 5. Kapitels formuliert
wurde, beantworten. Worauf geht das menschliche Wollen? Was be-
stimmt seine Ausrichtung? Was sind die originären Motivatoren? Es
sind das eingerammte Wollen und das wollensunabhängige Ange-
nehme. Das eingerammte – nicht-hedonische – Wollen bringt seine
Gegenstände mit. Es setzt keine vorgängigen Motivatoren voraus.
Das andere – hedonische – Wollen geht hingegen auf einen vor-
gängigen Attraktor, das wollensunabhängige Angenehme. Dieses
Angenehme geht dem Wollen voraus und attrahiert es. Das Set der
originären Motivatoren ist, so scheint es, relativ klein. Aber durch
ihre Kombination und vor allem durch die Möglichkeiten und auch
die Notwendigkeiten, die durch das Zukunftsbewusstsein und die
Imaginationsfähigkeit entstehen, kommt es, wie gezeigt, zu einer
Entwicklung des menschlichen Wollens und seiner Gegenstände
weit über diesen Ursprung hinaus. Wenn man die Imagination nicht
kontrolliert und bändigt, kann praktisch alles zum Gegenstand des
Wollens werden.
Möglicherweise kann man das Erreichte noch deutlicher kontu-
rieren, indem man noch einmal fragt, wie sich im Licht der zurück-
liegenden Überlegungen die Antriebsstruktur der Menschen, die Be-
stimmung ihres Wollens von der der anderen Lebewesen, die auch
etwas wollen, unterscheidet. Zunächst gibt es eine unübersehbare
Kontinuität. Das ist nicht überraschend. Denn die motivationale
Maschinerie der Menschen ist offenkundig ein Abkömmling und
eine Fortsetzung der entsprechenden Maschinerie bei ihren nächs-
ten Verwandten. So kommt das eingerammte Wollen aus entspre-
chenden Reiz-Reaktionsmechanismen bei den Tieren. Wo die Tiere
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160 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
in ihrem Verhalten fest verdrahtet sind, haben die Menschen ein auf
die entsprechenden Gegenstände gerichtetes Wollen. Und auch das
wollensunabhängige Angenehme schließt eng an elementare For-
men des Angenehmen an, wie wir sie von Tieren kennen. Dieser
Rahmen, der Rahmen der originären Motivatoren, zeigt also eine
große Kontinuität. Aber innerhalb dieses Rahmens verändert sich
fast alles. Drei entscheidende Veränderungen seien noch einmal ge-
nannt: Durch das Zukunftsbewusstsein wird – erstens – der Raum
für das instrumentell Gewollte unermesslich groß. Und es entste-
hen vielstufige Kaskaden des abgeleiteten Wollens. Zweitens, eben-
falls durch das Zukunftsbewusstsein bedingt, wird das eigene Leben
und das eigene Selbst zu einem Gegenstand des Wollens. Das führt
zu erheblich komplexeren Strukturen des Wollens. Und schließlich
kommt es durch die menschliche Imaginationskraft, die ihrerseits
bei den meisten ihrer Leistungen die Sprache voraussetzt, zu unbe-
grenzt vielen Möglichkeiten, etwas als angenehm oder unangenehm
zu imaginieren.
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§ 7 Vernunft und Wollen
Das Wollen geht, so das Ergebnis der letzten beiden Kapitel, zum
Teil auf fest fixierte Ziele und zum anderen, größeren Teil auf das
Angenehme und Unangenehme. Aber gibt es wirklich nur diese bei-
den Möglichkeiten? Gibt es nicht noch andere Möglichkeiten in der
Bestimmung des Wollens? Drei alternative Ideen habe ich bereits er-
wähnt: Es gebe, so eine erste Vorstellung, noch andere Attraktoren
und Repulsoren für das Wollen, nämlich das Gute und das Schlechte.
Eine andere Konzeption meint, es sei schon richtig, dass das Ange-
nehme das Wollen anzieht, aber es gebe einen Spielraum, in dem man
überlegen und entscheiden könne, ob das Wollen dem Angenehmen
tatsächlich folge oder nicht. Und eine dritte Idee votiert schließlich
dafür, dass es noch eine ganz andere Ressource für die Bestimmung
des Wollens gebe, nämlich das Überlegen oder, anders gesagt, die
Vernunft. Das Wollen reagiere nicht nur auf vorgängige Attrakto-
ren, sondern werde durch die Vernunft auch aktiv gesteuert und auf
bestimmte Gegenstände gerichtet. Alle drei Ideen sind tief in der
Geschichte des europäischen Denkens verwurzelt. Alle drei haben
großen Einfluss ausgeübt. Dennoch sind sie alle falsch. Sie zeichnen
ein falsches Bild davon, wie die Menschen ihr Verhalten steuern.
Es ist die Aufgabe dieses Kapitels, dieses Urteil zu erläutern und
zu begründen. Die zweite Idee wurde bereits zurückgewiesen1, den-
noch werde ich noch einmal auf sie zurückkommen. Im Kern geht
es um zwei Fragen: Erstens, sind das Gute und das Schlechte al-
ternative Attraktoren und Repulsoren? Und zweitens, in welcher
Form wirkt die Vernunft auf die Ausrichtung des Wollens ein? Es
ist dabei sehr wichtig, sich daran zu erinnern, dass es in diesem Teil
der Untersuchung um die Ausrichtung des intrinsischen Wollens
über dem Strich geht. Es geht nicht um das Wollen unter dem Strich,
also um das Wollen, das aus der Konkurrenz der vielen Dinge, die
man will, als Sieger hervorgeht und deshalb handlungsleitend wird.
Ich beginne mit der Vorstellung, das Gute und das Schlechte seien
dem Wollen vorausgehende und von ihm unabhängige Attrakto-
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162 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
ren und Repulsoren. Da man nicht bestreiten kann, dass das An-
genehme und Unangenehme Anziehungs- und Abstoßungspunkte
für das Wollen sind, kann die These nur sein, dass das Gute und
das Schlechte auch – neben dem Angenehmen und Unangeneh-
men – eine anziehende und abstoßende Wirkung haben. Es wäre
also falsch, das Wollen generell als Hunger nach dem Guten zu
bestimmen und zu sagen, alles Wollen richte sich auf etwas Gutes.
Das stimmt nicht für das Wollen, das auf das Angenehme geht. Und
es stimmt auch nicht für das eingerammte Wollen. Die Vorstellung,
dass ein Teil des menschlichen Wollens sich auf das Gute richtet,
geht auf Platon und Aristoteles zurück. Sie unterscheiden mehrere
Seelenteile mit jeweils spezifischen Arten des Wollens. Das Wollen
eines Seelenteiles gehe, so nahmen sie an, auf das Angenehme, und
das Wollen eines anderen, höheren Seelenteiles auf das Gute.2 Dabei
sahen sie in dem auf das Gute gerichteten Wollen das Streben, durch
das sich die Menschen von den übrigen Lebewesen abheben. Die
anderen Arten des Wollens teilen sie hingegen mit nicht-mensch-
lichen Lebewesen.
Wenn man diese Annahme, dass das Gute ein Attraktor des Wol-
lens ist, prüfen will, muss man sich zunächst klarmachen, dass sie nur
dann einen Sinn ergibt, wenn für die Rede vom Guten Folgendes gilt:
(i) Dass etwas gut ist, kann nicht einfach bedeuten, dass es gewollt
ist. So ist »gut« immer wieder verstanden worden, zum Beispiel von
Hobbes.3 Aber in diesem Verständnis wäre das Gutsein von etwas
natürlich nichts, was dem Wollen vorausginge und von ihm unab-
hängig wäre.
(ii) Dass etwas gut ist, kann auch nicht einfach bedeuten, dass es
angenehm ist. Auch so wurde »gut« gelegentlich verstanden.4 Aber
dann würde keine alternative These vertreten, sondern das schon
Gesagte nur in anderen Worten wiederholt.
(iii) Das Gutsein von etwas muss schließlich nicht nur von dem
Wollen unabhängig sein, das es, wie die These annimmt, attrahiert,
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§ 7 Vernunft und Wollen 163
es muss von jedem Wollen unabhängig sein. Denn sonst wäre es kein
originärer Motivator, weil ihm mit dem Wollen schon ein anderer
Motivator vorausginge. Außerdem wäre das auf das Gute gerichtete
Wollen dann kein intrinsisches, sondern ein extrinsisches Wollen.
Folgendes Beispiel kann das verdeutlichen. Ich stehe vor einer kom-
plizierten Herzoperation, und ich will von einem möglichst erfah-
renen Chirurgen operiert werden. Denn es ist gut, wenn in einem
solchen Fall ein erfahrener Chirurg operiert. Mein Wollen folgt also
dem Guten. Wenn dieses Gutsein nun aber auf ein anderes Wollen
relativ ist, wenn, von einem möglichst erfahrenen Chirurgen ope-
riert zu werden, deshalb gut ist, weil es etwas verspricht, was ich will,
nämlich dass die Operation gelingt, dann will ich etwas, weil ich et-
was anderes will. Ich will von einem erfahrenen Chirurgen operiert
werden, weil das gut ist, es ist aber gut, weil es etwas wahrscheinlich
macht, was ich will: den Erfolg der Operation. Das Gutsein ist auf
dieses zweite Wollen relativ, und deshalb ist das erste Wollen ein nur
derivatives, sprich: extrinsisches Wollen.
Die alternative Konzeption muss also annehmen, dass das Gute
wollensunabhängig ist. In der Regel wird das Gute dann als von al-
len mentalen Zuständen unabhängig verstanden, als ein Teil der ob-
jektiven Wirklichkeit. Oft spricht man statt vom Guten auch vom
Wertvollen oder von Werten und nimmt an, Werte seien Teil der
subjektunabhängigen, ontologisch objektiven Wirklichkeit. Aber
das ist nur eine andere Formulierung für dasselbe. Es gibt hiernach
also in der von uns und auch dem Geist anderer Lebewesen unab-
hängigen Wirklichkeit Attraktoren und Repulsoren. Die objektive
Wirklichkeit ist nicht indifferent und neutral, sie bietet dem Wollen
vielmehr Anziehungs- und Abstoßungspunkte, eben das Gute und
Schlechte. Während das Angenehme, wie wir sahen, selbst etwas
Subjektives ist. Angenehm kann etwas nur sein, wenn es als ange-
nehm empfunden wird.
Nach dieser Konzeption erkennt zunächst der menschliche In-
tellekt, dass etwas gut ist, und das Wollen richtet sich dann infolge
dieser Erkenntnis auf das Gute aus. Dabei kann es passieren, dass
man meint, etwas sei gut, ohne dass es so ist. Das Wollen geht dann
dennoch auf diesen Gegenstand. Es geht also auf das, was gut zu sein
scheint. Aristoteles hat vom phainomenon agathon gesprochen. Wie
ein Teil des Wollens auf das als angenehm Empfundene geht, geht
ein anderer Teil des Wollens auf das tatsächlich oder vermeintlich
als gut Erkannte.
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164 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 7 Vernunft und Wollen 165
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166 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
etwas ist, worauf die Natur zielt, etwas, was die Natur will. Auch
dieses Gutsein wird also unter der Hand als wollensrelativ verstan-
den. Und wenn wir uns bewusst machen, dass es diese Teleologie
unabhängig von uns nicht gibt, dass wir sie den kausalen Prozessen
der Natur imponieren, dass also die Natur nichts will, dann entfällt
die Möglichkeit, in dieser Weise vom Gutsein und vom Guten zu
sprechen. Wir haben schon gesehen, dass die biologischen »Zwecke«
in Wahrheit keine Zwecke sind. Sie sind Effekte, die sich einstellen,
wenn die Lebewesen sich in bestimmter Weise verhalten. Genauso
ist das Gedeihen der Pflanzen nichts Gutes, es ist ein Effekt, den
bestimmte Umstände nach sich ziehen. Erst wenn wir wollen, dass
die Pflanzen gedeihen, verändert sich die Situation; dann können wir
mit allem Recht sagen, dass es gut ist, dass sie ausreichend Wasser
bekommen. Aber dann ist das Gutsein offenkundig wollensrelativ.
Der Auffassung, alles Gutsein sei wollensrelativ, wird auch immer
wieder entgegengehalten, dass wir doch die Dinge, die wir wollen,
deshalb wollen, weil sie gut sind, und sie nicht gut sind, weil wir sie
wollen. Ich will doch dieses Auto kaufen, weil es gut ist, und es ist
nicht dadurch gut, dass ich es kaufen will. Natürlich ist es so, aber
darin liegt kein Argument. Ich will den Mercedes kaufen, weil er
gut ist, und dieses Wollen folgt dem Gutsein und konstituiert es
nicht. Aber das heißt nicht, dass das Gutsein des Autos nicht auf ein
anderes Wollen relativ ist. Und tatsächlich ist es so. Ich will, wie an-
dere auch, von einem Auto, dass es bestimmte Leistungen erbringt.
Und weil dieser Mercedes das tut, ist er ein gutes Auto. Und des-
halb will ich ihn kaufen. Das Gutsein ist nur eine Brücke, die von
einem Wollen zum anderen führt. Und deshalb ist es wollensrelativ.
Das Kaufen-Wollen dieses Autos ist abgeleitet von einem anderen,
allgemeineren Wollen.
All dies bedeutet, dass es das Gute, das sich die alternative Kon-
zeption als zweiten Attraktor für das Wollen vorstellt, gar nicht
gibt. Diese Konzeption handelt mit Waren, die es in Wirklichkeit
nicht gibt. Wenn das Gute aber wollensrelativ ist, ist es kein origi-
närer Motivator. Und dann ist, wie gezeigt, das Wollen, das auf das
Gute geht, kein intrinsisches, sondern ein extrinsisches Wollen. Wir
können die Idee, ein Teil des intrinsischen Wollens über dem Strich
gehe auf einen neben dem Angenehmen zweiten Attraktor, das
Gute, also zurückweisen. Wir können damit auch die Vorstellung,
die vom Geist der Menschen wie auch vom Geist anderer Lebewe-
sen unabhängige Wirklichkeit enthalte Attraktoren und Repulsoren,
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§ 7 Vernunft und Wollen 167
6 Vgl. zu dieser Frage auch Vf., Was geht voraus: das Wollen den Gründen
oder die Gründe dem Wollen? (2012), in: P. S.: Begründen, Rechtfertigen und
das Unterdrückungsverbot (Berlin 2013) 139–165. – Im Folgenden habe ich
gelegentlich kleinere Passagen aus diesem Text übernommen.
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168 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 7 Vernunft und Wollen 169
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170 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
nehm ist oder als angenehm imaginiert wird, wollen wir es, so habe
ich bereits gesagt, automatisch. Und wenn etwas unangenehm ist,
wollen wir es automatisch nicht. Das ist ein kausaler Mechanismus
und keine Gründe-Relation.
Ohne Zweifel ist es, wenn man gefragt wird, warum man etwas
will, plausibel, zu antworten: weil es angenehm ist. Man verweist
damit auf das, was das Wollen erklärt. Aber man gibt damit kei-
nen Grund für das Wollen an. Die, die annehmen, hier liege eine
Gründe-Relation vor, unterscheiden vermutlich häufig nicht hinrei-
chend zwischen einem Grund im weiteren Sinn und einem Grund
im spezifischen Sinn des Sprechens-für. Außerdem haben wir viel-
leicht ohnehin eine Tendenz, im Bereich des Mentalen, dessen Ver-
ständnis für unser Selbstbild so wichtig ist, Ursachen in Gründe
und selbstläufige Vorgänge in aktive und selbstgesteuerte Prozesse
umzudeuten.
Wenn man auf die Phänomene schaut, tritt indessen deutlich her-
vor, dass die Beziehung des Angenehmen zum Wollen eine kausale
und nicht eine normative ist. Stellen wir uns vor, jemand leidet aktu-
ell an Migräne. Dann ist es ein Automatismus, dass er das nicht will
und dass er aus diesem Zustand heraus will. Dieses Wollen ist nicht
das Ergebnis einer Überlegung, und es spricht nichts dafür, dieses
Wollen zu haben. Es ist einfach da, verursacht durch die Schmerzen,
die das Wollen notwendigerweise auf sich ziehen. Es ist gar nicht
möglich, die Schmerzen zu haben und nicht zu wollen, dass sie auf-
hören. Deshalb bedarf es auch keiner Gründe.7 Und wenn jemand
die Schmerzen hat und sagen würde, er wolle nicht, dass dieser Zu-
stand aufhört, hätten wir den Eindruck, dass mit ihm etwas nicht
stimmt. Er ist in einem äußerst unangenehmen Zustand, will aber
nicht, dass es anders wird. Wir könnten das gar nicht verstehen.
7 Th. Nagel hingegen meint, dieses Wollen bedürfe eines Grundes. Und
er findet ihn im »objektiven Schlechtsein« der Schmerzen. Damit sei aber
nichts anderes gemeint als, dass »there is reason for anyone capable of view-
ing the world objectively to want it (the pain) to stop.« Das läuft, so scheint
es, darauf hinaus, dass die Schmerzen selbst den Grund geben, sie nicht zu
wollen. Vgl. The View from Nowhere (Oxford 1986) 144; dt. Der Blick von
nirgendwo (Frankfurt 1992) 249. – Auch Parfit glaubt, man brauche einen
Grund, Schmerzen nicht zu wollen. Die Frage, was dafür spricht, Schmer-
zen nicht zu wollen, ist demnach eine sinnvolle Frage. Das scheint mir völlig
verfehlt zu sein. Vgl. D. Parfit: Rationality and Reasons, in: D. Egonsson et
al. (eds.): Exploring Practical Philosophy: From Action to Values (Aldershot
2001) 19–39, 22.
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§ 7 Vernunft und Wollen 171
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172 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
zwar das Wollen, es bestehe aber ein Spielraum, in dem man ent-
scheiden könne, ob das Wollen dem Angenehmen folge oder nicht.
Tatsächlich besteht ein solcher Spielraum nicht.
Auch das Wollen, das auf das Angenehme geht, ist also ein Wollen
ohne Gründe. Es kann daher nur fraglich sein, ob es neben diesem
Wollen und neben dem eingerammten Wollen ein Wollen gibt, das
in seiner Ausrichtung durch Gründe bestimmt ist.10 – Wie könnte
ein solcher Grund aussehen? Da es ein Grund für ein intrinsisches
Wollen sein soll, muss er selbst wollensunabhängig sein. Es muss also,
wie man sagt, ein externer Grund sein. Aber gibt es solche Gründe?
Ein Grund ist, wie wir sahen, etwas, das für etwas spricht. Das ist
die Kerndefinition eines Grundes. Damit verbinden sich drei wei-
tere wesentliche Eigenschaften: Ein Grund ist normativ, das heißt,
mit ihm ist, wie mit einer Norm, ein Müssen gegeben. Ein Grund
bedeutet, dass man etwas tun muss, er setzt uns unter Druck, er nö-
tigt uns, so wird manchmal gesagt, in bestimmter Weise zu handeln.
Ein Grund hat zudem ein motivationales Potential. Wenn man einen
Grund für eine Handlung hat und sich dessen bewusst ist, moti-
viert einen das normalerweise dazu, entsprechend zu handeln. Und
schließlich hat ein Grund ein Gewicht. Deshalb kann man Gründe
gegeneinander abwägen. Ein Grund muss diese verschiedenen Leis-
tungen erbringen, und es scheint fraglich, ob ein externer Grund, der
keinen Wollensbezug hat, dies kann.
Aber betrachten wir die konkreten Vorschläge für die Idee, zu-
mindest ein Teil des Wollens werde durch Gründe bestimmt. Was
sind diese Gründe? Es gibt, wie es scheint, zwei Kandidaten. Der
erste Vorschlag besagt, das Gutsein von etwas sei ein Grund, es zu
wollen. Und der zweite besagt, natürliche, nicht bereits evaluativ
oder normativ ausgezeichnete Tatsachen könnten Gründe fürs Wol-
len sein. Beide Vorschläge, so werden wir sehen, scheitern, beide
10 Wenn es ein Wollen ohne Gründe gibt, und dies ohne Zweifel in nen-
nenswertem Umfang, ist damit im Übrigen auch gezeigt, dass es nicht rich-
tig ist, das Wollen durch einen Bezug auf Gründe zu definieren, wie es T. M.
Scanlon tut. Ein »desire« enthält, so Scanlon, ein »seeing something as a
reason«, also ein Urteil, dass etwas ein Grund ist. Vgl. What We Owe to
Each Other (Cambridge, Mass. 1998) 18, 40; vgl. auch 7 f. Ganz ähnlich auch
Ch. Larmore: Vernunft und Subjektivität (Berlin 2012) 49. Zum »Wesen des
Wollens« gehöre, so heißt es hier, ein »Sich-Richten nach Gründen«. Und,
ebenfalls sehr deutlich: »… das Wesen eines Wunsches ist, wie im Fall einer
Überzeugung, durch eine Bezogenheit auf Gründe bestimmt« (61).
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§ 7 Vernunft und Wollen 173
können die Idee, dass es Gründe für das intrinsische Wollen gibt,
nicht einlösen.
Im ersten Vorschlag kehrt das Gutsein wieder, dieses Mal nicht als
ein Attraktor, der das Wollen auf sich zieht, sondern als ein Grund,
der dafür spricht, das, was gut ist, zu wollen. Wir können diese
Konzeption aus denselben Gründen zurückweisen wie die andere:
Dieses Gute, das, so wie es konzipiert ist, wollensirrelativ ist, gibt es
nicht. Es ist nicht Teil der von uns und dem Geist anderer Lebewe-
sen unabhängigen Wirklichkeit. Es ist, wie schon gesagt, vollkom-
men mysteriös, von welcher Seinsart ein solches objektives Gutsein
oder, anders formuliert, solche objektiven Werte sein könnten. Alles
Gute ist vielmehr wollensrelativ. Und deshalb kann etwas Gutes
nicht ein Grund für ein intrinsisches Wollen sein.
Es hilft nicht, sich in der Weise aus dem ontologischen Abseits
manövrieren zu wollen, dass man sagt: Mit der Rede vom Gutsein
spreche man nicht von einer objektiven nicht-natürlichen Eigen-
schaft, man sage damit, dass etwas gut ist, nicht mehr, als dass man
einen Grund hat, dieses Etwas zu wollen.11 Denn wenn das Gutsein
den Grund nicht konstituiert, es vielmehr nur darin besteht, dass ein
Grund vorliegt, dann ist – erstens – die Rede vom Gutsein redundant,
und dann muss man – zweitens – erst noch zeigen, worin der Grund
für das Wollen besteht und was ihn konstituiert. Man hat die Frage,
was der Grund für das Wollen ist, dann noch gar nicht beantwortet.
Der zweite Vorschlag versucht auf andere Weise, den ontologi-
schen Schwierigkeiten, in die man mit der Annahme eines objektiven
Gutseins oder objektiver Werte gerät, zu entkommen. Er nimmt an,
dass ganz normale natürliche, ontologisch unverdächtige Tatsachen
wollensunabhängige Gründe für das Wollen sein können. Dabei
kann, das ist nach dem zuvor Gesagten klar, nicht an die Tatsache
gedacht sein, dass etwas angenehm ist. Dies ist zwar eine natürliche
Tatsache, zudem ist sie wollensunabhängig, aber die Relation zwi-
schen dem Angenehmen und dem Wollen ist, wie gesehen, keine
Gründe-Relation, sondern eine kausale Relation. Es muss also an
eine andere Art natürlicher Tatsachen gedacht sein. Ein Beispiel ist
die Tatsache, dass Autofahren unter Alkoholeinfluss gefährlich ist.12
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174 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
Diese Tatsache ist, so die Idee, ein Grund, in diesem Zustand nicht
fahren zu wollen und es dann auch nicht zu tun. Dass es gefährlich
ist – für einen selbst und für andere –, alkoholisiert zu fahren, ist eine
empirische Tatsache ohne evaluative oder normative Eigenschaften,
so dass in diesem Fall in der Tat keine ontologischen Probleme ent-
stehen. Und es wirkt zweifellos natürlich, zu sagen, diese Tatsache
sei ein Grund, in diesem Zustand nicht fahren zu wollen. Aber ge-
nauer betrachtet zeigt sich schnell, dass das Beispiel nicht leistet,
was es leisten soll. Denn die Tatsache, dass es gefährlich ist, unter
Alkoholeinfluss zu fahren, ist nur dann ein Grund, wenn ein Wollen
hinzukommt. Nur wenn man die Gefahr nicht will, ist, dass etwas
gefährlich ist, ein Grund, es nicht zu wollen. Wenn einem die Ge-
fahr gleichgültig ist, gibt einem die Tatsache, dass etwas gefährlich ist,
hingegen keinen Grund. Und wenn man die Gefahr gar sucht, gibt
einem die Tatsache, dass Autofahren unter Alkoholeinfluss gefähr-
lich ist, sogar einen Grund, in diesem Zustand fahren zu wollen und
es zu tun. Die empirische Tatsache allein gibt einem also überhaupt
keinen Grund. Es muss ein Wollen hinzukommen. Damit entpuppt
sich der Grund, der in diesem Beispiel ins Auge gefasst ist, selbst
als wollensrelativ. Und das heißt, dass ich etwas nicht will: Auto-
fahren unter Alkoholeinfluss, weil ich etwas anderes nicht will: die
Gefahr für mich und für andere. Wir haben hier folglich nicht, was
wir suchen: einen wollensunabhängigen Grund für ein intrinsisches
Wollen, sondern einen wollensabhängigen Grund für ein extrinsi-
sches Wollen.
Es scheitert nicht nur dieses Beispiel. Es ist grundsätzlich so, dass
eine natürliche Tatsache ohne Wollensbezug und ohne eine sonstige
mentale Komponente kein Grund sein kann, weder ein Grund fürs
Wollen noch ein Grund fürs Handeln. Denn eine solche Tatsache
betrifft mich nicht, ihr fehlt der Ich-Bezug, das Element des »für
mich«. Die Tatsache, dass es in unserer Familie eine lange Tradition
gibt, nach der die Söhne zur Armee gehen, bedeutet für mich nichts,
solange ich nicht den Wunsch habe, diese Tradition fortzusetzen.
Tatsachen wie die Tatsache, dass Autofahren mit Alkohol im Blut gefährlich
ist, Gründe sein können. Aber er beschreibt sie als Handlungsgründe, nicht
als Gründe fürs Wollen. Seine Vorstellung ist, das Gefährlichsein alkoholi-
sierten Fahrens sei ein Grund, nicht zu trinken oder, wenn man getrunken
hat, nicht zu fahren. Und das Wollen besteht, so Scanlon, darin, zu realisieren,
dass dieser Grund vorliegt und dadurch motiviert zu sein, die entsprechen-
den Handlungen nicht zu tun.
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176 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
13 Hume, A Treatise of Human Nature, II, iii, 3, p. 415. – Der Sache nach
ist diese Auffassung nicht neu. Hobbes hatte sie zuvor schon sehr deutlich
formuliert. Im Leviathan heißt es zum Beispiel: »… the Thoughts, are to
the Desires, as Scouts, and Spies, to range abroad, and find the way to the
things Desired …« (ch. 8, p. 53). Vgl. hierzu auch Q. Skinner: Hobbes and
Republican Liberty (Cambridge 2008) 26 ff.
14 Vgl. dazu Vf., Normativität. Eine ontologische Untersuchung (Berlin
2008), bes. § 4 und § 6 und Vf., Welche Tatsachen sind Gründe? Zu Parfits
On What Matters, in: M. Hoesch / S. Muders / M. Rüther (Hg.): Derek Parfit
in der Diskussion (Hamburg 2016).
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§ 7 Vernunft und Wollen 177
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178 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
ordination des Wollens wird in Teil III das Thema sein. Außerdem
scheint es, als habe das Überlegen auf eine indirekte, bisher noch
unberücksichtigte Weise doch einen Einfluss auf das intrinsische
Wollen über dem Strich.
3. Kognitive Defizite
Wenn das intrinsische Wollen über dem Strich nicht auf vorgängige
Gründe reagiert, kann es nicht in der Weise fehlgerichtet sein, dass
es nicht zu vorgegebenen Gründen passt. Es kann jedoch auf andere
Weise fehlgehen. Angenommen, jemand will Entwicklungshelfer in
einem fernen Land werden, weil er sich das als angenehm, als erfül-
lend vorstellt. Er weiß allerdings nur sehr wenig darüber, wie das
Leben eines Entwicklungshelfers konkret aussieht. Er hat sich nicht
um genauere Informationen bemüht. Wenn er seinen Wunsch in die
Tat umsetzt, kann es deshalb sein, dass er einsehen muss, dass alles
ganz anders als vorgestellt ist und ein solches Leben für ihn keines-
wegs erfüllend, sondern belastend und frustrierend ist. In diesem
Fall fehlen der Imagination die nötigen Informationen. Die Person
imaginiert deshalb etwas als angenehm, was sich dann als nicht an-
genehm herausstellt. Und weil das Wollen dem als angenehm Vorge-
stellten folgt, geht es auf einen Gegenstand, der als angenehm imagi-
niert wird, es in Wahrheit aber nicht ist. Das Wollen ist also wegen
eines kognitiven Defizits in seinem Vorfeld fehlgeleitet. Es handelt
sich, so ein englischer Kunstausdruck, um ein »miswanting«.15
Auch wenn die Person sich so gut wie möglich informiert hat,
kann sie vorab nicht wirklich wissen, wie es sein wird, Entwick-
lungshelfer zu sein, und wie es sich von innen anfühlen wird. Die
Imagination geht auch in diesem Fall über die bisherigen Erfahrun-
gen und die eingeholten Informationen hinaus, sie enthält auch in
diesem Fall einen imaginativen Überschuss. Das bedeutet für das
Wollen, dass die Gefahr besteht, auf etwas als angenehm Vorgestell-
tes zu gehen, das sich dann als nicht angenehm – oder als weniger
angenehm – entpuppt. Sollte es so kommen, läge wiederum ein »mis-
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§ 7 Vernunft und Wollen 179
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180 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 7 Vernunft und Wollen 181
ist, zeigt sich auch daran, dass der Ort des Überlegens, des Für und
Wider nicht beim Wollen liegt, sondern bei den Imaginationen.
Man muss nun sehen, dass auch theoretische Gründe, wie alle
Gründe, wollensrelativ sind. Man kann nur einen Grund haben, et-
was für wahr oder nicht für wahr zu halten, wenn man mit seinen
Annahmen die Wahrheit treffen will, wenn es einem darum geht,
dass das, was man über die Welt annimmt, auch wirklich so ist. Ohne
dieses basale Wollen könnten wir gar keine Gründe für oder gegen
unsere Annahmen haben. Es ist also, wenn wir sagen, eine Imagina-
tion sei unbegründet, bereits ein Wollen im Spiel. Dies bedeutet, dass
auch die Charakterisierung des Wollens als unbegründet nur unter
Voraussetzung eines anderen Wollens möglich ist. Diese Charakte-
risierung kommt also bereits aus der Koordination zweier Wünsche:
Wenn man mit seinen Annahmen die Wahrheit treffen will, kann
man diese Imaginationen nicht haben, und dann kann man auch
dieses Wollen nicht haben. Nimmt man ein intrinsisches Wollen für
sich allein und bringt es noch nicht mit einem anderen Wollen zu-
sammen, ist es, so zeigt sich, nicht einmal möglich, zu sagen, es sei
in dem jetzt erörterten Sinn unbegründet.
Offensichtlich stellen sich diese Fragen nicht nur im Blick auf
religiöse Vorstellungen, sondern in Bezug auf alle Annahmen und
Imaginationen, von denen ein Wollen abhängt. Will man sagen, sie
seien unbegründet und deshalb auch das dependente Wollen, ist im-
mer schon ein zweites Wollen vorausgesetzt.
Es scheint, als gebe es noch andere Arten eines kognitiven De-
fizits als die bisher behandelten und als könne das Wollen deshalb
noch auf andere Weise fehlgehen. Man kann nicht nur zu wenig
über den Gegenstand des Wollens wissen, oder zu wenig über sich
selbst und darüber, was man als angenehm und unangenehm emp-
finden wird, man kann auch zu wenig über die Genese seines Wol-
lens wissen. Auch hierin liegt eine Quelle des »miswanting«. Stellen
wir uns vor, jemand wird von dem Wunsch bestimmt, zu arbeiten
und zu schaffen und zu schaffen. Nicht weil er dadurch zu etwas
kommen will, sondern intrinsisch. Sein halbes Leben hat er schon
so verbracht. Doch nach und nach dämmert ihm, dass er damit nur
seinen inzwischen längst verstorbenen Vater kopiert und ihm damit
offenbar schon von früh an imponieren wollte. Ein untergründiger,
verdeckter Wunsch hat ihn bestimmt und dazu bewegt, permanent
zu arbeiten. Dieser Wunsch ist durch den Tod des Vaters schon lange
gegenstandslos geworden, und deshalb hängt auch der Wunsch, im-
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182 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
merzu zu arbeiten, in der Luft. Er hat seine Basis verloren. Wenn die
Person sich dessen bewusst wird, wird dieser Wunsch verschwinden
oder sich zumindest verändern. Auch in diesem Fall hat das kogni-
tive Defizit die Konsequenz, dass man einen Wunsch hat, den man,
wüsste man mehr, nicht hätte, zumindest nicht in der Weise.
Das Besondere dieses Falles liegt darin, dass das kognitive Defizit
ein verborgenes Wollen betrifft. Der Mann ist sich dieses untergrün-
digen Wunsches zunächst nicht bewusst, und er weiß deshalb nicht,
dass sein anscheinend intrinsischer Wunsch, ohne Unterlass zu ar-
beiten, in Wahrheit einen extrinsischen Charakter hat. Tatsächlich
will er dies, weil er etwas anderes will, nämlich seinem Vater gefallen.
Und da dieser andere Wunsch durch den Tod des Vaters obsolet ge-
worden ist, wird auch der dependente Wunsch obsolet. Wir haben es
also wiederum bereits mit der Koordination zweier Wünsche zu tun,
die allerdings zunächst durch ein kognitives Defizit, durch den Um-
stand, dass einer der Wünsche gar nicht bewusst ist, blockiert wird.
Betrachten wir noch einen anderen interessanten Fall. Ein Teil
unseres Wollens ist, wie wir sahen, genetisch auf bestimmte Ge-
genstände fixiert. Diese Programmierung, vor vielen Jahrtausenden
entstanden, hat sich, so könnte man denken, teilweise überlebt. Wir
leben nicht mehr in den Savannen Afrikas. Überlebt hat sich, so die
Idee, zum Beispiel unser Streben nach sozialem Status. Man könne
heutzutage auch ohne besonderen sozialen Status seine Existenz si-
chern und, wenn man will, viele Kinder haben. Für ein Leben in der
heutigen Welt liege folglich eine Fehlsteuerung des Wollens vor, also
ein »miswanting«.16 Ich unterstelle einmal, diese Diagnose sei richtig.
In diesem Fall würde der kognitive Zugewinn allerdings nicht dazu
führen, dass das fehlgerichtete Wollen verschwindet. Das Streben
nach sozialer Anerkennung und sozialem Status ist zu tief verwur-
zelt, als dass es gelingen könnte, es auf Grund dieser Einsicht ab-
zuwerfen. Die Annahme, dass ein »miswanting« vorliegt, bewirkt
etwas anderes: Man empfindet das Wollen als etwas Fremdes, man
will sich von einem solchen anachronistischen Wollen möglichst
nicht bestimmen lassen. Es betritt also erneut ein zweites, in diesem
Fall höherstufiges Wollen die Bühne, und es entsteht ein Konflikt
im Wollen. Wir bewegen uns also wiederum bereits im Feld der
Koordination mehrerer Wünsche. Und der Beitrag der Kognition
16 Diese These vertritt W. B. Irvine: A Guide to the Good Life (Oxford 2009)
235 ff.
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§ 7 Vernunft und Wollen 183
liegt allein darin, durch das Freilegen einer Eigenschaft des Wollens
diesen Konflikt ermöglicht zu haben. Solange das Streben nach so-
zialem Status nicht als »miswanting« gesehen wird, kommt es nicht
zu diesem Konflikt im Wollen.
Mir scheint, dass an diesem Beispiel etwas deutlich wird, das auch
für andere Fälle gilt und generell wichtig ist. Man kann erkennen,
dass ein Wollen eine bestimmte Eigenschaft hat: es ist einem nur von
anderen eingeimpft, es ist moralisch problematisch, es ist patholo-
gisch, es ist zwanghaft. Aber nur wenn man will, dass das eigene
Handeln nicht durch ein derartiges Wollen bestimmt wird, kommt
es zu einer Relativierung dieses Wollens. Nicht die Kognition führt
zu dieser Relativierung, sondern ein anderes, gegenläufiges Wollen.
Die Kognition legt nur etwas frei, und das ist dann die Vorausset-
zung dafür, dass ein anderes Wollen die Szenerie betritt und es zu
einem Konflikt der Wünsche kommt.
Wenn ich jetzt auf die verschiedenen Fälle, in denen ein kogniti-
ves Defizit im Vorfeld eines Wollens eine Rolle spielt, zurückblicke,
kann ich Folgendes festhalten. Das hedonische Wollen ist immer da-
von abhängig, dass die vorausgehende Imagination des Angenehmen
kognitiv hinreichend abgestützt ist und deshalb das, was man als an-
genehm imaginiert, auch wirklich angenehm sein wird. Das ändert
aber nichts daran, dass dieses Wollen auf das Angenehme geht. Das
ist seine von der Natur fixierte Ausrichtung. Die Kognition ändert
daran nichts und sie fügt dem nichts hinzu. Sie hat, durch ihr Mehr
oder Weniger, allein einen Einfluss darauf, was als angenehm vor-
gestellt wird.
In den Fällen, in denen ein kognitives Defizit über die Genese
des Wollens oder über eine seiner Eigenschaften vorliegt, kann das
Defizit eine Dependenz des Wollens von einem anderen Wollen ver-
decken, oder einen Konflikt im Wollen blockieren, der, wüsste man
mehr, entstünde. Das Wollen wird dann durch das Defizit gleichsam
künstlich in einer isolierten Position gehalten. Wüsste man mehr,
käme eine Beziehung zu einem anderen Wollen zutage. Und das
würde das Wollen zum Verschwinden bringen oder aber in eine
Konkurrenz zu einem anderen Wollen stellen. In diesen Fällen geht
es bereits um die Koordination des Wollens und eine Leistung, die
die Kognition dafür erbringt, nicht um ihren Einfluss auf ein ein-
zelnes intrinsisches Wollen. Der eigentliche Einfluss der Kognition
– oder der Vernunft – auf das Wollen über dem Strich scheint also
im Feld des hedonischen Wollens zu liegen. Hier geht es, wie gesagt,
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§ 7 Vernunft und Wollen 185
17 Vgl. z. B. D. Parfit: On What Matters (Oxford 2011) vol. I, 31: »We are
the animals that can both understand and respond to reasons.«
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186 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 7 Vernunft und Wollen 187
anderes Wollen. Es bestimmt das Wollen, wie Kant sagt, »für sich
selbst«, »nicht im Dienste der Neigungen«.18 Deshalb ist die Idee
eines solchen Gebots, wenn es um das intrinsische Wollen geht, von
Interesse. Ein kategorischer Imperativ gebietet nun nicht, dass das
Wollen auf bestimmte Gegenstände geht, sondern dass es eine be-
stimmte Form hat. Man muss etwas auf eine bestimmte Weise wollen,
nämlich so, dass das Wollen von einem speziellen anderen Wollen
begleitet werden kann. Formt man sein Wollen in dieser Weise, ist
man, so ergibt sich überraschenderweise, davor gefeit, etwas Unmo-
ralisches zu wollen. Es ist hier nicht nötig, zu erläutern, wie diese
formale Bestimmung des Wollens genau aussieht und wie an dieser
Stelle die Moral hineinkommt. Denn der entscheidende Punkt liegt
woanders. Er liegt darin, dass dieses Müssen: das Wollen muss eine
bestimmte Form haben, ein kategorisches, das heißt wollensirrelati-
ves Müssen ist. Man muss sein Wollen nicht in eine bestimmte Form
bringen, um dadurch etwas zu erreichen, was man will, man muss
es einfachhin, man muss es, Punkt. Und die Frage ist dann, was ein
solches kategorisches Müssen konstituiert, wie ein solches Müssen
in die Welt kommt. Tatsächlich gibt es ein solches Müssen nicht,
dieses Müssen ist nur eine Erfindung. Jedes normative Müssen ist
auf ein Wollen relativ. Wir können uns die Idee eines kategorischen
Müssens in Wahrheit nicht einmal verständlich machen.19 Und es
ist unschwer zu sehen, dass Kant mit seinem Versuch, diese Idee zu
plausibilisieren, gescheitert ist. Er nahm an, die Vernunft könne in
einem höheren Reich der Dinge an sich, in einer, wie er selbst sagt,
»intelligiblen Welt« solche Vernunftgebote kreieren.20 Aber es bleibt
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188 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
völlig unklar, wie das gehen soll, und es bleibt völlig unklar, warum
wir eine solche dualistische Metaphysik in der Tradition Platons
akzeptieren sollten. Wir können deshalb die in gewisser Weise in-
geniöse Idee einer nicht materialen, sondern formalen Bestimmung
des Wollens durch die Vernunft beiseite lassen. Sie operiert mit Fik-
tionen und hilft uns deshalb nicht, zu verstehen, wie die Menschen
sind und wie es zu der Ausrichtung ihres Wollens kommt.
Man muss sich also auf beiden Seiten vor metaphysischen Annah-
men hüten, auf der Gegenstandsseite: es gibt kein wollensunabhängi-
ges, ontologisch objektives Gut- und Schlechtsein, und es gibt keine
wollensunabhängigen, externen Gründe, und auf der Subjektseite:
es gibt keine »reine« Vernunft, die aus sich heraus das Wollen auf
Ziele auszurichten vermöchte. Es ist eine alte und wiederkehrende
Hoffnung der Philosophen, es gebe letzte Ziele für das menschliche
Wollen, die sich allein den Forderungen der Vernunft verdanken.
Aber das ist nur ein Wunschbild ohne Realität. In Wahrheit ist die
Vernunft motivational impotent. Ihre biologische Funktion liegt da-
rin, uns die Welt zu zeigen, wie sie ist, und dies im Dienste unseres
Wollens. Das schließt nicht aus, dass die Fähigkeit, zu erkennen, sich
partiell aus dem praktischen Kontext löst und sich eine theoretische
Neugierde ohne praktische Absichten entwickelt.
Diese Überlegungen beinhalten die Einsicht, dass es einen Kon-
flikt zwischen einem intrinsischen Wollen über dem Strich und der
Vernunft gar nicht geben kann. Wenn jemand etwas will, kann es
nicht sein, dass die Vernunft verbietet, dies zu wollen. Genauso wie
es nicht sein kann, dass die Vernunft ein bestimmtes Wollen gebietet.
Die Vernunft ist nicht die Herrscherin, die über das Wollen befindet
und es zum Gegenstand ihrer Gebote und Verbote macht. Einen
Konflikt kann es tatsächlich nur zwischen einem Wollen und einem
anderen Wollen geben.
Es ist, mit anderen Worten, nicht die Vernunft, die die menschli-
che Antriebsstruktur von der anderer Lebewesen abhebt. Es ist, wie
wir sahen, vielmehr die Imagination, die die motivationale Struktur
der Menschen vollkommen verändert. Das menschliche Zukunfts-
bewusstsein und die mit ihr entstehende unendliche Imaginations-
fähigkeit ermöglichen Imaginationen des Angenehmen und Unan-
genehmen, wie sie keinen anderen Lebewesen möglich sind. Und
damit entstehen Attraktions- und Repulsionspunkte für das Wollen,
die allein die Menschen kennen.
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens
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190 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
menschliche Seele, so sagt Sokrates hier, soll sich vom Wollen und
Begehren, das die Natur in uns eingepflanzt hat, losmachen. Wer
das nicht tut, lebt in »einem Gefängnis des Wollens«, seine Seele
ist durch diese Wünsche »gefesselt«.1 In diesen Äußerungen finden
sich wesentliche Motive, die sich bis zum heutigen Tag durch die
Diskussion ziehen: das Unterjochtsein durch die Wünsche und der
Freiheitsverlust, der eintritt, wenn man sich von ihnen bestimmen
lässt. Kant steht sehr deutlich in dieser Tradition, und er hat sie
weiter verstärkt. Er vertritt, ganz wie der Sokrates des Phaidon, die
extreme Position, es müsse der Wunsch eines jeden vernünftigen
Wesens sein, von allen »Neigungen« »gänzlich … frei zu sein.«2 Die
Menschen haben ihre Neigungen, das, was sie wollen, nicht frei ge-
wählt, sie verantworten ihre »Neigungen und Antriebe« nicht und
schreiben sie deshalb nicht ihrem »eigentlichen Selbst« zu.3 Sich von
ihnen bestimmen zu lassen, bedeutet, unfrei zu handeln, und es be-
deutet zudem, auf die Lebensweise der Tiere herabzusinken.4 Ganz
auf dieser Linie sagt Kant in einer seiner Anthropologievorlesungen,
es sei »kein Glück Neigungen zu haben.«5 Und in einer anderen die-
ser Vorlesungen heißt es, »etwas zu begehren, ist schon eine Krank-
heit der Seele.«6 Neigungen sind, so sagt Kant auch, »knechtisch«7,
sie sind »Feinde der Freiheit« und »setzen uns in Sklaverei.«8 Diese
gleichförmigen Aussagen sind bei Platon wie bei Kant Teil einer
Theorie, nach der das »eigentliche Selbst« der Menschen außerhalb
der empirischen Welt und ihrer Gesetze steht. Diese Theorien sind,
es ist kaum nötig, das explizit zu sagen, durch und durch metaphy-
sisch. Dennoch haben sie, wie wir sehen werden, bis in die Gegen-
wart hinein tiefe Spuren hinterlassen.
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 191
Vergegenwärtigen wir uns zunächst noch einmal, was schon über die
einerseits fixen und andererseits flexiblen Elemente im menschlichen
Wollen gesagt wurde, über die Elemente also, die nicht in unserer
Hand liegen, und die, die in unserer Hand liegen. Es liegt nicht in
unserer Hand, auf welche Gegenstände das eingerammte Wollen
geht. Es liegt nicht in unserer Hand, dass das hedonische Wollen
auf das Angenehme und Unangenehme geht. Und es liegt auch nicht
in unserer Hand, was uns wollensunabhängig angenehm und un-
angenehm ist. In unserer Hand liegt hingegen, ausgehend von den
originären Motivatoren, das intrinsische Wollen weit über diesen
Rahmen hinaus zu entfalten und in die verschiedensten Richtungen
auszufächern. Die Menschen können zum Beispiel von sich und
anderen moralische Verlässlichkeit wollen, sie können ein entspre-
chendes Verhalten und eine entsprechende charakterliche Disposi-
tion zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Selbstbildes und zum
Kriterium eines guten Lebens machen. Sie können Gewaltlosigkeit,
Gleichheit und die Etablierung von Menschenrechten wollen. Sie
können gottgefällig leben wollen und ein jenseitiges Leben nach
dem Tod anstreben. All dies – und tausend anderes – können sie
wollen, und nichts davon ist genetisch festgeschrieben. Wie es zu
dieser Ausgestaltung des Wollens kommt und in welche Richtungen
sie gehen kann, wurde oben (in § 6) beschrieben. Der entscheidende
Treibsatz dieser Entwicklung ist die menschliche Imaginationskraft.
Wenn man die Imagination nicht kontrolliert, kann, so wurde gesagt,
praktisch alles zum Gegenstand des Wollens werden.
Die Imagination ist aber etwas, das bei uns liegt, es ist eine Akti-
vität, etwas, was wir tun. Und es scheint, als verfügten wir darin, in
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192 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
welchem Ausmaß wir es tun, wie wir es tun und dann auch mit wel-
chen Ergebnissen wir es tun, über deutliche Spielräume. Das zeigt
sich in verschiedener Weise:
(i) Angenommen, meine Frau bittet mich während eines Galerie-
besuchs, mir einmal vorzustellen, wie das Wolken-Bild gleich neben
dem Eingang in unserem Wohnzimmer wirken würde. Sie fordert
mich damit auf, etwas zu tun. Und es liegt bei mir, der Bitte nach-
zukommen oder ihr nicht nachzukommen. Vielleicht gefällt mir das
Bild von vorneherein nicht, deshalb stelle ich mir erst gar nicht vor,
wie es wäre, wenn es zuhause hinge. In diesem Fall liegt es offen-
sichtlich bei mir, ob ich überhaupt beginne, etwas zu imaginieren.
Und so ist es auch in sehr vielen anderen Fällen.
(ii) Ganz allgemein ist es so, dass wir in unserem Imaginieren
aktiver und passiver sein können, energischer und weniger energisch,
phantasievoller und weniger phantasievoll, offener und weniger of-
fen. In alle Richtungen gibt es ein Mehr oder Weniger, und es liegt,
zumindest zum Teil, bei uns, wie wir uns verhalten. Unsere Imagi-
nationskraft kann sich zum Beispiel im Großen und Ganzen in den
gewohnten Bahnen des bisherigen Lebens bewegen. Auch inner-
halb dieses Rahmens gibt es sehr viele verschiedene Möglichkeiten
und Varianten. Wir können die Imagination aber auch über diese
Grenze hinausführen und sie auf weniger naheliegende Möglich-
keiten lenken. So kann jemand darüber sinnieren, wie es wäre, sein
bisheriges Leben aufzugeben und als Maler auf einer Südseeinsel zu
leben. Diese Imagination kann einen solchen Sog entwickeln, dass
der Wunsch, sein Leben in dieser Weise zu ändern, in der Konkur-
renz der Wünsche zu einem ernsthaften Faktor wird und möglicher-
weise sogar die Oberhand gewinnt, so dass der Betreffende schließ-
lich seine Familie verlässt und in das neue Leben aufbricht. Vielleicht
will man sagen, eine solche Ausweitung des Imaginationsfeldes liege
nicht immer in der Hand der betreffenden Person. So habe die Ima-
gination eines anderen Lebens doch sicherlich ihren Grund in großer
Unzufriedenheit mit dem jetzigen Leben. Diese Unzufriedenheit
treibe, ganz ohne das Zutun der Person, die Imagination des alter-
nativen Lebens hervor. Das mag im Einzelfall so sein, aber es ändert,
so meine ich, nichts daran, dass die Imagination eine Aktivität ist,
etwas, was wir tun, und dass wir darin, wie wir imaginieren und in
welche Richtung die Imagination geht, erhebliche Spielräume haben
oder haben können. Es gibt viele Arten, anders zu leben. Und bei
entsprechender Phantasie kann man sich sehr verschiedene Varian-
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 193
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194 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 195
Imagination der Reise beendet. Man muss, so kann man auch sagen,
bei dem, was man imaginiert, »dabei« sein, und dieses Dabei-Sein
kann man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, jederzeit beenden,
indem man seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtet. Selbst
meine Tagträume kann ich jederzeit beenden, sie sind ganz davon ab-
hängig, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit bei ihnen bleibe. Auch
in dieser Weise haben wir also Einfluss auf unsere Vorstellungen.
Wittgenstein hat auf einem seiner »Zettel« notiert: »Der Begriff
des Vorstellens ist eher wie der eines Tuns, als eines Empfangens.
Das Vorstellen könnte man einen schöpferischen Akt nennen.«10 In
dem »eher« können wir die Anerkenntnis der passiven Elemente in
der Imagination sehen. Diese Anteile gibt es. Dennoch ist die Ima-
gination »eher« ein Tun, eine Aktivität, die bei uns liegt, und die
wir – mehr oder weniger – beeinflussen können.
Es gibt, so können wir jetzt festhalten, in Form der Imagination
aktive Elemente in der Ausrichtung des menschlichen Wollens. Die
Imagination ist eine Aktivität, etwas, was wir tun. Wir stellen uns
fortwährend neue Dinge als angenehm und unangenehm vor, so dass
das Wollen auf immer neue Gegenstände geht. Der größte Teil des
menschlichen Wollens ist also in seiner Ausrichtung nicht einfach
fixiert, sondern kombiniert flexible und festliegende Elemente. All
dies gilt, wie gesagt, für das intrinsische Wollen über dem Strich.
Dieses Wollen ist sehr deutlich durch Anteile bestimmt, die bei uns
liegen.
Die Tradition hat, wenn es um die aktive Beeinflussung des Wol-
lens geht, immer nur an eine mögliche Quelle dieser Aktivität ge-
dacht, nämlich an die Vernunft. Die Vernunft sei es, die aktiv die
Ausrichtung des Wollens bestimmt. Aber die Vernunft hat, wie ge-
zeigt, keinen substantiellen Einfluss auf das Wollen über dem Strich.
In Wahrheit ist nicht die Vernunft, sondern die Imagination das ak-
tive Element in der Formung des Wollens. Das im Prinzip unbe-
grenzte Zukunftsbewusstsein und die entsprechende Imaginations-
fähigkeit sind der Grund dafür, dass die Menschen im Unterschied
zu allen anderen Lebewesen einen aktiven Einfluss haben auf das,
was sie wollen.
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196 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 197
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198 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
sagt, wie schon gesehen, Kant.13 Und ganz auf dieser Linie spricht
er auch vom »Despotismus der Begierden«.14 Und ein zeitgenössi-
scher Autor, W. B. Irvine, schreibt im Blick auf die fixen Anteile im
Wollen, wir seien »like slaves who, because we have been slaves all
our lives, don’t think to ask what gives our master the right to or-
der us about.«15 Wer versklavt ist, muss tun, wozu ein anderer ihn
nötigt. Offenkundig liegt in dem Gedanken des Versklavtseins die
Vorstellung eines Akteurs von außerhalb, der auf uns einwirkt und
uns festlegt. Und diese Vorstellung wirkt umso überzeugender, je
mehr man sich das Wollen selbst als von außen bestimmt vorstellt.
Die Einwirkung des Wollens auf uns bedeutet gerade deshalb eine
Versklavung, weil das Wollen selbst von außen, durch eine uns äu-
ßerliche Macht verursacht und in seiner Ausrichtung bestimmt ist.
Der Gedanke des Versklavtseins forciert also die Vorstellung der
Passivität noch. Umso deutlicher verfehlt diese Beschreibung das
Phänomen. Sie führt zudem zu einem verzerrten Verständnis unse-
res Selbst wie auch zu falschen Reaktionen: Wenn wir versklavt sind,
müssen wir etwas dagegen tun, dann müssen wir uns gegen unsere
eigene Natur, dagegen, wie wir sind und wie unser Geist funktio-
niert, auflehnen. Es kommt hinzu, dass eine solche Beschreibung
der Dinge dualistische Vorstellungen nahelegt und befördert. Denn
wenn uns unsere eigene Natur versklavt, können wir uns davon nur
befreien, indem wir uns – oder unser »eigentliches Selbst« – aus der
Natur herauslösen und eine Position außerhalb, in einer intelligib-
len Welt, in einem Reich der Dinge an sich oder etwas Ähnlichem
beziehen. Die Möglichkeit einer solchen Position müssen wir dazu
aber zunächst herbeierfinden.
In Wahrheit versklavt uns unsere eigene Natur und unser eige-
nes Wollen nicht. Es gibt, das ist der tatsächliche Sachverhalt, in
unserem Wollen fixe Elemente, die nicht in unserer Hand liegen.
Sie resultieren aus unserer biologischen Ausstattung, mit anderen
Worten daraus, dass wir die Wesen sind, die wir sind. Und es ist ir-
reführend, so zu sprechen, als resultierten sie aus dem Wollen und
der Nötigung anderer Personen. Nirgendwo gibt es eine andere Per-
son, einen Zwang, eine Nötigung, eine Versklavung. Diese Asso-
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 199
ziationen sind alle falsch und tendenziös. Sie stammen alle aus der
Sphäre zwischenmenschlicher Machtbeziehungen. Und sie sind alle
darauf angelegt, die Erfahrung der Unfreiheit zu evozieren, die wir
machen, wenn andere Menschen uns unsere Freiheit nehmen oder
sie einschränken. Dass Menschen einander nötigen, Dinge zu tun,
die sie von sich aus nicht tun würden, ist eine Sache. Eine ganz an-
dere Sache ist, dass es in der Ausrichtung unseres Wollens Faktoren
gibt, die von Natur aus festliegen und die deshalb nicht in unserer
Hand liegen.
Eng mit der Vorstellung des Versklavtseins verwandt ist die Idee,
unsere Instinkte, Begierden und Neigungen würden uns in einen
Zustand der Heteronomie versetzen. Es war wiederum Kant, der
diese Idee besonders wirkmächtig zur Geltung gebracht hat. Und sie
wirkt erneut umso überzeugender, je mehr man sich das Wollen sei-
nerseits als von außen verursacht, als etwas Fremdes, das von außen
in uns gelangt ist, vorstellt. Etwas außerhalb unserer selbst bewirkt
das Wollen und seine Ausrichtung, und eben deshalb ist seine Macht
über uns eine Form der Heteronomie. Heteronomie bedeutet, un-
ter dem Gesetz eines anderen zu stehen. Ein anderer, eine fremde
Macht bestimmt, was bei uns geschieht. Kant nahm an, dass sowohl
das instinkthafte Wollen, das nicht auf das Angenehme geht, wie
auch das hedonische, auf das Angenehme und Unangenehme gerich-
tete Wollen fremdbestimmt sind und uns deshalb fremd bestimmen.
Sehr sprechend sagt er zum Beispiel von den Instinkten, mit ihnen
folgten wir »einer fremden und eingedrückten Idee«.16 Eine fremde
Macht hat uns ihre Idee »eingedrückt«, und wir unterliegen diesem
äußeren Gesetz.
Es scheint, als sei diese Vorstellung der Heteronomie von vorne
herein unplausibel. Wenn ich den Wunsch habe, in einem Haus am
See zu wohnen, weil ich mir das als angenehm vorstelle, erlebe ich
dieses Wollen nicht als etwas, worin ich fremdbestimmt bin. Ich
selbst bin es, der sich das Leben in einem solchen Haus als angenehm
vorstellt. Und ich selbst bin es, der deshalb in einem solchen Haus
leben möchte. Die Vorstellung der Heteronomie wirkt hier abwegig.
Mit ihr werden die Elemente in unserem Wollen, über die wir
nicht verfügen, erneut umgefälscht in etwas, was eine fremde Instanz
uns – zu Unrecht – antut. Dadurch erscheint das Wollen sogleich
als etwas uns Fremdes, als etwas uns nicht Zugehöriges, als etwas,
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200 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
von dem man sich möglichst nicht bestimmen lassen darf und von
dem man sich am besten ganz befreien würde. Die eigenen Antriebe
sind damit, ganz wie in Platons Phaidon, das Schlechte und Niedrige.
Und die Therapie kann, ganz platonisch, nur darin liegen, von sich
selbst, von seiner eigenen psychischen Konstitution loszukommen.
Vielleicht wird man einwenden, dass es sehr wohl Situationen
gebe, in denen man das Opfer oder der Sklave eines Wunsches sei.
So, wenn man immer wieder dem Wunsch nachgibt, ins Spielcasino
zu gehen, obwohl man sich schon tausendmal geschworen hat, es
nicht mehr zu tun. Der Wunsch, zu spielen, hat eine unwiderstehli-
che Macht. Die Rede vom Opfer, vom Sklaven, von einer fremden
Macht liegt an dieser Stelle nahe, sie passt sehr gut. – Ohne Zweifel
gibt es solche Fälle. Aber man muss sehen, dass der Einwand auf ein
anderes Feld wechselt und deshalb sein Ziel verfehlt. Das Problem
liegt nicht darin, dass der Betreffende ins Casino gehen will und da-
rin angeblich fremdbestimmt ist, das Problem ist, dass es ihm nicht
gelingt, diesen Wunsch mit seinen anderen Wünschen zu koordinie-
ren. Wenn er überlegt und die verschiedenen Wünsche, die er hat,
gegeneinander abwägt, steht unter dem Strich immer der Wunsch,
nicht ins Casino zu gehen. Die verheerenden Folgen der Casino-
Aufenthalte wiegen ungleich schwerer als das abendliche Vergnügen
am Spiel. Und dennoch geht er wieder. Das heißt, die Überlegung
vermag keinen Einfluss zu nehmen auf den Weg vom Wollen zur
Handlung. Stattdessen ist ein Automatismus entstanden, der sich
unabhängig von der Überlegung durchsetzt. Es geht in diesem Fall
also nicht um die Ausrichtung des Wollens, nicht darum, auf wel-
chen Gegenstand das Wollen geht, sondern um den Weg vom Wollen
zum Handeln. Und deshalb bringt der Einwand ein ganz anderes
Phänomen zur Sprache, ein Phänomen, das es über dem Strich noch
gar nicht geben kann, das vielmehr erst unter dem Strich, bei der
Umsetzung des Wollens ins Handeln, entstehen kann.
Wenn man die aktiven Elemente in der Ausrichtung des mensch-
lichen Wollens nicht sieht und es stattdessen als »passion« zu fassen
versucht, liegt darin auch bereits die Vorstellung, wir seien in un-
serem Wollen unfrei. Die Vorstellung der Passivität und dann auch
die der Versklavung und der Heteronomie implizieren die Annahme,
das Wollen über dem Strich sei unfrei. Es wird eben von außen, von
einer fremden Macht, der Natur und ihren Gesetzen, in seiner Aus-
richtung bestimmt. Häufig entsteht dann das Bild, das Wollen über
dem Strich sei passiv und unfrei, aber der Überlegens- und Auswahl-
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 201
prozess, der zum Wollen unter dem Strich führt, sei aktiv und frei.
Mir geht es angesichts dieser Diskussionen im Moment nur darum,
festzuhalten, dass bereits das Wollen über dem Strich wesentliche
aktive Anteile enthält. Was wir wollen, hängt in Teilen davon ab, in
welcher Weise, wie energisch, wie phantasievoll, wie unkonventio-
nell, wie informiert oder wie begrenzt, festgefahren, zögerlich und
unwissend wir zukünftige Geschehnisse und Umstände als ange-
nehm und unangenehm imaginieren. Die Imagination ist etwas, was
bei uns liegt, und eben deshalb auch etwas, wofür wir uns Maximen
und Regeln geben können. Wie diese Einsicht in die aktiven Anteile
im Wollen mit der anderen Einsicht, dass auch unser Wollen, das
über dem Strich genauso wie das unter dem Strich, Teil der kau-
salen Welt ist und dass die Naturgesetze nicht vor unserem Kopf
haltmachen, zu verbinden ist, ist an dieser Stelle nicht das Thema.
Gleichgültig wie die Antwort auf diese Frage ausfällt, die Einsicht,
dass aktive Anteile in die Formung des menschlichen Wollens über
dem Strich eingehen, bleibt in jedem Fall erhalten.17
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202 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
Mit der Idee der Passivität des Wollens ist aufs engste die Vorstel-
lung verbunden, das Wollen sei etwas, was nicht eigentlich zu uns
gehört. Das Wollen wird uns auf diese Weise enteignet und zu et-
was bloß Äußerlichem abgewertet. Es ist etwas, das wie ein Fremd-
körper in uns hineingeraten ist und von dem man sich, wie Platon
und Kant gesagt haben, am liebsten ganz losmachen würde. Da das
nicht geht, muss man sich mit ihm notgedrungen arrangieren, es zum
Teil adoptieren und sich zu eigen machen und zum anderen Teil auf
Dauer expropriieren und auf Distanz halten. Auch hier haben wir
es, wie ich zeigen möchte, mit einer krassen Fehlbeschreibung des
menschlichen Wollens zu tun, die notwendigerweise ein falsches
Verständnis unserer selbst nach sich zieht.
Platon hat, wie wir sahen, schon die Idee entwickelt, das Wollen
und Begehren des Menschen sei nicht Teil seines wahren Selbst. Das
eigentliche Selbst ist die denkende und erkennende Seele. Und sie
entscheidet über den Einfluss des Wollens, sie sagt »ja« oder »nein«
und bestimmt, ob und wieweit das Wollen handlungsbestimmend
wird. Diese Vorstellung, dass das Wollen dem eigentlichen Selbst
fremd und äußerlich ist, hat die europäische Geschichte des Den-
kens und die Selbstinterpretation des Menschen tief beeinflusst. Das
eigene Selbst wird in dieser Sichtweise zerlegt in einen eigentlichen
Teil, das überlegende und kontrollierende Selbst, und in externe Um-
stände, die zwar noch Teil des Selbst, aber doch extern sind. Zu die-
sem externen, dazu gehörenden und doch nicht dazu gehörenden
Teil zählt das Wollen. Das Wollen ist, so schreibt Kant18, »ein fremder
Antrieb« in uns. Man muss also zwischen dem eigentlichen Selbst
und etwas in dem Selbst, zwischen »ich« und »etwas in mir« unter-
scheiden. Das Wollen gehört nicht zum Ich, es ist nur etwas in mir.
In dieser Tradition der Enteignung und Abwertung des Wollens
steht sehr deutlich auch Frankfurts Philosophie des Wollens. Alle
für diese Tradition typischen Elemente finden sich in ihr. Frankfurt
spricht über unser Wollen immer so, als schwimme es gleichsam
subjektlos in uns herum. Er spricht von »Kräften« (»forces«), die
zufälligerweise in uns auftauchen und in uns vorhanden sind, die
aber nicht die unsrigen sind.19 Natürlich schwingt darin die Vorstel-
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 203
lung der Passivität mit. Es wirken Kräfte auf uns ein, die von außen
kommen und denen wir ausgeliefert sind. Das Wollen ist etwas in
uns, wir sind indessen, wie bei einem Krampf20, nur der Ort, in dem
dieses Geschehen ohne unser Zutun stattfindet. Entsprechend heißt
es immer wieder, wir seien hinsichtlich unserer Wünsche bloß »by-
standers«, Dabei-Steher, die nur zuschauen, was, ohne ihre Beteili-
gung, geschieht.21 Frankfurt sagt auch häufig, das Wollen, das in uns
ist, sei für uns nur ein »psychisches Rohmaterial«, durch die Natur
und die Umstände gegeben, etwas, was da ist, zu dem man sich ver-
halten muss und aus dem man erst etwas machen muss.22
Angesichts dieser Beschreibung drängt sich die Frage auf, wie es
zu der Distanz zu unserem eigenen Wollen kommt. Wenn ich etwas
will, weil ich es mir angenehm vorstelle, wie kommt es dann zu die-
ser Distanz meinem eigenen Wollen gegenüber? Warum ist es nur
eine »Kraft«, die in mir wirkt, mit der ich aber, wie es scheint, nichts
zu tun habe? Für Frankfurt sind hier sicherlich die Suchtbeispiele
wichtig, die für die Entwicklung seiner Theorie so prägend waren.
In diesen Fällen scheint es so, als habe ein fremdes Wollen Macht
über einen und als sei man dazu verurteilt, dem hilflos zuzuschauen.
Doch tatsächlich können diese Beispiele die Vorstellung der Fremd-
heit des Wollens nicht stützen. Denn das Phänomen, um das es in
ihnen geht, kann es, wie erläutert, erst unter dem Strich, erst in der
Konkurrenz mehrerer Wünsche geben. Die Vorstellung, unser Wol-
len sei uns äußerlich und fremd, betrifft aber das Wollen über dem
Strich. Im Übrigen sind die Suchtbeispiele sehr besondere Beispiele.
Frankfurt entwickelt jedoch eine generelle Theorie des Wollens. Die
allermeisten unserer Wünsche zeigen nicht die typischen Spezifika
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204 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 205
ist dann ein »Opfer« seines Wollens28 und, auch dieses Element der
traditionellen Konzeption kehrt also bei Frankfurt wieder, durch
sein Wollen »versklavt«.29 Die Macht des Wollens ist dann die ei-
ner »Tyrannei«, die ohne Zustimmung des Betroffenen ihre Macht
durchsetzt.30 Man kann, das zeigt sich mit diesen Äußerungen, bei
Frankfurt zwei Arten, in denen uns das Wollen fremd ist, unterschei-
den: die grundsätzliche Fremdheit allen Wollens vor der Stellung-
nahme der höheren Instanz und die endgültige Fremdheit bestimm-
ter Wünsche nach der Stellungnahme dieser Instanz.
Frankfurt verbindet seine Konzeption, auch darin genau in der
Spur von Kant und der Tradition, mit einem bestimmten Verständnis
des Unterschiedes von Menschen und Tieren. Die Tiere lassen sich
von ihrem Wollen unmittelbar, ohne eingeschaltete höhere Instanz,
bewegen, die Menschen hingegen kontrollieren das fremde Wol-
len. Darin liegt das typisch Menschliche, das die Tiere nicht ken-
nen. Wenn wir diese höhere Instanz ausbilden, wenn wir also ein
Wollen zweiter Stufe ausbilden, konstituieren wir uns dadurch als
Personen. Wir sind dann, so Frankfurt, mehr als »just biologically
qualified members of a certain animal species«.31 Auch bei Frankfurt
klingt also, das zeigt diese bemerkenswerte Formulierung, noch die
alte metaphysische Idee an, den Menschen sei es möglich, sich aus
der Natur herauszuheben und mehr zu sein als ein Wesen einer be-
stimmten biologischen Spezies.
Frankfurts Theorie illustriert eindrucksvoll, wie die verschie-
denen Elemente eines Bildes, nur leicht verfremdet, immer wie-
der zusammenkommen und sich gegenseitig anziehen und stützen.
Dennoch ist die Vorstellung, das Wollen sei etwas uns Fremdes und
Äußerliches, das erst vor dem Gericht einer höheren Instanz erschei-
nen und von dieser adoptiert oder verworfen werden müsse, falsch.
Sie ist so falsch wie die Beschreibung des Wollens als passiv und wie
die Verfälschung der Tatsache, dass die Menschen von Natur aus so-
und-so sind, in einen Fall von Heteronomie und Versklavung. Ver-
suchen wir uns klarzumachen, warum die Enteignung des W ollens
ein Fehlweg ist.
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206 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 207
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208 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 209
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210 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 211
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212 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 213
fixiert ist, ist auch Teil ihrer Konstitution, nichts Fremdes, sondern
das, was die Lebewesen, die sie sind, ausmacht. Das eigene Wollen
muss nicht, weil es diese fixen Determinanten enthält, erst durch ein
eigenes Tun in das Ich hineingezogen werden.
Ich will noch auf einen zusätzlichen, allerdings nicht leicht zu
fassenden Umstand aufmerksam machen. Es scheint, als habe das
Wollen als ein mentaler und insbesondere motivationaler Zustand
eine besondere Ich-haftigkeit. Auch wenn ich nicht gewählt habe,
dass ich das Angenehme will, ist es doch so, dass ich es will und
dass ich in dieses Wollen in bestimmter Weise involviert bin: Es
motiviert mich, es treibt mich an, etwas zu tun. Es hat ein Gewicht,
wenn es darum geht, was ich tue. Ich kann meinem eigenen Wollen
gegenüber gar nicht gleichgültig sein. Dass ich schwarzhaarig bin,
auch etwas, was zu mir gehört, ohne dass ich es selbst gewählt habe,
ist hingegen eine Tatsache, der gegenüber ich gleichgültig sein kann.
Ich bin es, der diese Haarfarbe hat, aber ich bin in diese Sache nicht
in der Art involviert wie in ein eigenes Wollen. Das Wollen ist also
nicht einfach etwas, was ich habe wie ich eine Haar- oder Augen-
farbe habe, es zeigt vielmehr eine spezifische Ich-haftigkeit. Auch
dies lässt erkennen, dass das Wollen nicht nur ein »Rohmaterial« ist,
von dem man erst einmal sehen muss, was man damit anstellt und
ob man es mit dem eigenen Ich verbindet.
Werfen wir noch einen Blick auf eine etwas andere Variante des Mo-
dells, das das Wollen auf Distanz zum eigenen Selbst bringt. Für sie
ist nicht das Gegensatzpaar fremd – eigen zentral, die dominante
Idee ist vielmehr die einer konstitutiven Lücke zwischen Wollen und
Handeln. Wenn man etwas will, so die These, stellt sich immer erst
einmal die Frage, ob man dem Wollen folgen soll. Habe ich, wenn
ich etwas will, einen Grund, entsprechend zu handeln? Diese Vor-
stellung ist, wiederum inspiriert durch Kant, besonders von Chris-
tine Korsgaard entfaltet worden. Ein Wollen ist, so sagt sie, nur ein
»Vorschlag« (»proposal«), etwas zu tun, und man muss erst entschei-
den, ob man diesem Vorschlag folgt oder nicht. Ein Wollen ist immer
»something we need to make a decision about«.34 Der menschliche
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214 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 215
betrachten, und dann ist es sinnvoll, zu fragen, wie ich mich dazu
stellen will. Aber das eigene Wollen, das mein Wollen ist, zu einem
bloßen Vorschlag zu degradieren und so zu beschreiben, als sei es das
Wollen eines anderen, bei dem ganz offen ist, wie ich darauf reagiere,
ist irreführend und stark tendenziös. Es ist schwer zu verstehen, wie
man glauben kann, das sei eine angemessene Beschreibung.
Dann stellt sich offenkundig wieder die grundsätzliche Frage, was
denn die Distanz zu meinem eigenen Wollen begründen soll. Wo
kommt der Anstoß her, das Wollen auf Distanz zu halten und zum
Teil zu etwas zu machen, das das Handeln nicht bestimmen darf?
Warum sollte ich, was ich tun will, nicht tun? Ich bin es doch, der
dieses Wollen hat, und als Wollen hat es die biologische Funktion,
mich zum Handeln zu bewegen. Es ist gerade seine Natur und sein
Sinn, mich zu motivieren. Warum also sollte ich das, was ich tun will,
nicht tun? Wenn ich tanzen will, intrinsisch, und wenn dieses Wol-
len für sich genommen wird und nicht in Konkurrenz mit anderen
Wünschen steht, was könnte mich dazu bringen, das, was ich will,
nicht zu tun oder zu fragen, ob ich es tun soll?
Diese Distanzierung vom eigenen Wollen ist ohne Anlass, und –
außerdem – gibt es gar keine Kriterien, anhand deren man die Frage,
ob man dem Wollen folgen soll, beantworten könnte. Die Vernunft
ist, wie wir sahen, in keiner Weise in der Lage, ein intrinsisches Wol-
len über dem Strich als vernünftig oder unvernünftig zu beurteilen.
In Wirklichkeit wird die unmittelbare Verbindung von Wollen
und Handeln allein dann suspendiert, wenn das Wollen in Konkur-
renz mit einem anderen Wollen oder mehreren anderen Wünschen
steht. Erst wenn ich tanzen will, zugleich aber auch etwas Gegen-
läufiges will, muss ich überlegen, was ich tun soll. Jetzt löst sich die
Verbindung von Wollen und Handeln, und es tritt die Überlegung,
die Koordinierung der verschiedenen Wünsche dazwischen. Auf
diese Weise »suspendiert« man, so hat Locke gesagt38, die »execu-
tion« oder »prosecution« des Wollens. Es ist also nicht so, dass die
Verbindung von Wollen und Handeln erst hergestellt werden muss;
sie existiert von sich aus, weil das Wollen ein motivationaler Zustand
ist. Es ist umgekehrt: Gerade weil diese Verbindung von sich aus
existiert, muss sie, in einer Konkurrenz mit einem anderen Wollen,
suspendiert werden, so dass man, wenn man überlegt, nicht überlegt,
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216 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 217
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218 Teil II: Die Gegenstände des Wollens
5. Zusammenfassung
Ich ziehe die Überlegungen dieses Kapitels jetzt noch einmal zu-
sammen. Das platonisch-kantisch inspirierte Modell des Wollens
ist, so das zentrale Ergebnis, falsch. Es bietet in einem Kranz von
ineinander greifenden Theorieelementen eine Fehlbeschreibung des
menschlichen Wollens, – und damit auch ein falsches Bild von der
Existenzweise der Menschen. Das Wollen ist nicht etwas uns Frem-
des und Äußerliches, etwas, was nicht wirklich zu uns gehört. Es ist
nicht etwas Bedrohliches, das uns, wenn wir es nicht kontrollieren,
in die Heteronomie stößt, unterjocht und die Freiheit nimmt. All
dies trifft nicht zu. Und es ist nicht so, dass das Wollen, weil es etwas
Externes und Passives ist, erst – durch eine eigene Aktivität – geprüft,
approbiert und ins Ich hineingelassen werden muss. Diese Beschrei-
bung kommt aus der Angst vor der Depotenzierung des Menschen,
sie versucht die Aktivität und Selbststeuerung auch im Bereich des
Volitiven zu retten. Sie enteignet zunächst das Wollen, um die so
entstehende Lücke zwischen dem Wollen und dem Ich dann durch
einen Akt der Aneignung, durch ein eigenes Tun wieder schließen zu
können. Doch dieser aus der Defensive geborene Rettungsversuch
verfehlt die Phänomene gleich mehrfach. Zum einen übersieht er,
wenn er das Wollen über dem Strich als fremd und passiv beschreibt,
die aktiven, imaginativen Elemente in diesem Wollen. Was wir wol-
len, hängt bereits zu einem großen Teil von einem eigenen Tun ab,
davon, wie wir imaginieren und was wir uns als angenehm und un-
angenehm vorstellen. Zum anderen erfindet das traditionelle Modell
eine höhere Instanz, die die Funktion hat, einen Teil des Wollens zu
approbieren und sich zu eigen zu machen. Aber diese Instanz gibt
es nicht, weder in der Form einer von allem Wollen abgelösten Ver-
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§ 8 Die Zugehörigkeit des Wollens 219
nunft, noch in der Form eines höherstufigen Wollens, das wie aus
dem Nichts das Wollen akzeptiert oder verwirft.
Es sei auch noch einmal festgehalten, dass das kritisierte Modell
des Wollens eine verhängnisvolle Tendenz zu der Idee in sich trägt,
der Mensch sei ein Wesen, das sich aus der Natur und ihren Geset-
zen herausbewegen und eine davon unabhängige Position einneh-
men könne. Diesen Fluchtpunkt eines von allen natürlichen Deter-
minanten unabhängigen Selbst gibt es nicht. Ein solches Selbst ist
nur eine Phantasie. In Wahrheit ist es immer die Konkurrenz mit
einem anderen Wollen, die einen inneren Abstand zu einem Wollen
schafft und die bewirkt, dass man vorläufig und dann vielleicht auch
endgültig die Exekution der entsprechenden Handlung suspendiert.
Wir sind immer im Wollen. Es gibt kein dem Wollen vorgelagertes
und übergeordnetes Selbst. Auch wenn wir überlegen und unsere
Wünsche koordinieren, dient das einem Wollen: Wir überlegen, weil
wir möglichst viel von dem vielen, was wir wünschen, verwirkli-
chen wollen. Es hat keinen Sinn, den Selbstverkleinerungsängsten
mit theoretischen Erfindungen und irreführenden Phänomenbe-
schreibungen zu begegnen.
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Teil III
Die Koordination des Wollens
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen
Die Menschen wollen niemals nur eine Sache, sie wollen immer vie-
les. Jeder einzelne Wunsch steht deshalb in Konkurrenz mit ande-
ren Wünschen. Das Wollen über dem Strich, von dem bisher die
Rede war, zeigt sich jeweils als eine Pluralität von Wünschen, die
alle darum konkurrieren, zum Wollen unter dem Strich und damit
handlungsleitend zu werden. Die Menschen sind folglich ständig mit
der Frage befasst, was sie nun, alles in allem betrachtet, tatsächlich
tun wollen. Sie müssen fortwährend aus der Vielzahl des Wollens
das eine Wollen herausdestillieren, das am meisten Gewicht hat und
deshalb das Handeln bestimmt. Sie tun das durch eine spezifische
Form des Überlegens. Wir haben bereits das instrumentelle Über
legen und das koordinative Überlegen unterschieden. Das eine sucht
nach Mitteln, durch die ein Ziel erreicht werden kann, das andere
sucht angesichts einer Vielzahl von Zielen nach dem Wunsch, der
die Konkurrenz gewinnt und zum Wollen unter dem Strich wird.
Zum instrumentellen Überlegen, zumindest in einer rudimentären
Form, sind, wie wir sahen, auch nicht-menschliche Lebewesen fä-
hig. Der Schimpanse Sultan überlegt in diesem Sinne, wie er an die
außerhalb seiner Reichweite befestigten Bananen kommt. Das koor-
dinative Überlegen scheint hingegen ein Spezifikum der Menschen
zu sein. Es kann zwar auch bei Tieren zu Motivationskonflikten
kommen. Aber das geschieht offenbar eher selten, und wenn, scheint
es genetisch oder durch erlernte Mechanismen fixiert zu sein, wel-
cher Impuls sich durchsetzt. Bei den Menschen ist die – ungleich
kompliziertere – Koordination des Wollens dagegen etwas, was sie
selbst tun, es ist eine eigene geistige Leistung. Was bisher am Kopf
der L ebewesen vorbeilief, läuft jetzt durch ihren Kopf hindurch.
In vielen Fällen vollzieht sich die Koordination des Wollens mehr
oder weniger unbewusst, ohne Aufmerksamkeit und Anstrengung.
Es ist klar, welches Wollen das stärkste ist und welche anderen Wün-
sche dahinter zurückstehen müssen. Nur in einem Teil der Fälle
stellen wir eine explizite, bewusste Überlegung an. Man zieht den
Fall dann auf die mentale Bühne und richtet seine Aufmerksamkeit
darauf.
Wie funktioniert nun eine koordinative Überlegung? Was sind,
das ist besonders wichtig, die Ressourcen, aus denen sie schöpft?
Worauf greift sie zurück, um herauszufinden, was das Wollen unter
dem Strich ist? – Bevor ich hierauf komme, möchte ich zunächst
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224 Teil III: Die Koordination des Wollens
Ich habe oben, als es um die Entstehung eines Lebewesens ging, das
fähig ist, zu überlegen, bereits gefragt, was es dafür können muss.
Mit welchen Fähigkeiten muss ein fiktiver Ingenieur ein solches We-
sen ausstatten?1 Ich habe sechs Merkmale angeführt, die wesentlich
sind. Ein zur Überlegung fähiges Wesen muss (i) Handlungen und
ihre Konsequenzen imaginieren können, auch solche Handlungen,
die niemals realisiert werden, vielmehr nur »im Geist« ausprobiert
werden. Es muss (ii) ein Gedächtnis haben, in dem es, was es über
die Welt weiß, speichert und präsent hält. Es muss sich (iii) auf die
Zukunft beziehen können. Jede praktische Überlegung ist auf die
Zukunft gerichtet. Es muss (iv) über Bewusstsein verfügen und über
ein zusammenhängendes Bewusstseinsfeld, in dem verschiedene
Dinge aufeinander bezogen werden können. Das mentale Gesche-
hen des Überlegens hat (v) die Eigenschaft der Subjektivität. Das
Wesen, das die Überlegung anstellt, hat einen speziellen Zugang zu
dem Geschehen. Es besteht eine Asymmetrie zwischen der eigenen
Perspektive und der anderer. Und (vi) ist das Überlegen ein Tätig
sein vor dem Tätigsein. Die Handlung, zu der es schließlich kommt,
geht auf eine vorgeschaltete Aktivität des Handelnden selbst zurück.
Dadurch gewinnt sie den Charakter von etwas Eigenem: es ist seine
Handlung, sie geht auf ihn, auf etwas, was er zuvor getan hat, zu-
rück. – Diese Feststellungen bezogen sich alle auf das instrumentelle
Überlegen. Deshalb konnte ich (vii) hinzufügen, dass diese Form
des Überlegens offenbar keine Sprache voraussetzt. Was unmittelbar
daran zu erkennen sei, dass Schimpansen zu instrumentellen Über-
legungen fähig sind, aber nicht sprechen können.
Was muss nun ein Lebewesen können, um auch zum koordina-
tiven Überlegen fähig zu sein? Es muss ohne Zweifel noch mehr
hinzukommen. Eine der vielen Fragen, die sich hier auftun, ist er-
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 225
neut die Frage nach der Rolle der Sprache. Ist sie ein notwendiges
Element dieser Entwicklung? Folgende vier Merkmale scheinen für
ein Wesen, das auch koordinativ zu überlegen vermag, zusätzlich
wesentlich zu sein:
(i) Ein Lebewesen, das mehrere Dinge will und überlegt, was
es angesichts dessen unter dem Strich will, muss offenbar über die
Fähigkeit zur Reflexivität verfügen. Damit meine ich, dass es in
der Lage sein muss, sich intentional auf seine eigenen mentalen Zu-
stände, in diesem Fall auf sein eigenes Wollen, zu beziehen. S ultan
will an die Bananen, die er an der Decke sieht, und er überlegt, wie er
sie erreichen kann. Aber sein Wollen wird dabei nicht zum Gegen
stand der Überlegung, und Sultan bezieht sich auch nicht auf an-
dere Weise intentional auf sein Wollen. Schimpansen und andere
Menschenaffen sind, wie wir sahen, vermutlich grundsätzlich nicht
in der Lage, sich auf – eigene oder fremde – mentale Zustände zu
beziehen. Mentale Zustände sind Dinge, die sie nicht kennen. Sie
sind perzeptuell nicht zugänglich und erscheinen deshalb nicht auf
der Bühne ihres Geistes. Schimpansen wie Sultan befinden sich in
Bewusstseinszuständen, sie empfinden etwas, sie wollen etwas, sie
machen Annahmen über die Welt, aber all das wird nicht selbst zum
Gegenstand ihres Geistes.
Die Menschen hingegen können ihre eigenen Wünsche, ihre ei-
genen Meinungen, ihre eigenen Gefühle zum Gegenstand des Über-
legens, des Erkennens und auch des Wollens machen. Sie besitzen
die Fähigkeit zur Reflexivität. Ohne sie wäre es zum Beispiel gar
nicht möglich, zukünftige Wünsche zu antizipieren und vorab zu
berücksichtigen. Ohne sie wäre es nicht möglich, darüber nachzu-
denken, wie es zu einem bestimmten Wollen gekommen ist, ob etwas
mit einem Wollen nicht stimmt, wie ein Wollen mit einem anderen
zusammenhängt, ob man das eine nur will, weil man etwas anderes
will, etc. Und ohne diese Fähigkeit zur Reflexivität wäre es offen-
kundig auch nicht möglich, koordinativ zu überlegen. Diese Form
des Überlegens bezieht sich auf das eigene Wollen, sie zielt darauf,
das eigene Wollen nach wichtiger und weniger wichtig zu ordnen
und herauszufinden, was man am meisten will.
Ich will nicht ausschließen, dass es auf dem langen Weg zum
Homo sapiens und zur Fähigkeit der Menschen zur Reflexivität
auch Vorformen koordinativen Überlegens gegeben hat, die dieser
Voraussetzung nicht bedurften. Man kann sich vorstellen, dass für
frühere Menschen Ereignisse, die sie für die Zukunft erwarteten, mit
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226 Teil III: Die Koordination des Wollens
2 Vgl. oben § 4, S. 93 f.
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 227
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228 Teil III: Die Koordination des Wollens
4 Vgl. Hume, Treatise III, ii, sect. vii, p. 536. – Hume hat in dieser Neigung
zum Hier-und-Jetzt, meines Erachtens übertrieben, eine zentrale Schwäche
des Menschen gesehen. »This great weakness«, so sagt er, »is incurable in hu-
man nature.« Vgl. D. Hume: Of the Origin of Government, in D. H.: Essays,
Moral, Political and Literary, ed. E. F. Miller (Indianapolis 1985) 37–41, 38.
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 229
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230 Teil III: Die Koordination des Wollens
größer wird der Anteil des eigenen Ichs, umso größer wird die ei-
gene Einflusszone.
Die Einschaltung zweier Phasen des Überlegens in den Prozess
der Handlungsvorbereitung zeigt, wie stark das Verhalten der Men-
schen in ihrer eigenen Hand liegt und wie stark die Bestimmung des
Verhaltens durch ihren Kopf läuft. Natürlich begründet diese Art der
Verhaltenssteuerung die unvergleichliche Flexibilität des menschli-
chen Verhaltens und damit die unvergleichliche Anpassungs- und
Überlebensfähigkeit der Menschen.
Diese Sachlage hat außerdem große Bedeutung für unser Selbst-
verständnis. Wir sind und sehen uns als wirkliche Autoren unserer
Handlungen. Was wir tun, hängt vom Ergebnis des eigenen Über-
legens, des koordinativen und des instrumentellen, ab. Wir sind und
sehen uns nicht als bloße »bystanders« und Beobachter von subjekt-
losen Prozessen, die in uns ablaufen, an denen wir nicht beteiligt sind
und auf die wir keinen Einfluss haben. Wir sind und sehen uns nicht
als Spielball unseres Wollens. Wir selbst sind es, die das Wollen über
dem Strich koordinieren, die überlegen, was wichtiger und weniger
wichtig ist, und die bestimmen, was das Wollen unter dem Strich
ist. Es ist noch auszuloten, welche Spielräume beim koordinativen
Überlegen genau bestehen. Aber klar ist von vorneherein, dass wir
das gut und schlecht tun können, dass wir uns mehr oder weniger
Mühe geben können, dass wir die Aufmerksamkeit auf dieses oder
jenes lenken können, dass wir die Überlegung vorschnell abbrechen
oder zum richtigen Zeitpunkt abschließen können. Es bestehen also
zweifellos deutliche Spielräume, in denen man sich so oder so ver-
halten kann. Es sei auch daran erinnert, dass bereits in die Ausbil-
dung des Wollens über dem Strich eine eigene Aktivität eingeht, die
Imagination. Von ihr hängt zu großen Teilen ab, was wir über dem
Strich wollen, was also in die Koordination des Wollens eingeht.
Die vier jetzt angeführten Charakteristika eines Wesens, das nicht
nur zum instrumentellen, sondern auch zum koordinativen Über-
legen fähig ist, lassen erkennen, wie stark sich ein solches Lebewe-
sen von weniger entwickelten Lebewesen unterscheidet. Es muss
zusätzlich die Fähigkeit zur Reflexivität haben, es muss komplexe
Sachverhalte, die perzeptuell nicht greifbar sind, sprachlich reprä-
sentieren können, und es muss imstande sein, auch seine Hier-und-
Jetzt-Wünsche zu relativieren. Durch die Fähigkeit, das eigene Wol-
len zu koordinieren, wird die Art der Handlungssteuerung, so zeigt
der vierte Punkt, noch einmal verändert. Es wandern weitere Ele-
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 231
mente in den Kopf des Lebewesens hinein. Die Anteile des Ichs an
der Handlungssteuerung werden dadurch, dass dem maßgeblichen
Wollen eine Überlegung vorgeschaltet ist, noch einmal vergrößert.
Wenn wir jetzt zu der Frage kommen, wie das koordinative Über-
legen funktioniert, ist es hilfreich, als erstes die Situation, in der wir
eine solche Überlegung anstellen, in einigen wesentlichen Grundzü-
gen zu beschreiben. Betrachten wir dazu noch einmal das schon ver-
wandte Beispiel. Ich liege auf einer Wiese am See, genieße die Sonne
und möchte bleiben. Zugleich will ich aber auch am Abend in die
Oper und deshalb jetzt aufbrechen. Tatsächlich will ich, während ich
da liege, untergründig noch tausend andere Dinge. So möchte ich in
einigen Wochen meiner Frau ein schönes Geburtstagsfest ausrichten.
Aber dafür brauche ich heute noch nichts zu tun. Das hat noch Zeit.
An diesem Beispiel lässt sich Folgendes ablesen: (i) Die prakti-
sche Überlegung zielt letzten Endes auf eine Handlung. Es geht in
dieser Situation am Ende darum, ob ich liegen bleibe oder aufbreche.
(ii) Um zu der Handlungswahl zu kommen, ist es aber nötig,
zwei Wünsche zu koordinieren und in ihrem relativen Gewicht zu
bestimmen, den Wunsch, noch weiter in der Sonne zu liegen, und
den Wunsch, die Oper zu hören. Beide Wünsche sind intrinsisch.
Der Wunsch, jetzt aufzubrechen, fällt hingegen heraus, er ist ein ex-
trinsischer Wunsch, dessen Gewicht allein durch den intrinsischen
Wunsch bestimmt ist, von dem er abgeleitet ist. Die Koordination
des Wollens hat es, so zeigt sich, nur mit intrinsischen Wünschen
zu tun und findet zwischen ihnen statt. Die extrinsischen Wünsche
werden gleichsam heraussubtrahiert, sie haben kein eigenes Gewicht,
es sei denn, dass das extrinsisch Gewollte außerdem auch intrinsisch
gewollt oder nicht gewollt wird.
(iii) Die Beispielsituation zeigt überdies, dass in der koordinie-
renden Überlegung nur Wünsche eine Rolle spielen, die einen Be-
zug zum Hier und Jetzt enthalten. Der Wunsch, meiner Frau ein
Geburtstagsfest auszurichten, ist zwar ein gegenwärtiger Wunsch,
aber er geht auf etwas Zukünftiges, und es besteht nicht die Not-
wendigkeit, hier und jetzt etwas zu tun. Der Wunsch ist, so kann
man sagen, gegenwärtig, aber nicht aktuell. Wir haben viele solcher
im Moment nicht aktueller Wünsche. Sie sind da, gehören aber nicht
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234 Teil III: Die Koordination des Wollens
man investiert, wie weit man geht, liegt in der Hand des Überlegen-
den, er muss so oder so agieren.
Ich will wenigstens anmerken, dass man den Konflikt zwischen
gegenläufigen Wünschen häufig lösen kann, indem man die Er-
füllung der Wünsche zeitlich staffelt. Ich bleibe jetzt am See und
nehme mir vor, in die nächste Aufführung der Oper in zehn Tagen
zu gehen. So kann man beide Wünsche erfüllen. Es mag sein, dass in
zehn Tagen, wenn der Opernbesuch ansteht, dem wieder Hier-und-
Jetzt-Wünsche entgegenstehen, aber dieser mögliche, in jedem Fall
erst zukünftige Konflikt muss mich im Moment nicht kümmern.
Es liegt auf der Hand, dass die Möglichkeit, Wunsch-Konflikte
durch zeitliche Staffelung zu lösen, im Leben der Menschen eine
große Rolle spielt. Und dass, solche Zeitpläne zu machen, äußerst
anspruchsvoll ist. Sie implizieren ein aktives Zeitmanagement und
setzen die Fähigkeit voraus, sich für bestimmte Zeitpunkte in der
Zukunft bestimmte Handlungen vorzunehmen. Tiere können das
nicht und Kinder auch nicht. Aber natürlich steht uns dieser Weg
nicht immer offen, und uns interessiert, wie die Koordination des
Wollens funktioniert, wenn ein Konflikt wirklich entschieden wer-
den muss.
Was sind nun die Ressourcen, auf die das koordinative Überlegen
zurückgreift? Anhand wovon kommt diese Art des Überlegens zu
ihren Ergebnissen? Es liegt viel daran, in dieser Sache zunächst eine
Reihe einflussreicher traditioneller Vorstellungen zurückzuweisen.
Ich kann mich dabei weitgehend auf Ergebnisse stützen, die bereits
in den vorangegangenen Kapiteln, als es um die Ausrichtung des
Wollens ging, erreicht wurden.
Eine Grundidee, die verschiedene traditionelle Konzeptionen
verbindet, besagt, es gebe einen objektiven Maßstab jenseits des
Wollens, der es erlaubt, das Wollen zu evaluieren und nach wichti-
ger und weniger wichtig zu ordnen. Das koordinative Überlegen hat
folglich auf diesen Maßstab zu sehen, um die gegenläufigen Wün-
sche an ihm zu messen und zu reihen. Wie wir sahen, hat man über
Jahrhunderte die Vorstellung für überzeugend gehalten, man könne
ein Wollen an seinem Gegenstand messen. Wenn das, was man will,
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 235
etwas Gutes ist, ist das Wollen in Ordnung, wenn es etwas Schlech-
tes ist, ist das Wollen hingegen fehlgeleitet, ein »miswanting«. Und
folglich ist, wenn von zwei konkurrierenden Wünschen beide auf
etwas Gutes gehen, das eine aber auf ein größeres Gut, damit klar,
welches Wollen seinen Rivalen aussticht. Das Gut- und Schlechtsein
des Gewollten verstand man in dieser Tradition als eine objektive
Eigenschaft, die den Gegenständen subjektunabhängig und damit
auch wollensunabhängig zukommt. Wir haben jedoch gesehen, dass
es dieses objektive Gute und Schlechte nicht gibt. Es kann deshalb
weder in der Ausrichtung des Wollens noch in seiner Koordination
eine Rolle spielen.
Das traditionelle Modell tritt, wie erläutert, häufig auch in einem
etwas anderen Gewand auf. Man kann das Wollen, so nimmt man
an, daraufhin prüfen, ob es begründet ist, und auch daraufhin, wie
stark der jeweilige Grund ist. Gründe haben ein Gewicht, sie kön-
nen stärker und schwächer sein. Das koordinative Überlegen prüft
demnach, welche der konkurrierenden Wünsche begründet sind und
in welchem Maße sie begründet sind. Der Wunsch, für den am meis-
ten spricht, der also den stärksten Grund hinter sich hat, gewinnt
dann die Konkurrenz und wird zum Wollen unter dem Strich. Die
Gründe, um die es geht, müssen, da sie Gründe für das intrinsische
Wollen sein sollen, offenkundig selbst wollensirrelativ sein.
Doch auch hier wurde gezeigt, dass es solche Gründe nicht gibt.
Alle Gründe sind wollensrelativ. Und das bedeutet, dass es für das
intrinsische Wollen keine Gründe geben kann. Wir können diese
Variante des traditionellen Modells also ebenfalls verwerfen. Und
damit können wir die Vorstellung, das koordinative Überlegen be-
stehe darin, das Wollen im Blick auf eine von ihm unabhängige, ob-
jektive Realität zu evaluieren und zu reihen, insgesamt verwerfen.
Wir müssen eine weitere Konzeption zurückweisen, die Vorstel-
lung, das Überlegen oder, wenn man so will, die Vernunft könne
aus sich selbst heraus Kriterien entwickeln, anhand deren man das
Wollen nach besser und schlechter sortieren könne. Der Maßstab ist
in diesem Fall nicht eine objektive Realität, sondern kommt aus dem
Inneren des Subjekts, eben aus der Überlegung. Mit dieser Kon-
zeption verbindet sich gewöhnlich die traditionelle Enteignung und
Abwertung des Wollens. Das Wollen ist etwas uns Fremdes, etwas,
was nicht wirklich zu uns gehört, während das Überlegen, die Ver-
nunft etwas Eigenes ist, aus dem die Kriterien für die Evaluation
des Wollens kommen.
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236 Teil III: Die Koordination des Wollens
Das Überlegen hat jedoch nur eine kognitive Funktion, die Ver-
nunft erkennt, was ist und wie sich etwas verhält. Sie kann kognitive
Defizite des Wollens aufdecken und so indirekten Einfluss auf das
Wollen haben. Aber sie kann nicht, jenseits dessen, Kriterien aus
sich herausziehen, die eine Reihung der Wünsche ermöglichen. Wie
sollte das gehen? Man kann durch eine Überlegung erkennen, dass
es bestimmte Minimalbedingungen gibt, die eine Reihung von Wün-
schen erfüllen muss, so etwa die Bedingung der Transitivität: wenn
man x will und auch y und z und wenn man x gegenüber y vorzieht
und y gegenüber z, dann muss man auch x gegenüber z vorziehen.
Doch solche Regeln formulieren nur formale Bedingungen für eine
Reihung der Wünsche, sie sagen aber nichts darüber, wie die kon-
kreten Wünsche materialiter zu reihen sind, und sie bieten dafür
keinerlei Kriterien. Sie sagen einem offensichtlich nicht, ob man x
gegenüber y und y gegenüber z vorziehen soll.
Kant hatte, wie oben erläutert, die Vorstellung, die Instanz, die er
»reine« Vernunft nennt, könne aus sich heraus eine generelle Forde-
rung an das Wollen richten, die sich nicht aus dem Bezug auf wei-
tere Wünsche ergibt, sondern wollensirrelativ oder, wie Kant sagt,
kategorisch ist. Es braucht hier nicht geklärt zu werden, ob sich
mit dieser Theorie überhaupt eine Konzeption des koordinativen
Überlegens verbindet. Denn wir haben gesehen, dass es die »reine«
Vernunft, von der Kant spricht, nicht gibt. Sie ist ein Konstrukt, und
deshalb ist auch das auf das Wollen gerichtete kategorische Müssen
ein Konstrukt. Auch in dieser Form hat das Überlegen also keine ei-
genen Ressourcen für die Evaluation und die Ordnung des Wollens.
Es gibt, wie sich zeigt, weder auf der Objektseite noch auf der
Subjektseite Faktoren außerhalb des Wollens, die ein Maßstab für
die Reihung des Wollens sein können. Die traditionellen Theorien,
die das eine oder das andere annehmen, handeln mit Dingen, die es
nicht gibt.
Auch Frankfurts Theorie des Wollens steht, überraschend deut-
lich, in der Tradition, die glaubt, man müsse das eigene Wollen an ei-
nem externen Maßstab messen und bewerten. Frankfurt spricht aus-
drücklich vom »Evaluieren« der eigenen Wünsche.6 Man muss dem
eigenen Wollen gegenüber eine »evaluative attitude« einnehmen7,
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 237
und zwar anhand eines Maßstabs außerhalb des Wollens. Den Maß-
stab bilden nicht die Gegenstände des Wollens und ihre vermeint-
lichen objektiven evaluativen Eigenschaften, er kommt wiederum
aus dem Inneren des Subjekts. Doch nicht die Vernunft evaluiert
das Wollen, sondern ein höherstufiges Wollen. Auch in diesem Fall
ist keineswegs klar, ob dieses Stufenmodell zu einer Konzeption
des koordinativen Überlegens führt. Frankfurt hat eine solche Kon-
zeption jedenfalls nicht entwickelt. Der eigentliche Anlass für die
Ausbildung der Wünsche zweiter Ordnung ist das generelle Miss-
trauen, das wir, wie Frankfurt glaubt, den eigenen Wünschen gegen-
über hegen. Das hat mit der Koordination konkurrierender Wün-
sche nichts zu tun. Dennoch denkt Frankfurt, wenn er auf das Phä-
nomen konfligierender Wünsche erster Stufe zu sprechen kommt,
immer sofort an das Wollen zweiter Stufe. Dieses Wollen bringt die
Lösung für den Konflikt auf der unteren Stufe. So sagt er, auch die
Tatsache, dass Wünsche konfligieren können, sei ein Grund, Wün-
sche zweiter Ordnung auszubilden.8 Ein Konflikt des Wollens auf
der ersten Stufe verlangt, so scheint es, immer eine Entscheidung
auf der höheren Ebene.9 Er führt immer von den konfligierenden
Wünschen weg und ruft nach einer Intervention »von oben«. Man
muss sich »von oben« volitiv hinter einen Wunsch stellen und für
ihn Partei ergreifen.10
Dieser Gedanke Frankfurts spiegelt sich auch in seiner Beschrei-
bung der »wantons«: »wantons« sind Wesen, Tiere und kleine Kin-
der gehören dazu, die über keine höherstufigen Wünsche verfügen,
zumindest nicht über solche, die zum Inhalt haben, ein Wunsch ers-
ter Ordnung solle handlungseffektiv werden. Dem »wanton« fehlt
damit, so meint Frankfurt, jegliches Instrument, einen Konflikt von
Wünschen erster Stufe zu lösen. Der »wanton« kümmert sich nicht
darum, ja er kann sich gar nicht darum kümmern, welcher seiner
Wünsche handlungsleitend wird.11 Stattdessen setzt sich einer seiner
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238 Teil III: Die Koordination des Wollens
Wünsche, ohne sein Zutun, durch und bestimmt das Handeln.12 Der
»wanton« ist ein Spielball seiner Wünsche, er ist völlig passiv, allen-
falls ein Beobachter dessen, was unabhängig von ihm in ihm abläuft.
Auch in dieser Art, den »wanton« zu charakterisieren, kommt zum
Vorschein, dass Frankfurt die Lösung eines Wunschkonflikts auf der
ersten Ebene immer von einem Geschehen auf der höheren Ebene
erwartet. Man muss sich, wie gesagt, volitiv auf die Seite eines Wol-
lens schlagen und wollen, dass es handlungsleitend wird.
Es ist nicht nötig, zu überlegen, wie diese Gedanken Frankfurts
zum Problem des Wunschkonflikts weiterzuentwickeln wären.
Denn wir haben schon gesehen, dass seine Theorie des mehrstufigen
Wollens in zentralen Punkten nicht überzeugend ist und die Struk-
tur unseres Wollens keineswegs adäquat abbildet. Es gibt zweifellos
höherstufige Wünsche, aber sie spielen nicht die Rolle, die Frank-
furt ihnen zuschreibt. Vor allem haben wir gesehen, und das ist im
jetzigen Zusammenhang das Entscheidende, dass das höherstufige
Wollen immer einer bereits erfolgten Abwägung und Koordination
der Wünsche auf der ersten Stufe folgt. Wenn ich noch in der Sonne
liegen bleiben will, aber auch wegen der Oper am Abend aufbrechen
will und wenn mir nach einer Überlegung klar ist, dass mir die Oper
wichtiger ist, dann will ich nicht, dass der Hier-und-Jetzt-Wunsch,
noch liegen zu bleiben, mein Handeln bestimmt. Dieses höherstu-
fige Wollen gewinnt allerdings wohl nur dann Bedeutung, wenn ich
Gefahr laufe, dem in der Überlegung unterlegenen Wunsch zu fol-
gen. Die Überlegung erfolgt hier offenkundig auf der ersten Stufe,
und der höherstufige Wunsch folgt, wenn er überhaupt ins Spiel
kommt, in seiner Ausrichtung der unabhängig von ihm erreichten
Reihung der Wünsche erster Ordnung. Und genauso ist es generell.
Dem höherstufigen Wollen wird von unten »souffliert«, auf wel-
ches Wollen es sich positiv oder negativ zu richten hat. Es ist also
keine Instanz, die etwas Eigenes einbringt und aus Eigenem über
das Wollen erster Stufe entscheidet. Das Abwägen und die Koor-
dination gegenläufiger Wünsche findet, wie gesagt, auf der Ebene
erster Ordnung statt. Dieses koordinative Überlegen kommt bei
Frankfurt gar nicht vor. Er übergeht es. Folglich sagt er uns auch
nicht, wie es funktioniert.
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 239
Wenn ein externer Maßstab ausfällt, muss man, so scheint es, auf
das Wollen selbst schauen. Hat es nicht an sich selbst etwas, was als
Maßstab für eine Reihung dienen kann? Haben die Wünsche nicht
an sich selbst etwas, was es möglich macht, sie zu koordinieren und
in eine Reihung zu bringen? Am besten sollten alle Wünsche dieses
Merkmal aufweisen, weil nur so alle Wünsche miteinander vergleich-
bar sind. Es liegt nahe, anzunehmen, dass die fragliche Eigenschaft
die Stärke oder, anders formuliert, die Intensität der Wünsche ist.
Ein Wunsch hat eine bestimmte Stärke, man will das eine stark, das
andere hingegen nur schwach. Und wenn zwei Wünsche konkur-
rieren und der eine stärker als der andere ist, wird der stärkere zum
Wollen unter dem Strich und der schwächere muss zurückstehen.
Die Stärke von Wünschen bietet offenkundig einen praktikablen
Maßstab für ihre Koordination. Und es scheint, als sei sie, wenn es
keinen externen Maßstab gibt, zugleich der einzige Maßstab, den wir
haben. Das koordinative Überlegen besteht demnach darin, heraus
zufinden, welcher der relevanten – intrinsischen – Wünsche der re-
lativ stärkste ist. Was ist es, so die Frage, was ich am meisten will?
Was ist mir am wichtigsten?
Die Rede vom stärksten oder stärkeren Wollen bedarf einer Er-
läuterung. Sie ist missverständlich, und es ist wichtig, dieses Missver-
ständnis zu vermeiden. Nehmen wir noch einmal das Casino-Bei-
spiel: Ich will am Abend wieder ins Casino gehen und spielen, und
zugleich will ich es nicht, weil ich weiß, welche desaströsen Folgen
es hat. Es bedarf keiner langen, expliziten Überlegung, um zu wissen,
was mir wichtiger ist. Das kurze Vergnügen am Abend ist mir ganz
gewiss nicht so wichtig wie die gesicherten Verhältnisse, in denen
ich und meine Familie leben und die auf dem Spiel stehen, wenn ich
weiter ins Casino gehe. Meine Lebensverhältnisse zu erhalten und
deshalb nicht ins Casino zu gehen, ist eindeutig der stärkere Wunsch.
Die beiden widerstreitenden Wünsche sind eindeutig in dieser Weise
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240 Teil III: Die Koordination des Wollens
koordiniert. Nicht ins Casino zu gehen, ist das Wollen unter dem
Strich, das überlegte Wollen.
Dennoch gehe ich am Abend wieder ins Casino, weil der Wunsch,
dies zu tun, der Wunsch eines Süchtigen ist. Das Ergebnis der Über-
legung, die eindeutige Koordination nach wichtiger und weniger
wichtig bestimmt also nicht das Handeln. Man könnte das nun so
fassen, dass der Wunsch, ins Casino zu gehen, offenbar der stär-
kere Wunsch sei. Denn er hat sich durchgesetzt, er hat effektiv das
Handeln bestimmt. Das vermeintlich stärkste Wollen bleibt hinge-
gen ineffektiv. Aber gerade so wird die Rede vom stärksten Wollen
hier nicht verstanden. Der stärkste Wunsch ist der, der sich in der
Überlegung als der stärkste herausstellt, und das ist der Wunsch,
nicht ins Casino zu gehen. Dies ist das Wollen unter dem Strich der
Deliberation. Ob man in der Lage ist, das Ergebnis der Überlegung
auch ins Handeln umzusetzen, steht auf einem anderen Blatt. Im
Normalfall ist der stärkste Wunsch, das Wollen unter dem Strich,
zugleich auch der handlungseffektive Wunsch. Aber in speziellen
Fällen gilt das nicht. Wunschstärke und Handlungseffektivität sind
deshalb verschiedene Dinge. Um den Unterschied auch termino-
logisch zu markieren, kann man einerseits vom »stärksten« oder
»deliberativ stärksten« und andererseits vom »handlungseffektiven«
Wunsch sprechen.
Wodurch ist die Stärke eines Wollens bestimmt? Wo kommt sie
her? Beim hedonischen Wollen hängt die Stärke oder Intensität des
Wollens davon ab, wie angenehm etwas ist oder als wie angenehm
etwas vorgestellt wird. Wenn ich aus zurückliegenden Erfahrungen
weiß, wie selig ich bin, wenn ich eine Oper höre, ist der Wunsch, in
die Oper zu gehen, ein anderer, als wenn ich den Eindruck habe, dass
mein Gefallen an diesem Spektakel schon seit längerem nicht mehr
so groß ist. Wie das Wollen dem Angenehmen folgt, so reflektiert
die Stärke des Wollens die Vorstellung davon, wie angenehm etwas
sein wird. Man kann daher, wenn zwei Wünsche dieser Art konkur-
rieren, statt zu fragen, was man mehr will, auch fragen, was einem
angenehmer sein wird.
Für das eingerammte Wollen gilt dies nicht. Es ist da, ohne eine
vorgängige Imagination von etwas Angenehmem, und es ist, wie
es scheint, von Natur aus stark. Die Menschen wollen weiterleben,
das ist ein fundamentales und äußerst starkes Wollen. Sie sind am
Wohl ihrer Kinder interessiert, auch das ist ein elementares und sehr
starkes Wollen. Und sie sind auf Anerkennung aus, auch dies ist ein
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 241
äußerst starker Antrieb. Dass Wünsche dieser Art uns von der Natur
»eingepflanzt« sind, schließt indessen nicht aus, dass variable Fakto-
ren ihre Stärke mitbestimmen. Wer in der Kindheit und Jugend die
Erfahrung der Ausgrenzung und des Nicht-dazu-Gehörens gemacht
hat, wird möglicherweise mehr auf Anerkennung aus sein als der, der
so etwas nicht erlebt hat.
In vielen Situationen fällt es uns nicht schwer, zu wissen, welches
Wollen stärker ist und was uns wichtiger ist. Aber in anderen Fällen
müssen wir überlegen. Auf welche Weise können wir herausfinden,
wie stark ein Wollen ist und ob es stärker ist als ein anderes? Of-
fensichtlich haben wir unser Wollen und seine Stärke nicht durch
eine innere Wahrnehmung vor uns. Wir können nicht in uns hin-
einschauen, dort Wünsche sehen und bei genauerem Hinsehen auch
entdecken, welche von mehreren rivalisierenden Wünschen stärker
als die anderen sind. Wir können auch nicht fühlen, wie stark unsere
Wünsche sind. Die meisten Wünsche haben keine phänomenalen
Qualitäten. Es fühlt sich nicht irgendwie an, eine längere Reise in
die USA machen zu wollen. Und man kann auch nicht fühlen, ob
man das eine stärker oder schwächer als das andere will. Aber wie
dann? Es ist am besten, diese Frage möglichst praktisch anzugehen
und zu überlegen, was wir konkret tun und tun müssen, wenn uns
nicht klar ist, was wir mehr wollen, dieses oder jenes.
Zwei Dinge, so scheint es, sind wesentlich. Zuerst muss man sich
von dem, was man will, ein möglichst konkretes und differenziertes
Bild machen. Nur so kann man einschätzen, wie angenehm es sein
wird. Es reicht nicht, eine bloß vage Vorstellung zu haben. Man
darf nicht blind auf etwas fliegen, sondern muss sich, so gut es geht,
vorstellen, wie das Gewollte sein wird, mit all dem, was einen an-
zieht, aber auch mit den negativen Seiten, die es möglicherweise hat.
Wenn man in einem Haus am See leben will und fraglich ist, welches
Gewicht diesem Wollen in der Konkurrenz mit anderen Wünschen
zukommt, muss man versuchen, sich das, was man da will, möglichst
konkret auszumalen. Wie wird es sein, in einem solchen Haus zu
leben, und was wird es mir bedeuten, nicht nur am ersten Tag, son-
dern dauerhaft? Ist es nur ein Bild, dem ich nachjage, eine trügeri-
sche Phantasie, oder wird es mir wirklich wichtig sein? Natürlich
kann man nicht genau antizipieren, wie es sich anfühlen wird, wirk-
lich in einem solchen Haus zu leben. Aber man kann sich um eine
möglichst konkrete Vorstellung bemühen. Genauso, wenn jemand
Cellist werden möchte: wie wird das im Berufsalltag konkret sein,
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242 Teil III: Die Koordination des Wollens
und wie wird es einem damit ergehen? Ist das etwas, was einem dau-
erhaft Freude machen wird, oder ist es nur ein verträumter Wunsch?
Sich das, was man will, konkret und lebendig vor Augen zu füh-
ren, wird es in vielen Fällen leichter machen, zu erkennen, ob ein
fragliches Wollen die gegenläufigen Wünsche überwiegt oder nicht.
Die konkrete und lebendige Imagination des Gewollten spielt im
koordinativen Überlegen also eine wesentliche Rolle.
Als Zweites ist es wesentlich, sich zu vergegenwärtigen, was man
schon weiß. Man hat in der Vergangenheit bereits Erfahrungen da-
mit gemacht, was einem angenehm und unangenehm ist und wie
angenehm oder unangenehm etwas ist. Und man hat diese Erfahrun-
gen miteinander in Beziehung gebracht, systematisiert und zu allge-
meineren Überzeugungen darüber, welche Dinge in welchem Maße
angenehm sind, geformt. Wenn man für die Zukunft etwas will, mit
dem man der Art nach schon Erfahrungen gemacht hat, hat man
folglich eine Vorstellung davon, wie angenehm es sein wird. Und
man hat damit auch eine Vorstellung davon, wie stark das Wollen ist.
Und wahrscheinlich kann man auf Grund dieses Erfahrungsmate-
rials auch bereits wissen, dass dieses Wollen stärker oder schwächer
ist als ein anderes, konkurrierendes Wollen.
Wir verfügen aber nicht nur über Erfahrungen mit dem unmittel-
bar Angenehmen, sondern auch mit dem satisfaktiv Angenehmen.
Das heißt, wir haben erlebt, wie sehr es uns gefreut hat, dass ein
Wunsch in Erfüllung ging, und wie sehr es uns geschmerzt hat, wenn
das nicht geschah. In diesen Gefühlen und ihrer Intensität spiegelt
sich die Stärke des Wollens. Je mehr man sich freut und je mehr es
einen schmerzt, umso stärker ist das Wollen, umso mehr liegt uns
an dem Gewollten. Das Spektrum der möglichen emotionalen Re-
aktionen ist indessen größer und differenzierter. So reagieren wir
auf bestimmte Dinge, die wir tun oder die uns geschehen, mit Är-
ger, Wut, Scham, Empörung, Stolz. In jeder dieser Emotionen zeigt
sich, dass etwas geschehen ist, was man will oder nicht will. Und
die Stärke der emotionalen Reaktion ist wiederum ein Gradmesser
für die Intensität des vorausgehenden Wollens. Wenn man jemals in
einer Situation war, in der das eigene Leben bedroht war, hat man er-
lebt, wie stark die Reaktionen sind, die Angst und die gesamte auto-
matische Gegenmobilisierung. In der Stärke dieser Reaktionen zeigt
sich, wie stark und elementar der Wunsch weiterzuleben ist. Wir er-
fahren also aus den Gefühlen der Freude und der Frustration wie aus
den anderen, komplexeren Emotionen und Reaktionen etwas über
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 243
unser Wollen, wir erfahren, wie sehr uns an einer Sache liegt, und
manchmal wohl überhaupt erst, dass uns an einer Sache liegt. Wir
machen »volitionale Selbsterfahrungen« und erkennen etwas über
unsere Wünsche und ihre Intensitäten.13
Diese Darlegungen zeigen, dass wir, wenn wir in einer konkreten
Situation überlegen, wie die gegenläufigen Wünsche zu koordinie-
ren sind, schon viel über unser Wollen wissen. Und in den meisten
Situationen dürfte dieses Wissen ausreichen, um zu einem klaren
Ergebnis zu kommen. Wesentlich in der koordinativen Überlegung
ist also, sich die Erfahrungen, die man mit dem Angenehmen und
Unangenehmen und mit dem eigenen Wollen gemacht hat, möglichst
genau und möglich unverzerrt zu vergegenwärtigen und sie für die
Klärung der aktuellen Konfliktsituation zu nutzen.
Es kommt noch ein weiteres wichtiges Element hinzu. Wenn je-
mand auf sein Verhalten in der Vergangenheit zurückschaut, kann
ihm etwas auffallen, was ihm bisher gar nicht bewusst war, nämlich
wie viel Negatives er in Kauf genommen hat, um ein bestimmtes Ziel
zu erreichen. Andere hätten, so denkt er dann vielleicht, angesichts
der Widrigkeiten das Ziel längst aufgegeben. Er aber hat daran fest-
gehalten. Auf diese Weise wird ihm bewusst, wie wichtig ihm die
Sache war und wie stark er sie gewollt hat. Die Stärke des Wollens
manifestiert sich in diesem Fall in dem faktischen Verhalten. Wenn
andere die Umstände gut genug kennen, können auch sie, aus der
Perspektive des Beobachters, feststellen, dass die Person die betref-
fende Sache offenbar sehr stark gewollt hat.
Bei Wünschen, um deren Koordination es in einer aktuellen
Überlegung geht und deren mögliche Verwirklichung deshalb erst
in der Zukunft liegt, kann man eine solche zurückblickende Beur-
teilung nicht vornehmen. Der behaviorale Indikator für die Stärke
des Wollens lässt sich nicht anwenden. Allerdings kann man das Ver-
fahren ins Imaginative wenden. Man kann sich fragen, was an Ne-
gativem man bereit wäre hinzunehmen, um ein bestimmtes Wollen
zu befriedigen. Was wäre man bereit zu geben dafür, das Gewollte
zu erreichen? So kann man sich zum Beispiel vorstellen, einem der
eigenen Kinder gehe es schlecht, es sei krank, rauschgiftabhängig
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244 Teil III: Die Koordination des Wollens
oder im Gefängnis. Was würde man dafür geben, das zu ändern? Fast
alles, so könnte die Antwort lauten, und darin zeigte sich dann, wie
sehr einem am Wohl der eigenen Kinder liegt. Was wäre man bereit
zu tun, was wäre man bereit hinzunehmen, um das Ziel, Cellist zu
werden, zu erreichen? Wenn es einem gelingt, zu sagen, dies gewiss,
jenes gewiss nicht, zeichnet sich, mehr oder weniger genau, ab, wie
wichtig einem die Sache ist und wie stark der entsprechende Wunsch
ist. 1971 starb der Komponist Igor Strawinsky in New York. Seine
Musik hatte die junge Susan Sontag fasziniert. Kurz nach seinem
Tod notiert sie – inzwischen Ende dreißig und ein Star der amerika-
nischen Literatur – in ihrem Tagebuch: »Ich weiß noch, wie Merrill
und ich immer darüber diskutierten, ob wir unser Leben dafür op-
fern würden, dass Strawinsky ein Jahr länger leben könnte – oder
fünf. Ich war damals vierzehn oder vielleicht fünfzehn.« Die beiden
Freundinnen Merrill und Susan lieben die Musik von Strawinsky
und wollen nicht, dass er stirbt. Und sie überlegen, was sie geben
würden, ob es gar das eigene Leben wäre, damit das, was sie nicht
wollen, nicht geschieht. Das ist gewiss das Spiel zweier aufgekratzter
Teenager, aber ihre Imagination zeigt die Struktur des gedanklichen
Experiments. Welchen Preis wäre man bereit zu zahlen dafür, dass
das Gewollte Realität wird?
Man schaut auf diese Weise nicht auf vergangene Verhaltenswei-
sen zurück und erkennt an ihnen, wie stark ein Wollen war, sondern
imaginiert, was man bereit wäre zu tun, um daran abzulesen, wie
stark ein Wollen ist. Man experimentiert mit imaginierten Hand-
lungsverläufen, für die man sich entscheiden würde, um ein Ziel zu
erreichen, und mit Handlungsverläufen, die man nicht bereit wäre
zu realisieren, um das Ziel zu erreichen. So erkennt man, zuneh-
mend genauer, wie stark ein aktuelles Wollen ist. Man kann auch
sagen, dass man auf diese Weise mit imaginierten Wunschkonflikten
experimentiert: man stellt dem, was man will, in der Imagination
Dinge entgegen, die man nicht will, und tastet ab, wie viel Nega-
tives man bereit wäre zu tun oder hinzunehmen, um das Gewollte
zu erreichen.
Dabei kann man, wie man einen imaginierten Wunschkonflikt
entscheiden würde, nur wissen im Rückgriff auf die Erfahrungen,
die man mit dem Angenehmen und Unangenehmen und dem ei-
genen Wollen schon gemacht hat. Das ganze Verfahren mit seinen
experimentellen Teilen funktioniert nur im Rückgriff auf das vor-
handene Wissen. Man vergegenwärtigt es sich und macht es sich
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 245
5. Zwei Einwände
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246 Teil III: Die Koordination des Wollens
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 247
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248 Teil III: Die Koordination des Wollens
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 249
legen ist oder ob auch andere, von der Stärke des Wollens unabhän-
gige Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind.
Im Sinne des Einwandes könnte man folgendes Szenario anfüh-
ren. Jemand ist neidisch auf seine Cousine, sie hat eine unerwartete
Erbschaft gemacht und beginnt, ein Haus zu bauen, etwas, was er
selbst auch immer wollte, aus finanziellen Gründen aber nie konnte.
Der Neid frisst sich ein, und daraus entsteht der Wunsch, auch an
eine Erbschaft zu kommen. Die Person entwickelt deshalb die Idee,
sich von nun an um eine alte, reiche Tante zu kümmern und sich ihr
gefällig zu machen. Das wird allerdings einen erheblichen Zeitein-
satz erfordern und kollidiert folglich mit einer Reihe anderer Wün-
sche. Die Vorstellung ist nun, dass in der Koordination der kon-
kurrierenden Wünsche nicht nur ihre Stärke zählt, sondern auch
der Umstand, dass einer der Wünsche einer problematischen Emo-
tion, eben einem Neidgefühl, entspringt. Das sei ein zweites, von der
Stärke unabhängiges Element, das diesen Wunsch abwertet, und dies
müsse in die Überlegung eingehen.
Es ist, denke ich, leicht zu sehen, dass diese Analyse der Situa-
tion oberflächlich ist. Dass ein Wunsch neidgetrieben ist, gewinnt
für einen nur eine Bedeutung, wenn einen diese Tatsache stört. Und
sie stört einen nur, wenn man das Gefühl des Neides missbilligt,
wenn man es nicht will und deshalb auch einen aus diesem Gefühl
entspringenden Wunsch nicht will. Die Tatsache, dass ein Wunsch
die-und-die Eigenschaft hat, gewinnt, wie wir sahen, generell nur
Relevanz unter der Voraussetzung eines anderen Wollens. Dadurch,
dass ein Wollen in irgendeiner Weise problematisch ist, kommt also
nicht ein zweites Vergleichskriterium hinzu; es bedeutet vielmehr,
dass ein gegenläufiges Wollen im Spiel ist, nämlich der Wunsch, sich
von einem so qualifizierten Wollen in seinem Handeln nicht bestim-
men zu lassen. Das Tableau der Wünsche, die zu koordinieren sind,
ist also in Wirklichkeit um einen wesentlichen Wunsch reicher. Der
– um in unserem Beispiel zu bleiben – neidgetriebene Wunsch steht
auch gegen den Wunsch, sich von einem solchen Wunsch nicht lei-
ten zu lassen. Und wie zwischen diesen Wünschen entschieden wird,
hängt allein von ihrer Stärke ab.
Man darf sich an dieser Stelle nicht durch die Tatsache verwirren
lassen, dass einer der konkurrierenden Wünsche ein Wunsch zwei-
ter Stufe ist, und glauben, dies bringe etwas Besonderes ein. Der
Wunsch, sich nicht von einem Wunsch bestimmen zu lassen, der aus
einem Neidgefühl kommt, leitet sich von dem basalen Wunsch ab,
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250 Teil III: Die Koordination des Wollens
das Gefühl des Neides nicht zu wollen, bei sich selbst nicht und auch
bei anderen nicht. Dieser Wunsch hat eine bestimmte Stärke, und
die Stärke des höherstufigen Wollens übernimmt genau diese Stärke.
Der Wunsch zweiter Stufe ist in seiner Existenz und in seiner Stärke
ein bloßes Derivat des basalen Wunsches erster Stufe. So dass der
eigentliche Wunschkonflikt ein Konflikt zwischen Wünschen erster
Stufe ist. Und er wird durch die Stärke dieser Wünsche entschieden.
Die Idee, auch andere Eigenschaften neben der Stärke des Wol-
lens müssten im koordinativen Überlegen als eigenständige, von
der Stärke des Wollens unabhängige Vergleichsgesichtspunkte eine
Rolle spielen, führt, wie sich zeigt, ebenfalls in die Irre. Man muss
auch diese Vorstellung zurückweisen.
Wie aber, so könnte man wieder fragen, wenn ein Wollen etwas
Unmoralisches zum Gegenstand hat? Ist das nicht etwas, was in der
Koordination des Wollens neben der Stärke ein eigenes Gewicht hat?
Wird dadurch das Wollen nicht unabhängig von seiner Stärke abge-
wertet, so dass es in der Konkurrenz der Wünsche zurückfällt oder
erst gar nicht berücksichtigt wird? Doch auch in diesem Fall gilt,
wie oben schon erläutert, das, was generell gilt. Auch die Tatsache,
dass ein Wollen auf etwas Unmoralisches geht, gewinnt für einen
nur Bedeutung, wenn man ein anderes, gegenläufiges Wollen hat,
den Wunsch, nichts Unmoralisches zu tun. Die Moral muss, wenn
sie etwas bedeuten und praktische Relevanz erlangen soll, in einem
Wollen verankert sein. Man muss sie, aus welchen Gründen auch im-
mer, wollen. Wenn man das tut, kollidiert der Wunsch, etwas zu tun,
was unmoralisch ist, mit dem allgemeinen Wunsch, sich moralisch zu
verhalten. Dass es etwas Unmoralisches ist, was man will, bedeutet
also für sich genommen noch nichts. Erst wenn diesem Wollen ein
anderes Wollen, und zwar ein stärkeres entgegensteht, kommt es zu
seiner Zurücksetzung und Subordinierung. Dies ist aber allein ein
Effekt der Stärke des konkurrierenden allgemeinen Wollens.
Wir sprechen oft nicht so, der allgemeine Wunsch, nichts Unmo-
ralisches zu tun, kommt gar nicht ins Bild, und vielleicht tendieren
wir mehr oder weniger unbewusst zu der Vorstellung, die Moral
sei durch sich selbst für uns von Bedeutung. Wir nehmen deshalb
an, der Umstand, dass ein Wollen auf etwas Unmoralisches gehe,
disqualifiziere es eo ipso und nehme ihm alles Gewicht in der Kon-
kurrenz der Wünsche. Aber tatsächlich kommt dieses Wollen nicht
zum Zuge, weil wir einen anderen, stärkeren Wunsch haben, eben
den allgemeinen Wunsch, nichts Unmoralisches zu tun.
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 251
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252 Teil III: Die Koordination des Wollens
Jetzt das Ergebnis der Überlegung und damit das stärkere Wollen
in die Tat umzusetzen.
Auch bei den Maximen ist es nicht so, dass wir sie einfach wählen
und uns für sie entscheiden können. Wir können, wie gesagt, nicht
wählen, was uns wichtig ist und was uns mehr am Herzen liegt. Die
Maximen sind das Ergebnis zurückliegender Überlegungen, und sie
hatten zum Ziel, zu erkennen, was einem wichtiger ist. Es kommt in
diesem Punkt häufig zu erheblichen Übertreibungen in der Theorie,
so als würden wir uns durch die Ausbildung von Maximen selbst
wählen und uns selbst zu dem machen, was wir sind. Die Maximen,
von denen die Rede ist, sind zurückgebunden an Erfahrungen des
Angenehmen und Unangenehmen und an Imaginationen des An-
genehmen und Unangenehmen, die ihrerseits durch entsprechende
Erfahrungen inspiriert und geleitet sind.
Natürlich sind diese Regeln nicht in Stein gemeißelt. Sie verän-
dern sich im Lichte neuer Erfahrungen; man passt sie an, bewusst
oder mehr oder weniger unbewusst, zumindest kann man das. Un-
fraglich ist auch, dass wir im Umgang mit solchen Regeln Spielräume
haben. Man kann sehr viele Regeln ausbilden oder wenige, man kann
sehr kleinteilige Regeln ausbilden oder es bei eher allgemeinen be-
lassen, man kann die Regeln strikt handhaben oder flexibel. Es gibt
also durchaus Möglichkeiten des so oder so, auch des Besser und
Schlechter, und daraus erklären sich zum Teil die Unterschiedlich-
keit der Personen und die Verschiedenheit ihres Charakters.
Wir befolgen im koordinativen Überlegen nicht nur Maximen
der geschilderten Art, sondern auch formale Prinzipien der Ratio-
nalität, so etwa das Prinzip der Transitivität in der Ordnung dessen,
was wir wollen. Wenn das Gefüge unseres Wollens einem solchen
Prinzip nicht entspricht, ist etwas falsch. Doch auch diese Prinzi-
pien kommen aus dem Wollen und dienen ihm. Denn wenn wir das
Wollen nicht richtig ordnen, laufen wir Gefahr, nicht das zu tun, was
wir am meisten wollen, und stattdessen etwas zu tun, was wir zwar
auch wollen, bei besserem Überlegen aber zugunsten eines stärkeren
Wollens zurückgestellt hätten. Wir würden uns ins eigene Fleisch
schneiden. Und deshalb sind wir – extrinsisch – daran interessiert,
die Prinzipien der Rationalität zu beachten. Auch mit den Prinzipien
der Rationalität verbleiben wir, das ist die entscheidende Einsicht,
im Wollen. Die Vorstellung, es könne formale rationale Prinzipien
fürs Überlegen geben, die in ihrem Inhalt wie in ihrer Wirksamkeit
wollensunabhängig sind, und man müsse im praktischen Überlegen
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Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 253
7. Übergreifende Wünsche
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254 Teil III: Die Koordination des Wollens
Das füllt ihr Leben, und das wollen sie. Und auch dieses untergrün-
dige Wollen wird sie nicht verlassen.
Die Liste von Wünschen, die die Menschen dauerhaft haben oder
haben können, ließe sich noch deutlich erweitern. Doch auch in
dieser Form lässt sie erkennen, wie stark das Geflecht des mensch-
lichen Wollens durch stabile Wünsche, intrinsische und extrinsische,
durchzogen ist. Und es zeigt sich damit, wie falsch die traditionelle
Phänomenologie des Wollens lag, wenn sie wieder und wieder die
Unbeständigkeit, die Instabilität und die Flüchtigkeit der menschli-
chen Wünsche betonte und auch damit die Abwertung des Wollens
betrieb. Die Wünsche, so bereits Platon, wogen hin und her, heute
wollen die Menschen dies, morgen jenes. Die Wünsche sind wechsel-
und flatterhaft, sie geben dem Leben kein Ziel und keine Richtung.
In Wahrheit durchziehen unser Wollen eine große Zahl langer und
stabiler Wollenslinien, die dem menschlichen Leben feste Konturen
geben und eine grundlegende Kontinuität und Einheit stiften.
Man könnte den Eindruck haben, dadurch, dass wir bestimmte
Wünsche dauerhaft haben, gewönnen diese Wünsche an Stärke und
Intensität. Doch das ist nicht der Fall. Mein Wunsch, jetzt nicht
krank zu werden, wird nicht dadurch stärker, dass ich weiß, dass ich
denselben Wunsch auch in Zukunft haben werde. Tatsächlich ergibt
sich etwas anderes: Ich muss, wie bei allen antizipierten zukünftigen
Wünschen, überlegen, ob der zukünftige Wunsch jetzt schon aktuell
ist, das heißt, ob ich jetzt schon etwas dafür tun (oder unterlassen)
muss, dass er in Erfüllung gehen wird.
Aus dem, was man über sein gegenwärtiges und antizipiertes zu-
künftiges Wollen weiß und insbesondere über die langen, stabilen
Wollenslinien im eigenen Leben, baut sich eine Vorstellung davon
auf, wie das Leben besser und schlechter verlaufen könnte. Dies
umso mehr, je mehr man sich auch bewusst zu machen vermag, wie
stark die einzelnen Wünsche sind und wie sie relativ aufeinander zu
gewichten sind. Das Wollen schafft einen Maßstab für die Evalua-
tion möglicher Varianten des eigenen Lebens als besser und schlech-
ter und als gut und schlecht. Je mehr das Leben das bietet, was man
will, umso besser ist es, je weniger es das bietet, umso schlechter ist
es. Auch wenn wir von einem Leben sagen, es sei gut oder besser, ist
dieses Gutsein wollensrelativ. Nur weil wir etwas wollen, können
wir das Leben in dieser Weise evaluieren. Wo wir die Schwelle an-
setzen, jenseits deren wir das eigene Leben nicht nur besser, sondern
nicht-komparativ gut nennen, ist weitgehend uns überlassen. Das
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 255
kann jeder für sich festlegen, wobei allerdings in der Regel Verglei-
che mit dem Leben anderer maßgeblich sind.
Wenn man im Licht seines Wollens auf sein zukünftiges Leben
schaut und verschiedene Weisen, in denen es verlaufen könnte, ima-
giniert, kann man sich einen optimalen oder besonders positiven
Verlauf vorstellen, in dem es zur Befriedigung aller Wünsche kommt
oder in erheblichem Maße kommt. Diesen – idealen – Modus des
Lebens nennt man gewöhnlich Glück. Glück ist, so hat Kant gesagt,
»der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Gan-
zen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht …«15 Oder,
einfacher: Glück ist »die Befriedigung aller unserer Neigungen …«16
So ergibt sich, dass man, je mehr man weiß, was man will und wollen
wird, und je mehr man die verschiedenen Wünsche ihrer Stärke nach
einzuschätzen und zu ordnen imstande ist, eine umso konturiertere
Vorstellung vom Glück oder vom guten Leben zu entwickeln ver-
mag. Das Glück ist selbst etwas, was wir wollen. Oft wurde gesagt,
es sei das, was wir am meisten und letzten Endes wollen. Man muss
aber sehen, dass mit dem Wollen des Glücks kein substantiell neues
Wollen neben das tritt, was man sonst will. Das Glück zu wollen,
bedeutet nur, zu wollen, dass das Leben nach den eigenen Wün-
schen verlaufen wird. Die Richtung des Lebens wird also von den
intrinsischen Wünschen und ihrer Ordnung bestimmt, nicht durch
das Wollen des Glücks oder des guten Lebens. Das Glück bestimmt
sich von den Wünschen her, nicht umgekehrt, und auch die Ordnung
der Wünsche nach stärker und schwächer bestimmt sich nicht vom
Glück her, sondern umgekehrt: die Ordnung der Wünsche bestimmt,
was wir als Glück anstreben.
Ein ganz anderes Bild ergäbe sich, würde man das Glück ob-
jektivistisch bestimmen, wie es Platon und Aristoteles getan haben.
Nach Aristoteles ist das Leben der zweckfreien Theorie objektiv,
ganz unabhängig vom Wollen der Menschen, das beste Leben. Denn
mit dieser Lebensweise kommen die Menschen, wie schon erwähnt,
der Lebensweise der Götter am nächsten.17 Wenn eine Lebensform
in dieser Weise objektiv als die beste ausgezeichnet ist, kann man
das, was die Menschen faktisch wollen, an diesem Maßstab mes-
sen und erkennen, welches Wollen zu dieser Lebensform hinführt
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256 Teil III: Die Koordination des Wollens
und zu ihm beiträgt und welches nicht. Man verfügt dann wiede-
rum über einen externen, vom Wollen unabhängigen Standard für
die Beurteilung und dann auch für die Koordinierung des Wollens.
Der objektiven Hierarchie der Lebensformen korrespondiert eine
objektive Hierarchie des Wollens. Doch wir haben keinen Grund,
eine solche objektivistische Glückskonzeption und die sie tragenden
Wertannahmen zu akzeptieren.
Die Menschen machen, wie gesehen, nicht nur ihr eigenes Leben
zum Gegenstand ihres Wollens, sondern auch ihre eigene Person. Sie
sind, wie von einem unstillbaren Drang getrieben, damit beschäftigt,
was und wie sie sind. Und sie haben ein in Teilen scharf gezeichnetes
Bild davon, wie sie sein (und nicht sein) wollen. Auch dieses Wollen
ist ein übergreifendes, dauerhaftes und häufig stabiles Wollen. Und
es ist normalerweise ein äußerst starkes Wollen. Wenn man etwas
tun will (oder soll), was mit dem gewollten Selbst nicht vereinbar
ist, bedeutet das fast immer, dass die Sache keine Chance hat. Ich
kann das nicht tun, so sagt man dann oft, es ist eine Unmöglichkeit.
Denn es hieße, sein Ich-Ideal zu beschädigen oder aufzugeben. Man
könnte nicht mehr der sein, der man sein will. Das gewollte Selbst
schafft, so scheint es, eine existentielle Grenze, die man nicht oder
nur mit kaum tragbaren Kosten für das eigene Leben übertreten
kann. Eine gesteigerte Form dieser Art von Exklusion liegt darin,
dass nicht nur, etwas zu tun, mit dem Ich-Ideal nicht vereinbar ist,
sondern sogar, etwas zu wollen, oder auch, etwas nur zu denken.
Bereits ein Wollen oder ein bestimmter Gedanke kollidieren dann
mit dem Bild davon, wie man sein will. Diese Fälle gibt es, aber sie
enthalten häufig eine Übertreibung.
Wenn wir überlegen, warum wir eine solche Vorstellung davon,
wie wir sein wollen, entwickeln und warum dieses Wollen so stark
ist, liegt es nahe, einen Zusammenhang mit dem Aussein der Men-
schen auf Anerkennung durch andere und durch sich selbst zu ver-
muten. Die Menschen sind damit beschäftigt, was und wie sie sind,
weil sie unablässig die Frage bewegt, was andere über sie denken. Sie
können nicht leben, ohne zu glauben, dass andere und zwar ihnen
wichtige andere sie schätzen und gut finden, oder zumindest, dass
die anderen sie schätzen müssten, wenn sie nur über ihre verborge-
nen Motive und Intentionen besser Bescheid wüssten und zu einem
freien und gerechten Urteil fähig wären. Und Menschen können
nicht leben, wenn sie, wie sie sind, nicht selbst gut finden und schät-
zen können. Sie wollen deshalb so sein, dass sie durch sich selbst und
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§ 9 Das koordinative Überlegen und seine Ressourcen 257
durch andere geschätzt und anerkannt werden können. Und sie kön-
nen nichts tun, was diese Schätzung unmöglich machte.
Auch der Wunsch, eine bestimmte Art von Person zu sein, ist,
wie gesagt, oft ein dauerhaftes und in seiner Ausformung stabiles
Element im Gefüge des Wollens, und er spielt eine maßgebliche und
figurierende Rolle, weil andere Dinge, die wir wollen, daraufhin ge-
prüft werden, ob sie mit ihm vereinbar sind oder nicht, und, falls
nicht, die Konkurrenz schon entschieden ist. Wobei es, das ist der
Punkt, auf den es in unserem Kontext besonders ankommt, die re-
lative Stärke der konkurrierenden Wünsche ist, die entscheidet, und
nichts anderes. Es kommt auch in diesem Fall kein anderes Ver-
gleichskriterium hinzu.
8. Zusammenfassung
Als es oben um den Einfluss der Vernunft auf das intrinsische Wollen
über dem Strich ging, wurde gesagt, die Vernunft habe allein eine
kognitive Funktion, ihre Aufgabe sei es, herauszufinden, zu erken-
nen und offenzulegen, wie sich etwas verhält. Sie habe indessen kei-
nerlei motivationale Energie, motivational sei sie gänzlich impotent.
Diese Einsicht hat sich in den Analysen dieses Kapitels auch für das
koordinative Überlegen bestätigt. Das koordinative Überlegen hat
die Aufgabe, aus den vielen Wünschen über dem Strich das Wollen
unter dem Strich herauszudestillieren. Und dieser Prozess ist ein
Prozess des Erkennens. Auch in dieser Funktion hat die Vernunft
keine eigenen Ressourcen. Das Überlegen ist nicht in der Lage, aus
eigenen Mitteln die einzelnen konkurrierenden Wünsche als mehr
oder weniger vernünftig zu evaluieren und sie auf diese Weise zu
ordnen. Die traditionelle Vorstellung, die Vernunft adoptiere oder
verwerfe anhand eines Maßstabs, den sie aus sich selbst kreiert, die
Wünsche als richtig oder falsch, geht in die Irre und ist Teil einer
verkehrten Selbstbeschreibung der Menschen. Und auch ein jünge-
rer Abkömmling dieser Konzeption, die Vorstellung der Stellung-
nahme: die Vernunft nimmt zu dem Wollen Stellung und spricht ihr
»ja« oder »nein«, geht genauso in die Irre. Die Vernunft ist nicht die
Herrscherin, die über das Wollen befindet. Sie findet dazu keine Res-
sourcen in sich selbst (was immer das überhaupt heißen sollte), und
sie findet sie auch nicht in der objektiven, vom Geist der Menschen
unabhängigen Realität, in Form von Dingen, die an sich selbst, wol-
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258 Teil III: Die Koordination des Wollens
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit
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260 Teil III: Die Koordination des Wollens
1. Man setzt am besten mit der Frage ein, wann eine Handlung frei
ist und wann unfrei. Sie ist, zumindest im Grundsätzlichen, nicht
schwer zu beantworten. Wenn ich, weil ein Tyrann mich dazu
zwingt, etwas tue, was ich nicht tun will, bin ich in diesem Tun un-
frei. Ich tue es gezwungenermaßen, wider mein Wollen. Und wenn
ich, weil ein Tyrann mich dazu zwingt, etwas unterlasse, was ich
tun will, dann bin ich ebenfalls unfrei. Ich unterlasse es wiederum
wider mein Wollen. In beiden Fällen bestimmt nicht mein Wollen,
was ich tue und lasse; eine äußere Macht verhindert das, sie bestimmt,
was ich tue. Frei wäre mein Handeln eben dann, wenn mein Wollen,
ohne eine solche Hinderung, mein Handeln bestimmen würde. Ich
selbst würde mein Verhalten bestimmen, durch mein Wollen. »A
free agent«, so sagt Hobbes, »is he that can do if he will, and for-
bear if he will.«1
Nicht nur ein äußerer Zwang kann verhindern, dass man tut, was
man will, sondern auch ein innerer Zwang, etwa ein Waschzwang.
Man will sich nicht die Hände waschen, tut es aber trotzdem. In
diesem Fall verhindert nicht eine äußere Macht, dass das Wollen das
Verhalten bestimmt, sondern ein psychischer Defekt.
Bei einer freien Handlung kann man immer sagen: Wenn ich es
nicht gewollt hätte, hätte ich nicht so gehandelt. Damit betont man,
dass das eigene Wollen und nichts anderes die Ursache des Handelns
war. Mit dieser Aussage im Irrealis wird allerdings nicht behaup-
tet, dass die Möglichkeit bestand, anders zu wollen und dann auch
anders zu handeln. Häufig wird gesagt, wenn jemand frei handelt,
impliziere das, dass er die Handlung auch hätte unterlassen können.
Ja, er hätte sie unterlassen können, dann nämlich, wenn er das ge-
wollt hätte. Ob dieses Anders-Wollen und das daraus resultierende
Anders-Handeln eine reale Möglichkeit ist, bleibt dabei jedoch of-
fen. Die Annahme, dass es eine verfügbare Möglichkeit ist, ist nicht
Teil der Idee des freien Handelns, wie sie jetzt eingeführt wurde. Im
Handeln frei zu sein, bedeutet, dass der Weg vom Wollen zum Han-
deln nicht versperrt ist, dass sich, was man tut und lässt, ungehindert
aus dem eigenen Wollen und aus nichts anderem ergibt.
1 Th. Hobbes: Of Liberty and Necessity, The English Works, ed. W. Mo-
lesworth, vol. IV (London 1811) 229–278, 275.
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 261
Wenn ich etwas wider mein Wollen tue, weil mich ein Tyrann
dazu zwingt, bin noch immer ich es, der handelt, aber es ist – in ei-
nem anspruchsvolleren Sinne – nicht meine Handlung. Und wenn
ich mir auf Grund eines inneren Zwanges die Hände wasche, bin
durchaus ich es, der dies tut, aber es ist wiederum, in dem anderen
Sinne, nicht meine Handlung. Durch die Unfreiheit des Handelns
kommt es zu einer Distanzierung von den eigenen Handlungen,
man steht nicht hinter dem, was man tut, die eigenen Handlun-
gen sind einem fremd und äußerlich. Sollte sich jemand wundern,
dass ich mich so verhalte, oder es mir vorhalten, würde ich sagen:
»Ich konnte nicht anders« oder: »Ich habe es nicht gewollt.« Dass
ich so gehandelt habe, lag, wie es Aristoteles formuliert hat, nicht
»bei mir«.2 Diese Erfahrung der Distanz und der Fremdheit eige-
nen Handlungen gegenüber ist in der Geschichte der Philosophie in
verschiedenen Wendungen zur Sprache gebracht worden. Man kann
von fehlender Autarkie sprechen, oder von Heteronomie: fremde
Kräfte haben Einfluss auf das eigene Handeln. Wenn wir im Han-
deln frei sind, sind wir, so hat Aristoteles gesagt, »Herr« über unsere
Handlungen.3 Es liegt bei uns, ob sie geschehen oder nicht. In der
Stoa wurde, in einer nur selten verwandten Formulierung, Freiheit
als exousia autopragias definiert, also als die Macht, aus sich selbst
zu handeln.4 Das trifft sehr genau die Sache.
Es ist klar, dass uns die Unfreiheit im Handeln stört und dass uns
an der Freiheit liegt. Wenn wir etwas wollen, wollen wir das Ge-
wollte auch in die Tat umsetzen können. Wir wollen, was immer es
ist, was wir wollen, dass der Übergang vom Wollen zum Handeln
funktioniert und nicht durch ein Hindernis versperrt ist. Wir können
überhaupt nichts wollen, ohne auch dies zu wollen. Der Wunsch, im
Handeln frei zu sein, ist, wie Kant gesagt hat, ein formaler Wunsch.
Er begleitet alles Wollen. Und erst in Bezug auf dieses formale Wol-
len wird der äußere oder innere Zwang und sein Einfluss auf das
eigene Handeln zu einem Hindernis, zu etwas Negativem.
Damit ist auch schon klar, warum wir die Freiheit wollen. Wir
wollen sie, weil wir sonst nicht erreichen, was wir wollen. Nur wenn
der Weg vom Wollen zum Handeln frei ist, kann mein Wunsch in
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262 Teil III: Die Koordination des Wollens
Erfüllung gehen. Wir wollen die Freiheit also im Dienste eines ande-
ren Wollens. Das Freisein im Handeln ist ein instrumenteller Wert.
Der Wunsch nach Freiheit geht, so sagt Kant, »ohne Unterschied
der Gegenstände auf die Bedingungen, unter denen wir überhaupt
unsere Neigungen befriedigen können.«5 Es ist sehr wichtig, sich
diese instrumentelle Funktion der Freiheit bewusst zu machen. Wir
wollen nicht frei sein, weil wir freiheitsliebend sind, oder weil wir
eine spezielle Lebensform, für die Freiheit und Autonomie zentrale
Ideale sind, anderen Weisen des Lebens vorziehen. Der Wunsch nach
Freiheit wurzelt sehr viel tiefer. Er wurzelt in der Tatsache, dass wir
Wesen sind, die etwas wollen. Weil wir etwas wollen, wollen wir
notwendigerweise auch die Freiheit. Wer etwas will, dem es aber
gleichgültig ist, ob das Gewollte verwirklicht werden kann, der will
das Betreffende nicht.
Mit dem bisher Gesagten ist nur ein erster Schritt getan. Die Ana-
lyse ist angesichts der Art, wie Menschen ihre Handlungen vorbe-
reiten und steuern, unterkomplex. Denn die Menschen wollen nicht
nur eine Sache, sie wollen vieles, und sie müssen deshalb herausfin-
den, was ihnen am wichtigsten ist. Angenommen, ich will x und
zugleich auch y und z, und der Wunsch nach x erweist sich als der
deliberativ stärkste. Dann kommt alles darauf an, dass der Übergang
von diesem Wollen, dem überlegten Wollen, zum Handeln ungehin-
dert funktioniert.
Wie bereits gesehen, kann es jedoch passieren, dass das Wollen
von y, obwohl in der Überlegung unterlegen, an der Überlegung
vorbei handlungseffektiv wird und ich y tue. So, wenn der Wunsch
nach y suchtartigen Charakter hat. Wenn das geschieht, ist der Weg
vom überlegten Wollen zum Handeln versperrt. Und darin liegt eine
neue Art von Unfreiheit. Die Sucht verhindert, dass das überlegte
Wollen das Handeln bestimmt. Erneut gewinnt ein psychischer De-
fekt eine Bedeutung in der Handlungssteuerung. Ich tue zwar, was
ich will, der Wunsch nach y gehört ja durchaus zu meinen Wün-
schen, aber ich tue nicht, was ich unter dem Strich, was ich über-
legterweise will. Ich handele nicht wider mein Wollen, aber wider
mein überlegtes Wollen.
Wenn sich jemand wundert oder mir vorhält, dass ich so handele,
werde ich wiederum sagen: Es lag nicht an mir. Ich habe nicht dies,
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 263
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 265
9 Vgl. Frankfurt, Taking Ourselves Seriously, 15, dt. 30: »… we will freely
… when the will behind what we do is exactly the will by which we want our
action to be moved.« Genauso bereits 35 Jahre früher in Freedom of Will, 20;
dt. 77: »… the statement that a person enjoys freedom of the will means …
that he is free … to have the will he wants.«
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266 Teil III: Die Koordination des Wollens
2. Ich habe jetzt zwei Arten der Unfreiheit (und der Freiheit) be-
schrieben. Einmal wird das Handeln nicht durch ein eigenes Wol-
len bestimmt, sondern durch etwas anderes, das andere Mal wird es
durch ein eigenes Wollen bestimmt, aber durch ein falsches, nämlich
durch ein Wollen, das an der Überlegung vorbei handlungseffektiv
wird. Nun kann ein handlungseffektives Wollen nicht nur in dieser
Weise falsch sein, es kann auch falsch sein, wenn es zwar als Ergeb-
nis einer Überlegung handlungseffektiv wird, diese Überlegung aber
fehlerhaft oder deformiert war. Man stößt auf diese Möglichkeit,
wenn man den Prozess der Handlungsvorbereitung weiter zurück-
verfolgt. Es liegt dann nahe, zu fragen, ob es nicht in der Phase des
Überlegens noch weitere Formen der Unfreiheit geben kann. Kann
nicht der Prozess des Überlegens selbst behindert und unfrei sein?
Wenn man will, dass das richtige, nämlich das stärkste Wollen das
Handeln bestimmt, dann muss man auch wollen, dass die Überle-
gung, die herausfindet, was das stärkste Wollen ist, ungestört und
ungehindert abläuft. Der Prozess des Überlegens muss zum rich-
tigen Ergebnis führen. Kein äußerer oder innerer Zwang darf das
verhindern. Andernfalls bestünde eine neue Art von Unfreiheit. –
Mit dieser Überlegung kommt etwas Wichtiges zum Vorschein: Zu
sagen, dass wir wollen, dass das überlegte Wollen das Handeln be-
stimmt, ist vorläufig. Wir wollen eigentlich, dass das stärkste Wollen
das Handeln bestimmt, und hoffen, durch die Überlegung zu erken-
nen, welches das stärkste Wollen ist, so dass das überlegte Wollen
und das stärkste Wollen zusammenfallen. Da das Überlegen aber
misslingen kann, können das überlegte und das stärkste Wollen auch
auseinanderfallen. Genau das aber wollen wir nicht. Präziser müsste
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 267
man also sagen: Wir wollen, dass das überlegte Wollen das Handeln
bestimmt, vorausgesetzt die Überlegung war erfolgreich und das
überlegte Wollen fällt deshalb mit dem stärksten Wollen zusammen.
Man muss sich, wenn es um die Freiheit bzw. Unfreiheit des
Überlegens geht, vorab einen elementaren, häufig jedoch übersehe-
nen Sachverhalt vor Augen führen. Eine Überlegung ist ein kom-
plexes Geschehen, und sie kann viele verschiedene Wege nehmen.
Der Überlegende hat erhebliche Spielräume. Und natürlich kann er
etwas falsch machen. Jemand kann zu wenig überlegen, er kann sich
nicht die nötige Zeit nehmen, er kann ungeduldig, unaufmerksam,
ohne Umsicht überlegen, er kann mehr oder weniger durchgehend
nur die Hier-und-Jetzt-Wünsche beachten und die in die Zukunft
gerichteten Wünsche unberücksichtigt lassen. Aber all dies liegt, wie
es scheint, bei ihm. Wenn in dieser Weise etwas schief läuft und am
Ende das falsche Wollen handlungseffektiv wird, ist das deswegen
kein Fall von Unfreiheit. Es ist zwar auch etwas, was die Person
nicht will. Sie handelt, wenn sie schlecht überlegt und deshalb etwas
falsch läuft, also durchaus gegen ihr eigenes Wollen. Aber es ist, wie
gesagt, kein Fall von Unfreiheit. Kein äußerer oder innerer Zwang
führt dazu, dass etwas anders läuft als gewollt. Kein äußerer oder
innerer Zwang hindert sie, besser zu überlegen. Sie ist an dieser Stelle
frei, aber sie macht in den Spielräumen, die sie hat, Fehler. Oft wird
angenommen, da, wo die Bestimmung des handlungseffektiven Wol-
lens durch eine gelungene Überlegung erfolgt, bestehe Freiheit und
da, wo die Überlegung misslingt, bestehe Unfreiheit. Letzteres ist,
so meine ich, nicht richtig. Wenn wir nach Elementen der Unfreiheit
suchen, suchen wir nach Faktoren, die das Überlegen beeinflussen,
die aber dem Überlegenden entzogen sind.
Welche Faktoren dieser Art könnten den richtigen Gang der
Überlegung verhindern? Es fällt nicht schwer, sich science-fiction-
Szenarien auszudenken, in denen ein missgünstiger Dämon oder
ein externer Manipulateur unser Gehirn so beeinflusst, dass das ko-
ordinierende Überlegen systematisch in die Irre geht und am Ende
ein Wollen als das stärkste erscheint, das keineswegs das stärkste ist.
Würden wir einem solchen äußeren Eingriff unterliegen, wäre das
offenkundig eine neue Form von Unfreiheit.
Auch in der tatsächlichen Welt kann man das Überlegen eines an-
deren von außen beeinflussen, zum Beispiel indem man ihm Alkohol
oder Drogen einflößt. Sie können ihn unruhig, überdreht, hektisch
machen, so dass keine gute Überlegung mehr möglich ist. Sie können
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268 Teil III: Die Koordination des Wollens
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 269
es in der Überlegung geht, frei von Hindernissen ist. Nicht nur der
Weg vom Wollen über dem Strich zum Wollen unter dem Strich und
dann weiter zum Handeln würde dann auf Elemente der Unfreiheit
hin untersucht, sondern auch der Weg zum Wollen über dem Strich.
Man könnte sogar meinen, diese Frage habe ganz besonderes Ge-
wicht. Schließlich geht es an dieser Stelle darum, was der Input, das
eigentliche Material des gesamten sich anschließenden Prozesses ist,
in dem es dann nur noch koordiniert und in eine Handlung trans-
feriert wird.
Diese Frage ist allerdings, gegen den ersten Anschein, nicht ein-
fach ein weiterer, sich wie von selbst anschließender Schritt in der
bisherigen Fragebewegung. Mit ihr beginnt vielmehr etwas Neues,
man verfolgt mit ihr ein anderes, deutlich unterschiedenes Inter-
esse. Wer etwas will, will, so hatte ich gesagt, das, was er will, auch
verwirklichen können. Er will daran nicht gehindert werden, son-
dern frei sein. Und wer vieles will, will das, was er am meisten, am
stärksten will, verwirklichen können. Es geht in all dem um den Weg
vom Wollen zum Handeln. Dass dieser Weg frei ist, das wollen wir.
Nennen wir diese Freiheit Verwirklichungsfreiheit. Sie zu wollen,
wurzelt, wie gezeigt, darin, dass wir überhaupt etwas wollen. Wir
können nicht etwas wollen, ohne auch diese Freiheit zu wollen. Es
ist ein notwendiges Wollen. Und es ist ein formales Wollen, und es
ist, drittens, ein extrinsisches Wollen.
Die Frage, wie wir zu unserem Wollen über dem Strich kommen,
speist sich offenkundig nicht aus dem Interesse an der Verwirkli-
chungsfreiheit, sondern aus einem anderen Interesse. An unserem
Wollen über dem Strich kann uns, wie wir sahen, manches stören.
Es kann uns stören, dass es kognitiv nicht in Ordnung ist, es kann
uns stören, dass es aus einer Quelle kommt, die einem nicht gefällt.
Und ebenso kann uns stören, dass sein Zustandekommen auf äuße-
ren oder inneren Zwang zurückgeht. Warum stört uns diese Unfrei-
heit? Nicht, weil wir das, was wir wollen, auch verwirklichen wollen.
Sie stört uns, wie es scheint, weil wir die Freiheit lieben, weil wir in
bestimmter Weise, autonom und möglichst wenig fremdbestimmt,
leben wollen. Dieser Freiheitswunsch ist weder ein notwendiger
Wunsch, man hat dieses Ideal des autonomen Lebens nicht schon
dadurch, dass man überhaupt etwas will. Noch ist es ein extrinsi-
scher Wunsch im Dienste eines anderen Wollens. Der Wunsch, im
Wollen über dem Strich frei zu sein, ist also nicht Teil des Wunsches
nach der Verwirklichungsfreiheit. Er resultiert aus einem Ideal der
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 271
bestimmte Dinge wollen oder nicht wollen oder dass wir sie so stark
oder so schwach wollen. Es mag eindeutige Fälle der Manipulation
geben, es mag Defekte mit nachvollziehbaren Wirkungen geben, und
auch andere klare Fälle, so deutliche Fälle von Hörigkeit, in denen
jemand völlig willfährig das Wollen eines anderen übernimmt. Aber
in den meisten Fällen werden die Phänomene in einem kaum zu
durchdringenden Nebel liegen. Es ist gar nicht aufzuklären, warum
die Imagination die Wege nimmt, die sie nimmt.
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272 Teil III: Die Koordination des Wollens
ist das, was die Person tut, in einem anspruchsvollen Sinn ihre eigene
Handlung. Sie ist durch ihr Wollen und ihre Überlegung oder ein-
fach durch sich, und nicht durch etwas anderes, bestimmt. Sie selbst
ist Ursache und Urheber der Handlung, sie selbst ist es, die hinter
der Handlung steht und sie steuert.
Dann: Die Handlung kommt nicht nur aus etwas Eigenem, ihr ge-
hen mit dem Überlegen und gegebenenfalls der Imagination bereits
eigene Aktivitäten voraus. Als solche ist vor allem das Überlegen
kein bloßes Geschehen, das in einem oder an einem passiert, son-
dern etwas, was die Person selbst tut, was sie aktiv vollzieht. Wenn
das Überlegen ungehindert erfolgt, kommt es aus einem selbst, es ist
durch einen selbst motiviert, und es hängt von einem selbst ab, ob
und wie man überlegt. Dabei bestehen, wie schon gesehen, deutliche
Spielräume. Wie man in ihnen agiert, hängt, ich komme darauf noch,
davon ab, was man will. Dem Überlegen geht also bereits selbst
ein Wollen voraus, ein eigenes Wollen. Das Überlegen, das innere
Tätigsein vor dem Tätigsein, ist also selbst bereits eine autopragia.
Aus diesen Punkten ergibt sich schließlich etwas Drittes. Wenn
eine Person in der beschriebenen Weise Urheber dessen ist, was sie
tut, kann sie etwas dafür, dass sie so handelt. Die Handlung ist ihr
zurechenbar. Sie hat sie getan. Die Freiheit geht, so zeigt sich, mit
der Zurechenbarkeit der Handlungen einher. Wenn man jemandem,
der in dieser Weise handelt, das, was er getan hat, vorhält, kann
er nicht sagen: Es lag nicht an mir. Wenn er versuchen sollte, sich
herauszureden, kann man entgegnen: Die Handlung kam aus dir, du
selbst hast sie gewollt, und dass du sie (unter dem Strich) gewollt
hast, ging auf eine Überlegung zurück, die du selbst angestellt hast.
Nirgendwo bist du gehindert worden, auch nicht im Vorfeld des
Wollens über dem Strich. Die Handlung geht deshalb auf dich zu-
rück. Du hast die Verantwortung für sie. Es zeigt sich damit, dass
der Ort der Freiheit auch der Ort der Verantwortlichkeit ist. Wer
unfrei ist, sich zum Beispiel infolge eines Waschzwanges die Hände
wäscht, ist hingegen nicht verantwortlich. Die Handlung kommt
nicht aus seinem Wollen und seiner Überlegung.
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 273
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274 Teil III: Die Koordination des Wollens
muss, so die Idee, auf dem Weg zum Handeln eine Stelle gegeben
haben, an der man die Möglichkeit hatte, in diese Richtung zu ge-
hen, aber auch in eine andere. Es muss diese Zone offener Möglich-
keiten geben, und in ihr eine Aktivität, auf Grund deren man in die
eine oder andere Richtung geht. Diese Aktivität vor den Optionen
ist, so scheint es, das, worauf es ankommt. Nennen wir sie die ur-
sprüngliche Aktivität.
Diese Aktivität wird gewöhnlich mit Freiheit assoziiert. Wer zu
ihr fähig ist, ist frei, unter ein und denselben Bedingungen in diese
oder jene Richtung zu gehen. Oft wird das Problem der »Willens-
freiheit« genau in diesem Sinne verstanden. Wenn es diese Aktivität
gibt, sind wir frei, wenn nicht, sind wir unfrei. Man kann, in die-
sem Sinne von Freiheit zu sprechen, jedoch irritierend finden. Denn
wenn jemand auf diese Weise frei ist, wovon ist er dann frei? Offen-
bar nicht von einem Zwang. Wovon dann? Und wenn jemand die
Möglichkeit, anders zu handeln (im starken Sinn), nicht hat, wieso
ist er dann unfrei? Die Menschen funktionieren dann anders. Ihre
Handlungsvorbereitung kennt dann ein bestimmtes Element nicht.
Aber wieso sind sie dadurch unfrei? Sie besitzen dann eine be-
stimmte Art von Aktivität nicht. Wenn man hier von Freiheit spre-
chen will, muss man sich klarmachen, dass diese Freiheit etwas ganz
anderes als die Hindernisfreiheit ist. Frei bedeutet in dieser Verwen-
dung nicht: ungehindert durch äußeren oder inneren Zwang. Wer
in diesem Sinne unfrei ist, ist nicht durch etwas an etwas gehindert.
Es gibt in der Handlungspräparation nur diese Zone der offenen
Möglichkeiten und die ursprüngliche Aktivität nicht. Bezeichnen
wir diese zweite Freiheit, um sie deutlich von der Hindernisfreiheit
abzugrenzen, als Optionsfreiheit. Denn es geht darum, ob man die
Möglichkeit hat, unter denselben Bedingungen so oder anders zu
optieren. Dass es sich um völlig verschiedene Phänomene handelt,
zeigt sich auch daran, dass man, auch wenn man die Optionsfreiheit
nicht hat, sehr wohl frei im Sinne der Hindernisfreiheit sein kann.
Die Idee der Optionsfreiheit und die mit ihr verbundene ver-
schärfte Vorstellung von Urheberschaft stehen noch aus einem an-
deren Grund von vorneherein unter einem schlechten Stern. Die
Natur funktioniert, so habe ich gesagt, nach Naturgesetzen. Das be-
deutet unter anderem, dass wir, selbst wenn wir vielleicht denkbare
Ausnahmen nicht ausschließen wollen, annehmen müssen, dass die
mentalen Geschehnisse und die neuronalen Prozesse, die ihnen zu-
grundeliegen, jeweils die notwendige Folge des unmittelbar voraus
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 275
2. Sehen wir zunächst, wo es auf dem Weg zum Handeln Zonen des
Anders-Könnens oder, anders gesagt, wo es Spielräume gibt. Als
erstes ist hier natürlich das Überlegen zu nennen. Wie es verläuft
und zu welchen Ergebnissen es kommt, hängt selbstverständlich in
erster Linie von seinen Gegenständen ab, also von den einschlägigen
Wünschen und ihrem Verhältnis zueinander. Es hängt aber auch da-
von ab, wie man überlegt, wie gut und wie schlecht. Das Überlegen
kennt mannigfache Möglichkeiten. Man hat nicht nur die Möglich-
keit, zu überlegen oder nicht zu überlegen. Man kann, wie erwähnt,
sorgfältig und hastig, konzentriert und fahrig, umsichtig und kurz-
schlüssig überlegen. Man kann es versäumen, sich hinreichend über
die zu berücksichtigenden Wünsche klar zu werden. Man kann sich
die Vor- und Nachteile der verschiedenen Möglichkeiten lebendig
und konkret vor Augen führen oder sich damit wenig Mühe machen.
Man kann immer auf das Nächstliegende blicken und alles Ferner-
liegende abblenden. Man kann die Erfahrungen der Vergangenheit
gründlich oder nur oberflächlich durchforsten, um herauszufinden,
wie etwas in Zukunft sein wird, wie angenehm oder unangenehm.
Dies zeigt, dass es im Überlegen viele Möglichkeiten gibt, es gut
oder schlecht zu machen. Und wie man es macht, hängt von dem
ab, der überlegt.
Es ist nicht zu bestreiten, dass sich in den Prozess des Überlegens
auch immer Elemente mischen, die man nicht in der Hand hat. Es
kommt einem etwas in den Sinn, es fällt einem etwas auf, man »sieht«
etwas einfach nicht, man hat etwas vergessen oder im Moment nicht
präsent. Dennoch ist das Überlegen ganz überwiegend etwas, was
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276 Teil III: Die Koordination des Wollens
man tut. Dass wir es so verstehen, spiegelt sich auch darin, dass wir,
zumindest in der Regel, nicht sagen, es sei glücklich oder unglücklich
gelaufen, sondern man habe es gut oder schlecht gemacht.
Das Überlegen kennt also Spielräume des Anders-Könnens. Und
es liegt bei uns, wie wir sie nutzen. Weil es so ist, kritisieren wir uns
und andere dafür, nicht genug, nicht gut genug oder vielleicht auch
gar nicht überlegt zu haben. Angenommen, ich hatte den Wunsch,
mein Leben zu ändern. Ich habe deshalb meine Anstellung aufge-
geben und meine Familie verlassen und in einem anderen Land ein
neues Leben ohne diese Bindungen begonnen. Schon bald kommt
mir, was ich getan habe, falsch vor. Und ich hätte es, wenn ich nur
besser überlegt hätte, wissen können. Du hättest, so sage ich zu mir,
besser überlegen müssen, du hättest dir die Konsequenzen für dich
und andere konkreter und sorgfältiger vor Augen bringen müssen.
Diese Selbstreflexion enthält nicht nur eine Fehleranalyse, es geht
nicht nur darum, aufzudecken, an welcher Stelle etwas schief ge-
laufen ist. Ich halte mir auch vor, es nicht besser gemacht zu haben.
Diese Selbstvorhaltung setzt die Vorstellung eines Spielraums und
des Anders-Könnens voraus.
Der nachträglichen Vorhaltung entspricht, dass man sich, wäh-
rend man überlegt, auffordern kann, sich anzustrengen, die Situation
angemessen zu prüfen, sorgfältig zu überlegen und sich zu konzen
trieren.11 So kann man sich auffordern, deutlich vor Augen zu haben,
wie sehr man etwas in der Zukunft Liegendes will und was auf dem
Spiel steht, wenn man die Hier-und-Jetzt-Wünsche übergewich-
tet. Tugendhat meint, man könne sich ermuntern, etwas »stärker zu
wollen«.12 Aber das trifft die Sache meines Erachtens nicht. Wie stark
wir etwas wollen, hängt nicht von unserem Wollen ab. Wir können
nicht bestimmen, wie sehr wir etwas wollen. Wir können aber mehr
tun, um aufzudecken, was unsere Wünsche sind, wie stark sie sind
und wie sie zueinander stehen.
Wir haben jetzt eine erste Zone des Anders-Könnens auf dem
Weg zum Handeln identifiziert. Das Überlegen bewegt sich in einer
Vielzahl von Spielräumen. Innerhalb der Spielräume muss es jeweils
etwas geben, auf Grund dessen man in die eine oder andere Rich-
tung geht. Ein Vertreter der stärkeren Konzeption würde nun erneut
sagen: Wenn wir uns und andere kritisieren können, in die falsche
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278 Teil III: Die Koordination des Wollens
das überlegte Wollen sind, die – von Fällen der Unfreiheit abgese-
hen – das Handeln bestimmen.
Man kann allenfalls an Situationen denken, in denen die Über-
legung ergibt, dass man x und y gleich stark will. In diesen Fällen
muss man, wie es scheint, nach der Überlegung noch entscheiden,
ob man x oder y tut. Allerdings besteht auch in einem solchen Fall
keine Möglichkeit, nicht x oder y, sondern z zu tun. Auch hier
bestimmt die Überlegung das Handeln, wenngleich nur disjunktiv.
Außerdem handelt es sich, wie immer man erklärt, warum dann die
eine der beiden Optionen ergriffen wird, offenkundig um Sonder-
fälle und um eine kleine Teilklasse. Aus beiden Gründen vermag
der Hinweis auf Situationen dieser Art nicht die These zu stützen,
dass bei Handlungen generell eine Zone des Anders-Könnens zwi-
schen dem überlegten Wollen und dem Handeln besteht. Das ist
keineswegs der Fall.
Wichtiger als diese Buridan-Situationen, die es ohnehin wahr-
scheinlich kaum gibt (ich komme darauf noch), sind andere Fälle:
Wir kommen manchmal infolge epistemischer Grenzen nicht zu ei-
nem eindeutigen Resultat der Überlegung. Wir haben unsere kon-
kurrierenden Wünsche nicht so vor uns wie verschiedene Dachlatten,
von denen sich ohne Mühe feststellen lässt, welche die längste ist,
oder wie verschiedene Gewichte, von denen sich ebenfalls unschwer
feststellen lässt, welches das größte ist. Man muss sich in solchen
Fällen auf sein Bauchgefühl verlassen und darauf setzen, dass man
auf Grund diffuser, kaum bewusster und kaum greifbarer Intuitio-
nen das Richtige tut.
Offensichtlich sind auch diese Fälle kein Beleg für die These, dass
zwischen dem überlegten Wollen und dem Handeln grundsätzlich
eine Lücke existiert, in der es erst noch einer weiteren Aktivität nach
der Überlegung bedarf, um das Handeln zu bestimmen. Es handelt
sich um deviante Fälle. Dennoch stoßen wir in ihnen auf ein zusätz-
liches Element nach dem Überlegen. Weil die Überlegung nicht zu
einem deutlichen Ergebnis kommt, muss der fehlende Rest durch
etwas anderes ersetzt werden. Ich habe vom Bauchgefühl oder einer
Intuition gesprochen. Wie weit hier eine Aktivität eine Rolle spielt,
ist nicht klar.
Ich kann jetzt die Idee, dass es zwischen dem überlegten Wollen
und dem Handeln generell eine Lücke gibt, in der es einer Aktivi-
tät bedarf, um zum Handeln zu bestimmen, zurückweisen. Es hat
sich allerdings gezeigt, dass es in besonderen Situationen, solchen,
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280 Teil III: Die Koordination des Wollens
ben wir gesagt, bei uns. Aber was bedeutet das konkret? Die Antwort
liegt nach den vorangegangenen Analysen nahe. Das, was bestimmt,
ob und wie man handelt, ist ein Wollen. Das Wollen ist der Moti-
vator, der die Menschen in Bewegung setzt und bestimmt, was sie
tun und auch wie sie es tun. Und wenn das, was in einem Spielraum
geschieht, eine Handlung ist, eine äußere oder innere, dann handeln
wir, wie wir es tun, weil wir es so wollen. Und wenn, einen Spielraum
zu haben, bedeutet, so, aber auch anders handeln zu können, dann
hängt, dass man so handelt, wie man es tut, davon ab, dass man es
so will. Und dass man anders handeln könnte, bedeutet dann, dass
man anders handeln würde, wenn man etwas anderes wollen würde.
Prüfen wir zunächst im Blick auf das zentrale Phänomen des
Überlegens, wohin diese Antwort führt und ob sie überzeugt. Wo-
von hängt es also ab, wie man überlegt, ob gut oder schlecht und ob
man überhaupt überlegt? Man muss sich an dieser Stelle vergegen-
wärtigen, dass das Überlegen eine Tätigkeit ist, die ein immanentes
Ziel hat. Wer überlegt, zielt auf eine Erkenntnis, in unserem Fall
darauf, zu erkennen, was in der jeweiligen Situation das stärkste
Wollen ist. Damit ist schon gesagt, warum wir überlegen: Wir wollen
es, um dadurch etwas zu erreichen. Und damit ist auch bereits klar,
was bestimmt, wie wir überlegen. Auch dies wird durch das Ziel
festgelegt, das wir durch das Überlegen erreichen wollen. Weil wir
etwas erkennen wollen, müssen und wollen wir so überlegen, dass
wir dieses Ziel erreichen. Grundsätzlich leitet uns im Überlegen also
ein Wollen, das sich aus einem höheren Ziel ableitet. Es kommt, was
das Wie des Überlegens angeht, eine instrumentelle Einschätzung
darüber hinzu, wie man sich verhalten muss, um dieses Ziel zu er-
reichen. So wie ein Schlosser ein Metallstück so bearbeiten will, wie
es nach seiner Einschätzung nötig ist dafür, dass es die vorgesehene
Funktion erfüllt. Es taucht damit, verborgen unter der Rede von der
instrumentellen Einschätzung, so könnte man sagen, eine weitere
Überlegung auf, eine Überlegung, die das Wie des Überlegens zum
Gegenstand hat. Man überlegt, wie die Überlegung ausfallen muss,
wie eingehend, wie sorgfältig, um das angestrebte Ziel zu erreichen.
Dies ist im Prinzip richtig, nur dass es sich dabei wohl weniger um
eine explizite Überlegung handelt. Man hat dank seiner Erfahrun-
gen vielmehr ein Gespür dafür, wie die Überlegung in der jeweiligen
Situation sein muss.
Wie aber kommt es dazu, dass man schlecht überlegt? Niemand
kann das wollen, weil man damit Gefahr läuft, nicht das, was man
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 281
13 Vgl. hierzu D. Kahneman: Thinking, Fast and Slow (New York 2011)
40–43; dt. Schnelles Denken, langsames Denken (München 2012) 56–59.
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282 Teil III: Die Koordination des Wollens
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 283
Ich kann jetzt festhalten, dass wir in der Analyse dessen, was im
Spielraum des Überlegens geschieht, keineswegs auf eine ursprüng-
liche Aktivität stoßen. Was geschieht, ist vom Wollen bestimmt, von
Wünschen, aus denen sich andere Wünsche ableiten. Und was diese
extrinsischen Wünsche zum Gegenstand haben, hängt von Ein-
schätzungen über die geeigneten Mittel ab. Wenn wir in der-und-
der Weise überlegt haben, aber anders hätten überlegen können (und
vielleicht sollen), bedeutet das demnach, dass wir es anders gemacht
hätten, wenn wir es anders gewollt hätten. Und wir hätten anders
gewollt, wenn wir die instrumentelle Notwendigkeit anders einge-
schätzt hätten.
Man kann nun noch weiter fragen, ob es auch möglich war, zu
einer anderen Einschätzung zu kommen. Wenn nicht, kommt der
zurücklaufende »Wenn«-Regress an dieser Stelle zum Stehen. Wenn
doch, setzt er sich weiter fort. Man wäre zu einer anderen Einschät-
zung gekommen, wenn man anders, besser nachgedacht hätte. Der
»Wenn«-Regress kommt dann an einer anderen Stelle zum Stehen,
oder er verliert sich im nicht mehr Greifbaren. Oft aber wird man
gar nicht entscheiden können, ob man die Chance zu einer ande-
ren Einschätzung hatte. Abstrakt vielleicht, aber gab es konkret für
mich, in dieser Situation, bei diesem Wissensstand diese Möglich-
keit? Sprach etwas dafür, noch weiter zu gehen? Wer will das im
Nachhinein entscheiden? Man kann sich im Nachhinein nicht mehr
in die Situation zurückversetzen und rekonstruieren, ob alterna-
tive Möglichkeiten bestanden. Es sei auch daran erinnert, dass diese
Einschätzungen sich in aller Regel einem Gespür für die Situation
verdanken und nicht einem vorgängigen expliziten Nachdenken. Es
ist deshalb häufig gar nicht zu klären, ob man zu einer anderen Ein-
schätzung hätte kommen können. Es ist einfach so gekommen. Und
das muss man hinnehmen.
Kommen wir jetzt, wenigstens kurz, auf die Imagination, die vor
einem Teil des Wollens über dem Strich liegt. Auch sie stellt, wie
gesagt, eine Zone des Anders-Könnens dar, auch sie bewegt sich
in einem Spielraum, so dass sich wiederum die Frage stellt, wovon
es abhängt, welche der Möglichkeiten man ergreift. Man kann hier,
was über das Überlegen gesagt wurde, übertragen. Das Imaginieren
ist ohne Zweifel stärker mit passiven Elementen durchsetzt als das
Überlegen, aber auch die aktiven Anteile sind stark. So, wenn wir
unsere Imaginationen kognitiv kontrollieren. Wovon hängt ab, ob
und in welchem Maße wir das tun? Auch in diesem Fall hängt es
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284 Teil III: Die Koordination des Wollens
von einem Wollen ab. Wenn wir es wollen, werden wir es tun. Die-
ses Wollen ist wiederum extrinsisch; wie stark es ist und worauf es
sich genau richtet, hängt deshalb erneut von dem höheren Wollen
ab, von dem es sich ableitet, und von einer instrumentellen Einschät-
zung. Man kann folglich wiederum sagen, man hätte anders gewollt,
wenn die instrumentelle Einschätzung anders gewesen wäre. Und
da das leitende Wollen in diesem Fall nicht das invariable Wollen
ist, das auf die maximale Realisierung der Wünsche zielt, muss man
hinzufügen: Man hätte auch dann anders gewollt, wenn das leitende
Wollen anders, stärker oder schwächer, gewesen wäre. Damit zeich-
net sich bereits ab, dass die Dinge im Falle des Imaginierens, was
seine aktiven Anteile angeht, im Prinzip genauso liegen wie beim
Überlegen. Der Regress des »Wenn« kommt auch in diesem Fall
irgendwann bei etwas zum Stehen, das so ist oder das so gekom-
men ist. Oder er verliert sich im nicht mehr Greifbaren, so dass sich
nicht mehr entscheiden lässt, ob man es anders hätte machen kön-
nen. Auch in diesem Fall bleibt einem nichts anderes als zu sagen,
dass es so gekommen ist.
Und was ergibt sich für die sogenannten Buridan-Situationen, in
denen man x und y gleich stark will, und für die Fälle, in denen es in-
folge epistemischer Grenzen nicht gelingt, in der Überlegung zu klä-
ren, was man stärker will, x oder y? Es ist keineswegs klar, wieweit es
Buridan-Situationen gibt. Wir wollen so viel, das Netz unseres Wol-
lens ist so komplex, unsere Erfahrungen sind so mannigfaltig, dass
es unwahrscheinlich ist, dass sich daraus bei längerem Überlegen
keine Anhaltspunkte für das Vorziehen von x oder von y ergeben
sollten. Je wichtiger das ist, worum es geht, umso wahrscheinlicher
ist es, dass wir herausfinden können, was wir stärker wollen. Am
ehesten kommt es zu Buridan-Situationen, wenn man keine Zeit hat,
besser nachzudenken. Aber damit werden sie bereits zu Fällen der
zweiten Art, in denen man als Folge epistemischer Beschränkungen
keine Klarheit über das stärkere Wollen erreichen kann.
In diesen Fällen entscheidet sich, wie man handelt, so hatte ich
gesagt, am ehesten auf Grund eines Bauchgefühls oder einer Intui-
tion. Dies ist ein Ersatz für die explizite und bewusste Überlegung.
Während das Überlegen eine Aktivität ist und sich in einem Hand-
lungsspielraum bewegt, gilt das für ein Bauchgefühl offenbar nicht.
Wir wissen nicht so genau, was die Ursachen für ein solches Gefühl
sind. Es scheint jedenfalls keine greifbare Aktivität im Spiel zu sein,
von der sich annehmen ließe, man könne es so, aber auch anders
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 285
14 Vgl. hierzu z. B. W. Singer: Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten auf-
hören, von Freiheit zu sprechen, in: Chr. Geyer (Hg.): Hirnforschung und
Willensfreiheit (Frankfurt 2004) 30–65, 47, 49 f., 57, 59.
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286 Teil III: Die Koordination des Wollens
15 Vgl. J. L. Austin, Ifs and Cans (1956), in J. L. A.: Philosophical Papers. 3rd
edition, ed. J. O. Urmson and G. J. Warnock (Oxford 1979) 205–232, 205.
16 Vgl. hierzu treffend M. Schlick: Fragen der Ethik (1930) (Frankfurt 1984)
164 f.
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288 Teil III: Die Koordination des Wollens
iert, und ich bin es, dem es angenehm ist, wenn das Gewollte Wirk-
lichkeit wird, und den es schmerzt, wenn das nicht geschieht. Man
ist in das eigene Wollen involviert und kann ihm gegenüber nicht
gleichgültig sein. Ich habe oben von der besonderen Ich-haftigkeit
des Wollens gesprochen.18 Und wenn ein Wollen eine Eigenschaft
hat, die einen stört, so dass man von einem solchen Wollen nicht in
seinem Handeln bestimmt werden will, kann diese Distanzierung
ihren Ursprung nur in einem anderen Wollen haben. Wir sind, so
habe ich gesagt, immer im Wollen. Ein dem Wollen vorgelagertes
und von ihm ablösbares Selbst gibt es nicht. Diese Position diesseits
des Wollens existiert nicht. Das Ich und das Wollen sind grund-
sätzlich nicht dissoziierbar. Deshalb kann es niemals einen Konflikt
zwischen dem Ich und dem Wollen geben. Dies ist der Grund dafür,
dass wir, wenn wir etwas durch unser Wollen tun, es durch uns tun
und dass wir dann selbst die Ursache davon sind. Die Gleichung
»durch mein Wollen« und »durch mich« ist nicht eine bloße façon
de parler, sie bringt eine tiefe Wahrheit über die Existenzweise der
Menschen zum Ausdruck.
Mit diesem Verständnis des Urheberseins ist, wie wir sahen, nicht
geleugnet, dass wir darin, wie wir handeln, Spielräume haben und
anders können. Das Handeln bewegt sich in Spielräumen, und die
ihm vorausgehenden Aktivitäten bewegen sich ebenfalls in Spiel-
räumen. Was in ihnen geschieht, ist aber bedingt durch ein Wollen.
Wir tun etwas, weil wir es wollen, und wir tun es so, wie wir es tun,
weil wir es so wollen. Würden wir etwas anderes wollen, würden wir
etwas anderes tun. Ein Spielraum besteht, wie gezeigt, gerade darin,
dass man etwas tut, weil man es will, und dass man etwas anderes
tun würde, wenn man etwas anderes wollte.
Ich möchte drei weitere Bemerkungen anfügen. (i) Davon, dass
ich der Urheber einer Handlung bin, wenn ich sie tue, weil ich es
will, wird nichts weggenommen durch die Tatsache, dass wir in er-
heblichem Maße nicht selbst fixieren, was wir intrinsisch wollen. Die
fixen Elemente in der Ausrichtung des menschlichen Wollens ändern
nichts daran, dass, wenn ich etwas will, es mein Wollen ist; es bewegt
mich und es legt fest, was mir gefällt und nicht gefällt. Ich bin es,
der auf seine Verwirklichung aus ist und sich dafür engagiert. Und
deshalb sind wir, wenn wir etwas tun, was wir wollen, die Urheber
dieser Handlungen. Es ist keineswegs problematisch, sich, weil man
18 Vgl. § 8, S. 213.
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Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 289
eine Handlung gewollt hat, als ihr Urheber zu begreifen und sich
zugleich bewusst zu sein, dass man das motivierende Wollen hat,
weil man das Wesen ist, das man ist.
Es wäre ein schwerwiegender Fehler, der es unmöglich machte,
unsere Lebensweise zu verstehen, wenn man annähme, Urheber-
schaft und Aktivität müssten rekursiv sein in dem Sinne, dass dem
Urhebersein kausal nichts vorausgehen dürfe, dessen Urheber man
nicht wiederum sei, oder dass dem Aktivsein nichts vorausgehen
dürfe, was man nicht selbst wiederum aktiv herbeigeführt habe. Es
wäre ganz falsch, zu meinen, weil wir nicht die Autoren oder nicht
die vollständigen Autoren unseres Wollens sind, könnten wir auch
nicht die Autoren unserer Handlungen sein. Tatsächlich beginnt die
Urheberschaft mit unserem Wollen und damit mit uns. Wollte man
hier eine Rekursivität annehmen, führte das zu grotesken Vorstel-
lungen über die Selbsterschaffung des Menschen.
(ii) Es ist durchaus richtig, die Menschen – und alle anderen Le-
bewesen, die fähig sind, etwas zu wollen – als unbewegte Beweger
zu verstehen. Sie sind unbewegte Beweger, weil sie Wesen sind, die
etwas wollen. Das gründet einfach darin, dass ein Wollen ein moti-
vationaler, ein eine Bewegung erzeugender Zustand ist.
Man könnte dem die alte Vorstellung entgegenhalten, im Falle
hedonischer Wünsche attrahiere das Angenehme das Wollen, so dass
das Wollen, soweit es aufs Angenehme geht, selbst schon durch sei-
nen Gegenstand bewegt und deshalb ein bewegter Beweger sei. Dem
Angenehmen eignet, so die Idee, eine Kraft, durch die es das Wollen
anzieht und auf sich ausrichtet. Wir haben jedoch gesehen, dass diese
Rede von der Attraktion (und entsprechend der Repulsion) nur eine
Metapher ist, die uns ein eingängiges Bild bietet. Was wirklich pas-
siert, ist, dass der mentale Zustand, etwas angenehm zu finden oder
auch nur etwas als angenehm zu imaginieren, einen anderen men-
talen Zustand, das Angenehme zu wollen, nach sich zieht. Das ge-
schieht automatisch. Es hängt nun in der Sache nichts davon ab, ob
man das Angenehm-Finden bereits einen Motivator nennt und sagt,
es sei der Beginn der Bewegung (wie ich es oben getan habe), oder
ob man dies für das Wollen reserviert. Das Angenehm-Finden und
das Wollen hängen so oder so aufs Engste miteinander zusammen.
Und es bleibt in jedem Fall richtig, dass der Beginn der Bewegung
in uns liegt. Denn etwas kann nur angenehm sein, wenn man es als
angenehm empfindet. So dass die Menschen auf die eine oder an-
dere Weise – durch ihr Wollen oder, wenn man so will, im Falle der
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290 Teil III: Die Koordination des Wollens
2. Und was ergibt sich aus alledem für die Frage der Zurechenbar-
keit und Verantwortlichkeit? Sind die Menschen, so wie sie funk
tionieren, für das, was sie aus freien Stücken tun, verantwortlich?
Ich kann jetzt wiederholen, was schon gesagt wurde. Wenn ich aus
freien Stücken etwas getan habe, was Anstoß erregt – nehmen wir
an, es kollidiert mit einer sozialen Norm –, kann ein anderer, oder
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 291
auch ich selbst, zu mir sagen: »Die Handlung kam aus dir, du selbst
hast sie gewollt. Und nicht nur das, du hast sie überlegterweise ge-
wollt. Du hast nicht im Affekt gehandelt. Du warst in der Lage, die
verschiedenen Handlungsoptionen abzuwägen, und hast es getan.
Überdies waren es doch wohl«, so könnte man hinzufügen, »deine
Vorstellungen des Angenehmen und Unangenehmen, die dein Wol-
len über dem Strich inhaltlich mitbestimmt haben. Niemand und
nichts hat dich behindert. Die Handlung geht deshalb auf dich selbst
zurück, sie geht auf dein Konto. Du bist ihr Ursprung und Urheber,
und folglich für sie verantwortlich.«
All dies trifft zu. All dies muss ich einräumen. Und deshalb kann
ich sagen: »Ja, ich bin der Urheber der Handlung, ich habe sie aus
freien Stücken getan. Und wenn in dieser Gesellschaft eine solche
Handlung sanktioniert wird, dann muss ich das hinnehmen. Dann
muss ich für das, was ich getan habe, geradestehen.« Normaler-
weise wird es nicht schwerfallen, nachzuvollziehen, warum die Ge-
sellschaft Handlungen dieser Art sanktioniert, vielleicht würde ich
selbst dafür eintreten und mich dafür engagieren, dass sie das tut.
Aber, so nun wieder die nachstoßende Frage, war es denn mög-
lich, anders zu handeln? Es kann sein, dass diese Frage jetzt auf ei-
nen gewissen Unwillen stößt: »Was soll«, so könnte ich sagen, »die
Frage jetzt noch? Es wurde doch deutlich gesagt: ich habe es getan,
und ich habe es so gewollt. Niemand hat mich gezwungen, kein
psychischer Defekt hat mein Handeln beeinflusst. Niemand hat Al-
ternativen, die ich gerne ergriffen hätte, verschlossen. Es gab keine
Behinderungen. Die Handlung kam uneingeschränkt aus mir. Was
also soll die Frage nach dem Anders-Können noch? Und im Übri-
gen: Natürlich gab es Alternativen. Schließlich wollte ich nicht nur
eine Sache. Wenn es keine Alternativen gegeben hätte, wofür habe
ich dann überlegt? Ganz gewiss hätte ich anders gehandelt, wenn
ich (unter dem Strich) etwas anderes gewollt hätte. Und ich hätte
etwas anderes gewollt, wenn das Ergebnis meiner Überlegung an-
ders gewesen wäre. Die Frage nach dem Anders-Können ist also
längst beantwortet.«
Offenkundig steckt hinter der Frage, ob es möglich war, an-
ders zu handeln, wieder die Vorstellung eines unbedingten Anders-
Könnens, also die Idee einer ursprünglichen Aktivität, die aus dem
Nichts dazu führt, dass man in die eine oder die andere Richtung
geht. Doch eine solche Aktivität kann es aus den genannten Grün-
den nicht geben. Und unsere Analyse des mentalen Geschehens vor
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292 Teil III: Die Koordination des Wollens
einer Handlung hat gezeigt, dass man alle Phänomene auf andere
Weise verstehen kann. Niemand hat jemals in der Geschichte des
Denkens zeigen können, dass es eine solche Aktivität gibt. Man hat
sie immer nur postulieren können. Es gibt keine akausale Options-
freiheit. Und wenn es sie gäbe, wüssten wir mit ihr nichts anzufan-
gen. Sie könnte uns keine Verantwortlichkeit geben. In Wirklichkeit
reicht, so scheint es, das tatsächliche Geschehen, wie es beschrieben
wurde, ohne unbedingtes Anders-Können, dafür aus, dass jeman-
dem eine Handlung zugerechnet werden kann und er für sie ver-
antwortlich ist.
Das Anders-Können, das es wirklich gibt, das bedingte Anders-
Können, führt, wie gezeigt, in eine Iteration. Ich hätte anders gehan-
delt, wenn ich anders gewollt hätte, anders gewollt, wenn … und so
weiter. Wenn dieser Regress nicht in einem absoluten, unbedingten
Anders-Können endet und wenn er andererseits nicht ins Unendli-
che weiterlaufen kann, muss er bei etwas zum Stehen kommen, das
einfach so ist, oder bei etwas, bei dem man nicht mehr zu erken-
nen vermag, wovon es abhängt und wie es dazu gekommen ist. Wir
kommen, so haben wir gesehen, in der zurückgehenden Analyse des
mentalen Prozesses schließlich an einen Punkt, an dem wir sagen
müssen, es ist so gekommen, und es ist nicht möglich, zu entschei-
den, ob es dazu Alternativen gab oder nicht.
Eine wesentliche Station in diesem Prozess sind die intrinsischen
Wünsche über dem Strich. Wenn man hinter sie zurückgeht und
fragt, wie es zu ihnen gekommen ist, stoßen wir auf die einerseits
fixen, andererseits flexiblen Faktoren, die festlegen, was wir intrin-
sisch wollen. Neben generellen Elementen gibt es eine Vielzahl von
Einflussfaktoren, die zu deutlichen individuellen Unterschieden in
den volitionalen Prägungen und Charakterzügen führen. Dazu ge-
hören genetische Determinanten, zum Beispiel genetisch bedingte
Über- oder Unteraktivierungen in den für die Motivation relevanten
Gehirnarealen, frühe Einflüsse in der Kindheit, das sozio-kulturelle
Umfeld, die Erziehung, die persönliche Geschichte. Alle diese Fak-
toren haben die unüberschaubare Zahl zurückliegender, zum größ-
ten Teil nicht mehr bewusster Erfahrungen des Angenehmen und
Unangenehmen geprägt. Wie und in welchem Zusammenspiel sie
das eigene Wollen bestimmen, bleibt letzten Endes intransparent.
Selbstverständlich bedeutet, dass die Vorgeschichte unserer in-
trinsischen Wünsche und unseres volitionalen Charakters weitge-
hend im Dunkel liegt, nicht, dass die Menschen keinen Einfluss auf
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 295
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§ 10 Freiheit, Urheberschaft, Verantwortlichkeit 297
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298 Teil III: Die Koordination des Wollens
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Literatur
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Sachregister
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310 Sachregister
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Sachregister 311
Intensität des Wollens s. Stärke, Reflexivität 97, 148, 214, 225 f.,
Gewicht, Intensität des Wol- 230
lens Reiz-Reaktionsmechanismen
20–24, 33, 35 f., 41, 43, 76,
Kommunikation der Tiere 75– 122 f., 159
79, 81 Rekursivität 289, 293, 297
Kontrolle, kognitive 156 f., Relativierung der Hier-und-
193, 279 Jetzt-Wünsche 228, 230,
Koordination des Wollens 33, 251 f.
63 f., 69 ff., 104, 168, 177 f., Repräsentation eines mentalen
181 ff., 200, 208 f., 219, 223, Zustandes 92 ff., 96 f., 226
226 f., 230–234, 237 ff., 243, repräsentieren, Repräsenta-
250, 253, 256, 258, 268 f., tion 61 f., 84–89, 92–95,
290 98 ff., 226, 230
Kritik, kognitive 157, 206, 217
s. auch Defizite, kognitive schlecht, Schlechtsein, das
Schlechte s. gut, Gutsein,
Langeweile 111, 125, 139, das Gute
141 ff. Selbst, gewolltes 65 ff., 160, 256
Leben, gewolltes 65 ff., 148 f., Selbst, wahres, eigentliches
160, 256 189 f., 198, 202, 264
Leben, gutes, Glück 65, 142 f., Selbsterhaltung 21 f., 24 f., 35,
147 ff., 158, 191, 254 ff. 41 ff., 111, 113, 149, 158
Leben, zukünftiges 64 f., 255 s. auch Weiterleben, weiter-
leben wollen
Maximen, Regeln, Prinzipien Selbstevaluation, Selbstkritik
217 f., 251 f., 279 66 f., 69, 149
Möglichkeiten, offene 273 ff., Spielraum, Spielräume 106,
277, 287 112, 114, 156, 161, 164, 172,
Motivator, originärer 120, 135, 184, 192 f., 230, 233, 252,
146 f., 149 f., 153 ff., 157–160, 267, 272 f., 275 f., 279 f., 282–
163, 166, 191 288, 296
Müssen, normatives 171 f., 187 Sprache, sprechen können 31,
54, 62, 72–100, 103, 151, 160,
Notwendigkeit, volitionale 224–227, 230, 245
107, 112, 138 s. auch Kommunikation der
Tiere
passiv, Passivität 12, 192, 195– Stärke, Gewicht, Intensität des
198, 200–203, 205, 218, 238 Wollens 223, 231, 239–252,
254 f., 257 f.
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312 Sachregister
stehen für 61 f., 83 ff., 92 211 f., 214 f., 218 f., 235 ff.,
Stimmungen 122, 140 f. 257 f., 263 ff.
Subjektivität 30 f., 224 Versklavtsein, Sklaverei 190,
Symbole, Symbolisierung 83 f., 197–201, 205, 270
88 f., 92, 94, 98, 226 vorhalten, Vorhaltung, Tadel
261 f., 268, 273, 276, 281 f.,
Tadel s. vorhalten, Vorhaltung, 286, 295 ff.
Tadel
wann 57 ff., 61 f., 83
überlegen, Überlegung 12 ff., warum 167–170
19, 24–33, 35, 43, 45, 47, Weiterleben, weiterleben wol-
52 f., 55 f., 62–65, 71, 73, 76, len 22, 25, 28, 42 f., 64 f., 70,
104, 106, 116, 161, 167 f., 78, 81, 107 ff., 111, 122 f.,
170, 176 ff., 184, 200, 207 ff., 128 f., 137, 142 ff., 149, 157,
215 f., 219, 223 ff., 228–236, 165, 169, 175 f., 196, 240,
240 f., 251, 259, 262–268, 242, 245
271 f., 275–284, 286 f., 290, s. auch Selbsterhaltung
296 Wohl der Kinder, das Interesse
– instrumentelles Überlegen daran 43, 108 f., 111, 137,
33, 73, 116, 223 f., 229 f. 142, 169, 206, 240, 244 f., 270
– koordinatives Überlegen 33, wollen, wünschen 32, 104 f.
104, 223–227, 229–232, 234– Wollen, aktuelles, nicht aktuel-
239, 242 f., 245–253, 257 f., les 231 f., 254
264, 267, 271, 279 Wollen, eingerammtes 43, 105,
unfrei, Unfreisein, Unfreiheit 107–113, 123, 133, 137 f.,
s. frei, Freisein, Freiheit 143 f., 154, 158 f., 162, 169,
Urheber, Urheberschaft 258, 172, 191, 197, 240, 246, 270
272–275, 287–291, 293, Wollen, extrinsisches, intrin-
295 ff. sisches 103 f., 107, 109 f.,
115 ff., 118, 124, 149 f., 160 f.,
verantwortlich, Verantwort- 163, 166, 168 f., 173–184,
lichkeit 272 f., 286 f., 290– 186 ff., 189, 191, 195, 210 f.,
293, 295 ff. 215, 231 ff., 235, 253 ff.,
Vergangenheit, Vergangenheits- 257 f., 262 f., 265 f., 269,
bewusstsein 46, 48, 50, 56, 282 ff., 288, 292
66 f., 69, 78, 80 f., 242 f., 275 Wollen, formales 115 ff., 149 f.,
Vernunft 11–14, 20 f., 24, 106, 253, 261, 263, 265, 269
161, 167, 175 f., 179, 182 ff., Wollen, fremdes 189, 202–206,
186 ff., 189, 195, 204, 206, 209–213, 218, 235, 287
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Sachregister 313
https://doi.org/10.5771/9783465142607
Generiert durch IP '207.241.231.108', am 30.01.2022, 17:36:58.
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Personenregister
Aristoteles 44, 65, 130, 132, Frankfurt, H. G. 107 f., 111 f.,
162 f., 196, 227, 255, 261, 138, 142, 202–205, 207 ff.,
282, 287 212, 236 ff., 243, 265 f.
Austin, J. L. 286 Fraser, J. T. 74
Frede, M. 261
Bentham, J. 112 Freud, S. 27
Bermúdez, J. L. 74 Frijda, N. H. 130, 136
Berridge, K. C. 126, 136
Bickerton, D. 74 Gärdenfors, P. 74 f.
Bischof, N. 27, 48, 51 Gilbert, D. T. 178
Bischof-Köhler, D. 48
Bonner, J. T. 24 Hadot, P. 156
Brandt, R. B. 130 Heyes, C. M. 93
Burge, T. 31 Hobbes, Th. 70, 75, 162, 176,
196, 260
Cheney, D. L. 76 f. Hoerl, C. 48
Cooper, J. M. 132 f. Hölldobler, B. 76
Corballis, M. C. 48 f., 56, 74, Hume, D. 111, 113 f., 137, 162,
90, 92 171, 176, 196, 228
Craig, E. 132
Irvine, W. B. 113, 182, 198
Darwin, Ch. 12, 28
Dawkins, R. 65, 74 Kahneman, D. 281
Dehaene, S. 61 Kane, R. 293
Dennett, D. C. 73, 91 Kant, I. 11, 20 f., 24, 44, 70 f.,
Descartes, R. 11 115 ff., 122, 142, 156, 158,
Dickinson, A. 49 186 f., 190, 193, 196, 198 f.,
Duncker, K. 140 202, 204 f., 213, 236, 255,
261 f., 264, 270
Enskat, R. 187 Klein, M. 293
Köhler, W. 28 f., 46, 48, 72
Fischer, J. 77, 93 Korsgaard, Chr. M. 213 f.
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