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Alessandro Iorio untersucht Heideggers »Geschichte des Seins«

Alessandro Iorio

Alessandro Iorio Das Sein erzählt.


unter den Voraussetzungen verschiedener Narrativitäts­theorien.
Einschlägige Arbeiten von Genette, Ricœur, Bachtin und Propp
werden zum Ausgangspunkt einer narrativitätslogischen Analyse
verschiedener Manuskripte gemacht (darunter auch die bisher
veröffentlichten »Schwarzen Hefte«). Mit dieser Methode kann
Das Sein erzählt.
Iorio Momente von Heideggers Geschichts-Verständnis verdeut­
lichen, die in bisherigen Interpretationen aus­gespart wurden.
Heideggers narratives
Er zeigt ein Denken, das sich seiner erzählerischen ­Dynamik Denken
überlässt, ohne sich für reale historische Geschehnisse zu inter­
essieren. Gerade in der »mytho-logischen« Überbietung aller
­Realität, betont Heidegger, liege der eigentliche Anspruch der
Philosophie.
Forum

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Heidegger

Heidegger
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Vittorio Klostermann
Alessandro Iorio · Das Sein erzählt.
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Alessandro Iorio

Das Sein erzählt.


Heideggers narratives Denken

VittorioKlostermann
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ISSN 1868-3355
ISBN 978-3-465-04337-9
Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1. Die Geschichte des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15


1.1 Eine Epik der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.2 Anfang und Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

2. Zeit‑Raum einer Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55


2.1 Von einer Topologie des Denkens zu einer Topographie
des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
2.2 Irrwege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
2.3 Die Heimkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

3. Im Zeitgewinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
3.1 Gezerrte Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
3.2 Vollendung im Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
3.3 Endliche Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . 125


4.1 Der metapolitische Kampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
4.2 Der seinsgeschichtliche Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
4.3 Rassische Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
4.4 Geschichte als Zugeschicktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
6 Inhalt

5. Poetik der Seinsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165


5.1 Das Epos des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
5.2 Dramaturgie des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
5.3 Die Schrift und das Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Einleitung

Spätestens seit 1979, als Jean-François Lyotard seinen rapport sur le


savoir1 für den Universitätsrat der Regierung von Québec verfasste
und alle vergangenen Philosophien als große Erzählungen brand­
markte, ist es nicht mehr ungewöhnlich, das Wort Narrativ in ei­
nem direkten Bezug zur Philosophie zu finden. Was somit lange
Zeit Vorrecht der Literaturwissenschaften war, hat sich seit einigen
Jahrzehnten auch im philosophischen Bereich etabliert, sodass man
heutzutage Worte wie Erzählung und Narration mit allem Recht zu
den Begriffen der Philosophie zählen kann. Dennoch gilt nach wie
vor eine Philosophie als Narrativ zu bezeichnen beinahe als Belei­
digung für die heilige Würde des Denkens. Denn gleichgültig, ob es
sich um einen unüberwundenen Minderwertigkeitskomplex gegen­
über den Geltungsansprüchen der Wissenschaft handelt oder um
den Ernst ­einer höheren Besinnung, die noch die zwingende Beweis­
kraft der Logik übertreffen möchte – das philosophische Denken
scheint nichts mehr zu fürchten als die Kontamination mit einem
fiktiven Element, das es seines Wahrheitsanspruchs entheben könnte.
Es mag daher einem Sakrileg gleichkommen, Heideggers Werk
als Narrativ zu behandeln, was allerdings expliziter Zweck dieser
Arbeit sein soll. Tatsache ist, dass Heidegger selbst zwischen den
30er und 40er Jahren uns durch Schriften, Vorträge und Vorlesun­
gen eine monumentale Erzählung geliefert hat, die unter dem Na­
men »Seynsgeschichte« eine philosophische Dimension mit einer
historisch‑politischen und einer schlicht dichterischen Ebene ver­
wob. Ohne dem Sakrileg aus dem Weg gehen zu wollen, wird mein
Bestreben nicht darauf abzielen, Heideggers Denken als Erzählung
zu diskreditieren, sondern eher zu überprüfen, ob sein philosophi­
sches Narrativ – und zwar nicht zuletzt in seinem rein fiktionalen
Charakter – ein gelungenes ist oder nicht. Bei diesem Versuch werde

1 J.-F. Lyotard, La condition postmoderne: rapport sur le savoir.


8 Einleitung

ich die gewöhnlichen Verhältnisse, die sonst zwischen Philosophie


und Literaturwissenschaft herrschen, teilweise auf den Kopf stellen
müssen, da es nicht mehr ein philosophisches Konzept sein wird, das
sich hinter einem Ansatz der Textinterpretation verbirgt, sondern
eher eine schlicht narratologische Betrachtungsweise, die nun auf
die Philosophie angewendet wird.
Zum Gegenstand meiner Forschung wähle ich also das, was
Gérard Genette als »discours narratif«2 bezeichnet, nämlich einen
Text, der in einer diskursiven Form eine Geschichte darstellt. In­
sofern bezieht sich das Prädikat narrativ allein auf die Modalität
­eines verbalen Aktes, durch den etwas erzählt wird, während es
ganz dahingestellt bleibt, ob das Erzählte aus reiner Fiktion besteht
oder einen Bezug zur realen Welt schafft (was übrigens jede große
Narration für sich beanspruchen kann). Auf Heideggers Seinsge­
schichte übertragen, wird das nun heißen, seine Erzählung in ihren
konstitutiven Strukturen zu untersuchen, ganz abgesehen von jeg­
lichem Werturteil über die philosophische Geltung eines Narrativs.
Ob dann die »Geschichte des Seyns« die Entwicklung des euro­
päischen Denkens von den Griechen bis ins 20. Jahrhundert glaub­
haft deutet und tatsächlich das einzige wahre Geschehen unserer
Welt darstellt oder ob sie bloß das Märchen eines entgleisten Phi­
losophen ist, wird jeder Leser für sich alleine entscheiden müssen.
Schon bei diesen einführenden Erörterungen ist es aber wichtig fest­
zuhalten, dass selbst eine Fiktion eine Erfahrung der Wahrheit her­
vorbringen und sich auf die nicht fiktive Welt auswirken kann.
Es war hierin ein großes Verdienst der Hermeneutik, die Rezep­
tion als konstitutiven Bestandteil eines Werkes hervorgehoben zu
haben. Denn wie Paul Ricœur in seinem Temps et récit darlegte, ist
der kreative Prozess eines narrativen Textes erst vollzogen, wenn
der Rezipient die erzählte Handlung im Lesen durchführt und somit
eine fiktive Erfahrung in seine faktische Welt überführt. Indem also
durch den Akt des Lesens die fiktive Zeit in die Zeit des mensch­
lichen Handelns einschneidet, wird das denkerische Potential, das
in einem Text vorliegt, von der narrativen Form keineswegs abge­
schwächt, sondern noch intensiviert, eine weltverändernde Kraft
auslösend, die gerade einem Projekt wie der Heidegger’schen Über­
windung der Metaphysik entgegenkommt.

2 Siehe G. Genette, Discours du récit (1972), S. 15 ff., und Nouveau discours


du récit (1983), S. 298 f.
Einleitung 9

Ohne dass man also hinter der Annahme eines philosophischen


Narrativs auch nur einen flüchtigen Schatten von Kritik vermuten
dürfte, muss ich aber doch davor warnen, dass diese Arbeit einen
durchaus kritischen Umgang mit Heideggers narrativen Künsten
pflegen wird. Das hat sich vor allem aus der radikalen Verleugnung
des fiktiven Charakters seiner Erzählung ergeben, die ihre Glaub­
würdigkeit beeinträchtigen musste. Denn wie phantastisch und re­
alitätsfern ein Märchen auch sein mag, wird es nichts an Bedeutung
verlieren, solange es sich als Märchen ausgibt und sich zu seiner
fiktiven Dimension bekennt; ganz anders wird es aber aussehen,
wenn das Märchen plötzlich einen Realitätsanspruch erhebt, von
dem es nur ins Lächerliche gezogen werden kann. Dementsprechend
musste das narrative Projekt der Seinsgeschichte, mit seinem Mythos
von den zwei Anfängen des Denkens und der verheißenen Verwand­
lung des Menschseins, gerade im Aufprall mit einer historischen
Wirklichkeit scheitern, die es nicht gestatten konnte, sich als Witz
einer ominösen »Machenschaft des Seienden« karikieren zu lassen.
So führte die narrative Verstrickung einer philosophischen mit
einer schlicht historisch‑politischen Ebene des dargestellten Gesche­
hens nicht bloß dazu, die Sicht auf die Weltereignisse zu verzerren,
sondern sie gefährdete die innere Kohärenz des philosophischen
Diskurses selbst, da in der vorausgesetzten Übereinstimmung des
historischen Faktums mit dem denkerischen Narrativ sich auch die­
ses letzte dem ersten anpassen musste. In diesem Sinne will ich es
wagen, die These aufzustellen, dass selbst Heideggers Involvierung
in den Nationalsozialismus nicht aus ideologischen, sondern aus rein
narrativen Gründen erfolgte. Die für die Deutschen vorgesehene
Rolle im Konstrukt der Seinsgeschichte überkreuzte sich dann mit
einem politischen Geschehnis, das plötzlich verlangte, alles Histo­
rische in eine Funktion der Erzählung umzudeuten. Mithin musste
das Werk des Denkers sowie das Handeln der Menschen den Erfor­
dernissen einer Fiktion unterliegen, die in vollkommener Verselb­
ständigung keine Grenzen mehr kannte.
Um die Plausibilität dieser These zu prüfen und zu sehen, wo bei
Heidegger die Trennungslinie zwischen Realität und Fiktion verläuft
oder ob es überhaupt bei ihm eine solche Trennung geben kann,
wird erst einmal nötig sein, das Gebiet des Narrativen genauer ab­
zustecken. Als konstitutive Elemente einer Erzählung habe ich jene
textuellen Komponenten hervorgehoben, aus denen die funktionale
Struktur des narrativen Diskurses hervorgeht, nämlich das, was aus
10 Einleitung

einem Text eine erzählte Geschichte macht. Und obwohl die Nar­
ratologie sich hauptsächlich mit den Modi des Erzählens, d. h. mit
der formalen Konstitution der Rede, beschäftigt, hat sich meine Auf­
merksamkeit nicht weniger den thematischen Aspekten gewidmet,
die der Narration ihren unmittelbaren Stoff liefern.
Darum habe ich als Ausgangspunkt meiner Betrachtungen ge­
rade jenes Gefüge der europäischen Denkgeschichte gewählt, in das
Heidegger das gesamte menschliche Geschehen einfügt (1. Kapi­
tel). Hierbei bewegt sich die Analyse des Handlungsablaufs keines­
wegs auf einer vor‑narrativen Stufe, auf der bloß die chronologische
Reihenfolge der erzählten Ereignisse dargelegt wird, sondern sie ist
selbst das Eindringen in das narrative Geflecht der syntaktischen
Komponenten, aus denen sich die Welt der Erzählung zusammen­
setzt. Insofern geht es bei der Handlung der Seinsgeschichte auch
nicht bloß darum, dass die Philosophie ihren Anfang im vorchrist­
lichen Griechenland des 6. Jahrhunderts genommen hat, sondern
vor allem darum, dass die ganze nachkommende Philosophie als
Ende dieses Anfangs fungiert. Es wird also von grundlegender Rele­
vanz für die Erforschung dieses Narrativs sein, die Funktion aller
verschiedenen Momente, aus denen das Ganze der Handlung her­
vorgeht, mit ihrer inneren Finalität in Zusammenhang zu bringen.
Nur dann kann der Sinn jener Narrativierung, der Heidegger das
Denken in toto unterzog, nachvollzogen werden, ohne sie übrigens
gutheißen zu wollen.
Anschließend habe ich mich gezielt auf all jene materiellen Ele­
mente der Geschichte gerichtet, die das narrative Universum kon­
stituieren. Als Szenario der erzählten Handlung hat dann in erster
Linie der Raum, der bei den Theoretikern einer diskursiven Erzähl­
theorie seine narrative Rolle zugunsten der zeitlichen Verhältnisse,
in denen sich der Akt der Narration vollzieht, oft einbüßt, ein ganz
besonderes Gewicht bekommen (2. Kapitel). Durch die Theorie der
Chronotopoi von Michail Bachtin und die Raumsemantik von ­Jurij
Lotman habe ich demgemäß in der Räumlichkeit des narrativen Ge­
schehens das generative Gerüst der seinsgeschichtlichen Erzählung
freizulegen versucht, um eine Topologie des Seinsdenkens zu skiz­
zieren, die unmittelbar in eine Topo- oder sogar Kartographie des
Seins übergeht.
Insbesondere hat mir der Begriff des Chronotopos ein konsti­
tutives Modell angeboten, das die Zeitlichkeit der fiktiven Ereig­
nisse untrennbar von den räumlichen Konnotationen der erzähl­
Einleitung 11

ten Welt mitdenkt und dadurch, um gleich mit Heidegger zu reden,


einen »Zeit‑Spiel‑Raum« stiftet, der als Zusammenspiel von Zeit
und Raum nicht bloß die Handlung der Erzählung generiert, son­
dern selbst das Tempo und den Stil der Narration mitprägt. In den
Überlegungen von Lotman wurde schließlich der fiktionale Ort mit
semantischen Funktionen beladen, die seine materielle Beschaffen­
heit in eine rein metaphorische Struktur umstülpten, bis letztlich
der literarische Text selbst, als verbales Geflecht von räumlichen
Verhältnissen, sich zum eigentlichen und einzigen Topos der Nar­
ration entlarvt.
Im Folgenden habe ich in einer Analyse der zeitlichen Struktur
(3. Kapitel) auf das theoretische Instrumentarium zurückgegriffen,
das Gérard Genette in seinem Discours du récit bereitlegt, um all
den zeitlichen Verzerrungen nachzugehen, in denen sich Heideggers
Narration entfaltet. So hat einerseits die ekstatische Zeit, in ihrem
Hin- und Herschwingen zwischen Gewesenem und Kommendem,
ein etabliertes Korrelat in den bewährtesten Erzählkünsten der lite­
rarischen Tradition gefunden. Andererseits ist es möglich gewesen,
Heideggers zeitliche Positionierung innerhalb des seinsgeschicht­
lichen Handlungsablaufs zu verorten. Ein Einblick in die Mythen­
forschung hat zuletzt verraten, wie das Seinsdenken der Stiftung
einer mythischen Zeit sehr nahekommt, in der das faktisch Ver­
gängliche in die fiktionale Ewigkeit des Mythos aufgehoben wird.
Ein besonderes Augenmerk musste dann den Charakteren der
Erzählung gelten (4. Kapitel). In seiner Introduction à l’analyse
structurale des récits erwähnt Roland Barthes, wie es für Aristo­
teles durchaus vorstellbar war, eine Handlung ohne Charaktere zu
denken, während der bürgerliche Roman hingegen Charaktere her­
vorbringen konnte, die dank ihrer psychologischen Konturierung
nicht einmal zu handeln brauchten, um im Mittelpunkt der Nar­
ration zu stehen.3 Nun wird sich aber zeigen, wie es in Bezug auf
die Seinsgeschichte kaum möglich ist, weder von Personen noch
von Handelnden zu reden, da ihre Figuren höchstens das iterative
Prinzip einer einzigen und ein für allemal vorgegebenen Funktion
verkörpern, in der sie sich restlos erschöpfen. Hierfür haben die
von Vladimir Propp durchgeführten morphologischen Studien über

3 Siehe R. Barthes, Introduction à l’analyse structurale des récits, S. 15 f. Mit


dem Verweis auf Aristoteles ist offensichtlich Poetik 1450 a 24–25 gemeint:
»ἒτι ἂνευ μὲν πράξεως οὐκ ἂν γένοιτο τραγῳδία, ἂνευ δὲ ἠθῶν γένοιτ’ἂν·«
12 Einleitung

das russische Zaubermärchen die theoretische Grundlage geboten,


um hinter den unzähligen Akteuren der Seinsgeschichte die wieder­
kehrenden Muster von knapp zwei »Handlungskreisen«4 hervor­
zuheben, die alles menschliche Geschehen auf die narrative Ebene
eines epischen Kampfes zwischen Sein und Seiendem zurückfüh­
ren. In dieser Hinsicht wird man auch noch erkennen können, wie
Heideg­gers Verständnis der damaligen Politik und all dessen, was
sich in den Jahren des Zweiten Weltkriegs auf der Weltbühne ereig­
nete, a­ llein durch das Raster dieses elementaren (allerdings ziemlich
banalen) Konfliktschemas gedeutet und missdeutet wurde.
Zum Schluss wurde das letzte Wort über die Narrativität dieses
Denkversuchs Heidegger selbst überlassen (5. Kapitel), der in einer
ständig gesuchten Nähe zur Dichtung seinem Diskurs unverwech­
selbare epische Züge übertrug und die seinsgeschichtliche Fabel aus­
drücklich nach dem Verlauf einer griechischen Tragödie gestaltete.
Im Rahmen einer heideggerschen Poetik wird sich dann zeigen, wie
zielbewusst Heidegger vorging, als er die Philosophie ins Narrative
verwandelte und das Problem der Rezeption auf eine ganz unge­
wöhnliche Weise löste, indem er die eigenen Rezipienten als innere
Bestandteile der Narration integrierte.

***

Ein Wort noch zu den Textquellen. Diese Arbeit bedient sich reich­
lich des vor kurzem veröffentlichen Materials aus den sogenannten
Schwarzen Heften. Die Erscheinung dieser Manuskripte (Über‑
legungen II–XV, Anmerkungen I–V) hat in der Heidegger-For­
schung für großes Unbehagen gesorgt. Insbesondere die darin ent­
haltenen antisemitischen Äußerungen haben manche Forscher dazu
verleitet, diese Manuskripte als einen Fremdkörper im Rahmen des
heideggerschen Gesamtwerks zu betrachten, um nicht zum Schluss
kommen zu müssen, Heideggers Denken sei antisemitisch. In die­
sem Zusammenhang lohnt sich aber vielleicht zu erwähnen, dass
die geläufige Unterscheidung zwischen veröffentlicht und unver‑
öffentlicht sich bei Heidegger mit einer anderen Unterscheidung,
nämlich derjenigen zwischen öffentlich und nicht‑öffentlich, über­
schneidet und einen ganz anderen Sinn hat als bei den meisten Den­
kern und Autoren, von denen wir über einen Nachlass verfügen. So

4 Siehe V. Propp, Morphologie des Märchens, S. 79 ff.


Einleitung 13

haben wir auf der einen Seite eine begrenzte Anzahl von Schriften,
und darunter nur wenige öffentliche Vorlesungen, die von Heideg­
ger selbst durchgearbeitet und veröffentlicht wurden, während auf
der anderen Seite uns eine ganze Reihe von Manuskripten in über­
arbeiteter Fassung vorliegt, die Heidegger zeit seines Lebens dem
breiten Publikum vorenthalten hat, gerade weil er solchen Schrif­
ten einen höheren Wert zuschrieb. Von daher kann man auch nicht
mit solchem Material so umgehen, als ob es sich um Schmierpapier,
Gedankenfetzen oder einfache Notizen handelt, die den Rang eines
abgeschlossenen Werkes nicht erreichen. Während es also durchaus
fruchtbar sein kann, die eine Schrift durch die andere zu beleuch­
ten, verrät der Vorsatz, einige Texte zugunsten anderer auszublen­
den, nur die unehrliche Absicht, die vorgezogenen Texte bewusst
missdeuten zu wollen.
***

Der Gedanke, mich mit Heideggers Seinsgeschichte zu befassen und


sie in ihrer Vermengung von Denken und Politik zu analysieren,
hatte mich schon lange vor Beginn dieser Arbeit beschäftigt. Was
mir dennoch fehlte, war ein theoretischer Zugang zur Problema­
tik, der mir endlich erlauben konnte, die verschiedenen Ebenen in
Heideggers Geschichtsauffassung als etwas Einheitliches zu behan­
deln. Diesen Zugang fand ich im Frühherbst 2013, als mir Peter
Trawny vorschlug, Heideggers Geschichte des Seins wie ein Nar­
rativ zu betrachten. In dieser Hinsicht wird auch der Einfluss, den
Trawnys Publikationen der letzten Jahre auf mich ausgeübt haben,
nicht schwer zu erkennen sein. Was aber beim Lesen dieser Arbeit
nicht unmittelbar erscheinen kann, sind all die Anregungen, die im
Rahmen der Veranstaltungen des Martin-Heidegger-Instituts an der
Bergischen Universität Wuppertal unter seiner Leitung für mich ent­
standen sind. Insbesondere seien hier die Tagungen Heideggers Eso‑
terik (2013), Ort und Selbst. Heideggers Auto‑topo‑logie (2013),
Heidegger und die Juden (2014), die Forschungstage Politik / Heid­
egger / Ethik (2015–2016) und die zahlreichen Treffen des Heideg­
ger‑Kolloquiums (2013‑2016) erwähnt. Damit geht mein herzlicher
Dank an Peter Trawny für sein konstantes Bemühen, neue Wege der
philosophischen Forschung zu eröffnen, sowie an alle Teilnehmer
des Heidegger-Kolloquiums für die Vielfalt an Ideen, Anstößen und
Blickrichtungen, die die Debatte rund um Heideggers Werk belebt
und bereichert haben.
1. Die Geschichte des Seins

1.1 Eine Epik der Wahrheit

»Geschichte ist selten. Geschichte ist nur dann, wenn je das


Wesen der Wahrheit anfänglich entschieden wird.«
GA 4, S. 76

Es sei gleich zugegeben: Das Wesen der Geschichte hatte für Heideg­
ger wenig mit Erzählung zu tun. Möchte man sich zudem auf die
semantische Herleitung des deutschen Wortes berufen, hätte man
schon zu Beginn genug Gründe dafür, zu behaupten, Geschichte
sei im Grunde genommen Geschehen und alles andere als Narra­
tion. Und tatsächlich lag für Heidegger nichts so weit auseinan­
der wie Geschichte und Historie, letztere im Sinne einer Kunde des
Vergangenen. Nun muss man sich aber fragen, was Heidegger un­
ter Geschehen eigentlich verstand und wie sich für ihn Geschichte
überhaupt ereignete. Das geschichtliche Geschehen, wie man es auch
immer auffassen mag, wird dann in seiner innersten Verbindung mit
dem es sagenden Wort auftauchen – und zwar, wie sich bald zeigen
wird, mit einem erzählenden Wort.
Umso wichtiger ist es, klarzustellen, dass Geschichte hier weni­
ger mit Taten, sondern vielmehr mit Denken zu tun hat und dass es
eigentlich auch nie um eine Geschichte von Menschen gehen wird,
obwohl in ihr dem Menschen nicht die unbedeutendste Rolle zu­
kommt. In Heideggers Geschichtsauffassung wird es ständig um eine
Entscheidung gehen, auf die keine Handlung folgt, weil sie selbst die
einzige wahre Handlung ist, und die im Grunde genommen nicht
mal gefällt wird, weil sie erst recht alles Sich‑Entscheiden ermög­
licht. Dabei soll das Geschehen auch gar nicht als Geschehen ver­
standen werden, wenn an ihm ausgerechnet das, was nicht geschieht,
von philosophischer Relevanz ist – wie Heidegger selbst, gleich vor
Anbruch des Zweiten Weltkrieges, seine Adressaten warnte: »Das
16 1. Die Geschichte des Seins

Nichtgeschehene im Reich des Wesentlichen ist sogar wesentlicher


als das Geschehene, weil es […] immer noch und immer mehr in
der Möglichkeit steht, notwendiger und nötigender zu werden.«1
Aber um was für eine Möglichkeit soll es sich handeln, durch die
eine Notwendigkeit entsteht? Und wie kann Geschichte aus Nicht­
geschehenem bestehen? Geschieht in dieser Geschichte überhaupt
etwas? Und was wird darin entschieden?
»Geschichte ist selten«, schrieb Heidegger 1941 in seinen Erläu‑
terungen zu Hölderlins Dichtung. Das heißt aber nicht bloß, es pas­
siere nicht jeden Tag Geschichte. Und auch nicht, Geschichte ereigne
sich alle zwei oder drei Jahrhunderte, wobei Heidegger dem schon
auf irgendeine Weise zustimmen konnte. Denn, was sich in der Welt
ereignet, was wir als weltliches Geschehen bezeichnen, ist nur in
einem viel gröberen Sinne Geschichte, und zwar nur als ein Unwe­
sentliches, Abgeleitetes – Folge und Abfall von etwas ganz Anderem.

»Geschichte ist uns dabei nicht die Versammlung der öffentlichen


Begebenheiten des Tages und erst recht nicht das Vergangene sol­
cher Vorkommnisse. […] Denn Geschichte ist jenes Geschehen,
in dem durch den Menschen das Seiende seiender wird. […] Dies
Geschehnis der Eröffnung des Seienden ist aber die Wesung der
Wahrheit selbst. […] Die Frage nach der Wesung der Wahrheit
ist daher die ursprünglich geschichtliche, Geschichte‑gründende
Frage und ist deshalb auch je nach dem geschichtlichen Augen­
blick geschichtlich verschieden.«2

Was selten geschieht, was nur in plötzlichen Augenblicken aufklafft,


ist, um es mit einem einzigen Wort zu sagen: »Wahrheit«. Was selten
entschieden wird, was jedes Mal ein neues Spektrum geschichtlicher
Möglichkeiten erschließt, was allein aus dem Möglichen eine Not
und eine Notwendigkeit entstehen lässt, das alles ist nichts anderes
als die Stiftung eines neuen Wahrheitsbegriffs. Geschichte ist etwas,
das »durch den Menschen« geschieht, das aber nicht von Menschen
vollzogen wird. Und es ist eine Art Geschehnis, das das Seiende im
Ganzen auf einmal in Anspruch nimmt, es eröffnet und offenbart,
es in seine Wahrheit stellt.

1 Freiburger Wintervorlesung 1937/38 Grundfragen der Philosophie. Aus‑


gewählte »Probleme« der »Logik«, GA 45, S. 123.
2 Ebd., S. 201.
1.1 Eine Epik der Wahrheit 17

Wie Heidegger es ausdrückt, geschieht dann Geschichte jeweils


in einem »geschichtlichen Augenblick« als die Gewalt einer Bresche,
in der das Seiende zu seiner Wahrheit aufbricht und »seiender wird«,
zu seinem Sein gelangt. So ist die Wahrheit selbst das einzig mögli­
che geschichtliche Ereignis, das mit jeder subjekthaften Art von Ge­
schichten bricht, in denen Menschen Taten vollbringen. Und wenn
noch von einer Tat bzw. einer Handlung die Rede sein soll, kann es
sich hier nur um eine denkerische und zugleich sprachliche Leistung
handeln, um eine »Geschichte‑gründende Frage«, die stets anders,
in jedem »geschichtlichen Augenblick« »verschieden« gestellt wird.
Geschehen ist nur und allein dort, wo und wann diese Frage gestellt
wird; alles andere, und vielleicht sogar die Antwort auf diese Frage,
bleibt Nebensache.
Aber was ist das für eine Frage? Heidegger nennt sie die »nach
der Wesung der Wahrheit«. Nicht bloß um die Wahrheit geht es hier,
sondern um ihre »Wesung«, darum, wie die Wahrheit jedes Mal von
Neuem »west«. Gerade dies ist ihr eigentlich Geschichtliches. Mit
der Substantivierung des mittelhochdeutschen Verbs wesen drückt
Heidegger dann das Sein der Wahrheit als ein Verweilendes, ein sich
in der Zeit Aufhaltendes, aus: Denn das Besondere an diesen sel­
tenen Augenblicken, in denen die Wahrheit ihre Gründung findet,
liegt genau in der sprengenden Kraft, Zeitalter zu eröffnen. Nur in
diesem Sinne gilt Wahrheit als Geschichte, indem durch sie die Zeit
zum Geschehnis wird.
Mit der »Wahrheitsfrage« rollt sich also das Handlungsfeld der
Geschichte auf. Das verleiht dem Denken eine ausgezeichnete Stelle
innerhalb dieser Art von Geschehen und drängt unvermeidlich zu
einer inneren Kollision zwischen Geschichte und Philosophie: »Phi­
losophie ist dann und muss sein, wann immer und wie immer das
Seyn selbst zu seiner Wahrheit drängt, wenn die Eröffnung des Sei­
enden selbst geschieht, wenn Geschichte ist.«3 Die Philosophie wird
somit zum eigentlichen Ort der Geschichte, zum Schauplatz einer
»Urhandlung«4, die als Frage nach der Wahrheit das Seiende im Gan­
zen aufschließt.
Es ist auf diesem Boden, dass Heidegger die Erzählung einer
Seinsgeschichte entfaltet, in der das Sein durch alle Wandlungen
und Umwälzungen der Philosophiegeschichte hindurchgeht. Die

3 GA 45, S. 120.
4 Siehe Ein Rückblick auf den Weg (1937–1938), GA 66, S. 425.
18 1. Die Geschichte des Seins

Geschichte nimmt dann die Züge eines sich durch die Zeitalter er­
streckenden Epos an, in dem die Wahrheit sich immer neu und an­
ders ereignet. Mithin wird die Philosophie als solche zu einer ein­
zigen gigantischen Narration, die das Sein erst zu einer erzählten
Geschichte macht. Denn angenommen, das philosophische Fragen
sei das »Grundgeschehnis«,5 in dem sich »das Seyn selbst zu seiner
Wahrheit drängt«, dann wird die gesamte Geschichte der Philoso­
phie als Erzählung jenes Grundgeschehnisses gelten, das das Sein
selbst zur Handlung einer allumfassenden Narration verwandelt.
Das Denken Heideggers gestaltet sich hier, als erzählende Stimme
des Seins, zu einem philosophischen Epos, das in den fernen griechi­
schen Anfängen der Philosophie ansetzt und sich zu Nietzsche hin­
zieht, ein abendländisches Abenteuer verflechtend, in dem die ganze
Geschichte der Menschheit mit hineingerissen wird. Die Frage nach
der Wahrheit gilt nun als Leitfaden für eine »Auseinandersetzung
mit der gesamten abendländischen Philosophie«,6 aus der die ein­
zelnen Denker als schicksalhafte Figuren emporragen, durch deren
Fragen alle Möglichkeiten des menschlichen Seins erschlossen wer­
den. Die gesamte Weltgeschichte wird so in eine denkerische Nar­
ration eingesponnen, die die Taten von Denkern erzählt, indem sie
sich mit ihnen philosophisch auseinandersetzt.
Und gerade in solcher »Auseinandersetzung« unterscheidet
sich Heideggers Erzählung von einer beliebigen Philosophiege­
schichte: »Geschichtliche Auseinandersetzung ist etwas wesentlich
anderes als die historisch verrechnende Kenntnisnahme des bisher
Vergangenen.«7 – und in der Tat ist Heideggers Narration keine his­
torische Betrachtung, keine Darstellung des bisher Gedachten und
auch keine Interpretation vergangener Philosophien. Denn genauso
wie in der Geschichte das Nichtgeschehene »sogar wesentlicher als
das Geschehene« war, ist nun in der Philosophie allein die Erzählung
ihres Ungesagten und Ungedachten das Einzige, was Heidegger tat­
sächlich interessiert. Geschichtliche Auseinandersetzung heißt dann
nichts anderes, als die überlieferte Geschichte auseinander zu neh­

5 Vgl. Freiburger Wintervorlesung 1933/34 Vom Wesen der Wahrheit,


GA 36/37, S. 207: »Dieses Grundgeschehnis, in dem sich das Wesen der
Wahrheit durch die Geschichte des Menschen entfaltet und in welcher Ge­
schichte der Mensch diesen inneren Halt gewinnt, dieses Grundgeschehnis
ist die Philosophie.«
6 GA 45, S. 11.
7 Ebd., S. 11–12.
1.1 Eine Epik der Wahrheit 19

men, damit das bis jetzt Ungeschehene in einer geschichtlichen Fik­


tion auch endlich geschehe.
Den Worten der früheren Denker entnahm Heidegger dafür nicht
das Gegebene einer Überlieferung, sondern die Gabe und Aufgabe
eines noch ganz unerzählten Zu‑Denkenden. Allein dadurch konnte
die Philosophie als Narration zugleich Geschehen und Geschichte
sein und als Aufrollen der Wahrheitsfrage schon Ereignis der Wahr­
heit selbst. Insofern war Heideggers Auseinandersetzung mit den
früheren Denkern weder eine Geschichte der Philosophie noch
eine Philosophie der Geschichte, sondern Philosophie wurde als
Geschichte völlig neu gedacht. In diesem Sinne ist auch zu deuten,
was Heidegger in seinen Beiträgen zur Philosophie meinte, als er den
Begriff der Philosophie »geschichtlich« bestimmte:

»Die jetzt und künftig wesentliche Fassung des Begriffes der Phi­
losophie […] ist die geschichtliche (nicht eine historische). ›Ge­
schichtlich‹ meint hier: zugehörig der Wesung des Seyns selbst,
eingefügt in die Not der Wahrheit des Seyns und so gebunden in
die Notwendigkeit jener Entscheidung, die überhaupt über das
Wesen der Geschichte und ihre Wesung verfügt.«8

Nicht »historisch«, sondern »geschichtlich« die Philosophie fassen


heißt, kurz gesagt, dass man hier weder Auskünfte über diese und
jene vergangene Philosophie liefert noch Interpretationen über an­
dere Denker auftischt. In der »Wesung des Seyns« ist das geschicht­
liche Denken nicht das Nachplappern von verschiedenen Welt­
anschauungen und Theorien über das Sein, sondern ist an sich schon
die Entscheidung, in der die »Wahrheit des Seyns« geschieht und zur
Notwendigkeit für den Menschen wird. In solcher »Entscheidung«
über die Wahrheit, die immer eine geschichtliche sein muss und ge­
rade dadurch zu einer über‑historischen wird9, findet »das Wesen
der Geschichte« seine Stiftung.
Wie das alles zu einer denkerischen Narration führen musste, die,
ohne bloß von diesem und jenem Philosophen zu berichten, ge­
rade durch die Worte der philosophischen Tradition sich als selbst­
erdichtete Geschichte ereignete, werden wir noch genauer betrach­
ten. Schon an dieser Stelle können aber die mit Geschehens-Sinn

8 GA 65, S. 421.
9 Siehe GA 45, S. 42: »Das Geschichtliche ist das Über‑Historische …«
20 1. Die Geschichte des Seins

beladenen Worte der Denker als die einzig wahren Taten in einer
philosophischen Epik erscheinen, die das menschliche Schicksal
trägt und prägt, gerade indem sie es erzählt.
Heidegger nannte seine narrative Unternehmung »geschichtliche
Besinnung«10 und setzte mit ihr gerade am Ende jener Geschichte
an, die es zu erzählen galt. Aus solcher Positionierung entstand die
erzählerische Funktion eines Denkens, das durch die Rückwendung
auf das Bisherige in den eigenen Ursprung zu gelangen suchte, um
von daher eine geschichtliche Legitimation zu erlangen: »Wir müs­
sen uns hier auf den Anfang des abendländischen Denkens und auf
das, was in ihm geschah und nicht geschah, besinnen, weil wir im
Ende – im Ende dieses Anfangs – stehen.«11
Es ist also die Not eines mit sich nicht weiterkommenden Endes,
die nun zur Aufgabe einer besinnlichen Narration zwingt. Nur an
seiner Stelle »im Ende« legitimiert sich der narrative Versuch, einen
verschütteten und vielleicht nie geschehenen Anfang zu erreichen,
der einem alten und erschöpften Denken neue Ursprünglichkeit zu
verleihen verspricht. Dem Erzähler stünde dann wie üblich die un­
dankbare Aufgabe zu, mit einer Geschichte anzufangen, die schon
längst zu Ende ist.
Und doch, wenn es hier um jenes seltsame Geschehen geht, das
Philosophie heißt, können sich die Spielregeln rasch ändern. Denn
erstens soll es in dieser Geschichte genauso um Geschehenes sowie
um ein geheimnisvolles Nicht‑Geschehenes gehen, das auch irgend­
wie zum Geschehen drängt, und zweitens handelt es sich um ein
ganz eigentümliches Ende, das noch gar kein Endgültiges, sondern
nur das »Ende dieses Anfangs« ist, wie Heidegger sagt. Aber wie
viele Anfänge kann es denn eigentlich geben?
Der Anfang der Philosophie ist tatsächlich nicht der einzige An­
fang in der Geschichte, die uns Heidegger erzählt. In dieser seltsa­
men Erzählung kann dieselbe Geschichte mehrmals anfangen, und
obwohl sie in einer Hinsicht schon längst zu Ende ist, wird sie an­
dererseits noch sehr lange dauern. Und selbst das Ende kann nach
Heidegger gar kein Ende nehmen wollen und sich bis ins Unend­
liche überleben. Aber was wird hier angefangen und was soll nun
zu Ende sein?

10 Ebd., S. 35.
11 Ebd., S. 124.
1.1 Eine Epik der Wahrheit 21

Wir haben schon gesehen, wie die Geschichte als »Wesung der
Wahrheit« gedacht ist. Und wir haben auch gesehen, wie solche Ge­
schichte »durch den Menschen« geschieht, ohne jemals Menschen­
geschichte zu werden, denn in der Wahrheit ereignet sich nicht der
Mensch, sondern das Sein: »Philosophie und Philosophen sind dann
und gemäß dem, wann und wie die Wahrheit des Seyns selbst sich
ereignet, welche Geschichte sich jeder menschlichen Veranstaltung
und Planung entzieht, weil sie selbst erst der Grund ist für die Mög­
lichkeit menschlichen Seyns.«12
Die Wahrheit des Seins ist also selbst das einzige geschichtliche
Ereignis, das sich in dieser Erzählung zutragen soll. Und dennoch
hat Heidegger in den drei Jahrzehnten seiner Lehrtätigkeit anschei­
nend nichts anderes getan, als unablässig von Menschen und ihren
Werken, von Platon und Nietzsche, Descartes und Hegel, Leibniz
und Schelling, Kant und Parmenides zu erzählen. Nun ist aber
das Menschliche in dieser Geschichte der narrativen Gestaltung
so dermaßen untergeordnet, dass selbst die Aussage, Heidegger
sei der Erzähler dieser Geschichte, eine Missdeutung ihrer Beson­
derheit wäre. Denn Heidegger selbst stellte sich in die lange Reihe
der Denker, von denen er doch erzählt, als ob er selbst Teil, wenn
nicht gerade Instrument der Narration, wäre. Und für alle – sowie
in allererster Linie für ihn – scheint das zu gelten, was er einmal
über Nietzsche sagte: »Die Gedanken eines wesentlichen Denkers
sind der Widerklang der noch nicht erkannten Geschichte des Seins
im Wort, das der geschichtliche Mensch je als seine ›Sprache‹ spre­
chen wird.«13
Die Geschichte des Seins, könnte man fast sagen, erzählt sich von
selbst. Was Philosophen sagen, entstammt also nur aus dem Zwang
einer inneren Notwendigkeit, in der die Wahrheit des Seins selber
spricht. Dementsprechend gehören Denker zu einer schlicht narra­
tiven Art von Menschen, »die keine Wahl haben«14 und nur noch
als »Widerklang« eines erzählenden Wortes existieren, worin man
nicht einmal behaupten kann, dass sie sprechen, sondern nur dass
sie gesprochen werden. Insofern verleihen sie, vom Sein gestimmt

12 Ebd., S. 120.
13 Freiburger Vorlesung II. Trimester 1940 Nietzsche: Der europäische Nihi­
lismus, GA 48, S. 20.
14 Ebd. 6.
22 1. Die Geschichte des Seins

und bestimmt, der Narration nur eine Stimme, in der das Wort der
je geschichtlichen Wahrheit erklingt.15
Es ist also die Geschichte des Seins selbst, die zuletzt, »im Ende«
ihres Anfangs, sich in einer geschichtlichen Auseinandersetzung
auf sich selbst besinnt und den eigenen Anfang zur Sprache bringt,
und zwar »was in ihm geschah und nicht geschah«. Im Ende einge­
schlossen liegt somit die Notwendigkeit einer narrativen Aufgabe,
die sich in einem Rückgang durch die gesamte Denkgeschichte ent­
faltet. Ihre Geschehnisse und Nicht‑Geschehnisse sind Namen von
Philosophen, in denen die Wahrheit des Seins sich selbst darstellt.
Auf der Bühne dieses geschichtlich‑philosophischen Szenarios, wo
»die Philosophen nur die gespielten Spieler«16 sind, spielt sich dann
das Drama einer Jahrtausende langen Sage des Denkens ab, die es
noch nicht geschafft hat, ihr Wesentliches auszusprechen.
In dieser Hinsicht entsteht die Narration gerade aus einem
Nicht‑Gesagten im Gesagten und Nicht‑Geschehenen im Gesche­
henen, das nun in der geschichtlichen Besinnung zum Sagen und
Geschehen drängt. Heidegger hatte einen ganz bestimmten Namen
für dieses lange Epos der Wahrheit bzw. Unwahrheit: »Die Wahr­
heit des Seienden im Ganzen heißt von altersher ›Metaphysik‹. Jedes
Zeitalter, jedes Menschentum ist von je einer Metaphysik getragen
und durch sie in ein bestimmtes Verhältnis zum Seienden im Ganzen
und damit auch zu sich selbst gesetzt.«17
Metaphysik ist also nicht der Name einer Art von Philosophie,
sondern Metaphysik ist seit Platon die gesamte Geschichte des Men­
schen in all ihren bisher gegebenen Möglichkeiten: Von der Nieder­
schrift der ersten aristotelischen Abhandlung bis zur Erfindung des
Verbrennungsmotors und viel weiter hinaus, ist jedes menschliche
Schaffen metaphysisch. Metaphysik wird zum geläufigen Namen
für alles menschliche Tun und Sagen und bestimmt, mit der Fest­
setzung einer gewissen Auffassung der Wahrheit, jeden Bezug zum
Seienden vor.
Dennoch bleibt diese Metaphysik, trotz ihrer allumfassenden
Kraft, nur der Name eines Endes, jenes Endes, von dessen Stand­
punkt aus diese Geschichte erzählt wird. Und es ist eben das End‑

15 Über die Stimmungen und Grundstimmungen des Denkens siehe u. a.


GA 45, S. 153 ff.
16 Vorgehen – »Entwurf«, GA 73.1, S. 612.
17 GA 48, S. 3.
1.1 Eine Epik der Wahrheit 23

lichste an diesem Ende, was nun zur geschichtlichen Auseinander­


setzung drängt, weil es plötzlich so zu stehen scheint, als ob sich die
gesamte Philosophiegeschichte gleich an ihrem Anfang verlaufen
und festgefahren hätte. Daraus ergibt sich die narrative Notwen­
digkeit einer Überwindung der Metaphysik, die uns von der Ebene
einer erzählten Geschichte auf die Metaebene einer erzählenden Ge­
schichte versetzt, wodurch das Erzählen selbst zum Moment der
erzählten Handlung wird.
Man trifft hier auf eine Verschachtelung der Seinsgeschichte,18 die
in der Metaphysik ein Zentrum und eine eigene Mitte hat, sich aber
noch zu einem Davor und Danach öffnet. So weist die Metaphysik
auf ein Außerhalb ihrer selbst, das in eine andere, viel größere Nar­
ration gehört. Durch eine doppelte Hintertür lässt Heidegger die
Möglichkeit einer anderen Geschichte aufscheinen, in der Anfang
und Ende zu den schmalen Trennungslinien werden, die Neues von
Altem scheiden. Aber wo fing alles an, wo soll es aufhören?
1943 legte Heidegger die Grenzlinien des metaphysischen Epos
folgendermaßen fest: »Seit Platon und Aristoteles ist das abendländi­
sche Denken bis zur Stunde ›Metaphysik‹. Dagegen ist das Denken
der anfänglichen Denker noch nicht Metaphysik.«19 Nur ein paar
Jahrhunderte vor Beginn der Metaphysik hatte mit Anaximander die
Geschichte des Seins ihren Anfang genommen und wenige Genera­
tionen später war es eigentlich schon mit allem zu Ende, gleichwohl
noch lange nicht vorbei. Was dann mit Platon kurz darauf ansetzte,
gilt immer noch: Die ganze Epik der Metaphysik ist nur der lange
Auslauf eines Endes, das nicht enden will und die ganze Geschichte
des Denkens gefangen hält. Denn mit Ausnahme von vier Namen –
Anaximander, Heraklit und Parmenides für den Anfang und Höl­
derlin20 für das Ende – bleiben alle Denker in dieser metaphysischen
Geschichte stecken.
Die Zentralität der Metaphysik geht aber noch viel weiter über
das rein Chronologische hinaus. Als unendliches Ende eines blitz­

18 Vgl. P. Trawny, Adyton: Heideggers esoterische Philosophie, S. 87: »Heid­


egger hätte folglich von Geschichten sprechen können, allerdings nur zu dem
Preis, dass er seine linear‑epochale Geschichtserzählung noch weiter hätte
einschränken müssen.«
19 Freiburger Sommervorlesung 1943 Der Anfang des abendländischen
Denkens, GA 55, S. 57.
20 Siehe Überlegungen XIV, GA 96, S. 199: »Hölderlin steht seit 1800
außer­halb der Metaphysik und stiftet ein Anderes […]«.
24 1. Die Geschichte des Seins

artigen Anfangs ist sie der eigentliche Name für jenes Epos der
Wahrheit, das das gesamte Weltgeschehen miteinschließt und, wie
jede große Erzählung, die schöpferische Kraft hat, eigene Welten zu
entwerfen. Platon, Aristoteles, Descartes, Leibniz, Kant, Schelling,
Hegel und Nietzsche sind dann nicht bloß die Namen der Helden
dieser ungewöhnlichen Epik, sondern selbst Abschnitte der Welt­
geschichte im unermüdlichen Wandel des Wahrheitsbegriffs, sodass
von der ἰδέα zur ἐνέργεια , vom cogito zur Monade, von der Vernunft
zum Wollen, vom Selbstbewusstsein zum Willen zur Macht sich im­
mer auch ein neuer Weltentwurf ereignet hat.
Es scheint demnach eine ganz besondere narrative Eigenschaft der
Metaphysik zu sein, das Seiende in einem synthetischen Ganzen im­
mer von neuem erzählen zu können. »Das Zeitalter der ›Systeme‹«21
nennt sie Heidegger im Wintersemester 1937/38 und fügt hinzu: »Im
großen Anfang gab es, und zwar notwendig, noch keine Systeme,
und nach dem Ende dieses ersten Anfangs wird es Systeme nicht
mehr geben.«22 Ganz gleich, ob tatsächlich eine angeborene »Syste­
matik« dem Einheitlichen der metaphysischen Narration zugrunde
liegt, oder ob es einfach jedem Erzählen eigen ist, Unterschiedli­
ches in einem Ganzen23 zusammenzufügen – es bleibt unleugbar,
dass eine doppelte Einheit dieser Epik innewohnt: 1) eine innere,
durch die jede Philosophie, als einzelnes Moment der Narration,
das Seiende als ein Ganzes fasst; und 2) eine umfassende, aus der die
ganze Metaphysik als abgeschlossene Handlung hervorgeht. In die­
sem letzten Sinne ist die Metaphysik eine einzige Epoche, die unter
dem Verständnis der Wahrheit als »Richtigkeit« die gesamte europä­
ische Geschichte bis zum heutigen Tage durchherrscht: Es sind, wie
Heidegger sagt, »zwei Jahrtausende abendländischer ­Geschichte mit
dieser Auffassung der Wahrheit ausgekommen«.24
Hierbei geht es um ein einmaliges Geschehnis, das, von Platon
vorbereitet, sich in Aristoteles Philosophie zugetragen haben soll,
als das Wesen der Wahrheit als ὁμοίωσις, Richtigkeit der Aussage,
Übereinstimmung von Satz und Sache, festgelegt wurde. In sol­
cher Auffassung lag schon der ganze Bereich alles möglichen Tuns

21 GA 45, S. 144.
22 Ebd., S. 145.
23 In einer »concordance discordante« sieht Paul Ricœur die wichtigste
Funktion der Fabelkomposition. Vgl. ders., Temps et récit I, S. 71.
24 GA 45, S. 22.
1.1 Eine Epik der Wahrheit 25

und Denkens für die folgenden Jahrtausende besiegelt, und tatsäch­


lich erscheinen – von den Griechen bis ins 19. Jahrhundert – die
Charaktere der Heideggerschen Erzählung in ihren denkerischen
Möglichkeiten so beschränkt, dass sogar »der größte Widersacher«
des Christentums und die mittelalterliche Scholastik von keinem
wesentlichen Unterschied getrennt sind: »Indem Nietzsche so ver­
fährt, geht er, ohne es zu wissen, vollkommen einig mit Thomas
von Aquin.«25
Zuletzt spiegelt sich die zusammenhaltende Kraft der Metaphy­
sik auch in ihrem eigenen Ende wider. Denn der Metaphysik, die in
ihrem Umfang schon immer als ein Ende, nämlich als das des grie­
chischen Anfangs, galt, kommt noch ein eigenes Ende hinzu, das die
Philosophiegeschichte ein für alle Mal vollendet und abschließt. Es
handelt sich dabei nicht um die bloße Ansetzung eines Finales, mit
dem die Narration aufhört, sondern um einen Moment, in dem sich
die ganze Geschichte in sich sammelt und zur Vollendung kommt.
Daher bedeutet auch das Enden dieses Endes »nicht das Aufhö­
ren und Ausbleiben der metaphysischen Denkungsart, sondern den
geschichtlichen Augenblick, in dem die Wesensmöglichkeiten der
Meta­physik erschöpft sind«.26
Hier liegt ein Sinn vom Ende, der weder als abruptes Aufhören
noch als langsames Absterben eines Weltalters gilt, sondern als der
ganz einmalige und zusammenfassende Augenblick, in dem das We­
sen der Wahrheit als Richtigkeit seine inneren Möglichkeiten aus­
schöpft. Das trug sich in der Philosophie Nietzsches zu und obwohl
es seitdem an Philosophen sowie an weltlichen Ereignissen nicht ge­
mangelt hat, bleibt für den wesentlichen Inhalt der metaphysischen
Narration nichts Weiteres zu erzählen. Die Geschichte kommt zu
einem narrativen Abschluss, der an sich keinen zeitlichen Abbruch
bedeutet: Das »will nicht sagen, künftig ›lebten‹ keine Menschen
mehr, die metaphysisch denken«;27 die Weltgeschichte wird sozu­
sagen weiterlaufen, es wird noch Philosophen geben, die weiterhin
»›Systeme‹ der Metaphysik anfertigen«28 werden können, aber das
alles wird die Ereignisse dieser besonderen Erzählung nicht mehr
betreffen, da sie nun schon vollendet in sich ruht.

25 Ebd., S. 102.
26 GA 48, S. 276.
27 Ebd., S. 267.
28 Ebd.
26 1. Die Geschichte des Seins

Was außerhalb der Metaphysik passierte oder noch passieren


kann, wird dann eine ganz andere Geschichte sein, die auch einen
ganz anderen Anfang fordert. Sollte dieser nirgendwo zu finden sein,
wird man sich wohl mit dem ersten begnügen müssen und ihn auf
irgendeine Weise wieder anzufangen versuchen. Ob dies die Glaub­
würdigkeit einer Geschichte – und sei es auch der Geschichte – aus­
hielte, bliebe aber noch zu beweisen.

1.2 Anfang und Ende

»Die Geschichte ist (als die Geschichte ›des‹ Seyns) nicht der
ab‑laufende Fortgang von einem Anfang zu einem Ende.
Sie ist die Rück‑kehr des Einstigen in den Be‑ginn …«
GA 73.1, S. 791

Das scheinbar unendliche Epos der Metaphysik, das auch sein eige­
nes Ende überstehen kann, ist, wie schon erwähnt, die längste Epo­
che der Seinsgeschichte. Das gilt aber nur, solange man den zeitli­
chen Ablauf nach gewöhnlichen Maßstäben betrachtet. Allerdings
scheint in Heideggers Erzählung eine ganz andere Zeitkonstitution
zu herrschen, die mit der narrativen Struktur des philosophischen
Geschehens tief zusammenhängt. So können z. B. Ereignisse und
Philosophen, die chronologisch weit auseinanderliegen, in ein und
denselben Zeitraum gefasst werden, in dem sich etwas Wesentli­
ches für den Wandel der Wahrheit entschieden hat: »Wenn daher
Leibniz nach der historischen Zeitrechnung auch zwei Generatio­
nen später kommt als Descartes, so muß er doch – wesensgeschicht­
lich gedacht – mit Descartes zusammen als der Beginn der neuzeit­
lichen Metaphysik gedacht werden, so wie entsprechend Hegel und
­Nietzsche als ihr Ende.«29
Die zeitliche Konstitution der Seinsgeschichte besteht in raschen
Augenblicken, in denen Jahrzehnte und Jahrhunderte plötzlich zu­
sammenschrumpfen, und in langen Intervallen, in denen sich blitz­
artige Ereignisse über Jahrtausende hin ausdehnen. So ist mit dem
Auffassen der Wahrheit als Richtigkeit bei Platon und Aristoteles
die ganze Metaphysik bis Nietzsche sozusagen bereits mitgesche­

29 GA 48, S. 271.
1.2 Anfang und Ende 27

hen, während das erste Aufleuchten der Philosophie bei den Grie­
chen ein Geschehnis verbirgt, das noch nicht zu seinem »Ereignis«
kommen will.
Wir haben schon gesehen, inwiefern die ganze Metaphysik, ob
sie ihr eigenes Ende nun findet oder nicht, lediglich als Ende des
Anfangs fungiert. Aber was ist vor der Metaphysik, was danach?
Ist die Wahrheit des Seins anders geschehen, wird sie sich jemals
anders »er‑eignen«?
Die Geschichte des Seins ist eine lange Geschichte, nicht nur weil
sie lange dauert, sondern vor allem weil sie sich eigensinnig in die
Länge zieht, sich langsam ereignet. Was einmal passiert, dauert im­
mer länger als ihr Geschehnis selbst, da jedes ausgesprochene Wort
dieser Geschichte immer den ganzen Umfang seiner unausgespro­
chenen Möglichkeiten mit sich trägt: »Was da geschieht, geschieht
sehr langsam und sehr still, seine unmittelbare Auswirkung über­
springt den Zeitraum von Jahrtausenden.«30 Es handelt sich also um
eine zweitausend Jahre andauernde Metaphysik, die eine »unmit­
telbare Auswirkung« von etwas anderem ist, eines langsamen stil­
len und verborgenen Geschehens, das dem gewöhnlichen Zeitablauf
völlig fremd bleibt.
Was die innere Bewegung dieser Geschichte ausmacht, was in
Heideggers Erzählung ständig wiederkehrt und die Narration im­
mer wieder von neuem in Gang bringt, ist genau das verborgene
Zuvor aller Metaphysik, angesichts dessen alles Folgende nur noch
ein Ende sein kann. Es ist am Anfang, in der ersten Tat, dass alles
passiert. Es ist im Anfang, dass die Frage nach der Wahrheit geschah,
dass Wesensmöglichkeiten eröffnet und verschlossen wurden und
dass sich ein Schicksal entschied. Und wenn auch die narrative Kraft
des Erzählens im Ende ruht, ist es doch der Anfang, und nicht das
Ende, der die ganze Geschichte dieser Narration in sich birgt:

»Im Anfang liegt alles beschlossen. Wenngleich das Begonnene


und Gewordene alsbald über seinen Anfang hinwegzuschreiten
scheint, bleibt dieser – scheinbar selbst das Vergangene gewor­
den – doch in Kraft und das noch Wesende, mit dem jedes Künf­
tige in die Auseinandersetzung kommt.«31

30 GA 45, S. 113.
31 Ebd., S. 36.
28 1. Die Geschichte des Seins

Der Anfang dieser Geschichte geht also nicht vorbei. Das Geschehen
kommt nie über ihn hinaus, selbst wenn es vergeht. Denn Geschichte
geschieht, indem sie anfängt, d. h. indem der Anfang in seiner schöp­
ferischen Kraft immer weiterwirkt. Aus dieser Prämisse entsteht die
Notwendigkeit der Narration, sich mit ihrem Anfang auseinander­
zusetzen, einfach um eine Zukunft zu haben. Als eine solche narra­
tive »Auseinandersetzung« muss die Geschichte des Seins zur Er­
zählung des Anfangs werden und nur als diese Erzählung kann sie
früher oder später zu einem Ende finden. Denn der Anfang ist an
sich kein Begonnenes, das irgendwann vergehen kann, sondern der
Beginn einer Geschichte, die geschieht, indem sie sich selbst erzählt,
die eine Zukunft hat, nur indem sie ihren Ursprung sagt, und die
ein Ende erreicht, nur indem sie letztlich mit all jenem anfängt, was
bisher noch nicht hat anfangen können: »Das vergangene gilt nichts,
der Anfang alles. […] Denn das, was in wesentlichen Augenblicken
nicht geschah – und was wäre wesentlicher als ein Anfang –, dieses
Nichtgeschehene muß einstmals doch noch geschehen.«32
Der Anfang bleibt genauso entscheidend für das, was er ange­
fangen hat, wie für alles andere, was bis jetzt nicht anzufangen ver­
mochte und immer noch in ihm verschlossen bleibt. Die genera­
tive Kraft des Anfangs erschöpft sich also gar nicht in dem, was
anfängt, und erstreckt sich auch über alles Weitere hinaus, was in sei­
nen ungeschehenen Möglichkeiten noch zurückliegt. Das verschafft
Heideg­gers Erzählung, wie es sich bald zeigen wird, die merkwür­
dige Eigenschaft, von Dingen erzählen zu können, die noch nicht
geschehen sind, vielleicht gar nicht geschehen werden, aber trotz­
dem zur Geschichte des Seins gehören.
In diesem Sinne muss auch verstanden werden, inwiefern die
Meta­physik ihr eigenes Ende schon erleben konnte, ohne über es
hinweggekommen zu sein. Denn das eigentümliche Ende dieser Ge­
schichte will nicht einfach erreicht, sondern vor allem überholt und
überwunden werden. Aber eine Überwindung bleibt nach den Re­
geln solcher Narration nur möglich, indem man sich auf den Anfang
zurückwendet. Es ist somit der Anfang, der zuallererst eingeholt
werden muss: »Das Zukünftige ist der Anfang alles Geschehens«,33
sagt Heidegger und meint damit die Ursprünglichkeit eines Anfan­
gens, das sich nie als vergangene Tatsache betrachten lässt. ­Dabei

32 Ebd., S. 123.
33 Ebd., S. 36.
1.2 Anfang und Ende 29

steht der Anfang selbst dem Ende bevor, die Unerschöpflichkeit


einer Narration gewährend, die sich nur entfalten kann, indem sie
ihren U
­ rsprung immer von neuem übernimmt.

»Diese Besinnung muß zeigen, daß der erste Anfang in seiner


Einzigkeit nie wiederholbar ist im Sinne eines bloßen Nachma­
chens, daß er andererseits jedoch das einzig Wiederholbare bleibt
im Sinne der Wiedereröffnung von Jenem, womit die Auseinan­
dersetzung anzuheben hat, soll wieder ein Anfang und somit der
andere Anfang geschichtlich werden.«34

Die Anfänglichkeit der philosophischen Narration besteht aber


nicht in einer gewöhnlichen Wiederholung des schon Geschehenen.
Den Anfang zu erzählen kann nur in einer Auseinandersetzung mit
ihm erfolgen, die eher als ein »Wiederanfangen« erscheint. Eine Be­
sinnung auf ihn hebt somit gleich mit einem »anderen« Anfang an,
der nicht mehr der »erste« ist. Es ist die einmalige Unwiederholbar­
keit des Anfangs, die aus der Berührung mit ihm nur etwas völlig
Neues entstehen lassen kann, sodass aus der Erzählung des Einzi­
gen paradoxerweise ein Doppeltes hervorkommen muss. Denn das
Wesen des Anfangs gilt für so einzigartig, dass es nicht einmal nach­
gesagt werden kann: »das im Anfang und durch diesen notwendig
Zurück- und Einbehaltene«35 ist das Kommende einer Geschichte,
die noch zu erzählen, weil noch nicht geschehen, ist.
Insofern kann diese Narration nur als »Aus‑einander‑setzung«36
den Weg zu sich selbst finden, indem sie in der geschichtlichen Besin­
nung eine alte Geschichte aus sich selbst heraus in eine neue versetzt.
Was hiermit den Anfang »geschichtlich« macht, ist ein Unnachahm­
bares, weil noch nicht Eingetroffenes, wobei es genau im Erzählt­
werden zum Geschehen kommen soll. In diesem Sinne ist auch die
Notwendigkeit einer »Erinnerung in die Geschichte des Seins«37 zu
verstehen, die »Denker nennt und ihren Gedanken folgt«, weil man
nur durch ein solches »Andenken« zu dem kommen kann, was für
Heidegger stets als »das einzige Geschehnis« galt: »Der ereignende
Anfang« nämlich, der nie vergangen, sondern immer künftig bleibt.

34 GA 45, S. 199.
35 Ebd., S. 123.
36 Vgl. Besinnung (1938–1939), GA 66, S. 68–80.
37 Vgl. Die Erinnerung in die Metaphysik (1941), GA 6.2, S. 481–490.
30 1. Die Geschichte des Seins

Aber es ist nun an der Zeit, zu schauen, was für eine Geschichte
hier tatsächlich anfängt. Wir haben schon gesehen, wie diese Ge­
schichte Philosophie ist, und zwar als jenes Geschehnis der »Wesung
der Wahrheit«, in dem sich das Sein ereignet. Demzufolge setzt
Heid­egger den Beginn seiner denkerischen Erzählung an einem ge­
nauen Punkt jener Philosophiegeschichte fest, die zugleich als Ge­
schichtsphilosophie gelten könnte. Unter ganz bestimmten räumli­
chen und zeitlichen Koordinaten, die das Denken in einer seltsamen
Chronotopographie38 einfangen, fängt das seinsgeschichtliche Epos
an. Zur Eröffnung seiner Vorlesung Der Anfang der abendländi‑
schen Philosophie aus dem Sommersemester 1932 erzählt Heidegger:

»Die abendländische Philosophie hat ihren Beginn im 6. Jahrhun­


dert vor Christus bei dem kleinen, verhältnismäßig abgeschlos­
senen und rein auf sich gestellten(??), Volk der Griechen. Diese
wußten freilich nichts von »abendländisch« und »Abendland«.
[…]
Hätten die Griechen von dieser abendländischen Zukunft
etwas gewußt, es wäre nie zu einem Anfang der Philosophie
gekommen.«39

Bereits in den ersten Worten kommt es zu einer wesentlichen An­


gabe für die Verortung dieser Geschichte, einer Angabe, die weit über
die räumlich‑zeitlichen Koordinaten hinausgeht und das besondere
Merkmal der Narration aufzeigt: Was im 6. Jahrhundert bei einem
kleinen Volk am Mittelmeer angefangen hat – und was Heideg­ger
»Seinsgeschichte« nennt –, ist eine »abendländische« Philosophie.
Die abendländische Philosophie, müsste man eigentlich sagen, denn,
wie Heidegger sich elf Jahre später unzweideutig ausdrücken wird,
»[e]s gibt keine andere Philosophie als die abendländische«40 und
dadurch auch gar keine andere Geschichte.

38 Vgl. Michail M. Bachtin, Chronotopos. In seinem 1975 in Moskau erschie­


nenen Essay entwirft Bachtin ein Modell für die Untersuchung zeitlicher und
räumlicher Strukturen im Narrativen. Durch den Begriff des Chronotopos
werden Zeit und Raum nicht bloß zusammengedacht, sondern in einem lite­
rarischen Element verdichtet, das die ganze Handlung einer Narration kon­
stituiert.
39 GA 35, S. 1.
40 Der Anfang des abendländischen Denkens, GA 55, S. 3.
1.2 Anfang und Ende 31

»›Abendland‹«, wie Heidegger selbst in Anführungszeichen


schreibt, ist hier Geschichte und Philosophie in einem, örtliche und
zeitliche Bestimmung der Narration. Und genau wie es keine Phi­
losophie ohne Abendland geben würde, kann man konsequent fol­
gern, dass es auch gar kein Abendland ohne Philosophie gäbe: »Die
›Philosophie‹ ist in ihrem Wesen so ursprünglich abendländisch, daß
sie den Grund der Geschichte des Abendlandes trägt.«41
Die Philosophie lädt also die Narration des Abendlandes auf sich.
Sie gilt als Stimme und Leitfaden einer Erzählung, die durch und
durch philosophisch sein will. Ihr Anfang bleibt aber, wie paradox
das auch klingen mag, noch lange nicht »abendländisch«. Hier setzt
Heidegger mit einer Unterscheidung an, die er in den folgenden
Jahren vertiefen wird und die den Anfang von dem mit ihm Ange‑
fangenen deutlich trennt. Ohne sich aber 1932 schon viel für dieses
angefangene »Abendland« zu interessieren, scheint Heidegger hier
eher bemüht, den narrativen Chronotopos des Anfangs so eng wie
möglich zu umgrenzen: vor zweieinhalb Jahrtausenden bei einem
»kleinen, […] abgeschlossenen und rein auf sich gestellten Volk«.
Um genauer zu sein, war Heidegger, wenn es um »die anfängli­
chen Denker«42 ging, noch restriktiver: »Deren sind nach der Zahl
drei. Sie heißen Anaximander, Parmenides und Heraklit« und mehr
werden auch nie dazukommen. Dass z. B. »die Überlieferung« Thales
von Milet als »ersten Philosophen« nennt43, bleibt für diese Erzäh­
lung völlig belanglos. Von Thales wird nur die eine »Geschichte«44
erzählt, wo er »nach dem Oberen forschend – in einen Brunnen
gefallen« sei, und das scheint das einzig Relevante, was von diesem
Denker zu berichten ist.
Dass Heideggers Seinsgeschichte nun mit Anaximander an­
setzt, mag als reine Willkür erscheinen. Dennoch muss man zuge­
ben, dass jede chronologisch‑historische Hinsicht hier ganz fehl am
Platz wäre: »Das älteste Zeugnis kann sehr wohl jünger sein als der
wirkliche Anfang, ja dieser ist vielleicht überhaupt nicht bezeugt«,45
unterrichtet uns Heidegger in der Meinung, dass sogar das ausge­
suchte Fragment von Anaximander, mit dem er die Seinsgeschichte

41 Ebd.
42 Ebd., S. 4.
43 GA 35, S. 2.
44 Die Seinsfrage und das Ereignis, GA 73.1, S. 432.
45 GA 35, S. 47.
32 1. Die Geschichte des Seins

beginnen lässt, noch lange nicht als Anfang gelten muss. Im Winter­
semester 1934/35 kommt der Gedanke zu einer deutlicheren For­
mulierung: »Beginn ist etwas, womit eine Sache anhebt, Anfang das,
woraus etwas entspringt.«46 Ein echter Anfang kann also nicht bloß
beginnen: Was tatsächlich beginnt, ist nur das, was dem Ursprung
»entspringt« – nie aber der Ursprung selbst.
Und doch ereignete sich bei dem »abgeschlossenen« griechi­
schen Volk etwas, womit es »zu einem Anfang der Philosophie«
kam. Dieser Anfang konnte mit einer »abendländischen Zukunft«
anfangen, ohne dass ein »Abendland« begann. Denn Anfang ist nur
»das, woraus etwas entspringt«, und damit etwas, das vom Wesen
her hinter dem Entsprungenen zurückbleibt: »Das verborgene Ge­
schick aller Anfänge ist es jedoch, daß sie scheinbar durch das, was
durch sie anfängt und ihnen folgt, abgedrängt, überholt und wider­
legt werden.«47
Hiermit gehört zum Anfang konstitutiv ein Sich‑Zurückziehen,
das ihn nicht zum Vorschein kommen lässt. Nur indem der Anfang
dem Angefangenen weicht, kann aus ihm eine Geschichte entrollen.
Deshalb konnten die Griechen nicht wissen und durften es auch
nicht wissen, was für eine »abendländische« Epik ihnen entspringen
sollte. Ungeklärt bleibt aber immer noch, warum denn ausgerech­
net bei diesem Volk so etwas wie eine »Denkgeschichte« anfangen
musste. Hier scheint ein verhängnisvolles Vorrecht zu gelten, das die
Narration gleich zu ihrem Beginn prägt. Die von Heidegger betonte
Abgeschlossenheit der Griechen markiert dann einen unheimlichen
Vorgang, der sich leider mit viel katastrophaleren Folgen im Laufe
dieser Geschichte noch einmal wiederholen wird.
Damit ist von Anfang an die Philosophie zur Sache eines einzigen
»Volkes« gemacht worden, das die Seinsgeschichte anfing, indem
es sich von Anderen abgrenzte.48 Als Vorrang dieses »rein auf sich

46 Höderlins Hymne »Germanien« und »Der Rhein«, GA 39, S. 3.


47 GA 45, S. 40.
48 Es sei daran erinnert, dass von den drei Denkern, bei denen sich der
Anfang der Philosophie ereignet haben soll, zwei – Anaximander und He­
raklit – aus Ionien, der heutigen Türkei und d. h. Kleinasien stammen, und
der dritte – Parmenides – aus Süditalien. Ob die Griechen dann tatsächlich
ein kleines Volk gewesen sind und so abgeschlossen wie Heidegger meint,
kann hier nicht erörtert werden. Es kann aber festgehalten werden, welche
Eigenschaften an einem Volk – nämlich seine Absonderung – Heidegger zu
schätzen scheint. So z. B. verweist Heidegger in den Aufzeichnungen und
1.2 Anfang und Ende 33

gestellten Volkes« blieb das Denken in eine Sprache und eine Tra­
dition eingemauert, die ihre Kraft aus reiner Vereinzelung schöpfte.
So galt erstens auch der Name »Abendland« für eine grobe Abtren­
nung von allem Anderen, was vor, nach und neben dem griechischen
Anfang geschehen konnte: Diese Bezeichnung, berichtet Heidegger
noch in der Sommervorlesung 1932, entstand »als Abgrenzung ge­
gen das Morgenland, das Orientalische, Asiatische«,49 und sollte bald
als Name für die gesamte Geschichte, die aus dem Griechentum
hervorging, nur noch auf den irreversiblen Verlust des Ursprungs
hindeuten: »Römertum, Judentum und Christentum haben die an­
fängliche Philosophie – d. h. die griechische – völlig verändert und
umgefälscht.« Kein anderes Volk scheint der Größe dieser kleinen
abgekapselten Gruppe von Denk- und Dicht-Männern gewachsen
zu sein – außer einem vielleicht, das noch kommen und von dem
noch ausführlich zu berichten sein wird.
Aber was haben die Griechen tatsächlich geleistet, und worin be­
steht ihre Größe? Wie konnten sie zum Anfang werden und dadurch
die Geschichte gründen? Blicken wir auf Heideggers Geschichts­
auffassung als Wesung der Wahrheit zurück, dann müsste klar sein,
dass es für den Anfang sowie für jedes Moment dieser Narration um
ein Fragen geht, das einen Wesensbereich der Wahrheit stiften kann.
Nun handelt es sich aber hier nicht um eine beliebige geschichtliche
Frage, sondern um die »Geschichte‑gründende Frage« schlechthin,
um jene »Urhandlung«, die die Möglichkeit des Fragens überhaupt
erst zu gründen vermochte. Dieses gründende Fragen musste dann
so dermaßen ursprünglich sein, dass es nicht einmal stattfinden
konnte. Denn die erste geschichtliche Frage ist in einem gewissen
Sinne auch nie gestellt worden; es scheint, als ob man unmittelbar
zur Antwort hinübergesprungen wäre:

Entwürfen zu seiner Vorlesung aus dem Sommersemester 1933 (GA 36/37,


S. 268) auf das Werk von Helmut Berve, das Einiges zur Herkunft dieser
Problematik beitragen kann. Berve stellt das Griechentum in eine Welt, die
»zwischen ­Europa und Asien liegt. Wohl hat sie an beiden Kontinenten teil,
doch schließt die Natur sie gegen deren Kern hier schwächer, dort hart und
endgültig ab, so daß sie weniger ein Zwischenglied ist als ein eigenes Reich«
(ders., Griechische Geschichte. Erste Hälfte: Von den Anfängen bis Perikles,
S. 1); dazu erklärt Berve, wie dieses Griechentum, »von fremden Einwirkun­
gen kaum berührt, die fundamentalen Formen abendländischen Gemein­
schaftslebens erzeugt« (ebd., S. 134).
49 GA 35, S. 1.
34 1. Die Geschichte des Seins

»Auf die einzige Frage der griechischen Denker, durch deren Fra­
gen sie den Anfang des Denkens anfingen, auf die Frage: Was ist
das Seiende? lautet die entscheidende Antwort: Es ist die Unver‑
borgenheit. […]
Die Antwort aber auf eine und zumal die denkerische Frage, die
alles Denken erst in seinen Anfang bringt, die Antwort auf diese
philosophische Frage ist niemals ein Ergebnis, wegstellbar und
verschließbar in einen Satz. […] Mit der denkerischen Antwort:
das Seiende ist Unverborgenheit (φύσις, ἀλήθεια) hört jedoch das
Fragen nicht auf, sondern fängt an, entfaltet sich als Anfang.«50

Mit der Erfahrung der ἀλήθεια , der »Unverborgenheit«, wie Heid­


egger sie verstand, fängt die Philosophie an. Das abendländische
Denken findet seinen Ursprung gerade in dem Moment, als durch
das Fragen das Seiende in seiner Wahrheit aufgeschlossen und ins
Offene gebracht wird. Ἀλήθεια steht für die Wahrheit als Erfahrung
einer Eröffnung, durch die ein Verborgenes ins Freie kommt. Die­
ses Verborgene ist das Sein des Seienden, das die Griechen als ein
»Von‑sich‑her‑Aufgehen«51 unter dem Namen φύσις erfahren haben
sollen, mithin auf die Bewegung einer »Entbergung«, eines Hervor­
kommens, hindeutend.
Der Anfang ist also, wie das ganze ihm folgende Epos des Abend­
landes, die Erfahrung einer Frage, die zugleich als Denken und Ge­
schichte gilt: jene »Wahrheitsfrage«, die nach dem Sein des Seienden
fragt. Bei den Griechen musste es aber zu einer so einzigartigen Er­
fahrung gekommen sein, dass die Anfänglichkeit ihrer Frage nach
zweieinhalb Jahrtausenden Abendland an Unerschöpflichkeit noch
nichts eingebüßt hat. Das lag am Eigentümlichen einer Antwort,
die »niemals ein Ergebnis«, sondern Ursprung allen Fragens blieb.
In »der denkerischen Antwort: das Seiende ist Unverborgenheit«,
geschah nicht nur die Eröffnung der Wahrheit des Seienden, son­
dern die Wahrheit selbst ereignete sich als die Eröffnung schlecht­
hin, als das Offene selbst. Nur in dem Augenblick, als die Antwort
»Unverborgenheit« das Seiende für das Denken freilegte und es aus
dem Verborgenen ins Freie holte, konnte eine Erfahrung beginnen,
die sich als Geschichte der Wahrheit vollzog und sich immer noch

50GA 45, S. 131.


51Freiburger Sommervorlesung 1944 Logik. Heraklits Lehre vom Logos,
GA 55, S. 367.
1.2 Anfang und Ende 35

vollzieht, wo Wahrheit als Name für diese Erfahrbarkeit des Seien­


den steht.
Aber genau in diesem Erfahren steckt das Doppelgesicht eines
Anfangs, der zugleich Frage und Antwort, in seiner Un‑verborgen­
heit zugleich »Entbergung« und »Verbergung«52 ist: als das Unge­
heuer einer fragenden Antwort, die sich aus einem Grund erhebt,
nur indem sie ihn abdrängt, die als Ursprung wirkt, nur indem sie
sich hinter das Entsprungene zurückzieht. Denn »Unverborgenheit«
gibt zwar Antwort auf eine Frage, bleibt aber an sich völlig unbe­
fragt. Was ist die Unverborgenheit? Das, sagt Heidegger, wurde
von den Griechen überhaupt nicht ergründet. Deshalb konnte eine
Antwort ein Fragen offenhalten, das gerade im Unbegründetsein
seinen Grund fand.

»Die Griechen aber hätten in ihrem großen Anfang, mit dem sie
das Denken, d. h. die Auslegung des Seienden als solchen an­
fingen, ihren eigensten Auftrag aufgegeben, wenn sie nach der
ἀλήθεια selbst noch und wieder gefragt hätten. Inwiefern? Sie hät­
ten dann gerade nicht mehr gefragt, d. h. in der Bahn ihrer Frage
sich nicht mehr gehalten, die mit jener Antwort sich vollendet
und damit erst sich voll in den Vollzug bringt.«53

Die Frage nach der Unverborgenheit musste aus einer inneren Not­
wendigkeit »übersehen werden«54, damit es überhaupt zum Denken
kommen konnte. Um nach dem Sein des Seienden fragen zu können
und damit den Grund des Abendlandes zu setzen, dieser Jahrtau­
sende langen Geschichte, die das Seiende immer wieder von neuem
erforscht und auslegt, durfte diesen Grund – und zwar in dem ge­
schichtlichen Augenblick, als er gesetzt wurde – nicht in Frage ge­
stellt werden. Wie Heidegger selber sagt, »die Gründung des Grun­
des ist noch nicht eigentliche Gründung im Sinne der Er‑gründung
des Grundes«,55 d. h. etwas ist es, eine Grundlage zu setzen, und
etwas ganz anderes ist es, sie auseinanderzunehmen. Die Antwort

52 Siehe u. a. Zur Erläuterung weisender Wörter, GA 73.2, S. 915: »Die Ent­


bergung, die aus der Verbergung kommend, diese in sich birgt und dennoch
ungeborgen zurückläßt und damit die verborgene Einheit der Entbergung
und Verbergung – das ist anfänglich gedacht das Ereignis«.
53 GA 45, S. 137.
54 Ebd., 147.
55 Ebd., 112.
36 1. Die Geschichte des Seins

Unverborgenheit zu erfragen, das Unverborgene selbst in Frage zu


stellen, hätte die Griechen aus der »Bahn ihrer Frage« – dieser ersten
Frage, mit der die ganze Geschichte des Denkens anfängt – geworfen.
Es wäre nämlich für das griechische Volk unmöglich gewesen, nach
dem Seienden zu fragen, wenn dieses erste Fragen nicht auf dem un­
gefragten Grund der Unverborgenheit, die das Seiende im Ganzen
zum Erscheinen brachte, geruht hätte.
In diesem wesentlichen »Versäumnis«56 einer fragenden Antwort,
die etwas fragt, indem sie etwas sagt und etwas anderes verschweigt,
kommt aber ein noch viel wesentlicheres Merkmal der Heidegger­
schen Narration zum Vorschein, das mit der inneren Notwendig­
keit eines Fragens und Nichtfragens eng zusammenhängt. Es ist die
funktionale Rolle der griechischen Denker, die ihnen eine narrative
Aufgabe und eine geschichtliche Verantwortung erteilte. Es handelt
sich hier nicht um den einzigen »Auftrag« in dieser seltsamen Ge­
schichte, die ganz im Erfüllen verborgener Bestimmungen besteht,
in Forderungen, die »gesendet« werden und denen es zu entsprechen
gilt, bis die ganze Geschichte selbst »als das Zu‑Geschickte«57 einer
einzigen »Sendung« erfasst sein wird.
Aber all das später. Wichtig ist jetzt nur, zu betonen, wie in die­
ser Narration der Gedanke einer geschichtlichen Aufgabe in engster
Verbindung mit dem Verständnis eines Volkes steht, sodass die Grie­
chen ihre Bestimmung und nämlich das, was sie zum geschichtlichen
Volk machte, gerade in einem »eigensten Auftrag« des Denkens – in
einem eigenen Zu‑denkenden – fanden. »Ein geschichtliches Volk
ohne Philosophie ist wie ein Adler ohne die hohe Weite des leucht­
enden Aethers«,58 sagte Heidegger noch zum Auftakt seiner Vor­
lesung aus dem Wintersemester 1937/38, als er das Dasein eines
Volkes in der inneren Verflechtung von Denken und Geschichte
entstehen ließ. »[D]ie hohe Weite des leuchtenden Aethers« wäre
dann sozusagen das belebende Element, dessen der Adler bedarf,
um das zu sein, was er ist, genauso wie ein Volk nur in seiner Philo­
sophie den Zugang zu sich selbst und seine Stelle in der Geschichte
finden kann.

56 »Das Nichtfragen nach der ἀλήθεια als solches ist kein Versäumnis, son­
dern umgekehrt, es ist die sichere Inständigkeit der Griechen in der ihnen
gesetzten Aufgabe« (ebd., 138).
57 Der Anfang des abendländischen Denkens, GA 55, S. 79.
58 GA 45, S. 2.
1.2 Anfang und Ende 37

All dem zufolge wurden die Griechen zu den Griechen nur durch
die geschichtliche Bestimmung, mit dem Denken anzufangen, und
sie wären dieser Aufgabe gar nicht gewachsen gewesen, hätten sie
selbst die Unverborgenheit in Frage gestellt. Ihre Größe bestand,
so Heidegger, genau in der Fähigkeit, jene Eröffnung des Seienden
auszuhalten und in ihr zu stehen: »Das Ausharren in der ersten
Antwort«59 steht als heroische Leistung der früheren Denker am
Beginn der Geschichte, als »Zeugnis der Kraft des Gewachsenseins
gegenüber einer Notwendigkeit«.
So rückt die anfängliche Philosophie die Griechen in ein epi­
sches Licht und lässt sie als mythische Helden erscheinen, die als
einzige unter den Völkern dazu fähig gewesen sind, dem Notwendi­
gen standzuhalten. Ihnen gegenüber wird alles Nachkommende nur
Verfall »von dem anfänglichen Rang«60 sein. Später, »als die ἀλήθεια
begann, ihr anfängliches Wesen, die Unverborgenheit, zugunsten
der in ihr gegründeten Richtigkeit« aufzugeben, musste dann »auch
die große Philosophie der Griechen zu Ende«61 gehen. Es ist ein
Untergang, ein Zu‑Grunde‑Gehen eines mythischen Zeitalters vor
Anbeginn der Zeiten, demgegenüber die ganze Geschichte der Phi­
losophie, als das Angefangene dieses großen Anfangs, nur Ende sein
kann.
Die Metaphysik setzte dort an, als Erzählung einer Abirrung
des Denkens, eines jahrtausendelangen Umherirrens in den abge­
legensten Bereichen des Seienden, wo das Sein nicht mehr zu sich
fand. In einer totalen Verwahrlosung hatte das Denken seinen Ort
in der Mitte des Seienden verlassen und war nicht mehr fähig, seiner
Aufgabe standzuhalten. Die Geschichte des Seins wurde zu einer
Geschichte der Verlassenheit und der Vergessenheit, wo das Sein
zugleich das Verlassende und das Verlassene, das Sich‑Selbst‑Ver­
gessende und das Vergessene ist. Aus der Wahrheit wurde eine
Unwahrheit, aus dem Wahren ein Richtiges gemacht, und die Un­
verborgenheit ging in einer entleerten Entborgenheit verloren, die
nichts mehr zu entbergen hatte, weil sie kein Verborgenes mehr barg.
Das Denken hatte seine Ursprünglichkeit, d. h. seinen Bezug zum
Ursprung verloren und musste irren: »die Wahrheit verirrt sich in

59 Ebd., S. 142.
60 Ebd., S. 140.
61 Ebd., S. 138.
38 1. Die Geschichte des Seins

die Irre des Unwesens als Wahrheit im Sinne der Richtigkeit, und
das Sein verliert seinen Ursprung«.62
Was bei Aristoteles als richtig, in der Neuzeit als gewiss und zu­
letzt bei Nietzsche als wert galt, war nach Heidegger schon lange
nicht mehr ursprünglich wahr. Oder, besser gesagt, alles, was ein­
mal in der Philosophie als wahr gegolten hatte, blieb dem Wesen der
Wahrheit gründlich fern. Insofern ist die Geschichte der Philosophie,
wie wir sie in den Wandlungen des Wahrheitsbegriffs betrachten
können, nichts anderes als ein langer Gang in die Irre, in dem das
Wesen der Wahrheit verlorenging, falls es nicht von Anfang an ein
ursprünglicher Verlust war, der als Sinn und Grund der gesamten
Narration gelten soll.63
Wie dem auch sei: Die Geschichte des Seins – und zuallererst
die Metaphysik als Ende ihres Anfangs – scheint konstitutiv mit ei­
nem Verfallen und einem Zugrundegehen affiziert zu sein. Solchem
Drang zum Untergang aber spielte Heidegger ständig den eines Auf­
gangs und einer Neugeburt entgegen, woraus eine Reziprozität von
Anfang und Ende entstand. Dementsprechend trägt der griechische
Anfang schon immer auch sein eigenes Ende in sich, ebenso wie das
Ende der Metaphysik von sich aus über die unvermutete Möglich­
keit verfügt, einen anderen Anfang zu gebären. Dabei unterschied
Heidegger zwei Arten von Ende, die der Metaphysik ein zweifaches
Finale anboten: das eine Mal die »Vorbereitung des Übergangs zu
einem ganz Anderen«64 und das andere Mal »das Auslaufen und
Sichverlaufen aller Auswirkungen der bisherigen Geschichte«, was
einem Beharren in der »Irre des Unwesens« entsprechen würde.
Auf der letzten Strecke ihrer tausendjährigen Irrfahrt in die Ver­
wahrlosung begegnete dann die Philosophie zwei Denkern, die den
Angelpunkt bildeten, um den sich die Geschichte um sich selbst
drehte: Hölderlin und Nietzsche, die »selbst in ihrem Dasein und
Werk zum Ende wurden«.65 Hier, genauso wie für Anfang, Mitte
oder jeden anderen Punkt der Narration, scheinen die Namen von
Philosophen kaum faktische Personen zu bezeichnen, sondern eher

62 GA 66, S. 67.
63 Vladimir Propp sieht in einem Mangel oder Verlust die idealste Aus­
gangssituation für die Entwicklung einer narrativen Handlung. Siehe ders.,
Morphologie des Märchens (1928), S. 39 f. und 76 f.
64 GA 45, S. 125.
65 Ebd., S. 126.
1.2 Anfang und Ende 39

Orte und Etappen eines verborgenen Weges, der durch die Menschen
hindurchgeht. So kristallisierte sich der geschichtliche Augenblick
des Endes in der doppelgestirnten Gestalt eines Denkers und eines
Dichters, von denen der erste eher zurückblickt und »die Bejahung
des Anfanges in der Weise der Vollendung seiner Möglichkeiten«66
darstellt, während der andere als »der Zukünftigere«67 schon über
die Metaphysik hinausblickt und »weiter vorausgeworfen ist«, er
selbst »als die noch nicht ergriffene Frage an die Zukunft unserer
Geschichte«.
Im Grunde genommen ist aber der ganzen Narration, und nicht
einfach der Konstellation dieser beiden Endfiguren der Metaphysik,
ein Doppelgesicht68 eigen, das im selben Moment nach hinten und
nach vorn blickt: Eingespannt zwischen zwei Anfängen ist dann
die seinsgeschichtliche Erzählung nichts anderes als das Wechsel­
spiel von Kommendem und Gewesenem. In ihm ist das Ende der
Wendepunkt einer Geschichte, die weitergehen sowie steckenblei­
ben kann, die aber Zukunft allein als Einkehr in ihren eigenen Ur­
sprung kennt. Demgemäß müssen auch Hölderlin und Nietzsche
als narrative Funktionen angesehen werden, die im letzten Atemzug
der langen metaphysischen Agonie eine neue Bahn eröffnen konn­
ten, die nicht fort, sondern zurück in den geheimsten Kern dieser
Geschichte führt:

»Daß diese Beiden ursprünglicher als alle Zeitalter vor ihnen den
griechischen Anfang erkannten, hat seinen Grund einzig darin,
daß sie erstmals das Ende des Abendlandes erfuhren […]. Umge­
kehrt gilt aber auch: Sie erfuhren nur das Ende und wurden zum
Ende, weil sie vom Anfang überwältigt waren und ins Große
gehoben wurden. Beides, Besinnung auf den ersten Anfang und
Gründung seines ihm und seiner Größe gemäßen Endes, gehört
in der Kehre zusammen.«69

Am Ende fängt die Geschichte von vorn an. Das lange Epos der
Meta­physik schlägt in sein Ende um und fängt seinen Anfang wieder

66 Ebd., S. 133.
67 Ebd., S. 135.
68 Über Nietzsches »Doppelgesicht« siehe Die Seinsfrage und das Ereignis,
GA 73.1, S. 174.
69 GA 45, S. 126.
40 1. Die Geschichte des Seins

ein. Hölderlin und Nietzsche stellen den geschichtlichen Augenblick


dar, an dem die Erzählung des Seins sich zu jenem Einstigen zurück­
wendet, mit dem alles begann. Es handelt sich um einen plötzlichen
Kurzschluss zwischen den zwei Extremen der Narration, in dem die
Erfahrung des Endes zum Aufgreifen des Anfangs führt und die Be­
gegnung mit dem Anfang zugleich das Ende hervorruft. Denn nur
vom Endpunkt dieser Geschichte konnten Hölderlin und Nietzsche
ein echtes Verständnis des Anfangs erfassen und nur weil sie sich ur­
sprünglicher als alle anderen mit dem griechischen Anfang auseinan­
dergesetzt hatten, konnten sie zum Verständnis jenes geschichtlichen
Augenblicks kommen, mit dem alles zu Ende hätte gehen müssen.
In einem kreisenden Übergang zwischen Altem und Neuem
bereitet sich dann durch diese zwei späten Erben der Metaphysik
der Moment einer Entscheidung vor, in der Anfang und Ende sich
plötzlich miteinander decken. Alle Fäden der Metaphysik, alle Wege
und Umwege des Denkens verdichten sich nun in einem einmaligen
Augen­blick, in dem das ganze Weltgeschehen innehält und eine neue
Bahn der Geschichte eröffnet wird: Es ist die »Entscheidung zwi‑
schen dem Ende und seinem vielleicht noch Jahrhunderte füllenden
Auslauf – und dem anderen Anfang, der nur ein Augenblick sein
kann«.70 Diese Entscheidung zeichnet den Bogen einer »Kehre« ab,
in der das Denken aus dem Seienden ins Sein einkehrt und endlich
zu seinem Wesen gelangt. Es ist das Ende des Umherirrens, An­
kommen in der Wahrheit, Krönung einer uralten Geschichte und
zugleich Gründung einer neuen.
In dieser kolossalen Umdrehung endet dann die Metaphysik ge­
rade dort, wo sie angefangen hatte, und die Seinsgeschichte kann mit
einem neuen Beginn bereits dort ansetzen, wo sie soeben zu ihrem
Ende kam. In einer fragwürdigen Epik von Völkern und Menschen­
tümern, in der der Anfang der Philosophie allein »dem kleinen und
in sich abgeschlossenen Volk der Griechen« gilt, wird sich noch zei­
gen, bei welcher anderen Menschensippe ein neuer Anfang entstehen
soll und, wenn das Denken nun endlich aus der »Irre« heimkehrt, in
wessen Haus wir uns letztlich befinden werden – hoffentlich nicht
als unerwünschte Eindringlinge.

70 Ebd., S. 124.
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 41

1.3 Die Verdoppelung des Anfangs

»Der Gang ist in sich – wesensgeschichtlich – notwendig


die innere Umkehr des ersten Anfangs – und das zeigt an,
daß wir notwendig auf ein ganz Anderes zutreiben …«
GA 73.1, S. 302

Am Ende der Metaphysik kehrte Heideggers Erzählung um und


richtete ihren Gang auf jenen ersten Anfang zurück, der Unverbor­
genheit hieß. Es ging dabei um die Ergründung der Ἀλήθεια , jener
Eröffnung, in der eine Geschichte als Philosophie überhaupt mög­
lich wurde. Was bis dahin als Frage nach dem Seienden gegolten
hatte, musste dann in ein Fragen verwandelt werden, das sich nicht
mehr im Offenen eines Unverborgenen aufhielt, sondern direkt das
Abgründige des Seins auslotete. Und wenn im griechischen Anfang
die Wahrheit des Seienden die Erfahrung einer Helle war, in der sich
das Seiende offenbarte, wurde der neue Anfang nun zu ihrer radi­
kalsten Umkehrung, als Denken eines Okkulten, in dem sich das
Sein durch seine Unzugänglichkeit71 offenbarte.
Es wird ein Weg ins Verborgene sein, der vom anfänglichen Volk
der Griechen eine Brücke zu einem anderen Volk des Kommenden
schlägt und das Gewesene der Philosophie an eine geheime Zukunft
bindet, die die gesamte europäische Geschichte in einer schwindel­
erregenden »Umkehr« umschreibt. Demzufolge wird selbst die alt­
griechische Sprache plötzlich anders reden, bis in der Un‑verbor­
genheit der Ἀλήθεια das Sichverbergen einer unerhörten Ἀ‑Λήθεια 72
ertönt. In der Λήθη dieser Verbergung wird zuletzt die Seinsverges­
senheit der Metaphysik zur Sprache kommen, um in die Notwen­
digkeit eines finsteren Schicksals einzuführen, das den Weg zu einem
neuen Menschsein zeichnet.
Eine geheime Entsprechung bildet sich hier zwischen zwei Mo­
menten der Geschichte, die in einer in sich kreisenden Anfänglich­
keit zusammengehören. Es ist die Verdoppelung einer Entscheidung,

71 Siehe P. Trawny, Adyton: Heideggers esoterische Philosophie, S. 8: »Heid­


eggers Philosophie ist der Gang zu diesem Adyton, der Versuch zu denken,
was in ihm geschieht. Es geht nämlich nicht um ein faktisches Betreten ei­
nes Unzugänglichen (was sollte das sein?). Vielmehr handelt es sich um die
Anerkennung eines undenkbaren Ortes, dem wir uns nur im Sinne dieser
Anerkennung zu nähern vermögen.«
72 Vgl. u. a. Die Durchkreuzung des Seins, GA 73.2, S. 942 f.
42 1. Die Geschichte des Seins

die zweimal einmalig die Geschichte des Seins anfängt. So entzweit


sich plötzlich der Anfang in zwei Anfänge, die sich um den Binde­
strich jener Ἀ‑Λήθεια drehen, wobei einmal das Seiende in seiner
Entborgenheit und einmal das Sein in seiner Verbergung zum Zuge
kommt. In einer sich zu sich kehrenden Kehre verflechten sich dann
zwei Erzählungen, die jedes Mal anders zweimal dasselbe erzählen:
Heideggers größte narrative Herausforderung ist genau die Um­
wandlung einer Sprache, die versucht, das Gedachte der Metaphy­
sik in einer anderen Sprache umzudenken, die etwas Anderes sagt,
indem sie genau vom Selben spricht.
Die ersten Anzeichen einer Verdoppelung des Anfangs auf Heid­
eggers seinsgeschichtlichem Weg tauchen schon während der Vor­
lesung Der Anfang der abendländischen Philosophie aus dem Som­
mersemester 1932 auf, wo zum ersten Mal die Rede ist von einem
»Wiederanfang des anfänglichen Anfangs«.73 Dort tritt – noch
vage – die Bestimmung eines »Wir« hervor, dem die Aufgabe zuge­
wiesen wird, »mit jenem Anfang wirklich anzufangen«.74 Zwar geht
es noch nicht um »den geistig‑politischen Auftrag«,75 der kaum ein
Jahr später auftreten wird, doch die Einberufung einer Gemeinschaft
ist schon vollbracht: »Wir, nicht die zufälligen Heutigen, sondern
wir als die Nachkommen einer langen Geschichte der Ohnmacht
des Menschen«,76 worin »diese zugleich je zuvor als die Vorfahren
der Kommenden« gelten.
Mithin stand die abendländische Philosophie schon als Inbe­
griff einer »Ohnmacht« fest, in der das Denken und mit ihm die
Geschichte des Seins zweieinhalb Jahrtausende lang lahmgelegt
wurde. Den »Nachkommen« solcher denkerischen Erkrankung,
die Heideg­ger Metaphysik nannte, wurde nun die Aufgabe auf­
erlegt, »Vorfahren« eines ganz Anderen zu werden. Ohne dass es
hierbei ganz klar gewesen wäre, wie aus siechenden Abkömmlin­
gen Ahnen der Zukunft hätten gemacht werden sollen, stand schon
fest, dass ein »Wiederanfang« allein in der »Auseinandersetzung mit
dem Anfang«77 möglich wäre. Diese konnten aber nie »die zufälli­
gen Heutigen« vollziehen, sondern nur ein »Wir«, das die Nach­

73 GA 35, S. 98.
74 Ebd., S. 43.
75 Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, S. 4.
76 GA 35, S. 43.
77 Ebd., S. 98.
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 43

kommenschaft jener »langen Geschichte« übernimmt und zu ihrem


Ende austrägt.
Aber wer ist dieses »Wir«, das zu Ende – und somit zu einem
neuen Anfang – bringen soll, was selbst die legendären Griechen
nicht bewältigen konnten? Handelt es sich um uns alle, die wir
uns entschließen, »das Mitfragen mit dem anfänglichen Fragen
aufzunehmen«?78 Oder wer darf hier überhaupt mitfragen? Mit der
Vorlesung aus dem Sommersemester 1933 wurden alle solche Fragen
weggefegt. Denn für Heidegger hatte es offensichtlich nie einen ein­
zigen Zweifel darüber gegeben, wer dieses »Wir« war. Es handelte
sich noch einmal um ein Volk, ein ganz anderes Volk diesmal, das,
wie die Griechen und vielleicht noch mehr als sie, eine sehr intime
Beziehung mit dem Sein zu pflegen schien.
Es ist das Jahr von Hitlers »Machtergreifung« und von Heideg­
gers Rektorat an der Albert‑Ludwigs‑Universität Freiburg, mit sei­
nem anschließenden Beitritt zur NSDAP. Die allerersten Worte der
Vorlesung sprechen »[v]on der Größe des geschichtlichen Augen­
blicks, durch den das deutsche Volk hindurchgeht.«79 Die Vor­lesung
trägt den Titel Die Grundfrage der Philosophie. Es handelt sich, wie
nun klar genug sein sollte, um die »geschichtliche« Frage schlechthin,
die allein die Geschichte gründet:

»Wann aber und wo fiel die erste und einzige Entscheidung zur
Grundfrage der Philosophie und damit zu dieser selbst? Damals,
als das Volk der Griechen, deren Stammesart und Sprache mit
uns dieselbe Herkunft hat, in seinen großen Dichtern und Den­
kern sich aufmachte, eine einzigartige Weise des menschlichen
volklichen Daseins zu schaffen. Was da anfing, ist bis heute nicht
eingelöst. Aber dieser Anfang ist noch, und er verschwand nicht
und verschwindet nicht dadurch, daß die nachkommende Ge­
schichte immer weniger seiner Herr blieb. Der Anfang ist noch
und besteht als ferne Verfügung, die unserem abendländischen
Schicksal weit vorausgreift und das deutsche Geschick an sich
kettet.«80

78 Ebd., S. 100.
79 Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, S. 3.
80 Ebd., S. 6.
44 1. Die Geschichte des Seins

Was Heidegger seinen Zuhörern hier mitteilt, unterscheidet sich dem


ersten Anschein nach gar nicht vom Inhalt der vorangegangenen
Vorlesung. Das »Volk der Griechen« in seiner überragenden Größe
ist wieder da, genauso wie »die nachkommende Geschichte« in ih­
rer Ohnmacht, die dem anfänglichen griechischen Rang nicht mehr
gewachsen ist. Aber schon der Standpunkt der Narration ist ein
außer­gewöhnlicher, denn die Nachkommen befinden sich gerade in
»der Größe des geschichtlichen Augenblicks«, in dem sie zu jenen
»Vorfahren des Kommenden« werden sollten.
Und doch geht es hier auch noch um etwas Wesentlicheres und
Beunruhigenderes. Denn der Anfang aller Anfänge, jener schon
längst vergessene und verschüttete Ursprung, der die abendländi­
sche Geschichte beginnen konnte, nur indem er sich hinter all das
von ihm Entsprungene zurückzog, dieser verborgenste Urgrund al­
ler Unverborgenheit ist plötzlich da: auf einmal vor uns da, von nun
an wieder angefangen – festgehalten und verewigt in der Unermess­
lichkeit »des geschichtlichen Augenblicks, durch den das deutsche
Volk hindurchgeht«.
Nun ist es Heidegger auch nicht so lästig, »daß die nachkom­
mende Geschichte immer weniger seiner Herr blieb«, oder, wie
er sich in der ersten Vorlesungsstunde noch ausdrückte, dass die
ganze abendländische Philosophie »zu einem ständig gesteigerten
Abfall von ihrem eigenen Wesen«81 wurde. Denn der verlorene An­
fang »verschwand nicht und verschwindet nicht«. Er »ist noch« da,
trotz der ganzen »abfallenden Geschichte«,82 und nichts scheint ihn
noch verschütten zu können.
Eine »ferne Verfügung« greift jetzt über die ganze Geschichte
des Denkens hinweg und fesselt Griechen und Deutsche im Schick­
sal einer unauslöschlichen Anfänglichkeit aneinander. Durch einen
Sprung über zwei Jahrtausende hinweg von Griechenland nach
Deutschland treffen sich zwei Völker im Gewirr einer Geschichte,
die all ihre Fäden durcheinanderbringt, um aus dem Ende einen An­
fang zu machen und aus dem einen zwei. In einer sehr diskutablen
Verwandtschaft, die Heidegger in »Stammesart und Sprache« sehen
will, entdecken dann Griechen und Deutschen plötzlich »dieselbe
Herkunft«, wodurch sich zeitliche und räumliche Unterschiede in
einem einzigen Volk der Dichter und Denker auflösen.

81 Ebd., S. 11.
82 Ebd.
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 45

Noch zweifelhafter bleibt aber die hier nur angedeutete Idee, dass
die Größe der Griechen und der Deutschen nicht nur unter ihren
»Dichtern und Denkern« zu suchen sei, sondern eher in der dubio­
sen Fähigkeit beider bestehe, »eine einzigartige Weise des mensch­
lichen volklichen Daseins zu schaffen«; wobei noch zu fragen ist,
ob das Volkliche dem Menschlichen oder das Menschliche dem
Volklichen untergeordnet wird – falls beide nicht in einem einzigen
Begriff zusammengedacht werden, der zwischen Menschsein und
Volkszugehörigkeit gar keinen Unterschied macht.83 Auf jeden Fall
scheint die Sache des Seins ganz tief in eine Geschichte von Völkern
verstrickt zu sein, die über Anfang und Verderb, Ende und Wieder­
anfang des Denkens entscheidet. Und wie es nur die unübertreffli­
che Leistung der Griechen sein konnte, mit der Philosophie anzu­
fangen, so sind jetzt allein die Deutschen zur Wiederaufnahme der
geschichtlichen Aufgabe aufgerufen.
Zwei Völker werden in die geheimnisvolle »selbe Herkunft« e­ ines
Schicksals gezwängt, das über Denker sowie über historische Ge­
schehnisse verfügt und alles in den Stoff des seinsgeschichtlichen
Epos verwebt. Das Verhängnisvolle dieser Narration ist dann genau
die innere Verflechtung von Denken und Tat, die sich als der Ein­
bruch des Weltgeschehens in die Geschichte des Seins vollzieht. Das
geschah, als das »deutsche Geschick« das »abendländische Schick­
sal« übernahm und die »Größe des geschichtlichen Augenblicks«
den Einstieg einer gesamten Nation in das Denken des Seins ver­
langte.
Während den Griechen ihre geschichtliche Rolle aber nur als
Dichter und Denker zufällt, geht es beim deutschen Anfang um
etwas wesentlich Anderes. Denn die geschichtliche Relevanz der
Deutschen ist nicht bloß an einem philosophischen Gedankengut zu
ermessen, sondern an der Entscheidung eines lebenden Volkes. Und
wie wichtig Heidegger diese deutsche Entscheidung immer blieb,
wenn auch später ins Unbestimmte einer eschatologischen Erwar­
tung verschoben, bezeugen noch Aussagen vom Ende des Zweiten
Weltkrieges, als weder über das wahre Antlitz des Nationalsozialis­
mus noch über das Schicksal Europas kein Zweifel mehr bestehen
konnte. So behauptete Heidegger noch im Sommersemester 1944

83 In der Tat gehören für Heidegger Mensch und Volk im Selbst zusammen.
Vgl. die Freiburger Sommervorlesung 1934 Logik als die Frage nach dem
Wesen der Sprache, GA 38, S. 56 f.
46 1. Die Geschichte des Seins

über die Deutschen, dass »nur sie das Abendland in seine Geschichte
retten können«.84
Aber bleiben wir zunächst im Jahre 1933. In seiner ersten Vor­
lesung als Rektor der Freiburger Universität gab sich Heidegger alle
Mühe, »die Grundfrage der Philosophie« in die nationale Politik
einzuführen. Bis das Denken des Seins sich anschickte, in eine unge­
wöhnliche Staatsphilosophie überzugehen, musste er dem faktischen
Geschehen Zugeständnisse machen:

»Das deutsche Volk im Ganzen kommt zu sich selbst, d. h. findet


seine Führung. In dieser Führung schafft das zu sich selbst ge­
kommene Volk seinen Staat. Das in den Staat sich hineingestal­
tende, Dauer und Stetigkeit stiftende Volk wächst hinauf zur Na­
tion. Die Nation übernimmt das Schicksal ihres Volkes. Solches
Volk erringt sich seinen geistigen Auftrag unter den Völkern und
schafft sich seine Geschichte. Dieses Geschehen langt weit hinaus
in das schwere Werden einer dunklen Zukunft.«85

Was der Zukunft vorbehalten wird und im Dunklen einer verbor­


genen Geschichte weiterhin lauert, scheint in einer völlig determi­
nierten historisch‑politischen Lage verwurzelt zu sein. Dass Heid­
egger sich dann im Laufe der Vorlesung ganz abfällig über »die
heutige politische Lage« äußert und sie als »irgendwelche zeit­
geschichtlichen Tatbestände, Umstände«86 abwertet, die mit dem
»Volk dieser Geschichte und dieses Geschicks« kaum etwas zu tun
haben sollen, hilft ihm aus der Impasse nicht weiter. Die Verkettung
Volk‑Staat‑Nation, in die er das Schicksal der Deutschen einbaut,
wird nicht mehr so einfach zu lösen sein. Die Anspielung auf eine
politische Führung lässt zwar jeden Namen aus dem Spiel, verwi­
ckelt aber trotzdem die Geschichte des Seins in die deutsche Poli­
tik. Und dass die Deutschen noch dazu einen »geistigen Auftrag
unter den Völkern« durchzuführen haben, kann in diesem Zusam­
menhang nur bedeuten, aus dem Seinsdenken eine Außenpolitik
zu machen.
So scheint es tatsächlich, als ob Heidegger einerseits die Poli­
tik verachtete und sie andererseits durch das Denken des Seins er­

84 GA 55, S. 108.
85 Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, S. 3.
86 Ebd.
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 47

setzte. Dann kann nicht mehr verwundern, dass er von Geschehen,


Geschichte und Schicksal im selben Zusammenhang spricht und
das philosophische Fragen als das einzig wahre Handeln betrach­
tet.87 Solche Wendung der Philosophie zum historischen Gesche­
hen bleibt aber nur verständlich, wenn man sich dem annähert, was
Heideg­ger »Geschick« nennt.
In der oben zitierten Vorlesung aus dem Jahre 1933 ist zum ersten
Mal die Rede von einem deutschen Geschick, obgleich der Terminus
»Geschick« in Heideggers Werk schon früher in Verbindung mit der
Geschichte auftauchte.88 Es ist bemerkenswert, dass es nie um ein
griechisches Geschick ging, sondern immer um ein deutsches. Das
unterscheidet in einer relevanten aber noch unklaren Weise auch
die »Aufgabe der Griechen« vom »geistig‑politischen Auftrag« der
Deutschen.89 Dementsprechend wurde den Griechen von Anfang an
die Geschichte des Abendlands als Gabe des Schicksals mitgegeben,
während den Deutschen ihre noch kommende Geschichte aufgetra‑
gen wird als schwere Last eines verborgenen Geschicks.
Was dann vor allem anderen das Gegebene vom Getragenen un­
terscheidet, ist die zweifache Zeitlichkeit jener abendländischen Ge­
schichte, die als »ferne Verfügung«90 einst über die Griechen durch
eine Gabe verfügte und nun die Deutschen zu einem geheimnis­
vollen »Auftrag unter den Völkern« befugt. So waren die Griechen
durch das ihnen Aufgegebene schon immer das gewesen, was sie zu
sein hatten, während die Deutschen das, was sie sind, erst werden
müssen, indem sie »die innerste Last der Geschichte des Abendlan­
des vor sich her werfen und auf die Schulter nehmen«,91 wie sich
Heidegger wenige Jahre später ausdrückte. Dem griechischen »Aus­
harren« in der Größe ihrer Aufgabe ist demnach ein deutsches Ver­

87 Ebd., S. 4: »dieses Fragen ist höchst geistiger Einsatz, ist wesentlichstes


Handeln. In solchem Fragen halten wir unser Schicksal aus«.
88 Vgl. Sein und Zeit, GA 2, S. 508.
89 Es wird hier und im Folgenden eine Unterscheidung zwischen Aufgabe
und Auftrag in Bezug auf Griechen und Deutsche pointiert, die bei Heideg­
ger nicht immer zu sehen ist. So benutzt er manchmal beide Termini als
gleichbedeutend und austauschbar. Es scheint mir trotzdem aufschlussreich
zu sein, die zwei Vokabeln auf zwei verschiedene Weisen geschichtlicher For­
derung anspielen zu lassen, um das Unterschiedliche zweier Völker innerhalb
derselben narrativen Funktion hervorzuheben.
90 Siehe oben.
91 Überlegungen VII, GA 95, S. 2.
48 1. Die Geschichte des Seins

sprechen einer dunklen und fernen Zukunft entgegengesetzt, das


noch ganz in Erfüllung gehen muss.
Für die Griechen galt also schon immer als erwiesen, was für
die Deutschen noch ganz zu beweisen war. Das Schickliche am
deutschen Geschick ist dann nicht nur das »Zu‑geschickte« eines
Schicksals, das einem Volk seinen Platz in der Geschichte zuweist,
sondern das Hineinschicken in eine Geschichte, die noch zu ihrem
eigenen Schicksal finden muss. Mithin ging es nicht mehr um eine
Aufgabe, in der es auszuhalten galt, sondern um einen Auftrag, der
noch übernommen und ausgetragen werden sollte. Nur dadurch
hätten die Deutschen nicht bloß einer Bestimmung, sondern einer
»Berufung«92 gewachsen sein können, die »reif und stark macht zu
der geistig‑politischen Führerschaft« unter den Völkern.
Erst durch solch eine dubiose deutsche Sonderrolle hätte es dann
zu jenem neuen Anfang kommen können, der »ursprünglicher« als
der erste zu sein versprach, weil er all das auf einmal einlösen würde,
was sich über zweieinhalb Jahrtausende metaphysischer Verwirrung
angestaut hatte. So unerschütterlich blieb Heideggers Überzeugung
vom seinsgeschichtlichen Auftrag seines Volkes, dass er sich noch im
Wintersemester 1942/43, nach zehn Jahren deutscher Verwüstung auf
nationalem und internationalem Boden, über diesen phantasmagori­
schen deutschen Anfang mit folgenden Worten ausdrücken konnte:

»Dieser ursprünglichere Anfang kann sich nur so wie der erste


Anfang in einem abendländisch geschichtlichen Volk der Dichter
und Denker ereignen. Mit einem sich aufspreizenden Sendungs­
bewusstsein haben diese Sätze nichts zu tun, wohl dagegen mit
der Erfahrung der Wirrnis und der Schwere, mit der sich ein Volk
nur langsam in die Stelle des abendländischen Geschicks, das ein
Weltschicksal in sich verbirgt, zu fügen vermag.
Daher gilt es zu wissen, daß dieses geschichtliche Volk, wenn
es überhaupt hier auf ein ›Siegen‹ ankommt, schon gesiegt hat
und unbesiegbar ist, wenn es das Volk der Dichter und Denker
ist …«93

Zwar geht es hier nicht mehr um Politisches, und es sind nur noch
Dichter und Denker im Spiel, die auf ältere Dichter und Denker an­

92 Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, S. 3.


93 GA 54, S. 114.
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 49

spielen. Durch »Wirrnis« und »Schwere« führt der Weg vom ersten
zum anderen Anfang. Diesen Weg zu gehen, ist aber immer noch die
Aufgabe eines Volkes. Es sind insofern weder Dichter noch Denker,
die in dieser Geschichte aus einem Geschick ein Weltschicksal her­
vorzaubern können: Immer noch geht es um Völker und vor allem
um jenes einzige Volk unter den Völkern, das bis zuletzt an seinem
Endsieg festhalten wollte.
Dennoch ging es Heidegger nicht bloß um den militärischen Sieg,
weil es einen »ursprünglicheren« gab, der die Geschichte nicht ab­
schließen, sondern aufschließen sollte. Das deutsche Volk galt da­
her als »das geschichtliche Volk des Abendlandes«,94 als jenes Volk
nämlich, das die Geschichte und das Schicksal des Abendlandes auf
sich übertrug, weil es im Grunde diese Geschichte selber war, als
denkende und erzählende Stimme des Seins.
Mit seiner Rede vom »Siegen« versuchte Heidegger dann sein
Volk zu jenem geschichtlichen Auftrag zu ermahnen, der es allein
hätte »unbesiegbar« machen können, weil er es in die Fuge jenes
einzigartigen »Geschicks« eingewiesen hätte, das aus harmlosen
Dichtern und Denkern ein »Weltschicksal« hätte entspringen las­
sen können. Dieses Weltschicksal, zu dem »das deutsche Geschick«
hätte gelangen und sich entfalten sollen, war nichts Anderes als der
»ursprünglichere Anfang« der Seinsgeschichte: ein späterer nach der
historischen Betrachtungsweise, an den zeitlichen Maßstäben dieser
Narration gemessen jedoch anfänglicher als der griechische.
Es ist das Außergewöhnliche an Heideggers Erzählung, dass einer
Verdoppelung des Anfangs die Uranfänglichkeit eines Nachträgli­
chen folgt. Nur durch diese paradoxe Ur‑ursprünglichkeit des Kom­
menden kann ein zweiter Anfang legitimiert werden, der nicht zur
bloßen Repetition des ersten herabfällt. Demnach verschmelzen die
zwei Anfänge in einen einzigen Ursprung, der sich zu verdoppeln
vermag, ohne sich zu vermehren, da der zweite nur die Einlösung
der verborgenen Möglichkeiten des ersten ist. Dadurch kann das
Ursprünglichere eines Späteren »die nachkommenden Vor‑fahren
jener Geschichte«95 hervorrufen, die erst recht anfängt, wenn sie von
ihrem Ursprung erzählt und ihn so zum Geschehnis macht.
All das wirft aber einen noch finstereren Schatten auf das Ge­
genspiel von jenen zwei Völkern des Seins, die sich im kreisenden

94 Der Anfang der abendländischen Philosophie, GA 55, S. 69.


95 GA 35, S. 43.
50 1. Die Geschichte des Seins

Wirbel einer sich anfangenden Erzählung hinterherlaufen, in der das


eine das Wesen des anderen schon immer in sich besitzt, während
allein das andere das erste zu gründen vermag. In seiner Vorlesung
aus dem Wintersemester 1933/34, der zweiten seines Rektorats, ver­
suchte Heidegger dieses rätselhafte Verhältnis besser zu erläutern:

»Es bedeutet: begreifen lernen, daß jener große Anfang unseres


Daseins über uns hinweg uns vorausgeworfen ist als jenes, was
wir einzuholen haben, – wiederum nicht, um ein Griechentum
zu vollenden, sondern um die Grundmöglichkeiten des ur­germa­
nischen Stammeswesens auszuschöpfen und zur Herrschaft zu
bringen.«96

Der große griechische Anfang bleibt der ganzen Seinsgeschichte


immer voraus. Was aber eingeholt und eingelöst werden soll, ist
vermutlich weder griechisch noch deutsch. Man könnte beinahe
vergessen, dass es hier um das Sein geht, wenn man Heidegger nun
von den »Grundmöglichkeiten des urgermanischen Stammeswe­
sens« reden hört und man sich besorgt fragt, was denn für eine
»Herrschaft« hier tatsächlich gemeint sei. Der andere Anfang soll
aber kein deutscher, sondern ein urgermanischer im Sinne eines
Ur‑Anfänglichen97 sein.
Ein urgermanisches Stammeswesen kündigt sich plötzlich wie
jene verborgene gemeinsame Herkunft an, die Griechen und Deut­
sche in ihrem einzigartigen Bezug zum Ursprung verbindet. Im
Ursprünglicheren dieses Urgermanischen findet das Denken dieser
Narration eine eigene Sprache, in der das Verborgene der Geschichte
sich in ein Wort verdichtet, das nicht mehr erklärt, sondern nur ver­
birgt, was es zu sagen hat. Daher ist das Feilen an einer Redeweise
zu verstehen, die sich bis in Heideggers späteren Manuskripten im­
mer häufiger auf das Althochdeutsche beruft und aus Worten wie

96 GA 36/37, S. 89.
97 Angenommen, Germanen habe es irgendwann gegeben – wenngleich
noch zu diskutieren wäre, ob sie als Einheit eines Volkes auftreten – und
angenommen, Heidegger würde in ihnen die Vorfahren seiner Mitbürger
erkennen, dann müsste man sich hier auch einen seinsgeschichtlichen my‑
thischen Stamm von Ur‑Germanen vorstellen, der aber nicht in die Steinzeit,
sondern in einen nie gegebenen Ursprung des Ursprungs – und also in einen
verdoppelten Ursprung – zurückführen würde, was uns gleichsam nicht in
die Vergangenheit, sondern in eine unbestimmbare Zukunft versetzen würde.
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 51

»Fuog«, »ginnan«, »frŷ«, »fahan« unergründliche Gedanken entste­


hen lässt.98
Es scheint, als ob das Sein nur in einer noch zu (er)findenden
ur‑germanischen Sprache gedacht werden könnte. Dass dies in eine
Herrschaft »des urgermanischen Stammeswesens« hätte umschla­
gen sollen, deutete wohl nicht auf eine politische Hegemonie der
zukünftigen Deutschen über andere Völker, sondern eher auf eine
geistige Führung99 hin (wenngleich das Ganze dadurch nicht weni­
ger fragwürdig wird). Wie dem auch sei, möge Heideggers Narra­
tion deutsch, griechisch oder urgermanisch erklingen, was sie uns
erzählt, ist, dass das Denken zum Vorrang eines einzelnen Volkes
wird: sei es eines gewesenen, eines kommenden oder der Mischung
beider – gruselige Kreuzung eines Toten mit einem Ungeborenen.
Der neue, ur‑alte und endgültige Anfang der Seinsgeschichte wird
dann als sprachliches Ereignis eines Sagens dargestellt, das alle zeit­
lichen Kategorien des europäischen Denkens durcheinanderbringt
und sprengt, um aus dem Mauerstein eines einzigen Geschehnisses
das Schicksal der vergangenen und zukünftigen Menschheit zu er­
richten. »Fuog« nennt Heidegger in der Sprache dieses selbstgebas­
telten Anfangs den Fug einer Fuge, die die unzähligen Fäden des
menschlichen Denkens in die Textur einer Narration zusammen­
flechtet, in der Ende und Anfang sich ineinanderschlingen und das
Ungeheuer eines An‑fangs100 ergeben, in dem zuletzt die ganze von
ihm angefangene Geschichte sich selbst einfängt. Das hätte Heid­eg­
gers schlimmste Befürchtungen des ultimativen Endsiegs der Ver­
wahrlosung im Sinne eines endgültigen Verlöschens von allem ­auch
bedeuten können:

»Wir verstehen, oder vorsichtiger gesagt, wir ahnen unseren ge­


schichtlichen Augenblick als den der Vorbereitung des anderen
Anfangs. Dieser kann jedoch auch – weil jeder Anfang im höchs­
ten Grade entscheidungshaft ist – das endgültige Ende sein. Be­

98 Siehe GA 73.1: für »fahan« S. 24, für den »Fuog« insb. S. 77, für das »frŷ«
S. 705, für »ginnan« S. 760.
99 Vgl. Auf dem Weg zum Abendland. Über das Geschick der Deutschen,
GA 73.1, S. 865: »Das Deutsche hat sein Wesen darin, das Abendländische
zu er‑raten und zu beraten«.
100 Siehe u. a. Über den Anfang (1941), GA 70, S. 10: »Der An‑fang ist Er‑eig­
nis. Das Anfangen ist das Sichfangen und das Sichauf‑fangen im Ereignis
selbst«.
52 1. Die Geschichte des Seins

stünde diese Möglichkeit nicht, dann verlöre der Anfang und die
Vorbereitung seiner jede Schärfe und Einzigkeit.«101

Diese Sätze, die aus dem Jahre 1937 stammen, zeigen deutlich genug,
wieweit Heidegger sein Spiel von Anfang und Ende bis ins Äußerste
trieb. Denn mit ihrem Eingriff in das Weltgeschehen gerät die Er­
zählung des Abendlandes nun in ein gefährliches Spiel, das alles in
die endgültige Katastrophe mitzureißen droht. Und man könnte fast
glauben, dieselbe Geschichte dürfe nicht zweimal anfangen, ohne
zugrunde gerichtet zu werden.
Narratologisch betrachtet wäre es gewiss eine nicht wieder gut zu
machende Verletzung der narrativen Fiktion, eine Geschichte jenem
Ende zu entziehen, dem sie von Natur aus zustrebt, um sie einem
neuen Beginn zuzutreiben. Da aber Heideggers Erzählung keine
Fiktion sein wollte, sondern nichts anderes als »die Wesung der
Wahrheit selbst«, musste sie notwendigerweise auch zu einer Kon­
frontation mit der faktischen Welt drängen, in der sich die Wahrheit
dieser Erzählung zu erweisen hatte. Es war dann der meisterhafte
Zug eines großen Fabulierers, diese Geschichte mit einem delphi­
schen Finale zu krönen, das gleichermaßen Anfang und Ende bedeu­
ten konnte, ohne jemals in Widerspruch mit sich selber zu geraten.
So bedeutete die Verdoppelung des Anfangs die innere Torsion einer
Geschichte, die einerseits in ihr eigenes Ende so unrettbar verliebt
zu sein scheint, dass sie seit zweitausendfünfhundert Jahren nichts
anderes tut, als zu verenden; und die andererseits noch dazu fähig
ist, sich in ihren eigenen Anfang hineinzufressen, um mit einer an­
deren Geschichte anzuheben, die zugleich dieselbe und eine völlig
neue sein möchte.
Heideggers Wiederanfangen ist insofern keineswegs die Wieder­
aufnahme einer alten Geschichte, sondern in allem die »Sprengung«102
des bisher Erzählten. Denn es war die Philosophie selbst, die als
­Geschichte des Seins ständig vom Sein erzählt hat, bloß um dieses
als Seiendes zu missdeuten, in jene Irre der Metaphysik einwan­
dernd, die das lange Epos der Seinsvergessenheit ergab. Wenn nun
aber dieses Epos zu einem neuen Anfang gelangen soll, wird es nicht

101GA 45, S. 202.


102Siehe Vorgehen – »Entwurf«, GA 73.1, S. 562: »Geschehen muß: […] die
Sprengung des Bisherigen als Aufreißen der höchsten Not und Entbrennung
der Leiden‑schaft.«
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 53

umhinkommen, sich eigenhändig zu vernichten, um in einem ande­


ren »Sagen« aufzuerstehen, das seine eigene Sprache sowie seinen
narrativen »Stil«103 noch zu finden hat.
Ob damals, im nationalsozialistischen Deutschland, aus dem
Selbstmord der europäischen Philosophie ein neues Denken hätte
entstehen können, oder ob sich nur der definitive Abgesang des
Denkens aus der Geschichte des Menschen ereignete, musste für
Heidegger offenbleiben: Es war das Entscheidungshafte einer Er­
zählung, die alles Geschehen einer Entscheidung delegierte, die, von
keinem gefällt, plötzlich von selbst aus dem Sein »fällt«.104 Als Er­
zähler dieser noch künftigen Narration, als Denker in der langen
Reihe aller Denker, die von solcher Entscheidung getroffen wurden,
ohne sie jemals getroffen zu haben, teilte sich Heidegger die Aufgabe
einer Vorbereitung auf den Übergang zu einer noch unerzählten Ge­
schichte selber zu – einer Geschichte, die aber, wie sich noch zeigen
wird, paradoxerweise für ihn schon geschrieben war.

103Siehe unten, § 5.1.


104Siehe Die Entscheidung, GA 73.1, S. 830: »Die Entscheidung ›fällt‹, ohne
dass sie bekannt wird den Vielen«.
2. Zeit‑Raum einer Landschaft

2.1 Von einer Topologie des Denkens zu einer Topographie


des Seins

Mit jeder Narration geht eine gewisse Inszenierung zusammen, die


den Raum dafür liefert, in dem sich die Handlung abspielt. Mit sei­
nem semantischen Raummodell führte 1972 Jurij M. Lotman den
Begriff eines Topos ein, demzufolge »der Ort der Handlung(en)
mehr ist als eine Beschreibung der Landschaft oder des dekorativen
Hintergrunds«.1 Es entstand die Unterscheidung zwischen narrati­
vem Raum und materiellem Ort2 einer Erzählung, die sich ganz gut
auf eine philosophische Geschichte übertragen lässt:

»[…] hinter der Darstellung von Sachen und Objekten, in de­


ren Umgebung die Figuren des Textes agieren, zeichnet sich ein
System räumlicher Relationen ab, die Struktur des Topos. Diese
Struktur des Topos ist einerseits das Prinzip der Organisation
und der Verteilung der Figuren im künstlerischen Kontinuum
und fungiert andererseits als Sprache für den Ausdruck anderer,
nicht­räum­licher Relationen des Textes.«3

1 J. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte (1972), S. 329.


2 Schon in seinem Essay Das Problem des künstlerischen Raum in Gogol’s
Prosa (1968) hatte J.  M. Lotman zwischen einem »künstlerischen« und ei­
nem »physischen« Raum unterschieden, die nicht direkt zu identifizieren
seien: »Die naive Wahrnehmung treibt den Leser ständig zur Identifikation
von künstlerischem und physischem Raum. In einer solchen Wahrnehmung
steckt insofern ein Körnchen Wahrheit, als der künstlerische Raum, selbst
wenn er seine Funktion der Modellierung ausserräumlicher Verhältnisse ver­
liert, die Vorstellung von seiner physischen Natur als erste Ebene der Meta­
pher unbedingt bewahrt« (S. 208).
3 J. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 330.
56 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

Der Topos einer Narration besteht dann in den räumlichen Verhält­


nissen, in denen sich eine Handlung vollzieht, ohne sich aber auf
das bloß Räumliche zu reduzieren. Dies schließt die Beschreibung
einer Landschaft nicht aus, sondern stellt genau jene landschaftli­
chen Komponenten als Ausdruck und Zusammenwirken der ver­
schiedenen Figuren eines Textes dar. Der narrative Raum bringt da­
durch jene innere nichträumliche Struktur zum Vorschein, die im
Entgegenwirken ihrer verschiedenen Kräfte eine Geschichte entste­
hen lässt. Die Struktur des Topos ist die räumliche Entfaltung jener
synthetischen Einheit der Narration, die als narratives Verhältnis
schlechthin bezeichnet werden kann: Im Topos finden die Kom­
ponenten einer Erzählung in einer Landschaft zueinander, in deren
Umrissen sich das Geschehen selbst einzeichnet.
Unter diesen Voraussetzungen ist es interessant zu sehen, in wel­
chem Szenario Heideggers Narration abrollt und was für Verhält­
nisse die philosophische Landschaft der Seinsgeschichte in sich ver­
birgt. Man wird dabei beobachten können, wie Heideggers Philo­
sophie sich vor landschaftlichen und geographischen Komponenten,
die das Sein in einer ganz konkreten Gegend des Seienden zu ver­
orten scheinen, keineswegs scheut.
Aber noch bevor wir uns in eine Topographie4 des Seins vertie­
fen und dessen seltsame Gebiete erkunden, findet Lotmans Raum­
modell seine Anwendung schon in den Grundbewegungen eines
Denkens, das in jedem seiner Züge einen narrativen Drang ent­
schleiert. Denn es reicht schon auf Heideggers Denkfiguren die
Lotman’sche Definition eines Ereignisses zu übertragen, nach der
ein narratives Geschehnis sich aus der Überschreitung einer Grenze
zwischen zwei semantischen Feldern5 ergibt, um aller Art topologi­
sche Verhältnisse auftreten zu lassen.
Und tatsächlich geht es in Heideggers Denken überall um die
Bewegung einer Grenzüberschreitung: vom Seienden zum Sein, von
der Verborgenheit zur Unverborgenheit und von dieser wieder zu­
rück, von einem Anfang zu seinem Ende und von diesem zu einem
anderen Anfang. Zuletzt ist die Philosophie selbst, in der Gestalt ei­
ner jahrtausendelangen Geschichte, als narrativer Ort zu betrachten,

4 Zu den Begriffen einer Topographie und einer Landschaft der Seins­


geschichte verweise ich auch auf Peter Trawny, Heidegger und der Mythos
der jüdischen Weltverschwörung, S. 17–30.
5 Siehe J. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, S. 332 ff.
2.1 Von einer Topologie des Denkens zu einer Topographie des Seins 57

der im Übergang zu einem anderen Ort dieser Narration verlassen


werden soll. Heideggers Seinsgeschichte geht ganz in einer Topolo­
gie auf, die das Denken als Aufenthalt erfasst und dessen Handlung
sich als Wanderung abspielt, als »Ent‑scheidung« zwischen zwei
Orten, die in einem »Abschied« voneinander scheiden:

»Nur Er‑eignete vermögen zu entscheiden, d. h. hier: den Ab‑


schied an das Vorstellen und Vernehmen (Anschauen, intuitus) zu
vollziehen aus der Entschlossenheit zu dem in die Inständigkeit
des Da‑seins sich loswerfenden Entwurf.«6

Demzufolge verabschiedet sich das Denken des Seins in einem »sich


loswerfenden Entwurf« von einem Vernehmen des Seienden, das
sich in der Metaphysik aufhält und daher an einem Ort irrt, der mit
Denkmodalitäten des Vorstellens und Anschauens behaftet bleibt,
um als er‑eignetes Denken in einen anderen Ort losgeworfen zu
werden: in jenes Da des Da‑seins, das einen neuen Aufenthalt des
Menschen schafft und das es in einer »Inständigkeit« durchzustehen
gilt. Dabei bedenkt Heidegger ein Innehalten des Denkens in sich
selbst, ein Beharren an einem inneren Ort, in dem das Denken in
sein Eigenes einkehrt. Der Abschied vom Seienden ist dann genau
das »Er‑eignis« eines Wurfes in die eigene Selbstheit, der Akt einer
Selbstaneignung, die Eroberung eines Standes im Selbst, die Verset­
zung von einem Ort der Entfremdung in einen Ort der Innigkeit, die
»Über‑eignung«7 in eine Stätte, wo das Denken sein Zuhause findet:
Übergang von der Seinsvergessenheit in die »Wesung der Wahrheit
des Seyns«.
Insofern ist Wahrheit topologisch zu verstehen als Ort, in dem
man verweilt, sowie chronologisch als Innestehen im Augenblick
der Ent‑scheidung. In einem »Sichhalten im Wesen der Wahrheit«8
denkt Heidegger die ursprünglichere Einheit von Zeit und Raum,
die sich in einem ortlosen Da konkretisiert: dem »Zeit‑Raum«9 einer

6 Besinnung, GA 66, S. 321.


7 Man könnte die seinsgeschichtliche Über‑eignung als Hinübergehen des
Selbst ins Eigene darlegen. Vgl. auch Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 320:
»zu sich selbst kommt das Da‑sein erst, indem die Zu‑eignung in die Zu­
gehörigkeit zugleich Über‑eignung wird in das Ereignis.«
8 GA 65, S. 369.
9 Vgl. ebd., S. 384: »Der Zeit‑Raum als die Einheit der ursprünglichen Zei­
tigung und Räumung ist ursprünglich selbst die Augenblick‑Stätte, diese die
58 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

Lichtung, die wie ein Bachtin’scher Chronotopos10 dem Geschehen


der Narration ihr gesamtes Handlungsfeld eröffnet.

»Erst so geschieht je die Über‑eignung an das Sein und in ihr die


Zueignung an den Werfer selbst, wodurch er seinerseits erst in
die Lichtung (des Sichverbergenden) zu stehen kommt, instän­
dig wird im Da.«11

Die Wahrheit des Seins wird nun in der zeitlich‑räumlichen Ausbrei­


tung einer Lichtung gegründet, in der die dunkle Verborgenheit des
Seins sich in die glänzende Offenheit des Seienden lichtet. Das ist
geradezu das Wechselspiel von Licht und Finsternis, in dem Heid­eg­
ger die ἀ‑λήθεια der Griechen als Un‑Verborgenheit dachte, und das
jetzt in der schwingenden Bewegung eines Wurfes gefasst werden
kann. Dem Sein übereignet und nur dadurch sich selbst zugeeignet,
soll der Mensch sich in das Da jenes Da‑seins werfen, wodurch das
Sein zum Ereignis wird.
Dann ist das Denken selbst die Gründung eines archetypi­
schen Chrono‑topos, den der Mensch erst entwirft, indem er sich
in ihn hineinwirft. Hier ist der »Werfer« als Entwerfer zugleich
der ins Da Geworfene, in die Eröffnung jener Lichtung, die den
»Zeit‑Spiel‑Raum«12 der Seinsgeschichte ausmacht. Heideggers Nar­
ration vollzieht sich ganz in der Schwingung dieses Wurfes, in einer
Bewegung von »Enteignung«13 zu »Ereignung«, in einem Übergang
vom Fremden ins Eigene, in jener »Über‑eignung«, die das Denken
zuletzt in der Geste eines Sprunges geschehen lässt:

ab‑gründige wesenhafte Zeit‑Räumlichkeit der Offenheit der Verbergung,


d. h. des Da.«
10 Bei Bachtin aber gibt der Chronotopos, wenngleich im Versuch Zeit und
Raum zu vereinigen, in erster Linie einen Ort an, der einen bestimmten Mo­
dus der Zeit bedingt. Dementsprechend nennen seine Chronotopoi vor allem
Schauplätze der Narration: die Straße, das Schloss, den Empfangssalon, etc.
(siehe: ders., Chronotopos, S. 180 ff.). In der Struktur des Ereignisses gelingt
es hingegen Heidegger, zu einer inneren Verflechtung von Zeit und Raum
zu gelangen, wo der Raum eine Zeit aufhält und die Zeit sich in einen Raum
ausdehnt.
11 GA 65, S. 357.
12 Vgl. ebd., S. 174: »den Zeit‑Spiel‑Raum […], in dessen Erstreckungen erst
zu ermessen ist, was sich in der Geschichte der Metaphysik ereignet hat«.
13 Vgl. GA 66, S. 364: »der in die Metaphysik gegründete Mensch ist der in
die Enteignung Losgelassene«.
2.1 Von einer Topologie des Denkens zu einer Topographie des Seins 59

»Der Sprung
ist der äußerste Entwurf des Wesens des Seyns derart, daß wir
uns (selbst) in das so Eröffnete stellen, inständig werden und erst
durch die Ereignung wir selbst.«14

Der Sprung bringt in den vermeintlich ortlosen Ort von Heideg­


gers Geschichte: in die Stätte eines Ereignisses, das im Augenblick
einer »Ent‑scheidung« den Menschen selbst in das »Geschehnis der
Wahrheit des Seyns« versetzt. Die Lichtung ist genau die Eröffnung
jenes zeit‑räumlichen Verhältnisses, in dem das Sein zum Walten
kommt und eine Seinsgeschichte anfängt. Hier gilt es zu stehen und
»inständig« zu werden, in der Eindringlichkeit dieses Denkens das
Eigene auszustehen und das Sein zu bezeugen.
Aber in den Ort dieser »Ereignung« zu gelangen, den ursprüng­
lichsten Chrono‑topos jeglicher denkerischen Handlung zu stiften,
ist gerade das, was den Übergang von einer Topologie zu einer Topo­
graphie schafft, die dann von einem Topos des Denkens im Sein zu
einem konkreten Aufenthalt des Menschen auf dieser Erde hinüber­
springt. Es wird sich damit zeigen, wie als »Entwurf« des Seins die­
ser Sprung schon die Entwerfung und Eröffnung einer Landschaft
ist, in der das Ereignis einer Selbstfindung geschehen soll, wodurch
ein in der Weltgeschichte ganz genau verortetes Denken sich selbst
anzueignen versucht.

»Die Findung und Aneignung des Eigenen bleibt das Schwerste


nicht allein deshalb, weil das eigenste Wesen schwer zu finden
ist, sondern weil das Finden selbst als Weg der Wanderschaft in
die Ortschaft des geschichtlichen Wesens die höchste und längste
und reichste Besinnung fordert.«15

In seiner Höderlin‑Vorlesung aus dem Sommersemester 1942, der


diese Zeilen entnommen sind, beschäftigt sich Heidegger mit der
Suche nach einem Eigenen, das gar kein beliebiges ist: »Das Eigene
ist das Vaterländische der Deutschen«16, sagt er dort in Bezug auf
die Ister‑Hymne. Die Versetzung des Denkens in eine Geschichte
verlangt die Verortung des Eigenen in die Heimat eines Volkes, das

14 GA 65, S. 230.
15 Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, S. 179.
16 GA 53, S. 60.
60 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

geschichtlich ist. Dieses eine Volk, das allein das Wesen der Ge­
schichte fassen zu können scheint, sind die Deutschen. Diese aber
sind wiederum nicht als Heideggers reale Landesgenossen gemeint,
sondern als die Geworfenen in das Ereignis einer geschichtlichen
»Besinnung«, die zum ersten Mal eine Geschichte als Denken ent­
stehen lassen kann.
Solche Geschichte, die wahrhaftig noch nicht geschehen ist, voll­
zieht sich dann als »Wanderschaft« zur »Ortschaft« jener Heimat,
in der ein Volk den Weg zu sich selbst schafft. Diese »Heimat ist die
geschichtliche Ortschaft der Wahrheit des Seyns«17 als Konstitution
des geschichtlichen Ortes, in dem sich die Wahrheit zeitigt. Insofern
ist geradezu die Heimat der Deutschen – als noch nie da gewesene,
zu der die ganze Geschichte des Abendlandes seit jeher unterwegs
ist –, jener Zeit‑Raum eines Ereignisses, den es zu erreichen gilt, da­
mit der Mensch endlich dem Sein gehöre.
In einer geschichtlichen Wanderung eröffnet sich ein landschaft­
liches Szenario, das durch den Weg umrissen wird, der durch es
hindurchgeht, und das in seinen Merkmalen die gesamte Handlung
der Geschichte eingraviert beherbergt. So entsteht ein Land, das
zwischen Fiktion und Realität dem Denken des Seins feste Gren­
zen zieht:

»Die Heimat, das Geburtsland des oberen Donautals im Herbst


(September / Oktober), am schönsten gesungen in Hölderlin, der
Ister. ›Schön wohnt er. Es brennet der Säulen Laub, / Und reget
sich … Darum zog jener lieber / An die Wasserquellen hieher
und gelben Ufer …‹ Das ist das Land zwischen Gutenstein und
Beuron am Fuß der Burg Wildenstein – (vgl. Überlegungen X,
S. 22).
Hier – an diesen verborgenen Anfang zurück strebt das Herz.
Und da ist es auch gut, daß sonst das Land östlich der Wasser­
scheide des Schwarzwaldes sich löst von dem geschreiigen ›Ale­
mannentum‹, das, unfruchtbar im Geist, sich aufbläht mit jenen,
die ihm nicht gehören. Jetzt wird mir deutlich die Fremde dieser
lauten Gesellen, die nicht zu ahnen vermögen, wer Hölderlin ist
und wer Hegel und Schelling gewesen.«18

17 Die Heimatlosigkeit, GA 73.1, S. 755.


18 Überlegungen XIV, GA 96, S. 199 f.
2.1 Von einer Topologie des Denkens zu einer Topographie des Seins 61

Heidegger kam schon in den 30er Jahren durch eine intensive Aus­
einandersetzung mit Hölderlin zu jener literarischen Landschaft,
die der Seinsgeschichte ihren Schauplatz verlieh. Die vorliegende
Passage stammt aus den Überlegungen, dem ersten veröffentlich­
ten Werk aus den sogennanten Schwarzen Heften, jener Reihe von
Manu­skripten, die in Heideggers Plänen als Abschluss seiner Ge­
samtausgabe hatten erscheinen sollen. Man kann die Stelle aufs Ende
1940 datieren. Sie scheint den »verborgenen Anfang« in ganz ge­
nauen räumlichen und zeitlichen Koordinaten zu verorten. Der Ort
der »Heimat«, in den sich das Eigene zurückfindet, ist der Chrono­
topos einer herbstlichen Landschaft »des oberen Donautals«.
Nun gab aber nicht etwa die Schönheit einiger Verse aus Höl­
derlins Hymne Der Ister den Grund dafür, um den »verborgenen
Anfang« so genau zu lokalisieren. Und überhaupt gibt es weder eine
poetische noch eine philosophische Erklärung dafür, dass Heidegger
sich diesen bestimmten Ort auf der Erde ausgesucht hat. Denn es ist
eigentlich ein sehr trivialer Umstand, was zu dieser geographischen
Umgrenzung verleitet hat: jenes »Land zwischen Gutenstein und
Beuron«, jenes »Geburtsland«, ist nichts Anderes als die »Heimat«
des Philosophen Martin Heidegger.
Demzufolge wäre auch die hier gemeinte »Geburt« nicht unbe­
dingt philosophisch zu deuten. Und doch muss es sich nicht um
eine bloß biographische Passage handeln, wenn dieser Ort unmit­
telbar mit Philosophiegeschichte aufgeladen werden konnte. Über
die »Wasserscheide des Schwarzwaldes« läuft dann nicht nur jene
strenge Abgrenzung der Schwaben von den Alemannen, sondern vor
allem die Trennungslinie zwischen einer Heimat und einer Fremde
des Denkens, der die denkerischen Taten Hölderlins, Hegels und
Schellings unverständlich bleiben müssen.
Das ständige Vermischen von Privatem und Persönlichem ist das
Eigentümliche und oft Empörende an den Schwarzen Heften, gibt
aber der Seinsgeschichte einen unbestreitbar narrativen Charakter.
So verweist Heidegger selbst an der oben erwähnten Stelle auf ei­
nen anderen Ort der Manuskripte – »Überlegungen X, S. 22«19 – wo
seine philosophische Biographie und eine biographische Philosophie
des Seins wirklich nicht mehr auseinanderzuhalten sind:

19 Die römische Ziffer bezieht sich auf das Heft und die Seitenzahl auf des­
sen Seitennummerierung nach der originalen Vorzeichnung Martin Heid­eg­
gers, vom Herausgeber beibehalten.
62 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

»Hölderlins Gedicht ›In lieblicher Bläue blühet …‹ enthält in


seinen ersten 17 Versen meine Kindheit um den Kirchturm der
schwäbischen Heimat: die Glocken und die Treppen zum Glo­
ckenstuhl; das Uhrwerk mit seinen unheimlichen Gewichten;
[…] der weite Blick – täglich – vom Turm über das weite Land
und seine Wälder, die Tages- und Nachtstimmung jeder Glocke –
die erste große Sammlung meiner kleinen Welt auf die Höhe und
Wesentlichkeit eines abgründigen Waltens – die alten Türme des
nahen Schlosses und die mächtigen Linden seines weiten Gar­
tens – behüteten ein frühes Denken, das sein Wohin nicht kannte,
aber von der Entschiedenheit zu Entscheidungen wußte und von
der unausweichlichen Steigerung in die Unruhe des Abgründigen,
die sich langsam in einer einzigen Frage, die das Fragwürdigste
erfragen mußte, (die Wahrheit des Seyns) zu ihrer Beständigkeit
sammelte.«20

Es geht hier nicht einfach um eine innere Seelenverwandschaft zwi­


schen einem Dichter und einem Philosophen, sondern um den nar­
rativen Ort einer Geschichte, die sich nicht woanders hätte abspie­
len können, weil sie selbst Geschichte dieses Ortes ist. Es sind »die
Glocken und die Treppen zum Glockenstuhl«, es ist »das Uhrwerk
mit seinen unheimlichen Gewichten«, es ist »das weite Land und
seine Wälder«, es sind »die alten Türme des nahen Schlosses und
die mächtigen Linden«, die das seinsgeschichtliche Denken – das
Denken selbst als Geschichte – geboren haben, indem sie es wie
im Mutter­schoß »behüteten« und zu seiner »einzigen Frage« rei­
fen ließen.
Was Hölderlin und Heidegger sich im Angelpunkt der Seinsge­
schichte treffen lässt, was eine Entfernung von hundert Jahren plötz­
lich unterschlägt und zunichte macht, – als ob die Zeit zwischen
einem Glockengeläut und einem Uhrzeigerruck stehengeblieben
wäre – ist jener verwunschene Ort »der schwäbischen Heimat«, die
den Dichter und den Denker im Erfragen des Seins vereinigt. In der
Ausmalung jenes idyllischen Szenarios gelangt die Narration zu ih­
rem eigenen »Geburtsland«, zu den zeit‑räumlichen Bedingungen
eines Aufwachens aus der Seinsvergessenheit. Der innigste Ort der
Seinsgeschichte, der verschüttete Ursprung, den es immer zu errei­
chen und zu bestehen galt, findet nun das Gesicht eines oberschwä­

20 Überlegungen X, GA 95, S. 290.


2.1 Von einer Topologie des Denkens zu einer Topographie des Seins 63

bischen Dorfes, als Heimat eines Denkens, »das sein Wohin nicht
kannte«, weil es noch nicht auf der Suche nach seinem Woher war.
Dabei darf der Topos dieser dörflichen Landschaft nicht zu
schnell als geographisch bezeichnet werden, wenn die Heimat, wie
sie Heidegger schon 1934 in seiner ersten Vorlesung über Hölderlin
verstanden hatte, über jede gewöhnliche »Erdbeschreibung«21 hin­
ausreicht: »Die heimatliche Erde ist da nicht ein bloßer, durch äu­
ßere Grenzen abgesteckter Raum, ein Naturgebiet, eine Örtlichkeit
als möglicher Schauplatz für jenes und dieses, was sich da abspielt«.
Die seit den 30er Jahren durch Hölderlin entfaltete Topogra­
phie der Seinsgeschichte verortet das Denken nicht bloß an einem
schon vorliegenden Ort des Planeten, sondern sie schreibt, als eine
im wahrsten Sinne des Wortes Topo‑graphie, ihren Ort erst neu aus.
»Hölderlins Gedicht«, erklärt dementsprechend Heidegger an der
zuletzt erwähnten Stelle aus den Überlegungen X, »enthält meine
Kindheit um den Kirchturm der schwäbischen Heimat«, und nicht
etwa anders herum, als ob ein wirklich bestehendes schwäbisches
Land da wäre, das Hölderlins Verse inspiriert hätte. »Die Heimat,
das Geburtsland«, ist im Grunde genommen selbst Dichtung: Sie
entsteht nur im Augenblick, in dem Hölderlin sie dichtet; sie besteht
nur innerhalb seiner Dichtung.22 Allein in diesem Sinne kann dann
Heidegger auch sagen, die »heimatliche Erde« sei kein »Schauplatz
für jenes und dieses, was sich da abspielt«, weil es eigentlich diese
erdichtete Erde selbst ist, die etwas auf sich spielt.
Das alles versetzt Heideggers Philosophiegeschichte und dadurch
Heidegger selbst als Figur seiner philosophischen Narration von
Anfang an in eine erzählerische Topographie, die Orte schafft, ge­
rade indem sie sie beschreibt und dadurch ihren eigenen Spielraum
selber konstruiert. Es muss nun gesehen werden, wie das Denken
des Seins seine topologischen Verhältnisse in die »merkwürdige
Geographie«23 einer denkerischen Erzählung – in »eine Erdbeschrei­
bung, die wir kaum erst verstehen, gesetzt, daß es überhaupt eine
Beschreibung ist« – entfalten kann.

21 Freiburger Wintervorlesung 1934/35 Hölderlins Hymnen »Germanien«


und »Der Rhein«, GA 39, S. 104.
22 So kann nur die Dichtung das Wohnen der Menschen stiften. Vgl. Erläu‑
terungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, S. 89: »Also müssen Dichter sein,
die erst das ›Dichterische‹ selbst zeigen und als den Grund des Wohnens
gründen.«
23 GA 39, S. 104.
64 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

2.2 Irrwege

Die gesamte Seinsgeschichte kann als der Versuch dargestellt werden,


das Denken in seine Heimat zu bringen. Wie schon ausgeführt, ist
diese Heimat keine universale. Sie ist als dichterischer Ort letztlich
nur in Hölderlins Sprache zu finden. Es ist ein Ort für die Deut­
schen, aber ein Ort, der erst noch zu erreichen ist. Heideggers Topo­
graphie zeichnet nicht nur diesen Ort, sondern auch den Weg dahin.
Durch die Auslegung der Hölderlin’schen Hymnen fing er gerade
zur Zeit des Nationalsozialismus an, sich sehr intensiv »mit der in
dieser Dichtung errungenen Offenbarung des Seyns«24 zu beschäf­
tigen, die dem Denken des Seins seinen eigentümlichen Ort zuwies.
In seinen Vorlesungen bis zum Ende des Krieges und weiter hin­
aus in den Manuskripten der Nachkriegszeit25 scheint Heidegger
alle seine Kräfte dafür einsetzen zu wollen, den Deutschen einen
verborgenen Weg zu sich selbst zu zeigen. Als Wegweiser, oft die
Gebärden eines Propheten annehmend, versuchte er jene »Übereig­
nung« vorzubereiten, die das Wesen einer Nation in das Volk des
Seins hätte verklären sollen.
Man kann dann sagen, dass die Seinsgeschichte nichts Anderes als
die Suche nach einem Ort und zugleich dessen Gründung ist. Dieser
Ort, der topologisch auch als »das Eigentum«26 bezeichnet wird und
topographisch als eine ganz genau verortete »Heimat« gilt, wird in
Hölderlins Sprache als »Heerd des Hausses«27 gedichtet. »Der Herd
ist demnach die Mitte des Seienden«28 – deutete Heidegger in der
Sommervorlesung 1942 – und demnach, als »erdhafte Mitte«, nichts
Anderes als »das Sein«. Der Weg zum Sein, wie man ihn im topologi­
schen Denken der Beiträge abschreiten kann, streift aber einen dich­

24 Ebd., S. 6.
25 Im vorliegenden und den nächsten Paragraphen werde ich die verschie­
denen Anläufe der heideggerschen Auseinandersetzung mit der hölderlin­
schen Hymnendichtung unter einem vorwiegend bestimmten Gesichtspunkt
betrachten. Für eine tiefgreifendere Analyse, die auch den inneren Unter­
schieden in Heideggers Auslegung der Dichtung Höderlins gerecht wird,
verweise ich auf das Buch von Peter Trawny, Heidegger und Hölderlin oder
Der Europäische Morgen.
26 Vgl. GA 65, S. 311: »[D]as Eigentum, verstanden wie Fürsten‑tum, die
herrschaftliche Mitte der Er‑eignung als Zueignung des Zu‑gehörigen zum
Ereignis, zugleich zu ihm: Selbstwerdung.«
27 F. Hölderlin, Die Wanderung, Vers 8.
28 GA 53, S. 140.
2.2 Irrwege 65

terischen Weg, der durch Völker und Kontinente läuft. Hier breitet
sich die Kulisse für Heideggers philosophische Wanderung in das
Eigene aus. Worte wie Übergang, Brücke, Steg, Pfad und Weg beglei­
ten das Eintauchen in eine narrative Welt mit eigenen zeitlichen und
räumlichen Gesetzen, die aus einer erdachten Geographie eine neue
Archäologie anfertigt, um schließlich den erstrebten Ursprung aus
dem eigenen Ende auszugraben. So bahnt sich das Denken des Seins
durch eine seltsame Wanderung von Griechenland nach Deutsch­
land einen Weg vom ersten zum anderen Anfang, wobei am Ende
nicht mehr klar sein wird, welcher der Herkunfts- und welcher der
Ankunftsort sei. Im Sog einer kreisförmigen Bahn werden die zwei
Anfänge an einem geographischen Ort zusammentreffen, an dem
sich zur selben Zeit Unter- und Aufgang des Denkens abspielen.
Die Möglichkeit des Übergangs in einen anderen Anfang wird
dann nur von einem »schöpferischen Untergang«29 gewährleistet,
der den »innersten und äußersten Auftrag der Deutschen«30 bezeich­
net. Mit ihm würde jenem langen Umherirren in der Seinsverges­
senheit ein Ende gesetzt werden und zugleich eine Art von »Kata­
strophe« heraufbeschworen, die das gesamte menschliche Handeln
in seinem Geschehen umfasst:

»Denken wir uns die gewaltigsten ›Katastrophen‹ in der Natur


und im Kosmos, sie sind ein Nichts von Unheimlichkeit gegen­
über der, die das Menschenwesen in sich selbst ist, sofern der
Mensch in das Seiende als solches gestellt und für das Seiende
bestellt, des Seins vergißt, so daß ihm das Heimische zur leeren
Irre wird, die er mit seinem Umtrieb ausfüllt. Die Unheimlichkeit
des Unheimischen besteht hier darin, daß der Mensch in seinem
Wesen selbst eine καταστροφή ist – eine Umkehrung, die ihn vom
eigenen Wesen abkehrt. Der Mensch ist innerhalb des Seienden
die einzige Katastrophe.«31

Die Geschichte des Seins ist von der Not einer »Heimat- und
Herdlosigkeit«32 geprägt, die den Menschen in seinem Wesen in­
nerlich zerreißt. In diesem Sinne ist auch das Da‑sein »ein ständiges

29 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 175.


30 Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, GA 94, S. 66.
31 GA 53, S. 94.
32 Überlegungen IV, GA 94, S. 247.
66 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

und ursprüngliches aus dem Hause gehen – die Entfernung und


Fremde im Da«,33 der innere Riss einer unüberbrückbaren Ferne
mitten im eigenen Herzen. Insofern treibt sich der Mensch in all
seinem Tun und Lassen unaufhörlich weiter weg vom Sein, genau
weil er sich paradoxerweise von Anfang an in der Mitte des Seienden
befindet und darum nur mit Seiendem, das Sein immer vergessend,
beschäftigt ist. Als »einzige Katastrophe« dieser Geschichte ist er
die Triebfeder einer denkerischen Tragödie, die notwendig »mit dem
Untergang«34 anfangen muss.
Und doch ist es gerade dieses »Katastrophische«,35 das in der
­Logik einer Tragödie die Möglichkeit der Umwandlung offen lässt.
Es ist, in den Worten der Hölderlin-Vorlesung, »das Gesetz des
Unheimischseins als das Gesetz des Heimischwerdens«,36 das als
inne­res Gefüge von Heideggers Narration zur Geltung kommt.
Der Weg ins Eigene, die »Selbstwerdung« des Denkens, wird dann
allein durch den Selbstverlust, durch die Entfremdung im »Un­
heimschsein«, möglich. Das legitimiert nicht nur die tausendjäh­
rige Verirrung in der Wüste der Metaphysik, das macht sie nötig.
Am Wendepunkt einer tragischen καταστροφή 37 müssten dann die
Deutschen – als die Vollender des metaphysischen Denkens – die
Geschichte des Abendlandes zum Kollabieren bringen, um aus dem
»Unheimischen« wieder ins »Heimische« einkehren zu dürfen. Es
handelt sich um eine Heimkehr, die zugleich die Katastrophe eines
radikalen Unterganges sein muss: Heidegger spricht explizit vom
einem »Abbruch«38 des Philosophierens, der allein eine »Eröffnung
des Anfangs« ermögliche.
Das Denken nimmt also definitiv Abschied von sich selbst und
wagt sich in den Bereich einer Narration vor, die ihren Faden von

33 Das Da‑sein, GA 73.1, S. 363.


34 GA 53, S. 128.
35 Ebd., S. 94.
36 Ebd., S. 166.
37 Ich gehe davon aus, dass Heidegger unter καταστροφή dasselbe meinte,
was Hölderlin unter »kategorischer Umkehr« in der griechischen Tragödie
verstand (siehe Friedrich Hölderlin, Anmerkungen zum Oedipus und An‑
merkungen zu Antigonae), und dass beide, die καταστροφή sowie die Um‑
kehr, auf die aristotelische μεταβολή zurückzuführen sind, den Umschlag
vom Glück ins Unglück, der die Handlung einer klassischen Tragödie aus­
macht, indem er eben eine Katastrophe herbeiführt. Siehe dazu Aristoteles,
Poetik, 1451 a–1452 b.
38 Winke x Überlegungen II, GA 94, S. 66.
2.2 Irrwege 67

Anfang an verloren haben will. Nur weil sich das Denken schon im­
mer verfahren hat, kann dann eine Philosophie als Geschichte ent­
stehen und sich in einer Wanderung entfalten, die an den Ort eines
noch nie geschehenen Anfangs zurückstrebt. Der Weg ist dadurch
gleichsam in seinem Verschwinden gegeben – verloren, vermisst und
versäumt schon im ersten Schritt eines Denkens, das in aller Kon­
sequenz nur ein »Irrgang«39 sein kann.

»Der Mensch irrt. Der Mensch geht nicht erst in die Irre. Er geht
nur immer in der Irre, weil er ek‑sistierend in‑sistiert und so
schon in der Irre steht. Die Irre, durch die der Mensch geht, ist
nichts, was nur gleichsam neben dem Menschen herzieht wie eine
Grube, in die er zuweilen fällt, sondern die Irre gehört zur in­
neren Verfassung des Da‑seins, in das der geschichtliche Mensch
eingelassen ist. Die Irre ist der Spielraum jener Wende, in der
die in‑sistente Ek‑sistenz wendig sich stets neu vergißt und
vermißt.«40

Das Irren ist der ursprüngliche Zustand des »geschichtlichen Men­


schen«, des Menschen, der in einer Geschichte steht. In diesem Aus­
schnitt aus der vierten Version (1940) des Vortrags Vom Wesen der
Wahrheit rechnet Heidegger die Irre der »inneren Verfassung des
Da‑seins« zu. Dies soll nun heißen, dass der Mensch erst »geschicht­
lich« wird, wenn er sich in seiner »Ek‑sistenz« öffnet und den Ort
jenes Da bezieht, das in einem Ausgesetztsein in das Seiende im Gan­
zen besteht. Allein in solcher »Befreiung des Menschen zum existie­
renden Dasein«,41 wie Heidegger sich 1930 in einer früheren Version
desselben Vortrags geäußert hatte, »beginnt erst Geschichte«.
Der Mensch existiert also nicht von sich aus, sondern seine Exis­
tenz ist selbst ein geschichtlicher Zustand, den man erst in dem ma­
gischen Augenblick erreicht, in dem zum ersten Mal bei den Grie­
chen die Frage nach dem Seienden gestellt wird. Dementsprechend
kann eine »Existenz des Da‑seins« nur »im Philosophieren und als

39 Siehe eine Randbemerkung an der 2. Fassung des Vortragstextes Vom We‑


sen der Wahrheit (1930), GA 80.1, S. 372: »[D]as Irren ist [erst] recht nicht
nur ein Fehler im Denken und Urteilen, sondern Irrgang – Grundart des
Seins.«
40 GA 80.1, S. 424.
41 Vom Wesen der Wahrheit (3. Version 1930), GA 80.1, S. 393.
68 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

Philosophieren«42 möglich sein, womit aber immer auch die Vor­


aussetzung dafür geschaffen ist, sich im Seienden zu verlaufen und
das Sein zu verfehlen. Hierbei kommt die philosophische Existenz
ständig mit einer blinden Insistenz zur Deckung, durch die der ge­
schichtliche Mensch »ek‑sistierend in‑sistiert« – d. h. sich insistent
auf das jeweils einzeln gegebene Seiende versteift und seine eksis‑
tente Ausgesetztheit vergisst.
Insofern gelangt das Denken nicht in die Irre, weil es etwa vom
rechten Weg abkommt, sondern es bewegt sich von Anfang an in
einem Stand Außer‑sich, aus dem allein eine »Heimkunft«43 gesche­
hen kann. Der innere Ort des Denkens ist dann gerade im Ausstehen
dieses konstitutiv entfremdeten Zustands erreicht, wo das Denken
zu sich kommt, nur indem es sich im Fremden verliert: ein »Hei­
mischwerden im Unheimischsein«44 nämlich. Aus diesem Grund »ist
die Geschichte der Philosophie in sich eine Irrfahrt«,45 wie man in
den Schwarzen Heften liest, da mit dem Anfang des Denkens und
dem Beginn der Geschichte immer ein in‑sistierendes Umherirren
in der Unwahrheit ansetzt.
Es ist eine unheilbare »Leidenschaft der Irre«,46 die der Philoso­
phie von Anfang an anhaftet und das Denken auf verlorene Wege
bringt. Aber nicht als bloßes Verfehlen, sondern eher als Umherwan­
dern in den verborgensten Gebieten der Wahrheit, ist dieses denke­
rische Irren gemeint. Da ist die Un‑wahrheit nichts anderes als die
Schattenseite der Wahrheit – die λήθη einer ἀ‑λήθεια , die soviel ver­
birgt, wie sie offenlegt.47 In der Irre vollzieht sich jener Wandel der
Wahrheit, der als Aufeinanderfolge der Epochen des Seins die ganze
Geschichte ausmacht, sei es als Herumtaumeln in der metaphysi­
schen Heimatlosigkeit, sei es als ersehnte »Rückkehr zum Herde«.
Und es ist schließlich die Irre selbst, die den »Spielraum« für jene
tragische »Wende« schafft, in der sich das Denken wohl versäumt
und vergisst, die aber trotz allem die einzige Bedingung des Ereig‑

42 Ebd.
43 Vgl. Die Heimatlosigkeit, GA 73.1, S. 763.
44 GA 53, S. 147.
45 Überlegungen IX, GA 95, S. 227.
46 Überlegungen XI, GA 95, S. 420.
47 Siehe dazu Vom Wesen der Wahrheit (3. Version 1930), GA 80.1, S. 396:
»[D]ie Verborgenheit des Seienden im Ganzen, die eigentliche Un‑wahrheit,
ist älter als jede Offenbarkeit von diesem und jenem; sie ist so alt wie das
Seinlassen selbst, das entbergend auch schon verborgen hält.«
2.2 Irrwege 69

nisses bleibt. Denn allein in der Irre eröffnet sich der Durchgang
zum Ort des Eigenen und der Heimat und bahnt sich jener seins­
geschichtliche Weg zum Ursprung und zum Anfang, durch den der
Mensch aus der metaphysischen »Verwüstung« in die »Ortschaft
des Seins« kommen soll. Der narrative Raum dieser seltsamen Ge­
schichte kann dann nur auf Irr‑wegen erschlossen werden, die den
gesamten Horizont der seinsgeschichtlichen Handlung umreißen:

»Ursprüngliche Wege sind Irr‑wege, das Wagnis der Irre vollzieht


die Einräumung des Raumes, den sie versuchen. Wege müssen
gegangen werden, wenn sie ursprüngliche sind; nur die gewöhn­
lichen lassen sich begehen. Jede Darstellung eines ursprünglichen
Weges wird, wenn sie überhaupt ein Recht hat, wieder zu einem
Weg und gibt damit das Darstellen und Berichten auf.«48

Es geht in Heideggers Geschichte schlechthin um den Versuch – der


auch hätte scheitern können und uns heutzutage schon längst als
gescheitert erscheinen mag – einen neuen Raum für das Denken zu
schaffen. Dieser Versuch lässt sich auf Irrwege ein und scheut sich
nicht davor, sich zu verlieren, ist er doch selbst die größte Gefahr,
in einer narrativen Konstruktion das Wesen des Menschen zu miß­
deuten und zu mißbrauchen. Dieses Denken »liebt die Irre als die
Landschaft der Wahrheit«49 und es ist schon an sich, als »Einräu­
mung des Raumes«, die Skizzierung der irrigen Topographie der
Denkgeschichte, die, »Räume durchirrend«50, sich einen Weg zum
uneinholbaren Ursprung entwerfen will.
Auf Irrwegen verlässt das Denken die feste Form des Begriffes
und wird zu einem Gang, der keinem Pfad folgt, weil er erst in seiner
Bewegung einen begehbaren Raum schafft. Jede festgelegte Rich­
tung aufgebend, ist das Denken als Irren Ursprung aller möglichen
Richtungen, auf die es sich nur einlässt, um sie immer von neuem
verlassen zu können. In der Irre macht sich das Denken zur Szene
seines eigenen Suchens und geschieht als Ereignis einer Landschaft,
die man nicht darstellen, sondern nur durchirren kann, indem man
sie im Akt des Sagens entspringen und verschwinden lässt.51

48 Überlegungen IX, GA 95, S. 214.


49 Überlegungen VIII, GA 95, S. 134.
50 Überlegungen IX, GA 95, S. 203.
51 Die Landschaft ist selbst das Durchgehen eines Weges, der als Irrweg nir­
70 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

Um den katastrophischen Untergang einer damals (wie heute)


kata­strophalen Weltgeschichte herbeizuführen, wurde es dann für
Heidegger notwendig, vom philosophischen Diskurs abzukom­
men52 und den Raum einer Narration zu betreten, die einer ent­
gleisten Nation – dem nationalsozialistischen Deutschland – einen
neuen Sinn und eine andere Zielsetzung darzubieten versuchte. Der
Mythos eines Wiederanfangens der Geschichte wurde in eine narra­
tive Landschaft eingespannt, die den Übergang von jenen nie gewe­
senen Griechen zu jenen nie kommen wollenden Deutschen sichern
sollte. Die Irre, als das Un‑heimliche53 eines Volkes gefasst, das seine
eigene Erzählung noch finden musste, um sich eine Heimat neu zu
erdichten, wird auf der Bahn einer Zeitreise in die gesamte abend­
ländische Denktradition durchquert.
Im Szenario von Hölderlins Hymnen faltet Heidegger die Land­
karte seiner »Irrfahrt« auseinander und legt die Etappen der denke­
rischen Wanderung aus einem Anfang zum anderen fest. Es werden
zuerst Flüsse genannt: der Indus, der Alpheus, der Rhein und die
Donau. In der Mitte dieser fluvialen Landschaft ragt dann das »Al­
pengebirge« empor, als ideale Trennung zwischen »zwei Seiten«.54
Hinzu treten lebende oder »belebende« Figuren, die auf der einen
oder anderen Seite platziert sind oder, die Seinsgeschichte durch­
wandernd, sich von der einen zur anderen bewegen. Es sind das
Mädchen Germania, die Mutter Erde, Herkules, Dionysos, das
»Feuer vom Himmel«, der »Adler« und einige menschliche Gestal­
ten, wie die »Fernangekommenen« oder der Mann, der »bis in den
Orient«55 schaut. Aber vor allem geht es um den Strom jener Flüsse
selbst, der als »Stromgeist« einen schicksalsvollen Wanderweg in
diese Landschaft kerbt und »das Land als Land und als Heimat des
Volkes stiftet«:56

gendwohin führt und allein für sich steht, als Bewegung eines Sagens, das
auf sich selbst beruht.
52 Über eine Verortung von Heideggers Denken jenseits der »Welt des Ar­
guments« siehe Peter Trawny, Irrnisfuge.
53 Siehe Das Da‑sein, GA 73.1, S. 281: »Das Da – nicht als eine ›Leere‹ – die
nur ausgetragen und aufgefüllt werden müßte – sondern eben jenes gewor‑
fene Un‑heimliche – (Irre).«
54 Das abendländische Gespräch (1946–1948), GA 75, S. 173.
55 GA 39, S. 43.
56 GA 39, S. 259.
2.2 Irrwege 71

»Deshalb, und deshalb allein, ist diese Hymnendichtung in ei­


ner wesentlichen Hinsicht Stromdichtung. Der Stromgeist ist
der dichterische Geist, der die Wanderschaft des Unheimisch­
seins erfährt und ›an‹ die Ortschaft des Heimischwerdens ›denkt‹.
Der Strom kann als Strom, d. h. als die Wanderschaft, niemals die
Quelle vergessen, weil er strömend, d. h. quellend, selbst ständig
die Quelle ist und die Ortschaft seines Wesens bleibt.«57

In der Figur des Stromes verdichten sich die wesentlichsten Kompo­


nenten von Heideggers Topographie. Schon als »Stromgeist« denkt
der Fluss die gedichtete Landschaft und den sie hervorrufenden
Dichter zusammen. Dazu kommt es, dass als »Wanderschaft« zur
»Ortschaft«58 er selbst jene narrative Bewegung ist, in der sich die
zwei Anfänge der Geschichte vereinen. Demgemäß ist der Strom,
sofern er seine eigene Quelle verlässt und sie doch in der Strömung
seines Gewässers verwahrt und verwirklicht, der Bewegung jenes
Denkens gleich, das, seinen griechischen Ursprung verschüttend,
doch zweieinhalb Jahrtausende Philosophie auf ihm aufgebaut hat.
Ebenfalls gestaltet der Fluß in seinem Strömen das Land, das er
durchströmt, und prägt somit selbst »die Ortschaft seines Wesens«,
genauso wie das Denken im Ereignis zu seiner »Eignung« gelangt,
indem es den Ort des Eigenen stiftet.
Dabei sind die Begriffe Wanderschaft und Ortschaft nicht bloß
nebeneinandergereiht. Sie bilden eine wichtige Konstellation, unter
der Heidegger den Zeit‑Raum denkt, der die Szene seiner Narra­
tion ausmacht. So wird mit dem Namen »Ortschaft« eine räumli­
che Bestimmung und mit »Wanderschaft« eine zeitliche suggeriert.
Zugleich konstituiert der Strom selbst, als »Einheit von Ortschaft
und Wanderschaft«,59 die »Zusammengehörigkeit von Raum und
Zeit«,60 die den Chronotopos des Geschehnisses, in dem sich das
Sein ereignen soll, darstellt. Die Strömung des Flusses ist demnach
die geschichtliche Bewegung eines Denkens, das in seinem Umher­
wandern auf irrigen Wegen die Eröffnung eines Ortes ist, an dem
die Wahrheit selbst als Irre geschieht.

57 GA 53, S. 173.
58 Siehe ebd., S. 191.
59 Vgl. ebd., S. 203 f.
60 Ebd., S. 53.
72 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

Indessen geht es weder um den Strom an sich noch um beliebige


Flüsse. Die Handlung dieser philosophischen Erzählung spielt sich
an ganz bestimmten Strömen entlang ab, die eine genau festgelegte
Landschaft umzingeln. Vom Indus und Alpheus über die Alpen bis
zum Rhein und der Donau zeichnen diese Flüsse das abgesteckte
Gebiet einer Wanderung von Osten nach Westen, die das Geschick
der Seinsgeschichte als Entstehung des Abendlandes kenntlich
macht. Es ist somit die Durchquerung des abendländischen Chro­
notopos, die nun die Geschichte als »Schickung aus dem Orient in
den Okzident«61 in einer exklusiven Partie zwischen Griechen und
Deutschen fasst.
Und doch soll es sich nicht um eine etablierte Geographie han­
deln, wie man sie auf der Landkarte wiederfinden kann, sondern
um die imaginäre Topographie einer Narration. Obwohl der Al­
pheus mit dem »Fluß bei Olympia, an dessen Ufern sich das Stadion
erstreckt«,62 zu identifizieren ist, geht es beim Indus offensichtlich
um etwas anderes als den genannten asiatischen Fluss. So wird im
Hinblick auf die »Ankunft in Germanien«63 der Indus gleichwohl
»weiter fort« sowie viel »näher« verortet, als jede Vermessung je
ergeben könnte:

»›Indus‹ ist im Bereich der Hymnendichtung der dichterische


Name für die Urheimat, die aber gleichwohl fern bleibt. Sie ist
nur für die Heimischen und für die, die das Eigene suchen, in
der Weise, daß sie dorthin gegangen, aber zugleich vom Indus
her zurückgekommen sind. Die Heimgekommenen sind, die sie
sind, als Fernangekommene. Allein so wie zur Ausfahrt weg von
der Quelle in die Fremde und in das Ferne es des meerbreit aus­
gehenden Stromes bedarf, so muß auch der Strom, in dem sich
die Quelle unversieglich verströmt und verbirgt, das Zeichen sein
und der Weg für die Rückkehr.«64

Auf den seltsamen Wanderwegen der Geschichte entlarvt sich jeder


Weg zur Heimat als eine »Rückkehr«. Deshalb sind »die Heimge­

61 Ebd. S. 146.
62 Ebd., S. 131.
63 Freiburger Wintervorlesung 1941/42 Hölderlins Hymne »Andenken«,
GA 52, S. 184.
64 Ebd., S. 185.
2.2 Irrwege 73

kommenen« solche nur »als Fernangekommene«. Wie einige Jahre


später Heidegger selber erläutern wird, bezeichnet in der Sprache
Hölderlins der Indus das »Land, dem der Weingott entstammt«.65
So ist in Entlehnung aus dem Mythos des Dionysos, der als griechi­
scher Gott seine Heimat nach der Geburt zum ersten Mal erreicht,
die »Urheimat« nichts anderes als die Verdoppelung jenes Anfangs,
der notwendigerweise zweimal angefangen werden muss, um end­
lich anfangen zu können. In einer kreisförmigen Bahn gilt dann die
»Ausfahrt« als »Rückkehr« und die »Urheimat« zugleich als das
Fernste und Nächste.
Die Philosophie wäre aber keine »Irrfahrt«, wenn Herkunfts-
und Ankunftsort sich nun restlos miteinander in Deckung bringen
ließen. Genauso wie die »Heimgekommenen« als »Fernangekom­
mene« aus dem Indus her zurück-, aber doch in »Germanien« an­
kommen, aus der »Urheimat« zur Heimat wandernd, so muss auch
der Fluß, der weg von seiner Quelle ins breite Meer fließt, seine
Urquelle auf einmal woanders orten, bis zuletzt das »Meer selbst«66,
am Ende eines irrigen Flusslaufs, »die Quelle in ihrer fernsten Ent­
fernung« werde. Nur in diesem Zusammenhang gelingt es dann das
»Wort vom rückwärts gehenden Strom« zu verstehen, das für die
Verflechtung der Seinsgeschichte einen der weitreichendsten Funde
aus der Hölderlin’schen Dichtung darstellt. Denn es ist genau durch
dieses »Wort« aus der Ister-Hymne, in dem Heidegger »die scheue
Ahnung des verborgenen Wesens des Anfangs und der Geschichte«
erkennt, dass der denkerische Wanderweg endlich »auf der anderen
Seite« der Narration ankommt: in der deutschen Heimat.
Und doch, bevor wir endlich dorthin gelangen, muss sich die
Geschichte noch einmal um sich selbst drehen, alle zeitlichen Rich­
tungen von neuem verdrehen und die Wege unwiderruflich ver­
wirren. Wir sind dann plötzlich in eine Heidegger sehr vertraute
Landschaft versetzt, dessen Merkmale sich kaum hinter dichteri­
schen Aus­malungen verbergen können, sodass die Gefahr eine ganz
andere wird:

»Wir dürfen es von vornherein nicht nehmen als ein landschaft­


liches ›Panorama‹, das vom Ufer des Bodensees aus zu erblicken
ist. Das Alpengebirge steht in der Nachbarschaft zum heimat­

65 Das Abendländische Gespräch, GA 75, S. 132.


66 GA 52, S. 186.
74 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

lichen Lande, es ist der ›Heerd des Hausses‹, die bestimmende


Mitte der heimatlichen Erde, Ursprungsort – des edelsten der
deutschen Ströme. ›Alpengebirg‹ – seine Nähe ist die Nähe des
Ursprungs, der Wesentlichkeit des Seyns, in das der Dichter ge­
bunden bleiben will.«67

Seltsamerweise fürchtet Heidegger überhaupt nicht, dass seine Be­


schreibungen eines allzu starken literarischen Charakters bezichtigt
werden könnten, sondern eher, dass man sie für zu realistisch und
geographisch nehme. So betont er, um jedem Missverständnis so­
fort aus dem Weg zu gehen: »Erde und Heimat sind geschichtlich
gemeint. Der Strom ist geschichtlich.«68 Es handelt sich also um
Orte der Geschichte, und das nicht bloß in dem Sinne, dass sie in
eine Geschichte gehören, sondern vor allem, indem ihnen eine Ge­
schichte anhaftet,69 weil sie eben Geschichte machen, ganz gleich, ob
man diese als Schicksal des Seins verstehe oder als nur eine unter den
möglichen Narrationen für das menschliche Geschehen.
Wir sind noch nicht in Deutschland angekommen, obschon einen
wesentlichen Schritt näher: »in der Nachbarschaft zum heimatlichen
Lande«, auf schweizerischem Boden, um genauer zu sein. Hier be­
findet sich der »Ursprungsort – des eldelsten der deutschen Ströme«,
des Rheins. Das Eigenartige an diesem Fluss und seiner Bedeutung
für die Topographie der Seinsgeschichte liegt auch hier im Verhältnis
zum Ursprung. Dies offenbart sich an der Richtung, die der Strom
kurz nach seiner Quelle annimmt, und die den bis hierher gezeich­
neten Wanderweg als Irrgang entschleiert, zugleich auf die letzte
Etappe seiner Bahn hinweisend:

»Da offenbart die Richtungsgestalt des Stromes etwas Entschei­


dendes. Die Richtung, anfänglich nach Osten weisend, wird
plötzlich bei dem heutigen Ort Chur umgebrochen in die Rich­
tung nach Norden auf das deutsche Land zu. Dieser Bruch ist

67 GA 39, S. 191.
68 Ebd. 196.
69 Vgl. S. Ju. Nekljudov, Zur Frage des Zusammenhangs von raum‑zeit­
lichen Beziehungen und der Subjektstruktur in der russischen Byline, zitiert
in: J. Lotman, Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und
Kultur, S. 202–203: »Durch die Beziehung zum Helden sind diese ›Orte‹
funktionale Felder, auf die zu treffen gleichbedeutend ist mit einer Hinbe­
ziehung in die Konfliktsituation, die dem gegebenen locus eigen ist.«
2.2 Irrwege 75

eine plötzliche Abkehr von dem, was vom Ursprung her im drän­
genden Willen steht: dem Osten zu. Asien, Kleinasien, Jonien,
Griechenland, die ganze alte Welt war es, aus der die unruhige,
groß und überlegen und auf das ganze Sein denkende Seele, d. h.
die königliche Seele, die Erfüllung erhoffte. Dieses war ein An­
deres als das, was ihm durch die Umwendung der Richtung ange­
wiesen wird. Was da vom Ursprung her im ursprünglichen Wil­
len steht, ist nicht der Osten als Osten, sondern als das Seyn, das
allein der Strom in seinem Ursprung der eigenen Königlichkeit
für gemäß halten mußte, als jenes, das allein ihm die Erfüllung
seines Wesens gewähren könnte.«70

Der Stromlauf des Rheins stellt einen Wendepunkt in der Geschichte


des Seins dar, in dem die Wanderung ins Eigene vom Ursprung ab­
rückt, um sich in eine andere Richtung zu verlaufen. Obwohl Heid­
egger angeblich keine Geographie treiben wollte, schien es ihm in
dieser Vorlesung aus dem Wintersemester 1934/35 nicht abwegig
zu sein, seinen Zuhörern ganz genau zu erklären, an welchem geo­
graphischen Ort der gegenwärtigen Welt die mythische Gestalt ei­
nes Flusses, des Halbgottes Rhein, von seiner ursprünglichen Be­
stimmung abkommt und, anstatt nach Griechenland zu strömen,
nach Norden abknickt. Bei »Chur«, einem kleinen Städtchen in der
Schweiz, wendet sich der Stromgeist nach knapp 70 Kilometern
Flusslauf gegen den Willen des Ursprungs ab und schlägt eine neue
Richtung ein: »auf das deutsche Land zu«.
Es ist ein »Bruch«, der für Heidegger von seinsgeschichtlicher
Relevanz ist. Die anfänglich östliche Richtung hat weder eine bloß
geographische Bedeutung (»der Osten als Osten«), noch eine his­
torische (»die ganze alte Welt«). Mit Ursprung ist nichts anderes
als das »Seyn« gemeint, von dem dieser Wanderweg sich nun aber
anscheinend abwendet. Als ob gerade hier die seinsgeschichtli­
che »Irrfahrt« ihren Auftakt nähme, ist die Verirrung des Flusses
keine beliebige. Denn, wie Heidegger behauptet: »Der Rheinstrom
ist ein Schicksal, und Schicksal wird nur in der Geschichte dieses
Stromes«.71
Der »Bruch« ist also nicht nur als geschichtlicher, ein in die Ge­
schichte hineingehörender. Eher macht jener Bruch der ursprüng­

70 GA 39, S. 204 f.
71 Ebd., S. 196.
76 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

lichen Stromrichtung die Narration als Geschichte erstmalig aus, in­


dem er sie zu einem Schicksal erhebt. Es ist »etwas Entscheidendes«
in dieser »Abkehr« vom Ursprung, es ist eine Ent‑scheidung, die
etwas von Anderem scheidet und dadurch ein Schicksal schafft, das
den gesamten Lauf der Ereignisse in eine neue Richtung zwingt. Bei
»dem heutigen Ort Chur« löst die Geschichte ihren Blick von Grie­
chenland und ihrem ersten Anfang, um sich plötzlich einem zweiten
und ganz anderen zuzuwenden. Es ist ein Irren, das hier in Gang
kommt, das weg vom Ursprung und zwar vom Sein treibt – und
dadurch vielleicht schon die erste Anbahnung eines geschichtlich
katastrophischen Untergangs.
Dies ist für Heidegger aber gar keine Widerlegung des Ursprungs.
Es gehört zum »Geheimnis«72 vom Ursprung und Entsprungenen,
dass das Entsprungene sich letzlich gegen seinen Ursprung wen­
det, denn nur so »kommt der Ursprung in die Not und damit zu
sich selbst«. Es ist die Narration selbst, die nun einen »Widerstand«
und einen Kampf gegen den Ursprung als tragische μεταβολή mit
anschließender περιπέτεια 73 fordert, damit er selber zum Vorschein
kommen kann. Der Ursprung muss sozusagen an jener »Bruch­
stelle« ein Mal zusammenbrechen und untergehen, damit er irgend­
wann endlich aufgehe.
In diesem Sinne beschreibt die Rhein-Hymne auch kein bloßes
Vorkommnis innerhalb eines Stromlaufs, sondern schreibt dem Er­
eignis des Ursprungs eine Landschaft zu, die gerade und allein in
jenem dichterischen Ereignis ent- und besteht. Erst als Funktion der
Hölderlin’schen Dichtung »wird das Sagen vom Strom von vorn­
herein nicht eine einfach fortgehende Erzählung seiner Entstehung,
dann seines Verlaufs und schließlich seiner Einmündung ins Meer
sein dürfen«:74 Es wird sich zu einem Schicksal wandeln können,
das ein Land, ein Volk und eine ganze Weltgeschichte durch seine
Erzählung schafft.
Der Bruch der Stromrichtung bricht also mit jedweder Schilde­
rung von Ereignissen, die sich in irgendeiner Landschaft als deren
Schauplatz abspielen, um einer neuen Art von Narration Platz zu
schaffen, die an sich schon Ort und Ereignis ist. So kann die narra­
tive Funktion dieses erzählenden Schicksals gerade in der »Abkni­

72 Ebd., S. 234 f.
73 Siehe Aristoteles, Poetik, 1452 a–b.
74 GA 39, S. 260.
2.2 Irrwege 77

ckung der Bahn«75 jenen Weg in einen neuen Anfang eröffnen, der
den Ursprung weder vergisst noch verschüttet, sondern ihn zum
ersten Mal erreicht:

»Das Seyn als Schicksal hat den Ursprung nicht im Rücken als ein
einmal Verhängtes, Zugewiesenes, als bloß unabänderliches ›Los‹,
als Bestimmung, die einfach ab- und über das Folgende wegrollt,
sondern das Überstehen des Bruchs und das Zurückwollen aus
diesem in den Ursprung kennzeichnen das Seyn als Schicksal.«76

Das Schicksal, das dieser Geschichte innewohnt, bindet sie an keinen


vorgezeichneten Ablauf, sowie auch die Züge jener Landschaft, in
der sich dieses Schicksal ereignet, auf keiner vorliegenden Landkarte
festzustellen sind. Als Irrgang des Denkens muss der geschichtliche
Wanderweg durch die Epochen der Wahrheit ständig von jeder ein­
geschlagenen Richtung abbrechen und sich in die Irre wagen: »[D] ie
Wahrheit des Seyns – ihre Geschichte, die nie historisch faßbar wird –
muß in all ihren verborgenen Gängen durchwandert sein«,77 schreibt
Heidegger Ende 1938 in den Schwarzen Heften und eröffnete dem
Denken die Bahn einer narrativen Wanderung ins Unbestimmbare,
die mit jeder historischen Betrachtung sowie jeglicher Philosophie­
geschichte ein für alle Mal Schluss macht. Die Gefahr, sich im Nichts
zu verlieren, verbürgt dann auch die einzige Gewähr, zu sich selbst
finden zu können.
Dementsprechend bedarf das seinsgeschichtliche Denken, als ein
Denken, das das Sein als Schicksal seiner Geschichte denkt, eines
Mutes zur Wahrheit, der zugleich »Mut zum Irrtum«78 sein muss.
Die geheimnisvolle Wendung des Rheins betreffend, spricht Heideg­
ger mit Hölderlin von einem »Fehl« der Halbgötter, der, als »Mitgift
ihres Ursprungs«,79 weder ein Mangel noch ein bloßes Sich‑Vertun
ist, sondern ein Überschuss an geheimen Möglichkeiten. Allein ein
solcher »Mut«, als jener Wille zum Umherirren, kann dann einen
wahren Ursprung gewähren, indem er mit aller Art von Vorbestim­
mungen abbricht und in dem Bruch selbst ein Schicksal schafft.

75 Ebd., S. 233.
76 Ebd., S. 235.
77 Überlegungen V, GA 94, S. 336.
78 Überlegungen IX, GA 95, S. 203 f.
79 GA 39, S. 233.
78 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

»Das Seyn als Schicksal« geschieht nun als notwendiger Schiff­


bruch eines Erzählens, das sich von jeglichem mutmaßlichen Er­
zähler losbindet und selbst die Zügel seiner Handlung in die Hand
nimmt. Die Geschichte, sowie ihre Landschaft, ist dann erst da,
wenn sie in der Erzählung entworfen wird. Das Erzählte schafft
sich im Akt des Erzählens eine eigene Sprache und umreißt in die­
ser seine narrative Topographie. Ihr Topos, der keiner Geographie
entspricht, aber doch eine neue hervorbringt, zeichnet nun, gerade
in der Abkehr vom vorgegebenen Ursprung, diesen Ursprung neu,
und übersteht, gerade im Bruch, diesen Bruch.
So ist es der Flussstrom in seiner Irre allein, der sich die eigene
Möglichkeit erschließt, zu seiner Quelle zurückzuwollen, denn »ge­
rade die Gebrochenheit schafft Widerstand, die Möglichkeit des
Fehls, die Notwendigkeit seiner Bewältigung im Erleiden und Aus­
tragen des Ursprungs«.80 Im letzten Pinselstrich dieses landschaft­
lichen Szenarios, in dem sich die dichterische »Wanderung vom
Orient in den Okzident«81 abspielt, wird dann Heidegger auch die
Gesetze der Natur neu schreiben müssen und den Strom gegen
seine Strömung fließen lassen, zurück zum Ort seiner Quelle. Nur
so wird es ihm, einmal bei den heimischen Flüssen angelangt, ge­
lingen, definitiv den Anfang des Denkens von Griechenland nach
Deutschland zu verlegen, um den Ursprung dieser Geschichte in
sein eigenes Fleisch und Blut einzurühren. Die letzte Etappe die­
ser narrativen Reise verabschiedet sich dann vom widerspenstigen
Lauf des Rheins und leitet uns in das obere Donautal, in einen für
die Person Heideggers sehr signifikanten Ort, dem wir schon ein­
mal begegnet sind.

80 Ebd.
81 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 157.
2.3 Die Heimkunft 79

2.3 Die Heimkunft

»Wir können örtlich und zeitlich diese Landschaft genau


bestimmen; gemeint ist das obere Donautal zwischen
Beuron und Gutenstein im beginnenden Herbst.«
GA 53, S. 46

Die Geschichte des Seins ist unterwegs zu einem inneren Ort, in


den das Denken nach einer jahrtausendelangen Verirrung heimkeh­
ren soll. Es ist die Suche nach einem »Geburtsland«, das zugleich
Verwurzelung und Geborgenheit verspricht. Eine Heimat, ein Haus,
ein warmes Feuer erwarten das Denken bei seiner Einkehr aus einem
langen »Irren in der Nacht«.82 Der Sinn von Heideggers Narration
ist gerade, diesen heimlichen Ort aufzusuchen: »Denn Geschichte
ist nichts anderes als solche Rückkehr zum Herde.«83
»Der Heerd des Hausses« ist als geschichtlicher Ort nicht bloß
ein Ort, an dem sich diese Geschichte abspielt oder irgendwann
ihre Vollendung findet. Als Ort, um den zu erlangen diese ganze
Geschichte eigentlich entsteht, ist er zumal das Ereignis des Erzäh­
lens selbst. Die Erzählung der Seinsgeschichte ist die denkerische
Wanderung zu einem Ort, der allein im performativen Akt ihres
Sagens »erwandert«84 werden kann. Es ist ein »Zeit‑Ort«85, der nur
in der Zeit des Erzählens zu finden ist, und nur als Ereignis die­
ser Narration sich schließlich zu einem historisch‑geographischen
Raum verdichtet.
Solcher Chrono‑topos als geschichtliche Schöpfung ist für Heid­
egger das »Abend‑land«. Es ist ein Ort und zugleich eine Zeit des
Geschehens und in dieser Einigung die Geschichte als solche. Das
Abendland ist weder hier noch jetzt da – weder geographisch ver­
legbar, noch historisch datierbar – und nirgendwo außerhalb der
seinsgeschichtlichen Narration zu finden: Es ist nicht Europa, nicht
der Westen, es ist nicht mal der Gegenbegriff eines früheren Mor­
genlandes.86 Das Abendland ist immer noch nie da gewesen und
trotzdem geradezu jenes ortlose »Da«, in dem das Hier und Jetzt des

82 Ebd., S. 132.
83 GA 53, S. 156.
84 Vgl. GA 53, S. 36, 42, 177 f.
85 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 157.
86 Vgl. Das Ereignis (1941–1942), GA 71, S. 95 ff.
80 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

Ereignisses sich vereinigen. Es ist das Hier und Jetzt des narrativen
Aktes selbst, die Seinsgeschichte als Performatives:

D. Ä. »Und wenn im selben Da, wo der Ort ist, auch das Da ist,
da es die Zeit ist zum Bauen, wenn im Jetzt das Hier sich
lichtet und im Hier das Jetzt erblüht, dann sind Ort und
Zeit ein ursprünglicher Einiges, darein zu gelangen das
Geschick den Geist auf seiner Wanderung vom Orient in
den Okzident führt.
D. J. Auf der anderen Seite ist, ja diese selbst ist das geschick­
liche Da, der Zeit‑Ort des sich vollendenden Geschicks.
D. Ä. Das kann nur das Abendland sein. In diesem Namen den­
ken wir schon in eins das Land als den Ort und den Abend
als die Zeit des Geschicks.
D. J. Das Abendland ist der eigentliche Zeitort des Geschicks.
D. Ä. Das Weltland und das Weltalter zumal, da im Geschick­
lichen des weilenden Geschicks erst die Wesensweite der
Geschichte als der einzigen Weltgeschichte beginnt.«87

Diese Stelle stammt aus Dem abendländischen Gespräch, jenem


Manu­skript aus der zweiten Hälfte der 40er Jahre, in dem Heideg­
gers Denken sich die dramaturgische Form eines Dialoges aneignet
und zwei fiktiven Figuren, dem Jüngeren und dem Älteren, das Wort
überlässt. Hier scheint sich eine Versetzung des Philosophischen ins
Narrative restlos vollzogen zu haben, und nicht bloß wegen der dia­
logischen Form. Es ist eher in der Inszenierung, dass sich das Nar­
rative vollzieht, in dem Akt, der eine denkerische Handlung auf die
Szene bringt und sie dadurch zu einer (vor)gespielten Aktion macht.
Und plötzlich ist es nicht mehr ohne Bedeutung, wo das Den­
ken faktisch geschieht und auf welche Weise es aufgeführt wird: In
der Unterhaltung zwischen den zwei fiktiven Figuren geschieht die
Suche nach dem Ort der Geschichte selbst an einem bestimmten
Ort in dieser Geschichte. Auf einmal befinden wir uns selbst in der
Landschaft von Hölderlins Hymnendichtung, bewegen uns in Be­
gleitung des Älteren und des Jüngeren selbst am Ufer der Donau
entlang und können uns in der Zeit und dem Raum des Ereignis­
ses umschauen, am Chronotopos angelangt, wo die Narration ihre
­eigene Wahrheit ist.

87 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 157.


2.3 Die Heimkunft 81

Nur indem wir diese Geschichte erzählen, indem wir uns diese
Geschichte erzählen lassen und uns auf sie einlassen, um dadurch
uns von dieser Geschichte selbst erzählen zu lassen, sind wir un­
terwegs zum narrativen »Zeitort des Geschicks«, an dem eine Ge­
schichte sich zu »der einzigen Weltgeschichte« verwandelt. Es ist
weder in einem »Orient« als dem Land der Griechen, noch in einem
»Okzident« als dem Land der Deutschen, dass sich das Abendland
verorten lässt.88 Es ist die gesamte »Wanderung vom Orient in den
Okzident« gerade in ihrem Erzähltwerden, die als Performativität89
dieses narrativen Denkens den Zeitort der Geschichte ausmacht.
In dieser und durch diese Wanderung, als den geschichtlichen
Weg vom ersten zum »anfänglicheren Anfang«,90 eröffnet sich der
Zeit‑Raum einer anderen Geschichte, die noch ganz zu bauen ist. In­
sofern ist selbst die Ankunft auf der anderen Seite des Alpengebirges
nicht das Ende der Geschichte, sondern gerade ihr ursprünglicherer
Beginn. Deshalb kann dem Abendland auch kein früheres Morgen­
land entgegengesetzt werden, das noch nicht da gewesen, doch im­
mer vorangegangen ist und weit in der Zukunft liegt.
Die Momente dieser Narration dehnen sich aus und ziehen sich
wieder zusammen und meinen eigentlich nur den einen und selben
Zeitort. So gesehen sind Griechenland und Deutschland nicht zwei
verschiedene Orte des Geschehens, sondern eher zwei Brennpunkte
einer Ellipse, um die sich diese Geschichte dreht. Abend‑land ist
als einziger Zeit‑Ort eines einzigen Geschicks die »excentrische

88 Das ließe sich auf einen ersten Blick gerade durch den Text des Abend‑
ländischen Gesprächs einfach widerlegen. In der Darlegung der dort vor­
gezeichneten Wanderung ist explizit eine Bewegung vom Morgenland ins
Abendland beschrieben. Man müsste aber zwischen einem topographischen
und einem topologischen Abendland unterscheiden, die dasselbe meinen
und sich doch auf zwei unterschiedlichen Ebenen von Heideggers Narration
verorten lassen. Es wird sich bald erweisen, wie, abgesehen von der topo­
graphischen Bewegung, hier Abend- und Morgen‑Land eigentlich dasselbe
Land meinen, nur in unterschiedlichen Momenten.
89 Vgl. John L. Austin, How to Do Things with Words, S. 6 f.: »The name
is derived, of course, from ›perform‹, the usual verb with the noun ›action‹:
it indicates that the issuing of the utterance is the performing of an action –
it is not normally thought of a just saying something.« Der hier gemeinte
Begriff des Performativen überschreitet aber bei weitem den eines gewöhn­
lichen Sprechakts und kommt dem einer künstlerischen Performance viel
näher.
90 GA 71, S. 98.
82 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

Bahn«91 des einen und selben Ereignisses. Es handelt sich also gar
nicht um »zwei Geschicke, ein morgenländisches und ein abendlän­
disches, sondern das Geschick ist Schickung aus dem Orient in den
Okzident«92, bestätigt uns der Ältere.
Erst mit der Ankunft auf der anderen Seite ist dann dieses zwei­
achsige Geschick vollkommen vereinigt, und die Geschichte kann
endlich anfangen. In seiner elliptischen Bahn ist das Abend‑land
als Land eines kreisförmigen Weges erobert, auf dem auch die Zeit
verdreht wurde: So fing die Seinsgeschichte schon bei den Griechen
mit diesem Abendland an, dessen Morgenland gerade jenem griechi­
schen Anfang entspricht, der – nie stattgefunden – gleich unter dem
von ihm Angefangenen verschüttet blieb. Einerseits ist also Abend‑
land der seinsgeschichtliche Name für die gesamte Narration, an­
dererseits der Ankunftsort einer Bewegung noch in der »Vorzeit«93
derselben Geschichte, die ihren wahren Beginn und somit ihr Mor­
gen‑land weiterhin vor sich her schiebt. Der Abend, der sich auf das
Land legt, muss dann »der von einem kommenden (nicht dem ge­
wesenen) Morgen und Tag her bestimmende Abend« sein, d. h. ein
Abend, dem immer noch kein Morgen vorherging.
Im Kreisen dieses irrigen Wanderwegs gelangt nun Heidegger
an den letzten Ort seiner Erzählung, wo das Denken sein Zuhause
findet und endlich eine Heimat stiften kann. Es ist noch einmal ein
Fluss, der uns an den Ort führt, ein Strom aus Hölderlins Dich­
tung, der plötzlich sein eigenes Strömen anhält und zurück zu seiner
Quelle, zu seinem Ursprung kehrt.

»Hast du nicht schon bemerkt, wie sein Strömen zuweilen eilig


ankommt und dann an eine stille Uferstelle unwiderstehbar hin­
gezogen wird, wo der Fels steil aus den dunklen Wassern ragt,
aber zugleich in eine scheue Bucht sich zurücknimmt, als sollte
deren milde Ausrundung den gestillten Strom im Arm behalten,
damit er dort in seiner eigenen Tiefe ruhe, die sich gern an sol­
chen Felsstellen öffnet?«94

91 Heidegger entnimmt diesen Ausdruck dem Hyperion von Hölderlin.


Siehe GA 52, S. 189.
92 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 146.
93 GA 71, S. 98.
94 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 61.
2.3 Die Heimkunft 83

Nicht weit von der Donauquelle und ganz nah an seinem heimat­
lichen Dorf glaubt Heidegger die »stille Uferstelle« erkennen zu
können, an dem sich jenes geheimnisvolle Phänomen ereignet, das
Hölderlin in seiner Hymne Der Ister besingt: »Der scheinet aber
fast / Rückwärts zu gehen und / Ich mein, er müsse kommen / Vom
Osten.«95 So stürzt uns Das abendländische Gespräch plötzlich ins
tiefe Herz der Hörderlin’schen Landschaft und lässt uns ins Innere
des Gedichts gelangen.
An diesem magischen Ort scheint der Fluss – und mit ihm der
ganze Verlauf der Geschichte – inne zu halten und die heimliche
Stelle der »Inständigkeit« zu erreichen, bei der das Denken end­
lich zu seinem Eigenen findet. Dort soll man beobachten können,
setzt Heidegger nach einigen Seiten fort, »wie die Wasser dieses
Stromes an unvermuteten Stellen immer wieder zurückfließen der
Quelle zu«.96 Die lange irrige Wanderung der Geschichte nimmt
hier ein Ende. Am Ufer der Donau, die mit Hölderlin nach ihrem
lateinisch‑griechischen Namen »Ister« (Ἲσθρος) genannt wird, tref­
fen sich die zwei Anfänge dieser Narration und gipfeln in einem
einzigartigen Beginn, »anfänglicher denn aller Anfang«.97 Hier darf
eine andere Geschichte endlich und endgültig beginnen. Der Fluss,
der in einem umgekehrten zeit‑räumlichen Ablauf von Deutsch­
land in Richtung Griechenland strömt, ist mit seiner Rückwendung
die Einkehr in die Heimat der Geschichte. In der zurückfließenden
Strömung der Donau begegnen sich Griechen und Deutsche und er­
langen den gemeinsamen Ursprung eines Denkens, der als Denken
des Seins gleichwohl für alle und jeden gelten soll.
Es ist ein Ort der Überschneidungen, in dem sich Anfang und
Ende, Aus- und Heimfahrt, Eigenes und Fremdes, Irre und Wahr­
heit, Unter- und Aufgang und nicht zuletzt Zeit und Raum, Fiktion
und Realität, Dichten und Denken kreuzen und zusammenkommen.
An diesem Ort treffen zuletzt alle Hauptfiguren ein, die Heidegger
Hölderlins Dichtung entnimmt: der Adler, der den Weg von der ei­
nen zur anderen Seite über die Alpen weist, die Fernangekommenen,
die sich vom Indus her auf Wanderschaft begeben hatten, Herakles,
der vom Ister als Gast aus Olympia geladen wird, das hervorgeru­
fene »Feuer vom Himmel« sowie der Ältere und der Jüngere des

95 Friedrich Hölderlin, Der Ister, Vers 45 ff.


96 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 64.
97 Ebd., S. 59.
84 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

abendländischen Gesprächs. Und hier waren schon seit jeher das


Mädchen Germania, der Mann, der »bis in den Orient schaut«, die
Mutter Erde.98
Aber das wäre immer noch kein wirklicher Zeit‑Ort, wenn nicht
die Zeit dieses schicksalhaften Zusammentreffens eine einschlägige
Rolle spielen würde. Und tatsächlich ist die Landschaft des Ortes
selbst von einer Zeitlichkeit geprägt, die ihn als solchen bestimmt. So
gehört zum landschaftlichen Szenario der Donauufer sowohl »die
leuchtende Glut des dunkel goldbraunen und hellgelben Laubes«,99
die auf den »beginnenden Herbst«100 hindeutet, wie »ein stilles
Abendlicht, das für Augenblicke auf einem Felsen ruht, das ganze
Stromtal in seinen alles erleuchtenden Zauber heben kann«.101 Es ist
eine herbstliche Landschaft im Dämmerlicht, ein Land des Abends,
in dem der Herbst »zugleich der Abend des Jahres«102 ist.
Das Abend‑land ist plötzlich wahrhaftig und faktisch da, auf­
findbar und betretbar in einer kleinen Felsenbucht der Donau in
Oberschwaben. Dies ist das Zauberland, das in die Zeit eines Abends
leitet, in dem das Licht einer alten Geschichte untergeht und eine
andere noch nicht erzählte Geschichte zu einem neuen Morgen auf­
geht.103 Die Heimat des Seins wird an diesem dichterischen Zeit‑Ort
gestiftet, der nur durch diese eine Erzählung erreicht werden kann.
Darum fragt sich Heidegger selbst:

»Gehen wir hier am Ufer dem Strom entlang seiner Quelle zu im


Abendlicht, weil uns der Stromgesang des Dichters hierher ge­
bracht hat oder erinnern wir uns nur darum des Ister-Gesanges,

98 Hier nicht als die griechische Γαῖα , sondern als die germanische Hertha
gemeint, die »vor allem bei einem Bund swebischer Stämme« – unter denen
sich offensichtlich auch der Schwabe Martin Heidegger positioniert – ver­
ehrt wurde. Heidegger selber, der sich sonst immer abfällig gegen die Römer
und deren Umsetzungen des Griechischen ins Lateinische äußert, zitiert eine
lange (und in seiner Übersetzung teilweise verfälschte) Passage aus Tacitus
Germania, um diese These zu stützen. Vgl. GA 53, S. 195 f.
99 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 178.
100 GA 53, S. 46.
101 Zu Hölderlins Dichtung des deutschen Geschickes (1943), GA 75, S. 47.
102 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 169.
103 Vgl. ebd., S. 146: »Das Abendland wäre dann jenes Land jenes Abends,
der untergeht in jene Nacht, die aufgeht zu jenem Morgen, dem jener Tag
entspringt, der rein versöhnt ist mit der Nacht«.
2.3 Die Heimkunft 85

weil wir, ich weiß nicht wie, in das Tal dieses Stromes gelangt
sind?«104

Aber wo sind wir denn überhaupt? Sind wir tatsächlich im Schwaben­


land oder nur in den Versen eines Gedichtes? Ist der Hölderlin’sche
Ister die Donau oder die orographisch feststellbare Donau der Is­
ter? Und von welcher Art von Geschichte reden wir hier? Handelt
es sich um eine Fiktion oder um ein wirkliches Geschehen? Sind sie
für Heidegger dasselbe?
Es ist mit diesem Ort noch lange nicht alles gesagt. In den Zügen
seiner Landschaft wird eine neue Zeit entworfen, die nicht nur mit
einer Geschichte als Narration anfängt, sondern auch eine wirkliche
Geschichte als historisches Geschehen in seinen Maschen auffängt.
Man könnte nun auf Paul Ricœur verweisen und mit ihm behaupten,
jede Geschichtsschreibung gründe in ihrer Darstellung von Ereig­
nissen notwendigerweise auf einer narrativen Struktur, die die Zeit
refiguriert.105 Aber Heideggers Geschichte ist keine Darlegung eines
Vergangenen und hat mit Vergangenheit nichts zu tun: Sie geschieht
gerade in dem Augenblick, in dem sie erzählt wird, in jenem Hier
und Jetzt eines schöpferischen Da, das den Zeitort ­ihres Geschehens
im Nu eröffnet.106
Wir berühren damit das Geheimnis eines Narrativen, das eine
Trennung zwischen Realität und Fiktion verweigert, sich ihr von
Anfang an entzieht, sie weder bejaht noch überwindet, sondern ihr
einfach vorangeht: »Gleichwohl ist es vielleicht das Selbe, was ver­

104 Ebd., S. 63.


105 Paul Ricœur, Temps et récit III. Le temps raconté, S. 270: »Nous avons
été préparés dès longtemps à accuellir ce secours que la référence brisée de
la metaphore apporte à la refiguration du temps par l’histoire. Dès lors que
nous avons admis que l’écriture de l’histoire ne s’ajoute pas du dehors à la
connnaissance historique, mais fait corps avec elle, rien ne s’oppose à ce que
nous admettions aussi que l’histoire imite dans sons écriture les types de mise
en intrigue reçus de la tradition littéraire.«
106 Man müsste dann, um bei Ricœur zu bleiben, von einem äußersten Fall
von Mimesis III reden, wo die Rezeption des Werkes die Zeit der Adressa­
ten refiguriert. So würde die Zeit der Erzählung selbst in die des Lesers ein­
schneiden und sie verändern bzw. neu gründen. Siehe Paul Ricœur, Temps
et récit I. L’intrigue et le récit historique, S. 85: »le temps devient temps hu‑
main dans la mesure où il est articulé sur un mode narratif, et […] le récit
atteint sa signification plénière quand il devient une condition de l’existence
temporelle.«
86 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

anlaßt, daß der Gesang des Stromes uns zuklingt und daß wir an
seinem Ufer da sind.«107 Es ist im Übrigen völlig belanglos, ob dieser
Ort – den wir nur lesen können – irgendwo auf unserem Planeten
tatsächlich existiert. Denn wir gelangen nie an diesen Ort, wenn wir
ihn einfach auf einer Landkarte suchen oder uns zu ihm von einem
Navigationsgerät hinführen lassen. Und wir betreten ihn auch nicht,
wenn wir im Herbst an einer Felsenbucht der oberen Donau ankom­
men; ganz abgesehen davon, dass die Wasser des Flusses bestimmt
nicht zu seiner Quelle zurückfließen. Wir brauchen in der Tat nicht
nach diesem Ort zu suchen, denn dieser Ort ist sowieso schon da,
er ist im Grunde genommen das Da.
Es ist nämlich die eine und dieselbe Geschichte, in der das Ge­
dicht und die Donau geschehen, denn beide ereignen sich nur in
dieser Narration, sind in ihr »das Selbe«. In diesem Selben ver­
schwindet jeder Unterschied zwischen der erzählten und gesche­
henden Geschichte, denn Geschichte ist nun das Erzählen selbst
in seinem Geschehen. Indem man sich auf diese Narration einlässt,
überschreitet man eine Schwelle, nach der man nicht mehr von der
Rezeption eines Gedichtes reden kann. Das Gedicht ist dann ein
»Sich‑ins‑Werk‑setzen der Wahrheit«,108 das den Leser selbst in das
Geschehnis der Wahrheit versetzt. Allein dadurch gelangt er an je­
nen Zeit‑Ort des Gedichtes, in dem sich Wahrheit ereignet. Und
wenn Heidegger das Ufer der Donau aufsucht, dann ist er eigentlich
schon in das Geschehen der Dichtung hineingeschlüpft und wird
selber zum Bestandteil des Gedichteten. Es wäre dann auch völlig
sinnlos, sich noch zu fragen, ob der Anblick der Donau das Ge­
dicht hervorruft oder das Gedicht selbst ein Wandern am Ufer her­
beiführt. Denn hier sind Donau, Leser und Erzähler alle Segmente
der Narration.
Es ist also die innere Auffassung einer Geschichte der Wahrheit,
die zuletzt die Wahrheit selbst als Narration erfasst. Wahrheit hat
demzufolge wenig mit Realität oder mit Fiktion zu tun, und indem
sie selbst ein »Sich‑ins‑Werk‑setzen« ist, ist sie Versetzung in eine
Erzählung, die als das einzig wahre Ereignis gilt. Es ist demzufolge
auch kein Zufall, wenn für Heidegger die Wahrheit eine zeit‑räum­
liche Dimension annimmt und selbst zum Chronotopos des Seins

107 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 63.


108 Vgl. Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, S. 21 ff.
2.3 Die Heimkunft 87

wird. Als »Lichtung« ist sie somit die Eröffnung einer »Gegend«,109
der keine Geographie, keine »Erdbeschreibung« entsprechen kann,
weil sie, als performativer Akt des Seins, selbst das Ereignis dieses
Da‑seins ist:

»Der da‑inständige Gründer des Da‑seins darf dieses nicht be­


schreiben, sondern muß es, seine Lichtung durchirrend, sein.
Deshalb sagt er sagend immer anderes, und doch ist das Gesagte
nie der anhaltbare Inhalt, auch nicht Sinnbild, sondern ein Er­
winken der Winke in die Geschichte jenes Übersprungs des Men­
schen Hölderlin in das Da‑sein des Dichters, will heißen, des
Dichters als des Inständigen im Da‑sein, welches unser Wort hier
Jenes nennt, was der Dichter, vor‑stiftend noch und über heutige
und morgige Geschlechter hinweg, innehält.«110

Selbst Hölderlin ist als Dichter nicht Autor dieser Narration und
nicht Schöpfer ihrer Orte, sondern übernimmt im »Da‑sein des
Dichters« die Rolle eines Performers, der das Da nicht einfach be­
singt, sondern sein lässt: das »Gesagte« ist weder »Inhalt« einer
sprachlichen Äußerung noch das »Sinnbild« einer dichterischen
Ausmalung, sondern die Gründung des Da als Innestehen in ihm.
Das Wort des Dichters ist Geschehen der Seinsgeschichte als Stif­
tung jenes Zeit‑Ortes einer Lichtung, die er – sie »durchirrend« –
selber zu sein hat.
Indem der Mensch Hölderlin das »Sich‑ins‑Werk‑setzen« der
Wahrheit in seinen Gedichten vollbringt, bahnt er im Wort die Ge­
gend jener »Wege, die nicht wirr‑beliebig, irrend sich verlaufen, son­
dern überhaupt einen Gangbereich eröffnen und fügen«, schreibt
Heidegger in den Schwarzen Heften und setzt hinzu: »[E]in solcher
Bereich ist die Wahrheit des Seyns«.111 Wenn wir uns also auf diesen
performativen Akt einer wandernden Erzählung, die uns selbst er­
zählen will, einlassen und sie gleichsam bis an ihr Ende durchwan­
dern, dann sind wir nicht mehr nur die gewöhnlichen Leser einer
ungewöhnlichen Narration, sondern direkt auch die handelnden

109 Vgl. Die Ἀλήθεια und die Wahr‑heit, GA 73.1, S. 22: »11. Die Wahr‑heit
und der Zeit‑Raum / die Gegend. / 12. Die Wahrheit – / die Heit | Lichtung
| der Wahr.«
110 »Andenken« und »Mnemosyne« (1939), GA 75, S. 6.
111 Überlegungen XIII, GA 96, S. 100.
88 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

Akteure einer sich ereignenden Geschichte, die uns unmittelbar an­


spricht und uns in ein bestimmtes Handlungsfeld versetzt.
Dieses Handlungsfeld ist das Abendland. Aber genauso wie je­
des andere Land, das wir heutzutage kennen, hat dieses Abend‑land
Grenzen, die nicht jeden durchlassen.112 Es muss auch jenes Wir, in
das wir uns als Leser voreilig mit eingerechnet haben, besser erör­
tert werden, denn tatsächlich scheint das Da des Seins nicht jedem
zugänglich zu sein. Und genauso wie Hölderlin dann jener Dichter
ist, »der die Deutschen erst dichtet«113 und irgendwie dadurch für
Heidegger derjenige ist, »der am wesentlichsten in den geschichtli­
chen Entscheidungsbereich der Geschichte des Abendlandes einge­
wandert ist«,114 so ist auch dieses Abend‑land nichts anderes als »die
Heimat der Deutschen«,115 oder zumindest jenes, was diese Heimat
als solche »bestimmt«.
Es ist dann wirklich kein Zufall und in jeder Hinsicht ganz »das
Selbe«, wenn ein bestimmtes Wir »am Ufer dem Strom entlang«
geht und sich »des Ister-Gesanges« erinnert; denn an jenen Ort zu
gelangen und darin eine Heimat zu stiften, steht nur einer deutschen
Gemeinschaft zu, die »erst« und allein in der geschichtlichen Per­
formativität von Hölderlins Dichtung ein Abend‑land als das Land
der Deutschen eingrenzen kann.
In all dem bleibt aber noch die Frage, wohin Heidegger sich als
Mensch und Denker innerhalb dieser Erzählung stellt, welchen Ort
er selber bezieht. Denn weder gibt er sich als der Erzähler zu erken­
nen, der in dieser monumentalen Inszenierung die Fäden zieht, noch
traut er sich in die Rolle jenes Stifters der Heimat der Deutschen
herein, welche Aufgabe er anscheinend Hölderlin allein überlässt.
So hatten wir auch schon beobachten können, wie er sogar sein
»Geburtsland« in der Landschaft eines Gedichtes verortete, in jener
»lieblichen Bläue«116 der schwäbischen Heimat, die das Heranwach­
sen des Seinsdenkens behütet haben soll. Und doch ist der Eingriff

112 So geht mit einer gelungenen künstlerischen Performance auch die »Bil­
dung einer Gemeinschaft von Akteuren und Zuschauern« einher, in der sich
»die Bereiche Kunst, soziale Lebenswelt und Politik kaum säuberlich von­
einander trennen lassen« (Erika Fischer‑Laske, Ästhetik des Performativen,
S. 82 ff.).
113 GA 39, S. 220.
114 Überlegungen XIII, GA 96, S. 114.
115 Das Gedächtnis im Ereignis, GA 73.1, S. 750.
116 Siehe oben, § 2.1.
2.3 Die Heimkunft 89

in Hölderlins Dichtung so tiefreichend, die Auslegung so bindend,


dass die Pole der Bezugnahme des Denkers auf den Dichter sich
einfach umdrehen ließen, um in der Architektur der Seinsgeschichte
eine zumindest gleich starke Angewiesenheit des letzteren auf den
ersteren zu verraten. Danach könnte man in Heidegger selbst den
Archetyp des namenlosen Charakters der Narration erkennen, der
die Deutschen ins Werk des Dichters einführt:

»In langer verschwiegener Besinnung muß einer die unbegan­


genen Pfade hin und her gegangen sein, die zum verborgenen
Standort der Hölderlinschen Hymnen führen. Jedes festgelegte
Wort ist hier eine Mißdeutung, weil dieser Standort in seiner
Zeit‑Raum gründenden Macht und Ausfälligkeit nur sagend‑an­
zeigend bezogen werden kann, wenn die Blöcke zu seiner Un­
termauerung denkerisch behauen und beigeschleppt sind …«117

Der hier gemeinte »Standort« wäre dann die Gegend der Wahrheit,
die weder in der historisch‑geographischen Welt, noch auf einem
fiktiven Schauplatz zu finden ist, und nur »sagend‑anzeigend« im
Gewebe dieser performativen Narration erreicht werden kann. Dem
Denker stehe nun zu, das Mauerwerk einer Geschichte zu errich­
ten, in der allein dem Dichter ein Platz zugewiesen wird. Heideg­
ger soll »die unbegangenen Pfade« eines unbegehbaren, weil nur zu
dichtenden Landes so lange durchwandert und durchirrt haben, bis
er den »verborgenen Standort« für die Gründung der Heimat ge­
funden und untermauert hat. Mit ihr wird er selbst als Hauptfigur
seiner denkenden Geschichte dichterisch und leiblich nachträglich
geboren.
Gerade in den Versen der Ister-Hymne entdeckte er jenen herbst­
lichen Abend am Donauufer, der den »Zeit‑Ort« des Abend‑landes
in eins mit dem seines eigenen Geburt‑landes118 bildet: Der Mensch
Martin Heidegger – geboren am 26. September 1889, einem Tage »im
beginnenden Herbst«, in Meßkirch, knapp 14 Km von der Donau

117 Überlegungen XI, GA 94, S.386.


118 Vgl. auch Anmerkungen I, GA 97, S. 54: »Immer deutlicher wird in mir
die Ahnung, daß unsere Heimat, der Kern des südwestdeutschen Landes, der
geschichtliche Geburtsort des abendländischen Wesens seyn wird. Das mag
seltsam klingen, aber es kann nicht anders seyn; denn es ist das Geistvolle
und zugleich das erdenhaft schöne Land.«
90 2. Zeit‑Raum einer Landschaft

entfernt – fand ein ganz persönliches Abendland in seinem eigenen


Fleisch und Blut. Die Heimat der Deutschen ist daher vor allem die
Heimat eines einsamen Deutschen, der in »langer verschwiegener
Besinnung« seinem eigenen Volk – welches dies auch sein mag – eine
eigenartige und viel zu persönliche Geschichte aufbürdete.119
Der Geschichts-Wanderweg ins Eigene kann als der genealo­
gische Weg zur Geburt der einzig wahren Hauptfigur der Seins­
geschichte angesehen werden, die nicht Hölderlin, sondern allein
Heideg­ger sein kann. Als die Narration endlich hier anlangt, nimmt
die Heimat des Denkens sogar die menschlichen und zärtlichen
Züge einer »Mutter«120 an, »die ohne Bitterkeit den Weg des schein‑
bar gottabgekehrten Sohnes im ahnenden Vorblick ertrug«. Und auf
einmal wird die Einkehr in den Ursprung tatsächlich eine Heimkehr
ins eigene Haus:

»Je länger ich hier in der Wahlheimat meine Arbeit schlecht und
recht tue, umso deutlicher wird mir, daß ich zu der hier am Ober­
rhein sich krampfhaft und unfruchtbar gebärenden Alemannerei
nicht gehöre und gehören kann. Meine Heimat, das Dorf und
der Hof meiner Mutter, ist ganz durchweht von den Lüften und
durchströmt von den Quellen Hölderlins, hat durchaus die Härte
und Prägsamkeit und Abgründigkeit des Hegelschen Begriffes
und ist durchwaltet von jenem weit sich vorwagenden ›speku­
lativen‹ Drang Schellings – hat nichts von der verlogenen Kraft­
meierei, die hier zu Lande sich umtut und ihren Lärm besorgt.«121

Die »Heimat« scheint dann weder Deutschland zu sein, noch die


Stadt Freiburg, im Land der Alemannen, wo sich Heideggers Werde­
gang zum Weltphilosophen vollzog. Die Heimat ist allein der Zeit­
ort der Geburt, und dieser wiederum nicht als geographischer Ort,
wo der Mensch Martin Heidegger auf die Welt kam, sondern als
Geburts­ort schlechthin: als »Mutter«. Dass hierbei nicht einmal

119 In dieser Hinsicht wird dann auch verständlich, warum überhaupt zwi­
schen den zwei deutschen Strömen, dem Rhein und der Donau‑Ister, die
in der seinsgeschichtlichen Topographie den Ort der Heimat verzeichnen,
Heidegger ausgerechnet den zweiten als »den eigentlich heimatlichen Strom
des Dichters« (GA 53, S. 201) nennt, obwohl Hölderlins Heimatort eher am
Neckar – und dem Rhein bestimmt näher – lag.
120 Überlegungen V, GA 94, S. 320.
121 Ebd., S. 350.
2.3 Die Heimkunft 91

seine eigene Heimatstadt, sondern das Nachbardorf, in dem sich der


Bauernhof der Mutter befand, als Heimat bezeichnet wird, bezeugt
noch einmal die eigentümlichen Züge einer Narration, die in ihrem
Pulsschlag Zeit und Raum auseinander- und wieder zusammenzieht.
So hat auch die Geburt des Philosophen weder eine biologische noch
eine biographische Konnotation. Ihr Sinn ist rein narrativ. Sie ist
nur als Geschehnis innerhalb dieser Geschichte zu verstehen: als der
geschichtliche Moment, in dem die Zeit des Erzählens und der Ort
des Geschehens sich zu jener Figur verdichteten, die der Erzählung
ihre Stimme verlieh.
Im Zeit‑Raum von Heideggers Geburtsort kommt der geschicht­
liche Wanderweg von Griechenland nach Deutschland zu einem nar­
rativen Ende, das zugleich der einzig wahre Anfang ist, als faktischer
Beginn des Erzählens selbst. Die ersehnte Heimat kann nur die er­
strebte Narrativität eines Denkens und vor allem eines Denkers sein,
der aus sich selbst eine Geschichte macht. Demzufolge ist hier kein
Ort ein richtiger Ort im Sinne einer Erdkunde, die Abstände bemisst
und sie in räumlichen Verhältnissen festlegt, wenn die Landschaft
nur als Inszenierung einer mehr oder weniger privaten Philosophie­
geschichte gilt. Auch die wahre »Heimat«, das Dorf und der Hof der
Mutter, ist von Hölderlin »durchströmt«, mit »Härte und Prägsam­
keit und Abgründigkeit des Hegelschen Begriffes« erfüllt und von
Schelling »durchwaltet«: eine durchaus philosophische Landschaft,
die nur in dieser Denkgeschichte und als Geschehnis dieses persön­
lichen Denkens ihre Orogenese findet.
Indem Heidegger die Namen der drei großen Schwaben des deut­
schen Idealismus in dieser Topographie versammelt und nun das
Denken als eine schwäbische Affäre darlegt, setzt er sich selbst in
einen poietischen Prozess ein, der ihn als einzigen Aus- und Auf­
löser dieser Narration legitimiert. Seine Geburt ist dann der letzte
dramatische Akt einer deutschen Epik, die sich ständig auf einen
griechischen Anfang bezog, ohne ihm je gerecht werden zu können.
Mit Heidegger und in Heidegger erreicht diese Narration endlich
den Zeit‑Ort einer Versöhnung, eines Zusammentreffens von An­
fang und Ende im Übergang zu einer anderen Geschichte. Dieser
Übergang ist nun Heidegger selbst als Chronotopos einer philo­
sophischen Landschaft, in der sich das Denken zum Szenario eines
Ereignisses macht, das die Erzählung ist.
3. Im Zeitgewinde

3.1 Gezerrte Zeit

»Einhundertundfünfzig Jahre zu spät?


Oder
Dreihundert Jahre zu früh?
Oder?«
GA 97, S. 57

Bei der Erzählung einer Geschichte kommt dem diegetischen


­Moment, mit dem der Akt des Erzählens anhebt, stets besondere
Relevanz zu. Es handelt sich um den ausgezeichneten Zeitpunkt
inner­halb der Handlung, an dem die Narration ihren Beginn findet.
Hierbei können sich Anfang der Geschichte – als chronologisch Ers­
tes – und Anfang der Narration – als performativ Erstes – wesentlich
unterscheiden. Es war z. B. eine beliebte Vorgehensweise der anti­
ken Epik, die Narration in medias res anzufangen, mit einem Ereig­
nis ansetzend, das den Adressaten mitten ins Geschehen stürzt, um
dann langsam zum Anfang der Geschichte zurückzuspulen.
Ganz gleich, ob sich eine Narration an eine lineare oder an eine
anachronische Reihenfolge hält, ist der narrative Moment des Be­
ginns als das performativ Erste meistens problemlos zu lokalisieren,
indem er sich mit dem ersten Akt der Aussage, mit dem ersten aus­
gesprochenen oder geschriebenen bzw. gelesenen Wort deckt. Wie
steht es aber mit der Seinsgeschichte? Wo kann man den zeitlichen
Beginn der Narration verorten? Womit hebt Heideggers Erzählung
an?
Die erste Schwierigkeit, die sich hier aufdrängt, ist, dass diese
Narration sich immer von einem philosophischen Diskurs abhebt,
der einen rein diegetischen Beginn praktisch unmöglich macht, so­
dass das erste Wort dieser Geschichte nicht unbedingt ein Wort der
Erzählung sein muss. Eine zweite und nicht geringere Schwierigkeit,
94 3. Im Zeitgewinde

um den diegetischen Beginn zu bestimmen, liegt dann darin, dass die


Seinsgeschichte kein abgeschlossenes literarisches Werk ist, das man
wie ein Buch in die Hand nimmt und von der ersten bis zur letzten
Seite durchlesen kann.
Möchte man auch die Erzählung der Seinsgeschichte mit Heideg­
gers Gesamtwerk identifizieren (was ohnenhin bestimmte zeitliche
Eingrenzungen verlangen würde), müsste man gleich feststellen, wie
das Erzählen immer von neuem abgebrochen und aufgenommen
wird. Denn Heidegger präsentiert nie, weder schriftlich noch in
der performativen Tätigkeit des Redners und Universitätsdozenten,
eine in sich abgeschlossene Narration, die den gesamten Verlauf der
Seinsgeschichte von Anfang bis Ende schildert.
Und trotzdem findet ab den 30er Jahren jene Umwandlung sei­
nes Denkens statt, die zuletzt das Denken als solches in das »folg­
sam weisende, aufmerkende (stimmende) Sagen der Geschichte des
Seyns«1 umsetzt, eine Überleitung ins Narrative vollziehend, aus
der die Philosophie selbst dann nur noch als Moment innerhalb der
denkerischen Erzählung erscheint. Dieses »Sagen der Geschichte«
ist nie das vollendete Werk eines Denkers oder eines Erzählers,
der uns etwas vorträgt. Heidegger selbst, als narrative Instanz der
Seinsgeschichte, will als gestimmte Stimme nur die Figur innerhalb
der Narration darstellen, in der die Geschichte von selbst zu ihrem
­Sagen kommt.
Deshalb ist »l’inévitable difficulté du commencement«,2 um es
mit den Worten eines Narratologen zu sagen, schon fast bewältigt,
wenngleich es noch eines kurzen weiteren Schrittes bedarf. Denn
mit dem Betreten der diegetischen Schwelle wird Heidegger vom
einfachen Erzähler der Geschichte zum erzählenden Charakter ei­
ner erzählten Geschichte, d. h. zu einem intra‑heterodiegetischen
Erzähler,3 der seine Geschichten verflechtet, bis er sich mit seiner

1 Das Ereignis (1941/42), GA 71, S. 247.


2 Gerard Genette, Discours du récit (1972), S. 36.
3 Vgl. ebd., S. 259. Genette bestimmt »le statut du narrateur à fois par
son niveau narratif (extra- ou intradiégétique) et par sa relation à l’histoire
(hétéro- ou intradiégétique)«. Das Besondere an der Seinsgeschichte liegt
aber darin, dass in ihr Erzähler und Held sich miteinander decken, d. h. der
intra‑heterodiegetische Erzähler wird zu einem intra‑homodiegetischen. So
zeigt die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte deutlich genug, wie das nar­
rative Konstrukt der Seins­geschichte eine mythische Autobiographie streifen
kann.
3.1 Gezerrte Zeit 95

eigenen Existenz in ihnen verfängt. Als narrative Stimme der Seins­


geschichte wird er zur immanenten Instanz eines Sagens, das mit der
fiktiven Existenz seiner erzählenden Figur einhergeht.
Insofern macht Heidegger sogar den eigenen Status des Philoso­
phen vom Gelingen dieser fiktiven Figur des intradiegetischen Den­
kers  /  Erzählers abhängig und zwingt die Narration zu einem Beginn,
der, wie sich leicht ahnen lässt, nur selbstreferenziell sein kann. Er
wird dann an einem Zeitpunkt angesetzt, der nur in die gelebte Zeit
des Erzählers fallen kann und einen chronologischen Beginn von
Grund auf ausschließt:

»Soll zuerst die Geschichte des Seins vom ersten Anfang her un­
mittelbar erzählt werden, dann bleibt dunkel, von wo aus die Ge­
schichte schon überhaupt als Geschichte des Seins und nicht als
Gegenstand für die Philosophiehistorie erfahren wird.«4

Wäre diese Geschichte der normale »Gegenstand« einer Narration,


sei es auch einer philosophischen, dann könnte man sie von außen
her betrachten und von ihrem Anfang zu ihrem Ende erzählen. Ist
aber die »Geschichte des Seins« – als jene Geschichte, die das Sein
von sich aus erschafft – schon an sich das Ereignis eines Erzählens,
das sich selbst generiert, dann kann ihr Ausgangspunkt nicht belie­
big sein und muss einer inneren Notwendigkeit entstammen.
Deswegen darf die Narration auf keinen Fall mit ihrem diege­
tischen Anfang beginnen, wenn es in ihr gerade darum geht, den
ersten Anfang in einem neuen erstmalig zu erreichen. In der Archi­
tektonik der Seinsgeschichte muss dann der Nullpunkt der Narra­
tion gerade jener Moment sein, in dem die Erzählung ihre Stimme
und zugleich ihre Bestimmung findet, im geschichtlichen Augen­
blick nämlich, in dem das Erzählen von selbst ansetzt. Denn diese
Geschichte ist nichts anderes als das Sich-selbst-Erzählen einer Er­
zählung: »Als Besinnung auf sich selbst als Denken des Seyns fängt
dieses Denken an.«5
Der Nullpunkt der Narration kann nur jenes Doppelspiel der
zwei Anfänge sein, jene schmale Schwelle, an der Anfang und Ende
sich für die unmessbare Dauer eines Augenblicks nicht mehr von­
einan­der unterscheiden und plötzlich zusammenklingen. Im zweiten

4 GA 71, S. 253.
5 Besinnung (1938/39), GA 66, S. 53.
96 3. Im Zeitgewinde

seiner Schwarzen Hefte, dem ersten uns bekannten, legte Heidegger


im »März 1932«6 mit verblüffender Genauigkeit und »in aller Klar­
heit« den Nullpunkt fest, als jener »neue, nicht anfängliche, endhafte
Anfang« plötzlich sich aufdrängte und der ganze bisherige Denk­
gang »(Sein und Zeit; Was ist Metaphysik; Kant-Buch und Vom We­
sen des Grundes I und II)« wie »ein stillgelegter Weg, der in Gras
und Strauch verwächst«, erscheinen musste. Es sind die Jahre der
ersten geschichtlichen Auseinandersetzung mit dem griechischen
Anfang, zu dem es »keinen Rückgang, sondern nur ein Einholen«,7
geben könne.
»Anklang des Endes der Metaphysik – Einklang in den Anfang –
Widerklang des Anklangs und des Einklangs«,8 so nennt Heideg­
ger fast zehn Jahre später den Beginn seiner Narration. Es ist das
Klangspiel einer dissonanten Harmonie, in der die abendländische
Denkgeschichte zu einem ungeheuren Akkord findet, wo im Zer­
bersten alter Töne die Stimme eines neuentdeckten Ursprungs er­
klingen soll. Aber es ist vor allem der geschichtliche Augenblick
selbst, in dem Heideggers Denken historisch geschieht und jenen
Schnittpunkt einer Ent‑scheidung markiert, die die Denkgeschichte
in zwei Anfänge spaltet und sie nur dadurch zum Ausgangspunkt
einer Erzählung macht.
Es ist, wie Heidegger zwischen 1933 und 1934 immer wieder be­
tont, die »Unvergleichlichkeit der Weltstunde, deren Schlagraum die
deutsche Philosophie zum Erklingen bringen soll«.9 In dieser Stunde
fängt die Geschichte des Seins unmittelbar als Rückkoppelung zu
ihrem Ursprung und als Vorahnung des Neuen an. Der Beginn gilt
somit als Schlüsselpunkt für eine unendliche Serie von Analepsen
und Prolepsen,10 die einerseits ständig in die Erinnerung einer selbst­
gebastelten Geschichte der Philosophie zurückgreifen und anderer­
seits in Zukunftsvisionen vordringen, die mit blassen Farben das
Szenario eines postmetaphysischen Denkens ausmalen.
Die Narration entsteht und besteht dann gerade in der zeitlichen
Spannung zwischen den zwei Polen der Geschichte und zwar in der

6 Winke X und Überlegungen (II), GA 94, S. 19.


7 Ebd., S. 45.
8 GA 71, S. 253.
9 Überlegungen III, GA 94, S. 109.
10 Zu diesen Termini verweise nochmal auf G. Genette, Discours du récit,
S.  39–73.
3.1 Gezerrte Zeit 97

inneren Zerrissenheit jenes Augenblicks, in dem das Erzählen selbst


stattfindet. Es ist gleichsam die Zentripetalkraft der zwei Anfänge,
die um die »Weltstunde« die gesamte Seinsgeschichte wirbeln lässt
und im Zusammenprallen von Gewesenem und Kommendem den
Beginn der Narration bestimmt. Und doch ist es gerade so ein un­
zweideutig festgelegter Moment, der in dieser Erzählung die meisten
Schwierigkeiten mit sich bringt.
Was 1933–1934 als »Weltstunde« gemeint war, als der »unge­
heure Augenblick, in den der Nationalsozialismus heute gedrängt
ist«, galt für Heidegger als »das Werden eines neuen Geistes der
Erde überhaupt«.11 Im Traum einer nationalsozialistischen Revolu­
tion wurde eine Gegenwart geschildert, die in sich schon die spros­
senden Keime einer Verwandlung des gesamten Menschenwesens12
tragen sollte.
Der narrative Beginn wurde hierdurch in eine Prolepse hineinge­
zerrt, die den Ausblick auf eine künftige Geschichte darbieten sollte.
Zugleich aber war die Erzählung eines künftigen Anfangs nur durch
eine Analepse in einen ersten Anfang möglich, sodass die Revolu­
tion als Ereignis einer geschichtlichen Überwindung des Bisherigen
allein durch die Rückwendung in das ihr Vorausgehende geschehen
durfte. In dieser zweifachen Bewegung war die zeitliche Struktur
von Heideggers Narration gegeben:

»In der Geschichte entscheidet nicht, was zuerst geschieht, son­


dern was als Letztes erreicht wird und alles vorige einbezieht und
durchstrahlt. Dieses Letzte enthüllt erst den Anfang und damit
sich selbst als seinen Übergriff. Denn der echte Anfang setzt die
Grenze des ihm entsprechenden Endes und verhindert die bloße
Verendung.«13

Der Beginn der Narration ist die Entscheidung zu einer Erzählung,


die sich nur an ihrem Ende vollziehen lässt. Es ist das Zu-Ende-
Gehen eines Anfangs, die Vollendung des metaphysischen Epos, das

11 Freiburger Wintervorlesung 1933/34, Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37,


S. 148.
12 Oder zumindest des europäischen: »Der Nationalsozialismus ist nicht
irgendwelche Lehre, sondern der Wandel von Grund aus der deutschen, und
wie wir glauben, auch der europäischen Welt« (GA 36/37, S. 225).
13 Überlegungen VI, GA 94, S. 427.
98 3. Im Zeitgewinde

endlich ermöglicht, mit jener alten Geschichte Schluss zu machen,


um mit einer völlig neuen anheben zu können.
Als Erzählung eines endenden Anfangs kann die Seinsgeschichte
nur mit jenem Letzten beginnen, das »alles vorige einbezieht und
durchstrahlt«. Daher die Notwendigkeit eines narrativen Beginns
genau am Angelpunkt der zwei Anfänge, in einem Rückgriff auf
die gesamte philosophische Tradition, der ein Vorgriff auf ihr Hin­
über werden muss: ein »Übergriff« nämlich, der von Einem zum
Anderen übergeht.
In diesem narrativen Beginn wird »der echte Anfang« genau auf
der schmalen Linie einer »Grenze« lokalisiert, die auch als Schwelle
des Narrativen schlechthin gilt. In der Unterscheidung von »Ende«
und »Verendung« entscheidet sich dieser »Anfang« für eine End­
lichkeit, die nichts anderes ist als das Hinstreben jeder Erzählung zu
ihrem narrativen Schluss. Dementsprechend ist mit »Ende« hier alles
andere als das Absterben eines Organismus, das Verlöschen einer
Flamme oder die Beendigung irgendeines physikalischen Prozesses
gemeint: »Ende« gilt nur als das, »was als Letztes erreicht wird«, als
Finale der Narration, das allein durch das Erzählen berechtigt wird
und, nur wenn man die ganze Geschichte durchlaufen hat, seinen
wahren Sinn bekommt.
Damit ist mit der Entscheidung zwischen »Verendung« und
»Ende« die ganz andere verknüpft, vor die Heidegger das deutsche
Volk stellen wollte: Ob es weiter in der berechenbaren Zeit der His­
torie versanden will oder doch in die narrative Zeit dieser Erzäh­
lung eintreten mag – ob es also »die Wächterschaft der Wahrheit des
Seyns gründet als den anderen Anfang einer Geschichte, zu der alle
Gänge und Türen der Historie nie hinreichen«.14
In ihrem Zeitbegriff folgt die Seinsgeschichte einer dichterischen
Zeit, die ganze Jahrhunderte in sich zusammenschrumpfen lässt und
im Nu schwankende Brücken von einem Jahrtausend zum anderen
schlägt. Es ist aber vor allem die unhistorische Zeit Hölderlins, bzw.
die Zeit, in der Heidegger seinen Hölderlin handeln und ihn die
­Fäden eines kosmischen Schicksals ziehen lässt:

»Nur dies wissen wir, daß Hölderlin, wenn er von der Geschichte
spricht, die Geschichte des Abendlandes denkt und sie in langen
Zeiten denkt, deren Länge sich nicht nach Zahlen bemessen läßt.

14 GA 66, S. 276.
3.1 Gezerrte Zeit 99

Wenn Hölderlin ›Jetzt‹ sagt, oder ›uns‹ nennt, dann meint er


nicht die historisch datierbare Zeit des Zeitpunkts, in dem er den
Satz niederschreibt. Zwar nennt er in dem ›uns‹ auch sich selbst
mit, aber nicht ›sich‹ als die historisch feststellbare Person, son­
dern ›sich‹ als den Dichter, der dichtend sich über die ›eigene Zeit‹
schwingt, der die ›Jahre der Völker‹ ahndet und ahndend auf das
sinnt, was sich im Verborgenen der abendländischen Geschichte
ereignet.«15

Diese Geschichte, in der sich ein bestimmtes Kollektiv befindet, ist


nicht die Geschichte an sich, ein historisch Absolutes, das die Ge­
samtheit der menschlichen Ereignisse umfasst. Vielmehr geht es
lediglich um eine Erzählung des Abendlandes – und dennoch die
einzige, die den Namen Geschichte wahrhaft verdient. Diese Er­
zählung scheint von Hölderlin in einem »Jetzt« eingefangen zu sein,
das für Heidegger immer noch anhält. In diesem »Jetzt« erhebt sich
der Dichter »über die ›eigene Zeit‹« sowie über jegliche »historisch
datierbare Zeit« und tritt in die Zeit einer Narration ein, wo er sich
mit einem über‑historischen »uns« vereinigt, zu dem auch Heideg­
ger (und wer weiß noch welche renommierten Deutschen) gehört.
Es ist die fabelhafte Zeit, in der die »Jahre der Völker« gezählt
werden und in der nun die »Weltstunde« des deutschen Volkes
schlägt. Von dieser Stunde der Seinsgeschichte, die von Hölderlin
nur geahnt wurde, spricht Heidegger innerhalb von wenigen Jahren
in ganz unterschiedlichen Tönen, ohne sie jemals ganz zu verleug­
nen. Zwar wandelte sich der »ungeheure Augenblick«, in dem sich
Hitlers Machtergreifung vollzog, bald zu jener »Welt-stunde – der
Not der Notlosigkeit«,16 in der sich die Katastrophe des zweiten
Weltkrieges ankündigte. Es blieb aber weiterhin jener unmessbare
Augenblick des deutschen Volkes, der, über Jahre hinweg sich immer
länger hinauszögernd, allein die Türen zum zweiten Anfang hätte
aufschlagen können.
Demzufolge wollte Heidegger im Jahre 1932 den Anbruch eines
neuen Zeitalters erkennen, »das uns wieder in die ursprünglichen
Mächte überlieferungshaft binden muß«,17 und einige Monate spä­
ter, obwohl schon begründete Zweifel über den »Weltaugenblick

15 Die Armut, GA 73.1, S. 871.


16 Das Heute, GA 73.1, S. 539.
17 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 126.
100 3. Im Zeitgewinde

unserer Geschichte«18 eingetreten waren, meinte Heidegger noch zu


spüren, »daß seit Jahrzehnten, 1910/19, sich ein weitvorgreifender
Umbruch vorbereitet«.19 Es scheint die Erfahrung des ersten Welt­
krieges gewesen zu sein, die die Zeit des deutschen Volkes zum Auf­
takt des Anfangs hätte zwingen sollen. Dazu gehört auch die Figur
»des großen Kriegers im Weltkrieg«,20 in der sich »die aufbehaltene
Bestimmung der verborgenen Deutschen«21 ankündigte.
Das Anbrechen des anderen Anfangs, das für Heidegger zunächst
nahe bevorstand, verschob sich nun in der Zeitspanne von wenigen
Jahren in die Tiefen einer immer weiter entrückten Zukunft. Und
auf dieselbe Weise, auf die er noch 1934 behaupten konnte, dass »seit
15 Jahren diejenige Wandlung des gesamten Seins sich vorbereitet«,22
äußerte sich bald seine starke Enttäuschung. In ihr deutete er jene
erwartungsvolle Zeit um in »das heutige Massenwesen und seinen
Verfall – der seit Jahrzehnten andauert – nicht erst seit November
1919«.23 Zur selben Zeit, in der Wintervorlesung 1933/34, der letzten
seines Rektorats, schob er dann die Zeit jener »Wandlung« dreißig
Jahre hinaus: »Geist und geistige Welt eines Volkes erwächst in der
Geschichte. Diese vollzieht sich nicht in einem Zeitraum bis 1934
oder 35, sondern vielleicht bis 1960.«24
Heidegger schien das Vertrauen in die Generation zu verlie­
ren, die noch die seine und vom ersten Weltkrieg geprägt war. Der
Glaube an eine »Selbstbehauptung der deutschen Universität«,25 wie
er in der Rektoratsrede ausgerufen wurde, wich bald der Einsicht
einer Selbstauflösung jeglichen Wissensanspruchs, in der alle Hoff­
nungen eines neuen Anfangs zu zerbröckeln drohten.
Um das Projekt der seinsgeschichtlichen Narration nicht sogleich
aufgeben zu müssen, blieb Heidegger nichts anderes übrig, als al­
les zuerst auf die Deutschen »des übernächsten Geschlechtes«26 zu
setzen, um dann eine lange Flucht in die Zukunft anzutreten, die
zwischen der einen und der anderen Weissagung seiner Erzählung

18 Ebd., S. 112.
19 Ebd., S. 153.
20 Überlegungen XI, GA 95, S. 370.
21 Überlegungen XII, GA 96, S. 31.
22 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 157.
23 Ebd., S. 174.
24 GA 36/37, S. 185.
25 Vgl. GA 16, S. 106 ff.
26 Überlegungen V, GA 94, S. 320 (1937).
3.1 Gezerrte Zeit 101

unerwartete Szenarien zu eröffnen versprach. Da schien sie schon


1941 in einer völlig phantastischen Zeitverschiebung zu entgleisen:
»Frühestens um 2300 mag wieder Geschichte sein.«27
In einer Narration, die aus der Vergangenheit einer philosophi­
schen Fabel und der Zukunft einer poetischen Prophetie28 die Zeit
des historischen Geschehens zu bilden versuchte, blieb als einzig
Unbekanntes genau jene Gegenwart, in der diese Geschichte hätte
anfangen sollen: »Wir wissen die Zukunft, ahnen das Gewesene
und kennen nicht das Gegenwärtige«,29 schrieb Heidegger Ende
der 30er Jahre.
Der einzigartige Moment, in dem die Narration geschieht, ist also
ein aufgerissenes Jetzt, in dem Gewesenes und Zukünftiges sich inei­
nander spiegeln, ohne sich erkennen zu können: Auf der einen Seite
der verlorene Traum eines anfänglichen Denkens, das zu anfänglich
war, um anfangen zu können, auf der anderen das Versprechen eines
undenkbaren Ereignisses, das das Unangefangene in seiner Unmög­
lichkeit möglich machen sollte.
Als einzige Gewähr der Erzählbarkeit dieses Geschehens stand
die einsame Figur des denkenden Dichters Hölderlin, der die Brü­
cke von den Deutschen zu den Griechen schlug und die Zeitlichkeit
dieser ungeschehenen Geschichte in den ortlosen Raum entrückte,
wo »die Jahre der Völker« in einem einzigen Augenblick vorbeirau­
schen und die Stunde eines Ereignisses schlägt, in dem Zukunft und
Vergangenheit plötzlich zusammenklingen.

27 Überlegungen XIV, GA 96, S. 225.


28 Das hindert Heidegger jedoch keineswegs daran, sich heftig gegen das
Wesen der Prophetie zu äußern, die er als »Technik der Abwehr des Ge­
schichtlichen der Geschichte« und »vorwärtsgerichtete Historie« abstempelt.
Die ganze Polemik kann aber mühelos auf seinen Antisemitismus zurückge­
führt werden: »Dass die großen Propheten Juden sind, ist eine Tatsache, de­
ren Geheimnis noch nicht gedacht worden«, obwohl er sich dann auch beeilt,
diesem Vorwurf zuvorzukommen – »Anmerkung für Esel: mit ›Antisemitis­
mus‹ hat die Bemerkung nichts zu tun« (Anmerkungen II, GA 97, S. 159).
Dem Status der Propheten jenseits des Judentums widmet Giorgio Agamben
interessante Überlegungen in seinem Buch Nudità (1985). Dort (S.  12 f.) ist
es zuletzt der Philosoph, der durch eine Hermeneutik der Schriften und des
Geschehens die alte prophetische Rolle übernimmt: »Nella cultura dell’età
moderna, filosofia e critica hanno ereditato l’opera profetica della salvezza
(che già nella sfera sacra era stata affidata all’esegesi)«.
29 Aus dem Umkreis der Besinnung der Neuzeit, GA 76, S. 101.
102 3. Im Zeitgewinde

Im Jetzt dieser Gegenwart kreuzen sich dann Namen und Zahlen


übereinander, die jede denkbare Zeitrechnung sprengen. Mit den
letzten Worten der Überlegungen VI wagt sich Heidegger in eine
Kabbala der Seinsgeschichte hinein, die den Takt seines Ereignisses
angibt:

»Spiel und Unheimlichkeit historischer Zeitrechnungszahlen im


Vordergrund der abgründigen deutschen Geschichte:

1806 Hölderlin geht weg und eine deutsche Sammlung hebt an.

1813 Der deutsche Anlauf erreicht seine Höhe und Richard Wag­
ner wird geboren.

1843 Hölderlin geht aus der ›Welt‹ und ein Jahr darauf kommt
Nietzsche auf sie.

1870/76 Die deutschen Gründerjahre werden gegründet und


Nietzsches ›unzeitgemäße Betrachtungen‹ erscheinen.

1883 ›Zarathustra I‹ kommt heraus und Richard Wagner stirbt.

1888 Ende Dezember: Nietzsches ›Euphorie‹ vor dem Zusam­


menbruch und – –

(26. 9. 1889)«30

Diese Zahlenmystik, die auf Heideggers Geburtsdatum hinauswill


und die keineswegs verkennt, sich »historischer Zeitrechnungszah‑
len« zu bedienen, mit dem Vorwand, dadurch in die unauslotbaren
Tiefen »der abgründigen deutschen Geschichte« hineinschauen zu
können, bildet keinen Einzelfall innerhalb der Schwarzen Hefte.
Heidegger trug acht Jahre später in Anmerkungen II noch eine ähn­
liche Zeile ein: »1807: Phänomenologie des Geistes. 1867: Das Ka­
pital. 1927: Sein und Zeit«,31 wo bei wechselnden Namen nur das
eine gleich bleibt, nämlich das letzte, Heidegger als Endpunkt einer
dramatischen Abfolge; die Figur, die von einem ruhmvollen Mo­

30 GA 94, S. 523.
31 GA 97, S. 131.
3.1 Gezerrte Zeit 103

ment der Denkgeschichte (wie es Hegel oder Hölderlin darstellen)


durch die seichtesten Gewässer der Seinsvergessenheit (Wagner und
Marx)32 endlich zum großen Ausbruch des Seinsdenkens gelangt.
An der oben erwähnten Stelle aus den Überlegungen VI kann
man einen Kampf zwischen den guten und den bösen Mächten der
Seinsgeschichte verfolgen, wo Hölderlin und Nietzsche sich im
Gefecht gegen Wagner abwechseln und Heideggers Ankunft auf
der Bühne der Seinsgeschichte vorbereiten. Die Namen Hölderlin,
Nietzsche und Heidegger scheinen auf derselben Zeitspur eines wie­
derkehrenden Geistes zu liegen, der in diesen drei Gestalten seine
Wiedergeburt feiert. Dies scheint tatsächlich auch ein späterer Ge­
danke aus Anmerkungen V zu bestätigen: »Jeder Denker stammt
vielleicht aus einem lang vergangenen Geschlecht, das einmal in
­einem Schatten des Seyns gediehen.«33
Neben der Zeitlichkeit des Weltgeschehens tut sich eine Narra­
tions-Zeit auf, die nicht unbedingt, wie Heidegger häufig betont,
jeglicher Berechnung fremd ist, aber einer ganz eigenen folgt.34 Nach

32 In ihren verschiedenen und entgegengesetzten Stellungen verkörpern


Marx und Wagner die zwei Seiten eines einzigen Gegenspielers im Kampf
um die Wahrheit des Seins, nämlich des »Subjektivismus« (Überlegungen
VII, GA 95, S. 40): »Die eine Gegenseite dieser Einseitigkeit ist der Mar­
xismus, der die ›Materie‹ – das Sinnliche (Unmittelbare) – zum Absoluten
machte. Die andere Gegenseite erwächst aus der Gegnerschaft gegen den
Marxismus und den Spiritualismus. Sie macht den Leib und das Blut zum
absoluten Subjectum«. In dieser Konstellation gehöre dann »Wagners Un­
terleibsmusik« (Überlegungen VIII, GA 95, S. 109) zu den schlimmsten
Entartungen der deutschen Geschichte: In ihr werde »die Musik, das Wort-
und Wahrheitslose, aber durch und durch Gerechnete und doch an das ›Le­
ben‹, den Leib gehende«, zum totalitären Gesamtkunstwerk einer »τέχνη
im Sinne der Technik, politisch bestellt und berechenbar […]. ›Lohengrin‹
und immer wieder ›Lohengrin‹ und Panzerwagen und Flugzeuggeschwader
gehören zusammen, sind dasselbe« (ebd., S. 132). Was sonst noch Marx –
abgesehen von der Auseinandersetzung mit dem Marxismus – betrifft, habe
er sich vor allem daran schuldig gemacht, »den christlichen Hegel umge­
schrieben und seine Historie – was sie ›Geschichtsphilosophie‹ nennen –
auf den Kopf gestellt« zu haben (Überlegungen VII, GA 95, S. 5). Nach
dem Erscheinen von Anmerkungen I kann man die Frage stellen, inwieweit
sich hinter diesem Antimarxismus ein verkappter Antisemitismus verbirgt,
wenn Heidegger zufolge die »Judenschaft« »das Prinzip der Zerstörung«
und Marx das »Zerstörerische in der Umkehrung der Vollendung der Meta­
physik« sind (GA 97, S. 20).
33 GA 97, S. 450.
34 Siehe auch Überlegungen V, GA 94, S. 396: »die Geschichte der Wahrheit
104 3. Im Zeitgewinde

dieser phantastischen Zeitrechnung werden die »Jahre der Völker«


gezählt wie alle Denker des Seins dem »Schatten« desjenigen Augen­
blicks zugeordnet, in dem sich die gesamte Denkgeschichte vollzieht.
Im narrativen Jetzt eines über- und zwischenzeitlichen Zusammen­
treffens wird dieser über Jahrtausende hinaus verzerrte Augenblick
die einmalige Versprechung eines Geschehnisses, das in der Tat gar
nicht zu geschehen braucht, weil es sich schon immer in den Falten
einer Zeit ereignet, die nur im Erzählen ihre Wahrheit hat.
So sehen wir Heidegger bei dem Versuch zu, sich in die Reihen
einer phantastischen Genealogie einzuschreiben, die ihn als Haupt­
figur seiner eigenen Erzählung legitimeren soll. Als ob er selber zu
jenem »lang vergangenen Geschlecht« von Denkern zurück möchte,
das ihn vor aller Zeit als narrative Instanz der Seinsgeschichte gebo­
ren hat, fügt er sich in die aufgehobene Zeitlichkeit einer Narration
ein, die einem Anfang hinterherläuft, bei dem sie eigentlich schon
immer war. Denn es ist das bloße Faktum der seinsgeschichtlichen
Narration, das ihrem intradiegetischen Erzähler seine Stelle inner­
halb der erzählten Geschichte35 zuweist und daher Heidegger in »das
ganz Andere« von Anfang an eingerückt haben muss:

»Denn wären wir dahin nicht schon vorgedrungen, wie anders


vermöchten wir etwas vom ersten Anfang zu wissen, der sich
im äußersten Falle nur dem zu wissen gibt, was im entferntesten
seinesgleichen und d. h. hier das ganz Andere ist.«36

Schon der Umstand dieser Narration, die von einem ersten griechi­
schen Anfang erzählen kann, legt für Heidegger unbestreitbar Zeug­
nis davon ab, dass man bereits Fuß in einer ganz anderen Geschichte
gefasst hat. Als ob allein ein Erzählen das Denken des Seins in seinen

des Seyns geschieht in ihrem eigenen Bereich und hat ihre eigene ›Chrono­
logie‹.«
35 Vgl. G. Genette, Discours du récit, S. 224: »La principale détermination
temporelle de l’instance narrative est évidemment sa position relative par
rapport à l’histoire. Il semble aller de soi que la narration ne peut être que
postérieure à ce qu’elle raconte, mais cette évidence est démentie depuis bien
des siécles par l’existence du récit «predictif» sous ses diverses formes (pro­
phétique, apocalyptique, oraculaire, astrologique, chiromantique, cartoman­
tique, oniromantique, etc.)«.
36 Freiburger Wintervorlesung 1937/38, Grundfragen der Philosophie. Aus‑
gewählte »Probleme« der »Logik«, GA 45, S. 188.
3.1 Gezerrte Zeit 105

Ansprüchen berechtigen dürfte, muss dieses schon aus dem Jenseits


jener Schwelle stammen, die im Moment der Narration doch noch
zu überschreiten ist. Und dass man hierbei bis »2300« zu warten
habe, um mit einer solchen Geschichte auch wirklich anzufangen,
soll dann keinen Widerspruch bedeuten, wenn man inzwischen diese
unangefangene Geschichte erzählen kann.
Die seinsgeschichtliche Narration spannt sich in den Riss zwi­
schen den zwei Anfängen wie in eine Zeitlücke ein, in der sich die
gesamte Denkgeschichte bis zu ihrer entferntesten Zukunft abspielt.
Aus dieser Stelle im Nu, wo die Gesetze der Zeit nicht mehr gelten,
weil sie da erst »gegründet« werden, kann Heidegger von dem einen
sowie von dem anderen Anfang erzählen, ohne je einem einzigen
definitiv anzugehören.
Hier eröffnet sich die fiktive Zeit einer meta‑narrativen Erfah­
rung, in der die »historischen Zeitrechnungszahlen« keinen Zeit­
ablauf mehr messen, sondern sich in geheimen Entsprechungen zu­
sammenfügen und die Züge einer Erzählung offenbaren, die letztlich
als Schicksal eines ganzen Planeten in Erscheinung treten wird. Die­
ses Schicksal, das alle Denker einmal in »einem Schatten des Seyns«
geboren hat und nun einem nie existierenden deutschen Volk »die
Rettung der Wahrheit des Seyns«37 aufgibt, bildet die Handlung
­einer Narration, die Vergangenheit und Zukunft als ihre unmittel­
barste Gegenwart erzählt.
Dann wird sich zeigen, wie als Wunder einer restlosen Imma­
nenz Heideggers Seinsgeschichte sich jedes historische Ereignis ihrer
Zeit zu eigen macht und aus der Sicht einer unmöglichen Zukunft
selbst das Mögliche neu entwirft, bis sie zuletzt, jedes Schimmers
von Realität verlustig, nur als Trümmer eines missratenen Märchens
dastehen wird.

37 Überlegungen VII, GA 95, S. 27.


106 3. Im Zeitgewinde

3.2 Vollendung im Kreislauf

»Die Kehre entspringt dem Kranz und dem Gewinde,


worein das Seyn, wesend in seinem Fug, zurückkehrt.«
GA 71, S. 139

Aus dem zwischenzeitlichen Standort im Wendepunkt der Seinsge­


schichte richtet sich Heideggers Erzählung auf das schon Gewesene
sowie auf das noch Kommende. Diese zwei Pole des Erzählens be­
rühren sich letzten Endes in einem einzigen Ereignis, das den zeitli­
chen Verlauf der Narration zu einer »Anfängnis«38 zweier Anfänge
biegt, in der Vergangenes und Zukünftiges zur selben Zeit geschehen
und das Präsens in der Sprache eines Futurs spricht, das aus einem
Praeteritum kommt.39
Ohne Zweifel unterscheidet sich das Denken des Seins von ei­
ner auf Erkenntnis gerichteten Philosophie (die etwas betrachtet,
untersucht oder deutet) und sticht durch ihren außergewöhnlichen
narrativen Charakter hervor, indem es ein Geschehen inszeniert, das
den Entwurf einer neuen Welt mitbringt. Und genauso wie schon
Marx von einer Überwindung des Kapitalismus und Nietzsche von
einer des Menschlichen sprechen, erzählt die Geschichte des Seins
von einer Überwindung – nämlich jener der Metaphysik als einer
von der Technik beherrschen Welt – und verspricht sich von ihrem
Narrativ,40 eine Zukunft erschaffen zu können.
Was Heidegger ab den 30er Jahren als »seynsgeschichtlich« be­
zeichnet, ist die Form eines Denkens, das nur geschichtlich, d. h. als
Erzählen eines Geschehens und zugleich als Geschehen dieses Er­
zählens, vollziehbar ist. Selbst die »entwerfende Ergründung des
Da-seins«, das sich noch auf einer hermeneutischen Ebene abspielen

38 Siehe Über den Anfang (1941), GA 70, S. 13.


39 Vgl. Anmerkungen I, GA 97, S. 10: »Erst muß das Seyn in die Gewesung
zurück – das Gewesende als die Herkunft des Kommenden.«
40 Über die Erzählung der Menschengeschichte in den großen Philosophien
siehe auch Jean-François Lyotard, La Condition postmoderne: rapport sur
le savoir (1979). Was die Geschichtsauffassung von Marx, Nietzsche und
Heid­egger verbindet, scheint mir die geforderte Beteiligung ihrer Adressaten
an der Umsetzung eines geschichtlichen Projekts zu sein. Als Belege dafür
könnte man den aufrührenden Ton im Manifest der kommunistischen Partei,
die Reden von Zarathustra an die Menschheit und die unzähligen Passagen
in der Du-Form aus den Schwarzen Heften anführen.
3.2 Vollendung im Kreislauf 107

könnte, ist notwendig schon das Eindringen »in ein Reich, das bisher
nicht ›bestand‹ und nur vom Seyn selbst – sofern es in seine Lichtung
kommt – zu einer Geschichte ereignet werden kann«.41
Dementsprechend ist Heideggers Seinsgeschichte nicht bloß die
Erzählung der letzten zweieinhalb Jahrhunderte abendländischer
Philosophie, sondern vor allem und mit immer wachsender Inten­
sität in der frühzeitigen Anfertigung seines Nachlasses, die Ausma­
lung eines »Reichs« des Seins, im dem das Denken »zu einer Ge­
schichte« wird. Heideggers philosophische Bemühungen nach der
sogennanten »Kehre« galten demnach fast ausschließlich dem Ver­
fassen einer weit vorgreifenden Geschichte des Denkens, die in der
Erzählung einer ins Undenkbare entrückten Zukunft die Anknüp­
fung an ihren verpassten Ursprung zurückfindet und nur dadurch
den Eingang in eine belegbare Geschichte der Philosophie und der
Menschheit einschlägt.
Das Narrative dieser Geschichte besteht in der fiktiven Zeitlich­
keit eines Geschehens, das neben der historischen Zeit einer realen
Gegenwart herläuft, ohne von dieser je widerrufen oder auch nur
beeinflusst werden zu können. Ob dann der Bann der Metaphysik
eines Tages endlich gebrochen sei oder ob der Mensch sich in die
Zeitschleife einer endlosen Verendung für immer um sich selbst dre­
hen werde, bleibt dem Geheimnis einer Entscheidung vorbehalten,
die in der Narration erzählt werden kann, ohne auch tatsächlich
noch gefällt zu werden.
Der gesamte Ablauf der Seinsgeschichte stand somit für Heideg­
ger paradoxerweise schon ein für allemal fest, obwohl er zu kei­
nem Zeitpunkt seines Lebens je hatte behaupten können, ob sich
irgendwann die Türen zum fabelhaften Reich des postmetaphysi­
schen Denkens auch wirklich öffnen werden. Eine Abfolge von den
Ereignissen, die die Etappen dieser über‑historischen Wanderung
durch die Zeit der Erzählung markieren, wird in den Beiträgen zur
Philosophie folgendermaßen verzeichnet:

»Die Seynsgeschichte kennt in langen Zeiträumen, die ihr nur


Augenblicke sind, seltene Ereignisse. Die Ereignisse als solche:
die Zuweisung der Wahrheit an das Seyn, der Einsturz der Wahr­
heit, die Verfestigung ihres Unwesens (der Richtigkeit), die Seins­
verlassenheit des Seienden, die Einkehr des Seyns in seine Wahr­

41 GA 66, S. 386.
108 3. Im Zeitgewinde

heit, die Entfachung des Herdfeuers (der Wahrheit des Seyns)


als der einsamen Stätte des Vorbeigangs des letzten Gottes, das
Aufblitzen der einmaligen Einzigkeit des Seyns.«42

In den leeren und »langen Zeiträumen« der historischen Zeit, de­


nen blitzartige Augenblicke der seinsgeschichtlichen Zeitlichkeit
entsprechen, fallen »seltene Ereignisse«, die sich zu einer geheim­
nisvollen Konstellation zusammenschließen. Nachdem der diege­
tische Beginn der Narration im ersten Anfang als »die Zuweisung
der Wahrheit an das Seyn« genannt wird, widmet die oben erwähnte
Gliederung zwei wesentliche Episoden den Ursprüngen der Meta­
physik (dem »Einsturz der Wahrheit« und der »Verfestigung ih­
res Unwesens«, die den Denktaten von Platon und Aristoteles ent­
sprechen) und verschlingt dann in der ausgeweiteten Gegenwart der
»Seinsverlassenheit« zwei Jahrhunderte Menschengeschichte. Aus
dem schwarzen Loch der metaphysischen »Wahrheitszerstörung«,43
dessen zeitliche Ausdehnung sich noch ins Endlose fortsetzen mag,
lassen sich dann folgende Ereignisse einer Zukunftsgeschichte her­
leiten: »die Einkehr des Seyns«, die als Gegenstück des vorigen »Ein­
sturzes« angesehen werden kann; »die Entfachung« des Feuers, die,
auf Hölderlins »Heerd des Hausses« verweisend, zur Gründung
einer neuen Heimstätte für das Denken gilt; der »Vorbeigang des
letzten Gottes«, der ein Zeitalter andeutet, in dem es wieder Götter
geben soll; und zuletzt die Krönung des gesamten Geschehens im
blitzartigen Auffassen der »einmaligen Einzigkeit« einer Geschichte,
die nur im Augenblick besteht, in dem sie ausgesprochen wird.
Heidegger entfaltet seinen anderen Anfang zu einer umfassen­
den Vision, die durch eine neue Erfahrung der Wahrheit auch eine
neue mythische Welt entwirft. In der Aufgabe einer »Wächterschaft
für die Wahrheit des Seyns«44 lässt er eine verwandelte Menschheit
entstehen, die in einem unmittelbaren Bezug zum Sein lebt. Durch
unzählige Anleihen an der Dichtung Hölderlins malt Heidegger eine
Welt von fliehenden und kommenden Göttern, von leidenden Halb­
göttern und andächtigen Feiern aus und versucht dadurch ein per­
fektes Korrelat zum Zeitalter der Griechen herzustellen. Die Meta­

42 GA 65, S. 227 f.
43 Überlegungen IV, GA 94, S. 239.
44 Siehe u. a. Überlegungen VI, GA 94, S. 410.
3.2 Vollendung im Kreislauf 109

physik schrumpft dadurch zu einem ereignislosen Intermezzo zwi­


schen zwei Anfängen.
Die Überbrückung vom ersten zum zweiten Anfang geschieht als
Überwindung einer toten Zeit, in der »der abendländische Mensch
seit zwei Jahrtausenden keinen Gott mehr zu schaffen vermochte«.45
In einer neuen Theogonie,46 in der »Geschichte – das Gewagtwerden
der Götter«47 heißt, zeichnet die Einführung der Götter auch die
wesentlichste Rolle Hölderlins im narrativen Denken des Seins als
desjenigen Dichters aus, »der Nähe und Ferne der gewesenen und
künftigen Götter zur Entscheidung gestellt«48 habe.
Im narrativen Rahmen der Seinsgeschichte dient der Gott, jen­
seits jedes Kultus und Glaubens, ausschließlich einem mythischen
Volk, das in der Gründung des Da‑seins den Menschen mit dem
Sein vereinigt. Insofern sind »Götter ja nur die des Volkes: kein
allgemeiner Gott für Jedermann, d. h. Keinen«,49 und dementspre­
chend darf auch der »letzte Gott«, zu dessen Ankunft sich die ganze
Geschichte zusammenfügt, keineswegs als ein universeller Gott für
die Allgemeinheit gelten, sondern nur als die exklusive Gottheit der
Deutschen jenes Geschicks, das allein dieser Narration ihren zwei­
ten Anfang bescheren kann.
In einer unerfüllten Bezogenheit, die sich auf etwas richtet, das
entweder noch nicht da oder schon weg ist, wird das Göttliche in
einem »Vorbeigang« erfasst, der den Rhythmus der gesamten Ge­
schichte beherrscht. Mit der vergänglichen Einmaligkeit einer An­
kunft, die schon ein Verschwinden ist, verweigern sich die Götter
jeglicher Möglichkeit des Begreifens sowie des Anbetens und führen
in einen Mythos ein, der außerhalb von Philosophie und Religion
nur im Bereich des Narrativen liegen kann.
In der Sage eines anderen Anfangs ereignet sich also die »Wahr­
heit des Seyns« als Schauplatz einer ephemeren Begegnung von Göt­
tern und Menschen, die nur in einer erzählten Welt und nur als Stif­

45 GA 45, S. 90.
46 Ähnlich der Theogonie von Hesiod, in der die Welt der Götter aus dem
Chaos entstand, beschreibt Heidegger das Ereignis des Denkens: »Die Bre­
chung des χάος muss notwendig als Wahrheitsgeschehnis die Bergung des
Seienden sein« (Das Da-sein, GA 73.1, S. 318).
47 Überlegungen IV, GA 94, 214.
48 GA 65, 463.
49 Überlegungen IV, GA 94, S. 214.
110 3. Im Zeitgewinde

tung dieser Welt stattfindet.50 Noch einmal auf Hölderlin zurück­


greifend führt Heidegger dann ein »Fest« auf, das als »Ereignis des
Entgegenkommens von Göttern und Menschen«51 den Gipfel seiner
Narration erreicht und schon »selbst das Wesen und der Grund der
Geschichte«52 ist; die Performativität eines Denkens vollziehend, das
sich nun im Ritual eines »anfänglichen Grußes«53 inszeniert.
Im letzten Akt der Narration kommt dann die Seinsgeschichte
endlich an den »Beginn« ihres Anfangs und gründet ihr Narrativ in
einem Performativ des Wortes, das in der Gedenkfeier eines Den­
kens seine letzte Vollendung zelebriert und allein im Lauten der
Sprachzeichen geschieht. Als »der andächtige Dank«54 schmelzen
hier Denken und Danken in ein lallendes »Gedächtnis« zusammen,
das im Fest eines dankenden Grußes auf den stillen Anspruch des
Seins antwortet:

»Denn lange Zeit zuvor muß erst das menschliche Antworten


von Mensch zu Mensch als ein selbst schon gegrüßtes gegründet
sein im Gedächtnis. Das menschliche Antworten ereignet sich
ursprünglich im Entgegnen, das fügsam empfängt das Sichbre­
chen des Einzigen, das Ginnen des Einstigen in das ereignende
Vereignen. Dieses Entgegnen ist zugeeignet den gegrüßten Grü­
ßenden. Sie begehen – sinnend, schweigend, sagend, rufend – die
Feier des Ginns. Sie begehen den Beginn.«55

Aus der Etymologie des Verbums beginnen leitet Heidegger für


seinen Beginn die Bedeutung eines Schneidens und Spaltens56 her

50 Siehe ebd., S. 209: »Die Welt als eine Welt zum Welten bringen, ist: es
noch einmal mit den Göttern wagen.«
51 Freiburger Wintervorlesung 1941/42, Hölderlins Hymne ›Andenken‹,
GA 52, S. 69.
52 Ebd., S. 68.
53 Ebd., S. 70.
54 Das Gedächtnis im Ereignis, GA 73.1, 743.
55 Ebd., S. 745.
56 Siehe auch Zur Erläuterung weisender Wörter, GA 73.2, S. 904: »Ginnen
– scheiden, spalten – | Brot | Apfel || Frucht | gannen | ich habe geschnitten [?]
ich begann – | ich habe geschnitten | einfaches Zu‑bereiten | Scheiden, Schied
be‑schneiden – anschneiden – an‑heben – sich daran halten – an‑fangen mit.«
Offensichtlich entlehnt Heidegger dem Deutschen Wörterbuch von J. und W.
Grimm diese fragliche Etymologie des Verbs beginnen, die dort bloß durch
den Vergleich mit romanischen Sprachen begründet wird: »ginnan schlosz ur‑
3.2 Vollendung im Kreislauf 111

und kommt dann zu einem »Sichbrechen«, das bricht und schei­


det, indem es die gesamte Geschichte durchtrennt und das Zeitalter
der »Wahrheit des Seyns« endlich anbrechen lässt. Hierzu wird der
»Be‑ginn« auf den »Ginn« eines uranfänglichen »Schieds«57 zurück­
geführt, dem die ganze Reihe jener seinsgeschichtlichen Figuren des
»Unter‑schieds«, der »Ent‑scheidung« und des »Ab‑schieds« ent­
springen soll, und vollzieht die ursprünglichste aller Trennungen
als »Entgegnen« von Sein und Mensch im »Er‑eignis« eines ver­
einigenden »Vereignens«, in dem die Verschiedenen in ihrer Unter­
scheidung das Eigene finden.
In der »Feier des Ginns« wird dann »von Mensch zu Mensch«
ein ritueller Gruß ausgetauscht, der einer übermenschlichen Zusam­
menkunft mit dem Sein gedenkt, indem er ein »Gedächtnis« stiftet,
das der langen Stille der Seinsvergessenheit ein Ende setzt und das
Geheimnis des Seins nun als solches ausspricht.58 In der Durchfüh­
rung dieses Rituals feiern die Adepten des Seins das »Aufblitzen
der einmaligen Einzigkeit«,59 in der »das Ginnen des Einstigen« im
»Sichbrechen des Einzigen« den neuen Anfang als den ereignishaf‑
ten Durchbruch in dieser Geschichte zelebriert.
Dann wird das Fest des Beginns zum »An-Fang«60 eines Anfangs,
der seinen ersten wieder auffängt und in einen neuen gründet, der

sprünglich den sinn von schneiden, spalten, gann den von ich habe geschnit‑
ten, gespalten in sich; wer sich brot, fleisch geschnitten, den apfel geschält
hat, der hebt an zu essen. Anfangen und anheben haben ein sinnliches fassen
und heben an etwas zur unterlage, beginnen und entginnen ein beschneiden
und anschneiden. so hiesz das span. empezar, empiezo anfangen eigentlich
zerstücken, vgl. pieza stück, pezuelo stück; nicht anders das franz. entamer
= commencer, eigentlich faire une petite incision, entamer un pain, entamer
la chair anschneiden«.
57 Siehe Die Ἀλήθεια und die Wahr-heit, GA 73.1, S. 22: »Der Be-ginn – der
Schied – das ›Nicht‹ – das nie verneint – auch nicht bloß bejaht – sondern
Gegnet – die Vergegnung.«
58 Sieh auch Das Gedächtnis im Ereignis, GA 73.1, S. 746: »Im Beginn feiert
das Gedächtnis das Fest der Einzigkeit des Ereignisses. In der Feier lichtet
sich der Dank zur Empfängnis des feurigen Dunkels, dessen verborgene
Helle das Geheimnis birgt. Dies verwahrt das Rätsel, daß die Vereignung
des Seyns und des Menschen dem Schied der Wahr-heit und des Menschen­
wesens entspringt.«
59 Siehe oben die Episoden der Seinsgeschichte.
60 Vgl. Die Dichtung, GA 73.1, S. 688: »An-fang und Beginn – Der Anfang
ist beginnlich.«
112 3. Im Zeitgewinde

»älter als der Erste«61 ist. In diesem feierlichen Finale erreicht die
Seinsgeschichte den extradiegetischen Zeitpunkt ihres Ursprungs
und findet in der aufgehobenen Zeitlichkeit der Narration den un­
fassbarsten aller Augenblicke, in dem das Erzählen zerbricht, um
als Erzähltes zu beginnen. Es ist, könnte man noch mit Gérard Ge­
nette sagen, der Moment, in dem »l’histoire vienne ainsi rejoindre la
narration«62 – der einschneidende Zeitpunkt, an dem das Geschehen
zu einem Ende gelangt, um als Erzählung wieder von neuem anfan­
gen zu können:

»Weil der Beginn die Geschichte gründet, Geschichte als Ge­


schick der inständigen Gründung der Wahrheit des Seyns in das
Wohnen, ist der Beginn ereignishaft geschichtlich und ist als ge­
schichtlicher nur in der Wieder‑holung.
Sie ist das Fest der beginnlich überholenden Rück-kehr in die
unüberholbare Ruhe des Vereignens im Ereignis.«63

Die Krönung der Seinsgeschichte ist zugleich ihre Gründung und


Vollendung im Kreislauf. Die »Wahrheit des Seyns« eröffnet den
Ort des Ritus, der die Erzählung des ersten Anfangs als dessen
»Wieder‑holung« feiert. Hier wird das Performative des Festes in
einem Wohnen vollzogen, das die Wahrheit als rituelles Ereignis
einer »Rück‑kehr« verewigt.64

61 Überlegungen IX, GA 95, S. 213.


62 G. Genette, Discours du récit, S. 230.
63 Abschied, GA 73.1, S. 778.
64 In seinem Buch Infanzia e storia (1977) erörtert Giorgio Agamben die
Zeitlichkeit einer imaginären Gesellschaft, deren Alltag ausschließlich auf
­Riten basiert. Dort sei der Verzug zwischen Vergangenheit und Gegenwart
völlig aufgehoben zugunsten einer unbedingten Synchronie: »In una tale so­
cietà, in cui l’intervallo diacronico fra passato e presente sarebbe totalmente
colmato, gli uomini vivrebbero in un eterno presente, cioè in quell’eternità
immobile che molte religioni assegnano appunto come dimora agli dei«
(S.  81). Es ist übrigens derselbe Heidegger, der von einer »σύστασις von Sein
und Wahrheit« spricht, die irgendwie an jene rituelle Synchronie erinnert
und die dem Dasein, mit seiner ek‑statischen Zeitlichkeit und als »durch und
durch geschichtlich einmalig einzig« (Das Da-sein, GA 73.1, S. 299) völlig
fremd bleiben sollte. Es stellt sich nun die Frage, ob in der letzten Episode
der Seinsgeschichte – die sich sogar nach dem »Vorbeigang des letzten Got­
tes« situiert und schon außerhalb der erzählten Geschichte bzw. an ihrem
Beginn stattfindet – auch die gesamte Geschichtlichkeit aufgehoben sei. Eine
3.2 Vollendung im Kreislauf 113

In der Zeitlichkeit der ineinander kreseinden Anfänge überholt


der frühere den späteren und kehrt in sich selbst zurück. Im Zirkel
dieser Bewegung löst sich der lineare Entwicklungsgang einer chro­
nologisch-historischen Zeitrechnung auf, die als »Fortgang aus dem
ersten Anfang«65 den Menschen aus dem Bereich der Wahrheit in
einen vernunftorientierten Fort‑schritt durch zweieinhalb Jahrtau­
sende hinweggerissen hatte, und eine mythische Zeit bricht ein, in
der das Geschehen schon immer Erzählung ist.
Der Übergang von der »Historie« zur »Geschichte« deckt sich
hier mit jener »Überwindung der Metaphysik«, die Heidegger an­
fangs der 40er Jahre in eine »Verwindung« umdeutete, die zu ihrem
eigenen Ursprung hinübergeht, indem sie zu dem einzig Anderen
von sich selbst wiederkehrt:

»Was aber ist die Verwindung? Sie ist einmal die Einwindung
in das Gewinde (den Kranz) des Ereignisses, so daß das Seyn
und seine Kehre rein im Ereignis west. Damit ist die Verwin­
dung dann das Kreisenlassen im Ereignis, worin eine Beständi­
gung waltet, die selbst aus dem Ereignis bestimmt bleibt.«66

Mit dem Bruch der Linearität windet sich die Zeit in ein Gewinde
ein, das wie ein Karussell die gesamte Seinsgeschichte um die Achse
ihrer Anfänge wirbeln lässt. Für das »Kreisenlassen« dieses Ereig­
nisses sucht sich Heidegger ein »Gewind des Kranzes nicht der
Schraube«67 aus, das auch tatsächlich jede fortschreitende Bewe­
gung, einschließlich der spiralenförmigen, aufgibt. Dadurch wird
der zweite Anfang zu einer Ritualisierung des ersten in der kehri­
gen Wieder‑holung eines Mythos, wo die Zeit außer sich zu geraten
und sogleich aufzuhören scheint. Wie Mircea Eliade in Bezug auf
die Riten zum Jahreswechsel in myhtischen Kulturen belegt, »il ne
s’agit pas seulement d’une fête qui vient insérer dans la durée profane

mythische Zeit würde dann eintreten, die im rituellen Fest der »Rück‑kehr«
die »Inständigkeit« in einer Wahrheit erreichte, in der auch das Dasein seine
»Ek‑sistenz« für eine Kon‑sistenz in der »Systasis« aufgeben müsste. Vgl.
dazu Vorgehen – »Entwurf«, GA 73.1, S. 518: »Hier in der σύστασις so­
gleich die Kehre des Daseins notwendig mit dem ersten Sprung des Ganzen!«
65 Die Ἀλήθεια und die Wahr-heit, GA 73.1, S. 65.
66 GA 71, S. 141.
67 GA 71, S. 135.
114 3. Im Zeitgewinde

›l’instant éternel‹ du temps sacré ; ce à quoi l’on vise, en outre, c’est,


comme il a été dit, à l’annulation du temps profane tout entier«.68
Indem die Seinsgeschichte den Bereich der Metaphysik verlässt
und die Feier ihres Beginns begeht, verabschiedet sie sich dann auch
von jeglichem zeitlichen Verlauf und tritt in die mythische Dimen­
sion eines Ewigen ohne Ewigkeit69 ein, das sein Zurückkehrendes
ausschließlich aus seiner Einmaligkeit schöpft. Dieses Einmalige
aber, das als Mythos des Anfangs sich vor aller Zeit zugetragen habe,
droht in der Einzigkeit seines wiederkehrenden Geschehnisses auch
den ganzen Gang der Geschichte plötzlich lahm zu legen. Denn
mit jenem Wunsch nach Neubeginn in einer mythischen Zeit, kann
man noch bei Eliade lesen, ist auch »le désir paradoxal d’arriver à
inaugurer une existence anhistorique, c’est-à-dire de pouvoir vivre
exclusivement dans un temps sacré«70.
Jenseits aller Chronologie und des ins Unendliche fortschreiten­
den Kurses einer in die ödeste Verwüstung sich versteigenden Ver­

68 Mircea Eliade, Traité d’histoire des religions (1949), S. 343. Die Zeitlich­
keit des Ritus darf aber hier nicht als die einer Iteration gefasst werden, die
Heidegger ohnehin zurückweisen würde: »Die ›Wiederholung‹ (Iteration)
des Gleichen ist grundverschieden von der Rückgewinnung des Verhältnisses
zu dem Selben der Wieder-Holung« (Die Geschichte des Seyns, GA 69, S. 22).
Der Ritus gründet jedesmal die Zeit in einem Anfang neu, der außerhalb der
profanen Zeit überzeitlich und ein für allemal geschieht. In dieser Hinsicht
interpretiere ich die »Wieder-Holung« als die einmalige und einzigartige
Versetzung des Geschehnisses des »ersten Anfangs« in die überhistorische
Zeitlichkeit der Seinsgeschichte.
69 Siehe GA 65, S. 371: »Das Ewige ist nicht das Fort-währende, sondern
jenes, was im Augenblick sich entziehen kann, um einstmals wiederzukeh­
ren. Was wiederkehren kann, nicht als das Gleiche, sondern als das aufs neue
Verwandelnde, Eine-Einzige, das Seyn«. Es ist kontrovers, bei Heidegger von
Ewigkeit zu reden, wenn er sich ständig gegen eine endlose Beständigkeit des
Seienden stemmt. Dementsprechend bezeichnet er an mancher Stelle auch
das Ewige als »die Ausflucht jener, die mit der Zeit nicht fertig werden – d. h.
sie niemals begreifen« (Überlegungen VI, GA 94, S. 478). Es gibt aber genü­
gende Anzeichen dafür, dass Heidegger im Begriff der »Augenblicklichkeit«
(u. a. GA 65, S. 75) an eine andere Ewigkeit dachte, die er nicht extensiv son­
dern intensiv als Endlichkeit des »Einstigen« verstand. Demzufolge kann er
noch beschreiben, wie im Verborgenen »die Augenblicke des Seyns zueinan­
der sich kehren und der ›Ewigkeit‹ erst ihre Zeit schaffen« (GA 66, S. 59) oder
wie »das wahrhaft Augenblickliche, das nicht flüchtig, sondern die Ewigkeit
eröffnend« (GA 65, S.121), eine Zeitlichkeit meint, die das Endliche in seiner
Einmaligkeit verewigt.
70 M. Eliade, ebd.
3.3 Endliche Geschichte 115

endung legt dann die Seinsgeschichte an einem zweifelhaften Anfang


an, der in allem eher einem Ende gleicht und im »Kreisenlassen« sei­
nes Beginns jeden möglichen Horizont eines künftigen Geschehens
in sich verschließt.

3.3 Endliche Geschichte

»Und man muß doch mit dieser ›Geschichte‹ irgendwie


fertig werden und kann sich darum nicht drücken!«
GA 73.1, S. 120

Als die Seinsgeschichte in einem Neubeginn ihr narratives Ende fand,


mündete sie in eine kreisförmige »Eschatologie«71, die als »Λόγος«
eines doppelten »Ἒσχατον« die zwei Pole ihrer Geschichte in einer
»Rück‑kehr« aneinander band. Heidegger kam Ende der 40er Jahre
zu dieser eschatologischen Auffassung seiner Narration, die das grie­
chische Verb λέγειν mit den Bedeutungen von Sagen, Denken und
Sammeln überlädt und im Begriff des Eschaton den Anfang als to­
pologisches Ende72 versteht. Hier verwandelt sich die Rede von den
zwei Anfängen in die von einem verdoppelten Ende, das die Narra­
tion in einer zweifachen Endlichkeit zusammenschließt.
Dementsprechend wird nun als »Eschatologie des Seyns« die
Seinsgeschichte zur denkerischen »Versammlung« von zwei »Es­
chata«, die jene äußersten Endpunkte der Narration darstellen – die
zwei »Letzen«, wie sie Heidegger auch nennt: »das Einst, dem die
Frühe entwacht, und das Einst, dem die Späte zugeht.«73 Im Augen­
blick der Kehre, in dem das Spätere sein Früheres wieder einholt,
klingen nun Gewesenes und Kommendes wie das selbe »Einst« ei­
ner Erzählung zusammen, die als endliche Geschichte von Anfang
an schon zu Ende ist:

71 Siehe Anmerkungen III, GA 97, S. 290: »Die Eschatologie des Seyns er­
eignet sich als die Jähe der Kehr«.
72 Siehe Der Unter‑Schied, GA 73.2, S. 1179: »Auf die Philosophie folgt die
Eschatologie (aber nicht im Nacheinander). Diese ist die Topologie des Seins
des Seienden. Der Topos ist das Esχaton –«.
73 Anmerkungen I, GA 97, S. 293.
116 3. Im Zeitgewinde

»Wie aber, wenn das Frühe alles Späte, wenn gar das Früheste
das Späteste noch und am weitesten überholte? Das Einst der
Frühe des Geschicks käme dann als das Einst zur Letze (ἒσχατον),
d. h. zum Abschied des bislang verhüllten Geschicks des Seins.
Das Sein des Seienden versammelt sich (λέγεσθαι , λόγος) in die
Letze seines Geschickes. Das bisherige Wesen des Seins geht in
seine noch verhüllte Wahrheit unter. Die Geschichte des Seins
versammelt sich in diesen Abschied. Die Versammlung in diesen
Abschied als die Versammlung (λόγος) des Äußersten (ἒσχατον)
seines bisherigen Wesens ist die Eschatologie des Seins. Das Sein
selbst ist als geschickliches in sich eschatologisch.«74

Die Geschichte des Anfangs ist zugleich eine Geschichte des Ab­
schieds. Während der erste Anfang die ihm folgende Geschichte der
Seinsvergessenheit überholt und in einen neuen Anfang übergeht,
holt dieser zweite ihren früheren ein und verabschiedet den gesam­
ten Ablauf in eine Eschatologie »des verhüllten Geschicks des Seins«,
wo das Erste nur als Letztes kommt. Dabei drückt sich das innerste
Gesetz dieser Geschichte als ein Abschiednehmen aus, in dem das
Ende zwar als Versprechen eines Anfangs gilt, doch der Anfang als
die unübertretbare Schwelle eines narrativen Endes ansteht.
Es ist in der Tat ein langer Weg, der den ersten Gedanken eines
anderen Anfangs in den früheren 30er Jahren, zur Zeit einer er­
hofften nationalsozialistischen Revolution, vom Entwurf dieser Es­
chatologie am Ende der 40er nach dem katastrophalen Niedergang
Deutschlands trennt, wo von der Erwartung jenes zweiten deut­
schen Anfangs keine Spur mehr bleibt. Was sich aber im Laufe eines
Jahrzehnts relativ früh festsetzte und bis in die spätesten Entwick­
lungen der Seinsgeschichte erhalten blieb, war die Beschwörung ei­
nes tragischen Untergangs, in den Heidegger erstens das europäische
Denken und zuletzt den gesamten Planeten mit hineinreißen wollte.
Die Not des Untergangs, als die eines eschatologischen Abschieds
von allem Bisherigen, breitet sich im letzten Abschnitt der Narra­
tion zu einer Apokalyptik75 von Umwälzungen und Zerstörungen
aus, die den Scheidepunkt verzeichnen, an dem die Seinsgeschichte

74 Der Spruch des Anaximander (1946), GA 5, S. 327.


75 In seinem Buch Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwö‑
rung spricht Peter Trawny auch von einer »apokalyptischen Reduktion der
Geschichte« (S. 101).
3.3 Endliche Geschichte 117

entweder »in seine noch unverhüllte Wahrheit« untergeht, um von


daher in ihren neuen Anfang aufgehen zu können, oder für immer in
die endlose »Verwüstung«76 einer unaufhörlichen Agonie herabsinkt.
Der Untergang wird zum Knoten des gesamten Geschehens und
entfaltet sich zu einer Fülle von Endszenarien, die von der Selbstver­
nichtung Europas bis zur Sprengung der Erdkugel reichen. Neben
dem klagenden Blick auf die historischen Ereignisse seiner aktuellen
Gegenwart lässt sich nun Heidegger auf Zukunftsvisionen ein, die
sogar weit über den Bereich des Prophetischen hinausgehen und sich
in die »Augenblicke« einer kosmischen Geschichte hineinwagen, »in
denen Sterne aufeinanderstürzen und Welten verglühen«,77 oder bis
in das »automatische Zeitalter nach dem III. Weltkrieg«78 voraus­
schauen, in dem die Maschinen dem Menschen jede Entscheidung
abnehmen werden.
Der Gedanke des Untergangs spielte hierbei eine so relevante
Rolle wie der Begriff des Anfangs selbst, sodass es schließlich un­
möglich ist, sich den einen ohne den anderen vorzustellen: »Der
Untergang ist der aufgehende Beginn des Anfangs«,79 vermerkte
Heidegger in einem Manuskript aus den 40er Jahren und beschrieb
dadurch eine unlösbare Verkoppelung, in der sich das Grundgefüge
der Seinsgeschichte offenbart.
Im Hintergrund dieser Struktur steht neben dem zentralen Platz,
den Hölderlins Dichtung in der Auffassung der abendländischen
Fabel erhielt, auch die Kontroverse mit dem Werk von Oswald
Spengler Der Untergang des Abendlandes. So kann man schon in
den Schriften der 30er Jahre Heideggers Bemühung beobachten, das
Schicksal des Abendlandes in Bezug auf einen Unter- und Aufgang
zu definieren, der zur von Spengler vertretenen These eines zykli­
schen Verlöschens der großen Zivilisationen einen Gegensatz dar­
stellt:

»Untergang des Abendlandes? – Warum hat Spengler unrecht?


Nicht weil die heroischen Optimisten recht behalten, sondern
weil diese die Neuzeit auf eine Ewigkeit einrichten und dies Zeit­
alter der völligen Fraglosigkeit zu dem Dauerzustand schlecht­

76 Siehe u. a. Überlegungen XII, GA 96, S. 15.


77 Überlegungen IX, GA 95, S. 230.
78 Gestell und Dampfmaschine, GA 76, S. 368.
79 Das Wesen der Philosophie, GA 73.1, S. 681.
118 3. Im Zeitgewinde

hin erheben wollen. Wenn es dahin kommt und solange es dabei


bleibt, ist in der Tat ein Untergang nicht zu ›befürchten‹; denn
die Wesensvoraussetzung für einen geschichtlichen Untergang
ist die Größe – geschichtliche Größe aber ist nur dort möglich,
wo die Fragwürdigkeit des Seyns in einer wesentlichen Gestalt
der Grund der Geschichte ist. Das Abendland wird vorerst nicht
untergehen, weil es dazu zu schwach, nicht etwa weil es noch
stark ist.«80

Ganz abgesehen davon, was Spengler und Heidegger unter »Abend­


land« verstanden, geht es hier in erster Linie um den Begriff eines
Untergehens, das eben kein Verlöschen, sondern einen Übergang
darstellen soll. Es war schon die Lehre von Nietzsches Zarathu‑
stra, die in einem viel zu ähnlichen narrativen Gebilde den Men­
schen auf seinem Weg zum Übermenschen als »ein Ü b e r g a n g und
ein U n t e r g a n g «81 verstand und die nun die Seinsgeschichte ganz
zu übernehmen scheint. In dieser Hinsicht verlangt der Untergang
eine schöpferische Kraft des Aufhörens und des Neu‑Anfangens,
eine »geschichtliche Größe«, die mit dem Alten bricht und sich dem
Neuen zuwendet, genauso wie Zarathustra in seiner Rede Von alten
und neuen Tafeln gefordert hatte: »Die Untergehenden liebe ich mit
meiner ganzen Liebe: denn sie gehen hinüber.«82
Die historische Frage nach dem Weiterbestehen oder Fall der
euro­päischen Zivilisation wird dann unter solchen Voraussetzun­
gen in diejenige umgewandelt, ob das Abendland schon längst in
einem ereignislosen »Dauerzustand« versackt sei, aus dem gar kein
»Grundgeschehnis«83 mehr möglich werde oder ob es doch noch
jene »Größe« für eine »Sprengung des Bisherigen als Aufreißen der
höchsten Not und Entbrennung der Leiden-schaft«84 besitze. Der
Untergang drängt sich zum tragischen Pathos einer heraufbeschwo­
renen Katastrophe, die vor keinem Gräuel zurückschreckt: »Das
Er‑eignis selbst steht auf Sturm. – Gewalt – Bändigung und Brechen
und Untergang sind die Zeichen des Seyns.«85

80 GA 94, S. 484.
81 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I (1883), KSA 4, S. 17.
82 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III (1884), KSA 4, S. 251.
83 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 172.
84 Vorgehen – »Entwurf«, GA 73.1, S. 562 (Mai 1935).
85 Überlegungen VI, GA 94, S. 429.
3.3 Endliche Geschichte 119

Weit weg vom pseudo‑wissenschaftlichen Ton, in dem Spengler


seine »Morphologie der Weltgeschichte«86 entwarf, schildert Heid­
egger mit allen rhetorischen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen,
einen gigantischen Zusammenbruch des metaphysischen Denkens
und dadurch der gesamten heutigen Menschheit. In diesem kata­
stro­phalen Abgang sucht er vergeblich nach jenen Helden der Seins­
geschichte, die als »Meister des Untergangs«87 mit dem Rest der Mo­
derne fertig werden könnten.
Dass die Deutschen des Nationalsozialismus nie dazu imstande
gewesen wären, diese seinsgeschichtliche Rolle zu übernehmen und
die heroischen »Untergehenden«88 zu werden, wurde mit dem Ver­
lauf des zweiten Weltkrieges auch Heidegger immer klarer. Daher
versuchte er schon Ende der 30er Jahre zwei alternative Szenarien
des Untergangs zu entwerfen, die ein Ende der metaphysischen
Weltverwüstung auch ohne die aktive Teilnahme seiner Zeitgenos­
sen hätten verwirklichen können.

»Dieser Untergang kann eine zweifache Gestalt haben: 1.) wer


nicht mitgeht, wird zerrieben, ohne daß er die geschichtliche
Notwendigkeit und Riesenhaftigkeit des Zeitalters je zu sehen be­
kommt, 2.) wer in der Drehung nicht mitgeht – für sie nicht ›trag­
bar‹ ist, wird durch die Drehung in Räume hinausgeschleudert, die
durch diesen Wurf allererst sich öffnen und eine ganz andere Fü­
gung des Menschenwesens fordern, deren Not innerhalb des Wir­
bels der Drehung nie erfahren und nie begriffen werden kann.«89

Die Notwendigkeit eines Endes der Moderne ist die narrative Not­
wendigkeit eines Übergangs in die schon vorgezeichnete Geschichte
des Seins, die selbst dann nicht haltmacht, wenn alle historischen
Ereignisse gegen sie sprechen. In einem gewaltigen Zusammenstoß
zwischen historischem und narrativem Geschehen macht die Seins­
geschichte auch mit demjenigen weiter, der »nicht mitgeht« oder gar
nicht mitkommen kann.

86 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Band I (1918), S. 7.


Der Begriff einer Wissenschaft als Morphologie wurde erstmals von Goethe
im Bereich des Pflanzlichen aufgefasst und u. a. auch von Vladimir Propp in
seine Morphologie des Märchens aufgenommen.
87 Siehe Überlegungen VI, GA 94, S. 480 f.
88 Überlegungen IV, GA 94, S. 300.
89 Überlegungen XI, GA 95, 365.
120 3. Im Zeitgewinde

So klafft in der weltgeschichtlichen Katastrophe der europäischen


Totalitarismen ein Untergang auf, der alle mit sich reißt: Seien es
diejenigen, die in der katastrophalen Steigerung der Technik zur
»Riesenhaftigkeit« einer totalen Weltbeherrschung gar keine Gefahr
wahrnehmen und sich dem Zeitalter voll und ganz angleichen, seien
es diejenigen, die sich mit aller Kraft gegen ein tragisches Zugrun­
degehen wehren und den weiteren Fortbestand der europäischen
Kultur erstreben.
Die Seinsgeschichte kommt hier zu einem unaufhaltbaren Dre­
hen, das alles Gegenwärtige in sich zermalmt und den Menschen in
noch ungeschriebene Kapitel einer Narration hinausschleudert, die
sich nur noch mit der Dramatik eines apokalyptischen Harmage­
don90 vergleichen lässt. Im historischen Szenario des zweiten Welt­
kriegs breitet sich die Geschichte des Abendlandes zu einem planeta­
rischen Untergang aus, der erst die Fläche des gesamten »Erdballs«91
umschließt und dann sprengt, um zuletzt in die Tiefen des Weltalls
katapultiert zu werden. Dort zeichnet Heidegger eine »Konstella‑
tion des Vorbeigangs«, in der drei Gestirne ihre Bahnen durchlaufen:

»Der Vorbeigang
des Unsterns (des Unfugs der machenschaftlichen Verendung)
und
des Vorsterns (des Untergangs in die Anfängnis des Fugs im Er­
eignis)
erfahren auf
dem Irrstern der Erde, die zwischen der planetarischen Verwüs­
tung und der Verbergung des Anfangs irrend
das Inzwischen trägt, das der Abgrund ist.«92

90 Harmagedon ist in der Offenbarung des Johannes (Kapitel 16, Vers 16)
der Ort der Endschlacht gegen die bösen Mächte der Welt.
91 Siehe GA 71, S. 101 f.: »Sobald die letzten Hemmungen vor der Verwüs­
tung überwunden und ›Zerstörungen‹ nur als befehlsmäßige Durchgänge
erkannt sind, ergibt sich für das ordnungswillige Menschentum die Chance
einer völligen Verrechnung des Erdballs auf seine ›Güter‹ und ›Werte‹ bis zu
jener Aussicht, ein ›Potential‹ von Kräften aufzuspeichern, das hinreichen
kann, im notlosesten Zeitpunkt des Zeitalters der völligen Notlosigkeit den
Erdball mitsamt seiner Luft einer Sprengladung auszuliefern. Dieses Zer­
sprengen des Erdballs durch das animal rationale wird der letzte Akt der
Neuordnung sein.«
92 GA 71, S. 85.
3.3 Endliche Geschichte 121

In dieser astralen Topographie blitzt die Erdkugel als der Irrstern auf,
der, außerhalb seiner geschichtlichen Umlaufbahn, sich nun in den
dunklen Tiefen der Unwahrheit verlaufen hat. Dort treffen der Un­
stern »der machenschaftlichen Verendung« und der Vorstern »des
Untergangs in die Anfängnis« in einem »Inzwischen« aufeinander,
das ohne Zusammenprall von beiden die Entscheidung zwischen
einem neuen Anfang und einer endlosen Verwüstung als einen kos­
mischen »Vorbeigang« geschehen lässt.
So ereignen sich gleichzeitig im Kreisen der Gestirne alle Mög­
lichkeiten dieser Narration. Sie fügen sich in eine metanarrative
Konstellation zusammen, in der »zwei Geschichtsgänge aneinan­
der vorbeigehen«.93 Dieses Kreuzen der planetarischen Bahnen ge­
schieht schon als »Abgrund« eines Augenblicks, in dem das Schick­
sal die eine Geschichte verabschiedet und in die andere untergeht.
In solchem phantastischen Szenario, in dem »sich die Erde selbst in
die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet«, sieht
dann Heidegger »die erste Reinigung des Seins von seiner tiefsten
Verunstaltung«94 und scheint von nun an den weiteren Verlauf seiner
Geschichte auf einen ganz anderen Planeten versetzen zu wollen:
»Das Denken hat sich für die nächsten drei Jahrhunderte auf einem
anderen Stern heimisch gemacht«95.
Wir sind nicht mehr weit von einem Zukunftsroman entfernt, in
dem der Erzähler sich wünscht: »Nur auf einen Stern zugehen, und
sonst nichts«96 – damit er den Traum einer ekstatischen Vereinigung
mit dem Sein erfülle: »Allein dem Seyn, / Ihm gern ein Stern.«97 Es
sind Worte der Liebe, gebrochene Verse eines intimen Gesprächs,98
die mit einem Denken kaum noch etwas zu tun haben können. Selbst
die denkerische Tätigkeit von Heidegger, der seinen Status als Den­
ker nur noch als Figur der eigenen Narration behält, findet hier
­einen Platz als Moment dieses Weltuntergangs-Romans:

»Der Nordost wehet – in die klare Frühe eines Sommermorgens.


Im Dämmer zwischen Nacht und Tag steht die geeinzelte Tanne

93 GA 71, S. 84.
94 Überlegungen XIV, GA 96, S. 238.
95 Anmerkungen II, GA 97, S. 108.
96 Anmerkungen I, GA 97, S. 30.
97 Ebd., S. 70.
98 Über Heideggers Erotik siehe Peter Trawny, Adyton: Heideggers esote‑
rische Philosophie, S. 101 ff.
122 3. Im Zeitgewinde

auf dem Hämmerle-Kamm. Der Morgenstern übersteigt golden


den Stübenwasen und grüßt den vollen Mond, der über das Horn
nach dem Westen wandert. Die Anmerkungen zu ›Andenken‹
sind vollendet. Auf dieser Erde, die zum Irrstern geworden, wü­
tet der Krieg.«99

Zwischen den Gestirnen dieser kosmischen Erzählung, als der »Mor­


genstern« die Kurve des Vollmonds schneidet, bringt der Denker des
Seins auf dem verwüsteten Irrstern Erde ein Werk zu Ende. Die
Anfertigung einer philosophischen Schrift, der Auslegung der höl­
derlinschen Hymne »Andenken«, geschieht rein narrativ und wird
als einsame Tat in der frühmorgendlichen Landschaft des Schwarz­
waldes inszeniert.
Heidegger selbst ist hier nichts anderes als der fiktive Charak­
ter, der auf seiner einsamen Hütte im Gebirge mit einer geheimen
Verantwortung für das »Handwerk des Denkens«100 beladen wird,
»wenn die Gedanken Alles in Eins denken, was jetzt auf diesem
Irrstern, den sie ›Erde‹ nennen, ist«.101 Denker sein heißt dann als
Erzähler eines Geschehens zu gelten, das ist, war und sein wird, nur
indem es sich in einem narrativen Wort verdichtet. Bis sich zuletzt
das Denken selbst von jeglicher menschlichen Gestalt loslöst und
wie eine mythische Figur der Antike seinen Platz zwischen den
Himmelskörpern bezieht:

»Wie die ferne, in ihrem Anfang und im Ende verborgene, jäh


verlöschende Bahn des kühnen Scheins einer kühl leuchtenden
Sternschnuppe am klaren Nachthimmel, also vergeht das Denken
des Seyns im Seyn selber und gehört einstig in sein unscheinbares
Licht als kaum geahnte Spur.«102

Selber kein Fixstern, durchstreift nun »das Denken des Seyns« als
flüchtige »Sternschnuppe« die Handlung seiner eigenen Geschichte
und verschwindet in die unauslotbaren Abgründe einer Narration,

99 Anmerkungen I, GA 97, S. 17.


100 Siehe ebd., S. 80: »… die Frage, ob meine Arbeit im Handwerk des Den­
kens für die Rettung unseres eigenen Wesens noch gebraucht sein will oder
nicht.«
101 Ebd., S. 16.
102 Ebd., S. 93.
3.3 Endliche Geschichte 123

die noch Anfang und Ende sucht. Es ist die Seinsgeschichte, die »als
kaum geahnte Spur« nur im blitzenden Vorbeigang sich erfassen lässt
und wie die »verlöschende Bahn« eines Kometen ihre Endlichkeit
am Himmel verzeichnet. Und wie jede Geschichte, die man erzäh­
len kann, »vergeht« letztlich auch die Erzählung des Seins und ist
mit jenem Ereignis dann endgültig vorbei, das nur in einer vergäng­
lichen »Einmaligkeit« seine »Einzigkeit« erreicht.103 So bewies auch
der andere Anfang, indem er in den ersten untergeht, die Endlichkeit
eines Geschehens, das etwas anfängt, nur insofern es das zu errei­
chende Ende erzählt.
Nun stellt aber dieses Ende nicht bloß das Aufhören einer Ge­
schichte dar, sondern den Endpunkt jener »Letze« eines Eschaton,
das tatsächlich aus der Endlichkeit der erzählten Welt den faktischen
Beginn einer Welt der Erzählung vollbringt. Wie der »letzte Gott«,
der ein Anfang ist, nur indem er als Letztes kommt, ist die Erzäh­
lung der Seinsgeschichte vom ersten Auf‑gang der Wahrheit bis zum
letzten Unter‑gang »in den Abschied«104 nur als Gang ihres Verge­
hens ganz da, in jenem Kommen und Gehen der Götter, die genau
mit ihrem letzten eine Erzählung anfingen:

»Der letzte Gott ist nicht das Ende, sondern der andere Anfang
unermeßlicher Möglichkeiten unserer Geschichte. Um seinetwil­
len darf die bisherige Geschichte nicht verenden, sondern muß
zu ihrem Ende gebracht werden.«105

Mit dem spätesten aller Götter,106 der für diese Geschichte von An­
fang an schon zu spät kommt und der eigentlich an jeglichem Ge­
schehen schon immer vorbeigeht, wird die Geschichte des Seins zur

103 Siehe oben, § 3.2.


104 Siehe GA 70, S. 25: »Das Ereignis des Anfangs ist der Untergang in den
Abschied.«
105 GA 65, S. 411. Diese Passage aus den Beiträgen zur Philosophie ist mit
einigen winzigen Unterschieden auch in einem Schwarzen Heft zu finden
(Siehe Überlegungen V, GA 94, S. 314).
106 Hierbei sei zu beachten: Der letzte Gott ist der letzte, weil er zuletzt
kommt, und nicht weil er der endgültige Gott ist. Es gibt hier auch nichts,
das auf eine Hegemonie dieses Gottes hindeuten soll. Er ist bloß der am
spätesten Angekommene, aber er steht nicht als Einziger da. Es scheint mir
den meisten Interpreten entgangen zu sein, dass er in einer Welt von Göttern
auftritt, wo jede Art von Monotheismus – auch eines zeitlich begrenzten, der
jedem Gott sein eigenes Zeitalter zuspräche – vollkommen fehl am Platze ist.
124 3. Im Zeitgewinde

Erzählung jenes Endes, das den paradoxen Namen eines Anfangs


trägt. Als Verheißung »unermeßlicher Möglichkeiten« ist dieses an­
fangende Ende das Geschenk einer Narrativität, die genau aus ihrer
Endlichkeit die größte aller Kräfte schöpft. Denn es ist hier ausge­
rechnet das Ende, das die Geschichte nicht »verenden« lässt und sie
zu all dem in ihr noch Unvollbrachten zu eröffnen verspricht.
Im stillen Finale eines sich nie ereigneten Vorbeigangs ist dann
der letzte Gott »der anfänglich nie Wirkende«107 und »niemals ein
Seiendes«108, ein rein narrativer Gott also, der nie etwas erschaffen
hat und sich auch niemals offenbaren wird. Für jenen einzigen
Augen­blick, in dem er genannt wird, schwindet er schon mit dem
Gebot vorüber, dass er auch der allerletzte sei – die unausschöpf­
bare Vergänglichkeit jeder Narration verkörpernd, die immer an
dem Punkt endet, an dem sie in die Welt der Leser übergeht, um
von dort her wieder anfangen zu können.109
So lässt die Stille dieses Ganges, der nicht mal gedacht, sondern
nur erzählt werden kann, eine Abwesenheit noch tiefer spüren als
jede aufgedrängte Präsenz. Es ist die Kraft der Erzählung, die in
ihrer ursprünglichen Endlichkeit die Zeit des Handelns mit einem
Unerfüllten ergänzt, das für Heidegger mehr Wahrheit enthält als
alle Tatsachen der Welt.

107 GA 71, S. 230.


108 GA 66, S. 235.
109 So beschreibt Paul Ricœur in Temps et récit III, S. 262 f., den Einschitt der
Zeit der Erzählung in die Zeit des Lesers: »Celle-ci apparaît tour à tour come
une interruption dans le cours de l’action et comme une relance vers l’action.
[…] En tant que le lecteur soumet ses attentes à celles que le texte développe,
il s’irréalise lui-même à la mesure de l’irréalité du monde fictif vers lequel
il émigre ; la lecture devient alors un lieu lui-même irréel où la réflexion fait
une pause. En revanche, en tant que le lecteur incorpore – consciemment ou
inconsciemment, peu importe – les enseignements de ses lectures à sa vision
du monde, afin d’en augmenter la lisibilité préalable, la lecture est pour lui
autre chose qu’un lieu où il s’arrête ; elle est un milieu qu’il traverse. […]
Cette unité fragile peut s’exprimer dans le paradoxe suivant : plus le lecteure
s’irréalise dans la lecture, plus profonde et plus lointaine sera l’influence de
l’œuvre sur la réalité sociale.«
4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

4.1 Der metapolitische Kampf

Ob fiktiv, real oder »seynsgeschichtlich« scheint die Handlung die­


ser Narration in einer Art von Ereignissen zu bestehen, die eigent­
lich gar nicht geschehen oder zumindest nicht zu geschehen brau­
chen. Und tatsächlich stellt sich das Geschehen dieser Geschichte
gegenüber allen Vorkommnissen der Welt so dar, als ob es sie uner­
bittlich verachten und sich von ihnen absetzen würde. Dennoch be­
hält Heideggers Geschichtsdenken einen starken Ereignischarakter,
nach dem die »Wahrheit des Seyns« selbst als das »Grundgescheh­
nis« einer Geschichte gilt, die allein im Erzählen ihres unerreich­
baren Anfangs auch wirklich anfangen kann.
Dass aber Geschichte ein Geschehnis oder sogar das Gescheh­
nis sei, muss nicht bedeuten, dass jedes Geschehen unmittelbar zur
Geschichte zähle. In seiner Freiburger Vorlesung aus dem Sommer­
semester 1934, gerade als er das Amt des Rektorats – weil enttäuscht
von der Unmöglichkeit einer geschichtlichen Umwandlung – nie­
dergelegt hatte, brachte Heidegger eine »Zweideutigkeit«1 der Ge­
schichte zu Wort, in der das »Geschehen als solches ungeschichtlich
und zugleich auch gelegentlich geschichtlich« erscheint. Und damit
meinte er nicht jene gewöhnliche Unterscheidung von Denken und
Tat, die etwa eine Denkgeschichte der abendländischen Philosophie
von einer Weltgeschichte der historischen Ereignisse trennen sollte,
sondern eine heimliche Unterscheidung, die innerhalb jedes belie­
bigen Geschehens, sei es eine Denktat oder eine politische Hand­
lung, fallen soll.
Daraus entstand eine Geschichte der »Ungeschichte«,2 die neben
der »eigentlichen Geschichte« her verlief und sich gegen diese auf­

1 Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, S. 99.
2 Ebd.
126 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

lehnte. Heidegger bezeichnete die Macht dieses Ungeschichtlichen


als »Unwesen«3 und verlieh ihm die sonderbare »Eigenschaft, daß
es das Wesen nicht aufkommen läßt, daß es aber selbst den Schein
eines Wesens aufzurichten versucht«. In einem Kampf zwischen
Wesen und Unwesen traten dann plötzlich zwei unterschiedliche
Narra­tionen auf, die um den Adressaten der Seinsgeschichte rangen.
Nach dem Scheitern des politischen Projekts einer »Selbst­
behauptung der deutschen Universität« und mit einer kaum ver­
deckten Anspielung auf seine Enttäuschung über das Nazi-Regime
konnte Heidegger seine Studenten ermahnen, wie »auch wahre
Führung«4 leicht in eine bloße »Verführung« umschlagen kann. Hier
verflochten sich die Fäden der Denkgeschichte so tief mit denen
des historischen Geschehens, dass selbst im Politischen nicht mehr
zwischen einer Handlung des Menschen und einer des Seins zu un­
terscheiden war. Zugleich aber musste gerade darum eine viel we­
sentlichere Unterscheidung schon in dieselbe Reihe von Ereignissen
fallen, sodass die eine Begebenheit als »geschichtlich« und die andere
als »ungeschichtlich«5 betrachtet werden sollte.
Was man als Philosophisierung der Politik oder als Politisie‑
rung der Philosophie bezeichnen könnte und in den Schwarzen
Heften »Metapolitik ›des‹ geschichtlichen Volkes«6 genannt wird,
erstrebte Heidegger selbst in voller Klarheit als »Das Ende der
›Philosophie‹«.7 Wir befinden uns hier auf einer Metaebene des
Erzählens, wo die geschichtliche Fiktion in die Wirklichkeit des
menschlichen Handelns einschneidet und – in der völligen Rever­
sibilität der Verhältnisse – das historische Geschehen selbst in die
Fiktion eintritt. »Metapolitik« wird dann weder eine Ausuferung
der Politik ins Philosophische besagen, noch eine Umsetzung der
Philosophie ins Politische, sondern eher die narrative Überschrei­
tung beider in ein Narrativ, das selbst die wirksamste politische Tat
als Akt einer denkerischen Erzählung vollzieht, wo Dinge nur ge­
schehen, weil sie erzählt w­ erden.
Als »Metapolitik ›des‹ geschichtlichen Volkes« ging es aber vor
allem um die Erzählbarkeit der Deutschen, die als Adressaten des

3 Ebd., S. 117.
4 Ebd.
5 Ebd., S. 99.
6 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 124.
7 Ebd., S. 115.
4.1 Der metapolitische Kampf 127

Heideggerschen Diskurses sich zu einer wahren Geschichte gegen


eine falsche »Ungeschichte« bekennen sollten. Der in Anführungs­
zeichen eingeklammerte Genitiv, wie ihn Heidegger in jenen Jahren
neu formulierte,8 besagt dann sowohl, dass das »geschichtliche« Volk
»Metapolitik« zu treiben habe (genitivus subiectivus), als auch das
Reziproke, dass es die »Metapolitik« sei, die das Volk »geschicht‑
lich« macht (genitivus obiectivus). Demzufolge entschied sich die
Geschichtlichkeit der Deutschen – d. h. ihre Zugehörigkeit zu dieser
Erzählung – allein im Vermögen, das historische Geschehen seins­
geschichtlich und also meta-politisch umzuschreiben.
In dieser Hinsicht ist dann auch der Kampf zwischen »Wesen«
und »Unwesen« in seiner vollen Tragweite als der Kampf um die
deutsche Sonderrolle in der Geschichte des Abendlandes zu ver­
stehen. Metapolitisch heißt es nun, dass die Entscheidung zwischen
»wahrer Führung« des Volkes und verhängnisvoller »Verführung«,
die während der NS-Zeit für die Deutschen fällig wurde, kein blo­
ßes Ereignis der Welt mehr darstellt, sondern den gewichtigsten Akt
in der Geschichte des Seins. Einer verwandelten Philosophie hätte
dann zustehen müssen, Stellung in einem kosmogonischen Kon­
flikt zu beziehen, in dem es um nichts anderes als um »das Wesen
des Seyns« ginge:

»Der Philosophie verschrieben steht der Denker gegen einen


Feind (das Unwesen des Seienden, das seiend sich verleugnet),
der, ohne je die Feindseligkeit aufzugeben, sich als zugehörig zu
dem erweist, dem der Denker von Grund aus der Freund sein
muß (das Wesen des Seyns). Und weil es gegen den Feind kein
Ausweichen gibt und weil die Verläßlichkeit zum Freund alles

8 Es handelt sich um den sogenannten »seynsgeschichtlichen Genitiv« (Be‑


sinnung, GA 66, S. 41 u. 322), narrative Kreuzung des genitivus subiecti­
vus mit dem obiectivus, die Heidegger als Überwindung der metaphysi­
schen Grammatik zu betrachten schien. Siehe dazu: Beiträge zur Philosophie,
GA 65, S. 428: »Die Frage nach der Wahrheit ›des‹ Seyns enthüllt sich zur
Frage nach dem Seyn ›der‹ Wahrheit. (Der Genitiv ist hier ein ureigener und
durch die bisherigen ›grammatischen‹ Genitive niemals zu fassen.)«; sowie
das späte Manuskript Ontologische Differenz, GA 73.2, S. 1429: »›Der Geni­
tiv‹ – in seiner Mehrdeutigkeit – aber die grammatischen Unterscheidungen
bleiben gerade hier verfänglich – so die Rede von genitivus subiectivus und
obiectivus.«
128 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

ist, hat der Denker eine unaustragbare, ja ihn gerade tragende


Zwiespältigkeit zur einzigen Heimat.«9

Akteur der »Metapolitik« ist also keineswegs der Politiker, sei es


auch in der Gestalt eines Führers oder Verführers, sondern ein Den‑
ker, der, wenngleich kein Philosoph mehr, noch der »Philosophie
verschrieben« bleibt. Als Name eines Schicksals, das für Heidegger
die gesamte Geschichte des Abendlandes trägt, steht »Philosophie«
für den Schauplatz des Kampfes, der sich nun als der urtümliche
zwischen dem »Unwesen des Seienden« und dem »Wesen des Seyns«
offenbart.
Ohne Umschweife werden hier die zwei Relata manichäisch10 als
»Feind« und »Freund« bestimmt und auf die zwei topologischen
Pole der Narration verteilt.11 Die Bewegung des Übergangs vom
Seienden zum Sein, in dem sich das Seinsdenken vollzieht, wird
als epischer Kampf inszeniert. Meta‑politisch verwandelt sich die
Philosophie in die Erzählung des Gefechtes der zwei Gegner. Der
Denker selbst wird zum Schlachtfeld, ist die »Zwiespältigkeit« einer
Zerrissenheit zwischen einem Feind, der als Seiendes den Menschen
umgibt und »kein Ausweichen« zulässt, und einem Freund, der als
»Seyn« in einer entrückten unerreichbaren Ferne liegt und doch die
einzige »Verläßlichkeit« gewährt.
Hierdurch wird das Denken einer Narrativierung unterzogen,
die alle bisher waltenden Begriffsverhältnisse dramatisiert und jeden
Bedeutungsträger in eine handelnde Figur verwandelt. So ist nun das

9 Überlegungen VI, GA 94, S. 474.


10 Zum »seinsgeschichtlichen Manichäismus« siehe Peter Trawny, Heidegger
und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, S. 22 f.
11 Es war Carl Schmitt, der einige Jahre zuvor (1932) das Politische auf eine
alles vorangehende »Unterscheidung von Freund und Feind« (Der Begriff
des Politischen, S. 26) zurückgeführt hatte. Dabei war der »Feind« ein Geg­
ner, den »man nicht persönlich zu hassen« brauchte (ebd., S. 29) und der
nur zur Bestimmung der eigenen politischen Identität diente. Bei Heidegger
wird andererseits die »Unterscheidung« so dermaßen verinnerlicht, dass sie
die Identität selbst als Konflikt erzeugt. Sollte sich also die Philosophie auf
ihrem Weg zur Metapolitik einem Politisierungsprozess unterziehen, würde
sie »Feind« und »Freund« nicht aus der statischen Entgegensetzung zu einem
Äußeren schöpfen, sondern vielmehr aus dem Inneren eines Selbst erzählen,
das nur in einem bipolaren Konflikt entstehen kann. Ob nun im narrativen
Raum dieser viel zu intimen Nähe das Feind / Freund-Verhältnis ganz frei
von Hass bleiben kann, wird sich bald zeigen.
4.1 Der metapolitische Kampf 129

Seiende kein Universal mehr, sondern ein Unwesen, »das seiend sich
verleugnet«, ein »Feind«, der seine Zugehörigkeit zum Sein doch
niemals zunichtemachen kann, der sie aber ständig verrät und ver­
drängt, um seine verschworene »Feindseligkeit« aufrechtzuerhalten.
Dem »Seyn« andererseits, Wesen und Sinn der Geschichte, wird die
Rolle eines geliebten »Freundes« zugeteilt, bei dem zu sein »alles ist«.
In solcher Inszenierung bleibt das Denken der Seinsfrage, wie
Heidegger in den 20er Jahren formuliert hatte, unwiederbringlich
zurück. Nach dem Sein wird nicht mehr gefragt, es wird schlicht um
es gekämpft. Metapolitisch wird dieser Kampf schon allein deshalb
sein, weil er das Denken als eine politische Narration12 inszeniert,
die sich ein Sein außerhalb aller Wirklichkeit erkämpft.
Wie die Deutschen dann sich in solche Konstellation einfügen
sollten, hing mit jener verborgenen Aufgabe, dem Geheimauftrag,
zusammen, die ihnen in diesem epischen Konflikt das Sein selbst
aufbürdete. So dass zuletzt gar keine Geschichte des Seins ohne eine
Geschichte der Deutschen zu denken war; woraus es sich auch er­
übrigte, dass es eine durch und durch deutsche Geschichte war, was
hier das Denken zu leisten hatte:

»Der denkerische Vorstoß in die Geschichte des Seyns – und nur


dieses – ist hier die Aufgabe […]. Das Wesen der Berufung des
Deutschen ist nicht nur ein bedingtes – eines unter anderen – son­
dern unbedingt in dem Sinne, daß durch die Deutschen das Wesen
des Seyns selbst erkämpft werden wird – nicht nur eine Neuge­
staltung des Seienden im Umkreis der Geschichtsfolgen der Neu­
zeit und ihres Menschentums.«13

Von der »Ungeschichte« in die »eigentliche Geschichte« hinein, vom


»Unwesen des Seienden« in das »Wesen des Seyns« – das ist als »den­
kerischer Vorstoß« die »Aufgabe«, die den Deutschen zugeteilt wird.
Der Eintritt in die Geschichte geschieht also allein auf Grund einer
»Berufung«, die das Volk zu einem außergewöhnlichen Schicksal
fordert. Dabei sind die Deutschen nicht nur für sich selber und für
ihre eigene Geschichte verantwortlich, sondern werden zu Trägern

12 Zum Thema einer Ästhetisierung der Politik bei Heidegger siehe Philippe
Lacoue-Labarthe, La Fiction du politique: Heidegger, l’art et la politique
(1988).
13 Überlegungen XI, GA 95, S. 372.
130 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

des gesamten Schicksals des Abendlandes. Ihre Verantwortung in


der Übernahme solcher »Aufgabe« ist dann eine unbedingte dem
Sein gegenüber.
Was nun diese Deutschen vor allen anderen Völkern unterschei­
det und auszeichnet, verlangt aber zugleich, dass diese Anderen –
und diesmal ohne Unterschied – sich in einem unbedingt falschen
Verhältnis zum Sein verorten. Nach demselben Gesetz, das die Deut­
schen zu ihrem Mandat berief, verzeichnete die Seinsgeschichte eine
eigentümliche Menschenkunde, die jedem Volk ein »Prinzip«14 auf­
erlegte, »durch das jedes Volk ein Volk ist« und das sein Wesen als
»seine Wesensstellung zur Geschichte und in der Geschichte« be­
stimmte. Das konnte für alle Nicht-Deutschen nur heißen, eine Stel­
lung gegen jene und außerhalb jener Geschichte beziehen zu müs­
sen, die das Wesen dieser Völker als Unwesen festsetzte.
So ging es im Endeffekt bloß darum, für oder gegen die Deut­
schen zu sein, während allein diesen die Entscheidung zufiel, eine
neue Geschichte anzufangen und die restlichen abendländischen
»Menschentümer«15 mit hineinzuziehen. Damit aber das Konstrukt
der Narration und die Auserwähltheit dieses Volkes für alle Ewig­
keit gesichert sein konnte, ohne sich je am Prüfstein des wirklichen
Geschehens zu messen, musste solch eine Entscheidung außerhalb
jeder Wirksamkeit in der unberührbaren Dimension eines Mythos
vorgestellt werden. Dementsprechend wurde langsam auch gleich­
gültig, ob die Geschichte des Seins sich in ihrem ersehnten ande­
ren Anfang noch historisch verwirklichte, wenn ihre innere Wahr­
heit allein in der Narration lag: Das Weltgeschehen konnte in der
Ungeschichte bleiben oder der »Wahrheit des Seyns« entsprechen,
­widerlegen vermochte es sie niemals.16

14 Überlegungen VII, GA 95, S. 11.


15 Vgl. u. a. Überlegungen XV, GA 96, S. 257.
16 Ich gehe hier von einer doppelten Ebene der Narration aus, die Heidegger
gewährt, das Konstrukt der Seinsgeschichte vor jeder möglichen historischen
Widerlegung zu sichern. So griff er mit dem Anwachsen seiner Enttäuschung
für die Politik des Nationalsozialismus zu einem metanarrativen Mittel, das
die Geschichte in zwei Stränge aufteilte, die parallel verlaufen und doch an­
einander vorbeigehen. In dieser Hinsicht wurde dann »Die Konstellation des
Vorbeigangs« (GA 71, S. 84 f.; siehe auch oben, § 3.2), auf die er Anfang der
40er Jahre kam, zum letzten Notausgang der Erzählung vor dem katastro­
phalen Absturz der Deutschen im Zweiten Weltkrieg.
4.1 Der metapolitische Kampf 131

All dem diente das narrative Gerüst des Seinsdenkens als eine
vorgeschriebene Textvorlage, die den historischen Ereignissen schon
immer vorausging, ohne sie determinieren zu müssen. Gerade da­
rum war auch das Wesen der Deutschen, jenseits jeder politischen
Handlung, nun rein metapolitisch zu fassen, indem es jeder Politik
zuvorkam und, wenn nötig, an ihr vorbeiging. Das deutsche Volk
hätte sich dann zu seiner Bestimmung bekennen mögen oder nicht,
das hätte nie etwas an der Tatsache geändert, dass es das einzige unter
den Völkern war, durch das »das Wesen des Seyns selbst erkämpft
werden wird«.
Eine urtümliche und unzerreißbare Verkettung – so fiktiv, dass
man sie nie hätte lösen können – musste »das Wesen des Seyns«
an dieses Volk binden. Denn »das ›Prinzip‹ der Deutschen ist der
Kampf um ihr eigenstes Wesen«17 und wenn man nun dieses »Wesen«
als die Erkämpfung des »Wesens des Seyns selbst« versteht, ergebe
sich ein vervielfachter »Kampf um den Kampf für das Wesen«18, der
das Wesen des Seins in das Wesen der Deutschen zugleich verdoppelt
und widerspiegelt. Dazu konnte Heidegger noch behaupten, dies
sei »aber keine Übersteigerung und Verwickelung einer sich zerrei­
benden Selbstsucht, sondern die Umkehr in die stetige Einfachheit
und weitvorgreifende Ruhe der Verehrung der noch verborgenen
Bestimmung«19 – nämlich die vollzogene Identität zwischen dem
Schicksal der Deutschen und dem Geschick des Seins außerhalb
­jeder Bewahrheitung im historischen Geschehen.
In solcher irren(den) Inszenierung eines metapolitischen Kampfes
schien das Wesen der Geschichte sich immer weiter von den Eigen­
schaften eines Vorkommnisses zu entfernen, das sich in der Welt
ereignet. Es spricht aber umso mehr für die Narrativität dieser Ge­
schichtsauffassung, dass Heidegger die Seinsgeschichte keineswegs
aus den historischen Ereignissen ableitete, sondern eher diese durch
jene festlegte. Ob ihm das auch gelang, muss sich an der fraglichen
Auslegung bemessen, der er die tragischen Ereignisse seiner Zeit
unterzog. Denn dort bestimmte tatsächlich nicht das Geschehen die
Geschichte, sondern diese jenes, indem sie in einem kosmogonischen
Kampf eine fiktive Welt aus sich erstehen ließ und ihr einen eigenen
Sinn verlieh.

17 Überlegungen VII, GA 95, S. 11.


18 Überlegungen VII, GA 95, S. 30.
19 Ebd.
132 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

So ergab sich schließlich die Geschichtlichkeit der Deutschen so­


wie jedes weiteren »Menschentums« allein aus einer Entsprechung
zur fiktiven Handlung dieser Narration, d. h. aus einer »Überant­
wortung an das Sein«, in der ein Mensch »jederzeit so oder so in sei­
ner Bestimmung auf das Sein antwortet, es verantworten muß«.20 In
der Antwort auf eine derartige Bestimmung, die eigentlich nicht die
geringste Wahl zuließ, hatte nun der Mensch die Verantwortung für
eine Geschichte zu übernehmen, für die er niemals hätte verantwort­
lich gemacht werden können, da sie ihm überhaupt nicht gehörte –
zu der er aber schon vor aller Zeit gehört haben sollte.
Geschichtliche »Bestimmung« würde demnach der Auftrag für
eine fiktive Zukunft sein »in dem Sinn, daß der Auftrag uns vor­
bestimmt ist aus unserer Sendung: aus dem, was von früher her in
unserem Wesen als unser Wesen west, wenn es auch von früher ver­
stellt und mißdeutet war«.21 Im Begriff solcher geschichtlichen »Sen‑
dung«, die dem Ereignis der Geschichte immer voranging und es in
sich gründete, verwandelte sich dann auch die Zukunft in ein Vorge­
gebenes und narrativ Vor-geschriebenes, das nur noch in Erfüllung
gehen sollte: »die deutsche Zukunft ›wird‹ nicht erst ›sein‹, sie ›ist‹
schon, seit Hölderlin sie stiftete«.22
Nun aber war mit der Prädestination zu ihrem ungeheuerlichen
Mandat den Deutschen ein »Erbfehler«23 angeboren, der die Über­
nahme ihrer »Sendung« bedrohte. Es handelte sich für Heidegger
um eine Selbstvergessenheit, in der die Deutschen, um »nach dem
Fremden zu blicken«24, ihr »Eigenstes« verloren. Daher die Not­
wendigkeit eines metapolitischen Kampfes, um das Volk zu seinem
ursprünglichsten Wesen zurückzubringen.
Unter solchen denkerischen Voraussetzungen musste Heidegger
sehr anfällig für die Faszination des Nationalsozialismus gewesen
sein. Wie manch anderer gab er sich dem Traum einer völkischen
Umwandlung unter Hitlers Führung hin. Dass aber Parteifunktio­
näre wenig Interesse für ein poetisches Verständnis des Deutsch­
tums nach den Vorgaben von Hölderlins Dichtung haben mussten
und eher auf die rücksichtsloseste Massenbeherrschung aus waren,

20 GA 38, S. 162.
21 Ebd., S. 127.
22 Überlegungen IX, GA 95, S. 198.
23 Überlegungen VII, GA 95, S. 10.
24 Ebd.
4.1 Der metapolitische Kampf 133

musste auch ihm bald einleuchten. Das brachte ihn aber keinesfalls
dazu, den »Kampf um das eigene Wesen«25 aufzugeben, sondern
überzeugte ihn umso mehr von seiner innersten Notwendigkeit. So
wurde der Kampf zugespitzt und verinnerlicht, die Fremdheit ins
Eigene versetzt und »die Deutschen zu heimlichen Feinden ihres
eigenen verborgenen Wesens«26 erklärt.
In diesem neu aufgeschlagenen Szenario drängten auch die narra­
tiven Forderungen der Seinsgeschichte schnell dahin, die gesamten
Verhältnisse der Gegnerschaft von neuem aufzustellen. Demzufolge
musste von nun an selbst die Bezugnahme auf einen äußeren Rivalen
als gefährlich erscheinen und die Unterscheidung zwischen »Wesen«
und »Unwesen« schon in den einzelnen Kämpfer, sei es mit oder
ohne Konterpart, fallen.

»Die Gefährlichkeit eines ›geistigen‹ Kampfes beruht nicht in der


Möglichkeit des Unterliegens und der Vernichtung, sondern in
der Gewißheit der unvermeidlichen Abhängigkeit vom Gegner,
der Übernahme seines Wesens und Unwesens. ›Kampf‹ ist noch
nicht sogleich ein Zeugnis der Ursprünglichkeit, und der Sieg in
einem solchen Kampf ist vollends kein Beweis der ›Wahrheit‹,
weil ja vielleicht gerade das Bekämpfte in verhüllter und unan­
greiflicherer Gestalt sich befestigt, statt zu weichen.«27

Sinn des Kampfes war nun so wenig einen Sieg zu erzielen, dass
dieser sich schlimmer als eine Niederlage erweisen konnte, wenn
der Sieger an die Stelle des Besiegten trete und sich dabei »seines
Wesens und Unwesens« bemächtige. Denn soweit eine Auseinan­
dersetzung auf der gegenseitigen »Abhängigkeit« der Antagonisten
beruht, macht sich auch eine reziproke Kontamination unausweich­
lich, da jeder Widerpart das eigene Wesen nur durch eine Entgegen-
und Absetzung vom Anderen bestimmt. So wäre aber, was durch
den Kampf errungen wird, nie das eigene Wesen, sondern nur jenes
des Widerpartes, das sich als »Befestigung des eigenen Unwesens«28
durchsetzt.

25 Überlegungen XI, GA 95, S. 403.


26 Überlegungen VII, GA 95, S. 10.
27 Überlegungen X, GA 95, S. 326.
28 Vgl. auch Überlegungen XV, GA 96, S. 255: »Die Abhängigkeit vom
Gegner kann in Auseinandersetzungen so entschieden werden, daß sie zur
134 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

Dass Heidegger in derartigen Bewegungen den permanenten


Schatten der Dialektik und mithin eines metaphysischen Den­
kens verspürte, musste ihn zu einer Lösung des Dilemmas drängen,
die eine neuere und zugleich ursprünglichere Zusammenstellung
der gesamten Problematik liefern konnte. Damit die Reinheit des
Kämpfers sowie die »Ursprünglichkeit« des Kampfes bewahrt blieb,
musste erstens ein Gegner ausgesucht werden, der Repräsentant
­einer solchen unüberbrückbaren Fremdheit war, die nie angeeignet
werden konnte, und unbesiegbar blieb; um danach, im allernächsten
Zug, noch auf den Gegner als auf einen Anderen zu verzichten und
den Kampf ausschließlich in sich selbst zurückzuverlegen.29
Dafür stellte er zuerst die zwei Gegner im metapolitischen Kampf,
nämlich »die Betreiber des Seienden«30 und »die Wächter des Seyns«,
in zwei so unterschiedliche Wesensbereiche hin, dass nicht einmal
eine Entgegensetzung zustande kommen konnte und dass auch
jedweder »›Kampf‹ zwischen den beiden« nun als »unmöglich«
erschien. Daraufhin aber, um die narrative Funktion des Kampfes
nicht sogleich zu verlieren, schrieb er noch den eigentlichen Sinn der
Auseinandersetzung in ein »Auseinander-und-Voneinanderweg-
sich-Kämpfen«31 um, das das Wesen des Kampfes in einem para­
doxen und selbstreferentiellen Sich-abwenden vom Gegner erfasste.
Daraus entstand eine neue Figur des seinsgeschichtlichen Kämp­
fers, der, ohne eines Gegenübers zu bedürfen, nur noch um das

Angleichung an sein Wesen zwingt und den Wesensverlust im Eigenen bringt.


Jede Überwältigung des Gegners ist dann nur noch die Befestigung des eige­
nen Unwesens. Jeder Sieg und Erfolg ist schon Niederlage in der Art und
Richtung des Vermögens und Wollens.«
29 In dieser Bewegung gelang es Heidegger doch nicht zu vermeiden, dass
das absolut Fremde immer noch auf das Selbe reduziert wird; vgl. Über­
legun­gen XIII, GA 96, S. 98 f.: »[J]eder Gegner sieht den ›Gegner‹ nicht nur
anders und gemäß der eigenen Ansprüche – sondern die Gegnerschaften sind
so wesensverschieden, daß der ›Kampf‹ sich ausnimmt, als sei er kein Kampf –
und doch ist eine Erstreitung noch des Selben, verhüllt in die entfremdetsten
Wesensformen: hier das Seyn und seine Wahrheit, dort das Sein als Seiendheit
des Seienden.« Der Kampf wäre demzufolge der zwischen dem »Seyn« und
dem »Sein«, die trotz ihrer Unvereinbarkeit eigentlich das Selbe bilden und
einen Sieg von dem Einen über das Andere nur auf Grund ihrer Selbigkeit
ausschließen. Ob damit die Gefahr einer dialektischen Lösung beseitigt ist,
ist aber zu bezweifeln.
30 Überlegungen XI, GA 95, S. 426.
31 Ebd.
4.1 Der metapolitische Kampf 135

e­ igene Wesen und d. h. um das Wesen seiner Geschichte rang, in­


dem er sich selbst eine eigene Narration erkämpfte:

»Kämpfer – einmal sind jene, die stets einen Gegner brauchen


und ihn, falls er fehlt, sich erfinden und sich und anderen als ei­
nen solchen vortäuschen; ohne den Gegner erlahmen sie in der
Rat- und Ziellosigkeit, und um diesem zu entgehen, kämpfen
sie im Grunde stets um das jeweilige wirkliche oder scheinbare
Vorhandensein von Gegnern und machen sich von diesem ab­
hängig. Zum anderen sind jene, die nur in dem stehen, wofür
sie kämpfen und die Gegner nicht brauchen und wenn solche
sind, diese von sich abhängig und d. h. selbst ziellos machen. Der
höchste Kampf solcher Kämpfer – die sich gar nicht als solche
bezeichnen – ist der für die Ermöglichung des Austrags wesent­
licher Entscheidungen. Nicht um Besitz und Erfolg, nicht um
Macht und Genuß wird gekämpft, sondern für einen Anfang der
Seinsgeschichte.«32

Von den zwei hier erwähnten Kämpfertypen ist der erste auf die
Notwendigkeit eines Widerpartes dermaßen angewiesen, dass er da­
bei den Kampf in einem bloßen Antagonismus erschöpft und nur im
Bekämpften seinen eigenen Sinn findet. Darum aber wäre ein solcher
Kämpfer ohne seinen Gegner auch kein Kämpfer mehr und würde
mit einem Sieg bloß seine Selbstvernichtung erwirken, indem er sich
von selbst jeglichen Grund für sein Bestehen entzieht.
Dass Heidegger an anderes denken musste, wenn er das »We­
sen der Deutschen« als »Kampf um das eigene Wesen« auffasste,
ist klar. Dementsprechend durfte sich dieser Kampf als tragen­
der Grund der Geschichte auch niemals in einem Sieg ausschöp­
fen. Kampf haftete dem »Wesen der Deutschen« nicht bloß als eine
Eigen­schaft an, die dem Volk von jeher angeboren wäre, sondern
ihr Wesen war nur durch eine Geschichte als »Kampf«, d. h. durch
das Epos dieses Kampfes, zu bestimmen. Denn Geschichte hätte
sich nur ereignen können, wenn die Deutschen »für einen Anfang«
gekämpft hätten; und allein wenn das »Wesen des Seyns«33 zu einer
Geschichte erkämpft werden würde, hätte das Volk endlich auch zu
seinem geschicht­lichen Wesen gefunden.

32 Überlegungen XII, GA 96, S. 42.


33 Siehe oben.
136 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

Nur ein auszutragender und nie zu beendender Kampf konnte


also eine »Seinsgeschichte« ermöglichen und erfüllen, indem er »we­
sentliche Entscheidungen« zum »Austrag« bringt und mithin eine
Geschichte in Gang setzt. Um mit der Sprache der Beiträge zur
Philosophie zu reden, war dieser Kampf dann die »Geschichte aber
begriffen als die Bestreitung des Streites von Erde und Welt«, in der
sich die Wahrheit geschichtlich ereignet und die Entscheidung »zur
Geschichte oder zum Geschichtsverlust«34 gefällt wird.
Allein in der Rückbezüglichkeit solcher »Bestreitung des Streites«
hätte dann auch jede Notwendigkeit eines Gegners von selbst ausfal­
len können und der Kampf wäre zu jener auf sich beruhenden Ur­
sprünglichkeit gelangt, in der er sich selbst entfachen würde. Dem­
zufolge war sich Heidegger schon Anfang der 30er Jahre vollkom­
men darüber im Klaren, dass »die große antreibende Gegnerschaft«35
der Deutschen, »der große Gegner in diesem Kampf, an dem die
Kommenden wachsen«, nur »bei uns, indem wir für die Kommen­
den uns als Übergang opfern«, zu finden war. Das geschichtliche
Volk hätte also nur aus sich selbst entspringen, das eigene Wesen in
sich selbst erstreiten sollen, um dadurch die Brücke zum anderen
Anfang zu schlagen und eine neue Geschichte zu gründen.
Dass aber die Nationalsozialisten, trotz aller seinsgeschicht­
lichen Bemühungen, dies nicht verstanden und, anstatt über sich
selbst hinaus­zuwachsen, den »Erbfehler der Deutschen, nach dem
Fremden zu blicken«,36 bis ins Äußerste trieben – indem sie jeden
Fremden zu einem Feind machten, der zu vernichten war – musste
unwiderruflich dazu führen, auch das Wesen des Kampfes ganz zu
verunstalten: »Das Versagen des Kampfes aber endet im Krieg – oder
in der ›zivilisatorischen‹ Zerstörung.«37 Der Weg zum Zweiten Welt­
krieg war damit vorgezeichnet und die Geschichte des Seins konnte
sich um ihr dunkelstes Kapitel erweitern.

34 GA 65, S. 96.
35 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 125.
36 Siehe oben.
37 Überlegungen XIII, GA 96, S. 99.
4.2 Der seinsgeschichtliche Weltkrieg 137

4.2 Der seinsgeschichtliche Weltkrieg

Martin Heidegger gehörte einer Generation an, die das Unglück


hatte, zwei Weltkriege erleben zu müssen. Aber obwohl schon der
erste epochale Konflikt bedeutende Spuren38 in seinem Denken hin­
terließ, teilweise durch die Rezeption des Werkes von Ernst Jünger,39
war damals noch kein großes Narrativ da, um die Weltereignisse in
ein Geschichtsdenken aufnehmen zu können. Wohl anders müsste es
mit jenem zweiten »planetarischen Krieg«40 verlaufen, den Heideg­
ger schon vor seinem Ausbruch in seinem weltumfassenden Cha­
rakter erkannte.41
Eigentümlich bleibt trotzdem, dass dieser Krieg überhaupt ei­
nen Platz in der Seinsgeschichte finden konnte, wenn ihn Heideg­
ger selbst als ein Geschöpf »der losgebundenen Machenschaft des
Seienden«42 abstempelte und ihn dementsprechend eher in den Be­
reich der »Ungeschichte« verbannte. Dabei muss man aber berück­
sichtigen, wie die geschichtliche Rolle des deutschen Volkes und die
Verabschiedung der Philosophie in die »Metapolitik« eine Auseinan­
dersetzung mit dem historischen Geschehen unvermeidlich machten.
Andererseits ist zu vermuten, dass die Katastrophe des zweiten Welt­
krieges Heidegger in den 40er Jahren dazu trieb, die »Geschichte des
Seyns« für eine »Eschatologie des Seyns« aufzugeben, in der sich
das Ereignis letztlich in einer »Enteignis«43 vollzog, die das Sein nur

38 Siehe oben, § 3.1.


39 Siehe dazu: Aussprache über Jünger, GA 90, S. 276 f.; Überlegungen XI,
GA 95, S. 370; und Überlegungen XII, GA 96, S. 29.
40 Überlegungen XV, GA 96, S. 261.
41 Mindestens zwei Stellen aus den Schwarzen Heften um die Jahre 1938–
1939 deuten darauf hin: »Oder ist dieser Weltkrieg [gemeint ist der erste,
A. I.] ebenso wie der nächste – auch nur die Folge des neuzeitlichen Men­
schen …?« (Überlegungen VI, GA 94, S. 500) und »Wenn jetzt zuweilen der
zweite Weltkrieg in den Gesichtskreis der Menschen rückt …« (Überlegun‑
gen IX, GA 95, S. 191).
42 Überlegungen XIII, GA 96, S. 141. Auch in Entwurf zu Κοινόν, GA 69,
S. 209.
43 Siehe Der Mensch im Unter-schied, GA 73.2, S. 1194: »das Ereignis er­
eignet sich eigentlich: als die Enteignis.«
138 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

noch in seiner »Vergessenheit«44 dachte und den anderen Anfang


durch ein eschatologisches Ende45 ersetzte.
Um diesen Krieg nun ins narrative Gefüge der Seinsgeschichte
einzuordnen, ist vor allem wichtig, ihn vom Wesen des Kampfes klar
abzugrenzen; dem Begriff, in den Heidegger noch den ersten Welt­
krieg einigermaßen hatte unterbringen können. Mithin war zur Zeit
des Rektorats eine Unterscheidung zwischen »Kampf« und »Krieg«
noch so verschwommen, dass beide Ausdrücke in der Auffassung
vom heraklitischen πόλεμος ineinandergriffen und der »Gegner« mit
dem »Feind«46 völlig gleichzusetzen war; wobei Heidegger bereits
damals zwischen einem »äußeren« Feind und einem »in der inners­
ten Wurzel des Daseins eines Volkes«47 unterschied.
Das sollte sich aber schnell ändern, als er im Laufe von weni­
gen Jahren feststellte, dass der erste Weltkrieg allem Anschein nach
»doch offenbar noch eine zu kleine Not« gewesen war, da er »keine
Notwendigkeiten des Schaffens hervorgebracht«48 hatte, und wie
der Nationalsozialismus, anstatt die erhoffte Verwandlung des deut­
schen Volkes zu vollbringen, dieses eher in seinem »Unwesen« be­
festigt hatte. Als dann alle Spuren jenes im ersten Weltkrieg ent­
standenen »Frontgeistes«49 längst erloschen schienen, wurde es für
Heidegger Zeit, auch den Krieg an sich neu zu fassen.
Im Schema jenes manichäischen Konflikts zwischen dem »Un­
wesen des Seienden« und dem »Wesen des Seyns« stand dann für
ihn auf einmal fest, dass Begebenheiten wie »Krieg und Frieden im­
mer noch auf der einen Seite – des Seienden – liegen«50 und dass

44 Siehe u. a. Anmerkungen III, GA 97, S. 293: »Wenn das Seyn als das Seyn
das Ereignis ist und wenn das Ereignis das Ereignis der Vergessenheit ist,
dann ist die Eschatologie die Eschatologie der Vergessenheit.«
45 Siehe oben, § 3.3.
46 Siehe die Wintervorlesung 1933/34 Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37,
S. 90: »Kampf des πόλεμος , Krieg; d. h. es gilt Ernst in dem Kampf, der Geg­
ner ist nicht ein Partner, sondern Feind.«
47 Ebd, S. 91. Siehe auch oben, § 1.3.
48 Überlegungen VI, GA 94, S. 510.
49 Vgl. Die deutsche Universität (1934), GA 16, S. 300: »Dieser Frontgeist
wurde die bestimmende Kraft in der Vorbereitung der nationalsozialisti­
schen Revolution. Die Entwicklung und Klärung des Frontgeistes bedeutet
aber nicht die Einführung des Militarismus, bedeutet nicht Hinarbeiten auf
neuen Krieg, sondern der Frontgeist bedeutet gerade die geistige Eroberung
und schöpferische Verwandlung des Krieges.«
50 Überlegungen IX, GA 95, S. 189.
4.2 Der seinsgeschichtliche Weltkrieg 139

also jeglicher Krieg nur als Ausartung und Preisgabe des eigent­
lichen Kampfes anzusehen war. Indem aber der neue Weltkrieg eine
allgemeine Verheerung des Seienden betrieb und den Menschen in
Machtfehden verstrickte, die ihn immer weiter vom Sein entfern­
ten, konnte Heidegger letztlich darin den Erzfeind des Seins, den
Gegenspieler schlechthin – »die unbeherrschte Machenschaft des
Seienden«51 – erkennen und daraus eine der wichtigsten Figuren
seiner Narration machen.
Dafür sprach gewiss auch, dass der zweite Weltkrieg eine we­
sentliche Veränderung in der Art der Kriegführung mit sich brachte
und den Frontkampf, in dem Soldaten sich noch als Gegner ge­
genüberstanden, für eine technologisierte Spielpartie aufgab, in der
nur Panzer gegen Panzer, Bomben gegen Bomben die Entscheidung
über Sieg oder Niederlage trafen. Es war allerdings auch allein die
Macht einer Waffe, der Atombombe, die bei Hiroshima und Naga­
saki zum ersten und einzigen Mal eingesetzt wurde, die dem Krieg
ein Ende setzte.
Dies musste Heidegger schon relativ früh klar gewesen sein,
wenn er bereits 1938 im heranrückenden Weltkrieg »den ausschließ­
lichen Vorrang des machenschaftlichen – kriegerisch‑technisch‑his­
torischen ›Kampfes‹«52 erkennen konnte, wodurch keine eigentliche
Auseinandersetzung mehr zustande kam, sondern nur eine gegen­
seitige Vernichtung. Als volle Entfaltung der Technik gehörte dann
dieser Krieg wesensgerecht in die höchste Vollendung der Neuzeit
und musste, der ausgereiftesten Form des Nihilismus entsprechend,
allein »um das Nichts des Nichtigen geführt«53 werden. Was sich
dann ereignete, wurde von solch ausschlaggebender Bedeutung für
das philosophische Narrativ der Seinsgeschichte, dass es jedes an­
dere Vorkommnis innerhalb des vorhandenen Seienden bei weitem
übertraf:

»Solcher Krieg setzt nicht ein schon Vorhandenes fort, sondern


zwingt es in die Ausführung von Wesensentscheidungen, deren
es selbst nicht Herr ist. Deshalb läßt solcher Krieg nicht mehr
›Sieger‹ und ›Besiegte‹ zu; alle werden zu Sklaven der Geschichte
des Seyns, für die sie von Anfang an zu klein befunden und da­

51 Besinnung, GA 66, S. 15.


52 Überlegungen XI, GA 95, S. 440.
53 Überlegungen XIV, GA 96, S. 224.
140 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

her in den Krieg gezwungen wurden. Der ›totale Krieg‹ zwingt


die ›Politik‹, je ›realer‹ sie bereits ist, umso unausweichlicher in
die Form einer bloßen Vollstreckerschaft der Forderungen und
Bedrängnisse des seinsverlassenen Seienden …«54

Was diesen Krieg von Anfang an auszeichnet, ist sein ursprünglich


narrativer Charakter, der alle Akteure des Weltgeschehens in die Fi­
guren einer Erzählung verwandelt. Als »Sklaven« der Narration ver­
schwinden hier sowohl »Sieger« wie »Besiegte« hinter den narrati­
ven Funktionen einer »Geschichte des Seyns«, die alles Vorhandene
in ihre Inszenierung zwingt. So gesehen war der Krieg als solcher
selbst ein metadiegetisches Mittel, durch das jegliches menschliche
Geschehen, einschließlich des politischen, in ein Narrativ verwan­
delt wurde.
Auf der Ebene von »Wesensentscheidungen« konnten dann we­
der Siege noch Niederlagen – sowie die Abläufe der verschiedenen
Gefechte – gar keine Rolle mehr in einer Geschichte spielen, in der
es überhaupt nicht um Vorhandenes ging. Der zweite Weltkrieg, als
seinsgeschichtlicher Krieg, erzählte allein von einer Wahrheit, die
alles weltliche Geschehen überstieg und durchdrang. Hierbei ver­
suchte Heidegger die gesamten Vorkommnisse des Konflikts durch
die Zauberbrille eines Narrativs zu betrachten, das ihm noch ge­
stattete, hinter allen Schrecknissen der Massaker und Zerstörungen
den verborgenen Vorgang eines einzigen und übergeschichtlichen
»Er‑eignisses« herauszulesen. Als einziger Akteur dieser Geschichte
blieb allein das Sein übrig, das alle Fäden der Narration in der Hand
hielt und sie in ein undurchschaubares Schicksal verwob.55
Nun aber hieß, vom Sein zu reden, im seinsgeschichtlichen Kon­
text immer und allein von jenem einzigen »geschichtlichen Volk«
zu sprechen, dem gegenüber alle anderen zu einer ewigen »Unge­
schichte« verdammt werden mussten. Dadurch entstand aus der
Konstellation der Militärmächte, die in diesen Krieg involviert wa­
ren, die verwirrte Vision einer kosmischen Verschwörung gegen die
Deutschen und mithin gegen das Sein. Von diesem Gedanken schien

54 Überlegungen XIII, GA 141 f. Die gleiche Passage auch in Entwurf zu


Κοινόν, GA 69, S. 209.
55 Zu einer mythischen Auffassung des Seins als Webers des Schicksals siehe
Die Seinsfrage und das Ereignis, GA 73.1, S. 165: »Das Sein noch ursprüng‑
licher als die Götter | (μοῖρα!).«
4.2 Der seinsgeschichtliche Weltkrieg 141

Heidegger so tief überzeugt zu sein, dass selbst einige Jahre nach


Kriegsende, als der Vernichtungswahn des Nazi-Regimes belegt war
und er sich selber auch nicht mehr traute, von einem »geistig‑politi­
schen Auftrag des deutschen Volkes«56 zu reden, er doch von einer
ganz anderen, diesmal äußerst ungeschichtlichen »Aufgabe« schrei­
ben konnte, an der »die ganze neuzeitliche europäische Welt« seiner
Ansicht nach schon längst arbeitete: nämlich »die Deutschen geistig
und geschichtlich auszulöschen«.57
Wohlgemerkt, diese »Deutschen« waren für Heidegger die ers­
ten Opfer des Nationalsozialismus gewesen, indem sie seiner Ver­
blendung anheimfielen. Selbst angesichts der Shoah blieb es unmög­
lich, an eine deutsche Schuld zu denken. Denn die einzige in diesem
Narrativ annehmbare Schuld, »deren Größe gar nicht – im Wesen
nicht einmal am Greuelhaften der ›Gaskammern‹ gemessen werden
könnte«,58 durfte allein »die Verkennung dieses Geschicks« sein, das
die Deutschen zu ihrer seinsgeschichtlichen Bestimmung vergeblich
berufen hatte.
Im Schatten des ureigenen »Kampfs um das Wesen« hatte sich
dann der zweite Weltkrieg zu dem monströsen Versuch vonseiten
einer »losgebundenen Machenschaft des Seienden«59 entwickelt, die
Geschichte des Seins für immer zu unterbinden. Unter diesen Vor­
aussetzungen entwarf Heidegger eine Ethnologie von Völkern, Ras­
sen und »Menschentümern«, die ihr Wesen oder Unwesen in einem
direkten Bezug zum Sein und seiner Geschichte bestimmten. Für
das mythische Volk der Deutschen musste das wohl bedeuten, viel
zu viele Feinde und kaum wahre Gegner zu haben.60
Diesbezüglich gewährt die Veröffentlichung der Schwarzen
Hefte zum ersten Mal einen historischen Einblick in die Genese

56 Sommervorlesung 1933, Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, S. 4.


57 Anmerkungen V, GA 97, S. 444.
58 Anmerkungen I, GA 97, S. 99.
59 Überlegungen XIII, GA 141; auch in: Die Geschichte des Seyns, GA 69,
S. 53.
60 Siehe dazu Überlegungen VII, GA 95, S. 56: »Wenn der Gegner sogleich
zum Feind, der Feind aber zuvor zum ›Teufel‹ gemacht wird, ist aller Geg­
nerschaft nicht nur das Schöpferische, sondern überhaupt der Raum für ­einen
Kampf genommen.« Beim Zusammenfügen seines Narrativs war aber Heid­
egger als erster daran schuld, dass so viele »›Teufel‹« sein auserwähltes Volk
umgaben. Und tatsächlich hat Auserwähltheit vor dem Anderen nie viel
Raum für Begegnungen übriggelassen.
142 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

und Entwicklung einer phantastischen Geopolitik, der nun eine viel


gewichtigere Rolle, als bisher geahnt werden konnte, in der Auffas­
sung der Seinsgeschichte zukommen soll. So muss auch die Relevanz
der amerikanischen und russischen Militärmächte, die seit den letz­
ten Kriegsjahren als technokratische Monstren in Heideggers Werk
die Weltbühne beherrschten, signifikant eingeschränkt werden, um
Platz für eine Mehrzahl von Figuren einzuräumen, die sich durch
zwei Jahrzehnte in der Funktion eines seinsgeschichtlichen Böse­
wichts abwechselten.
Als erste Weltfeinde des Seins und zugleich des deutschen Volkes
setzte dann Heidegger gegen Ende der 30er Jahre, im vollkommenen
Einklang mit der nationalsozialistischen Propaganda, die Juden fest,
in denen er »das Geschichtslose« schlechthin und, Hitler treu,61 »die
größere Bodenlosigkeit, die an nichts gebunden, alles sich dienstbar
macht«,62 zu erkennen glaubte. Dabei gewann er für sein Narrativ
einen Feind, der inner- und außerhalb der Landesgrenzen tätig war
und der letztlich, immer noch dem Führer zufolge, als »Weltjuden­
tum« eine internationale Verschwörung63 gegen Deutschland anzet­
telte oder, um es im seinsgeschichtlichen Wortgebrauch zu sagen,
»die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschicht­
liche ›Aufgabe‹ übernehmen«64 wollte.
So wurden durch einen grotesken Sublimierungsprozess die
flachsten Gemeinplätze des damals kursierenden Antisemitismus
einer nach dem anderen auf eine seinsgeschichtliche Ebene über­
tragen und lieferten der Narration den Prototyp eines märchenhaf­
ten Widersachers, der in veränderter Beschaffenheit65 in allen wei­

61 Vgl. Hitlers Rede vom 10.11.1933 in den Siemens-Werken in Berlin: »Es


sind das die Menschen, die überall und nirgends zuhause sind, die nirgends
einen Boden haben, an dem sie gewachsen sind …«
62 Überlegungen VIII, GA 95, S. 96 f.
63 Vgl. Hitlers Rede vom 30.01.1939 im Reichstag in Berlin. Dort wurde
einer »jüdischen internationalen Presse- und Propagandahetze« zugerech­
net, England, Frankreich und Amerika »fortgesetzt gegen Deutschland und
das deutsche Volk aufgeputscht« zu haben, um »die Völker noch einmal in
einen Weltkrieg zu stürzen«. Siehe dazu auch Peter Trawny, Heidegger und
der Mythos der jüdischen Weltverschwörung.
64 Überlegungen XIV, GA 96, S. 243.
65 Vladimir Propp hebt in seiner Morphologie des Märchens hervor, wie »die
einzelnen Märchengestalten sehr leicht gegeneinander ausgetauscht werden
können« (S. 87), ohne dass die von ihnen vertretene Funktion dadurch ver­
lorenginge. Siehe dazu auch von ders. Transformationen von Zaubermär‑
4.2 Der seinsgeschichtliche Weltkrieg 143

teren Gestalten der Kriegsfeinde Deutschlands wiederkehrte. Dem­


nach waren es auch noch die Juden, die, als gemeinhin anerkannte
Handelsleute, durch eine »zähe Geschicklichkeit des Rechnens und
Schiebens und Durcheinandermischens«66 sogar den Inbegriff jenes
»Riesigen« zu verkörpern hatten, das für Heidegger in der Mas­
senbeherrschung und der unendlichen Steigerung der technischen
Produktion die höchste Entfaltung der »Machenschaft des Seien­
den« vollbrachte.
Demzufolge musste sich ausgerechnet in der Figur des Juden –
der im Zweiten Weltkrieg das erste Opfer all dessen wurde, was er
hier zu vertreten hatte – das Prinzip der Technik selbst im Sinne ei­
ner alles berechnenden Vernunft kristallisieren, die dem narrativen
Prinzip des Seinsdenkens strikt widersprach und, sofern sie jegliches
Geschehen auf eine totalitäre67 Wirtschaftlichkeit zurückführte, eine
Geschichte des Seins definitiv unmöglich machte. Der Weltkrieg,
und mithin die erstrebte Auslöschung jenes fabelhaften und allein
geschichtlichen Volkes der »Dichter und Denker« (paradoxerweise
der Deutschen, nicht der Juden68), war in dieser Hinsicht nur als
dessen notwendige Folge zu betrachten.
In diesem planetarischen Versuch einer Vernichtung der Ge­
schichte zugunsten einer allumfassenden Berechenbarkeit des Sei­
enden und in der unendlichen Vervielfältigung des technisch-jüdi­
schen Widersachers sah dann Heidegger auch den »Bolschewismus«,
den »Amerikanismus« und England als Vertreter einer neuzeitlichen
Rationalität, die nur darauf aus war, die Möglichkeit des anderen
Anfangs aus dem Weg zu schaffen, um einen unendlichen Fortbe­
stand der Metaphysik zu sichern. Dadurch wurden philosophische

chen (1928), in dem anhand einer Reihe von Beispielen ausführlich gezeigt
wird, wie bei der Umwandlung seiner jeweiligen Gestalt die Handlung des
Widersachers doch immer die gleiche bleibt (veröff. in: ders., Morphologie
des Märchens, S. 174 f.).
66 Überlegungen VIII, GA 95, S. 97.
67 Diesem Gedanken zufolge wäre aller Totalitarismus von jüdischer Her­
kunft: »Die modernen Systeme der totalen Diktatur entstammen dem jü­
disch-christlichen Monotheismus« (Anmerkungen V, GA 97, S. 438).
68 Es ist verblüffend, wie viele Merkmale eines jüdischen Selbstverständ­
nisses des Volkes als jenes einzig von Gott auserwählten von Heidegger auf
seine Deutschen übertragen wurden und wie viele historisch belegte Hand­
lungen des nationalsozialistischen Deutschlands er auf der anderen Seite den
Juden zuschrieb. Über solche Umdrehungen und Verwechslungen wäre ein­
mal ­interessant, psychoanalytisch nachzudenken.
144 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

Begriffe in Kriegsakteure hypostasiert und zu narrativen Figuren


gemacht, die eine Einsicht in das faktische Geschehen von vornher­
ein verstellten und nur im fiktiven Rahmen der Erzählung noch eine
Deutbarkeit zuließen.
Aus seinem intradiegetischen Standpunkt am Ende der metaphy­
sischen Ära sah dann Heidegger Englands »Geschichtslosigkeit«69
weit zurück in die Jahrhunderte wurzeln, als es »die neuzeitliche Welt
einzurichten begann«.70 Dem englischen Geist hatte demzufolge die
Seinsgeschichte zwei Ungeheuer wie »die parlamentarische – auf
Parteien abgestellte Demokratie und das Maschinenwesen«71 zu ver­
danken, die als Grundsteine der Moderne dem narrativen Projekt je­
nes aufdämmernden Zeitalters von scheuen Göttern und weltschaf­
fenden Dichtern am stärksten widersprachen.
Im Gegensatz zu den totalitären Diktaturen, die für Heidegger in
der schrankenlosen Ausübung der staatlichen Gewalt die Metaphy­
sik zu ihrer maximalen Entfesselung72 und gleichzeitigen Selbstver­
nichtung führten, schien ihm nun die parlamentarische Politik, als
lahmer und ständiger »Ausgleich – Versuch des Verteidigens und
Fertigwerdens«, eine unverzeihliche »Verzögerung« des Endes zu
sein, »so etwas wie eine Sperre vor dem Übergang«.73 Durch solche
Argumentation gewannen dann selbst politische Ansichten allein in
einem narrativen Verständnis ihre Bedeutung und Gültigkeit, so­
dass auch eine faktische Staatsform wie der englische Parlamenta­
rismus nur mittels ihrer Stelle und Funktion innerhalb der seins­
geschichtlichen Narration zu beurteilen und abzuschätzen war.

69 Überlegungen XIII, GA 96, S. 146.


70 Überlegungen XIV, GA 96, S. 243.
71 Ebd., S. 173.
72 Vgl. Überlegungen XI, GA 95, S. 404: »Nur aus dem zurückgebliebenen
Standort der Demokratien nennt man die Vollstrecker der Vollendung der
Neuzeit zu ihrem höchsten Wesen ›Diktatoren‹ –; ihre Größe aber besteht
darin, daß sie ›diktativ‹ zu sein vermögen – daß sie die verborgene Notwen­
digkeit der Machenschaft des Seins erspüren und durch keine Verführung
sich aus der Bahn drängen lassen.« Zu Heideggers Ansichten über die mo­
dernen Demokratien siehe auch Κοινόν . Aus der Geschichte des Seyns, GA 69,
S. 189 f.: »Der ›demokratische‹ Schein wird von den Regierten gleichermaßen
erweckt und unterhalten wie von den ›Regierenden‹; denn dieser Schein, die
Macht ›gehöre‹ Allen und sei an Alle verteilt, während sie in Wahrheit Kei­
nem gehört, entspringt dem Wesen der Macht …«
73 Überlegungen XI, GA 95, S. 406.
4.2 Der seinsgeschichtliche Weltkrieg 145

Es bedurfte dann weder eines moralischen Ideals noch eines prag­


matischen Prinzips – d. h. weder einer besonderen Auffassung von
Menschenrechten noch einer historischen Erwägung der geeignets­
ten Regierungsform – um Heidegger zur Ablehnung der Demo­
kratie und zur Bejahung der Diktatur zu bewegen: Das war, ob wir
es ihm abkaufen oder nicht, bloß eine narrative Entscheidung des
Seins, eine dieser Geschichte immanente Notwendigkeit, die über
alle Schrecknisse des europäischen Totalitarismus sich den angeblich
einzigen Weg zu einem neuen Anfang bahnte.74
Was andererseits die Erfindung der Maschine anbelangt, mit der
Heidegger die Engländer noch schwerer belastete, war darin nicht
nur eine epochale Verwandlung des Menschen zu sehen, der nun als
Bediener von Apparaten »der gefügigste Teil des Maschinenwesens
geworden ist«,75 sondern auch die historische Wurzel des Bolsche­
wismus, der, mit einer Entlehnung von Lenin als »Sozialismus +
Elektrifizierung«76 gefasst, gerade in der Verbindung von proletari­
scher Macht und totalitärer Ausfaltung der Technik zum gefürch­
tetsten Feind Deutschlands in den letzten Kriegsjahren wurde.
Hiermit verflocht Heidegger in das Gewebe des seinsgeschicht­
lichen Widersachers die ersten Keime des Liberalismus in England
mit den letzten Auswüchsen der stalinistischen Massenbeherrschung
in Rußland. Und nun einmal davon abgesehen, wie man Heideggers
Sinn für geschichtliche Genealogien beurteilen mag, als er davon
ausging, dass »der ›Kommunismus‹ die metaphysische Verfassung
der Völker im letzten Abschnitt der Vollendung der Neuzeit ist«,
musste er auch folgerichtig »bereits im Beginn der Neuzeit« das
erste Auftauchen seines Unwesens verorten: »Politisch geschieht das
in der neuzeitlichen Geschichte des englischen Staates.«77
Ob dabei nur die Organisation »der vereinigten Sowjet­repu­bli­
ken«78 auf die parlamentarische Staatsform als deren Inspirations­

74 Schon 1922 hatte Carl Schmitt in seiner Politischen Theologie (S. 69 ff.)
eine theoretische Grundlage für derartige Überlegungen geliefert, indem
er mit einer historischen Bejahung der »Diktatur« einen »Dezisionismus«
beschwor, der dem seiner Meinung nach entscheidungsunfähigen »ewigen
­Gespräch« aller Demokratien ein Ende setzen sollte.
75 Überlegungen XI, GA 95, S. 391.
76 Überlegungen XV, GA 96, S. 173.
77 Überlegungen XIII, GA 96, S. 154. Auch in: Entwurf zu Κοινόν, GA 69,
S. 208.
78 Ebd.
146 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

quelle zurückgeführt wurde oder ob noch an die in England zuerst


entstandenen sozialistischen Bewegungen in Folge der industriellen
Revolution zu denken war, kann nicht beantwortet werden. Außer
Frage aber schien für Heidegger immer zu stehen, dass der Bol­
schewismus dem russischen Volk bloß »aufgedrängt«79 worden war
und seinem Wesen bis zuletzt fremd bleiben musste. Es war dann
England und nur England, das in der Einrichtung der modernen
technischen Welt die gesamte Verantwortung80 für den katastropha­
len Schiffbruch des abendländischen Denkens bis in seine äußersten
Konsequenzen hinein trug.

»Insofern die Technik und der Kommunismus gegen den Wes­


ten aus dem Osten anstürmen, stürmt in Wahrheit der Westen
gegen den Westen in einer ungeheuren Selbstzernichtung seiner
eigenen Kräfte und Tendenzen. Die Geschichte hat neben dem
öffent­lichen Gesicht stets auch ihr verborgenes.«81

In der tödlichen Bewegung dieses Teufelskreises war dem russischen


Kommunismus die Aufgabe einer metaphysischen Selbstvernich­
tung vorbehalten. Dadurch bekam auch das Grauen des Weltkrieges
seinen letzten narrativen Sinn, indem er der Neuzeit ein gewaltsames
Ende hätte setzen sollen. Es war hierbei die gesamte europäische
technische Welt und Amerika zusammengedacht, die als »Westen«
gegen den Kommunismus zu kämpfen glaubte, während sie in der
Tat nur auf die am weitesten fortgeschrittene Form ihres eigenen
Wesens prallte.
Wieder einmal konnte Heidegger ein »verborgenes« Gesicht
der Geschichte entschleiern, das sich hinter dem faktischen Ge­
schehen verhüllte. So waren die Bolschewiki nichts anderes als ver­
kappte Engländer, die die Industrialisierung der Welt ins äußerste
steigerten und ihr zuletzt einen totalitären politischen Charakter
verliehen. »Kommunismus« hieß demnach »die Eingleichung von
Allem und Aller in das Gemeinsame (commune) der unbedingten
Ermächtigung«,82 wo Ökonomie, Kultur und Politik zu einer ein­

79 Siehe Überlegungen XI, GA 95, S. 402.


80 Dass England Schuld an beiden Weltkriegen sowie an allem Übel der
Weltgeschichte hatte, war übrigens ein wiederkehrendes Motiv der NS‑Pro­
paganda.
81 Überlegungen XV, GA 96, S. 276.
82 Κοινόν . Aus der Geschichte des Seyns, GA 69, S. 191.
4.2 Der seinsgeschichtliche Weltkrieg 147

zigen allumfassenden Wissenschaft der globalen absoluten Verwal­


tung83 auswucherten.
Auf der narrativen Ebene der Seinsgeschichte erwies sich dann
der Weltkrieg genau in seinem planetarischen Ausmaß als die un­
vermeidliche Folge des Totalitarismus und als das effektivste Mittel,
das Seiende als solches in eine weltumschließende Gewalt hinein­
zuzwingen.84 Es war hierdurch allein die Technik, die, dem engli­
schen Staat sowie allen totalitären Ausartungen der Macht einver­
leibt, eine durchgeplante »Verwüstung« der Erde vollbrachte und
sich dabei (zumindest in Heideggers letzten Hoffnungen) selbst aus­
tilgen würde. Auf dem Gipfel einer metaphysischen Selbstzerstö­
rung hob die Narration jeden noch übriggebliebenen Unterschied
unter den Kriegsfeinden auf und offenbarte das verborgene Gesicht
»eines geschichtlichen Vorgangs, den England jetzt innerhalb des
Amerikanismus und des Bolschewismus und d. h. zugleich auch des
Weltjudentums zu Ende spielt«.85
Und doch sind in diesem Maskenball, den uns Heidegger vor
Augen führt, noch nicht alle Masken gefallen. Denn angenommen,
auch »England« war nicht bloß England, wenn nun »die englisch-
amerikanische ›Welt‹ und der ›Bolschewismus‹ im innersten«86 zu­
sammengehörten, dann wurde es noch schwieriger, Nationalsozia­
lismus, Faschismus und Bolschewismus als verschiedene Arten des
einen und selben Totalitarismus weiterhin getrennt zu halten.87
Das führte zu einer narrativen Verdoppelung der einzelnen
Kriegs­akteure, die vor ihren nationalen oder transnationalen Cha­

83 Vgl. dazu Überlegungen VI, GA 94, S. 477: »Der Bureaukratismus in


seiner Entfesselung als Wesensfolge und zugleich Anreiz der Technik.«
84 Siehe Κοινόν . Aus der Geschichte des Seyns, GA 69, S. 180: »›Weltkriege‹
haben ihren Namen zunächst aus dem Vorgang, daß die Welt im Sinne des
bewohnten Erdkreises von ihnen, ohne noch Stellen auszusparen, überzo­
gen wird. Allein, der wesentlichere Gehalt dieses Namens deutet auf noch
Anderes. Die ›Welt‹ im Sinne dessen, was als das Verweisungsgefüge den
Entwurfsbereich des geschichtlichen Menschen in sein Walten auffängt, wird
kriegerisch.«
85 Überlegungen XIV, GA 96, S. 243.
86 Ebd., S. 235.
87 Vgl. dazu Überlegungen XIII, GA 96, S. 109: »Der Bolschewismus (im
Sinne der despotisch-proletarischen Sowjetmacht) ist weder ›asiatisch‹ noch
›russisch‹ – sondern gehört in die Vollendung der in ihrem Beginn west‑
lich bestimmten Neuzeit. Entsprechend ist der autoritäre ›Sozialismus‹ (in
den Abwandlungen des Faschismus und Nationalsozialismus) eine entspre­
chende (nicht gleiche) Form der Vollendung der Neuzeit.«
148 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

rakterisierungen noch urtümliche Identitäten bewahren mussten.


In einer bizarren Groteske wurden dann auf der einen Seite, nach
dem neuzeitlichen Projekt der »Machenschaft«, die »Machtpoli­
tik« für »englisch«, die »Kulturpolitik« für »französisch« und ein
nicht genauer festgelegter »autoritärer totaler Staat« für »russisch-
italienisch«88 erklärt, während auf der anderen Seite, nach dem an­
fänglichen Entwurf des Seins, die Völker noch in der Matrix ureige­
ner Funktionen verwurzelt blieben.
Demzufolge waren es immer noch die alten Römer, die hin­
ter »der römisch‑italischen Phrasenhaftigkeit«89 der faschistischen
Rhetorik die Geschichte seit jeher »als eine Abfolge von Raub-
und Eroberungszügen« missverstanden und in dem 1940 verüb­
ten Angriff auf Griechenland den Atavismus ihres uralten Neides
ausagierten, weil »das Griechentum […] und nicht das Römertum,
der Grund der Geschichte des Abendlandes ist«.90 Dazu gehörte
noch das »Katholische«, in dem Heidegger den »unbedingten Ge­
horsam, die Ausschaltung jedes Eigenwillens« zu erkennen glaubte
und daher als ausschließlich »römisch – spanisch –; ganz und gar
un‑nordisch und vollends undeutsch«91 brandmarkte. Was dann
die Franzosen anbetraf, konnte er nur bis ins 18. Jahrhundert zu­
rückreichen, wo er in »Versailles« und im Geist der »französischen
Revolution« bereits eine ausgereifte Gestalt der »Machenschaft«
entlarvte: Im ersten war die »Beherrschung aller Verschleierungs-
und Täuschungsmittel«92 zu betrachten, in der zweiten die Devisen
jeder totalitären Verwaltung, nämlich »›Arbeit‹, ›Wohlfahrt‹, ›Kul­
tur‹, und ›Vernunft‹«.93
Es blieben schließlich, jenseits jeder negativen Charakterisierung,
dann nur drei Völker übrig, die zu den positiven Figuren der Seins­
geschichte gezählt werden durften: die Griechen (natürlich nur die

88 Überlegungen XIV, GA 96, S. 187.


89 Überlegungen VIII, GA 95, S. 104.
90 Überlegungen XIV, GA 96, S. 205.
91 Überlegungen X, GA 95, S. 326. Zu all dem, was Heidegger noch den
Römern zurechnete, siehe seine Kommentierung eines Satzes von Franz
Grillparzer: »›Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität in
die Brutalität‹. Kennzeichnend auch, daß hier lauter römische Namen spre­
chen« (Anmerkungen I, GA 97, S. 45; eine ähnliche Stelle auch in den Bei­
lagen zum Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager, GA 77, S. 243).
92 Überlegungen XII, GA 96, S. 40.
93 Überlegungen XIV, GA 96, S. 203.
4.3 Rassische Identitäten 149

alten), die Deutschen (zumindest ein gewisser Stamm von ihnen94)


und die Russen. Von den letzten, die im Bolschewismus ihren bösen
Doppelgänger hatten, ging für Heidegger eine solche Faszination
aus, die ihn noch dazu bewegen konnte, als heimliches Ziel der na­
tionalsozialistischen Rassenpolitik eine ungeheuerliche »Einigung
zwischen Germanentum und Russentum«95 zu erhoffen.

4.3 Rassische Identitäten

Auf der Suche nach einer Definition für die narrative Identität
kommt Paul Ricœur in Soi-même comme un autre auf den zwei­
deutigen Begriff des »caractère«, in dem die Gewohnheiten einer
Figur sich zu ihrer Geschichte entfalten. Dabei aber warnt Ricœur
davor, wie verfänglich das werden könnte, wenn es sich um die Nar­
rativierung der Identität einer Gemeinschaft handelt, der dadurch
feste Charakterzüge aufgeladen werden: »Ces traits se durciraient et
donneraient aux pires idéologies de l’›identité nationale‹ l’occasion
de se déchaîner.«96
Dementgegen wird hervorgehoben, wie gerade dem Unvorher­
sehbaren und äußerst Kontingenten, und allem, was sich einem
festgelegten Charakter von Grund aus widersetzt, die signifikan­
teste Rolle in der Gestaltung einer narrativen Identität zukommt:
Denn gerade »la contingence de l’événement contribue à la nécessité
en quelque sorte rétroactive de l’histoire d’une vie, à quoi s’égale
l’identité du personnage«.97 So gesehen wäre also ausgerechnet das
Zufällige und Ungebändigte, das sich durch den Prozess des Er­
zählens in einen narrativen »destin« zusammenfügt, und nicht um­
gekehrt, ein vorbestimmtes und vorbestimmendes Geschick, das
­alles Kontingente in eine narrative Vorlage hineinzwingt, bloß um
es d­ adurch in ein Notwendiges zu verwandeln.

94 Zu den Deutschen muss man wohl hinzufügen, dass Heidegger zwischen


mehreren Stämmen unterscheiden konnte und dass er allein den Schwaben
seine Hochachtung schenkte. Vgl. oben § 2.1, sowie u. a. Überlegungen XIV,
GA 96, S. 200: »Pfälzer, Halbhessen und Viertelsfranken als ›Alemannen‹ –
und die ›Alemannen‹ aufgespreizt und laut und verschlagen.«
95 Überlegungen XI, GA 95, S. 403.
96 Paul Ricœur, Soi-même comme un autre (1990), S. 148.
97 Ebd., S. 175.
150 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

Sich den Erfordernissen einer narrativen Genese des Charakters


zu beugen, hätte aber für Heidegger unvermeidlich bedeuten müs­
sen, die Identität seines deutschen Volkes aus der überzeitlichen Di­
mension des Mythos abzusetzen und sie mit den historischen Ereig­
nissen einer faktischen Gegenwart zu konfrontieren, die eine völlig
neue Konfiguration, wenn nicht die definitive Aufgabe des seinsge­
schichtlichen Narrativs gefordert hätte. Denn, wie Ricœur fortsetzt,
es bestehe immer ein dynamisches Verhältnis zwischen den Erfah­
rungen einer narrativen Figur und ihrer Identität:

»La personne, comprise comme personnage de récit, n’est pas une


entité distincte de ses ›expériences‹. Bien au contraire : elle par­
tage le régime de l’identité dynamique propre à l’histoire racontée.
Le récit construit l’identité du personnage, qu’on peut appeler
son identité narrative, en construisant celle de l’histoire racontée.
C’est l’identité de l’histoire qui fait l’identité du personnage.«98

Der Seinsgeschichte musste dieser notwendige Grad an Dynamik,


der dazu geführt hätte, die Deutschen mit den Nationalsozialisten
zu identifizieren, bis zuletzt fehlen. Dafür berief sich Heidegger,
um eine »identité de l’histoire« trotz des Verlustes der »identité du
personnage« aufrechtzuerhalten, auf einen mythischen Begriff von
Rasse, die »nur Bedingung, aber nie das Unbedingte und Wesent­
liche eines Volkes, sein«99 sollte.
Diesem Rassenbegriff wurde nun von den Nationalsozialisten
(sowie, seiner Meinung nach, von den Juden100) eine rationale und
neuzeitliche Auffassung entgegengesetzt, die unausweichlich zum
Prinzip einer geplanten Volksaufzucht führen musste. Indem Heid­
egger den Ursprung des entarteten »Rasseprinzips« allein der bö­
sen Entität der »Machenschaft« zuschob, die der »Rasse« ihren ur­
sprünglichen Sinn entzog und auf »eine vollständige Entrassung
der Völker«101 abzielte, konnte er die Deutschen selbst zu Opfern
einer technologisierten Selbstentwurzelung machen, die ihre völki­
sche Identität in den machenschaftlichen Avatar des National­sozia­
lismus verwandelte.

98 Ebd.
99 Überlegungen V, GA 94, S. 351.
100 Vgl. Überlegungen XII, GA 96, S. 56.
101 Ebd.
4.3 Rassische Identitäten 151

Es wäre aber trügerisch zu behaupten, bei Heidegger sei eine


durchaus poetische Auffassung von Rasse im Spiel, die nur in ei­
nem narrativen Gefüge wie dem der Seinsgeschichte ihre Legitima­
tion fände. Denn es ist genau das Auszeichnende an dieser Narra­
tion, dass sie als Fiktion nicht einer angeblichen Realität entgegen­
tritt, sondern alles Reale durch das Erzählen aufzusaugen versucht.
Dementsprechend musste nun ein durchaus biologischer Begriff von
Rasse seinen funktionalen Sinn innerhalb dieser Geschichte gewin­
nen, indem er selbst zur Bildung narrativer Identitäten beitrug.
1937/38 konnte Heidegger – und zwar noch im Rahmen einer
öffentlichen Vorlesung – in Betreff des Abendlandes das Arkanum
einer »Biologie seiner Völker« streifen, »von der wir übrigens nichts
wissen, […] weil die Voraussetzung für ihre Auslegung – das Wissen
vom Leben – so kümmerlich verworren ist«.102 Ob dies gerade die
Aufgabe eines künftigen Denkens hatte sein sollen, das ein neues
»Wissen vom Leben« in einer Narrativierung der Biologie begrün­
den sollte, kann nicht entschieden werden, aber gewiss legen Aussa­
gen solcher Art genügend klar dar, welche Bedeutung in den identi­
tären Fragen der Seinsgeschichte eine mehr oder minder biologisch
konzipierte Rasse von Anfang an gespielt hat.
Das Ganze wird noch deutlicher, wenn man es an dem Begriffs­
gerüst bemisst, mit dem Heidegger sich dem russischen Volk an­
näherte und jene ersehnte Vermengung mit dem deutschen kon­
turierte, als er das »Slaventum der Russen« vom geistigen Wesen
des Bolschewismus entschieden abtrennte und eher dem »arischen
Grundwesen«103 unterordnete; dabei sich direkt auf die verworrene
Ideologie stützend, die im nationalsozialistischen Deutschland eine
Bio‑Mythologie104 des Deutschen hervorgebracht hatte. Es war üb­
rigens Heidegger selbst und kein anderer, der mit großer Klarheit
die »Einigung zwischen Germanentum und Russentum« in einem
biologischen und darin ausgezeichnet neuzeitlichen Sinne beschrieb:

102 Wintervorlesung 1937/38 Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte


»Probleme« der »Logik«, GA 45, S. 115.
103 Überlegungen XII, GA 96, S. 47.
104 Vgl. Hitlers Rede vom 13.08.1920 im Festsaal des Münchner Hofbräuhau­
ses: »Diese Rassen nun, die wir als Arier bezeichnen, waren in Wirklichkeit
die Erwecker all der späteren großen Kulturen, die wir in der Geschichte
heute noch verfolgen können.« Handelte es sich etwa bloß um ein unauf­
findbares gemeinsames mythisches Chromosom, das Griechen, Deutschen
und Russen ihren auserwählten Platz in der Seinsgeschichte gewährte?
152 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

»Warum sollte nicht die Reinigung und Sicherung der Rasse dazu
bestimmt sein, einmal eine große Mischung zur Folge zu haben:
die mit dem Slaventum (dem Russischen – dem ja der Bolsche­
wismus nur aufgedrängt und nichts Wurzelhaftes ist)? Müßte da
nicht der deutsche Geist in seiner höchsten Kühle und Strenge
ein echtes Dunkel meistern und zugleich als seinen Wurzelgrund
anerkennen? Vermöchte so erst ein Menschentum geschichtlich
werden, das einer Gründung der Wahrheit des Seins gewach­
sen wäre und zu einer Gottfähigkeit berufen? Wie, wenn die
politische Vollendung der Neuzeit diese Einigung vorbereiten
müßte, zunächst auf vielen Umwegen und in scheinbar äußers­
ten Gegensätzen.«105

In einer der finstersten Passagen aus den Schwarzen Heften scheint


nun Heidegger etwas wie eine geschichtliche Rechtfertigung für
die Nürnberger Rassengesetze106 gefunden zu haben, indem er je­
ner »Reinigung und Sicherung der Rasse«, die er sonst als das aller­
schlimmste machenschaftliche Getriebe abwertet, plötzlich mit einer
seinsgeschichtlichen Bedeutung überzieht, die sie dazu bestimmen
sollte, »eine große Mischung« zwischen zwei arischen Völkern zu
vollbringen.
Traurig ist vor allem zu beobachten, zu welcher Selbstverstüm­
melung sich ein Denken zwingen konnte, um dem Projekt einer
Erzählung treu zu bleiben, das schon in seiner ersten Vorausset­
zung – das Reale als denkerische Fiktion darzustellen – vollkom­
men unhaltbar war. Denn man kann es nicht anders als Anmaßung
beschreiben, mit einer narrativen Schöpfung der Realität das histo­
rische Geschehen gerade in seiner faktischen Unmittelbarkeit als
eine Narration ausgeben zu wollen: Als ob gerade durch den Akt
des Erzählens das erzählte Faktum zum weltlichen Ereignis hätte
gemacht werden können.
So musste dieses Denken seiner eigenen Immanenz zum Opfer
fallen und sich noch eine rein biologische Theorie aneignen, bloß

105 Überlegungen XI, GA 95, S. 402.


106 Siehe insbesondere das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre vom 15.09.1935: »Durchdrungen von der Erkenntnis, daß
die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des
deutschen Volkes ist, und beseelt von dem unbeugsamen Willen, die deut­
sche Nation für alle Zukunft zu sichern, hat der Reichstag einstimmig das
folgende Gesetz beschlossen …«
4.3 Rassische Identitäten 153

um dem unabwendbaren Entgleisen seiner Narration entgegenzu­


wirken. Paradoxerweise wurde selbst das Projekt des anderen An­
fangs, das als geschichtliche Alternative zur neuzeitlichen Rationa­
lität entstanden war, gerade ihrem berechnenden Geist unterworfen
und dazu gebracht, ihn in einer genetischen Mischung der Rassen
zu bejahen.
Dafür entwarf Heidegger eine bio-»politische Vollendung der
Neuzeit«, in der die geheimnisvolle »Biologie der Völker« zur
Grundlage für eine neue »Gottfähigkeit« hatte dienen sollen. Das
durfte nach den Maßstäben dieses Narrativs selbstverständlich nicht
auf einer wissenschaftlichen Ebene geschehen, sondern musste sich
in einer Verzauberung der Biologie vollziehen, wo nun »der deut­
sche Geist« in einem undurchdringlichen »Dunkel« sich seinen ei­
genen »Wurzelgrund« selber schöpfte, indem er mit den magischen
Mitteln eines Alchimisten Fleisch und Blut der Völker vergeistigte
und zu einer neuen Rasse mischte.
Es war daher kein Zufall, wenn Heidegger in den 40er Jahren
ausgerechnet durch einen Begriff des »Magischen«107 das Wesen
des Russentums aufzufassen versuchte. In einer deutsch‑russi­
schen Mystik, in der selbst der Geist des deutschen Idealismus »aus
Geistertum«108 herrührte und den Weg zu einem seinsgeschichtli­
chen »Spiritualismus« eröffnete, begegnete Heidegger dem russi­
schen Kultus der Heiligen Sophia, durch den das »Wirken des Geis­
tes als der alles durchwirkenden Kraft der Erleuchtung und der
Weisheit (Sophia)«109 als »magisch« galt. Darin wollte Heidegger
einen historischen Einfluss des Görlitzer Mystikers Jakob Böhme
auf die russische Kirchenlehre erspüren und eine schon im 17. Jahr­
hundert vollzogene geistige Vereinigung der beiden Völker feiern.110

107 Die Armut, GA 73.1, S. 875.


108 Anmerkungen I, GA 97, S. 77.
109 Die Armut, GA 73.1, S. 874.
110 Vgl. ebd., S. 875. Heideggers Neigung zu einer pneumatischen Auffas­
sung des Geistes, wie er ihr in der russischen Sophiologie begegnete, findet in
seinem Werk weitere Verbreitung. In der Auslegung von Hölderlins Hymne
Der Ister waren der Strom und der Dichter – der letzte ausdrücklich als
»Beseeler« (GA 53, S. 160) genannt – sowie die Technik (ebd., S. 66) Geister.
Dazu musste noch die Urform jeglichen Materialismus, aus dem auch der
Bolschewismus heraufkam, als »im höchsten Sinne ›geistig‹« betrachtet wer­
den (Überlegungen XIII, GA 96, S. 150; auch in: Κοινόν . Aus der Geschichte
des Seyns, GA 69, S. 204). Zu dem Geist und den Geistern, die in Heideggers
154 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

Aber das Interesse für die russische geistige Welt muss viel weiter
gefasst werden, wenn Heidegger mit einem gewissen Stolz schon »in
den Jahren 1908 und 9«,111 als er kaum 20 Jahre alt war, den Anfang
seiner »Besinnung auf das Russentum« datierte. Jenseits mystischer
und philosophiegeschichtlicher Nachklänge weist dann die Kennt­
nis der Werke von Turgenjew und Dostojewski auf eine eher lite­
rarische, wenn nicht strikt narrative, Neugier hin. So war es durch
diese zwei Schriftsteller, dass der »Nihilismus« zum ersten Mal als
geschichtliches Phänomen erkannt wurde: durch Turgenjew, der
als erster die Bezeichnung »in Umlauf«112 brachte, indem er »damit
die russische Gestalt des abendländischen Positivismus meinte«,113
und durch Dostojewski, der den modernen wurzellosen Menschen
zeigte, der »an seinen Heimatboden und an die Kräfte dieses Hei­
matbodens nicht glaubt«.114
Aus solchen literarischen Anprangerungen eines geschichtlichen
Materialismus musste Heidegger eine unerwartete Seelenverwandt­
schaft entgegenleuchten. Auf einmal konnte er dann in den Rus­
sen das ersehen, was ihm an seinen Deutschen ständig gefehlt hatte,
nämlich eine so feste Verwurzelung in der narrativen Topographie
der eigenen Heimat, dass weder die neuzeitliche Selbstentfremdung
des Kommunismus noch die ontotechnische »Verwüstung«115 des
Weltkrieges sie dem hatte entreißen können. Bis schließlich Heideg­
ger in Dostojewski einen slavischen Hölderlin zu erblicken schien,
der am Anfang der Dämonen eine unlösliche Verkettung zwischen
Volk und Gott aufstellte: »Wer aber kein Volk hat, der hat auch kei­
nen Gott«.116
Demnach verkörperten die Russen das Ideal der narrativen Iden­
tität, in der ein Volk durch die eigene Dichtung zur geschichtlichen

Denken herumspuken, siehe vor allem: Jacques Derrida, De l’esprit (1987),


in: ders., Heidegger et la question.
111 Überlegungen XIII, GA 96, S. 148.
112 Freiburger Vorlesung II. Trimester 1940, Der europäische Nihilismus,
GA 48, S. 2.
113 Überlegungen XII, GA 96, S. 49.
114 GA 48, ebd.
115 Vgl. Überlegungen XV, GA 96, S. 257 f.: »Das Russentum ist trotz allem
zu bodenständig und vernunftfeindlich, als daß es imstande sein könnte, die
geschichtliche Bestimmung der Verwüstung zu übernehmen.«
116 Zitiert in Überlegungen XIII, GA 96, S. 123.
4.3 Rassische Identitäten 155

Entscheidung über die Götter117 kommen sollte. In der magischen


Lehre von der Heiligen Sophia sowie in der unlöslichen Bezogenheit
auf den Heimatboden waren dann die Russen die Bewahrer des un­
ergründlichen »Dunkels«, in dem sich die moderne Rationalität un­
wiederbringlich verwirren musste. Durch die Finsternis eines Selbst,
das das Blut der Rasse mit dem Hauch des Geistes vermischte, ver­
schaffte sich also die Seinsgeschichte ein Volk, das seine historische
Faktizität nur durch die Narrativierung seines Charakters erhielt.
Mithin musste selbst jenes rechnerische Prinzip der Neuzeit, das
die Völker zur »Entrassung« einer wahnsinnigen Selbstaufzucht ge­
trieben hatte, einem verborgenen Plan der Narration gefolgt sein,
damit letzten Endes »die Unerschöpflichkeit der russischen Erde
in die Unwiderstehlichkeit des deutschen Planens und Ordnens
aufgenommen«118 werden würde. Was Heidegger sich daraus er­
hoffte, war womöglich die Schöpfung eines interrassischen mythi­
schen Ungeheuers, das alle Widersprüche der Geschichte auf einmal
in sich vereinen und lösen könnte.
Die narrative Inszenierung des zweiten Weltkrieges bot dabei den
Raum für solche »Einigung«, hinter der sich eine Auseinanderset­
zung verbarg, wo endlich zwei Völker sich als echte Gegner gegen­
überstanden und einen wahren »Kampf um das Wesen«119 entfach­
ten, der Sieger und Besiegte von Grund auf ausschloss, weil es dabei
nur um das Wesen der Narration ging:

»Im Russentum findet die vollendete Metaphysik die gemäße


Stätte ihrer Rückgeburt. Von da kommt sie dereinst als Gegen­
wurf dem Anfang entgegen.«120

So war der Kampf zwischen Russentum und Deutschtum nichts


anderes als die Geschichte des Seins im innerlichen Kampf des
Anfangs gegen das Ende, des Kommenden gegen das Bestehende.
Hinter dem letzten Vernichtungsgefecht zwischen Bolschewiki und
Nationalsozialisten, hinter der letzten Ausweitung der Technik zur
totalen Weltzerstörung, musste dann die Neuzeit ihre endgültige
Voll­endung durch jene »große Mischung« der Rassen erreichen, in

117 Siehe oben § 3.2.


118 Überlegungen XI, GA 95, S. 403.
119 Überlegungen VII, GA 95, S. 56 f.
120 Überlegungen XV, GA 96, S. 276.
156 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

der das metaphysische Prinzip bei den Russen in seiner geschicht­


lich reinsten Form zurückgeboren werden musste, um daraufhin
dem deutschen Prinzip eines anderen Anfangs entgegenzuschlagen.
Ob dabei tatsächlich die Menschheit einer anderen Geschichte hätte
entstehen können, durfte Heidegger niemals erfahren, da die Kriegs­
ereignisse sich weigerten, nach den Vorgaben der seinsgeschichtli­
chen Erzählung zu verlaufen.

4.4 Geschichte als Zugeschicktes

Der unzumutbare Versuch, die Gräuel des Weltkrieges als philoso­


phisches Epos zu erzählen, musste dennoch signifikante Verände­
rungen in Heideggers Geschichtsauffassung mit sich bringen – bis
innerhalb von wenigen Jahren nach Kriegsende das gesamte Projekt
der Seinsgeschichte aufgegeben werden musste.121 Aber lange bevor
das Denken des Seins seine narrative Form verließ (um trotz allem
weiterhin eine dichterische beizubehalten), vollzog sich Anfang der
40er Jahre eine Wendung, die der Geschichte jeden Bezug auf ein
Geschehen nahm.
Heidegger berief sich auf einen Begriff von »Geschick«, das nun
auch die beiläufige Bedeutung von Schicksal beiseitelegte und das
»Ereignis« selbst als reine Sendung des Seins verstand. Demnach
sollte Geschichte weder eine »Abfolge aufeinander wirkender Vor­
kommnisse und Zustände« meinen, noch ein rätselhaftes »Schick­
sal«, das den Begebenheiten einfach aufgepfropft werde, wenn »die
Wirk- und Zweckursachen der als Geschehen gefaßten Geschichte
unbekannt« blieben.122
Indem die gesamte Narration als die zugesandte Schrift des Seins
aufgefasst wurde, bekam jeder winzigste Vorfall in ihr die Bedeu­
tung eines Zu‑geschickten, das dem Kontingenten keinen Platz mehr
zuließ. Dabei half sich Heidegger noch einmal mit einer Etymolo­
gie, die das Wort Geschichte erst auf das mittelhochdeutsche »Ge­
schicht« zurückführte, um von daher im Erklingen einer geschickten

121 Vgl. Anmerkungen IV, GA 97, S. 382: »Im Ereignis ist das Wesen der
Geschichte verlassen. Die Rede von der Seynsgeschichte ist eine Verlegenheit
und ein Euphemismus.«
122 Die Heimatlosigkeit, GA 73.1, S. 764.
4.4 Geschichte als Zugeschicktes 157

Geschichte die Bedeutungen von Schickung und Geschehen mit­


einander zu vermengen.123
Als ob eine Geschichte nur dann geschehen könnte, wenn sie
einem Adressaten zugeschickt würde, ereignet sich die Geschichte
des Seins als das Geschickte jener Deutschen, die eine ihnen zu­
geschickte Erzählung in Empfang nehmen mussten, um sie als ihr
­eigenes Geschick ins Geschehen zu bringen. In diesem seltsamen
Gebilde wurden die Worte des Denkens (sowie der Dichtung) einem
geschichtlichen Briefwechsel124 zwischen dem Sein und dem Men­
schen zugeordnet, wodurch das gesamte menschliche Geschehen
selbst in einer Antwort auf die Sendung des Seins entstand:

123 Siehe Anmerkungen I, GA 97, S. 47 f.: »Die Geschichte ist das Geschicht,
d. h. das Geschick, und dies ist das wesende Ganze des Schickens, so wie das
Gebirg ist das wesende Ganze des Bergseins […]. Schicken aber sey hier ur­
sprünglich gedacht als das Schicken des Kommens, welches Schicken dem
Ereignis eignet. Schicken ist voraussenden – hinsenden (in sein Wesen den
Menschen).« Derselbe Gedanke wird auch in Das Ereignis, GA 71, S. 268,
und in Besinnung auf unser Wesen, GA 73.1, S. 716 f., ausgeführt. Heidegger
scheint sich hier wieder auf eine Angabe aus dem Deutschen Wörterbuch von
Jacob und Wilhelm Grimm (1854–1961) zu stützen. Beim Verb schicken kann
man dort lesen: »das verbum wird in etymologischen Zusammenhang mit
schehen in geschehen gestellt; es zeigt sich in der älteren deutschen sprache
eine bei weitem reichere bedeutungsentfaltung als in späterer zeit, die mund‑
arten bewahren davon manches, was die schriftsprache aufgegeben hat.«
Das wird nach dem aktuellen Stand der Forschung eher im folgenden Sinne
verstanden: »machen, dass etwas geschieht, bewirken, ausrichten, gestalten,
(an)ordnen …« (Berlin‑Brandenburgische Akademie der Wissenschaften,
­Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache).
124 Zu den folgenden Überlegungen wurde ich vor allem durch das Werk
von Jacques Derrida verleitet, der sich tiefgehend mit den postalischen As­
pekten des Denkens befasst hat, unter anderem auch in direktem Bezug auf
Heidegger. Vgl. ders., La carte postale (1980), S. 72 f.: »Si je ›pars‹ de la des­
tination et du destin ou du destinement de l’être (Das Schicken im Geschick
des Seins), on ne peut songer à m’interdire de parler alors de ›poste‹ qu’à la
condition de faire de ce mot l’élément d’une image, d’une figure, d’un trope,
une carte postale de l’être en quelque sort. Mais pour cela, je veux dire pour
m’accuser, m’interdire, etc., il faudrait être naïvement assuré de savoir ce
qu’est une carte postale ou ce qu’est la poste. Si au contraire (mais ce n’est
pas simplement le contraire), je pense le postal et la carte postale à partir du
destinal de l’être, comme je pense la maison (de l’être) à partir de l’être, du
langage et non l’inverse, etc., alors la poste n’est plus une simple métaphore,
c’est même, comme lieu de tous les transferts de le toutes les correspondan­
ces, la possibilité ›propre‹ de toute rhétorique possible.«
158 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

»Das also Sich-Schickende im Kommen und in das Kommen ist


das Einzige alles Wesens, das Ge-wesen des Kommens. Es schickt
(sendend-fügend-schenkend) den Menschen in sein Wesen: dem
Ge-wesen des Kommens die Ankunft und das Gedächtnis zu
sein. Darum ist der Mensch wesenhaft aus der Schickung be-
stimmt. Der Mensch ist im eigentlichen Sinne geschicklich, d. h.
geschichtlich.
Darum ist es des Menschen, das Schickliche zu suchen. Das
ist dasjenige, was dem wesenden Einzigen des Schickens und der
Schickung entspricht, d. h. antwortet. Das Antworten aber ist das
Andenken an das Gewesen des Kommens. Das Andenken ist das
Wesen des Denkens.«125

Nun schickt das Geschick den Menschen in eine erzählte Ge­


schichte, die als Ge‑schickte schon immer gewesen ist und die ge­
nau aus dem »Ge-wesen« einer zeitüberlappenden Wesung das Er­
eignis ihres »Kommens« erzählt. Einerseits ist also hier der Mensch,
indem er »aus der Schickung be-stimmt« wird, selbst Figur in einer
Geschichte, die kein Geschehen mehr ist, sondern eben nur Sen­
dung und Versand einer seit jeher waltenden Schrift; andererseits
aber wird dieser versandte Mensch, sofern er »geschicklich, d. h. ge­
schichtlich« ist, zugleich zum Empfänger eines »Schicklichen«, das
das menschliche Wesen selbst als »die Ankunft und das Gedächtnis«
einer zugesandten Erzählung festsetzt.
Die Geschichtlichkeit dieses Geschichtlich- und d. h. Geschick‑
lichseins beruht auf einem »Antworten«, das dem postalischen Ge­
schick »entspricht«, nur indem es zur Rücksendung auf ein origi­
näres »Sich‑Schicken« das »Andenken« dieser Geschichte entste­
hen lässt. Demnach wird ein Primäres durch ihr Sekundäres einge­
holt und das Erzählte in ein Erzählendes verwandelt, wodurch der
versandte Mensch nun sich selbst aus der Schickung seiner eigenen
­Geschichte empfängt.

125Besinnung auf unser Wesen, GA 73.1, S. 716 f. Vgl. auch Anmerkungen I,


GA 97, S. 48: »Das Schickliche ist das, was dem Schicken des Geschickes
antwortet und ihm so entspricht und sich dem Fug des Ereignisses fügt. Das
Geschickliche ist das Ganze der Schickung und der wesenden Antwort – das
Antworten ist das Gehören (das achtsam Geeignetsein dem |Ereignis|) dem
Geschick.«
4.4 Geschichte als Zugeschicktes 159

Auf diese Weise kam Ende der 40er Jahre Heidegger ausdrücklich
dazu, von einer »Nach-schrift als Sage des Seyns«126 zu sprechen,
die das immanente Erzählen der Seinsgeschichte für die originäre
Nachträglichkeit eines Schreibens ausgab, in dem das ursprüngliche
Wort des Seins in einem noch ursprünglicheren »Lesen« verzeichnet
wurde: im Empfang einer Schrift, die, als von Anfang an zugeschickt,
sich erst in ihrem Nach‑lesen – als Vermächtnis eines ungeschehenen,
posthumen Ereignisses – ursprünglich niederschreibt.
Man könnte hier jenen Begriff einer postalischen Auto(bio)gra‑
phie127 fruchtbar machen, den Jacques Derrida in La carte postale
schildert, nach dem jedes Schreiben ein Schreiben an sich selbst ver­
birgt, ein »envoyer la lettre pour qu’elle fasse retour après avoir in­
stitué son relais postal«,128 in dem der Adressat – in diesem Fall der
geschichtlich-geschickte Mensch – in eine Geschichte des Seins ein­
geschrieben wird, bloß um diese Geschichte als geschickte Schrift
ihrem Absender, nämlich dem Sein selber, zurückzusenden.
In einer zweifelhaften »Antwort«, die eigentlich nichts antwor­
tet und sich im restlosen Entsprechen eines stillen »Andenkens« er­
schöpft, lässt sich dann der Mensch in eine Bestimmung senden, die
alles Kommende in sein Gewesenes zurückdreht und den Empfän­
ger selbst mitsamt der Sendung dem Absender zustellt. Dabei würde
das kreisförmige Geschick dieses »Sich-schickens« einen »relais pos­
tal« stiften, der die Möglichkeit immer mit einschließt und sogar
nachdrücklich fordert, »qu’un lettre peut toujours ne pas arriver à
destination«;129 vor allem, wenn hier »Ankunft« das lesende »Ge­
dächtnis« einer Geschichte ist, die als Nachhall ihrer selbst über­
haupt nichts mehr ankommen lässt und in der »Nach-schrift« ihrer
Schrift sich von Anfang an als bloße Rücksendung zu erkennen gibt.
Es bliebe noch zu fragen, um welchen Absender es sich in Wahr­
heit handelt, und ob »l’acteur‑dramaturge‑producteur«130 der Seins­
geschichte tatsächlich das Sein sei oder eher ihr einziger Nach‑schrei­
ber, der über all die Jahre hinweg in der Einsamkeit seiner Hütte
ununterbrochen eine gigantische Narration an sich selbst sendete,

126 Anmerkungen IV, GA 97, S. 346.


127 Die Seinsgeschichte als Autobiographie? Aber von welchem βίος ist hier
die Rede? Etwa des Seins? Oder eher von Heidegger? Dazu seien die sehr
persönlichen Merkmale dieser Narration achtsam zu betrachten.
128 Jacques Derrida, La carte postale, S. 345.
129 Ebd.
130 Ebd., S. 329.
160 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

um mit einer vielleicht uneingestandenen Schuld seines Denkens


einigermaßen zurechtkommen zu können.
Wie dem auch sei, ob Heidegger seine Stellungnahme zum Natio­
nalsozialismus jemals als eine Schuld hätte betrachten können – oder
ob es ihm tatsächlich gelang, sie als das ursprüngliche »Irren« eines
wahrhaftigen Denkens zu rechtfertigen,131 das in allem, was es tat
und dachte, nur dem Sein entsprach –, musste er sich in den 40er Jah­
ren doch mit einem unversöhnlichen »Mißgeschick im Geschick«132
auseinandersetzen, das jenem »Unwesen« der Geschichte, dem Un­
geschichtlichen in all dem Schicklichen, nun selbst das Wort überließ.
Heidegger nannte es ohne Umschweife, aber bloß um es als solches
im selben Zug zu leugnen, »das Böse«:

»Der Ältere: Weil die Verwüstung tieferen und weither kom­


menden Wesens ist, wird jedoch unser Nachdenken immer
wieder zu ihr zurückkommen. Dabei dürften wir stets klarer
erkennen, daß die Verwüstung der Erde und die mit ihr zu­
sammenhängende Vernichtung des Menschenwesens irgend­
wie das Böse selbst sind.
Der Jüngere: Mit dem Bösen meinen wir freilich nicht das
moralisch Schlechte, auch nicht das Verwerfliche, sondern das
Bösartige.«133

Wir sind hier bei dem vielleicht narrativsten Stück in Heideggers


Werk gelandet, in dem 1945 ein imaginärer Dialog zwischen seinen
beiden in Russland in Gefangenschaft geratenen Söhnen inszeniert
wird. Am Abend eines schweren Arbeitstages in einem Kriegsge­
fangenenlager erörtern ein »Jüngerer« und ein »Älterer« einige un­
behagliche Gedanken über den Krieg und das Abendland. Es ist ein
letzter müder Blick auf die Weltereignisse, der keine große Hoff­
nung mehr für den Menschen zulässt und sich in ein Denken der
»Gelassenheit« zurückzieht, das in jenen Jahren mit Berufung auf
die Mystik von Meister Eckhart jeden Willen für ein absagendes
»Nicht-Wollen«134 preisgab.

131 Über die absolute Freiheit eines denkerischen Irrens siehe: Peter Trawny,
Irrnisfuge: Heideggers Anarchie (2014).
132 GA 71, S. 267.
133 Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager (1945), GA 77, S. 207.
134 Ἀγχιβασίη . Ein Gespräch selbsdritt auf einem Feldweg (1945), GA 77,
4.4 Geschichte als Zugeschicktes 161

Von einem Anfang, sei es einem neuen oder einem schon längst
verbrauchten, scheint kaum noch etwas übrig zu sein. Das Den­
ken als »Andenken« erschöpft sich in einem reinen Warten, das
auf nichts mehr wartet und im leeren »Kommenlassen« ein Kom­
men ohne Kommendes135 bedenkt. Aus den unzähligen Figuren der
seinsgeschichtlichen Narration sind nur noch »Vernichtung« und
»Verwüstung« geblieben. Diese sind das »Böse selbst«, und zwar
nicht im Sinne der Moral, sondern schlicht narrativ als die Gegen­
kraft des bösen Widersachers, ohne die kein Märchen hatte jemals
entstehen können.
So wird »das Bösartige« zum unentbehrlichsten Bestandteil die­
ser Erzählung, indem es allem, was es überhaupt an guten Kräften
in der Narration gibt, von Anfang an entgegenwirkt und gerade da­
durch den Ablauf einer Handlung in Gang setzt. Heidegger nennt es
»das Aufrührerische, das im Grimmigen beruht«,136 d. h. ein unter­
schwelliges Widerstreben innerhalb der Seinsgeschichte selbst, das
sich dem Projekt eines anderen Anfangs unablässig und verbissen
in den Weg stellt und das zu überwinden den gesamten Sinn der
Narration ausmacht.
Insofern musste sich auch die Frage, wie denn jenes »Böse« noch
der einen und selben Geschichte zuzurechnen wäre, in der restlosen
Immanenz ihres Geschicks von selbst erledigen: »Inwiefern kann ins
Geschick das Bösartige gehören und das Ergrimmen?«137 Die einzig
plausible Antwort musste dann so konsequent wie bösartig ausfal­
len: »Denn das Bösartige, als welches die Verwüstung sich ereignet,
möchte wohl ein Grundzug des Seins selbst bleiben.«138
Es ist also das Sein und immer noch und allein das Sein, das in
dieser Erzählung alles bestimmt, das sich diese ganze Geschichte als
seine eigene intime Epik zusendet, in der sogar der in ihr sich bewe­
gende Mensch gar kein Handelnder ist, sondern selber Teil der Hand­
lung, nicht einmal ein Abgesandter, selber ganz und gar Sendung.

S.  107. Zwar ist dort die Gelassenheit »ein Nicht-Wollen im Sinne der Absage
an das Wollen, damit wir uns durch diese Absage hindurch auf das gesuchte
Wesen des Denkens, das nicht ein Wollen ist, einlassen können« und nicht,
wie bei Meister Eckhart, »das Fahrenlassen des Eigenwillens zugunsten des
göttlichen Willens« (ebd., S. 109).
135 Siehe Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager, GA 77, S. 218.
136 Ebd., S. 207.
137 Anmerkungen I, GA 97, S. 48.
138 Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager, GA 77, S. 215.
162 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

Dementsprechend hatte Heidegger auch relativ früh anerkennen


müssen, dass hinter dem »Unwesen des Seienden«, das er vielleicht
zu schnell als »Feind« gebrandmarkt hatte, sich nichts anderes als
das »Unwesen des Seyns«139 selbst verbarg, das noch als »Machen­
schaft« dem Faden eines verborgenen Geschicks gefolgt war. Daraus
ergab sich für ein geschichtliches Denken letztlich die unzumutbare
Aufgabe einer »Bejahung des Unwesens«, die Heidegger zu den frag­
lichsten Entscheidungen seines Lebens führen sollte.

»Das Denken. Das Schwerste ist, im Wesen des Seyns das Un­
wesen zu erkennen und dabei das Unwesen als Notwendigkeit
des Wesens (nicht nur ›dialektisch‹) begreifen: das Un‑wesen set­
zen und sich in der Setzung von jeder Verneinung freihalten. Die
›Entwicklung‹ eines Denkers besteht in der Entfaltung dieses Ver­
mögens der Gründung des Unwesens. Aber diese Bejahung des
Unwesens erhält sofort für das gewöhnliche Meinen und seinen
›Optimismus‹ den Anschein des ›Pessimismus‹.«140

Es ging dabei um die Rolle aller Denker, die als jene »gespielten
Spieler«141 in der großen Partie der Seinsgeschichte nur bloße Nach­
schreiber einer empfangenen Sendung sein durften. Ihnen wurde
aufgetragen, in der unbedingten Hingabe zu einem Zugeschickten
selbst das trübste »Unwesen« der Seinsvergessenheit und die ab­
schreckendsten »Machenschaften« des Seienden philosophisch bzw.
narrativ zu begründen. Demnach bildete sich gerade »in der Entfal­
tung dieses Vermögens der Gründung des Unwesens« die Narrativi­
tät eines Denkens, dessen letzte Aufgabe die Darstellung des gesam­
ten menschlichen Geschehens als postalische Geschichte des Seins
war, indem jeder Dualismus zwischen »Wesen« und »Un­wesen« in
dieselbe Inszenierung fiel.
Daher galt es, jenseits von allem »Optimismus« und »Pessimis­
mus«, restlos eine narrative »Notwendigkeit« des Bösen zu bejahen,
die weder moralisch noch historisch das »Bösartige« in der Weltge­
schichte als reine Funktion der Erzählung legitimierte. Ähnlich Vla­
dimir Propp, der »die Schädigung als erste wesentliche Funktion des

139 Überlegungen VII, GA 95, S. 39.


140 Überlegungen VI, GA 96, S. 508.
141 Vgl. oben, § 1.1.
4.4 Geschichte als Zugeschicktes 163

Märchens«142 kennzeichnete, konnte Heidegger in der »Verwüstung


der Erde« und der »Vernichtung des Menschenwesens« die innere
Triebkraft im verborgenen Geschick des Seins erkennen, die die ge­
samte Weltgeschichte zu ihrer Auf- und Erlösung brachte.
Mit solchem Vorsatz immanenter Treue allem erzählten Gesche­
hen gegenüber, worin jede Trennung zwischen Realität und Fiktion
von Anfang an verwischt war, hatte dann Heidegger bereits Ende
der 30er Jahre ohne inneren Widerspruch seine Stellung zum Nazi-
Regime problemlos revidieren können und »die frühere Täuschung
über das Wesen und die geschichtliche Wesenskraft des National­
sozialismus« in »die Notwendigkeit seiner Bejahung und zwar aus
denkerischen Gründen«143 umgewandelt.
Was er zuerst »für die Möglichkeit eines Übergangs in einen ande­
ren Anfang gehalten«144 hatte, musste nun als äußerste Entfesselung
der Technik die gesamte Neuzeit zu ihrer »Vollendung« bringen,
und in der planetarischen Katastrophe des zweiten Weltkrieges die
jahrtausendelange Agonie der Metaphysik zum vorgeschriebenen
Ende verhelfen.
Ob dann auch wirklich jegliche ethische Frage außer Kraft zu
setzen war, bloß indem man alle geschichtlichen Entscheidungen auf
eine narrative Ebene verlegte – sodass auch eine politische Partei­
nahme für den Nationalsozialismus gar keine persönliche Entschei‑
dung mehr darstellte, sondern die »Entschiedenheit des Historisch-
Technischen«145 selbst – soll dahingestellt bleiben; man darf aber
nicht außer Acht lassen, welche enge Verbindung zwischen allem
Narrativen und dem Ethischen besteht.
Paul Ricœur erinnert uns in Soi-même comme un autre ­daran,
dass, selbst wenn wir bei der Rezeption eines fiktiven Werkes gar
keine moralische Handlung vollführen, wir als urteilende Sub­
jekte keineswegs ausgeschaltet werden: »Les expériences de pen­
sée que nous conduisons dans le grand laboraitoire de l’imaginaire
sont aussi des explorations menées dans le royaume du bien et du
mal.«146 Eine narrative Erfahrung stellt also immer »une extension

142 Morphologie des Märchens, S. 75.


143 Überlegungen XI, GA 95, S. 408.
144 Ebd.
145 Ebd.
146 Soi-même comme un autre, S. 194.
164 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins

du champ pratique«147 dar, in der wir uns als ethische Subjekte


konstituieren.
Dementsprechend schleicht sich bei mir der Zweifel ein, ob eine
fiktive Dimension jenseits von Gut und Böse tatsächlich frei von
moralischen Urteilen sein kann. Friedrich Nietzsche, der ein viel­
leicht ehrlicherer Immoralist war, musste sich einmal eingestehen,
dass, als er »der Moral das Vertrauen gekündigt« hatte, er weiterhin
»einem strengen Gesetze über uns« gefolgt sei, das als »die letzte
Moral, die sich auch uns noch hörbar macht«,148 schließlich zur
»S e l b s t a u f h e b u n g d e r M o r a l « hatte führen sollen.
Dass nun Heidegger einen außermoralischen Standpunkt für
seine Narration bezogen hat, macht ihn also nicht von dem Verdacht
frei, ausgerechnet darin auf seine besondere Art moralisch geblieben
zu sein. Denn wenn auch die Seinsgeschichte eine vollkommene In­
differenz gegenüber allem menschlichen Unglück forderte, verriet
sie gerade darin eine unbeugsame Moralität vor dem Sein und seinem
höheren Geschick. Demzufolge konnte Heidegger 1946 wohl die
Deutschen angesichts aller Kriegsverbrechen von jeglicher »Schuld«
freisprechen und sich dennoch über den Tatbestand empören, dass
es als gar »keine ›Schuld‹« gelte, »wenn man auch heute noch, am
300. Geburtstag, Leibniz in die Vergessenheit stößt«.149

147 Ebd., S. 180.


148 Aus der Vorrede (1886) zu der zweiten Ausgabe von Morgenröthe, KSA 3,
S. 16.
149 Anmerkungen II, GA 97, S. 129.
5. Poetik der Seinsgeschichte

5.1 Das Epos des Seins

»… dann muß man auch wissen, daß es eine Phantasie


der Begriffe gibt, die noch die dichterische Einbildungs‑
kraft der Dichter übersteigt.«
GA 96, S. 225

Es mag wie eine gewaltsame Interpretation aussehen, wenn man


das Werk eines Philosophen als Narration deutet. Und gewiss hätte
­Martin Heidegger eine solche Bezeichnung für sein Denken wohl
kaum akzeptiert. Andererseits schiene es mir noch fraglicher, wei­
terhin einen Denker als Philosophen zu bezeichnen, der sein gan­
zes Leben damit verbracht hat, sich von der philosophischen Tradi­
tion abzusetzen. Man wird Heidegger selbst gerechter, wenn man
das von ihm evozierte »Ende der ›Philosophie‹« auch endlich ernst
nimmt und sein Denken tatsächlich als »das völlig Andere«1 versteht.
Um die Konturen dieses »Anderen« umreißen zu können und
zu sehen, inwieweit das Wort Narration auch tatsächlich dazu passt,
ist es zuerst nötig, die Geste Heideggers nachzuvollziehen, mit der
er die humanistische Kultur in toto verabschiedete. Und das hatte
nicht bloß heißen sollen, zu einem höheren, vielleicht esoterischen
Begriff von Erkenntnis aufzusteigen, sondern definitiv den Bereich
der Kultur als eines angesammelten und gemeisterten Wissens zu
verlassen. Denn sowie Heidegger in dem »Kulturbetrieb« nur eine
weitere Form der technischen Produktion erkannte, musste er dann
auch jeglichen Erkenntnisprozess als die funktionelle Herstellung
von Wahrheit konsequent ablehnen.
Indem er das Denken in einem sprachlichen Ereignis neu begrün­
dete, gelangte er zu einem performativen Begriff von Wissen, der

1 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 115.


166 5. Poetik der Seinsgeschichte

die Wahrheit nicht mehr als eine zu erwerbende und anzuhäufende


Erkenntnis,2 sondern als das einmalige Geschehen einer Geschichte
verstand. Was nun aber diese als eine rein narrative ausmachte, die,
von jeglicher äußeren Referenz entbunden, sich ganz in ihrem Sa­
gen bewegte, soll dann wiederum in einem Verständnis von Sprache
gesucht werden, das Denken und Dichten gleichzeitig vereinigte
und verfremdete.
Die ersten Berührungen mit einem narrativen Element in der
Wahrheitsauffassung gehen, wie einiges andere noch, auf die erste
Hälfte der 30er Jahre zurück. Damals hatte Heidegger in mehreren
Anläufen versucht, sich mit Platons Höhlengleichnis3 auseinander­
zusetzen, um daraus eine Lehre von der Wahrheit zu erfassen, die
ihm gestatten konnte, die gesamte Logik als übliche Grundlage des
Denkens zu umgehen und einen ursprünglicheren Begriff vom den­
kerischen Sagen zu erringen.
Es war hierin von Anfang an eine Frage von sprachlichen Mitteln,4
die der Höhlengeschichte ihre unbedingte Relevanz verlieh. In ei­
nem Gleichnis, in dem es um nichts anderes als um das Wesen der
Wahrheit ging – und vor allem um den Kampf zwischen zwei Wahr­
heitsauffassungen, der aletheischen und der metaphysischen5 – ver­

2 Vgl. Anmerkungen IV, GA 97, S. 378: »Das Denken gelangt zum Erken­
nen nicht deshalb nicht, weil dieses als Ziel so hoch liegt, sondern weil das
Denken dem Erkennen aus dem Weg geht, aus dem Weg bleibt, ohne seiner
zu achten.«
3 Eigentlich hatte Heidegger schon im Sommersemester 1929 eine erste
Auslegung des platonischen »Höhlenmythos« versucht. Damals hieß es: »Es
ist kein Gleichnis, sondern ein Mythos, d. h. eine Geschichte, und zwar eine
Wesensgeschichte des menschlichen Daseins« (Einführung in das akademi‑
sche Studium, GA 28, S. 351).
4 In diesem Zusammenhang tritt in den Manuskripten der 30er Jahre wie­
derholt das Bedürfnis auf, einen passenden »Stil« für das »andere« Denken
zu finden. Siehe u. a. Die Seinsfrage und das Ereignis, GA 73.1, S. 156: »Stil –
die Bergung der Wahrheit des Seins im Seienden. Die anfängliche Aufgabe
dieser Bergung ist die Gründung der Wahrheit des Seins – als Gründung des
Da-seins. Dieses aber der verhaltene Stil –; der Stil der Verhaltenheit und
zwar Verhaltenheit im Da-sein, also dieser Stil nur aus und als Gründung des
Da-seins möglich.« An einem anderen Ort (Vorgehen – »Entwurf«, GA 73.1,
S. 528) werden noch »die je verschiedenen ›Stile‹« der Metaphysik und »der
Stil des anderen Anfangs« explizit unterschieden.
5 Vgl. Freiburger Wintervorlesung 1933/34, Vom Wesen der Wahrheit,
GA 36/37, S. 128: »Schon daß wir dieses Höhlengleichnis in diesen Zusam­
menhang rücken, daß wir in der in ihm erzählten Geschichte den Kampf der
5.1 Das Epos des Seins 167

dichtete sich für Heidegger das Problem der geeignetsten Denkform,


die dem Sein offenstand:

»Wir sprechen von einem ›Gleichnis‹, sagen auch ›Sinnbild‹. Das


heißt: ein sichtbarer Anblick, so freilich, daß das Erblickte all­
sogleich ein Winkendes ist. Der Anblick will nicht und nie für
sich allein stehen; er gibt einen Wink: dahin, daß es etwas und
was es bei diesem Anblick und durch diesen Anblick zu verste‑
hen gibt. Der Anblick winkt, – er lenkt in ein zu Verstehendes,
d. h. in den Bereich von Verstehbarkeit (die Dimension, innerhalb
deren verstanden wird): in einen Sinn (daher Sinn-Bild). Aber
wohl zu beachten: was es zu verstehen gibt, ist nicht ein Sinn,
sondern ein Geschehen.«6

So stieß in seiner Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester


1931/32 Heidegger auf eine Art von Sagen, das, ohne beim Verstan‑
denen anzuhalten, ständig auf »ein zu Verstehendes« hinwies, das
noch über alles Verständliche hinausging. Im »Wink« begegnete das
Denken des Seins der Urgestalt eines philosophischen Narrativs, das
die feste Form des Begriffs für die wandelnden Figuren eines uner­
schöpflichen »Sinnbildes« aufgab.
Das »denkerische Wort« entledigte sich jeder argumentativen
Stringenz und machte sich frei für die Schwünge einer bildhaften
Phantasie, die nach keiner Verständlichkeit mehr griff, sondern nur
die immer offenbleibende Möglichkeit eines Sinnes suggerierte. Und
wenn dadurch das Werk des Denkens als unfassbar und zwangsläu­
fig unbeweisbar gelten musste, durfte das als keine Einschränkung
angesehen werden, sondern eher als die längst erstrebte Befreiung
von der Logik aller Metaphysik.
Der Wink ist ein Wort, das für sich unverständlich bleibt und auf
eine Bedeutung über sich hinaus verweist, die sich aber jeder Mittei­
lung entzieht. Heidegger vollzog den Übergang von der Auffassung
der Wahrheit als Richtigkeit, die immer auf Belege angewiesen bleibt,
zu einer Auffassung der Wahrheit als Un‑verborgenheit, die etwas
im Sagen entbirgt, nur indem sie ihr Wesentliches im Ungesagten
verbirgt. In Bezug auf Platon ließ uns dann Heidegger auch gleich

Auffassungen über Wahrheit sehen, bedeutet eine ganz bestimmte Auffas­


sung.«
6 Vom Wesen der Wahrheit, GA 34, S. 18.
168 5. Poetik der Seinsgeschichte

wissen, dass er, »wo er in der Philosophie etwas Letztes und Wesent­
liches sagen will, im Gleichnis spricht«,7 da nur das »Unbeschreib-
und Unbeweisbare« als philosophische Wahrheit galt.
Phänomenologisch gesehen scheitert hier alle Intentionalität der
Sinngebung an einem unerblickbaren Intendierten – wie an einer
cogitatio, der plötzlich jedes cogitatum ausbleibt.8 Denn als ob der
Wink vom Angeblickten her einem Angewinkten zuwinke, das sich
jedem Blick entzieht, erfüllt nun der Anblick ihr Erblicken gerade
in einem Nicht-blicken-können, das jedes Verstandene durch ein
unerfüllbares Verstehbares ersetzt. Dem Verstehen selbst ist dann
jeder Sinn entrückt und dem Wort bleibt nur noch »ein zu Verste­
hendes« erhalten, das sich im »Geschehen« eines unerschöpflichen
Hinüberwinkens performativ in Endlosschleife vollzieht.
Als genau zwei Jahre später Heidegger sich wieder dem Höhlen­
gleichnis im Rahmen einer Vorlesung näherte, waren die Verhält­
nisse zwischen philosophischer Sprache und denkerischem Sagen
noch deutlicher konturiert:

»Dabei ist zu beachten: λόγος als solcher bedeutet seinerseits nur


eine ganz bestimmte Erfahrung und Fassung des Wesens der
Sprache. Die Griechen kennen noch eine zweite und ältere: die
Sprache und das Wort als μύθος. Aber hier hat das Wort nicht die
sammelnde, dem Seienden sich gleichsam entgegenstemmende
und ihm standhaltende Kraft; als μύθος ist das Wort, das über
den Menschen kommt, jenes, worin ihm dieses und jenes seines
Gesamtdaseins gedeutet wird; nicht das Wort, in dem er von sich
her Rede steht, sondern das Wort, das Weisung gibt.«9

Die Erzählung vom Höhlenbewohner, der sich aus seinen Fesseln


befreit und einen tragischen Kampf um die Wahrheit antritt, deutet
Heidegger als eine Mythisierung der Wahrheit, die sich vom philoso­
phischen Diskurs vorsätzlich entfernt und nach einer ganz anderen
Form des Sagens, nämlich der der »Weisung«, greift. Hierbei stehen
μύθος und λόγος als zwei gleichrangige Möglichkeiten der Sprache

7 Ebd., S. 19.
8 In den Schwarzen Heften spricht Heidegger sogar »von der Fragwürdig­
keit einer Sinn‑gebung überhaupt« (Überlegungen und Winke IIII, GA 94,
S. 409).
9 GA 36/37, S. 116.
5.1 Das Epos des Seins 169

einander gegenüber und brechen mit dem bewährten Selbstverständ­


nis des abendländischen Denkens, das den Mythos zur bloßen Vor­
stufe des philosophischen Wissens herabstuft.10
Nun aber beanspruchte Platons Übernahme des Mythos in den
philosophischen Diskurs eine ganz andere Funktion für die my­
thische Wahrheit, die weit über die einer literarischen Erfahrung
oder einer vorwissenschaftlichen Erkenntnis hinausging. Dem­
entsprechend war es mit dem »Ursprung der Philosophie aus dem
Mythos«,11 sollte es jemals darum gegangen sein, ein für allemal vor­
bei. Und der λόγος musste sich plötzlich all seiner Einschränkun­
gen bewusst werden, die ihn endgültig aus dem Bereich der letzten
Wahrheiten verwiesen: Dem μύθος allein blieb dann das Vermögen
erhalten, in die undurchdringlichsten Regionen eines Unsagbaren
hineinzuweisen, wo alles diskursive Denken sich verirren musste.12
Indem Heidegger dem logischen nun das mythische Wort entgegen-
oder zumindest hinzusetzte, erweiterte er den Bereich der Wahrheit
um ein Verborgenes und Unaussprechbares, in das keine signifikante
sprachliche Aussage jemals hineingereicht hatte und dem nur ein
»Wort, das Weisung gibt«, gerecht werden konnte.
In solcher dualen Sprachkonstellation von λόγος und μύθος bildete
dann der erste einen direkten Bezug zum Seienden,13 worin allein
eine Wissenschaft zu entstehen vermochte, indem etwas gezeigt und
begründet wird; während der zweite, als weisendes, winkendes Wort

10 Diesem geläufigen Verständnis schien übrigens Heidegger noch wenige


Jahre zuvor einigermaßen zuzustimmen (vgl. Freiburger Wintervorlesung
1928/29, Einleitung in die Philosophie, GA 27), wobei schon damals der My­
thos einen höheren Rang gegenüber der wissenschaftlichen Wahrheit genoss:
»Hat nicht gerade die Wahrheit des Mythos den Vorzug einer einheitlichen
Geschlossenheit, und beruht nicht seine Macht gerade mit darin, daß alles
einheitlich begründet ist, während wir in manchen Wissenschaften vor lauter
Tatsachen die Wirklichkeit des Seienden nicht mehr sehen?« (ebd., S. 166)
11 GA 27, S. 383.
12 So ist auch die in denselben Jahren entstandene Auffassung der Wahr­
heit als Irre das prägnanteste Beispiel dafür, dass die Wahrheit des Seins sich
nicht mehr logisch bzw. philosophisch sagen ließ und dass neue Formen des
Sagens vonnöten waren. Siehe dazu die 3. Version des Vortrags Vom Wesen
der Wahrheit (Dezember 1930), GA 80.1, S. 400: »In der Auseinanderset­
zung mit der Beirrung durch die Irre, diese in das volle Wesen der Wahrheit
zurücknehmen – aufgeschlossen zum Geheimnis irren.«
13 Siehe auch Die Dichtung, GA 73.1, S. 688: »Der Aufenthalt im Seienden,
und dessen Verfolgung, Entdeckung und Herstellung – ποίησις und τέχνη ,
die Sprache – als Sprache des Seienden, λόγος .«
170 5. Poetik der Seinsgeschichte

immer über das Seiende hinaus in die heimliche Verschwiegenheit


des Seins zurückführt. Dabei verwies schon die griechische Wahr­
heitsauffassung der ἀ‑λήθεια , in ihrem Wechselspiel von Ent- und
Verbergen, auf den Zwiespalt des Denkens. Das hat es einerseits mit
dem λόγος im Bereich der darlegenden und erklärenden Aussage zu
tun, andererseits mit dem μύθος, der auf die Schattenseite eines Sa­
gens fällt, das allein durch Winke spricht und nur so viel preisgibt,
wie es verschweigt.14
Es dürfte daher kaum überraschen, wenn in der Ablehnung der
philosophischen Tradition Heideggers Denken die narrativen Züge
einer Geschichte annimmt, die nach dem Sein nicht mehr mit den
Mitteln der philosophischen Argumentation fragt, sondern es, unter
den Figuren eines denkerischen Mythos, zu erahnen sucht:

»Worin anders soll die abendländische Geschichte ihren verbor­


genen Zug gehabt haben als in dem Versuch, mit ihrem ersten
Anfang, der den Menschen zum animal rationale werden ließ, die
notwendig abfallende Folge zu einem schaffenden Austrag zu
bringen, um am Ende die Seinsverlassenheit des Seienden zu ah­
nen und in dieser verhüllt: einen Wink in das Wesen des Seyns?
Nicht irgendeinen hintersinnigen ›Sinn‹ brauchen wir in die
Geschichte zu legen – wir müssen nur die Geschichte in ihrem
Grundzug einfach genug erfahren, um zu wissen, was sie einer
noch ungerüsteten Zukunft erbringt.«15

Im seynsgeschichtlichen Denken geht es also schlicht darum, eine


Geschichte, nämlich die »abendländische«, als einen »Wink in das
Wesen des Seyns« zu erzählen. Denn nur durch das lange Epos der
Metaphysik, das von seinem »ersten Anfang« über die Herrschaft
des »animal rationale« bis zu »einer noch ungerüsteten Zukunft«
führt, soll die immer noch anhaltende »Seinsverlassenheit des Sei­
enden« erfahren und endlich durchbrochen werden. Aber es ging
keineswegs um eine Geschichtsdeutung, die dem Erzählten e­ inen

14 Zu der inneren Zusammengehörigkeit von ἀλήθεια und μύθος sei vor al­
lem auf die Freiburger Wintervorlesung 1942/43 Parmenides und Heraklit
verwiesen: »Nur da, wo das Wesen des Wortes in der ἀλήθεια gründet, also
bei den Griechen, nur dort gibt es das, was den griechischen Namen μύθος
trägt, den ›Mythos‹« (GA 54, S. 89).
15 Überlegungen V, GA 94, S. 410.
5.1 Das Epos des Seins 171

»Sinn« beilegte, sondern um eine mimetische Rezeption,16 die sich


ihrer Geschichte voll hingibt, in sie einsteigt und sie in restloser
Immanenz vollzieht. Denn diese Narration ist schließlich selbst der
Wink, der den »Sinn« der Philosophie ganz hinter sich lässt und in
ein Denken weist, das dem Sein nur in epischer Dimension begeg­
nen kann.
Von diesem Standpunkt aus wurde die gesamte Philosophie – ge­
rade als »abfallende Folge« des ersten Anfangs – zu einer einzigen,
langanhaltenden Weisung17 in eine andere Geschichte mythisiert.
Und sofern der philosophische Diskurs als Epos der Metaphysik
eine narrative Auslegung fand, verwoben sich λόγος und μύθος in
die Hybride einer zweigesichtigen »Mytho‑Logie«,18 die die philo­
sophische Argumentation nicht einfach beiseitelegte, sondern sie in
eine narrative Form integrierte, sodass selbst die logische Sprache
der Metaphysik, als monumentaler Mythos der Seinsvergessenheit,
den maximalen Wink in einen anderen Anfang darstellen musste.
Hierdurch fiel – und zwar noch jenseits der formalen Kontami­
nation von Denken und Dichten im performativen »Ereignis« des
»seinsgeschichtlichen Sagens« – auch jede inhaltliche Unterschei­
dung zwischen »Philosophie« und »Poesie« innerhalb der bisheri­
gen Tradition aus:

»Das Wesen der Philosophie erfahren heißt, daß wir uns auf das
Verhältnis der Philosophie zur Poesie einlassen. Die Philosophie
ist das Denken im Element des Gedankens. Die Poesie ist das Sin­
gen im Element des Gesanges. (Der erste Vers der ältesten ›Dich­
tung‹ des Abendlandes nennt das Singen: ›Singe den Zorn, o Göt­
tin, …‹). Der Gedanke des Denkers ist im Element des Wortes.

16 Zum Begriff der Mimesis verweise ich nochmal auf Paul Ricœur, Temps et
récit I, und insbesondere auf die Definition der »mimèsis III«: »L’intersection,
donc, du monde configuré par le poème et du monde dans lequel l’action
effective se déploie et déploie sa temporalité spécifique« (S. 109).
17 Siehe dazu auch Die Seinsfrage und das Ereignis, GA 73.1, S. 83: »Und
soll das Suchen nicht ziellos sich zerstreuen, dann bedarf es der Weisung.
Diese kann nur aus dem kommen, was uns geschichtlich trägt und führt – aus
der Art, wie die Wahrheit des Seins die abendländische Geschichte durch­
herrscht.«
18 Es handelt sich um eine spätere Formulierung, die in einigen Manuskrip­
ten aus den 50er Jahren auftritt und die an die Versuche der 30er Jahre über
den μύθος anknüpft. Siehe u. a. Ontologische Differenz, GA 73.2, S. 1406.
172 5. Poetik der Seinsgeschichte

Der Gesang des Sängers ist im Element des Wortes. Das Wort ist
der Wink und der Klang der Stille. Die Stille ist die Versammlung
des Seyns in die Rückkehr zu seiner Wahrheit.«19

Mit diesen Zeilen beginnt ein kurzes Manuskript aus den 40er Jahren,
das den Titel Das Wesen der Philosophie trägt. Dort wird die geläu­
fige Polarisierung von Argument und Narration in ihren allerersten
Voraussetzungen abgewendet, indem jedes Wort, sei es ein poeti­
sches oder ein philosophisches, in ein urtümliches Epos eingebettet
wird, das schon alle Möglichkeiten des Sagens enthält. Im Inneren
dieser sprachlichen Gebärmutter ist das Denken mit einem Singen
verschwistert, das allein erklingen zu lassen vermag, was dem Ge­
danken in der Tiefe einer unauslotbaren Stille zugewunken wird.
Es ist nicht die Sprache, die das Wort hervorbringt, sondern das
Wort selbst, das für Heidegger als »Sage« des Seins die Möglichkeit
alles Sprechens und darin des Denkens erschließt. Dieses unsagbare
Wort wird noch im selben Manuskript als »das antwortende Diktat
der Stille«20 gefasst, in dem das Dichten selbst für ein uranfängliches
»Dictare« steht, das dem Denker und Sänger, genauso wie einem
antiken Rhapsoden,21 eine uralte Sage ins Ohr diktiert. Philosophie
und Poesie sind daher nur als Tradierung eines Epos zu verstehen,
das als »antwortende Sage der Stille des Seyns«22 das Geheimnis des
Seinsgeschicks in den Mythos übersetzt.
In einem Zeichen also, das kein ausgesprochenes, sondern ein
unsagbares »Wort der Stille«23 ist, erklingt der Wink des Seins als
Gedanke und Gesang. Es ist ein singender Gedanke und ein denken­
der Gesang, der vom Sein nicht sprechen, sondern nur erzählen will.
Für die Auffassung des seinsgeschichtlichen Sagens als einer epischen

19 Das Wesen der Philosophie, GA 73.1, S. 675.


20 Ebd., S. 676.
21 Siehe dazu auch die Seminarübungen aus dem Wintersemester 1936/37
Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 81 f.: »Wo­
durch bekam zu Anfang das Wort und das Gesagte einen Bestand? Es wurde
vorgesungen, vorgeredet und im Gedächtnis aufbewahrt. Das Sagen ist ge­
wissermaßen ein Sang, bei bestimmten Gelegenheiten und in bestimmter
Umgebung entstanden und dann weiter gesungen. Die Voraussetzung der
Beständigkeit war eine ganz bestimmte Gliederung und Daseinsform des
Volkes selbst, das in der Sprache seine Existenz hat. Sang der Rhapsoden.«
22 Das Wesen der Philosophie, GA 73.1, S. 676.
23 Ebd.
5.1 Das Epos des Seins 173

»›Dichtung‹«, die auch die sonst übliche Konstellation von Denken


und Dichten grundlegend verändert, ist der Verweis auf Homer von
größter Relevanz. Dass Heidegger bei der Erörterung des Wesens
der Philosophie ausgerechnet mit dem ersten Vers der »Ilias« an­
setzt und von dieser als der »ältesten ›Dichtung‹ des Abendlandes«
spricht, besagt viel über das »Verhältnis der Philosophie zur Poesie«,
das »nicht eine Relation«24 beider darstellt und eher auf »das an sich
haltende Bei-sich-Behalten« eines innigen Zusammenwachsens hin­
deuten soll.25 Demzufolge darf es auch nicht verwundern, wenn in
den Vorlesungen jener Zeit, neben der etablierten Auseinanderset­
zung mit der altgriechischen Philosophie, Heidegger sich häufig auf
das griechische Epos beruft, um den Diskurs der Wahrheit in eine
durchaus narrative Dimension auszuweiten:

»Nicht weil die Wahrheit häufig auch ausgesagt wird, sondern


weil das Wesen des Wortes und die Sage im Wesen der Wahr­
heit gründet und zu ihr gehört, deshalb kommt vor allem das
griechische Wort für ›wahr‹, ἀληθές, schon bei Homer ›in der
Verbindung‹ mit dem ›Sagen‹ vor. Ein griechisches Wort für das
Wort lautet ὁ μύθος. Ein anderes Wort für ›Wort‹ heißt ἔπος. Nicht
zufällig heißt das anfänglich dichtende Wort der Griechen, das
Wort Homers, ›Epos‹. Wieder ein anderes Wort für ›Wort‹ lautet
λόγος. Auch dies gibt zu denken, daß die Griechen von früh an
mehrere Wörter für das ›Wort‹ haben. Dagegen haben sie kein
Wort für ›Sprache‹.«26

Im Wintersemester 1942/43 behauptete Heidegger in Zurückwei­


sung aller Logik, Wahrheit sei keinesfalls das Ergebnis einer sprach­
lichen Aussage, da sie eben die mythische Erfahrung ist, mit der ein

24 Ebd.
25 In der epischen »Sage« kann dann nur noch eine Einheit von »Gedanke«
und »Gesang« bestehen, in der das ursprüngliche Dichten schon das ver­
einende »Verhältnis« sowie die Gründung beider ist. Siehe dazu ebd.: »Das
verborgene Wesen des Denkens und des Singens ist die Dichtung. In ihr
beruhen Gedanke und Gesang. In ihr beruht vordem das Verhältnis beider.
Dieses verhält, hält an sich und spart zögernd beide. Die Dichtung ereignet
sich ursprünglich als das Verhältnis beider und entläßt sie aus sich, ohne sie
zu verlassen. Die Dichtung ist als die antwortende Sage der Stille des Seyns
verhältnishaft zu Denken und Singen, weil sie ereignet ist aus der Stille.«
26 GA 54, 102 f.
174 5. Poetik der Seinsgeschichte

Wort zuerst entsteht. Es ist von daher von nicht geringer Bedeutung,
wenn die ältesten Funde des Terminus ἀληθές (wahr) ausgerechnet
bei Homer, und also bei einem epischen Sänger und keinem Philo­
sophen, gemacht wurden. Denn in einem narrativen Vorgehen ent­
steht das Wort, bevor es zum λόγος der Philosophen und mithin
zum argumentativen Diskurs wird, ursprünglich als μύθος und ἔπος .
Indem sowohl diese letzten wie schließlich auch der erste immer
nur das Wort und nie die Sprache – und insofern ein Gesagtes oder
bestenfalls ein zu Sagendes – benennen, weisen sie auf eine Auffas­
sung vom Sagen, das nach bester epischer Tradition nur im Nach­
erzählen eines Überlieferten spricht und auf jedes autogene Element
verzichtet. So gesehen gehört dann das Denken selbst, »sofern dies
der Grundton im Echo des Seyns und also Geschichte des Seyns
ist«,27 in das reine »Nach‑sagen«28 einer Geschichte, die der seins­
geschichtliche Rhapsode vom Sein empfängt und als sein »Echo«
wiedergibt.
Jedes Mal, dass die Wahrheit sich im Wort niederschlägt, wolle
man dies Philosophie, Poesie oder Mythos nennen, ereignet sich das
ursprüngliche Dichten als Erhallen eines Epos, das nicht von Men­
schen, sondern vom Sein selbst erzählt wird. Im Bezug auf solche
narrative Wahrheitsschöpfung sprach Heidegger von einer »Phan­
tasie (φαντασία) des Seyns«, der gegenüber »die Einbildungskraft
des Menschen nur das Gestammel eines halbgierigen Vorstellens«
ist.29 Als Werk solcher übermenschlichen »Phantasie«30 gleicht die
Wahrheit in allem einer kosmogonischen Sage, die, indem sie Verse
und Begriffe in ihr Lied einflechtet, alles menschliche Geschehen im
Akt des Wortes vollbringt. Dem Einzelnen bleibt dann übrig, sich
auf den stillen Gesang des Seins einzulassen und ihm in Gedanken,
Werken und Taten zu entsprechen.

27 Das Gespräch, GA 73.1, S. 699.


28 Das Gedächtnis im Ereignis, GA 73.1, S. 744.
29 Anmerkungen III, GA 97, S. 248.
30 Zum Rang der seinsgeschichtlichen »Phantasie« schrieb Heidegger in ei­
nem Manuskript aus den 30er Jahren, dass sie »nicht ›inneres‹ Bilden, drinnen
(nur) Herstellen – sondern zur Transzendenz und Wahrheit gehört« (Phan‑
tasie, GA 73.1, S. 648).
5.2 Dramaturgie des Denkens 175

5.2 Dramaturgie des Denkens

Wenn »die Geschichte des Seyns« in der Art ihrer Formulierung mit
gutem Recht als episch bezeichnet werden kann, hat sie im Aufbau
ihrer Handlung eher die strukturellen Merkmale einer tragischen
Inszenierung. Und tatsächlich orientierte sich Heidegger beim Zu­
sammenfügen seiner abendländischen Denkgeschichte am Vorbild
einer griechischen Tragödie, die sich allmählich zu einem katastro­
phalen Ausgang steigerte.
Gerade in den frühen 30er Jahren, als das große Narrativ des
griechischen Anfangs seinen Lauf nahm, fielen der »Prometheus
(Aischylos) und der Anfang der Philosophie«31 plötzlich in eins zu­
sammen. In den Entwürfen zur Freiburger Sommervorlesung 1932
häufen sich die Verweise auf die tragische Dichtung des Aischylos
und Sophokles in direktem Zusammenhang mit der Auslegung der
Fragmente des Anaximander, Parmenides und Heraklit. Das legt die
Vermutung nahe, dass gerade durch die Tragiker Heidegger den Zu­
gang zu seiner Interpretation der vorplatonischen Philosophie fand.
Insofern ist z. B. die Deutung von Anaximanders δίκη, die in
Heid­eggers Werk eine sehr lange Geschichte hat, kaum nachzuvoll­
ziehen, wenn man sie nicht mit dem Schicksal des Prometheus ver­
bindet, der, an einen Fels gekettet, seiner »Verfehlung (Irre)« »den
Fug« »geben – zugestehen«32 muss, wie Heideggers Übersetzung
von Aischylos »ἁμαρτίας σφε δεῖ θεοῖς δοῦναι δίκην«33 lautet. Aus der
Tragödie ins Philosophische übertragen ist dann bei Anaximander
das »διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας«34 folgen­
dermaßen interpretiert: »es gewähren nämlich sie (die Seienden als
solche) Fug und Entspruch einander in Rücksicht des Unfugs«35 –
wodurch die griechische δίκη zum »Fug des Seins« gemacht wird, der
das Seiende in seinem »Gefüge« hält und als »ferne Verfügung«36 das
gesamte Geschehen in ein Geschick bindet.

31 Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, GA 94, S. 93.


32 Entwürfe und Aufzeichnungen zur Freiburger Sommervorlesung 1932
Der Anfang der abendländischen Philosophie, GA 35, S. 211.
33 Aischylos, Der gefesselte Prometheus, V. 9.
34 Anaximander, Diels-Kranz Fragment Nr. 12.
35 Manuskript der Vorlesung Der Anfang der abendländischen Philosophie,
GA 35, S. 10.
36 Entwürfe und Aufzeichnungen zur Sommervorlesung 1932, GA 35,
S.  210.
176 5. Poetik der Seinsgeschichte

Auf ähnliche Weise müssen dann auch die langen Erörterungen


über das »Wesen des Kampfes« – wie sie in den Jahren der erhofften
nationalsozialistischen Revolution vorangetrieben wurden – auf die
tragische Dichtung zurückgeführt werden, wenn im Wintersemester
1933/34 Heidegger seine Studenten darüber aufklären kann, inwie­
fern das »Dasein der Griechen«, im Unterschied zu einer angeblich
verbreiteten Vorstellung von sonnenhafter Glückseligkeit, nichts an­
deres als »großer ungeheurer Kampf mit den ungeheuersten finsters­
ten Mächten, wie er in der Tragik des Aischylos hervortritt«,37 zu
verstehen sei. Dass schon 1932 unter solchem Kampf gerade jener
des Prometheus – als »(Kampf) zwischen Fug und Unfug«38 – ge­
meint war, verweist deutlich genug auf eine tragische Auffassung
des Denkens im Sinne eines titanischen Kampfes mit den Gegen­
mächten der Geschichte.
Aber der signifikanteste Schritt in Richtung einer dramatischen
Gestaltung der Seinsgeschichte kam durch die Begegnung mit Höl­
derlin und seinen Interpretationen der griechischen Dichtung. Heid­
egger erwähnt bereits 1934/35, wie in dem kurzen Text Grund zum
Empedokles »Hölderlin nicht nur über seine eigene Dichtung glei­
chen Namens handelt, sondern von der tragischen Dichtung als sol­
cher, und das heißt vom tragischen Seyn«39; wobei hier nicht bloß
hervorzuheben sei, dass das Sein unvermittelt als tragisch erfasst
wird, sondern vor allem, dass von »der tragischen Dichtung« han­
deln gleich vom »Seyn« reden heißt, als ob gar kein Unterschied
zwischen den beiden bestehen darf.
Was in solchen Berührungen mit dem Tragischen vor allem wie­
derkehrt, ist das Grundmotiv einer Haltung, die das Denken des Seins
beherrscht. Dadurch entsteht für den seinsgeschichtlichen Denker
eine tragische »›Ethik‹ – nicht als Disziplin – sondern geschichtliche
Fügung der Grundhaltung im Sinne des Stils der Verhaltenheit«.40 In
dieser Hinsicht ist das »Da-sein« selbst, dem schon immer heroische

37 GA 36/37, S. 144.
38 Siehe die Entwürfe und Aufzeichnungen zur Sommervorlesung 1932,
GA 35, S. 210.: »Vgl. Aischylos, Prometheus 9, 30. Verfügung schaffen –
walten lassen – den (Kampf) zwischen Fug und Unfug – alle Dinge Einsätze
und Verluste des (Kampfes). Dieser – in keine Grenzen geschlagen – sondern
selbst gliedernd und trennend.«
39 Freiburger Wintervorlesung 1934/35 Hölderlins Hymnen »Germanien«
und »Der Rhein«, GA 39, S. 118.
40 Das Da-sein, GA 73.1, S. 319.
5.2 Dramaturgie des Denkens 177

Eigenschaften wie die »Inständigkeit« und die »Einsamkeit«41 zuge­


schrieben wurden, im wörtlichen Sinne eine tragische Figur, die sich
dem Fug des Seins zu beugen hat und in seiner Charakterisierung
kaum noch von einem gefesselten Prometheus zu unterscheiden ist:
»Eigen-ständig – weil nur so der Rang zu setzen – darin auch jedes­
mal die Tragödie – und der Schmerz – das Leiden – aber notwen­
dig – und nicht durch Sichaufgeben zu beseitigen.«42 Von nun an
wird dieser titanische »Schmerz« die Grundhaltung eines Denkens
kennzeichnen, das sich renitent und eigensinnig aller Realität wi­
dersetzt und sich bereits in seinen allerersten Voraussetzungen zum
eigenen Scheitern verurteilt.
In den 40er Jahren wurde dann neben dem Prometheus, der in sei­
nem Aufruhr gegen das göttliche Gesetz und im Erleiden des Schick­
sals die seinsgeschichtliche Haltung paradigmatisch verkörperte, die
Begegnung mit der Antigone43 von Sophokles, in Zusammenhang
mit der Auslegung von Hölderlins Hymnen,44 ausschlaggebend für
die restlose Verwandlung der Seinsgeschichte in ein philosophisches
und politisches Drama. Dabei aber musste der titanische Schmerz
zum aktiven Handeln emporwachsen, das sich nicht bloß einem un­
umgänglichen Schicksal fügte, sondern es bis in seine letzte Konse­
quenz übernahm und wie seinen eigenen Willen ausführte:

»παθεῖν bedeutet hier jedoch nicht die bloße ›Passivität‹ des Hin­
nehmens und Duldens, sondern das Aufsichnehmen – ἀρχὴν δὲ
θηρᾶν, das Durchmachen bis zum Ende: das eigentliche Erfahren.

41 Ebd., S. 318 f.
42 Ebd., S. 274.
43 Was die Figuren von Antigone und Prometheus über alle Unterschiede
hinaus verbindet, scheint mir gerade eine Haltung gegenüber ihrem Schicksal
zu sein. So gehen beide – im Gegensatz zu den meisten tragischen Helden, die
sich bis zuletzt der Katastrophe zu entziehen versuchen – von ihrem ersten
Auftritt an bewusst der eigenen Vernichtung entgegen.
44 Dass Hölderlin eine Übersetzung der Antigone angefertigt hat, mag be­
stimmt eine gewichtige Rolle gespielt haben, wobei Heideggers Deutung
des griechischen Textes eigene Wege geht. Siehe vor allem die Freiburger
Sommervorlesung 1942 Hölderlins Hymne »Der Ister«; dort heißt es in Be­
zug auf das Gespräch zwischen Antigone und Ismene (Antigone, V. 100 ff.):
»Hölderlins Übertragung bleibt hier, mag sie auch wie stets das Element des
Edlen bewahren, merklich fern von der plastischen, strengen und doch nicht
harten Fügung der Reden und Gegenreden. Zuweilen trifft sie überhaupt
nicht das Wesentliche« (GA 53, S. 122).
178 5. Poetik der Seinsgeschichte

Dieses παθεῖν – das Erfahren des δεινόν, dieses Erleiden und Lei­
den ist der Grundzug jenes Tuns und Handelns: τό δρᾶμα , was
das ›Dramatische‹, die ›Handlung‹ der griechischen Tragödie
ausmacht.«45

Sich direkt auf den griechischen Text beziehend, entnimmt Heid­


egger in seiner Sommervorlesung 1942 den Worten der zwei Töchter
des Ödipus, Ismene und Antigone, die Grundzüge seiner Auffas­
sung des Tragischen und macht sich gleich daran, sie bedenkenlos auf
das Geschichtliche im Ganzen zu übertragen. Insbesondere gilt hier
der Verweis auf die Ermahnung der Ismene – 1) »ἀρχὴν δὲ θηρᾶν οὐ
πρέπει τἀμήχανα«46 – und auf die Antwort von Antigone – 2) »ἀλλ’ἒα
με καὶ τὴν ἐξ έμοῦ δυσβουλίαν / παθεῖν τὸ δεινόν τοῦτο«47 – die Heideg­
ger folgendermaßen übersetzt: 1) »Als Anfang aber jenes zu erjagen,
unschicklich bleibt’s, wogegen auszurichten nichts« und 2) »doch
überlaß dies mir und jenem, was aus mir Gefährlich‑Schweres rät:
ins eigene Wesen aufzunehmen das Unheimliche, das jetzt und hier
erscheint«.48
Wie Heidegger ausführlich erläutert, wirft Ismene ihrer Schwester
gerade jenes vor, was man ohne weiteres als seinsgeschichtliche Hal­
tung bezeichnen kann, nämlich »das Zu‑geschickte, das Geschick
und sein Wesensgrund«49 – im Text auch als »das schlechthin Unaus­
richtbare« genannt – »zum alles bestimmenden Anfang (Ursprung)
alles menschlichen Seins zu machen«. Wogegen Antigone ihre feste
Entschlossenheit bekundet, »das Unheimliche« auf sich nehmen und
bis zum Ende erleiden zu wollen.
Dadurch stellt sich Antigone in ihrem Beharren, trotz des Ver­
botes des Königs den Bruder Polyneikes zu bestatten, genau auf
die Höhe des Prometheus in seinem titanischen Widerstand gegen
das Gesetz des Zeus. Und wie der eine zwischen den »Fug« und
den »Unfug« des Seins gezerrt wird, schwebt nun die andere zwi­
schen dem »Zu‑geschickten« und dem »Unschicklichsein«50 im

45 Ebd., S. 128.
46 Sophokles, Antigone, V. 92.
47 Ebd., V. 95–96.
48 GA 53, S. 123.
49 Ebd., S. 124.
50 Ebd. Siehe dazu auch Heideggers Überlegungen über das Wesen der πόλις ,
in denen sich das Tragische zu verdichten scheint: »Dieser Stätte und Statt
entspringt das, was gestattet ist und was nicht – das, was der Fug ist und was
5.2 Dramaturgie des Denkens 179

»Geschick«. Das Pathos des »ἀρχὴν δὲ θηρᾶν« – des Anfang zu er‑


jagen – ist dann die dramatische Leidenschaft schlechthin, die die
ganze Seinsgeschichte durchzieht und sie zu einer Tragödie des Den­
kens ohnegleichen macht, indem sie das »Unheimliche« (δεινόν) ihres
narrativen Projekts gegen alle Maßstäbe des faktischen Geschehens
durchzusetzen versucht.
Es war mithin überhaupt kein Zufall, wenn Heidegger gerade
1942, als der Weltkrieg seine tragische Wende genommen hatte, in
dieser öffentlichen Vorlesung von einem »Durchmachen bis zum
Ende« sprach und durch Hölderlins Dichtung das »Eigene der
Deutschen«51 thematisierte. In der Inszenierung eines metapoliti­
schen Dramas wurde dann auch der »Eintritt Amerikas in diesen
planetarischen Krieg«52 als »der letzte amerikanische Akt der ame­
rikanischen Geschichtslosigkeit und Selbstverwüstung« gedeutet,
wogegen »das geschichtliche Menschentum« der Deutschen »erst
durch den Schmerz des Opfers« zum Pathos eines anderen Anfangs
sollte finden können.
In solchem letzten »Akt« der seinsgeschichtlichen Tragödie ver­
langte Heidegger von seinen Deutschen, dass sie, gleich einem Pro­
metheus oder einer Antigone, trotz aller Verstrickung in die neuzeit­
liche »Ungeschichte« das Unheimliche ihres geschichtlichen Auf­
trags auf sich nehmen und zu seinem narrativen Ende bringen soll­
ten. Denn wie schon Mitte der 30er Jahre Heidegger vollkommen
klar wurde, forderte das seinsgeschichtliche Ereignis vor allem eines:
»die Kraft der Aufopferung und des Untergangs«.53 Nun schien das
narrative Muster der Tragödie sich perfekt einzupassen in den Hand­
lungsablauf der abendländischen Fabel von einem ersten Anfang,
seinem nötigen Ende und dem darauffolgenden Neubeginn, indem
gerade die Figur des Untergangs, als Angelpunkt des seinsgeschicht­
lichen Konstrukts und Inbegriff des Tragischen, zu einer vollkom­
menen Deckungsgleichheit von Philosophie und Tragödie führte.

»Sehen wir das Wesen des ›Tragischen‹ darin, daß der Anfang der
Grund des Untergangs, der Untergang aber nicht ›Ende‹, sondern

der Unfug, das, was das Schickliche ist und was das Unschickliche. Denn das
Schickliche bestimmt das Geschick und dieses die Geschichte« (ebd., S. 101).
51 Ebd., S. 154.
52 Ebd., S. 68.
53 Die Seinsfrage und das Ereignis, GA 73.1, S. 264.
180 5. Poetik der Seinsgeschichte

das Rund des Anfangs ist, dann gehört zum Wesen des Seyns das
Tragische.
Dies aber ermöglicht, daß dort, wo das Seiende in den Ur­
sprung des Seyns reicht, in der Geschichte des Seienden und zwar
allein jenes Seienden, dessen Wesen im Bezug zum Seyn verwur­
zelt ist, ›Tragödien‹ sind. Die große – wesentliche – Dichtung als
Stiftung des Seyns ist tragisch. Und vielleicht sind die bisherigen
›tragischen Dichtungen‹ nur Vorhöfe, weil sie gemäß ihrer Zuge­
hörigkeit zur Metaphysik des Abendlandes das Seiende dichten
und nur mittelbar das Seyn. Die Benennung ›tragisch‹ hat jedoch
im Zusammenhang dieser Besinnung keine besondere Rolle, vor
allem nicht in dem Sinne, als sollte da eine ›tragische Philoso­
phie‹ erdacht werden. Wesentlich ist allein das Wissen vom An­
fang als dem Grund des ihn rundenden Untergangs. Sprechen wir
aus dem Denken des Anfangs vom ›Ende‹, dann meint dieses nie
das bloße Aufhören und Nachlassen, sondern das dem Anfang
gewachsene und doch ihm verfallene Vollenden dessen, was der
Anfang, vorspringend seiner Geschichte, als Möglichkeiten setzt
und entscheidet.
Die erste Geschichte des Seins, von der φύσις bis zur ›ewigen
Wiederkehr‹, ist ein untergehender Anfang. […] Weil Anfang nur
anfänglich erfahren werden kann, wird auch erst aus dem anderen
Anfang der Seynsgeschichte jener erste und seine Geschichte ins
Offene – doch nie ins Öffentliche – kommen.
Ist die Philosophie Denken des Seyns im Sinne des erfragenden
Vordenkens in die Gründung der Wahrheit des Seyns, dann sagt
der Name ›tragische Philosophie‹ zweimal dasselbe. Philosophie
ist in sich ›tragisch‹ nach dem genannten Gehalt dieses Wortes.«54

Mit diesem langen Abschnitt beginnt der XVII. Teil der großen
Abhandlung Besinnung, der den prägnanten Titel »Die Seyns­
geschichte« trägt. Dass nun ein ganzer Paragraph das »Wesen des
Seyns« in Bezug zu seiner Geschichte als tragisch darlegt, bezeugt
deutlich genug, wie ernst es Heidegger mit der Tragödie tatsäch­
lich war.
Es ist vor allem die unlösbare Verkettung von Auf- und Unter­
gang, wie wir sie aus der Handlung der Seinsgeschichte in der narra­
tiven Verdrehung und Überlappung von Anfang und Ende kennen,

54 Besinnung, GA 66, S. 223 f.


5.2 Dramaturgie des Denkens 181

die hier das Wesen des Tragischen ausmacht. Doch ist nicht der ein
tragischer Held, der, vom Pathos des Zugrundegehens ergriffen, die
Handlung des Dramas zu ihrem katastrophalen Ende steuert, son­
dern das Sein selbst, das als einziger Akteur der Narration die Tra­
gödie seiner Geschichte ihrem Scheitelpunkt zutreibt. Infolgedessen
gibt es auf einmal auch keine einzelnen Tragödien mehr, sondern nur
das eine Urdrama der Geschichte des Seins, die als einzige wahre
Tragödie alles Seiende in den Untergang reißt.
Mit einem geübten Winkelzug dreht Heidegger dabei das Ver­
hältnis zwischen den Inspirationsquellen und den Ergebnissen sei­
nes Denkens um und wagt zu behaupten, dass nicht das Tragische
aus der griechischen Theaterkunst auf die Seinsgeschichte übertra­
gen wurde, sondern dass umgekehrt Tragödien im alten Griechen­
land überhaupt entstehen konnten, weil dort die Seinsgeschichte
ihren Anfang genommen und dadurch das Wesen des Tragischen
erstmals gegründet habe.55 Dies fordert aber zugleich, dass alle bis­
her geschriebenen und aufgeführten Tragödien, die sich »gemäß ih­
rer Zugehörigkeit zur Metaphysik« immer noch nur mit Seiendem
befassten, als bloße »Vorhöfe« des authentisch Tragischen abzuwer­
ten seien. Denn den Namen Tragödie verdient letzten Endes allein
die Geschichte des abendländischen Denkens »von der φύσις bis zur
›ewigen Wiederkehr‹«.
Als »untergehender Anfang« wäre die gesamte Philosophie nichts
anderes als die tragische Inszenierung des Seins in Form einer Ge­
schichte und dadurch die einzige wahre »Dichtung als Stiftung des
Seyns«. In aller Konsequenz schließt dann Heidegger daraus, dass
es auch keine Philosophie geben kann, die nicht eine »tragische Phi­
losophie« sei, worin sich Denken und Narration in einer Tautologie
ausschöpfen, die zwischen Erzähltem und Gedachtem nicht mehr
unterscheidet. Indem es aber nicht die philosophische Narration ist,
die vom Sein erzählt, sondern das Sein selbst, das sich das Ereignis
seines Denkens als Tragödie einer Geschichte erdichtet, wird auch
noch eine andere Unterscheidung, nämlich die zwischen dem Er‑
zähler und dem Erzählten, definitiv hinfällig: »Das Seyn selbst ist
›tragisch‹«56, d. h. es selbst ist seine untergehende Geschichte – die

55 So wäre der jahrhundertelange philologische Streit um die Geburt der


Tragödie auf einen Schlag seinsgeschichtlich gelöst, indem das Sein höchst­
persönlich die Autorschaft aller tragischen Dichtungen übernimmt.
56 Überlegungen XI, GA 95, S. 417.
182 5. Poetik der Seinsgeschichte

Tragik eines Denkens, das sich das Geschehen seiner eigenen Kata­
strophe selbst erschafft.
Dadurch wurde die große Erzählung des Abendlandes, mit ih­
rem Versprechen eines neuen Morgens nach einer finsteren Nacht,
nicht bloß zur Metapher einer viel zu langen Denkgeschichte, die
über zwei Jahrhunderte hinweg den Begriff von Philosophie geprägt
hatte und ihn nun zu verabschieden trachtete, sondern sie musste,
indem sie jede Trennungslinie zwischen Realität und Fiktion endgül­
tig verwischte, bereits das faktische Ereignis eines Weltuntergangs
werden, wie ihn Heidegger in den letzten Jahren des zweiten Welt­
krieges tatsächlich zu erleben glaubte. Das beschworene »Ende der
›Philosophie‹«57 setzte dann zugleich das unwiderrufliche »Ende
der Geschichte«58 fest, in einer Überschneidung und gegenseitigen
Gleichschaltung von Narration, Politik und Philosophie.
Dafür wurde das historische Geschehen nicht bloß einer Nar­
rativierung unterzogen, sondern die Narrativierung selbst musste
durch ein Denken des Narrativen aufgehoben werden, das jedes
erzählte Faktum in ein Gedachtes überführte. Ohne Rücksicht auf
Verluste vollbrachte sich in der viel zu realen Tragödie eines Krieges
der Untergang der Moderne als epochaler Zusammenbruch einer fa­
belhaften metaphysischen Menschheit,59 in dem nach einem immer
wiederkehrenden Muster all die äußerst tragischen Ereignisse, die
in den 40er Jahren die Weltgeschichte erschütterten, auf die seins­
geschichtliche Ebene eines Denkens übertragen wurden, das dem
Geschehen jede menschliche Relevanz entzog und es als einen nur
für das Sein belangvollen Umstand zurückließ.
Demzufolge bestand 1945 das Schlimmste an den schrecklichsten
Lebensverhältnissen, unter denen Heideggers Zeitgenossen kämpf­
ten und starben, »auf das Ganze und Eigentliche des abendländi­
schen Geschickes gesehen, keineswegs darin, daß vielleicht viele
Menschen umkommen, sondern daß diejenigen, die durchkommen,
nur noch leben, um zu essen, damit sie leben«.60 Und selbst an­
genommen, Heidegger wollte sich nur gegen eine Verdinglichung

57 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 115.


58 Überlegungen IV, GA 94, S. 293.
59 Gegen Kriegsende betrachtete Heidegger »die jetzige Weltkatastrophe«
als »die Vernichtung des metaphysischen Wesens des Menschen, des animal
rationale« (Anmerkungen I, GA 97, S. 93).
60 Die Armut, GA 73.1, S. 880.
5.2 Dramaturgie des Denkens 183

des Lebens stemmen, die eines Menschenwesens unwürdig wäre,


bleibt vor allem kennzeichnend der Standpunkt – nämlich der »des
abendländischen Geschickes« – von dem aus die ganze Betrachtung
geführt wird. Denn als ob ein menschliches Leben gar kein Wert an
sich hätte, wenn es nicht in die Geschichte des Abendlandes einbe­
zogen wäre, konnte Heidegger ungerührt über die vielen Toten hin­
wegschauen, nicht jedoch über die Tatsache, dass Menschen eher um
ihr eigenes Überleben als um das Seinsgeschick rangen.
In ähnlichem Ton erzählte Heidegger von einem »heimkünftigen
Tod«, den die deutschen Soldaten im Krieg starben, indem sie sich
nicht bloß für die deutsche Nation opferten, sondern ihr Leben für
die narrative Heimat des Abendlandes hingaben, für jene »Stätte der
Gründung der Wahr‑heit im Reich der Erde«.61 Dadurch bekam ein
menschlicher Tod nur im Rahmen der erzählten Geschichte seine
Bedeutsamkeit, die ausschließlich eine narrative sein durfte: »Gemäß
dem Bezug des Todes zum Seyn ist auch der Tod stets in einer seyns­
geschichtlich getragenen Geschichte seines Wesens.«62
In solcher epischen Dimension war das Sterben kein Geschehnis
mehr, sondern selbst nur Wort und Mythos im Sinne jener Winke,
die in das Unsagbare einer unverhüllbaren Wahrheit wiesen. So ging
es auch nicht mehr um den eigenen Tod, wie es noch in Sein und Zeit
der Fall war, sondern er galt stets und allein als jener von Anderen,
die zu sterben hatten, nur weil dies die seinsgeschichtliche Narra­
tion von ihren Charakteren forderte. Im Szenario dieser zweifelhaf­
ten Tragödie hatte dann ein Tod allein noch Relevanz als Weisung
in das Narrativ, als Abschied vom faktischen Leben und Eintritt in
die seinsgeschichtliche Fiktion: »Vom Seienden lösend winkt er in
das Seyn. Der also das Seyn zuweisende Tod ist der Eingang in das
Ungestorben.«63
Möchte man noch mit Heidegger in all den Schrecknissen des
zweiten Weltkrieges etwas Tragisches zu erblicken wagen, wird es
nach dem bisher Gesagten sicherlich weder an der Intensität noch
an der Quantität des menschlichen Leidens zu erkennen sein. Denn
»›tragisch‹ ist, was aus dem Untergang seinen Aufgang nimmt«,64
und etwas anderes als eine solche formelle Kennzeichnung, die bloß

61 Der Beginn, GA 73.1, S. 889.


62 Ebd., S. 890.
63 Ebd., S. 889.
64 Überlegungen XI, GA 95, S. 418.
184 5. Poetik der Seinsgeschichte

auf die narrative Struktur der Seinsgeschichte hindeutet, wird nicht


zu finden sein.65 Daher musste auch jener geschichtliche »Unter­
gang«, der als Wendemanöver der gesamten Narration hatte dienen
sollen, eine Katastrophe ganz besonderer Art sein. Sie hatte näm­
lich für menschliche Maßstäbe überhaupt nichts Katastrophales an
sich – dafür aber sah sie über manch andere wirklichen Katastro­
phen hinweg.
Auf diese Weise konnte Heidegger 1946 mit einer gewissen Irri­
tation die geläufige Meinung erwähnen – »Hitler ist zur Katastro­
phe geworden«66 – und sich dabei über die »Ahnungslosigkeit und
Kurzsichtigkeit« seiner Landsleute aufregen, die nicht dazu fähig
gewesen waren, in Hitler »nur ein Merkzeichen des Weltalters« zu
sehen. Da waren dann alle »sichtbaren und unsichtbaren Katastro­
phen der ›Welt‹«67 immer noch nicht Katastrophen genug, um den
denkerischen Untergang der Seinsgeschichte einzuleiten.
Was nun aber tatsächlich Heidegger unter Katastrophe verstand,
muss rein narratologisch als der epochale Umbruch in der Handlung
und im Wort der Narration gedacht werden, wodurch es mit der me­
taphysischen Erzählung zu Ende ging und mit der »Sage des Seyns«
endlich anfing. Unter »Katastrophe der Kehre«68 wurde in der 40er
Jahren – dem griechischen στρέφειν (kehren, drehen) getreu – das
Ereignis einer Umkehrung aller geschichtlichen Verhältnisse ver­
standen, das die Seinsvergessenheit in ihren äußersten Gegensatz
umwendete. Daraus resultierte »gar ein Anderes als Geschichte«,69
das zuletzt die Seinsgeschichte in die »Eschatologie des Seyns« ver­
abschiedete.70
Dabei wurde in einem Verwandlungsprozess der narrative Hand­
lungsablauf gleichsam verdoppelt und in sich verdreht, womit die

65 Vor allem anderen scheinen Heideggers Bemühungen darauf gerichtet zu


sein, sich von der romantischen Auffassung des Tragischen zu distanzieren:
»›Das Tragische‹ bemißt sich nicht, wie der moderne Mensch meint, nach der
psychologisch ›erlebbaren‹ Leidenschaftlichkeit der genialen Persönlichkeit,
sondern nach der Wahrheit des Seins im Ganzen und nach der Einfachheit, in
der es erscheint. Deshalb geschieht in der griechischen Tragödie fast nichts.
Sie fängt an mit dem Untergang« (GA 53, S. 128).
66 Anmerkungen III, GA 97, S. 250.
67 Anmerkungen II, GA 97, S. 116.
68 Anmerkungen IV, GA 97, S. 378.
69 Ebd., S. 377.
70 Siehe oben, § 3.3.
5.2 Dramaturgie des Denkens 185

philosophische und die faktische Ebene der Narration erst ausein­


andergerissen wurden und dann ineinanderfielen: Die »Sprengung
der metaphysischen Welt«71 potenzierte sich in »die des Planeten
›Erde‹«, aus dem faktischen Untergang wurde ein phantastischer
Übergang – aus der »Katastrophe« eine »Anastrophe«72 – und mit
der Vernichtung des Menschen konnte endlich die »Einkehr des
Seyns«73 beginnen.

»Insofern der Übermensch, als der Mensch der Vollendung der


Metaphysik, erst der letzte Mensch ist, weil das ins Höchste auf­
ständische Lebe‑Wesen für das ›Leben‹ der Wille zur Macht selber
ist, verwindet die Kehre in das Ereignis das Lebewesen ›Mensch‹.
Der Mensch – das animal rationale ist vernichtet. Die Vernichtung
des Menschen ereignet sich in der Entwindung des Seyns in den
Brauch. Die Vernichtung ist anastrophisch. Sie bereitet das We­
sen des Sterblichen vor. Aber die Anastrophe ist katastrophisch,
insofern der Übergang des Menschen zum Übermenschen das
Beben des Seyns selber ist, wodurch es in die vollendete Subjek­
tität einstürzt.«74

Am Höhepunkt des metaphysischen Dramas steigert sich der


Mensch »in die vollendete Subjektität« des nietzscheanischen Über­
menschen und vernichtet sich dadurch selbst. In der Figur einer
»Selbstvernichtung«,75 die in jenen Jahren in verschiedener Gestalt
ständig wiederkehrte, löste Heidegger narrativ das Problem einer
unmöglichen Überwindung des Metaphysischen durch die Meta­
physik selbst, indem er den Menschen erst in sich »verwindet«, um
ihn dann aus sich selbst heraus zu entwinden.
Als ob er plötzlich bemerkt hätte, dass kein Weg aus der Meta­
physik jemals in die Geschichte des Seins hätte führen können, ließ
Heidegger die Narration in sich selbst implodieren und erreichte ein
Jenseits der Geschichte mitten im geschichtlichen Erzählen. Dafür
wendete die Eschatologie des Seins die Äußersten seiner ἒσχατα in­

71 Anmerkungen IV, GA 97, S. 386.


72 Ebd., S. 391.
73 Anmerkungen I, GA 97, S. 46.
74 Anmerkungen IV, GA 97, S. 384.
75 Siehe u. a. Anmerkungen I, GA 97, S. 18: »Die höchste Stufe der Technik
ist dann erreicht, wenn sie als Verzehr nichts mehr zu verzehren hat – als
sich selbst. In welcher Gestalt vollzieht sich diese Selbstvernichtung?«
186 5. Poetik der Seinsgeschichte

einander um und ließ gerade auf dem Tiefpunkt der Seinsvergessen­


heit das Ereignis des Seins geschehen, indem sie im Untergang alles
Seienden den Aufgang des Denkens vollzog: »Die Katastrophe des
Seyns ist seine Eschatologie«76 – wenn das κατα- einem ἀνα‑στρέφειν,
das Hinab- einem Hinauf‑kehren gleicht.
Dies musste, dem Vorbild der griechischen Tragödie folgend, für
den geschichtlichen Menschen nichts anderes bedeuten als die rest­
lose Hingabe in eine Selbstvernichtung, der sich nun alle Gräuel der
Geschichte im Namen eines höheren Geschicks fügten. Damit war
zwar »Hitler nicht geschicklich ›gerechtfertigt‹«,77 aber wohl das
­Europa, zu dem Heidegger sich zählen durfte, das dem Totalitaris­
mus gegenüber die Entscheidung traf, »weltgeschichtlich in die to­
tale Organisation des Daseins ein- und durch sie hindurchzugehen
und sie ›herrschend‹, d. h. sich behauptend, auszustehen«, anstatt
»verspätet ein planetarisches Naserümpfen über ›Faschismus‹ zu in­
szenieren«. Insofern ist Heideggers Enttäuschung groß, als er nach
dem Krieg konstatieren muss, wie »›Europa‹ selbst hinter seinem
eige­nen ›Produkt‹ zurückbleibt«,78 indem es der Diktatur schnell
den R­ ücken kehrte und sich der Demokratie in die Arme warf.
Aus narrativer Sicht musste die Weltgeschichte eine verpasste
Tragödie bleiben, die den Untergang starrsinnig verweigerte. Das
wahrhaft Tragische, das »eine ausgezeichnete Zugewiesenheit des
jeweils wesensoffenen Menschen in die Wesung des Seyns«79 be­
deutete, hätte anderenfalls gefordert, wie eine Antigone in jener
Entscheidung auszuharren, um zur endgültigen Katastrophe und
d. h. zum vollkommenen Einsturz der gesamten europäischen Welt
zu leiten. Griechisch gedacht wäre dann solch eine dramaturgische
καταστροφή als »Wendungs›punkt‹«80 der Geschichte nicht bloß ein
historisches Ereignis gewesen, sondern schon die seinsgeschichtliche
»Entscheidung« schlechthin, nämlich jene »über die Unter‑schei­
dung des Seins und des Seienden; ob zur Wahrheit des Seyns oder
zur Verendung der Machenschaft des Seienden«. Leider hatte sich
der europäische Mensch für das Seiende entschieden. Er wollte die
Bühne des Heidegger’schen Dramas nicht betreten.

76 Anmerkungen IV, GA 97, S. 331.


77 Anmerkungen II, GA 97, S. 150.
78 Ebd.
79 Überlegungen XI, GA 95, S. 418.
80 Ebd.
5.3 Die Schrift und das Sein 187

5.3 Die Schrift und das Sein

»¿Por qué nos inquieta que el mapa esté incluido en el


mapa y la mil y una noches en el libro de La mil y una
noches? ¿Por qué nos inquieta que don Quijote sea
lector del Quijote, y Hamlet, espectador de Hamlet?
Creo haber dado la causa: tales inversiones sugieren
que si los caracteres de una ficción pueden ser lecto‑
res o espectadores, nosotros, sus lectores o espectadores,
podemos ser ficticios.«
Jorge Luis Borges, Otras Inquisiciones, S. 210 f.

Ganz gleich, ob man die Seinsgeschichte als philosophisches Epos,


historisches Drama oder metapolitische Erzählung versteht, ob sie
aus dem unfaßlichen Stoff der Gedanken oder aus dem schwinden­
den Klang eines Gesanges besteht: Sie richtet sich schließlich an eine
Welt von Menschen und spricht solche an. Es ist daher an der Zeit,
sich zu fragen, welche Art von Leser, Zuhörer oder Zuschauer sie
voraussetzt; angenommen, dass sie überhaupt mit einem Adressa­
ten rechnen darf.
Dabei kann es nicht um die Rezipienten gehen, die Heideggers
Werk tatsächlich in Empfang nahmen, die seine Vorlesungen besuch­
ten oder geheime Manuskripte von ihm selbst zum Lesen bekamen.
Denn dass Heidegger es als durchaus »nötig« betrachtete, »unver­
ständlich für jedes öffentliche und alles gewohnte Verstehen«81 zu
bleiben, zeigt deutlich, welcher unüberbrückbare Abgrund den rea­
len Empfänger vom idealen Adressaten seines Denkens trennte.
Es fehlt allerdings nicht an Stellen – und zwar nicht einmal in den
meist sekretierten Schriften –, die einen fiktiven Leser direkt anspre­
chen. So scheint das seinsgeschichtliche Denken sich zuweilen an
eine Kultgemeinde zu adressieren, die, um das Sein versammelt, den
Ritus einer neuen Weltschöpfung vollbringt,82 und andernorts sich
eher einem einsamen Suchenden zuzuwenden, der seine Bereitschaft

81 Anmerkungen IV, GA 97, S. 376.


82 Siehe Hört die Sprache des Gesprächs, GA 73.1, S. 704: »Lernt das Wissen.
/ Hört das Gespräch. / Wohnt in seiner Sprache. / Gehört dem Ungesproche­
nen des Gesprächs. / Beruht in der Stille des Ungesprochenen. / Seyd dem
Seyn im Seyn.«
188 5. Poetik der Seinsgeschichte

zur geschichtlichen Verwandlung erst beweisen soll.83 In beiden Fäl­


len geht es um Gestalten einer künftigen Geschichte, die ausschließ­
lich einer Nachwelt und keineswegs Heideggers Zeit­genossen galt.
In Anbetracht einer solchen Adressierung kann nicht uner­
wähnt bleiben, dass Heidegger seine denkerische Produktion
schon relativ früh in Form eines Nachlasses konzipierte. Die Frage
»Wozu schreiben?«84 wurde auf eine Weise beantwortet, die we­
der eine Veröffentlichung noch irgendwelche Rezipienten berück­
sichtigte. Das Schreiben hatte allein den Sinn, »das Zu‑Denkende
aufzubewahren«,85 unabhängig davon, ob es dafür »Denkende« gibt
oder ob »sie aber ausbleiben«. Die »Unverstehbarkeit« des denke­
rischen Textes »als Charakter der Schrift selbst«86 diente hierdurch
nicht einfach der Funktion eines Sagens, das sich vor einer falschen
Rezeption schützen wollte, sondern sie war das wesentlichste Kenn­
zeichen eines Denkens, das es überhaupt nicht nötig hatte, »erst sich
unverständlich zu machen«,87 da es bereits in seinem innersten Kern,
»insofern es denkt«, »unverständlich« – und nicht »nur unverstan­
den« – zu sein beanspruchte.
Dass Heidegger allen möglichen Rezipienten seines Diskurses
den Weg zum Verständnis absperrte, berechtigt zur Frage, ob, falls
es dennoch einen Adressaten geben sollte, dieser außerhalb oder in­
nerhalb der Seins-Erzählung zu suchen sei. Und tatsächlich spricht
einiges dafür, den Rezipienten der Seinsgeschichte als mitwirkenden
Teil der erzählten Handlung zu betrachten, jedenfalls wenn man ihn
mit den Gestalten identifiziert, die, vom narrativen Diskurs nicht
bloß angesprochen, sondern auch faktisch erzeugt, das metapoliti­
sche Projekt eines neuen Anfangs umzusetzen hatten.
Adressaten der Seinsgeschichte sollten dann keineswegs die Leser
sein, die sich vergeblich mühen, den ohnehin unverständlichen Wor­
ten des Seins einen Sinn abzugewinnen, sondern solche narrativen,
wobei keineswegs bloß fiktiven, Figuren, die allein durch den Akt

83 Siehe u. a. Überlegungen VIII, GA 95, S.112: »Bist du Einer, der nur die
Zeitgenossen unterhält und ärgert; / bist du Einer, der sich noch des Gro­
ßen und Einfachen erinnern kann; / bist du Einer, der zum Anstoß von Be­
sinnungen wird; / bist du Einer, der dem Seyn eine Bahn seiner Geschichte
schafft? –«
84 Anmerkungen II, GA 97, S. 161.
85 Ebd.
86 Anmerkungen IV, GA 97, S. 373.
87 Anmerkungen V, GA 97, S. 488.
5.3 Die Schrift und das Sein 189

der Erzählung ins Leben gerufen werden. In dem unzumutbaren


Anspruch, aus einer Fiktion Realität zu schaffen, bringt das Sein
selbst die Rezipienten seiner Narration hervor, indem es sich noch
das Geschehen seiner eigenen Rezeption erdichtet.
Die philosophische Erzählung vom Sein verfügt über die außer­
gewöhnliche Fähigkeit, das Ereignis aller Missverständnisse und
Verleugnungen, die Heideggers narratives Projekt von vornherein
unterminierten, in sich selbst mit einzuschließen. Die Geschichte
des Seins ist nicht nur die mythische Erzählung zweier ungleicher
Anfänge, die sich durch die Jahrtausende der Denkgeschichte hin­
durch hinterherrennen. Im Laufe der Jahre wurde sie immer mehr
zu einer reflexiven Deutung einer sich versagenden Rezeption, die
sich noch in ihrer eigenen Unrealisierbarkeit inszenierte.
Als Drama der Seinsvergessenheit bezog sie nicht bloß die
»Zukünftigen«88 und »Einsamen«89 ein, die an einem unvorherseh­
baren Tag das Sein endlich würdigen werden, sondern in erster Linie
auch alle zufälligen Leser und nicht Leser, Zuhörer und nicht Zu­
hörer – also all jene unmöglichen Rezipienten, die heute wie damals
dem seinsgeschichtlichen Projekt Widerstand leisten, indem sie in
der »Machenschaft« des Seienden verharren.
Wenn man einen im Heidegger’schen Diskurs impliziten Leser90
von seinem fiktiven Alter Ego auf irgendeine Art noch trennen will,
muss man annehmen, dass die narrative Fiktion der Seinsgeschichte
eine Situation erdichtet, in der allein ein Rezipieren der Schrift erst
möglich wird. Denn ganz gleich, ob man dafür oder dagegen ist, ob
man in einer solchen Geschichte aufgehen will oder ob man sie als
abstruses Hirngespinst ablehnt, jeder findet sich schließlich in ihr
auf seine eigene Art und Weise bestätigt: Alle denkbaren Leser sind
in sie als narrative Charaktere eingezeichnet, jede mögliche Rezep­
tion findet bereits in der Narration statt.

88 Siehe u. a. Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 394.


89 Überlegungen VII, GA 95, S. 117.
90 Siehe darüber Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens (1976), S. 64: »Als Rol­
lenangebot des Textes ist das Konzept des impliziten Lesers keine Abstrak­
tion von einem wirklichen Leser, sondern eher die Bedingung einer Span­
nung, die der wirkliche Leser erzeugt, wenn er sich auf die Rolle einläßt.«
Durch ein solches Konzept versucht Iser die »Leserfiktion«, die den im Text
angesprochenen Leser bezeichnet, von einer »Leserrolle« zu unterscheiden,
die das vorgegebene Handlungsfeld umreißen soll, in dem sich der wirkliche
Leser hermeneutisch bewegt.
190 5. Poetik der Seinsgeschichte

Im Bann dieser allumfassenden Erzählung, die sich alles Äußere


in ihr Inneres einzuverleiben vermag, nahm dann plötzlich der Akt
des Erzählens ungeheure Züge an. Er prägte allem faktischen Ge­
schehen nicht bloß eine narrative Form auf, sondern verlieh ihm
schließlich eine vollkommen narrativisierte Materialität. Als nach
dem Krieg Heidegger seine Lehrtätigkeit beschränkt bis ganz ver­
boten werden sah, zog er sich in das Arkanum einer »Handschrift
der Nachschrift«91 zurück, die alles Sagen in sich verstummen ließ.
Und was im »Diktat der Stille«92 noch unbestimmt als ein »Nach­
sagendes Vorsagen des Wortes« galt, wandelte sich nun – im »Hören
des Geschriebenen« – in das »Nach‑Schreiben«93 einer unhörbaren
Geschichte, die jegliches Reden auf »nur eine Weise der gesproche­
nen Schrift«94 reduzierte.
Aus dem epischen Gesang des seinsgeschichtlichen Rhapsoden
wurde ein magisches Transkribieren, das nicht bloß die denkerische
Sprache, sondern selbst das gesamte Weltgeschehen als Ereignis einer
ureigenen Schrift erfasste. Im nachschreibenden Diktat des Seins war
dann zwischen einem »Dictans«95, das dem anfänglichen »dictare,
dichten«96 der Dichter entsprach, und einem »Dictatum« der »ver­
meintlichen ›Diktaturen‹«97, das ganz Europa in die erhoffte Tragö­
die einer endgültigen Katastrophe hineintreiben sollte, kaum noch
zu unterscheiden, da beide, sich dem Geschick des Seins fügend,
dieses »diktativ«98 in Wort und Tat übersetzten.
Heidegger hatte nämlich bereits Mitte der 30er Jahre, in einer
Konstellation von »eigentlichen Schaffenden«, »Dichter, Den­
ker und Staatsschöpfer«99 einander gleichgestellt, indem er ihnen
die eine und selbe narrative Kraft zumaß, die mit gleichsam unter­
schiedlichen rhetorischen Mitteln die »Sage des Seyns« ins Seiende
übertrug. Schließlich war es nur noch ein schlichter Unterschied
zwischen literarischen Gattungen, der das Verfassen eines Gedichtes

91 Anmerkungen IV, GA 97, S. 346.


92 GA 73.1, S. 676. Siehe auch oben, § 5.1.
93 Anmerkungen IV, GA 97, S. 344.
94 Ebd., S. 345.
95 Überlegungen XI, GA 95, S. 431.
96 Die Dichtung. Φιλοσοφία – Ποίησις . Das Gespräch, GA 73.1, S. 694.
97 Überlegungen XI, GA 95, S. 431.
98 Ebd., S. 404.
99 Freiburger Wintervorlesung 1934/35 Hölderlins Hymnen »Germanien«
und »Der Rhein«, GA 39, S. 51.
5.3 Die Schrift und das Sein 191

vom Entstehen eines Gedankens oder der Durchführung einer poli­


tischen Handlung differenzierte: In der seinsgeschichtlichen »Nach­
schrift« wurden alle zu Skribenten einer Geschichte, die das Sein
selbst aus der Tiefe seiner Stille diktierte.
Von nun an bezogen sich seinsgeschichtliche Sänger, Philoso­
phen und Diktatoren auf ihr eigenes Werk, welcher Beschaffen­
heit es immer auch war, als auf ein Skript, das für Heidegger, in der
Zurückgezogenheit seiner Hütte, immer mehr die Konturen eines
weltschaffenden Manu‑skriptes bekam. In einem dann wörtlich zu
nehmenden »Handwerk des Denkens«,100 das eine Erzählung zum
Geschehen brachte, bloß indem es sie niederschrieb, verliebte sich
Heidegger in die Bewegung seiner eigenen Hand,101 »die geheimnis­
voll ereignete Schriftzüge zieht« und deren Schaffen »dichtender ist
als jeder Gesang und alle Kunst«.102
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Heidegger, lange bevor er
sich zum Druck seiner Gesamtausgabe überreden ließ, sein Ver­
mächtnis bereits in Form von überarbeiteten Manuskripten gesi­
chert hatte. Dass diese in den 40er Jahren von Heidegger als die
originale »Handschrift« der »Nachschrift des Seyns «103 betrachtet
wurden, scheint mir außer Frage zu stehen. Solche Schriften genüg­
ten sich selbst, indem sie sich jeder externen Rezeption verschlossen.

»Die Leser lesen, um sich zu zerstreuen und alles zu kennen. Sie


bedenken nicht, daß ›Lesen‹ heißt: Sammeln, und darin sich ver­
sammeln. Die Leser vermögen am wenigsten zu lesen die Lese:
nämlich die Schrift, die als die Nachschrift die Sprache des Brauchs

100 Anmerkungen II, GA 97, S. 118.


101 Siehe dazu Jacques Derrida, La main de Heidegger (1985), in ders.,
Heideg­ger et la question. In Bezug auf einige Bildaufnahmen, in denen
Heideg­ger porträtiert wurde, vermerkt Derrida: »Le jeu et le théâtre des
mains y mériteraient tout un séminaire. Si je n’y renonçais pas, j’insisterais
sur la mise en scène délibérément artisanaliste du jeu de main, de la monst­
ration et de la démonstration qui s’y exhibe, qu’il s’agisse de la maintenance
du stylo, de la manœvre de la canne qui montre plutôt qu’elle ne soutient,
ou du seau d’eau près de la fontaine. La démonstration des mains est aussi
saisissante dans l’accompagnement du discours« (S. 186).
102 Ebd. Entlarvt sich dann die Seinsgeschichte als das »stillste Handwerk«
(Anmerkungen IV, GA 97, S. 347) einer onanierenden Hand, die, vom Sein
selbst geleitet, ihr ersehntes Ereignis im Orgasmus des Schreibaktes voll­
zieht?
103 Anmerkungen IV, GA 97, S. 347.
192 5. Poetik der Seinsgeschichte

spricht. Die Nachschrift ist nicht für Leser. Die Schrift‑steller als
Schriften‑Hersteller, nicht als die Nach‑schreibenden, schreiben
für die Leser und die Leser schreien nach Schriftstellern.

Das echte Schreiben ist das erste Lesen, denn es liest, indem es
die Zu‑Schrift hört; es liest, insofern es sich in die Versammlung
sammelt, als welche die Einfalt des Brauches das Gespräch des
Unter‑schieds ist.

Das rechte Schweigen verschweigt auch noch sich selber. Darum


redet es zu Zeiten, und sei es nur in der Sage der Schrift.«104

In diesen drei kurzen und aufeinanderfolgenden Absätzen aus An‑


merkungen IV, die um die Jahre 1947/48 verfasst sein müssen, ist
zu erkennen, wie tief in Heideggers Diskurs die Selbsterschaffung
eigener Rezipienten mit einer Ablehnung der Öffentlichkeit ver­
woben war und zu welchem Grad der Selbstbezüglichkeit dies alles
führen konnte. Denn hier gilt das Sagen, das nicht zufällig einem
»Schweigen« gleichkommt, als ein selbstreferenzielles »Schreiben«,
das unmittelbar sein eigenes »Lesen« ist: Das also schreibt, nur in­
dem es sich liest, und das nur liest, um zu schreiben.
Daher darf die »Nachschrift« des Seins »nicht für Leser« sein.
Denn eine solche Schrift, die als Nach‑schreiben seiner selbst
schließlich nur ein lesend‑schreibendes Gespräch mit sich selbst
betreibt und sich als »Zu‑Schrift« nur sich selbst zu‑teilt, erwirkt
das literarische »Wunder«, im selben Akt Adressierender und eige­
ner Adressat zu sein. Sie muss notgedrungen schweigen, nicht weil
sie etwa nichts sage, sondern weil ihr Sagen überhaupt keinen an­
sprechen kann, da es zu keinem etwas sagt und im Grunde bloß sich
selber besagt: Tautologie einer sich schreibenden »Sage der Schrift«,
die erzählend sich selbst als Erzählung nacherzählt.
Der Leser wurde aber nicht einfach in seinem Status als Rezi­
pient abgelehnt, sondern das Lesen im ganzen wurde als Funktion
der seinsgeschichtlichen Narration neu erfasst, bis in der vollzo­
genen Gleichung vom Adressierenden und Adressaten beide Be­
griffe hinfällig werden mussten. Dafür enttarnte Heidegger zuerst
das Verhältnis zwischen Schriftstellern und Lesern als eine schlicht
ökonomische Wechselbeziehung zwischen »Schriften‑Herstellern«

104 Ebd., S. 363.


5.3 Die Schrift und das Sein 193

und Schriften‑Konsumenten, die sich gegenseitig bedingen, um


anschließend das ganze Verhältnis aufzuheben, indem er in den
»Nach‑schreibenden« des Seins die ersten Nach‑Leser ihrer selbst
ausmachte.105
Folgerichtig verwandelte sich das Lesen aus einem Rezipieren
der Schrift in ein »Sammeln« des Wortes, das die vom Sein erzähl­
ten Gedanken in den geschriebenen Zeichen einer diktierten Sage
versammelte. Von einer Rezeption im gewöhnlichen Sinne durfte
gar keine Rede mehr sein, wenn als »Nach‑Schrift« seiner selbst das
Schreiben schon immer einer Art von Lesen entsprang, das in der
seinsgeschichtlichen »Handschrift« die in sich gekehrte Bewegung
einer denkenden Hand vollzog. Sie erntete ihr Gedachtes in einer
sich selbst säenden »Lese«.
Als einzige mögliche Rezeption blieb nur noch die eines Autors
übrig, der im Lesen schreibt und im Schreiben liest, und die aller­
letzte Möglichkeit einer Adressierung entschwand zugunsten einer
Kopulation der Hand mit ihrer eigenen Schrift, die sich in einem
Fetisch des Manuskriptes verdichtete. In einer fiktiven Welt von
Schriften, die sich von selbst schreiben und sich letztlich auch selber
lesen, müsste dann der Mensch zum Medium seines eigenen Medi­
ums werden – und die Hand, die solche Worte schreibt, sowie die
Augen, die sie lesen, und die Ohren, die sie hören, gälten nur noch
als Prothesen einer sich verabsolutierenden Narration, die jeden in
sich zu verschlingen vermag, der mit ihr in Berührung kommt.
Das Rezeptionsereignis dieser Erzählung gleicht der Verweige­
rung jeder möglichen Rezeption: dem maßlosen Versuch, den Re­
zipienten als solchen zu vernichten, indem, wie eine papierförmige
Kirke, diese zauberhafte Schrift alle ihre Besucher in die eigenen
Figuren verwandelt. So liegt einer Fiktion, die unfähig ist, sich ihre
eigene Fiktivität einzugestehen, alles nur noch daran, die Realität als
solche zu tilgen, um nicht von ihr widerlegt zu werden.
All das kommt dem katastrophischen Finale eines visionären Ro­
mans von Reinhard Jirgl sehr nahe, in dem die selbstgenerierten

105 Und tatsächlich konnte sich Heidegger, als erster (und einziger) Nach­
schreiber des Seins, auch als den allerersten (und vielleicht einzigen legitimen)
seiner eigenen Rezipienten betrachten. Vgl. den Brief vom 18. 9. 1932 an Eli­
sabeth Blochmann: »Vorläufig studiere ich meine Manuskripte, d. h. ich lese
mich selbst u. muß sagen, daß es im Positiven u. Negativen viel fruchtbarer
ist als sonstige Lektüre, zu der ich ohnehin wenig Lust u. Gelegenheit habe«
(M. Heidegger / E. Blochmann, Briefwechsel, S. 53).
194 5. Poetik der Seinsgeschichte

Bücher einer zukünftigen Menschheit, die seit langem jegliches Le­


sen aufgegeben hat, durch eine lebendig gewordene Schrift einen
einsamen Menschen dazu gewinnen können, mittels einer interpla­
netarischen Explosion die gesamte menschliche Welt auszulöschen:

»Wissen materialisiert sich in Büchern. Bücher materialisieren Er­


eignisse. Die größten Ereignisse mit Wirkungen, die selbst Die-
Mauern-der-Zeit durchdrangen, wurden ausgelöst stets vom
WORT. Das setzt Autorschaft voraus. Der schriftliche Entwurf
überwindet das-Zeitliche, versetzt Geschriebenes in die Bereiche
des Möglichen, unabhängig vom Jetzt&hier. Das WORT schei­
det den-Menschen von seinem Vorfahrn, dem-Affen, zum Nach­
teil des-Affen. Doch keine Nachfahr ohne Erbe : Im WORT ist
das-Tierische gefangen : Angst Haß Furor Sexus Schmerz Tod.
Der-WORT=mächtige-Mensch bleibt auch Tier. Den Figuren
der-Schrift sieht man das-Tier=Hafte an. Der Übergang von
Schrift zum Ereignis bedurfte des Blutes vom Menschen=Tier,
Biologie als Schauplatz für das WORT. Die morfologischen Fel­
der um das Wort stellen als Supraleiter die Verbindung her zwi­
schen Entwurf und Auslöser. Sobald ein Dirigent die Partitur
aufblättert, vermag er das Orchester zu hören. Sobald die mor­
fologische Resonanz, unter Zuhilfenahme der Maske, die Wörter
ergreift, verwandelt sich Geschriebenes in Ereignisse; die Maske
als Mittlerin, als zielorientiertes morfologisches Feld. Die-Schrift,
von Menschen einst begonnen und später von Büchern weiter­
geschrieben, wird die-Bücher von ihrem tierischen Erbe befrein :
Bücher ohne Menschen.

[ Menschen brauchen uns Bücher,


aber wir Bücher brauchen
Menschen nicht. Das folgende Buch
wird von Büchern für Bücher geschrieben. ]«106

Ob auch Heidegger an ein ähnliches Finale für seine Seinsgeschichte


gedacht hatte, als er in seinen Schwarzen Heften die »erste Reini­
gung des Seins« beschwor, durch die »sich die Erde selbst in die
Luft sprengt und das jetztige Menschentum verschwindet«,107 mag

106 Reinhard Jirgl, Nichts von euch auf Erden, S. 371.


107 Überlegungen XII, GA 96, S. 238. Siehe oben, § 4.3.
5.3 Die Schrift und das Sein 195

dahingestellt bleiben. Jedenfalls scheinen Jirgls »biomorfologische


Bücher«108 die allerletzte Konsequenz aus Heideggers Ereignis‑Den‑
ken gezogen zu haben, indem sie den Bund zwischen Mensch und
Sein durch die Stiftung einer selbständigen Schrift für immer auf­
lösen: Denn seitdem das Ereignis des Denkens sich im geschriebenen
Wort verfing, braucht das Sein in der Tat keinen Menschen mehr, um
sich in einer wirklichen Welt zu ereignen.
Und obwohl Heidegger bis zuletzt vom Verhältnis zwischen
Mensch und Sein im Sinne eines »Brauchs« reden konnte, in dem das
Sein des Menschen bedürfe und die »Handschrift der Nachschrift«
als »die Sage des Brauchs«109 gelte, offenbaren die morfologischen
Bücher, wie dieses Verhältnis bereits in dem Moment aufgehoben
ist, in dem eine Nach‑Schrift, auf jede »Autorschaft« verzichtend,
sich von ihrer Rolle einer »Mittlerin« befreit und den gebrauchten
Menschen110 als ihr eigenes Medium, Ȇbergang von Schrift zum

108 Siehe dazu R. Jirgl, a. a. O., S. 290 f.: »Der Methode nach funktionierte
das ähnlich wie die Arbeitsweise der Holovision: Hauptangriffstellen sind
die halluzinatorischen Zentren im Gehirn, die Amygdala. Man spricht ja
schonlange von der ›positiven Virologie der Wünsche‹ – jetzt hatte Man zum
Erstenmal einen biomorfen elektrischen Wirkkreis hergestellt & in-Form
von Rückkopplungen mit den geschriebenen Geschichten & den erwünsch­
ten Topoi geschlossen. Doch für jedes 1zelne Buch, will man dem Text zur
Wirkung verhelfen, bedarf es der zugehörigen morfologischen Maske, einer
Art Schema zur Decodierung für die Materialisation der-Schrift.« Nichts
scheint auf den ersten Blick von der heideggerschen Handschrift weiter ent­
fernt zu sein als solche Bücher mit ihrer hochentwickelten und übergrei­
fenden Technik. Wie aber André Leroi-Gouhran in Le Geste et la Parole
(1964–1965) darlegt, besteht in der Geschichte des Menschen eine unlösliche
Verbindung zwischen Hand, Technik und Wort. Damit hätte auch Heidegger
etwas anfangen können – »denn die Hand ist in einem mit dem Wort die We­
sensauszeichnung des Menschen« (GA 54, S. 118). Und indem das Wesen des
Wortes »im Zeichen als dem gezeichneten Zeigenden Sichzeigenden« (Das
Wort und die Sprache, GA 74, S. 75) gründete, war einer Gleichung von zei­
gender »Hand« und gezeichnetem »Wort« nicht mehr auszuweichen. Dass
solch ein handwerklich begabtes Wort sich zu einem technischen Ungeheuer
hatte steigern müssen, das in der Sprache der »Denkmaschinen« die gesamte
menschliche Welt neu einrichtete (siehe Der Satz vom Grund, GA 10, S. 182),
scheint mir bereits in den Voraussetzungen des Heidegger’schen Denkens zu
liegen.
109 Anmerkungen IV, GA 97, S. 346.
110 Siehe dazu auch Anmerkungen I, GA 97, S. 85: »Das Gebrauchtseyn des
Menschenwesens als Ant‑wort zum Wort im Seyn«. Denkerisches Sagen als
Antwort des Menschen auf das Sein wäre dann bloße Selbstreferenzialität des
196 5. Poetik der Seinsgeschichte

Ereignis«, betrachtet. Denn nun erübrigt sich der nächste und letzte
Schritt, den Heidegger zwar riskierte, sich aber nie einzugestehen
vermochte, von selbst: Die Erzählung löst sich von ihrem Erzähler
sowie von ihrem Erzählten ab und erzählt nur von und für sich
selbst.
Allein in solcher Verabsolutierung der Schrift wäre dann auch das
uralte ζῷον λόγον ἔχον ein für allemal überwunden. Das Wort erkennt
dann endlich, dass es den Menschen »hat«.111 Nun kann es sich von
vom vernünftigen Tier lossagen, vom animal rationale, das das Wort
jahrtausendelang in seinem Besitz gefangen hielt. In der vollzogenen
Überwindung der Metaphysik bedürfte die Schrift des Seins auch
nicht mehr »des Blutes vom Menschen=Tier, Biologie als Schauplatz
für das WORT« und würde, bar noch ihrer letzten menschlichen
Inszenierung, reine »Sage des Ungesprochenen«.112 Jetzt bleibt al­
les »Sagen überflüssig«, und das unhörbare Wort des Seins braucht
weder adressiert noch ausgesprochen zu werden.

Seins, Verdoppelung und Spiegelung des ursprünglichen Wortes in der sich


nachsagenden »Ant‑wort«.
111 Siehe Wort und »Sprache«, GA 74, S. 143: »Der seynsgeschichtli­
che Spruch: das Wort hat den Menschen ist daher ganz und gar nicht die
bloße Umkehrung des metaphysischen Satzes ζῷον λόγον ἔχον. Die Formel:
›Der Mensch hat das Wort‹ läßt daher alles im Metaphysischen und unent­
schieden.«
112 Anmerkungen IV, GA 97, S. 425.
Schlusswort

Am Ende stellt sich die Frage: Wozu das Ganze? Warum überhaupt
eine Seinsgeschichte? Hätte Heidegger sich nicht mit der ontologi­
schen Differenz, der Daseinsanalyse und, wenn man unbedingt will,
noch mit seinem Denken der Technik begnügen können? Hätte dies
nicht ausgereicht, um als ein großartiger Philosoph in die Philoso­
phiegeschichte einzugehen? Was hatte es für einen Sinn, eine solche
Erzählung des Seins zusammenzubasteln? Hat das überhaupt noch
etwas mit Philosophie zu tun? Und wenn selbst nach Heideggers
Verständnis das Seinsdenken keine Philosophie mehr sein sollte, ist
es überhaupt noch ein Denken? Denkt man noch, wenn man daran
festhält, dass die gesamte Geschichte der europäischen Welt, ein­
schließlich all ihrer Kriege, Weltkriege und Revolutionen, bloß das
lang anhaltende Ende der Denkversuche von Anaximander, Heraklit
und Parmenides ist? Denkt man noch, wenn man behauptet, dass
Amerikaner, Bolschewiki, Engländer, Juden und wer auch immer
Agenten der »Machenschaft des Seienden« und nur dazu da sind,
das Sein in die ewige Vergessenheit zu verbannen? Und was ist es
überhaupt mit diesem Sein? Muss sich das Denken mit so etwas be­
schäftigen? Wäre es so unverzeihlich, sich dem Seienden zu widmen,
dem Menschen zum Beispiel?
Angesichts der Verlegenheit, in die dieser Denker schon ganze
Generationen von Lesern, Schülern, Stuiderenden, »Heideggeria­
nern« etc. versetzt hat, ist es ein beliebter Ausweg, einen frühen von
einem späten Heidegger zu unterscheiden, um immer wieder gern
auf einen ganz frühen guten zurückzukommen, der sich die Hände
noch nicht schmutzig gemacht hat, um dann anschließend zu ei­
nem ganz späten, zur Besinnung gekommenen Heidegger hinüber­
zuspringen, der sich die Hände gründlich gewaschen haben soll.
Solchen akrobatischen Ausweichmanövern zum Trotz hätte ich mir
dann als Gegenstand dieser Arbeit ausgerechnet den mittleren und
bösesten Heidegger mit seinem finsteren metapolitischen Epos des
198 Schlusswort

Seins ausgesucht. Das geschah aus zweierlei Gründen, die wenig mit
einer Lust an zu großen Herausforderungen zu tun haben.
Einerseits halte ich den Versuch, das Sein durch eine Geschichte
zu denken, und zwar in der doppelten Bedeutung eines Geschehens
und einer Narration, für den konsequentesten Schritt, um aus den
Aporien der Zeitlichkeit herauszukommen, mit denen Sein und Zeit
abgebrochen wurde. Schon Paul Ricœur, auf dessen Werk Temps et
récit ich mich oft gestützt habe, hatte in der narrativen Form einer
erzählten Geschichte eine Möglichkeit gesehen, die drei Modi der
ekstatischen Zeit in einer pluralen Einheit zusammenzufügen, wobei
der letzte vereinheitlichende Akt einer »refiguration« der Zeit nicht
dem Autor, sondern dem Leser im Vollzug seiner Rezeption über­
lassen wurde. Andererseits denke ich, dass alle späteren Entwicklun­
gen des Seinsdenkens, wie wir sie ab den 50er Jahren von Heidegger
kennen, aus dem einzigen Bemühen hervorgegangen sind, die Phi­
losophie als eine Geschichte zu fassen, die noch in ihrer Überwin­
dung die narrativen Merkmale einer erzählten Handlung bewahrte.
Wenngleich also das Projekt der Seinsgeschichte chronologisch gut
einzugrenzen ist zwischen den 30er und den 40er Jahren, besitzt es
nicht bloß eine zentrale, sondern darüber hinaus eine zentripetale
Rolle im Schaffen Heideggers, sodass seine früheren wie seine spä­
teren Werke unausweichlich auf es zu beziehen sind.
Doch es gab noch einen anderen Grund, der mich anzog. Es ging
um den hybriden Charakter eines narrativen Konstrukts, in dem
ohne spürbare Übergangslinien Philosophie, Historie, Politik, Epik
und, in manchen Fällen, reines Drama bruchlos ineinanderfließen.
Dass hierdurch Heidegger eine Erzählung zustande brachte, mit der
er sich erhofft hatte, direkt in das wirkliche Geschehen eingreifen zu
können, um aus einer fiktiven Geschichte eine wahre Geschichte zu
machen, hat mich angespornt, nach den narrativen Bedingungen die­
ser unglaubwürdigsten aller Narrationen zu suchen. Hatte Heideg­
gers Geschichte gerade als Fiktion ihre Chance?
Immer noch lässt mich der Verdacht nicht los, dass Heideggers
monumentaler narrativer Versuch eher auf die Stiftung einer Pseu­
doreligion hinausläuft, die ein Epos des Denkens als ihre heilige
Schrift benötigt. Dabei kommen mir die Worte von Erich Auer­
bach in den Sinn, der in Bezug auf die Ansprüche, die ein genui­
nes Narrativ wie das homerische Epos an seine Rezipienten stellt,
Folgendes sagte: »[E]s ist, solange wir diese Gedichte hören oder
lesen, ganz gleichgültig, ob wir wissen, daß alles nur Sage, daß alles
Schlusswort 199

›erlogen‹ ist. Der Vorwurf, den man oft erhoben hat, Homer sei ein
Lügner, nimmt seiner Wirkung nichts; er hat es nicht nötig, auf die
geschichtliche Wahrheit seiner Erzählung zu pochen, seine Wirk­
lichkeit ist stark genug; er umgarnt uns, er spinnt uns in sie ein, und
das ist ihr genug.«1
Dass nun bei den Philosophen gerade Homer nie in einem gu­
ten Licht gestanden hat, ist seit Platon bekannt. Dem aber scheint
Auerbach erwidern zu wollen, dass ein guter Geschichtenerzähler
eigentlich auf etwas ganz anderes als Wahrheit, oder mindestens auf
eine »geschichtliche Wahrheit«, abzielt. Anders aber ergeht es dem
Verfasser einer heiligen Schrift, wie etwa dem »biblischen Erzähler«,
auf den der Vorwurf der Philosophen – noch Auerbach zitierend
und, ich hoffe, nicht ganz missdeutend – voll und ganz zutrifft: »Der
Wahrheitsanspruch der Bibel ist nicht nur weit dringender als der
Homers, er ist auch tyrannisch: er schließt alle anderen Ansprüche
aus. Die Welt der Geschichten der Heiligen Schrift begnügt sich
nicht mit dem Anspruch, eine geschichtlich wahre Wirklichkeit zu
sein – sie behauptet, die einzige wahre, die zur Alleinherrschaft be­
stimmte Welt zu sein. Alle anderen Schauplätze, Abläufe und Ord­
nungen haben keine Berechtigung, von ihr unabhängig aufzutreten,
und es ist verheißen, daß sie alle, die Geschichten aller Menschen
überhaupt, sich in ihren Rahmen einordnen und sich ihr unterord­
nen werden.«2
Für Heidegger, der Homer eine so ursprüngliche Erfahrung der
Wahrheit zusprach, die er allen Philosophen bestritt, musste die epi­
sche Erzählung einen ganz besonderen Rang angenommen haben.
Er lässt sich kaum noch mit Auerbachs Kategorien beschreiben.
Und dennoch scheint mir die Seinsgeschichte, mit ihrem unleug­
bar tyrannischen »Wahrheitsanspruch«, der nicht bloß die Philo­
sophie, sondern selbst das historische Geschehen neu schreiben
wollte, dem klassischen Format einer heiligen Schrift gefährlich
nahezukommen.
Dass andererseits Dichtung eine Erfahrung der Wahrheit mit sich
bringt, die der Philosophie in nichts nachsteht, wusste Heidegger
selber viel zu gut. Als er aber sich in die Schöpfung eines philoso­
phischen Narrativs hineinwagte, das als Hybrid von Dichtung und
Philosophie keines von beiden sein wollte und doch an beidem hing,

1 E. Auerbach, Die Narbe des Odysseus; in ders., Mimesis, S. 15.


2 Ebd., S. 17.
200 Schlusswort

verfing er sich in die Stricke einer ungeheuren Narration, die beide,


Denken und Dichten, entstellte.
So war die Seinsgeschichte zum einen das Einmalige einer Ge­
schichte, die sich nur einmal und an einem bestimmten Ort ereig­
nen durfte, und zum anderen das Universale selbst der Geschichte,
die als »Geschick des Seyns« jegliches mögliche und unmögliche
Geschehen in sich einbezog. Und wenn man auch mit Paul Ricœur
von einer »fictionalisation de l’histoire« und einer »historicisation
de la fiction« sprechen mag, wenn die Geschichtsschreibung das
vergangene Geschehen in einen narrativen Diskurs einbettet und
die Fiktion die Wirklichkeit ihres erzählten Faktums fingiert, dann
bedeutet das noch lange nicht, dass Fiktives und Reales austausch­
bar werden. Denn angenommen, die Geschichte erzählen oder eine
Geschichte erzählen beruhen auf dem einen und selben lokutionären
Akt, findet das eine seinen Sinn gerade in einem direkten Bezug zur
Realität, während das andere jedem Realitätsanspruch vorausgeht.
Es war Walter Benjamin, der sich mit dem Versuch einen Schritt
weiter traute, das Erzählen von der Fiktion sowie von der Informa­
tion zu unterscheiden und es in einer Form der Epik zu gründen,
die der heideggerschen »Sage« sehr ähnelt. So fragte sich Benjamin
in seiner kleinen Schrift Der Erzähler, »ob die Geschichtsschrei­
bung nicht den Punkt schöpferischer Indifferenz zwischen allen
Formen der Epik darstellt«,3, in welcher der »Geschichtsschreiber«
als »Geschichts‑erzähler« noch vom »Historiker« zu trennen sei.
Was aber eine mittelalterliche Chronik mit einem Volksmärchen
verbinden kann, nämlich das, was Benjamin »die epische Seite der
Wahrheit«4 nennt, ist gerade jenes, was wir bei Heidegger nie finden
werden: »das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen«.5 Denn weder
kann sich die Seinsgeschichte auf eine faktische Erfahrung berufen,
die über die ganz privaten Seinserlebnisse des Mannes Heidegger
hinaus­geht, noch hat sie jemals mit einer allgemeinen Mitteilbar­
keit rechnen wollen. Dafür musste die seinsgeschichtliche Narra­
tion gerade in der konstitutiven Unmitteilbarkeit einer einsamen
Eingebung gründen, die allein Heidegger (wenn man von seinem
narrativen Alter Ego Hölderlin absieht) gewährt wurde, worauf der

3 W. Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows


(1936), in ders., Erzählen, S. 115.
4 Ebd., S. 106.
5 Ebd., S. 103.
Schlusswort 201

despotische Charakter ihres Wahrheitsanspruches sowie die unan­


fechtbare Autorität ihres einzigen legitimierten Erzählers beruhen.
Insofern war sich Heidegger selbst darüber im Klaren, dass sein
»›Irrtum von 1933‹«,6 wie er ihn in Anführungszeichen ansprach,
»kein politischer«7 sein konnte. Dass aber er, wie viele andere noch
»Klügere«,8 »›Hitler‹ in seinem ›Wesen‹« verkannt hatte, war kein
belangloses Versehen eines Denkers, der sich mit etwas ganz ande­
rem als Politik beschäftigen wollte. Und noch weniger ging es darum,
dass die Zeit für eine »Erweckung des Volkes«9 nicht reif gewesen
wäre, als ob Heidegger sich bloß im »geschichtlichen Augenblick«10
verrechnet hätte. Der »Irrtum«, wenn man ihn noch so nennen
möchte, musste eher im »Er‑fahren« einer Erfahrung liegen, die
nur eines hätte erfahren können, nämlich »wie das Seyn fährt, d. h.
wie Es sich kehrt als die Einkehr der Vergessenheit – wohin es aus­
fährt in seinem Eigenen«,11 was genauso wenig mit einem Volk wie
mit irgendeiner Form von Realität zu tun hat.
Ebenso wenig, wie er jemals etwas für das wirklich Seiende übrig­
gehabt hatte, musste er jeglicher Erfahrung verschlossen bleiben, die
nicht irgendeine Resonanz in seinem phantastischen Narrativ gefun­
den hätte. So war und blieb für Heidegger das Sein selbst die Fiktion
einer Geschichte, die seinen Autor, um mit Auerbach zu reden, zu
einem solchen Grad umgarnt und in sich eingesponnen hatte, dass
sie für ihn zur einzigen möglichen Wirklichkeit wurde. Gefangen in
der Absolutheit seiner eigenen Erzählung, musste dann Heidegger
bis zu seinem Tod – und durch das nie enden wollende editorische
Unternehmen seiner Gesamtausgabe noch über ihn hinaus – zwi­
schen den Seiten seiner unzähligen Manuskripte umherirren und uns,
die wir in Heidegger einen eminenten Denker des 20. Jahrhunderts
entdecken, verwirren.

6 Anmerkungen II, GA 97, S. 147.


7 Anmerkungen III, GA 97, S. 274.
8 Anmerkungen I, GA 97, S. 98.
9 Ebd.
10 Anmerkungen II, GA 97, S. 174.
11 Anmerkungen III, GA 97, S. 275.
Literaturverzeichnis

Schriften von Martin Heidegger

Aus der Gesamtausgabe (GA), Vittorio Klostermann Verlag, Frank‑


furt am Main:

I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976


Band 2: Sein und Zeit, hrsg. von F. W. von Herrmann, 1977
Band 4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, hrsg. von F. W. von
Herrmann, 1981, 2. Auflage 1996
Band 5: Holzwege, hrsg. von F. W. von Herrmann, 1977, 2. Auf­
lage 2003
Band 6.2: Nietzsche II, hrsg. von B. Schillbach, 1997
Band 9: Wegmarken, hrsg. von F. W. von Herrmann, 1976, 2. Auf­
lage 1996, 3. Auflage 2004
Band 10: Der Satz vom Grund, hrsg. von P. Jaeger, 1997

II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944


Band 27: Einleitung in die Philosophie (Wintersemester 1928/29),
hrsg. von O. Saame u. I. Saame‑Speidel, 1996, 2. Auflage 2001
Band 34: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis
und Theätet (Wintersemester 1931/32), hrsg. von H. Mörchen,
1988, 2. Auflage 1997
Band 35: Der Anfang der abendländischen Philosophie (Sommer­
semester 1932), hrsg. von P. Trawny, 2012
Band 36/37: Sein und Wahrheit. 1. Die Grundfrage der Philosophie
(Sommersemester 1933), 2. Vom Wesen der Wahrheit (Winter­
semester 1933/34), hrsg. von H. Tietjen, 2001
Band 38: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (Sommer­
semester 1934), hrsg. von G. Seubold, 1998
Band 39: Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«
204 Literaturverzeichnis

(Wintersemester 1934/35), hrsg. von S. Ziegler, 1980, 2. Auflage


1989, 3. Auflage 1999
Band 45: Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme«
der »Logik« (Wintersemester 1937/38), hrsg. von F.-W. von
Herrmann, 1984, 2. Auflage 1992
Band 48: Nietzsche: Der europäische Nihilismus (1940), hrsg. von
P. Jaeger, 1986
Band 52: Hölderlins Hymne »Andenken« (Wintersemester 1941/42),
hrsg. von C. Ochwadt, 1982, 2. Auflage 1992
Band 53: Hölderlins Hymne »Der Ister« (Sommersemester 1942),
hrsg. von W. Biemel, 1984, 2. Auflage 1993
Band 54: Parmenides (Wintersemester 1942/43), hrsg. von M. S.
Frings, 1982, 2. Auflage 1992
Band 55: Heraklit: 1. Der Anfang des abendländischen Denkens
(Sommersemester 1943), 2. Logik. Heraklits Lehre vom Logos
(Sommersemester 1944), hrsg. von M. S. Frings, 1979, 2. Auflage
1987, 3. Auflage 1994

III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen


Vorträge – Gedachtes
Band 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938), hrsg.
von F.-W. von Herrmann, 1989, 2. Auflage 1994
Band 66: Besinnung (1938–1939), hrsg. von F.-W. von Herrmann,
1997
Band 69: Die Geschichte des Seyns (1938–1940), hrsg. von P. Trawny,
1998, 2., durchges. Auflage 2012
Band 70: Über den Anfang (1941), hrsg. von Paola-Ludovika Co­
riando, 2005
Band 71: Das Ereignis (1941–1942), hrsg. von F.-W. von Herrmann,
2009
Bände 73.1 u. 73.2: Zum Ereignis-Denken, hrsg. von P. Trawny, 2013
Band 74: Zum Wesen der Sprache, hrsg. von T. Regehly, 2010
Band 75: Zu Hölderlin / Griechenlandreisen, hrsg. von C. Ochwadt,
2000
Band 76: Leitgedanken zur Entstehung der Metaphysik, der neu‑
zeitlichen Wissenschaft und der modernen Technik, hrsg. von
C. Strube, 2009
Band 77: Feldweg-Gespräche (1944–1945), hrsg. von I. Schüßler,
1995, 2. Auflage 2007
Band 80.1: Vorträge. Teil 1: 1919–1932, hrsg. von G. Neumann, 2016
Literaturverzeichnis 205

IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen


Band 94: Überlegungen II–VI (Schwarze Hefte 1931–1938), hrsg.
von P. Trawny, 2014
Band 95: Überlegungen VII–XI (Schwarze Hefte 1938/39), hrsg.
von P. Trawny, 2014
Band 96: Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939–1941),
hrsg. von P. Trawny, 2014
Band 97: Anmerkungen I–V (Schwarze Hefte 1942–1948), hrsg.
von P. Trawny, 2015

Einzelausgaben:

Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erzie‑


hung des Menschen (Wintersemester 1936/37), Seminarmitschrift
von Wilhelm Halbwachs, hrsg. von Ulrich von Bülow, Deutsche
Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2005
Heidegger, M. / Blochmann, E.: Briefwechsel (1918–1969), hrsg. von
Joachim W. Storck, Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am
Neckar 1989

Weitere Autoren und Textquellen

Agamben, Giorgio: Infanzia e storia, Einaudi, Turin 2001


Agamben, Giorgio: Nudità, nottetempo, Rom 2009, 4. Auflage 2013
Alemann, Beda: Hölderlin und Heidegger, Atlantis Verlag, Frei­
burg i. Br. 1954
Aischylos: Septem Quae Supersunt Tragoedias, hrsg. von D. Page,
Oxford University Press 1972
Aristoteles: De Arte Poetica Liber, hrsg. von R. Kassel, Oxford Uni­
versity Press 1965
Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abend‑
ländischen Literatur, A. Francke Verlag, Bern 1946, 6. Auflage
1977
Austin, John: How to do things with words, Oxford University
Press 1962
Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman (1934/1935), in: ders., Die
Ästhetik des Wortes, hrsg. von R. Grübel, Suhrkamp, Frankfurt
am Main 1979, S. 154–300
206 Literaturverzeichnis

Bachtin, Michail M.: Epos und Roman. Zur Methodologie der Ro‑
manforschung (1941), in: M. Wegner (Hrsg.), Disput über den
Roman. Beiträge zur Romantheorie aus der Sowjetunion 1917–
1941, Aufbau‑Verlag, Berlin 1988, S. 490–534
Bachtin, Michail M.: Chronotopos (1975), übers. von M. Dewey,
Suhrkamp, Berlin 2008
Barthes, Roland: Introduction à l’analyse structurale des récits, in:
Communications, 8, 1966, S.1–27
Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai
Lesskows (1936), in: ders., Erzählen: Schriften zur Theorie der
Narration und zur literarischen Prosa, ausgew. von A. Honold,
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007
Berlin‑Brandenburgische Akademie der Wissenschaften: Digitales
Wörterbuch der deutschen Sprache, url: http://www.dwds.de
Berve, Helmut: Griechische Geschichte. Erste Hälfte: Von den An‑
fängen bis Perikles (1931), Herder, 2. Auflage, Freiburg i. Br. 1951
Borges, Jorge Luis: Inquisiciones (1925). Otras Inquisiciones (1952),
Debolsillo, Barcelona 2011, 2. Auflage 2015
Derrida, Jacques: La carte postal: de Socrate à Freud et au‑delà,
Flammarion, Paris 1980
Derrida, Jacques: Heidegger et la question, Flammarion, Paris 2010
Diels, Hermann / Kranz, Walther (Hrsgg.): Die Fragmente der Vor‑
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Eliade, Mircea: Traité d’historie des religions (1949), Payot, Paris
1953
Eliade, Mircea: Le mythe de l’éternel retour (1949), Gallimard, P ­ aris
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Fischer‑Laske, Erika: Ästhetik des Performativen, Suhrkamp,
Frankfurt a. M. 2004
Genette, Gérard: Discours du récit (1972). Nouveau discours du récit
(1983), Éditions du Seuil, Paris 2007
Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. in
32 Teilbänden, S. Hinzel Verlag, Leipzig 1854–1961; url: https://
www.woerterbuchnetz.de/DWB/
Hitler, Adolf: Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, hrsg. von
E. Jäckel u. a. Kuhn, Deutsche Verlags‑Anstalt, Stuttgart 1980
Hitler, Adolf: Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommen‑
tiert von einem deutschen Zeitgenossen, hrsg. von M. Domarus,
4 Bde., 4. Auflage, Pamminger & Partner, Leonberg 1988.
Literaturverzeichnis 207

Homolka, Walter / Heidegger, Arnulf (Hrsg.): Heidegger und der


Antisemitismus, Herder, Freiburg i. Br. 2016
Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke, Historisch‑kritische Aus­
gabe, 20 Bde. und 3 Suppl., Verlag Roter Stern / Stroemfeld,
Frank­furt a. M. / Basel 1975–2008
Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung
(1976), Wilhelm Fink Verlag, München 1994
Jauss, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Litera‑
turwissenschaft, in: Rainer Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik,
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