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Alessandro Iorio
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Heidegger
Heidegger
HeideggerForum
Vittorio Klostermann
Alessandro Iorio · Das Sein erzählt.
HeideggerForum
Alessandro Iorio
VittorioKlostermann
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
3. Im Zeitgewinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
3.1 Gezerrte Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
3.2 Vollendung im Kreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
3.3 Endliche Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
Einleitung
einem Text eine erzählte Geschichte macht. Und obwohl die Nar
ratologie sich hauptsächlich mit den Modi des Erzählens, d. h. mit
der formalen Konstitution der Rede, beschäftigt, hat sich meine Auf
merksamkeit nicht weniger den thematischen Aspekten gewidmet,
die der Narration ihren unmittelbaren Stoff liefern.
Darum habe ich als Ausgangspunkt meiner Betrachtungen ge
rade jenes Gefüge der europäischen Denkgeschichte gewählt, in das
Heidegger das gesamte menschliche Geschehen einfügt (1. Kapi
tel). Hierbei bewegt sich die Analyse des Handlungsablaufs keines
wegs auf einer vor‑narrativen Stufe, auf der bloß die chronologische
Reihenfolge der erzählten Ereignisse dargelegt wird, sondern sie ist
selbst das Eindringen in das narrative Geflecht der syntaktischen
Komponenten, aus denen sich die Welt der Erzählung zusammen
setzt. Insofern geht es bei der Handlung der Seinsgeschichte auch
nicht bloß darum, dass die Philosophie ihren Anfang im vorchrist
lichen Griechenland des 6. Jahrhunderts genommen hat, sondern
vor allem darum, dass die ganze nachkommende Philosophie als
Ende dieses Anfangs fungiert. Es wird also von grundlegender Rele
vanz für die Erforschung dieses Narrativs sein, die Funktion aller
verschiedenen Momente, aus denen das Ganze der Handlung her
vorgeht, mit ihrer inneren Finalität in Zusammenhang zu bringen.
Nur dann kann der Sinn jener Narrativierung, der Heidegger das
Denken in toto unterzog, nachvollzogen werden, ohne sie übrigens
gutheißen zu wollen.
Anschließend habe ich mich gezielt auf all jene materiellen Ele
mente der Geschichte gerichtet, die das narrative Universum kon
stituieren. Als Szenario der erzählten Handlung hat dann in erster
Linie der Raum, der bei den Theoretikern einer diskursiven Erzähl
theorie seine narrative Rolle zugunsten der zeitlichen Verhältnisse,
in denen sich der Akt der Narration vollzieht, oft einbüßt, ein ganz
besonderes Gewicht bekommen (2. Kapitel). Durch die Theorie der
Chronotopoi von Michail Bachtin und die Raumsemantik von Jurij
Lotman habe ich demgemäß in der Räumlichkeit des narrativen Ge
schehens das generative Gerüst der seinsgeschichtlichen Erzählung
freizulegen versucht, um eine Topologie des Seinsdenkens zu skiz
zieren, die unmittelbar in eine Topo- oder sogar Kartographie des
Seins übergeht.
Insbesondere hat mir der Begriff des Chronotopos ein konsti
tutives Modell angeboten, das die Zeitlichkeit der fiktiven Ereig
nisse untrennbar von den räumlichen Konnotationen der erzähl
Einleitung 11
***
Ein Wort noch zu den Textquellen. Diese Arbeit bedient sich reich
lich des vor kurzem veröffentlichen Materials aus den sogenannten
Schwarzen Heften. Die Erscheinung dieser Manuskripte (Über‑
legungen II–XV, Anmerkungen I–V) hat in der Heidegger-For
schung für großes Unbehagen gesorgt. Insbesondere die darin ent
haltenen antisemitischen Äußerungen haben manche Forscher dazu
verleitet, diese Manuskripte als einen Fremdkörper im Rahmen des
heideggerschen Gesamtwerks zu betrachten, um nicht zum Schluss
kommen zu müssen, Heideggers Denken sei antisemitisch. In die
sem Zusammenhang lohnt sich aber vielleicht zu erwähnen, dass
die geläufige Unterscheidung zwischen veröffentlicht und unver‑
öffentlicht sich bei Heidegger mit einer anderen Unterscheidung,
nämlich derjenigen zwischen öffentlich und nicht‑öffentlich, über
schneidet und einen ganz anderen Sinn hat als bei den meisten Den
kern und Autoren, von denen wir über einen Nachlass verfügen. So
haben wir auf der einen Seite eine begrenzte Anzahl von Schriften,
und darunter nur wenige öffentliche Vorlesungen, die von Heideg
ger selbst durchgearbeitet und veröffentlicht wurden, während auf
der anderen Seite uns eine ganze Reihe von Manuskripten in über
arbeiteter Fassung vorliegt, die Heidegger zeit seines Lebens dem
breiten Publikum vorenthalten hat, gerade weil er solchen Schrif
ten einen höheren Wert zuschrieb. Von daher kann man auch nicht
mit solchem Material so umgehen, als ob es sich um Schmierpapier,
Gedankenfetzen oder einfache Notizen handelt, die den Rang eines
abgeschlossenen Werkes nicht erreichen. Während es also durchaus
fruchtbar sein kann, die eine Schrift durch die andere zu beleuch
ten, verrät der Vorsatz, einige Texte zugunsten anderer auszublen
den, nur die unehrliche Absicht, die vorgezogenen Texte bewusst
missdeuten zu wollen.
***
Es sei gleich zugegeben: Das Wesen der Geschichte hatte für Heideg
ger wenig mit Erzählung zu tun. Möchte man sich zudem auf die
semantische Herleitung des deutschen Wortes berufen, hätte man
schon zu Beginn genug Gründe dafür, zu behaupten, Geschichte
sei im Grunde genommen Geschehen und alles andere als Narra
tion. Und tatsächlich lag für Heidegger nichts so weit auseinan
der wie Geschichte und Historie, letztere im Sinne einer Kunde des
Vergangenen. Nun muss man sich aber fragen, was Heidegger un
ter Geschehen eigentlich verstand und wie sich für ihn Geschichte
überhaupt ereignete. Das geschichtliche Geschehen, wie man es auch
immer auffassen mag, wird dann in seiner innersten Verbindung mit
dem es sagenden Wort auftauchen – und zwar, wie sich bald zeigen
wird, mit einem erzählenden Wort.
Umso wichtiger ist es, klarzustellen, dass Geschichte hier weni
ger mit Taten, sondern vielmehr mit Denken zu tun hat und dass es
eigentlich auch nie um eine Geschichte von Menschen gehen wird,
obwohl in ihr dem Menschen nicht die unbedeutendste Rolle zu
kommt. In Heideggers Geschichtsauffassung wird es ständig um eine
Entscheidung gehen, auf die keine Handlung folgt, weil sie selbst die
einzige wahre Handlung ist, und die im Grunde genommen nicht
mal gefällt wird, weil sie erst recht alles Sich‑Entscheiden ermög
licht. Dabei soll das Geschehen auch gar nicht als Geschehen ver
standen werden, wenn an ihm ausgerechnet das, was nicht geschieht,
von philosophischer Relevanz ist – wie Heidegger selbst, gleich vor
Anbruch des Zweiten Weltkrieges, seine Adressaten warnte: »Das
16 1. Die Geschichte des Seins
3 GA 45, S. 120.
4 Siehe Ein Rückblick auf den Weg (1937–1938), GA 66, S. 425.
18 1. Die Geschichte des Seins
Geschichte nimmt dann die Züge eines sich durch die Zeitalter er
streckenden Epos an, in dem die Wahrheit sich immer neu und an
ders ereignet. Mithin wird die Philosophie als solche zu einer ein
zigen gigantischen Narration, die das Sein erst zu einer erzählten
Geschichte macht. Denn angenommen, das philosophische Fragen
sei das »Grundgeschehnis«,5 in dem sich »das Seyn selbst zu seiner
Wahrheit drängt«, dann wird die gesamte Geschichte der Philoso
phie als Erzählung jenes Grundgeschehnisses gelten, das das Sein
selbst zur Handlung einer allumfassenden Narration verwandelt.
Das Denken Heideggers gestaltet sich hier, als erzählende Stimme
des Seins, zu einem philosophischen Epos, das in den fernen griechi
schen Anfängen der Philosophie ansetzt und sich zu Nietzsche hin
zieht, ein abendländisches Abenteuer verflechtend, in dem die ganze
Geschichte der Menschheit mit hineingerissen wird. Die Frage nach
der Wahrheit gilt nun als Leitfaden für eine »Auseinandersetzung
mit der gesamten abendländischen Philosophie«,6 aus der die ein
zelnen Denker als schicksalhafte Figuren emporragen, durch deren
Fragen alle Möglichkeiten des menschlichen Seins erschlossen wer
den. Die gesamte Weltgeschichte wird so in eine denkerische Nar
ration eingesponnen, die die Taten von Denkern erzählt, indem sie
sich mit ihnen philosophisch auseinandersetzt.
Und gerade in solcher »Auseinandersetzung« unterscheidet
sich Heideggers Erzählung von einer beliebigen Philosophiege
schichte: »Geschichtliche Auseinandersetzung ist etwas wesentlich
anderes als die historisch verrechnende Kenntnisnahme des bisher
Vergangenen.«7 – und in der Tat ist Heideggers Narration keine his
torische Betrachtung, keine Darstellung des bisher Gedachten und
auch keine Interpretation vergangener Philosophien. Denn genauso
wie in der Geschichte das Nichtgeschehene »sogar wesentlicher als
das Geschehene« war, ist nun in der Philosophie allein die Erzählung
ihres Ungesagten und Ungedachten das Einzige, was Heidegger tat
sächlich interessiert. Geschichtliche Auseinandersetzung heißt dann
nichts anderes, als die überlieferte Geschichte auseinander zu neh
»Die jetzt und künftig wesentliche Fassung des Begriffes der Phi
losophie […] ist die geschichtliche (nicht eine historische). ›Ge
schichtlich‹ meint hier: zugehörig der Wesung des Seyns selbst,
eingefügt in die Not der Wahrheit des Seyns und so gebunden in
die Notwendigkeit jener Entscheidung, die überhaupt über das
Wesen der Geschichte und ihre Wesung verfügt.«8
8 GA 65, S. 421.
9 Siehe GA 45, S. 42: »Das Geschichtliche ist das Über‑Historische …«
20 1. Die Geschichte des Seins
beladenen Worte der Denker als die einzig wahren Taten in einer
philosophischen Epik erscheinen, die das menschliche Schicksal
trägt und prägt, gerade indem sie es erzählt.
Heidegger nannte seine narrative Unternehmung »geschichtliche
Besinnung«10 und setzte mit ihr gerade am Ende jener Geschichte
an, die es zu erzählen galt. Aus solcher Positionierung entstand die
erzählerische Funktion eines Denkens, das durch die Rückwendung
auf das Bisherige in den eigenen Ursprung zu gelangen suchte, um
von daher eine geschichtliche Legitimation zu erlangen: »Wir müs
sen uns hier auf den Anfang des abendländischen Denkens und auf
das, was in ihm geschah und nicht geschah, besinnen, weil wir im
Ende – im Ende dieses Anfangs – stehen.«11
Es ist also die Not eines mit sich nicht weiterkommenden Endes,
die nun zur Aufgabe einer besinnlichen Narration zwingt. Nur an
seiner Stelle »im Ende« legitimiert sich der narrative Versuch, einen
verschütteten und vielleicht nie geschehenen Anfang zu erreichen,
der einem alten und erschöpften Denken neue Ursprünglichkeit zu
verleihen verspricht. Dem Erzähler stünde dann wie üblich die un
dankbare Aufgabe zu, mit einer Geschichte anzufangen, die schon
längst zu Ende ist.
Und doch, wenn es hier um jenes seltsame Geschehen geht, das
Philosophie heißt, können sich die Spielregeln rasch ändern. Denn
erstens soll es in dieser Geschichte genauso um Geschehenes sowie
um ein geheimnisvolles Nicht‑Geschehenes gehen, das auch irgend
wie zum Geschehen drängt, und zweitens handelt es sich um ein
ganz eigentümliches Ende, das noch gar kein Endgültiges, sondern
nur das »Ende dieses Anfangs« ist, wie Heidegger sagt. Aber wie
viele Anfänge kann es denn eigentlich geben?
Der Anfang der Philosophie ist tatsächlich nicht der einzige An
fang in der Geschichte, die uns Heidegger erzählt. In dieser seltsa
men Erzählung kann dieselbe Geschichte mehrmals anfangen, und
obwohl sie in einer Hinsicht schon längst zu Ende ist, wird sie an
dererseits noch sehr lange dauern. Und selbst das Ende kann nach
Heidegger gar kein Ende nehmen wollen und sich bis ins Unend
liche überleben. Aber was wird hier angefangen und was soll nun
zu Ende sein?
10 Ebd., S. 35.
11 Ebd., S. 124.
1.1 Eine Epik der Wahrheit 21
Wir haben schon gesehen, wie die Geschichte als »Wesung der
Wahrheit« gedacht ist. Und wir haben auch gesehen, wie solche Ge
schichte »durch den Menschen« geschieht, ohne jemals Menschen
geschichte zu werden, denn in der Wahrheit ereignet sich nicht der
Mensch, sondern das Sein: »Philosophie und Philosophen sind dann
und gemäß dem, wann und wie die Wahrheit des Seyns selbst sich
ereignet, welche Geschichte sich jeder menschlichen Veranstaltung
und Planung entzieht, weil sie selbst erst der Grund ist für die Mög
lichkeit menschlichen Seyns.«12
Die Wahrheit des Seins ist also selbst das einzige geschichtliche
Ereignis, das sich in dieser Erzählung zutragen soll. Und dennoch
hat Heidegger in den drei Jahrzehnten seiner Lehrtätigkeit anschei
nend nichts anderes getan, als unablässig von Menschen und ihren
Werken, von Platon und Nietzsche, Descartes und Hegel, Leibniz
und Schelling, Kant und Parmenides zu erzählen. Nun ist aber
das Menschliche in dieser Geschichte der narrativen Gestaltung
so dermaßen untergeordnet, dass selbst die Aussage, Heidegger
sei der Erzähler dieser Geschichte, eine Missdeutung ihrer Beson
derheit wäre. Denn Heidegger selbst stellte sich in die lange Reihe
der Denker, von denen er doch erzählt, als ob er selbst Teil, wenn
nicht gerade Instrument der Narration, wäre. Und für alle – sowie
in allererster Linie für ihn – scheint das zu gelten, was er einmal
über Nietzsche sagte: »Die Gedanken eines wesentlichen Denkers
sind der Widerklang der noch nicht erkannten Geschichte des Seins
im Wort, das der geschichtliche Mensch je als seine ›Sprache‹ spre
chen wird.«13
Die Geschichte des Seins, könnte man fast sagen, erzählt sich von
selbst. Was Philosophen sagen, entstammt also nur aus dem Zwang
einer inneren Notwendigkeit, in der die Wahrheit des Seins selber
spricht. Dementsprechend gehören Denker zu einer schlicht narra
tiven Art von Menschen, »die keine Wahl haben«14 und nur noch
als »Widerklang« eines erzählenden Wortes existieren, worin man
nicht einmal behaupten kann, dass sie sprechen, sondern nur dass
sie gesprochen werden. Insofern verleihen sie, vom Sein gestimmt
12 Ebd., S. 120.
13 Freiburger Vorlesung II. Trimester 1940 Nietzsche: Der europäische Nihi
lismus, GA 48, S. 20.
14 Ebd. 6.
22 1. Die Geschichte des Seins
und bestimmt, der Narration nur eine Stimme, in der das Wort der
je geschichtlichen Wahrheit erklingt.15
Es ist also die Geschichte des Seins selbst, die zuletzt, »im Ende«
ihres Anfangs, sich in einer geschichtlichen Auseinandersetzung
auf sich selbst besinnt und den eigenen Anfang zur Sprache bringt,
und zwar »was in ihm geschah und nicht geschah«. Im Ende einge
schlossen liegt somit die Notwendigkeit einer narrativen Aufgabe,
die sich in einem Rückgang durch die gesamte Denkgeschichte ent
faltet. Ihre Geschehnisse und Nicht‑Geschehnisse sind Namen von
Philosophen, in denen die Wahrheit des Seins sich selbst darstellt.
Auf der Bühne dieses geschichtlich‑philosophischen Szenarios, wo
»die Philosophen nur die gespielten Spieler«16 sind, spielt sich dann
das Drama einer Jahrtausende langen Sage des Denkens ab, die es
noch nicht geschafft hat, ihr Wesentliches auszusprechen.
In dieser Hinsicht entsteht die Narration gerade aus einem
Nicht‑Gesagten im Gesagten und Nicht‑Geschehenen im Gesche
henen, das nun in der geschichtlichen Besinnung zum Sagen und
Geschehen drängt. Heidegger hatte einen ganz bestimmten Namen
für dieses lange Epos der Wahrheit bzw. Unwahrheit: »Die Wahr
heit des Seienden im Ganzen heißt von altersher ›Metaphysik‹. Jedes
Zeitalter, jedes Menschentum ist von je einer Metaphysik getragen
und durch sie in ein bestimmtes Verhältnis zum Seienden im Ganzen
und damit auch zu sich selbst gesetzt.«17
Metaphysik ist also nicht der Name einer Art von Philosophie,
sondern Metaphysik ist seit Platon die gesamte Geschichte des Men
schen in all ihren bisher gegebenen Möglichkeiten: Von der Nieder
schrift der ersten aristotelischen Abhandlung bis zur Erfindung des
Verbrennungsmotors und viel weiter hinaus, ist jedes menschliche
Schaffen metaphysisch. Metaphysik wird zum geläufigen Namen
für alles menschliche Tun und Sagen und bestimmt, mit der Fest
setzung einer gewissen Auffassung der Wahrheit, jeden Bezug zum
Seienden vor.
Dennoch bleibt diese Metaphysik, trotz ihrer allumfassenden
Kraft, nur der Name eines Endes, jenes Endes, von dessen Stand
punkt aus diese Geschichte erzählt wird. Und es ist eben das End‑
artigen Anfangs ist sie der eigentliche Name für jenes Epos der
Wahrheit, das das gesamte Weltgeschehen miteinschließt und, wie
jede große Erzählung, die schöpferische Kraft hat, eigene Welten zu
entwerfen. Platon, Aristoteles, Descartes, Leibniz, Kant, Schelling,
Hegel und Nietzsche sind dann nicht bloß die Namen der Helden
dieser ungewöhnlichen Epik, sondern selbst Abschnitte der Welt
geschichte im unermüdlichen Wandel des Wahrheitsbegriffs, sodass
von der ἰδέα zur ἐνέργεια , vom cogito zur Monade, von der Vernunft
zum Wollen, vom Selbstbewusstsein zum Willen zur Macht sich im
mer auch ein neuer Weltentwurf ereignet hat.
Es scheint demnach eine ganz besondere narrative Eigenschaft der
Metaphysik zu sein, das Seiende in einem synthetischen Ganzen im
mer von neuem erzählen zu können. »Das Zeitalter der ›Systeme‹«21
nennt sie Heidegger im Wintersemester 1937/38 und fügt hinzu: »Im
großen Anfang gab es, und zwar notwendig, noch keine Systeme,
und nach dem Ende dieses ersten Anfangs wird es Systeme nicht
mehr geben.«22 Ganz gleich, ob tatsächlich eine angeborene »Syste
matik« dem Einheitlichen der metaphysischen Narration zugrunde
liegt, oder ob es einfach jedem Erzählen eigen ist, Unterschiedli
ches in einem Ganzen23 zusammenzufügen – es bleibt unleugbar,
dass eine doppelte Einheit dieser Epik innewohnt: 1) eine innere,
durch die jede Philosophie, als einzelnes Moment der Narration,
das Seiende als ein Ganzes fasst; und 2) eine umfassende, aus der die
ganze Metaphysik als abgeschlossene Handlung hervorgeht. In die
sem letzten Sinne ist die Metaphysik eine einzige Epoche, die unter
dem Verständnis der Wahrheit als »Richtigkeit« die gesamte europä
ische Geschichte bis zum heutigen Tage durchherrscht: Es sind, wie
Heidegger sagt, »zwei Jahrtausende abendländischer Geschichte mit
dieser Auffassung der Wahrheit ausgekommen«.24
Hierbei geht es um ein einmaliges Geschehnis, das, von Platon
vorbereitet, sich in Aristoteles Philosophie zugetragen haben soll,
als das Wesen der Wahrheit als ὁμοίωσις, Richtigkeit der Aussage,
Übereinstimmung von Satz und Sache, festgelegt wurde. In sol
cher Auffassung lag schon der ganze Bereich alles möglichen Tuns
21 GA 45, S. 144.
22 Ebd., S. 145.
23 In einer »concordance discordante« sieht Paul Ricœur die wichtigste
Funktion der Fabelkomposition. Vgl. ders., Temps et récit I, S. 71.
24 GA 45, S. 22.
1.1 Eine Epik der Wahrheit 25
25 Ebd., S. 102.
26 GA 48, S. 276.
27 Ebd., S. 267.
28 Ebd.
26 1. Die Geschichte des Seins
»Die Geschichte ist (als die Geschichte ›des‹ Seyns) nicht der
ab‑laufende Fortgang von einem Anfang zu einem Ende.
Sie ist die Rück‑kehr des Einstigen in den Be‑ginn …«
GA 73.1, S. 791
Das scheinbar unendliche Epos der Metaphysik, das auch sein eige
nes Ende überstehen kann, ist, wie schon erwähnt, die längste Epo
che der Seinsgeschichte. Das gilt aber nur, solange man den zeitli
chen Ablauf nach gewöhnlichen Maßstäben betrachtet. Allerdings
scheint in Heideggers Erzählung eine ganz andere Zeitkonstitution
zu herrschen, die mit der narrativen Struktur des philosophischen
Geschehens tief zusammenhängt. So können z. B. Ereignisse und
Philosophen, die chronologisch weit auseinanderliegen, in ein und
denselben Zeitraum gefasst werden, in dem sich etwas Wesentli
ches für den Wandel der Wahrheit entschieden hat: »Wenn daher
Leibniz nach der historischen Zeitrechnung auch zwei Generatio
nen später kommt als Descartes, so muß er doch – wesensgeschicht
lich gedacht – mit Descartes zusammen als der Beginn der neuzeit
lichen Metaphysik gedacht werden, so wie entsprechend Hegel und
Nietzsche als ihr Ende.«29
Die zeitliche Konstitution der Seinsgeschichte besteht in raschen
Augenblicken, in denen Jahrzehnte und Jahrhunderte plötzlich zu
sammenschrumpfen, und in langen Intervallen, in denen sich blitz
artige Ereignisse über Jahrtausende hin ausdehnen. So ist mit dem
Auffassen der Wahrheit als Richtigkeit bei Platon und Aristoteles
die ganze Metaphysik bis Nietzsche sozusagen bereits mitgesche
29 GA 48, S. 271.
1.2 Anfang und Ende 27
hen, während das erste Aufleuchten der Philosophie bei den Grie
chen ein Geschehnis verbirgt, das noch nicht zu seinem »Ereignis«
kommen will.
Wir haben schon gesehen, inwiefern die ganze Metaphysik, ob
sie ihr eigenes Ende nun findet oder nicht, lediglich als Ende des
Anfangs fungiert. Aber was ist vor der Metaphysik, was danach?
Ist die Wahrheit des Seins anders geschehen, wird sie sich jemals
anders »er‑eignen«?
Die Geschichte des Seins ist eine lange Geschichte, nicht nur weil
sie lange dauert, sondern vor allem weil sie sich eigensinnig in die
Länge zieht, sich langsam ereignet. Was einmal passiert, dauert im
mer länger als ihr Geschehnis selbst, da jedes ausgesprochene Wort
dieser Geschichte immer den ganzen Umfang seiner unausgespro
chenen Möglichkeiten mit sich trägt: »Was da geschieht, geschieht
sehr langsam und sehr still, seine unmittelbare Auswirkung über
springt den Zeitraum von Jahrtausenden.«30 Es handelt sich also um
eine zweitausend Jahre andauernde Metaphysik, die eine »unmit
telbare Auswirkung« von etwas anderem ist, eines langsamen stil
len und verborgenen Geschehens, das dem gewöhnlichen Zeitablauf
völlig fremd bleibt.
Was die innere Bewegung dieser Geschichte ausmacht, was in
Heideggers Erzählung ständig wiederkehrt und die Narration im
mer wieder von neuem in Gang bringt, ist genau das verborgene
Zuvor aller Metaphysik, angesichts dessen alles Folgende nur noch
ein Ende sein kann. Es ist am Anfang, in der ersten Tat, dass alles
passiert. Es ist im Anfang, dass die Frage nach der Wahrheit geschah,
dass Wesensmöglichkeiten eröffnet und verschlossen wurden und
dass sich ein Schicksal entschied. Und wenn auch die narrative Kraft
des Erzählens im Ende ruht, ist es doch der Anfang, und nicht das
Ende, der die ganze Geschichte dieser Narration in sich birgt:
30 GA 45, S. 113.
31 Ebd., S. 36.
28 1. Die Geschichte des Seins
Der Anfang dieser Geschichte geht also nicht vorbei. Das Geschehen
kommt nie über ihn hinaus, selbst wenn es vergeht. Denn Geschichte
geschieht, indem sie anfängt, d. h. indem der Anfang in seiner schöp
ferischen Kraft immer weiterwirkt. Aus dieser Prämisse entsteht die
Notwendigkeit der Narration, sich mit ihrem Anfang auseinander
zusetzen, einfach um eine Zukunft zu haben. Als eine solche narra
tive »Auseinandersetzung« muss die Geschichte des Seins zur Er
zählung des Anfangs werden und nur als diese Erzählung kann sie
früher oder später zu einem Ende finden. Denn der Anfang ist an
sich kein Begonnenes, das irgendwann vergehen kann, sondern der
Beginn einer Geschichte, die geschieht, indem sie sich selbst erzählt,
die eine Zukunft hat, nur indem sie ihren Ursprung sagt, und die
ein Ende erreicht, nur indem sie letztlich mit all jenem anfängt, was
bisher noch nicht hat anfangen können: »Das vergangene gilt nichts,
der Anfang alles. […] Denn das, was in wesentlichen Augenblicken
nicht geschah – und was wäre wesentlicher als ein Anfang –, dieses
Nichtgeschehene muß einstmals doch noch geschehen.«32
Der Anfang bleibt genauso entscheidend für das, was er ange
fangen hat, wie für alles andere, was bis jetzt nicht anzufangen ver
mochte und immer noch in ihm verschlossen bleibt. Die genera
tive Kraft des Anfangs erschöpft sich also gar nicht in dem, was
anfängt, und erstreckt sich auch über alles Weitere hinaus, was in sei
nen ungeschehenen Möglichkeiten noch zurückliegt. Das verschafft
Heideggers Erzählung, wie es sich bald zeigen wird, die merkwür
dige Eigenschaft, von Dingen erzählen zu können, die noch nicht
geschehen sind, vielleicht gar nicht geschehen werden, aber trotz
dem zur Geschichte des Seins gehören.
In diesem Sinne muss auch verstanden werden, inwiefern die
Metaphysik ihr eigenes Ende schon erleben konnte, ohne über es
hinweggekommen zu sein. Denn das eigentümliche Ende dieser Ge
schichte will nicht einfach erreicht, sondern vor allem überholt und
überwunden werden. Aber eine Überwindung bleibt nach den Re
geln solcher Narration nur möglich, indem man sich auf den Anfang
zurückwendet. Es ist somit der Anfang, der zuallererst eingeholt
werden muss: »Das Zukünftige ist der Anfang alles Geschehens«,33
sagt Heidegger und meint damit die Ursprünglichkeit eines Anfan
gens, das sich nie als vergangene Tatsache betrachten lässt. Dabei
32 Ebd., S. 123.
33 Ebd., S. 36.
1.2 Anfang und Ende 29
34 GA 45, S. 199.
35 Ebd., S. 123.
36 Vgl. Besinnung (1938–1939), GA 66, S. 68–80.
37 Vgl. Die Erinnerung in die Metaphysik (1941), GA 6.2, S. 481–490.
30 1. Die Geschichte des Seins
Aber es ist nun an der Zeit, zu schauen, was für eine Geschichte
hier tatsächlich anfängt. Wir haben schon gesehen, wie diese Ge
schichte Philosophie ist, und zwar als jenes Geschehnis der »Wesung
der Wahrheit«, in dem sich das Sein ereignet. Demzufolge setzt
Heidegger den Beginn seiner denkerischen Erzählung an einem ge
nauen Punkt jener Philosophiegeschichte fest, die zugleich als Ge
schichtsphilosophie gelten könnte. Unter ganz bestimmten räumli
chen und zeitlichen Koordinaten, die das Denken in einer seltsamen
Chronotopographie38 einfangen, fängt das seinsgeschichtliche Epos
an. Zur Eröffnung seiner Vorlesung Der Anfang der abendländi‑
schen Philosophie aus dem Sommersemester 1932 erzählt Heidegger:
41 Ebd.
42 Ebd., S. 4.
43 GA 35, S. 2.
44 Die Seinsfrage und das Ereignis, GA 73.1, S. 432.
45 GA 35, S. 47.
32 1. Die Geschichte des Seins
beginnen lässt, noch lange nicht als Anfang gelten muss. Im Winter
semester 1934/35 kommt der Gedanke zu einer deutlicheren For
mulierung: »Beginn ist etwas, womit eine Sache anhebt, Anfang das,
woraus etwas entspringt.«46 Ein echter Anfang kann also nicht bloß
beginnen: Was tatsächlich beginnt, ist nur das, was dem Ursprung
»entspringt« – nie aber der Ursprung selbst.
Und doch ereignete sich bei dem »abgeschlossenen« griechi
schen Volk etwas, womit es »zu einem Anfang der Philosophie«
kam. Dieser Anfang konnte mit einer »abendländischen Zukunft«
anfangen, ohne dass ein »Abendland« begann. Denn Anfang ist nur
»das, woraus etwas entspringt«, und damit etwas, das vom Wesen
her hinter dem Entsprungenen zurückbleibt: »Das verborgene Ge
schick aller Anfänge ist es jedoch, daß sie scheinbar durch das, was
durch sie anfängt und ihnen folgt, abgedrängt, überholt und wider
legt werden.«47
Hiermit gehört zum Anfang konstitutiv ein Sich‑Zurückziehen,
das ihn nicht zum Vorschein kommen lässt. Nur indem der Anfang
dem Angefangenen weicht, kann aus ihm eine Geschichte entrollen.
Deshalb konnten die Griechen nicht wissen und durften es auch
nicht wissen, was für eine »abendländische« Epik ihnen entspringen
sollte. Ungeklärt bleibt aber immer noch, warum denn ausgerech
net bei diesem Volk so etwas wie eine »Denkgeschichte« anfangen
musste. Hier scheint ein verhängnisvolles Vorrecht zu gelten, das die
Narration gleich zu ihrem Beginn prägt. Die von Heidegger betonte
Abgeschlossenheit der Griechen markiert dann einen unheimlichen
Vorgang, der sich leider mit viel katastrophaleren Folgen im Laufe
dieser Geschichte noch einmal wiederholen wird.
Damit ist von Anfang an die Philosophie zur Sache eines einzigen
»Volkes« gemacht worden, das die Seinsgeschichte anfing, indem
es sich von Anderen abgrenzte.48 Als Vorrang dieses »rein auf sich
gestellten Volkes« blieb das Denken in eine Sprache und eine Tra
dition eingemauert, die ihre Kraft aus reiner Vereinzelung schöpfte.
So galt erstens auch der Name »Abendland« für eine grobe Abtren
nung von allem Anderen, was vor, nach und neben dem griechischen
Anfang geschehen konnte: Diese Bezeichnung, berichtet Heidegger
noch in der Sommervorlesung 1932, entstand »als Abgrenzung ge
gen das Morgenland, das Orientalische, Asiatische«,49 und sollte bald
als Name für die gesamte Geschichte, die aus dem Griechentum
hervorging, nur noch auf den irreversiblen Verlust des Ursprungs
hindeuten: »Römertum, Judentum und Christentum haben die an
fängliche Philosophie – d. h. die griechische – völlig verändert und
umgefälscht.« Kein anderes Volk scheint der Größe dieser kleinen
abgekapselten Gruppe von Denk- und Dicht-Männern gewachsen
zu sein – außer einem vielleicht, das noch kommen und von dem
noch ausführlich zu berichten sein wird.
Aber was haben die Griechen tatsächlich geleistet, und worin be
steht ihre Größe? Wie konnten sie zum Anfang werden und dadurch
die Geschichte gründen? Blicken wir auf Heideggers Geschichts
auffassung als Wesung der Wahrheit zurück, dann müsste klar sein,
dass es für den Anfang sowie für jedes Moment dieser Narration um
ein Fragen geht, das einen Wesensbereich der Wahrheit stiften kann.
Nun handelt es sich aber hier nicht um eine beliebige geschichtliche
Frage, sondern um die »Geschichte‑gründende Frage« schlechthin,
um jene »Urhandlung«, die die Möglichkeit des Fragens überhaupt
erst zu gründen vermochte. Dieses gründende Fragen musste dann
so dermaßen ursprünglich sein, dass es nicht einmal stattfinden
konnte. Denn die erste geschichtliche Frage ist in einem gewissen
Sinne auch nie gestellt worden; es scheint, als ob man unmittelbar
zur Antwort hinübergesprungen wäre:
»Auf die einzige Frage der griechischen Denker, durch deren Fra
gen sie den Anfang des Denkens anfingen, auf die Frage: Was ist
das Seiende? lautet die entscheidende Antwort: Es ist die Unver‑
borgenheit. […]
Die Antwort aber auf eine und zumal die denkerische Frage, die
alles Denken erst in seinen Anfang bringt, die Antwort auf diese
philosophische Frage ist niemals ein Ergebnis, wegstellbar und
verschließbar in einen Satz. […] Mit der denkerischen Antwort:
das Seiende ist Unverborgenheit (φύσις, ἀλήθεια) hört jedoch das
Fragen nicht auf, sondern fängt an, entfaltet sich als Anfang.«50
»Die Griechen aber hätten in ihrem großen Anfang, mit dem sie
das Denken, d. h. die Auslegung des Seienden als solchen an
fingen, ihren eigensten Auftrag aufgegeben, wenn sie nach der
ἀλήθεια selbst noch und wieder gefragt hätten. Inwiefern? Sie hät
ten dann gerade nicht mehr gefragt, d. h. in der Bahn ihrer Frage
sich nicht mehr gehalten, die mit jener Antwort sich vollendet
und damit erst sich voll in den Vollzug bringt.«53
Die Frage nach der Unverborgenheit musste aus einer inneren Not
wendigkeit »übersehen werden«54, damit es überhaupt zum Denken
kommen konnte. Um nach dem Sein des Seienden fragen zu können
und damit den Grund des Abendlandes zu setzen, dieser Jahrtau
sende langen Geschichte, die das Seiende immer wieder von neuem
erforscht und auslegt, durfte diesen Grund – und zwar in dem ge
schichtlichen Augenblick, als er gesetzt wurde – nicht in Frage ge
stellt werden. Wie Heidegger selber sagt, »die Gründung des Grun
des ist noch nicht eigentliche Gründung im Sinne der Er‑gründung
des Grundes«,55 d. h. etwas ist es, eine Grundlage zu setzen, und
etwas ganz anderes ist es, sie auseinanderzunehmen. Die Antwort
56 »Das Nichtfragen nach der ἀλήθεια als solches ist kein Versäumnis, son
dern umgekehrt, es ist die sichere Inständigkeit der Griechen in der ihnen
gesetzten Aufgabe« (ebd., 138).
57 Der Anfang des abendländischen Denkens, GA 55, S. 79.
58 GA 45, S. 2.
1.2 Anfang und Ende 37
All dem zufolge wurden die Griechen zu den Griechen nur durch
die geschichtliche Bestimmung, mit dem Denken anzufangen, und
sie wären dieser Aufgabe gar nicht gewachsen gewesen, hätten sie
selbst die Unverborgenheit in Frage gestellt. Ihre Größe bestand,
so Heidegger, genau in der Fähigkeit, jene Eröffnung des Seienden
auszuhalten und in ihr zu stehen: »Das Ausharren in der ersten
Antwort«59 steht als heroische Leistung der früheren Denker am
Beginn der Geschichte, als »Zeugnis der Kraft des Gewachsenseins
gegenüber einer Notwendigkeit«.
So rückt die anfängliche Philosophie die Griechen in ein epi
sches Licht und lässt sie als mythische Helden erscheinen, die als
einzige unter den Völkern dazu fähig gewesen sind, dem Notwendi
gen standzuhalten. Ihnen gegenüber wird alles Nachkommende nur
Verfall »von dem anfänglichen Rang«60 sein. Später, »als die ἀλήθεια
begann, ihr anfängliches Wesen, die Unverborgenheit, zugunsten
der in ihr gegründeten Richtigkeit« aufzugeben, musste dann »auch
die große Philosophie der Griechen zu Ende«61 gehen. Es ist ein
Untergang, ein Zu‑Grunde‑Gehen eines mythischen Zeitalters vor
Anbeginn der Zeiten, demgegenüber die ganze Geschichte der Phi
losophie, als das Angefangene dieses großen Anfangs, nur Ende sein
kann.
Die Metaphysik setzte dort an, als Erzählung einer Abirrung
des Denkens, eines jahrtausendelangen Umherirrens in den abge
legensten Bereichen des Seienden, wo das Sein nicht mehr zu sich
fand. In einer totalen Verwahrlosung hatte das Denken seinen Ort
in der Mitte des Seienden verlassen und war nicht mehr fähig, seiner
Aufgabe standzuhalten. Die Geschichte des Seins wurde zu einer
Geschichte der Verlassenheit und der Vergessenheit, wo das Sein
zugleich das Verlassende und das Verlassene, das Sich‑Selbst‑Ver
gessende und das Vergessene ist. Aus der Wahrheit wurde eine
Unwahrheit, aus dem Wahren ein Richtiges gemacht, und die Un
verborgenheit ging in einer entleerten Entborgenheit verloren, die
nichts mehr zu entbergen hatte, weil sie kein Verborgenes mehr barg.
Das Denken hatte seine Ursprünglichkeit, d. h. seinen Bezug zum
Ursprung verloren und musste irren: »die Wahrheit verirrt sich in
59 Ebd., S. 142.
60 Ebd., S. 140.
61 Ebd., S. 138.
38 1. Die Geschichte des Seins
die Irre des Unwesens als Wahrheit im Sinne der Richtigkeit, und
das Sein verliert seinen Ursprung«.62
Was bei Aristoteles als richtig, in der Neuzeit als gewiss und zu
letzt bei Nietzsche als wert galt, war nach Heidegger schon lange
nicht mehr ursprünglich wahr. Oder, besser gesagt, alles, was ein
mal in der Philosophie als wahr gegolten hatte, blieb dem Wesen der
Wahrheit gründlich fern. Insofern ist die Geschichte der Philosophie,
wie wir sie in den Wandlungen des Wahrheitsbegriffs betrachten
können, nichts anderes als ein langer Gang in die Irre, in dem das
Wesen der Wahrheit verlorenging, falls es nicht von Anfang an ein
ursprünglicher Verlust war, der als Sinn und Grund der gesamten
Narration gelten soll.63
Wie dem auch sei: Die Geschichte des Seins – und zuallererst
die Metaphysik als Ende ihres Anfangs – scheint konstitutiv mit ei
nem Verfallen und einem Zugrundegehen affiziert zu sein. Solchem
Drang zum Untergang aber spielte Heidegger ständig den eines Auf
gangs und einer Neugeburt entgegen, woraus eine Reziprozität von
Anfang und Ende entstand. Dementsprechend trägt der griechische
Anfang schon immer auch sein eigenes Ende in sich, ebenso wie das
Ende der Metaphysik von sich aus über die unvermutete Möglich
keit verfügt, einen anderen Anfang zu gebären. Dabei unterschied
Heidegger zwei Arten von Ende, die der Metaphysik ein zweifaches
Finale anboten: das eine Mal die »Vorbereitung des Übergangs zu
einem ganz Anderen«64 und das andere Mal »das Auslaufen und
Sichverlaufen aller Auswirkungen der bisherigen Geschichte«, was
einem Beharren in der »Irre des Unwesens« entsprechen würde.
Auf der letzten Strecke ihrer tausendjährigen Irrfahrt in die Ver
wahrlosung begegnete dann die Philosophie zwei Denkern, die den
Angelpunkt bildeten, um den sich die Geschichte um sich selbst
drehte: Hölderlin und Nietzsche, die »selbst in ihrem Dasein und
Werk zum Ende wurden«.65 Hier, genauso wie für Anfang, Mitte
oder jeden anderen Punkt der Narration, scheinen die Namen von
Philosophen kaum faktische Personen zu bezeichnen, sondern eher
62 GA 66, S. 67.
63 Vladimir Propp sieht in einem Mangel oder Verlust die idealste Aus
gangssituation für die Entwicklung einer narrativen Handlung. Siehe ders.,
Morphologie des Märchens (1928), S. 39 f. und 76 f.
64 GA 45, S. 125.
65 Ebd., S. 126.
1.2 Anfang und Ende 39
Orte und Etappen eines verborgenen Weges, der durch die Menschen
hindurchgeht. So kristallisierte sich der geschichtliche Augenblick
des Endes in der doppelgestirnten Gestalt eines Denkers und eines
Dichters, von denen der erste eher zurückblickt und »die Bejahung
des Anfanges in der Weise der Vollendung seiner Möglichkeiten«66
darstellt, während der andere als »der Zukünftigere«67 schon über
die Metaphysik hinausblickt und »weiter vorausgeworfen ist«, er
selbst »als die noch nicht ergriffene Frage an die Zukunft unserer
Geschichte«.
Im Grunde genommen ist aber der ganzen Narration, und nicht
einfach der Konstellation dieser beiden Endfiguren der Metaphysik,
ein Doppelgesicht68 eigen, das im selben Moment nach hinten und
nach vorn blickt: Eingespannt zwischen zwei Anfängen ist dann
die seinsgeschichtliche Erzählung nichts anderes als das Wechsel
spiel von Kommendem und Gewesenem. In ihm ist das Ende der
Wendepunkt einer Geschichte, die weitergehen sowie steckenblei
ben kann, die aber Zukunft allein als Einkehr in ihren eigenen Ur
sprung kennt. Demgemäß müssen auch Hölderlin und Nietzsche
als narrative Funktionen angesehen werden, die im letzten Atemzug
der langen metaphysischen Agonie eine neue Bahn eröffnen konn
ten, die nicht fort, sondern zurück in den geheimsten Kern dieser
Geschichte führt:
»Daß diese Beiden ursprünglicher als alle Zeitalter vor ihnen den
griechischen Anfang erkannten, hat seinen Grund einzig darin,
daß sie erstmals das Ende des Abendlandes erfuhren […]. Umge
kehrt gilt aber auch: Sie erfuhren nur das Ende und wurden zum
Ende, weil sie vom Anfang überwältigt waren und ins Große
gehoben wurden. Beides, Besinnung auf den ersten Anfang und
Gründung seines ihm und seiner Größe gemäßen Endes, gehört
in der Kehre zusammen.«69
Am Ende fängt die Geschichte von vorn an. Das lange Epos der
Metaphysik schlägt in sein Ende um und fängt seinen Anfang wieder
66 Ebd., S. 133.
67 Ebd., S. 135.
68 Über Nietzsches »Doppelgesicht« siehe Die Seinsfrage und das Ereignis,
GA 73.1, S. 174.
69 GA 45, S. 126.
40 1. Die Geschichte des Seins
70 Ebd., S. 124.
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 41
73 GA 35, S. 98.
74 Ebd., S. 43.
75 Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, S. 4.
76 GA 35, S. 43.
77 Ebd., S. 98.
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 43
»Wann aber und wo fiel die erste und einzige Entscheidung zur
Grundfrage der Philosophie und damit zu dieser selbst? Damals,
als das Volk der Griechen, deren Stammesart und Sprache mit
uns dieselbe Herkunft hat, in seinen großen Dichtern und Den
kern sich aufmachte, eine einzigartige Weise des menschlichen
volklichen Daseins zu schaffen. Was da anfing, ist bis heute nicht
eingelöst. Aber dieser Anfang ist noch, und er verschwand nicht
und verschwindet nicht dadurch, daß die nachkommende Ge
schichte immer weniger seiner Herr blieb. Der Anfang ist noch
und besteht als ferne Verfügung, die unserem abendländischen
Schicksal weit vorausgreift und das deutsche Geschick an sich
kettet.«80
78 Ebd., S. 100.
79 Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, S. 3.
80 Ebd., S. 6.
44 1. Die Geschichte des Seins
81 Ebd., S. 11.
82 Ebd.
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 45
Noch zweifelhafter bleibt aber die hier nur angedeutete Idee, dass
die Größe der Griechen und der Deutschen nicht nur unter ihren
»Dichtern und Denkern« zu suchen sei, sondern eher in der dubio
sen Fähigkeit beider bestehe, »eine einzigartige Weise des mensch
lichen volklichen Daseins zu schaffen«; wobei noch zu fragen ist,
ob das Volkliche dem Menschlichen oder das Menschliche dem
Volklichen untergeordnet wird – falls beide nicht in einem einzigen
Begriff zusammengedacht werden, der zwischen Menschsein und
Volkszugehörigkeit gar keinen Unterschied macht.83 Auf jeden Fall
scheint die Sache des Seins ganz tief in eine Geschichte von Völkern
verstrickt zu sein, die über Anfang und Verderb, Ende und Wieder
anfang des Denkens entscheidet. Und wie es nur die unübertreffli
che Leistung der Griechen sein konnte, mit der Philosophie anzu
fangen, so sind jetzt allein die Deutschen zur Wiederaufnahme der
geschichtlichen Aufgabe aufgerufen.
Zwei Völker werden in die geheimnisvolle »selbe Herkunft« e ines
Schicksals gezwängt, das über Denker sowie über historische Ge
schehnisse verfügt und alles in den Stoff des seinsgeschichtlichen
Epos verwebt. Das Verhängnisvolle dieser Narration ist dann genau
die innere Verflechtung von Denken und Tat, die sich als der Ein
bruch des Weltgeschehens in die Geschichte des Seins vollzieht. Das
geschah, als das »deutsche Geschick« das »abendländische Schick
sal« übernahm und die »Größe des geschichtlichen Augenblicks«
den Einstieg einer gesamten Nation in das Denken des Seins ver
langte.
Während den Griechen ihre geschichtliche Rolle aber nur als
Dichter und Denker zufällt, geht es beim deutschen Anfang um
etwas wesentlich Anderes. Denn die geschichtliche Relevanz der
Deutschen ist nicht bloß an einem philosophischen Gedankengut zu
ermessen, sondern an der Entscheidung eines lebenden Volkes. Und
wie wichtig Heidegger diese deutsche Entscheidung immer blieb,
wenn auch später ins Unbestimmte einer eschatologischen Erwar
tung verschoben, bezeugen noch Aussagen vom Ende des Zweiten
Weltkrieges, als weder über das wahre Antlitz des Nationalsozialis
mus noch über das Schicksal Europas kein Zweifel mehr bestehen
konnte. So behauptete Heidegger noch im Sommersemester 1944
83 In der Tat gehören für Heidegger Mensch und Volk im Selbst zusammen.
Vgl. die Freiburger Sommervorlesung 1934 Logik als die Frage nach dem
Wesen der Sprache, GA 38, S. 56 f.
46 1. Die Geschichte des Seins
über die Deutschen, dass »nur sie das Abendland in seine Geschichte
retten können«.84
Aber bleiben wir zunächst im Jahre 1933. In seiner ersten Vor
lesung als Rektor der Freiburger Universität gab sich Heidegger alle
Mühe, »die Grundfrage der Philosophie« in die nationale Politik
einzuführen. Bis das Denken des Seins sich anschickte, in eine unge
wöhnliche Staatsphilosophie überzugehen, musste er dem faktischen
Geschehen Zugeständnisse machen:
84 GA 55, S. 108.
85 Die Grundfrage der Philosophie, GA 36/37, S. 3.
86 Ebd.
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 47
Zwar geht es hier nicht mehr um Politisches, und es sind nur noch
Dichter und Denker im Spiel, die auf ältere Dichter und Denker an
spielen. Durch »Wirrnis« und »Schwere« führt der Weg vom ersten
zum anderen Anfang. Diesen Weg zu gehen, ist aber immer noch die
Aufgabe eines Volkes. Es sind insofern weder Dichter noch Denker,
die in dieser Geschichte aus einem Geschick ein Weltschicksal her
vorzaubern können: Immer noch geht es um Völker und vor allem
um jenes einzige Volk unter den Völkern, das bis zuletzt an seinem
Endsieg festhalten wollte.
Dennoch ging es Heidegger nicht bloß um den militärischen Sieg,
weil es einen »ursprünglicheren« gab, der die Geschichte nicht ab
schließen, sondern aufschließen sollte. Das deutsche Volk galt da
her als »das geschichtliche Volk des Abendlandes«,94 als jenes Volk
nämlich, das die Geschichte und das Schicksal des Abendlandes auf
sich übertrug, weil es im Grunde diese Geschichte selber war, als
denkende und erzählende Stimme des Seins.
Mit seiner Rede vom »Siegen« versuchte Heidegger dann sein
Volk zu jenem geschichtlichen Auftrag zu ermahnen, der es allein
hätte »unbesiegbar« machen können, weil er es in die Fuge jenes
einzigartigen »Geschicks« eingewiesen hätte, das aus harmlosen
Dichtern und Denkern ein »Weltschicksal« hätte entspringen las
sen können. Dieses Weltschicksal, zu dem »das deutsche Geschick«
hätte gelangen und sich entfalten sollen, war nichts Anderes als der
»ursprünglichere Anfang« der Seinsgeschichte: ein späterer nach der
historischen Betrachtungsweise, an den zeitlichen Maßstäben dieser
Narration gemessen jedoch anfänglicher als der griechische.
Es ist das Außergewöhnliche an Heideggers Erzählung, dass einer
Verdoppelung des Anfangs die Uranfänglichkeit eines Nachträgli
chen folgt. Nur durch diese paradoxe Ur‑ursprünglichkeit des Kom
menden kann ein zweiter Anfang legitimiert werden, der nicht zur
bloßen Repetition des ersten herabfällt. Demnach verschmelzen die
zwei Anfänge in einen einzigen Ursprung, der sich zu verdoppeln
vermag, ohne sich zu vermehren, da der zweite nur die Einlösung
der verborgenen Möglichkeiten des ersten ist. Dadurch kann das
Ursprünglichere eines Späteren »die nachkommenden Vor‑fahren
jener Geschichte«95 hervorrufen, die erst recht anfängt, wenn sie von
ihrem Ursprung erzählt und ihn so zum Geschehnis macht.
All das wirft aber einen noch finstereren Schatten auf das Ge
genspiel von jenen zwei Völkern des Seins, die sich im kreisenden
96 GA 36/37, S. 89.
97 Angenommen, Germanen habe es irgendwann gegeben – wenngleich
noch zu diskutieren wäre, ob sie als Einheit eines Volkes auftreten – und
angenommen, Heidegger würde in ihnen die Vorfahren seiner Mitbürger
erkennen, dann müsste man sich hier auch einen seinsgeschichtlichen my‑
thischen Stamm von Ur‑Germanen vorstellen, der aber nicht in die Steinzeit,
sondern in einen nie gegebenen Ursprung des Ursprungs – und also in einen
verdoppelten Ursprung – zurückführen würde, was uns gleichsam nicht in
die Vergangenheit, sondern in eine unbestimmbare Zukunft versetzen würde.
1.3 Die Verdoppelung des Anfangs 51
98 Siehe GA 73.1: für »fahan« S. 24, für den »Fuog« insb. S. 77, für das »frŷ«
S. 705, für »ginnan« S. 760.
99 Vgl. Auf dem Weg zum Abendland. Über das Geschick der Deutschen,
GA 73.1, S. 865: »Das Deutsche hat sein Wesen darin, das Abendländische
zu er‑raten und zu beraten«.
100 Siehe u. a. Über den Anfang (1941), GA 70, S. 10: »Der An‑fang ist Er‑eig
nis. Das Anfangen ist das Sichfangen und das Sichauf‑fangen im Ereignis
selbst«.
52 1. Die Geschichte des Seins
stünde diese Möglichkeit nicht, dann verlöre der Anfang und die
Vorbereitung seiner jede Schärfe und Einzigkeit.«101
Diese Sätze, die aus dem Jahre 1937 stammen, zeigen deutlich genug,
wieweit Heidegger sein Spiel von Anfang und Ende bis ins Äußerste
trieb. Denn mit ihrem Eingriff in das Weltgeschehen gerät die Er
zählung des Abendlandes nun in ein gefährliches Spiel, das alles in
die endgültige Katastrophe mitzureißen droht. Und man könnte fast
glauben, dieselbe Geschichte dürfe nicht zweimal anfangen, ohne
zugrunde gerichtet zu werden.
Narratologisch betrachtet wäre es gewiss eine nicht wieder gut zu
machende Verletzung der narrativen Fiktion, eine Geschichte jenem
Ende zu entziehen, dem sie von Natur aus zustrebt, um sie einem
neuen Beginn zuzutreiben. Da aber Heideggers Erzählung keine
Fiktion sein wollte, sondern nichts anderes als »die Wesung der
Wahrheit selbst«, musste sie notwendigerweise auch zu einer Kon
frontation mit der faktischen Welt drängen, in der sich die Wahrheit
dieser Erzählung zu erweisen hatte. Es war dann der meisterhafte
Zug eines großen Fabulierers, diese Geschichte mit einem delphi
schen Finale zu krönen, das gleichermaßen Anfang und Ende bedeu
ten konnte, ohne jemals in Widerspruch mit sich selber zu geraten.
So bedeutete die Verdoppelung des Anfangs die innere Torsion einer
Geschichte, die einerseits in ihr eigenes Ende so unrettbar verliebt
zu sein scheint, dass sie seit zweitausendfünfhundert Jahren nichts
anderes tut, als zu verenden; und die andererseits noch dazu fähig
ist, sich in ihren eigenen Anfang hineinzufressen, um mit einer an
deren Geschichte anzuheben, die zugleich dieselbe und eine völlig
neue sein möchte.
Heideggers Wiederanfangen ist insofern keineswegs die Wieder
aufnahme einer alten Geschichte, sondern in allem die »Sprengung«102
des bisher Erzählten. Denn es war die Philosophie selbst, die als
Geschichte des Seins ständig vom Sein erzählt hat, bloß um dieses
als Seiendes zu missdeuten, in jene Irre der Metaphysik einwan
dernd, die das lange Epos der Seinsvergessenheit ergab. Wenn nun
aber dieses Epos zu einem neuen Anfang gelangen soll, wird es nicht
»Der Sprung
ist der äußerste Entwurf des Wesens des Seyns derart, daß wir
uns (selbst) in das so Eröffnete stellen, inständig werden und erst
durch die Ereignung wir selbst.«14
14 GA 65, S. 230.
15 Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, S. 179.
16 GA 53, S. 60.
60 2. Zeit‑Raum einer Landschaft
geschichtlich ist. Dieses eine Volk, das allein das Wesen der Ge
schichte fassen zu können scheint, sind die Deutschen. Diese aber
sind wiederum nicht als Heideggers reale Landesgenossen gemeint,
sondern als die Geworfenen in das Ereignis einer geschichtlichen
»Besinnung«, die zum ersten Mal eine Geschichte als Denken ent
stehen lassen kann.
Solche Geschichte, die wahrhaftig noch nicht geschehen ist, voll
zieht sich dann als »Wanderschaft« zur »Ortschaft« jener Heimat,
in der ein Volk den Weg zu sich selbst schafft. Diese »Heimat ist die
geschichtliche Ortschaft der Wahrheit des Seyns«17 als Konstitution
des geschichtlichen Ortes, in dem sich die Wahrheit zeitigt. Insofern
ist geradezu die Heimat der Deutschen – als noch nie da gewesene,
zu der die ganze Geschichte des Abendlandes seit jeher unterwegs
ist –, jener Zeit‑Raum eines Ereignisses, den es zu erreichen gilt, da
mit der Mensch endlich dem Sein gehöre.
In einer geschichtlichen Wanderung eröffnet sich ein landschaft
liches Szenario, das durch den Weg umrissen wird, der durch es
hindurchgeht, und das in seinen Merkmalen die gesamte Handlung
der Geschichte eingraviert beherbergt. So entsteht ein Land, das
zwischen Fiktion und Realität dem Denken des Seins feste Gren
zen zieht:
Heidegger kam schon in den 30er Jahren durch eine intensive Aus
einandersetzung mit Hölderlin zu jener literarischen Landschaft,
die der Seinsgeschichte ihren Schauplatz verlieh. Die vorliegende
Passage stammt aus den Überlegungen, dem ersten veröffentlich
ten Werk aus den sogennanten Schwarzen Heften, jener Reihe von
Manuskripten, die in Heideggers Plänen als Abschluss seiner Ge
samtausgabe hatten erscheinen sollen. Man kann die Stelle aufs Ende
1940 datieren. Sie scheint den »verborgenen Anfang« in ganz ge
nauen räumlichen und zeitlichen Koordinaten zu verorten. Der Ort
der »Heimat«, in den sich das Eigene zurückfindet, ist der Chrono
topos einer herbstlichen Landschaft »des oberen Donautals«.
Nun gab aber nicht etwa die Schönheit einiger Verse aus Höl
derlins Hymne Der Ister den Grund dafür, um den »verborgenen
Anfang« so genau zu lokalisieren. Und überhaupt gibt es weder eine
poetische noch eine philosophische Erklärung dafür, dass Heidegger
sich diesen bestimmten Ort auf der Erde ausgesucht hat. Denn es ist
eigentlich ein sehr trivialer Umstand, was zu dieser geographischen
Umgrenzung verleitet hat: jenes »Land zwischen Gutenstein und
Beuron«, jenes »Geburtsland«, ist nichts Anderes als die »Heimat«
des Philosophen Martin Heidegger.
Demzufolge wäre auch die hier gemeinte »Geburt« nicht unbe
dingt philosophisch zu deuten. Und doch muss es sich nicht um
eine bloß biographische Passage handeln, wenn dieser Ort unmit
telbar mit Philosophiegeschichte aufgeladen werden konnte. Über
die »Wasserscheide des Schwarzwaldes« läuft dann nicht nur jene
strenge Abgrenzung der Schwaben von den Alemannen, sondern vor
allem die Trennungslinie zwischen einer Heimat und einer Fremde
des Denkens, der die denkerischen Taten Hölderlins, Hegels und
Schellings unverständlich bleiben müssen.
Das ständige Vermischen von Privatem und Persönlichem ist das
Eigentümliche und oft Empörende an den Schwarzen Heften, gibt
aber der Seinsgeschichte einen unbestreitbar narrativen Charakter.
So verweist Heidegger selbst an der oben erwähnten Stelle auf ei
nen anderen Ort der Manuskripte – »Überlegungen X, S. 22«19 – wo
seine philosophische Biographie und eine biographische Philosophie
des Seins wirklich nicht mehr auseinanderzuhalten sind:
19 Die römische Ziffer bezieht sich auf das Heft und die Seitenzahl auf des
sen Seitennummerierung nach der originalen Vorzeichnung Martin Heideg
gers, vom Herausgeber beibehalten.
62 2. Zeit‑Raum einer Landschaft
bischen Dorfes, als Heimat eines Denkens, »das sein Wohin nicht
kannte«, weil es noch nicht auf der Suche nach seinem Woher war.
Dabei darf der Topos dieser dörflichen Landschaft nicht zu
schnell als geographisch bezeichnet werden, wenn die Heimat, wie
sie Heidegger schon 1934 in seiner ersten Vorlesung über Hölderlin
verstanden hatte, über jede gewöhnliche »Erdbeschreibung«21 hin
ausreicht: »Die heimatliche Erde ist da nicht ein bloßer, durch äu
ßere Grenzen abgesteckter Raum, ein Naturgebiet, eine Örtlichkeit
als möglicher Schauplatz für jenes und dieses, was sich da abspielt«.
Die seit den 30er Jahren durch Hölderlin entfaltete Topogra
phie der Seinsgeschichte verortet das Denken nicht bloß an einem
schon vorliegenden Ort des Planeten, sondern sie schreibt, als eine
im wahrsten Sinne des Wortes Topo‑graphie, ihren Ort erst neu aus.
»Hölderlins Gedicht«, erklärt dementsprechend Heidegger an der
zuletzt erwähnten Stelle aus den Überlegungen X, »enthält meine
Kindheit um den Kirchturm der schwäbischen Heimat«, und nicht
etwa anders herum, als ob ein wirklich bestehendes schwäbisches
Land da wäre, das Hölderlins Verse inspiriert hätte. »Die Heimat,
das Geburtsland«, ist im Grunde genommen selbst Dichtung: Sie
entsteht nur im Augenblick, in dem Hölderlin sie dichtet; sie besteht
nur innerhalb seiner Dichtung.22 Allein in diesem Sinne kann dann
Heidegger auch sagen, die »heimatliche Erde« sei kein »Schauplatz
für jenes und dieses, was sich da abspielt«, weil es eigentlich diese
erdichtete Erde selbst ist, die etwas auf sich spielt.
Das alles versetzt Heideggers Philosophiegeschichte und dadurch
Heidegger selbst als Figur seiner philosophischen Narration von
Anfang an in eine erzählerische Topographie, die Orte schafft, ge
rade indem sie sie beschreibt und dadurch ihren eigenen Spielraum
selber konstruiert. Es muss nun gesehen werden, wie das Denken
des Seins seine topologischen Verhältnisse in die »merkwürdige
Geographie«23 einer denkerischen Erzählung – in »eine Erdbeschrei
bung, die wir kaum erst verstehen, gesetzt, daß es überhaupt eine
Beschreibung ist« – entfalten kann.
2.2 Irrwege
24 Ebd., S. 6.
25 Im vorliegenden und den nächsten Paragraphen werde ich die verschie
denen Anläufe der heideggerschen Auseinandersetzung mit der hölderlin
schen Hymnendichtung unter einem vorwiegend bestimmten Gesichtspunkt
betrachten. Für eine tiefgreifendere Analyse, die auch den inneren Unter
schieden in Heideggers Auslegung der Dichtung Höderlins gerecht wird,
verweise ich auf das Buch von Peter Trawny, Heidegger und Hölderlin oder
Der Europäische Morgen.
26 Vgl. GA 65, S. 311: »[D]as Eigentum, verstanden wie Fürsten‑tum, die
herrschaftliche Mitte der Er‑eignung als Zueignung des Zu‑gehörigen zum
Ereignis, zugleich zu ihm: Selbstwerdung.«
27 F. Hölderlin, Die Wanderung, Vers 8.
28 GA 53, S. 140.
2.2 Irrwege 65
terischen Weg, der durch Völker und Kontinente läuft. Hier breitet
sich die Kulisse für Heideggers philosophische Wanderung in das
Eigene aus. Worte wie Übergang, Brücke, Steg, Pfad und Weg beglei
ten das Eintauchen in eine narrative Welt mit eigenen zeitlichen und
räumlichen Gesetzen, die aus einer erdachten Geographie eine neue
Archäologie anfertigt, um schließlich den erstrebten Ursprung aus
dem eigenen Ende auszugraben. So bahnt sich das Denken des Seins
durch eine seltsame Wanderung von Griechenland nach Deutsch
land einen Weg vom ersten zum anderen Anfang, wobei am Ende
nicht mehr klar sein wird, welcher der Herkunfts- und welcher der
Ankunftsort sei. Im Sog einer kreisförmigen Bahn werden die zwei
Anfänge an einem geographischen Ort zusammentreffen, an dem
sich zur selben Zeit Unter- und Aufgang des Denkens abspielen.
Die Möglichkeit des Übergangs in einen anderen Anfang wird
dann nur von einem »schöpferischen Untergang«29 gewährleistet,
der den »innersten und äußersten Auftrag der Deutschen«30 bezeich
net. Mit ihm würde jenem langen Umherirren in der Seinsverges
senheit ein Ende gesetzt werden und zugleich eine Art von »Kata
strophe« heraufbeschworen, die das gesamte menschliche Handeln
in seinem Geschehen umfasst:
Die Geschichte des Seins ist von der Not einer »Heimat- und
Herdlosigkeit«32 geprägt, die den Menschen in seinem Wesen in
nerlich zerreißt. In diesem Sinne ist auch das Da‑sein »ein ständiges
Anfang an verloren haben will. Nur weil sich das Denken schon im
mer verfahren hat, kann dann eine Philosophie als Geschichte ent
stehen und sich in einer Wanderung entfalten, die an den Ort eines
noch nie geschehenen Anfangs zurückstrebt. Der Weg ist dadurch
gleichsam in seinem Verschwinden gegeben – verloren, vermisst und
versäumt schon im ersten Schritt eines Denkens, das in aller Kon
sequenz nur ein »Irrgang«39 sein kann.
»Der Mensch irrt. Der Mensch geht nicht erst in die Irre. Er geht
nur immer in der Irre, weil er ek‑sistierend in‑sistiert und so
schon in der Irre steht. Die Irre, durch die der Mensch geht, ist
nichts, was nur gleichsam neben dem Menschen herzieht wie eine
Grube, in die er zuweilen fällt, sondern die Irre gehört zur in
neren Verfassung des Da‑seins, in das der geschichtliche Mensch
eingelassen ist. Die Irre ist der Spielraum jener Wende, in der
die in‑sistente Ek‑sistenz wendig sich stets neu vergißt und
vermißt.«40
42 Ebd.
43 Vgl. Die Heimatlosigkeit, GA 73.1, S. 763.
44 GA 53, S. 147.
45 Überlegungen IX, GA 95, S. 227.
46 Überlegungen XI, GA 95, S. 420.
47 Siehe dazu Vom Wesen der Wahrheit (3. Version 1930), GA 80.1, S. 396:
»[D]ie Verborgenheit des Seienden im Ganzen, die eigentliche Un‑wahrheit,
ist älter als jede Offenbarkeit von diesem und jenem; sie ist so alt wie das
Seinlassen selbst, das entbergend auch schon verborgen hält.«
2.2 Irrwege 69
nisses bleibt. Denn allein in der Irre eröffnet sich der Durchgang
zum Ort des Eigenen und der Heimat und bahnt sich jener seins
geschichtliche Weg zum Ursprung und zum Anfang, durch den der
Mensch aus der metaphysischen »Verwüstung« in die »Ortschaft
des Seins« kommen soll. Der narrative Raum dieser seltsamen Ge
schichte kann dann nur auf Irr‑wegen erschlossen werden, die den
gesamten Horizont der seinsgeschichtlichen Handlung umreißen:
gendwohin führt und allein für sich steht, als Bewegung eines Sagens, das
auf sich selbst beruht.
52 Über eine Verortung von Heideggers Denken jenseits der »Welt des Ar
guments« siehe Peter Trawny, Irrnisfuge.
53 Siehe Das Da‑sein, GA 73.1, S. 281: »Das Da – nicht als eine ›Leere‹ – die
nur ausgetragen und aufgefüllt werden müßte – sondern eben jenes gewor‑
fene Un‑heimliche – (Irre).«
54 Das abendländische Gespräch (1946–1948), GA 75, S. 173.
55 GA 39, S. 43.
56 GA 39, S. 259.
2.2 Irrwege 71
57 GA 53, S. 173.
58 Siehe ebd., S. 191.
59 Vgl. ebd., S. 203 f.
60 Ebd., S. 53.
72 2. Zeit‑Raum einer Landschaft
61 Ebd. S. 146.
62 Ebd., S. 131.
63 Freiburger Wintervorlesung 1941/42 Hölderlins Hymne »Andenken«,
GA 52, S. 184.
64 Ebd., S. 185.
2.2 Irrwege 73
67 GA 39, S. 191.
68 Ebd. 196.
69 Vgl. S. Ju. Nekljudov, Zur Frage des Zusammenhangs von raum‑zeit
lichen Beziehungen und der Subjektstruktur in der russischen Byline, zitiert
in: J. Lotman, Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und
Kultur, S. 202–203: »Durch die Beziehung zum Helden sind diese ›Orte‹
funktionale Felder, auf die zu treffen gleichbedeutend ist mit einer Hinbe
ziehung in die Konfliktsituation, die dem gegebenen locus eigen ist.«
2.2 Irrwege 75
eine plötzliche Abkehr von dem, was vom Ursprung her im drän
genden Willen steht: dem Osten zu. Asien, Kleinasien, Jonien,
Griechenland, die ganze alte Welt war es, aus der die unruhige,
groß und überlegen und auf das ganze Sein denkende Seele, d. h.
die königliche Seele, die Erfüllung erhoffte. Dieses war ein An
deres als das, was ihm durch die Umwendung der Richtung ange
wiesen wird. Was da vom Ursprung her im ursprünglichen Wil
len steht, ist nicht der Osten als Osten, sondern als das Seyn, das
allein der Strom in seinem Ursprung der eigenen Königlichkeit
für gemäß halten mußte, als jenes, das allein ihm die Erfüllung
seines Wesens gewähren könnte.«70
70 GA 39, S. 204 f.
71 Ebd., S. 196.
76 2. Zeit‑Raum einer Landschaft
72 Ebd., S. 234 f.
73 Siehe Aristoteles, Poetik, 1452 a–b.
74 GA 39, S. 260.
2.2 Irrwege 77
ckung der Bahn«75 jenen Weg in einen neuen Anfang eröffnen, der
den Ursprung weder vergisst noch verschüttet, sondern ihn zum
ersten Mal erreicht:
»Das Seyn als Schicksal hat den Ursprung nicht im Rücken als ein
einmal Verhängtes, Zugewiesenes, als bloß unabänderliches ›Los‹,
als Bestimmung, die einfach ab- und über das Folgende wegrollt,
sondern das Überstehen des Bruchs und das Zurückwollen aus
diesem in den Ursprung kennzeichnen das Seyn als Schicksal.«76
75 Ebd., S. 233.
76 Ebd., S. 235.
77 Überlegungen V, GA 94, S. 336.
78 Überlegungen IX, GA 95, S. 203 f.
79 GA 39, S. 233.
78 2. Zeit‑Raum einer Landschaft
80 Ebd.
81 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 157.
2.3 Die Heimkunft 79
82 Ebd., S. 132.
83 GA 53, S. 156.
84 Vgl. GA 53, S. 36, 42, 177 f.
85 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 157.
86 Vgl. Das Ereignis (1941–1942), GA 71, S. 95 ff.
80 2. Zeit‑Raum einer Landschaft
Ereignisses sich vereinigen. Es ist das Hier und Jetzt des narrativen
Aktes selbst, die Seinsgeschichte als Performatives:
D. Ä. »Und wenn im selben Da, wo der Ort ist, auch das Da ist,
da es die Zeit ist zum Bauen, wenn im Jetzt das Hier sich
lichtet und im Hier das Jetzt erblüht, dann sind Ort und
Zeit ein ursprünglicher Einiges, darein zu gelangen das
Geschick den Geist auf seiner Wanderung vom Orient in
den Okzident führt.
D. J. Auf der anderen Seite ist, ja diese selbst ist das geschick
liche Da, der Zeit‑Ort des sich vollendenden Geschicks.
D. Ä. Das kann nur das Abendland sein. In diesem Namen den
ken wir schon in eins das Land als den Ort und den Abend
als die Zeit des Geschicks.
D. J. Das Abendland ist der eigentliche Zeitort des Geschicks.
D. Ä. Das Weltland und das Weltalter zumal, da im Geschick
lichen des weilenden Geschicks erst die Wesensweite der
Geschichte als der einzigen Weltgeschichte beginnt.«87
Nur indem wir diese Geschichte erzählen, indem wir uns diese
Geschichte erzählen lassen und uns auf sie einlassen, um dadurch
uns von dieser Geschichte selbst erzählen zu lassen, sind wir un
terwegs zum narrativen »Zeitort des Geschicks«, an dem eine Ge
schichte sich zu »der einzigen Weltgeschichte« verwandelt. Es ist
weder in einem »Orient« als dem Land der Griechen, noch in einem
»Okzident« als dem Land der Deutschen, dass sich das Abendland
verorten lässt.88 Es ist die gesamte »Wanderung vom Orient in den
Okzident« gerade in ihrem Erzähltwerden, die als Performativität89
dieses narrativen Denkens den Zeitort der Geschichte ausmacht.
In dieser und durch diese Wanderung, als den geschichtlichen
Weg vom ersten zum »anfänglicheren Anfang«,90 eröffnet sich der
Zeit‑Raum einer anderen Geschichte, die noch ganz zu bauen ist. In
sofern ist selbst die Ankunft auf der anderen Seite des Alpengebirges
nicht das Ende der Geschichte, sondern gerade ihr ursprünglicherer
Beginn. Deshalb kann dem Abendland auch kein früheres Morgen
land entgegengesetzt werden, das noch nicht da gewesen, doch im
mer vorangegangen ist und weit in der Zukunft liegt.
Die Momente dieser Narration dehnen sich aus und ziehen sich
wieder zusammen und meinen eigentlich nur den einen und selben
Zeitort. So gesehen sind Griechenland und Deutschland nicht zwei
verschiedene Orte des Geschehens, sondern eher zwei Brennpunkte
einer Ellipse, um die sich diese Geschichte dreht. Abend‑land ist
als einziger Zeit‑Ort eines einzigen Geschicks die »excentrische
88 Das ließe sich auf einen ersten Blick gerade durch den Text des Abend‑
ländischen Gesprächs einfach widerlegen. In der Darlegung der dort vor
gezeichneten Wanderung ist explizit eine Bewegung vom Morgenland ins
Abendland beschrieben. Man müsste aber zwischen einem topographischen
und einem topologischen Abendland unterscheiden, die dasselbe meinen
und sich doch auf zwei unterschiedlichen Ebenen von Heideggers Narration
verorten lassen. Es wird sich bald erweisen, wie, abgesehen von der topo
graphischen Bewegung, hier Abend- und Morgen‑Land eigentlich dasselbe
Land meinen, nur in unterschiedlichen Momenten.
89 Vgl. John L. Austin, How to Do Things with Words, S. 6 f.: »The name
is derived, of course, from ›perform‹, the usual verb with the noun ›action‹:
it indicates that the issuing of the utterance is the performing of an action –
it is not normally thought of a just saying something.« Der hier gemeinte
Begriff des Performativen überschreitet aber bei weitem den eines gewöhn
lichen Sprechakts und kommt dem einer künstlerischen Performance viel
näher.
90 GA 71, S. 98.
82 2. Zeit‑Raum einer Landschaft
Bahn«91 des einen und selben Ereignisses. Es handelt sich also gar
nicht um »zwei Geschicke, ein morgenländisches und ein abendlän
disches, sondern das Geschick ist Schickung aus dem Orient in den
Okzident«92, bestätigt uns der Ältere.
Erst mit der Ankunft auf der anderen Seite ist dann dieses zwei
achsige Geschick vollkommen vereinigt, und die Geschichte kann
endlich anfangen. In seiner elliptischen Bahn ist das Abend‑land
als Land eines kreisförmigen Weges erobert, auf dem auch die Zeit
verdreht wurde: So fing die Seinsgeschichte schon bei den Griechen
mit diesem Abendland an, dessen Morgenland gerade jenem griechi
schen Anfang entspricht, der – nie stattgefunden – gleich unter dem
von ihm Angefangenen verschüttet blieb. Einerseits ist also Abend‑
land der seinsgeschichtliche Name für die gesamte Narration, an
dererseits der Ankunftsort einer Bewegung noch in der »Vorzeit«93
derselben Geschichte, die ihren wahren Beginn und somit ihr Mor
gen‑land weiterhin vor sich her schiebt. Der Abend, der sich auf das
Land legt, muss dann »der von einem kommenden (nicht dem ge
wesenen) Morgen und Tag her bestimmende Abend« sein, d. h. ein
Abend, dem immer noch kein Morgen vorherging.
Im Kreisen dieses irrigen Wanderwegs gelangt nun Heidegger
an den letzten Ort seiner Erzählung, wo das Denken sein Zuhause
findet und endlich eine Heimat stiften kann. Es ist noch einmal ein
Fluss, der uns an den Ort führt, ein Strom aus Hölderlins Dich
tung, der plötzlich sein eigenes Strömen anhält und zurück zu seiner
Quelle, zu seinem Ursprung kehrt.
Nicht weit von der Donauquelle und ganz nah an seinem heimat
lichen Dorf glaubt Heidegger die »stille Uferstelle« erkennen zu
können, an dem sich jenes geheimnisvolle Phänomen ereignet, das
Hölderlin in seiner Hymne Der Ister besingt: »Der scheinet aber
fast / Rückwärts zu gehen und / Ich mein, er müsse kommen / Vom
Osten.«95 So stürzt uns Das abendländische Gespräch plötzlich ins
tiefe Herz der Hörderlin’schen Landschaft und lässt uns ins Innere
des Gedichts gelangen.
An diesem magischen Ort scheint der Fluss – und mit ihm der
ganze Verlauf der Geschichte – inne zu halten und die heimliche
Stelle der »Inständigkeit« zu erreichen, bei der das Denken end
lich zu seinem Eigenen findet. Dort soll man beobachten können,
setzt Heidegger nach einigen Seiten fort, »wie die Wasser dieses
Stromes an unvermuteten Stellen immer wieder zurückfließen der
Quelle zu«.96 Die lange irrige Wanderung der Geschichte nimmt
hier ein Ende. Am Ufer der Donau, die mit Hölderlin nach ihrem
lateinisch‑griechischen Namen »Ister« (Ἲσθρος) genannt wird, tref
fen sich die zwei Anfänge dieser Narration und gipfeln in einem
einzigartigen Beginn, »anfänglicher denn aller Anfang«.97 Hier darf
eine andere Geschichte endlich und endgültig beginnen. Der Fluss,
der in einem umgekehrten zeit‑räumlichen Ablauf von Deutsch
land in Richtung Griechenland strömt, ist mit seiner Rückwendung
die Einkehr in die Heimat der Geschichte. In der zurückfließenden
Strömung der Donau begegnen sich Griechen und Deutsche und er
langen den gemeinsamen Ursprung eines Denkens, der als Denken
des Seins gleichwohl für alle und jeden gelten soll.
Es ist ein Ort der Überschneidungen, in dem sich Anfang und
Ende, Aus- und Heimfahrt, Eigenes und Fremdes, Irre und Wahr
heit, Unter- und Aufgang und nicht zuletzt Zeit und Raum, Fiktion
und Realität, Dichten und Denken kreuzen und zusammenkommen.
An diesem Ort treffen zuletzt alle Hauptfiguren ein, die Heidegger
Hölderlins Dichtung entnimmt: der Adler, der den Weg von der ei
nen zur anderen Seite über die Alpen weist, die Fernangekommenen,
die sich vom Indus her auf Wanderschaft begeben hatten, Herakles,
der vom Ister als Gast aus Olympia geladen wird, das hervorgeru
fene »Feuer vom Himmel« sowie der Ältere und der Jüngere des
98 Hier nicht als die griechische Γαῖα , sondern als die germanische Hertha
gemeint, die »vor allem bei einem Bund swebischer Stämme« – unter denen
sich offensichtlich auch der Schwabe Martin Heidegger positioniert – ver
ehrt wurde. Heidegger selber, der sich sonst immer abfällig gegen die Römer
und deren Umsetzungen des Griechischen ins Lateinische äußert, zitiert eine
lange (und in seiner Übersetzung teilweise verfälschte) Passage aus Tacitus
Germania, um diese These zu stützen. Vgl. GA 53, S. 195 f.
99 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 178.
100 GA 53, S. 46.
101 Zu Hölderlins Dichtung des deutschen Geschickes (1943), GA 75, S. 47.
102 Das abendländische Gespräch, GA 75, S. 169.
103 Vgl. ebd., S. 146: »Das Abendland wäre dann jenes Land jenes Abends,
der untergeht in jene Nacht, die aufgeht zu jenem Morgen, dem jener Tag
entspringt, der rein versöhnt ist mit der Nacht«.
2.3 Die Heimkunft 85
weil wir, ich weiß nicht wie, in das Tal dieses Stromes gelangt
sind?«104
anlaßt, daß der Gesang des Stromes uns zuklingt und daß wir an
seinem Ufer da sind.«107 Es ist im Übrigen völlig belanglos, ob dieser
Ort – den wir nur lesen können – irgendwo auf unserem Planeten
tatsächlich existiert. Denn wir gelangen nie an diesen Ort, wenn wir
ihn einfach auf einer Landkarte suchen oder uns zu ihm von einem
Navigationsgerät hinführen lassen. Und wir betreten ihn auch nicht,
wenn wir im Herbst an einer Felsenbucht der oberen Donau ankom
men; ganz abgesehen davon, dass die Wasser des Flusses bestimmt
nicht zu seiner Quelle zurückfließen. Wir brauchen in der Tat nicht
nach diesem Ort zu suchen, denn dieser Ort ist sowieso schon da,
er ist im Grunde genommen das Da.
Es ist nämlich die eine und dieselbe Geschichte, in der das Ge
dicht und die Donau geschehen, denn beide ereignen sich nur in
dieser Narration, sind in ihr »das Selbe«. In diesem Selben ver
schwindet jeder Unterschied zwischen der erzählten und gesche
henden Geschichte, denn Geschichte ist nun das Erzählen selbst
in seinem Geschehen. Indem man sich auf diese Narration einlässt,
überschreitet man eine Schwelle, nach der man nicht mehr von der
Rezeption eines Gedichtes reden kann. Das Gedicht ist dann ein
»Sich‑ins‑Werk‑setzen der Wahrheit«,108 das den Leser selbst in das
Geschehnis der Wahrheit versetzt. Allein dadurch gelangt er an je
nen Zeit‑Ort des Gedichtes, in dem sich Wahrheit ereignet. Und
wenn Heidegger das Ufer der Donau aufsucht, dann ist er eigentlich
schon in das Geschehen der Dichtung hineingeschlüpft und wird
selber zum Bestandteil des Gedichteten. Es wäre dann auch völlig
sinnlos, sich noch zu fragen, ob der Anblick der Donau das Ge
dicht hervorruft oder das Gedicht selbst ein Wandern am Ufer her
beiführt. Denn hier sind Donau, Leser und Erzähler alle Segmente
der Narration.
Es ist also die innere Auffassung einer Geschichte der Wahrheit,
die zuletzt die Wahrheit selbst als Narration erfasst. Wahrheit hat
demzufolge wenig mit Realität oder mit Fiktion zu tun, und indem
sie selbst ein »Sich‑ins‑Werk‑setzen« ist, ist sie Versetzung in eine
Erzählung, die als das einzig wahre Ereignis gilt. Es ist demzufolge
auch kein Zufall, wenn für Heidegger die Wahrheit eine zeit‑räum
liche Dimension annimmt und selbst zum Chronotopos des Seins
wird. Als »Lichtung« ist sie somit die Eröffnung einer »Gegend«,109
der keine Geographie, keine »Erdbeschreibung« entsprechen kann,
weil sie, als performativer Akt des Seins, selbst das Ereignis dieses
Da‑seins ist:
Selbst Hölderlin ist als Dichter nicht Autor dieser Narration und
nicht Schöpfer ihrer Orte, sondern übernimmt im »Da‑sein des
Dichters« die Rolle eines Performers, der das Da nicht einfach be
singt, sondern sein lässt: das »Gesagte« ist weder »Inhalt« einer
sprachlichen Äußerung noch das »Sinnbild« einer dichterischen
Ausmalung, sondern die Gründung des Da als Innestehen in ihm.
Das Wort des Dichters ist Geschehen der Seinsgeschichte als Stif
tung jenes Zeit‑Ortes einer Lichtung, die er – sie »durchirrend« –
selber zu sein hat.
Indem der Mensch Hölderlin das »Sich‑ins‑Werk‑setzen« der
Wahrheit in seinen Gedichten vollbringt, bahnt er im Wort die Ge
gend jener »Wege, die nicht wirr‑beliebig, irrend sich verlaufen, son
dern überhaupt einen Gangbereich eröffnen und fügen«, schreibt
Heidegger in den Schwarzen Heften und setzt hinzu: »[E]in solcher
Bereich ist die Wahrheit des Seyns«.111 Wenn wir uns also auf diesen
performativen Akt einer wandernden Erzählung, die uns selbst er
zählen will, einlassen und sie gleichsam bis an ihr Ende durchwan
dern, dann sind wir nicht mehr nur die gewöhnlichen Leser einer
ungewöhnlichen Narration, sondern direkt auch die handelnden
109 Vgl. Die Ἀλήθεια und die Wahr‑heit, GA 73.1, S. 22: »11. Die Wahr‑heit
und der Zeit‑Raum / die Gegend. / 12. Die Wahrheit – / die Heit | Lichtung
| der Wahr.«
110 »Andenken« und »Mnemosyne« (1939), GA 75, S. 6.
111 Überlegungen XIII, GA 96, S. 100.
88 2. Zeit‑Raum einer Landschaft
112 So geht mit einer gelungenen künstlerischen Performance auch die »Bil
dung einer Gemeinschaft von Akteuren und Zuschauern« einher, in der sich
»die Bereiche Kunst, soziale Lebenswelt und Politik kaum säuberlich von
einander trennen lassen« (Erika Fischer‑Laske, Ästhetik des Performativen,
S. 82 ff.).
113 GA 39, S. 220.
114 Überlegungen XIII, GA 96, S. 114.
115 Das Gedächtnis im Ereignis, GA 73.1, S. 750.
116 Siehe oben, § 2.1.
2.3 Die Heimkunft 89
Der hier gemeinte »Standort« wäre dann die Gegend der Wahrheit,
die weder in der historisch‑geographischen Welt, noch auf einem
fiktiven Schauplatz zu finden ist, und nur »sagend‑anzeigend« im
Gewebe dieser performativen Narration erreicht werden kann. Dem
Denker stehe nun zu, das Mauerwerk einer Geschichte zu errich
ten, in der allein dem Dichter ein Platz zugewiesen wird. Heideg
ger soll »die unbegangenen Pfade« eines unbegehbaren, weil nur zu
dichtenden Landes so lange durchwandert und durchirrt haben, bis
er den »verborgenen Standort« für die Gründung der Heimat ge
funden und untermauert hat. Mit ihr wird er selbst als Hauptfigur
seiner denkenden Geschichte dichterisch und leiblich nachträglich
geboren.
Gerade in den Versen der Ister-Hymne entdeckte er jenen herbst
lichen Abend am Donauufer, der den »Zeit‑Ort« des Abend‑landes
in eins mit dem seines eigenen Geburt‑landes118 bildet: Der Mensch
Martin Heidegger – geboren am 26. September 1889, einem Tage »im
beginnenden Herbst«, in Meßkirch, knapp 14 Km von der Donau
»Je länger ich hier in der Wahlheimat meine Arbeit schlecht und
recht tue, umso deutlicher wird mir, daß ich zu der hier am Ober
rhein sich krampfhaft und unfruchtbar gebärenden Alemannerei
nicht gehöre und gehören kann. Meine Heimat, das Dorf und
der Hof meiner Mutter, ist ganz durchweht von den Lüften und
durchströmt von den Quellen Hölderlins, hat durchaus die Härte
und Prägsamkeit und Abgründigkeit des Hegelschen Begriffes
und ist durchwaltet von jenem weit sich vorwagenden ›speku
lativen‹ Drang Schellings – hat nichts von der verlogenen Kraft
meierei, die hier zu Lande sich umtut und ihren Lärm besorgt.«121
119 In dieser Hinsicht wird dann auch verständlich, warum überhaupt zwi
schen den zwei deutschen Strömen, dem Rhein und der Donau‑Ister, die
in der seinsgeschichtlichen Topographie den Ort der Heimat verzeichnen,
Heidegger ausgerechnet den zweiten als »den eigentlich heimatlichen Strom
des Dichters« (GA 53, S. 201) nennt, obwohl Hölderlins Heimatort eher am
Neckar – und dem Rhein bestimmt näher – lag.
120 Überlegungen V, GA 94, S. 320.
121 Ebd., S. 350.
2.3 Die Heimkunft 91
»Soll zuerst die Geschichte des Seins vom ersten Anfang her un
mittelbar erzählt werden, dann bleibt dunkel, von wo aus die Ge
schichte schon überhaupt als Geschichte des Seins und nicht als
Gegenstand für die Philosophiehistorie erfahren wird.«4
4 GA 71, S. 253.
5 Besinnung (1938/39), GA 66, S. 53.
96 3. Im Zeitgewinde
»Nur dies wissen wir, daß Hölderlin, wenn er von der Geschichte
spricht, die Geschichte des Abendlandes denkt und sie in langen
Zeiten denkt, deren Länge sich nicht nach Zahlen bemessen läßt.
14 GA 66, S. 276.
3.1 Gezerrte Zeit 99
18 Ebd., S. 112.
19 Ebd., S. 153.
20 Überlegungen XI, GA 95, S. 370.
21 Überlegungen XII, GA 96, S. 31.
22 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 157.
23 Ebd., S. 174.
24 GA 36/37, S. 185.
25 Vgl. GA 16, S. 106 ff.
26 Überlegungen V, GA 94, S. 320 (1937).
3.1 Gezerrte Zeit 101
1806 Hölderlin geht weg und eine deutsche Sammlung hebt an.
1813 Der deutsche Anlauf erreicht seine Höhe und Richard Wag
ner wird geboren.
1843 Hölderlin geht aus der ›Welt‹ und ein Jahr darauf kommt
Nietzsche auf sie.
(26. 9. 1889)«30
30 GA 94, S. 523.
31 GA 97, S. 131.
3.1 Gezerrte Zeit 103
Schon der Umstand dieser Narration, die von einem ersten griechi
schen Anfang erzählen kann, legt für Heidegger unbestreitbar Zeug
nis davon ab, dass man bereits Fuß in einer ganz anderen Geschichte
gefasst hat. Als ob allein ein Erzählen das Denken des Seins in seinen
des Seyns geschieht in ihrem eigenen Bereich und hat ihre eigene ›Chrono
logie‹.«
35 Vgl. G. Genette, Discours du récit, S. 224: »La principale détermination
temporelle de l’instance narrative est évidemment sa position relative par
rapport à l’histoire. Il semble aller de soi que la narration ne peut être que
postérieure à ce qu’elle raconte, mais cette évidence est démentie depuis bien
des siécles par l’existence du récit «predictif» sous ses diverses formes (pro
phétique, apocalyptique, oraculaire, astrologique, chiromantique, cartoman
tique, oniromantique, etc.)«.
36 Freiburger Wintervorlesung 1937/38, Grundfragen der Philosophie. Aus‑
gewählte »Probleme« der »Logik«, GA 45, S. 188.
3.1 Gezerrte Zeit 105
könnte, ist notwendig schon das Eindringen »in ein Reich, das bisher
nicht ›bestand‹ und nur vom Seyn selbst – sofern es in seine Lichtung
kommt – zu einer Geschichte ereignet werden kann«.41
Dementsprechend ist Heideggers Seinsgeschichte nicht bloß die
Erzählung der letzten zweieinhalb Jahrhunderte abendländischer
Philosophie, sondern vor allem und mit immer wachsender Inten
sität in der frühzeitigen Anfertigung seines Nachlasses, die Ausma
lung eines »Reichs« des Seins, im dem das Denken »zu einer Ge
schichte« wird. Heideggers philosophische Bemühungen nach der
sogennanten »Kehre« galten demnach fast ausschließlich dem Ver
fassen einer weit vorgreifenden Geschichte des Denkens, die in der
Erzählung einer ins Undenkbare entrückten Zukunft die Anknüp
fung an ihren verpassten Ursprung zurückfindet und nur dadurch
den Eingang in eine belegbare Geschichte der Philosophie und der
Menschheit einschlägt.
Das Narrative dieser Geschichte besteht in der fiktiven Zeitlich
keit eines Geschehens, das neben der historischen Zeit einer realen
Gegenwart herläuft, ohne von dieser je widerrufen oder auch nur
beeinflusst werden zu können. Ob dann der Bann der Metaphysik
eines Tages endlich gebrochen sei oder ob der Mensch sich in die
Zeitschleife einer endlosen Verendung für immer um sich selbst dre
hen werde, bleibt dem Geheimnis einer Entscheidung vorbehalten,
die in der Narration erzählt werden kann, ohne auch tatsächlich
noch gefällt zu werden.
Der gesamte Ablauf der Seinsgeschichte stand somit für Heideg
ger paradoxerweise schon ein für allemal fest, obwohl er zu kei
nem Zeitpunkt seines Lebens je hatte behaupten können, ob sich
irgendwann die Türen zum fabelhaften Reich des postmetaphysi
schen Denkens auch wirklich öffnen werden. Eine Abfolge von den
Ereignissen, die die Etappen dieser über‑historischen Wanderung
durch die Zeit der Erzählung markieren, wird in den Beiträgen zur
Philosophie folgendermaßen verzeichnet:
41 GA 66, S. 386.
108 3. Im Zeitgewinde
42 GA 65, S. 227 f.
43 Überlegungen IV, GA 94, S. 239.
44 Siehe u. a. Überlegungen VI, GA 94, S. 410.
3.2 Vollendung im Kreislauf 109
45 GA 45, S. 90.
46 Ähnlich der Theogonie von Hesiod, in der die Welt der Götter aus dem
Chaos entstand, beschreibt Heidegger das Ereignis des Denkens: »Die Bre
chung des χάος muss notwendig als Wahrheitsgeschehnis die Bergung des
Seienden sein« (Das Da-sein, GA 73.1, S. 318).
47 Überlegungen IV, GA 94, 214.
48 GA 65, 463.
49 Überlegungen IV, GA 94, S. 214.
110 3. Im Zeitgewinde
50 Siehe ebd., S. 209: »Die Welt als eine Welt zum Welten bringen, ist: es
noch einmal mit den Göttern wagen.«
51 Freiburger Wintervorlesung 1941/42, Hölderlins Hymne ›Andenken‹,
GA 52, S. 69.
52 Ebd., S. 68.
53 Ebd., S. 70.
54 Das Gedächtnis im Ereignis, GA 73.1, 743.
55 Ebd., S. 745.
56 Siehe auch Zur Erläuterung weisender Wörter, GA 73.2, S. 904: »Ginnen
– scheiden, spalten – | Brot | Apfel || Frucht | gannen | ich habe geschnitten [?]
ich begann – | ich habe geschnitten | einfaches Zu‑bereiten | Scheiden, Schied
be‑schneiden – anschneiden – an‑heben – sich daran halten – an‑fangen mit.«
Offensichtlich entlehnt Heidegger dem Deutschen Wörterbuch von J. und W.
Grimm diese fragliche Etymologie des Verbs beginnen, die dort bloß durch
den Vergleich mit romanischen Sprachen begründet wird: »ginnan schlosz ur‑
3.2 Vollendung im Kreislauf 111
sprünglich den sinn von schneiden, spalten, gann den von ich habe geschnit‑
ten, gespalten in sich; wer sich brot, fleisch geschnitten, den apfel geschält
hat, der hebt an zu essen. Anfangen und anheben haben ein sinnliches fassen
und heben an etwas zur unterlage, beginnen und entginnen ein beschneiden
und anschneiden. so hiesz das span. empezar, empiezo anfangen eigentlich
zerstücken, vgl. pieza stück, pezuelo stück; nicht anders das franz. entamer
= commencer, eigentlich faire une petite incision, entamer un pain, entamer
la chair anschneiden«.
57 Siehe Die Ἀλήθεια und die Wahr-heit, GA 73.1, S. 22: »Der Be-ginn – der
Schied – das ›Nicht‹ – das nie verneint – auch nicht bloß bejaht – sondern
Gegnet – die Vergegnung.«
58 Sieh auch Das Gedächtnis im Ereignis, GA 73.1, S. 746: »Im Beginn feiert
das Gedächtnis das Fest der Einzigkeit des Ereignisses. In der Feier lichtet
sich der Dank zur Empfängnis des feurigen Dunkels, dessen verborgene
Helle das Geheimnis birgt. Dies verwahrt das Rätsel, daß die Vereignung
des Seyns und des Menschen dem Schied der Wahr-heit und des Menschen
wesens entspringt.«
59 Siehe oben die Episoden der Seinsgeschichte.
60 Vgl. Die Dichtung, GA 73.1, S. 688: »An-fang und Beginn – Der Anfang
ist beginnlich.«
112 3. Im Zeitgewinde
»älter als der Erste«61 ist. In diesem feierlichen Finale erreicht die
Seinsgeschichte den extradiegetischen Zeitpunkt ihres Ursprungs
und findet in der aufgehobenen Zeitlichkeit der Narration den un
fassbarsten aller Augenblicke, in dem das Erzählen zerbricht, um
als Erzähltes zu beginnen. Es ist, könnte man noch mit Gérard Ge
nette sagen, der Moment, in dem »l’histoire vienne ainsi rejoindre la
narration«62 – der einschneidende Zeitpunkt, an dem das Geschehen
zu einem Ende gelangt, um als Erzählung wieder von neuem anfan
gen zu können:
»Was aber ist die Verwindung? Sie ist einmal die Einwindung
in das Gewinde (den Kranz) des Ereignisses, so daß das Seyn
und seine Kehre rein im Ereignis west. Damit ist die Verwin
dung dann das Kreisenlassen im Ereignis, worin eine Beständi
gung waltet, die selbst aus dem Ereignis bestimmt bleibt.«66
Mit dem Bruch der Linearität windet sich die Zeit in ein Gewinde
ein, das wie ein Karussell die gesamte Seinsgeschichte um die Achse
ihrer Anfänge wirbeln lässt. Für das »Kreisenlassen« dieses Ereig
nisses sucht sich Heidegger ein »Gewind des Kranzes nicht der
Schraube«67 aus, das auch tatsächlich jede fortschreitende Bewe
gung, einschließlich der spiralenförmigen, aufgibt. Dadurch wird
der zweite Anfang zu einer Ritualisierung des ersten in der kehri
gen Wieder‑holung eines Mythos, wo die Zeit außer sich zu geraten
und sogleich aufzuhören scheint. Wie Mircea Eliade in Bezug auf
die Riten zum Jahreswechsel in myhtischen Kulturen belegt, »il ne
s’agit pas seulement d’une fête qui vient insérer dans la durée profane
mythische Zeit würde dann eintreten, die im rituellen Fest der »Rück‑kehr«
die »Inständigkeit« in einer Wahrheit erreichte, in der auch das Dasein seine
»Ek‑sistenz« für eine Kon‑sistenz in der »Systasis« aufgeben müsste. Vgl.
dazu Vorgehen – »Entwurf«, GA 73.1, S. 518: »Hier in der σύστασις so
gleich die Kehre des Daseins notwendig mit dem ersten Sprung des Ganzen!«
65 Die Ἀλήθεια und die Wahr-heit, GA 73.1, S. 65.
66 GA 71, S. 141.
67 GA 71, S. 135.
114 3. Im Zeitgewinde
68 Mircea Eliade, Traité d’histoire des religions (1949), S. 343. Die Zeitlich
keit des Ritus darf aber hier nicht als die einer Iteration gefasst werden, die
Heidegger ohnehin zurückweisen würde: »Die ›Wiederholung‹ (Iteration)
des Gleichen ist grundverschieden von der Rückgewinnung des Verhältnisses
zu dem Selben der Wieder-Holung« (Die Geschichte des Seyns, GA 69, S. 22).
Der Ritus gründet jedesmal die Zeit in einem Anfang neu, der außerhalb der
profanen Zeit überzeitlich und ein für allemal geschieht. In dieser Hinsicht
interpretiere ich die »Wieder-Holung« als die einmalige und einzigartige
Versetzung des Geschehnisses des »ersten Anfangs« in die überhistorische
Zeitlichkeit der Seinsgeschichte.
69 Siehe GA 65, S. 371: »Das Ewige ist nicht das Fort-währende, sondern
jenes, was im Augenblick sich entziehen kann, um einstmals wiederzukeh
ren. Was wiederkehren kann, nicht als das Gleiche, sondern als das aufs neue
Verwandelnde, Eine-Einzige, das Seyn«. Es ist kontrovers, bei Heidegger von
Ewigkeit zu reden, wenn er sich ständig gegen eine endlose Beständigkeit des
Seienden stemmt. Dementsprechend bezeichnet er an mancher Stelle auch
das Ewige als »die Ausflucht jener, die mit der Zeit nicht fertig werden – d. h.
sie niemals begreifen« (Überlegungen VI, GA 94, S. 478). Es gibt aber genü
gende Anzeichen dafür, dass Heidegger im Begriff der »Augenblicklichkeit«
(u. a. GA 65, S. 75) an eine andere Ewigkeit dachte, die er nicht extensiv son
dern intensiv als Endlichkeit des »Einstigen« verstand. Demzufolge kann er
noch beschreiben, wie im Verborgenen »die Augenblicke des Seyns zueinan
der sich kehren und der ›Ewigkeit‹ erst ihre Zeit schaffen« (GA 66, S. 59) oder
wie »das wahrhaft Augenblickliche, das nicht flüchtig, sondern die Ewigkeit
eröffnend« (GA 65, S.121), eine Zeitlichkeit meint, die das Endliche in seiner
Einmaligkeit verewigt.
70 M. Eliade, ebd.
3.3 Endliche Geschichte 115
71 Siehe Anmerkungen III, GA 97, S. 290: »Die Eschatologie des Seyns er
eignet sich als die Jähe der Kehr«.
72 Siehe Der Unter‑Schied, GA 73.2, S. 1179: »Auf die Philosophie folgt die
Eschatologie (aber nicht im Nacheinander). Diese ist die Topologie des Seins
des Seienden. Der Topos ist das Esχaton –«.
73 Anmerkungen I, GA 97, S. 293.
116 3. Im Zeitgewinde
»Wie aber, wenn das Frühe alles Späte, wenn gar das Früheste
das Späteste noch und am weitesten überholte? Das Einst der
Frühe des Geschicks käme dann als das Einst zur Letze (ἒσχατον),
d. h. zum Abschied des bislang verhüllten Geschicks des Seins.
Das Sein des Seienden versammelt sich (λέγεσθαι , λόγος) in die
Letze seines Geschickes. Das bisherige Wesen des Seins geht in
seine noch verhüllte Wahrheit unter. Die Geschichte des Seins
versammelt sich in diesen Abschied. Die Versammlung in diesen
Abschied als die Versammlung (λόγος) des Äußersten (ἒσχατον)
seines bisherigen Wesens ist die Eschatologie des Seins. Das Sein
selbst ist als geschickliches in sich eschatologisch.«74
Die Geschichte des Anfangs ist zugleich eine Geschichte des Ab
schieds. Während der erste Anfang die ihm folgende Geschichte der
Seinsvergessenheit überholt und in einen neuen Anfang übergeht,
holt dieser zweite ihren früheren ein und verabschiedet den gesam
ten Ablauf in eine Eschatologie »des verhüllten Geschicks des Seins«,
wo das Erste nur als Letztes kommt. Dabei drückt sich das innerste
Gesetz dieser Geschichte als ein Abschiednehmen aus, in dem das
Ende zwar als Versprechen eines Anfangs gilt, doch der Anfang als
die unübertretbare Schwelle eines narrativen Endes ansteht.
Es ist in der Tat ein langer Weg, der den ersten Gedanken eines
anderen Anfangs in den früheren 30er Jahren, zur Zeit einer er
hofften nationalsozialistischen Revolution, vom Entwurf dieser Es
chatologie am Ende der 40er nach dem katastrophalen Niedergang
Deutschlands trennt, wo von der Erwartung jenes zweiten deut
schen Anfangs keine Spur mehr bleibt. Was sich aber im Laufe eines
Jahrzehnts relativ früh festsetzte und bis in die spätesten Entwick
lungen der Seinsgeschichte erhalten blieb, war die Beschwörung ei
nes tragischen Untergangs, in den Heidegger erstens das europäische
Denken und zuletzt den gesamten Planeten mit hineinreißen wollte.
Die Not des Untergangs, als die eines eschatologischen Abschieds
von allem Bisherigen, breitet sich im letzten Abschnitt der Narra
tion zu einer Apokalyptik75 von Umwälzungen und Zerstörungen
aus, die den Scheidepunkt verzeichnen, an dem die Seinsgeschichte
80 GA 94, S. 484.
81 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I (1883), KSA 4, S. 17.
82 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III (1884), KSA 4, S. 251.
83 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 172.
84 Vorgehen – »Entwurf«, GA 73.1, S. 562 (Mai 1935).
85 Überlegungen VI, GA 94, S. 429.
3.3 Endliche Geschichte 119
Die Notwendigkeit eines Endes der Moderne ist die narrative Not
wendigkeit eines Übergangs in die schon vorgezeichnete Geschichte
des Seins, die selbst dann nicht haltmacht, wenn alle historischen
Ereignisse gegen sie sprechen. In einem gewaltigen Zusammenstoß
zwischen historischem und narrativem Geschehen macht die Seins
geschichte auch mit demjenigen weiter, der »nicht mitgeht« oder gar
nicht mitkommen kann.
»Der Vorbeigang
des Unsterns (des Unfugs der machenschaftlichen Verendung)
und
des Vorsterns (des Untergangs in die Anfängnis des Fugs im Er
eignis)
erfahren auf
dem Irrstern der Erde, die zwischen der planetarischen Verwüs
tung und der Verbergung des Anfangs irrend
das Inzwischen trägt, das der Abgrund ist.«92
90 Harmagedon ist in der Offenbarung des Johannes (Kapitel 16, Vers 16)
der Ort der Endschlacht gegen die bösen Mächte der Welt.
91 Siehe GA 71, S. 101 f.: »Sobald die letzten Hemmungen vor der Verwüs
tung überwunden und ›Zerstörungen‹ nur als befehlsmäßige Durchgänge
erkannt sind, ergibt sich für das ordnungswillige Menschentum die Chance
einer völligen Verrechnung des Erdballs auf seine ›Güter‹ und ›Werte‹ bis zu
jener Aussicht, ein ›Potential‹ von Kräften aufzuspeichern, das hinreichen
kann, im notlosesten Zeitpunkt des Zeitalters der völligen Notlosigkeit den
Erdball mitsamt seiner Luft einer Sprengladung auszuliefern. Dieses Zer
sprengen des Erdballs durch das animal rationale wird der letzte Akt der
Neuordnung sein.«
92 GA 71, S. 85.
3.3 Endliche Geschichte 121
In dieser astralen Topographie blitzt die Erdkugel als der Irrstern auf,
der, außerhalb seiner geschichtlichen Umlaufbahn, sich nun in den
dunklen Tiefen der Unwahrheit verlaufen hat. Dort treffen der Un
stern »der machenschaftlichen Verendung« und der Vorstern »des
Untergangs in die Anfängnis« in einem »Inzwischen« aufeinander,
das ohne Zusammenprall von beiden die Entscheidung zwischen
einem neuen Anfang und einer endlosen Verwüstung als einen kos
mischen »Vorbeigang« geschehen lässt.
So ereignen sich gleichzeitig im Kreisen der Gestirne alle Mög
lichkeiten dieser Narration. Sie fügen sich in eine metanarrative
Konstellation zusammen, in der »zwei Geschichtsgänge aneinan
der vorbeigehen«.93 Dieses Kreuzen der planetarischen Bahnen ge
schieht schon als »Abgrund« eines Augenblicks, in dem das Schick
sal die eine Geschichte verabschiedet und in die andere untergeht.
In solchem phantastischen Szenario, in dem »sich die Erde selbst in
die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet«, sieht
dann Heidegger »die erste Reinigung des Seins von seiner tiefsten
Verunstaltung«94 und scheint von nun an den weiteren Verlauf seiner
Geschichte auf einen ganz anderen Planeten versetzen zu wollen:
»Das Denken hat sich für die nächsten drei Jahrhunderte auf einem
anderen Stern heimisch gemacht«95.
Wir sind nicht mehr weit von einem Zukunftsroman entfernt, in
dem der Erzähler sich wünscht: »Nur auf einen Stern zugehen, und
sonst nichts«96 – damit er den Traum einer ekstatischen Vereinigung
mit dem Sein erfülle: »Allein dem Seyn, / Ihm gern ein Stern.«97 Es
sind Worte der Liebe, gebrochene Verse eines intimen Gesprächs,98
die mit einem Denken kaum noch etwas zu tun haben können. Selbst
die denkerische Tätigkeit von Heidegger, der seinen Status als Den
ker nur noch als Figur der eigenen Narration behält, findet hier
einen Platz als Moment dieses Weltuntergangs-Romans:
93 GA 71, S. 84.
94 Überlegungen XIV, GA 96, S. 238.
95 Anmerkungen II, GA 97, S. 108.
96 Anmerkungen I, GA 97, S. 30.
97 Ebd., S. 70.
98 Über Heideggers Erotik siehe Peter Trawny, Adyton: Heideggers esote‑
rische Philosophie, S. 101 ff.
122 3. Im Zeitgewinde
Selber kein Fixstern, durchstreift nun »das Denken des Seyns« als
flüchtige »Sternschnuppe« die Handlung seiner eigenen Geschichte
und verschwindet in die unauslotbaren Abgründe einer Narration,
die noch Anfang und Ende sucht. Es ist die Seinsgeschichte, die »als
kaum geahnte Spur« nur im blitzenden Vorbeigang sich erfassen lässt
und wie die »verlöschende Bahn« eines Kometen ihre Endlichkeit
am Himmel verzeichnet. Und wie jede Geschichte, die man erzäh
len kann, »vergeht« letztlich auch die Erzählung des Seins und ist
mit jenem Ereignis dann endgültig vorbei, das nur in einer vergäng
lichen »Einmaligkeit« seine »Einzigkeit« erreicht.103 So bewies auch
der andere Anfang, indem er in den ersten untergeht, die Endlichkeit
eines Geschehens, das etwas anfängt, nur insofern es das zu errei
chende Ende erzählt.
Nun stellt aber dieses Ende nicht bloß das Aufhören einer Ge
schichte dar, sondern den Endpunkt jener »Letze« eines Eschaton,
das tatsächlich aus der Endlichkeit der erzählten Welt den faktischen
Beginn einer Welt der Erzählung vollbringt. Wie der »letzte Gott«,
der ein Anfang ist, nur indem er als Letztes kommt, ist die Erzäh
lung der Seinsgeschichte vom ersten Auf‑gang der Wahrheit bis zum
letzten Unter‑gang »in den Abschied«104 nur als Gang ihres Verge
hens ganz da, in jenem Kommen und Gehen der Götter, die genau
mit ihrem letzten eine Erzählung anfingen:
»Der letzte Gott ist nicht das Ende, sondern der andere Anfang
unermeßlicher Möglichkeiten unserer Geschichte. Um seinetwil
len darf die bisherige Geschichte nicht verenden, sondern muß
zu ihrem Ende gebracht werden.«105
Mit dem spätesten aller Götter,106 der für diese Geschichte von An
fang an schon zu spät kommt und der eigentlich an jeglichem Ge
schehen schon immer vorbeigeht, wird die Geschichte des Seins zur
1 Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, S. 99.
2 Ebd.
126 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins
3 Ebd., S. 117.
4 Ebd.
5 Ebd., S. 99.
6 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 124.
7 Ebd., S. 115.
4.1 Der metapolitische Kampf 127
Seiende kein Universal mehr, sondern ein Unwesen, »das seiend sich
verleugnet«, ein »Feind«, der seine Zugehörigkeit zum Sein doch
niemals zunichtemachen kann, der sie aber ständig verrät und ver
drängt, um seine verschworene »Feindseligkeit« aufrechtzuerhalten.
Dem »Seyn« andererseits, Wesen und Sinn der Geschichte, wird die
Rolle eines geliebten »Freundes« zugeteilt, bei dem zu sein »alles ist«.
In solcher Inszenierung bleibt das Denken der Seinsfrage, wie
Heidegger in den 20er Jahren formuliert hatte, unwiederbringlich
zurück. Nach dem Sein wird nicht mehr gefragt, es wird schlicht um
es gekämpft. Metapolitisch wird dieser Kampf schon allein deshalb
sein, weil er das Denken als eine politische Narration12 inszeniert,
die sich ein Sein außerhalb aller Wirklichkeit erkämpft.
Wie die Deutschen dann sich in solche Konstellation einfügen
sollten, hing mit jener verborgenen Aufgabe, dem Geheimauftrag,
zusammen, die ihnen in diesem epischen Konflikt das Sein selbst
aufbürdete. So dass zuletzt gar keine Geschichte des Seins ohne eine
Geschichte der Deutschen zu denken war; woraus es sich auch er
übrigte, dass es eine durch und durch deutsche Geschichte war, was
hier das Denken zu leisten hatte:
12 Zum Thema einer Ästhetisierung der Politik bei Heidegger siehe Philippe
Lacoue-Labarthe, La Fiction du politique: Heidegger, l’art et la politique
(1988).
13 Überlegungen XI, GA 95, S. 372.
130 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins
All dem diente das narrative Gerüst des Seinsdenkens als eine
vorgeschriebene Textvorlage, die den historischen Ereignissen schon
immer vorausging, ohne sie determinieren zu müssen. Gerade da
rum war auch das Wesen der Deutschen, jenseits jeder politischen
Handlung, nun rein metapolitisch zu fassen, indem es jeder Politik
zuvorkam und, wenn nötig, an ihr vorbeiging. Das deutsche Volk
hätte sich dann zu seiner Bestimmung bekennen mögen oder nicht,
das hätte nie etwas an der Tatsache geändert, dass es das einzige unter
den Völkern war, durch das »das Wesen des Seyns selbst erkämpft
werden wird«.
Eine urtümliche und unzerreißbare Verkettung – so fiktiv, dass
man sie nie hätte lösen können – musste »das Wesen des Seyns«
an dieses Volk binden. Denn »das ›Prinzip‹ der Deutschen ist der
Kampf um ihr eigenstes Wesen«17 und wenn man nun dieses »Wesen«
als die Erkämpfung des »Wesens des Seyns selbst« versteht, ergebe
sich ein vervielfachter »Kampf um den Kampf für das Wesen«18, der
das Wesen des Seins in das Wesen der Deutschen zugleich verdoppelt
und widerspiegelt. Dazu konnte Heidegger noch behaupten, dies
sei »aber keine Übersteigerung und Verwickelung einer sich zerrei
benden Selbstsucht, sondern die Umkehr in die stetige Einfachheit
und weitvorgreifende Ruhe der Verehrung der noch verborgenen
Bestimmung«19 – nämlich die vollzogene Identität zwischen dem
Schicksal der Deutschen und dem Geschick des Seins außerhalb
jeder Bewahrheitung im historischen Geschehen.
In solcher irren(den) Inszenierung eines metapolitischen Kampfes
schien das Wesen der Geschichte sich immer weiter von den Eigen
schaften eines Vorkommnisses zu entfernen, das sich in der Welt
ereignet. Es spricht aber umso mehr für die Narrativität dieser Ge
schichtsauffassung, dass Heidegger die Seinsgeschichte keineswegs
aus den historischen Ereignissen ableitete, sondern eher diese durch
jene festlegte. Ob ihm das auch gelang, muss sich an der fraglichen
Auslegung bemessen, der er die tragischen Ereignisse seiner Zeit
unterzog. Denn dort bestimmte tatsächlich nicht das Geschehen die
Geschichte, sondern diese jenes, indem sie in einem kosmogonischen
Kampf eine fiktive Welt aus sich erstehen ließ und ihr einen eigenen
Sinn verlieh.
20 GA 38, S. 162.
21 Ebd., S. 127.
22 Überlegungen IX, GA 95, S. 198.
23 Überlegungen VII, GA 95, S. 10.
24 Ebd.
4.1 Der metapolitische Kampf 133
musste auch ihm bald einleuchten. Das brachte ihn aber keinesfalls
dazu, den »Kampf um das eigene Wesen«25 aufzugeben, sondern
überzeugte ihn umso mehr von seiner innersten Notwendigkeit. So
wurde der Kampf zugespitzt und verinnerlicht, die Fremdheit ins
Eigene versetzt und »die Deutschen zu heimlichen Feinden ihres
eigenen verborgenen Wesens«26 erklärt.
In diesem neu aufgeschlagenen Szenario drängten auch die narra
tiven Forderungen der Seinsgeschichte schnell dahin, die gesamten
Verhältnisse der Gegnerschaft von neuem aufzustellen. Demzufolge
musste von nun an selbst die Bezugnahme auf einen äußeren Rivalen
als gefährlich erscheinen und die Unterscheidung zwischen »Wesen«
und »Unwesen« schon in den einzelnen Kämpfer, sei es mit oder
ohne Konterpart, fallen.
Sinn des Kampfes war nun so wenig einen Sieg zu erzielen, dass
dieser sich schlimmer als eine Niederlage erweisen konnte, wenn
der Sieger an die Stelle des Besiegten trete und sich dabei »seines
Wesens und Unwesens« bemächtige. Denn soweit eine Auseinan
dersetzung auf der gegenseitigen »Abhängigkeit« der Antagonisten
beruht, macht sich auch eine reziproke Kontamination unausweich
lich, da jeder Widerpart das eigene Wesen nur durch eine Entgegen-
und Absetzung vom Anderen bestimmt. So wäre aber, was durch
den Kampf errungen wird, nie das eigene Wesen, sondern nur jenes
des Widerpartes, das sich als »Befestigung des eigenen Unwesens«28
durchsetzt.
Von den zwei hier erwähnten Kämpfertypen ist der erste auf die
Notwendigkeit eines Widerpartes dermaßen angewiesen, dass er da
bei den Kampf in einem bloßen Antagonismus erschöpft und nur im
Bekämpften seinen eigenen Sinn findet. Darum aber wäre ein solcher
Kämpfer ohne seinen Gegner auch kein Kämpfer mehr und würde
mit einem Sieg bloß seine Selbstvernichtung erwirken, indem er sich
von selbst jeglichen Grund für sein Bestehen entzieht.
Dass Heidegger an anderes denken musste, wenn er das »We
sen der Deutschen« als »Kampf um das eigene Wesen« auffasste,
ist klar. Dementsprechend durfte sich dieser Kampf als tragen
der Grund der Geschichte auch niemals in einem Sieg ausschöp
fen. Kampf haftete dem »Wesen der Deutschen« nicht bloß als eine
Eigenschaft an, die dem Volk von jeher angeboren wäre, sondern
ihr Wesen war nur durch eine Geschichte als »Kampf«, d. h. durch
das Epos dieses Kampfes, zu bestimmen. Denn Geschichte hätte
sich nur ereignen können, wenn die Deutschen »für einen Anfang«
gekämpft hätten; und allein wenn das »Wesen des Seyns«33 zu einer
Geschichte erkämpft werden würde, hätte das Volk endlich auch zu
seinem geschichtlichen Wesen gefunden.
34 GA 65, S. 96.
35 Überlegungen und Winke III, GA 94, S. 125.
36 Siehe oben.
37 Überlegungen XIII, GA 96, S. 99.
4.2 Der seinsgeschichtliche Weltkrieg 137
44 Siehe u. a. Anmerkungen III, GA 97, S. 293: »Wenn das Seyn als das Seyn
das Ereignis ist und wenn das Ereignis das Ereignis der Vergessenheit ist,
dann ist die Eschatologie die Eschatologie der Vergessenheit.«
45 Siehe oben, § 3.3.
46 Siehe die Wintervorlesung 1933/34 Vom Wesen der Wahrheit, GA 36/37,
S. 90: »Kampf des πόλεμος , Krieg; d. h. es gilt Ernst in dem Kampf, der Geg
ner ist nicht ein Partner, sondern Feind.«
47 Ebd, S. 91. Siehe auch oben, § 1.3.
48 Überlegungen VI, GA 94, S. 510.
49 Vgl. Die deutsche Universität (1934), GA 16, S. 300: »Dieser Frontgeist
wurde die bestimmende Kraft in der Vorbereitung der nationalsozialisti
schen Revolution. Die Entwicklung und Klärung des Frontgeistes bedeutet
aber nicht die Einführung des Militarismus, bedeutet nicht Hinarbeiten auf
neuen Krieg, sondern der Frontgeist bedeutet gerade die geistige Eroberung
und schöpferische Verwandlung des Krieges.«
50 Überlegungen IX, GA 95, S. 189.
4.2 Der seinsgeschichtliche Weltkrieg 139
also jeglicher Krieg nur als Ausartung und Preisgabe des eigent
lichen Kampfes anzusehen war. Indem aber der neue Weltkrieg eine
allgemeine Verheerung des Seienden betrieb und den Menschen in
Machtfehden verstrickte, die ihn immer weiter vom Sein entfern
ten, konnte Heidegger letztlich darin den Erzfeind des Seins, den
Gegenspieler schlechthin – »die unbeherrschte Machenschaft des
Seienden«51 – erkennen und daraus eine der wichtigsten Figuren
seiner Narration machen.
Dafür sprach gewiss auch, dass der zweite Weltkrieg eine we
sentliche Veränderung in der Art der Kriegführung mit sich brachte
und den Frontkampf, in dem Soldaten sich noch als Gegner ge
genüberstanden, für eine technologisierte Spielpartie aufgab, in der
nur Panzer gegen Panzer, Bomben gegen Bomben die Entscheidung
über Sieg oder Niederlage trafen. Es war allerdings auch allein die
Macht einer Waffe, der Atombombe, die bei Hiroshima und Naga
saki zum ersten und einzigen Mal eingesetzt wurde, die dem Krieg
ein Ende setzte.
Dies musste Heidegger schon relativ früh klar gewesen sein,
wenn er bereits 1938 im heranrückenden Weltkrieg »den ausschließ
lichen Vorrang des machenschaftlichen – kriegerisch‑technisch‑his
torischen ›Kampfes‹«52 erkennen konnte, wodurch keine eigentliche
Auseinandersetzung mehr zustande kam, sondern nur eine gegen
seitige Vernichtung. Als volle Entfaltung der Technik gehörte dann
dieser Krieg wesensgerecht in die höchste Vollendung der Neuzeit
und musste, der ausgereiftesten Form des Nihilismus entsprechend,
allein »um das Nichts des Nichtigen geführt«53 werden. Was sich
dann ereignete, wurde von solch ausschlaggebender Bedeutung für
das philosophische Narrativ der Seinsgeschichte, dass es jedes an
dere Vorkommnis innerhalb des vorhandenen Seienden bei weitem
übertraf:
chen (1928), in dem anhand einer Reihe von Beispielen ausführlich gezeigt
wird, wie bei der Umwandlung seiner jeweiligen Gestalt die Handlung des
Widersachers doch immer die gleiche bleibt (veröff. in: ders., Morphologie
des Märchens, S. 174 f.).
66 Überlegungen VIII, GA 95, S. 97.
67 Diesem Gedanken zufolge wäre aller Totalitarismus von jüdischer Her
kunft: »Die modernen Systeme der totalen Diktatur entstammen dem jü
disch-christlichen Monotheismus« (Anmerkungen V, GA 97, S. 438).
68 Es ist verblüffend, wie viele Merkmale eines jüdischen Selbstverständ
nisses des Volkes als jenes einzig von Gott auserwählten von Heidegger auf
seine Deutschen übertragen wurden und wie viele historisch belegte Hand
lungen des nationalsozialistischen Deutschlands er auf der anderen Seite den
Juden zuschrieb. Über solche Umdrehungen und Verwechslungen wäre ein
mal interessant, psychoanalytisch nachzudenken.
144 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins
74 Schon 1922 hatte Carl Schmitt in seiner Politischen Theologie (S. 69 ff.)
eine theoretische Grundlage für derartige Überlegungen geliefert, indem
er mit einer historischen Bejahung der »Diktatur« einen »Dezisionismus«
beschwor, der dem seiner Meinung nach entscheidungsunfähigen »ewigen
Gespräch« aller Demokratien ein Ende setzen sollte.
75 Überlegungen XI, GA 95, S. 391.
76 Überlegungen XV, GA 96, S. 173.
77 Überlegungen XIII, GA 96, S. 154. Auch in: Entwurf zu Κοινόν, GA 69,
S. 208.
78 Ebd.
146 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins
Auf der Suche nach einer Definition für die narrative Identität
kommt Paul Ricœur in Soi-même comme un autre auf den zwei
deutigen Begriff des »caractère«, in dem die Gewohnheiten einer
Figur sich zu ihrer Geschichte entfalten. Dabei aber warnt Ricœur
davor, wie verfänglich das werden könnte, wenn es sich um die Nar
rativierung der Identität einer Gemeinschaft handelt, der dadurch
feste Charakterzüge aufgeladen werden: »Ces traits se durciraient et
donneraient aux pires idéologies de l’›identité nationale‹ l’occasion
de se déchaîner.«96
Dementgegen wird hervorgehoben, wie gerade dem Unvorher
sehbaren und äußerst Kontingenten, und allem, was sich einem
festgelegten Charakter von Grund aus widersetzt, die signifikan
teste Rolle in der Gestaltung einer narrativen Identität zukommt:
Denn gerade »la contingence de l’événement contribue à la nécessité
en quelque sorte rétroactive de l’histoire d’une vie, à quoi s’égale
l’identité du personnage«.97 So gesehen wäre also ausgerechnet das
Zufällige und Ungebändigte, das sich durch den Prozess des Er
zählens in einen narrativen »destin« zusammenfügt, und nicht um
gekehrt, ein vorbestimmtes und vorbestimmendes Geschick, das
alles Kontingente in eine narrative Vorlage hineinzwingt, bloß um
es d adurch in ein Notwendiges zu verwandeln.
98 Ebd.
99 Überlegungen V, GA 94, S. 351.
100 Vgl. Überlegungen XII, GA 96, S. 56.
101 Ebd.
4.3 Rassische Identitäten 151
»Warum sollte nicht die Reinigung und Sicherung der Rasse dazu
bestimmt sein, einmal eine große Mischung zur Folge zu haben:
die mit dem Slaventum (dem Russischen – dem ja der Bolsche
wismus nur aufgedrängt und nichts Wurzelhaftes ist)? Müßte da
nicht der deutsche Geist in seiner höchsten Kühle und Strenge
ein echtes Dunkel meistern und zugleich als seinen Wurzelgrund
anerkennen? Vermöchte so erst ein Menschentum geschichtlich
werden, das einer Gründung der Wahrheit des Seins gewach
sen wäre und zu einer Gottfähigkeit berufen? Wie, wenn die
politische Vollendung der Neuzeit diese Einigung vorbereiten
müßte, zunächst auf vielen Umwegen und in scheinbar äußers
ten Gegensätzen.«105
Aber das Interesse für die russische geistige Welt muss viel weiter
gefasst werden, wenn Heidegger mit einem gewissen Stolz schon »in
den Jahren 1908 und 9«,111 als er kaum 20 Jahre alt war, den Anfang
seiner »Besinnung auf das Russentum« datierte. Jenseits mystischer
und philosophiegeschichtlicher Nachklänge weist dann die Kennt
nis der Werke von Turgenjew und Dostojewski auf eine eher lite
rarische, wenn nicht strikt narrative, Neugier hin. So war es durch
diese zwei Schriftsteller, dass der »Nihilismus« zum ersten Mal als
geschichtliches Phänomen erkannt wurde: durch Turgenjew, der
als erster die Bezeichnung »in Umlauf«112 brachte, indem er »damit
die russische Gestalt des abendländischen Positivismus meinte«,113
und durch Dostojewski, der den modernen wurzellosen Menschen
zeigte, der »an seinen Heimatboden und an die Kräfte dieses Hei
matbodens nicht glaubt«.114
Aus solchen literarischen Anprangerungen eines geschichtlichen
Materialismus musste Heidegger eine unerwartete Seelenverwandt
schaft entgegenleuchten. Auf einmal konnte er dann in den Rus
sen das ersehen, was ihm an seinen Deutschen ständig gefehlt hatte,
nämlich eine so feste Verwurzelung in der narrativen Topographie
der eigenen Heimat, dass weder die neuzeitliche Selbstentfremdung
des Kommunismus noch die ontotechnische »Verwüstung«115 des
Weltkrieges sie dem hatte entreißen können. Bis schließlich Heideg
ger in Dostojewski einen slavischen Hölderlin zu erblicken schien,
der am Anfang der Dämonen eine unlösliche Verkettung zwischen
Volk und Gott aufstellte: »Wer aber kein Volk hat, der hat auch kei
nen Gott«.116
Demnach verkörperten die Russen das Ideal der narrativen Iden
tität, in der ein Volk durch die eigene Dichtung zur geschichtlichen
121 Vgl. Anmerkungen IV, GA 97, S. 382: »Im Ereignis ist das Wesen der
Geschichte verlassen. Die Rede von der Seynsgeschichte ist eine Verlegenheit
und ein Euphemismus.«
122 Die Heimatlosigkeit, GA 73.1, S. 764.
4.4 Geschichte als Zugeschicktes 157
123 Siehe Anmerkungen I, GA 97, S. 47 f.: »Die Geschichte ist das Geschicht,
d. h. das Geschick, und dies ist das wesende Ganze des Schickens, so wie das
Gebirg ist das wesende Ganze des Bergseins […]. Schicken aber sey hier ur
sprünglich gedacht als das Schicken des Kommens, welches Schicken dem
Ereignis eignet. Schicken ist voraussenden – hinsenden (in sein Wesen den
Menschen).« Derselbe Gedanke wird auch in Das Ereignis, GA 71, S. 268,
und in Besinnung auf unser Wesen, GA 73.1, S. 716 f., ausgeführt. Heidegger
scheint sich hier wieder auf eine Angabe aus dem Deutschen Wörterbuch von
Jacob und Wilhelm Grimm (1854–1961) zu stützen. Beim Verb schicken kann
man dort lesen: »das verbum wird in etymologischen Zusammenhang mit
schehen in geschehen gestellt; es zeigt sich in der älteren deutschen sprache
eine bei weitem reichere bedeutungsentfaltung als in späterer zeit, die mund‑
arten bewahren davon manches, was die schriftsprache aufgegeben hat.«
Das wird nach dem aktuellen Stand der Forschung eher im folgenden Sinne
verstanden: »machen, dass etwas geschieht, bewirken, ausrichten, gestalten,
(an)ordnen …« (Berlin‑Brandenburgische Akademie der Wissenschaften,
Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache).
124 Zu den folgenden Überlegungen wurde ich vor allem durch das Werk
von Jacques Derrida verleitet, der sich tiefgehend mit den postalischen As
pekten des Denkens befasst hat, unter anderem auch in direktem Bezug auf
Heidegger. Vgl. ders., La carte postale (1980), S. 72 f.: »Si je ›pars‹ de la des
tination et du destin ou du destinement de l’être (Das Schicken im Geschick
des Seins), on ne peut songer à m’interdire de parler alors de ›poste‹ qu’à la
condition de faire de ce mot l’élément d’une image, d’une figure, d’un trope,
une carte postale de l’être en quelque sort. Mais pour cela, je veux dire pour
m’accuser, m’interdire, etc., il faudrait être naïvement assuré de savoir ce
qu’est une carte postale ou ce qu’est la poste. Si au contraire (mais ce n’est
pas simplement le contraire), je pense le postal et la carte postale à partir du
destinal de l’être, comme je pense la maison (de l’être) à partir de l’être, du
langage et non l’inverse, etc., alors la poste n’est plus une simple métaphore,
c’est même, comme lieu de tous les transferts de le toutes les correspondan
ces, la possibilité ›propre‹ de toute rhétorique possible.«
158 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins
Auf diese Weise kam Ende der 40er Jahre Heidegger ausdrücklich
dazu, von einer »Nach-schrift als Sage des Seyns«126 zu sprechen,
die das immanente Erzählen der Seinsgeschichte für die originäre
Nachträglichkeit eines Schreibens ausgab, in dem das ursprüngliche
Wort des Seins in einem noch ursprünglicheren »Lesen« verzeichnet
wurde: im Empfang einer Schrift, die, als von Anfang an zugeschickt,
sich erst in ihrem Nach‑lesen – als Vermächtnis eines ungeschehenen,
posthumen Ereignisses – ursprünglich niederschreibt.
Man könnte hier jenen Begriff einer postalischen Auto(bio)gra‑
phie127 fruchtbar machen, den Jacques Derrida in La carte postale
schildert, nach dem jedes Schreiben ein Schreiben an sich selbst ver
birgt, ein »envoyer la lettre pour qu’elle fasse retour après avoir in
stitué son relais postal«,128 in dem der Adressat – in diesem Fall der
geschichtlich-geschickte Mensch – in eine Geschichte des Seins ein
geschrieben wird, bloß um diese Geschichte als geschickte Schrift
ihrem Absender, nämlich dem Sein selber, zurückzusenden.
In einer zweifelhaften »Antwort«, die eigentlich nichts antwor
tet und sich im restlosen Entsprechen eines stillen »Andenkens« er
schöpft, lässt sich dann der Mensch in eine Bestimmung senden, die
alles Kommende in sein Gewesenes zurückdreht und den Empfän
ger selbst mitsamt der Sendung dem Absender zustellt. Dabei würde
das kreisförmige Geschick dieses »Sich-schickens« einen »relais pos
tal« stiften, der die Möglichkeit immer mit einschließt und sogar
nachdrücklich fordert, »qu’un lettre peut toujours ne pas arriver à
destination«;129 vor allem, wenn hier »Ankunft« das lesende »Ge
dächtnis« einer Geschichte ist, die als Nachhall ihrer selbst über
haupt nichts mehr ankommen lässt und in der »Nach-schrift« ihrer
Schrift sich von Anfang an als bloße Rücksendung zu erkennen gibt.
Es bliebe noch zu fragen, um welchen Absender es sich in Wahr
heit handelt, und ob »l’acteur‑dramaturge‑producteur«130 der Seins
geschichte tatsächlich das Sein sei oder eher ihr einziger Nach‑schrei
ber, der über all die Jahre hinweg in der Einsamkeit seiner Hütte
ununterbrochen eine gigantische Narration an sich selbst sendete,
131 Über die absolute Freiheit eines denkerischen Irrens siehe: Peter Trawny,
Irrnisfuge: Heideggers Anarchie (2014).
132 GA 71, S. 267.
133 Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager (1945), GA 77, S. 207.
134 Ἀγχιβασίη . Ein Gespräch selbsdritt auf einem Feldweg (1945), GA 77,
4.4 Geschichte als Zugeschicktes 161
Von einem Anfang, sei es einem neuen oder einem schon längst
verbrauchten, scheint kaum noch etwas übrig zu sein. Das Den
ken als »Andenken« erschöpft sich in einem reinen Warten, das
auf nichts mehr wartet und im leeren »Kommenlassen« ein Kom
men ohne Kommendes135 bedenkt. Aus den unzähligen Figuren der
seinsgeschichtlichen Narration sind nur noch »Vernichtung« und
»Verwüstung« geblieben. Diese sind das »Böse selbst«, und zwar
nicht im Sinne der Moral, sondern schlicht narrativ als die Gegen
kraft des bösen Widersachers, ohne die kein Märchen hatte jemals
entstehen können.
So wird »das Bösartige« zum unentbehrlichsten Bestandteil die
ser Erzählung, indem es allem, was es überhaupt an guten Kräften
in der Narration gibt, von Anfang an entgegenwirkt und gerade da
durch den Ablauf einer Handlung in Gang setzt. Heidegger nennt es
»das Aufrührerische, das im Grimmigen beruht«,136 d. h. ein unter
schwelliges Widerstreben innerhalb der Seinsgeschichte selbst, das
sich dem Projekt eines anderen Anfangs unablässig und verbissen
in den Weg stellt und das zu überwinden den gesamten Sinn der
Narration ausmacht.
Insofern musste sich auch die Frage, wie denn jenes »Böse« noch
der einen und selben Geschichte zuzurechnen wäre, in der restlosen
Immanenz ihres Geschicks von selbst erledigen: »Inwiefern kann ins
Geschick das Bösartige gehören und das Ergrimmen?«137 Die einzig
plausible Antwort musste dann so konsequent wie bösartig ausfal
len: »Denn das Bösartige, als welches die Verwüstung sich ereignet,
möchte wohl ein Grundzug des Seins selbst bleiben.«138
Es ist also das Sein und immer noch und allein das Sein, das in
dieser Erzählung alles bestimmt, das sich diese ganze Geschichte als
seine eigene intime Epik zusendet, in der sogar der in ihr sich bewe
gende Mensch gar kein Handelnder ist, sondern selber Teil der Hand
lung, nicht einmal ein Abgesandter, selber ganz und gar Sendung.
S. 107. Zwar ist dort die Gelassenheit »ein Nicht-Wollen im Sinne der Absage
an das Wollen, damit wir uns durch diese Absage hindurch auf das gesuchte
Wesen des Denkens, das nicht ein Wollen ist, einlassen können« und nicht,
wie bei Meister Eckhart, »das Fahrenlassen des Eigenwillens zugunsten des
göttlichen Willens« (ebd., S. 109).
135 Siehe Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager, GA 77, S. 218.
136 Ebd., S. 207.
137 Anmerkungen I, GA 97, S. 48.
138 Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager, GA 77, S. 215.
162 4. »Geschick« und Missgeschicke des Seins
»Das Denken. Das Schwerste ist, im Wesen des Seyns das Un
wesen zu erkennen und dabei das Unwesen als Notwendigkeit
des Wesens (nicht nur ›dialektisch‹) begreifen: das Un‑wesen set
zen und sich in der Setzung von jeder Verneinung freihalten. Die
›Entwicklung‹ eines Denkers besteht in der Entfaltung dieses Ver
mögens der Gründung des Unwesens. Aber diese Bejahung des
Unwesens erhält sofort für das gewöhnliche Meinen und seinen
›Optimismus‹ den Anschein des ›Pessimismus‹.«140
Es ging dabei um die Rolle aller Denker, die als jene »gespielten
Spieler«141 in der großen Partie der Seinsgeschichte nur bloße Nach
schreiber einer empfangenen Sendung sein durften. Ihnen wurde
aufgetragen, in der unbedingten Hingabe zu einem Zugeschickten
selbst das trübste »Unwesen« der Seinsvergessenheit und die ab
schreckendsten »Machenschaften« des Seienden philosophisch bzw.
narrativ zu begründen. Demnach bildete sich gerade »in der Entfal
tung dieses Vermögens der Gründung des Unwesens« die Narrativi
tät eines Denkens, dessen letzte Aufgabe die Darstellung des gesam
ten menschlichen Geschehens als postalische Geschichte des Seins
war, indem jeder Dualismus zwischen »Wesen« und »Unwesen« in
dieselbe Inszenierung fiel.
Daher galt es, jenseits von allem »Optimismus« und »Pessimis
mus«, restlos eine narrative »Notwendigkeit« des Bösen zu bejahen,
die weder moralisch noch historisch das »Bösartige« in der Weltge
schichte als reine Funktion der Erzählung legitimierte. Ähnlich Vla
dimir Propp, der »die Schädigung als erste wesentliche Funktion des
2 Vgl. Anmerkungen IV, GA 97, S. 378: »Das Denken gelangt zum Erken
nen nicht deshalb nicht, weil dieses als Ziel so hoch liegt, sondern weil das
Denken dem Erkennen aus dem Weg geht, aus dem Weg bleibt, ohne seiner
zu achten.«
3 Eigentlich hatte Heidegger schon im Sommersemester 1929 eine erste
Auslegung des platonischen »Höhlenmythos« versucht. Damals hieß es: »Es
ist kein Gleichnis, sondern ein Mythos, d. h. eine Geschichte, und zwar eine
Wesensgeschichte des menschlichen Daseins« (Einführung in das akademi‑
sche Studium, GA 28, S. 351).
4 In diesem Zusammenhang tritt in den Manuskripten der 30er Jahre wie
derholt das Bedürfnis auf, einen passenden »Stil« für das »andere« Denken
zu finden. Siehe u. a. Die Seinsfrage und das Ereignis, GA 73.1, S. 156: »Stil –
die Bergung der Wahrheit des Seins im Seienden. Die anfängliche Aufgabe
dieser Bergung ist die Gründung der Wahrheit des Seins – als Gründung des
Da-seins. Dieses aber der verhaltene Stil –; der Stil der Verhaltenheit und
zwar Verhaltenheit im Da-sein, also dieser Stil nur aus und als Gründung des
Da-seins möglich.« An einem anderen Ort (Vorgehen – »Entwurf«, GA 73.1,
S. 528) werden noch »die je verschiedenen ›Stile‹« der Metaphysik und »der
Stil des anderen Anfangs« explizit unterschieden.
5 Vgl. Freiburger Wintervorlesung 1933/34, Vom Wesen der Wahrheit,
GA 36/37, S. 128: »Schon daß wir dieses Höhlengleichnis in diesen Zusam
menhang rücken, daß wir in der in ihm erzählten Geschichte den Kampf der
5.1 Das Epos des Seins 167
wissen, dass er, »wo er in der Philosophie etwas Letztes und Wesent
liches sagen will, im Gleichnis spricht«,7 da nur das »Unbeschreib-
und Unbeweisbare« als philosophische Wahrheit galt.
Phänomenologisch gesehen scheitert hier alle Intentionalität der
Sinngebung an einem unerblickbaren Intendierten – wie an einer
cogitatio, der plötzlich jedes cogitatum ausbleibt.8 Denn als ob der
Wink vom Angeblickten her einem Angewinkten zuwinke, das sich
jedem Blick entzieht, erfüllt nun der Anblick ihr Erblicken gerade
in einem Nicht-blicken-können, das jedes Verstandene durch ein
unerfüllbares Verstehbares ersetzt. Dem Verstehen selbst ist dann
jeder Sinn entrückt und dem Wort bleibt nur noch »ein zu Verste
hendes« erhalten, das sich im »Geschehen« eines unerschöpflichen
Hinüberwinkens performativ in Endlosschleife vollzieht.
Als genau zwei Jahre später Heidegger sich wieder dem Höhlen
gleichnis im Rahmen einer Vorlesung näherte, waren die Verhält
nisse zwischen philosophischer Sprache und denkerischem Sagen
noch deutlicher konturiert:
7 Ebd., S. 19.
8 In den Schwarzen Heften spricht Heidegger sogar »von der Fragwürdig
keit einer Sinn‑gebung überhaupt« (Überlegungen und Winke IIII, GA 94,
S. 409).
9 GA 36/37, S. 116.
5.1 Das Epos des Seins 169
14 Zu der inneren Zusammengehörigkeit von ἀλήθεια und μύθος sei vor al
lem auf die Freiburger Wintervorlesung 1942/43 Parmenides und Heraklit
verwiesen: »Nur da, wo das Wesen des Wortes in der ἀλήθεια gründet, also
bei den Griechen, nur dort gibt es das, was den griechischen Namen μύθος
trägt, den ›Mythos‹« (GA 54, S. 89).
15 Überlegungen V, GA 94, S. 410.
5.1 Das Epos des Seins 171
»Das Wesen der Philosophie erfahren heißt, daß wir uns auf das
Verhältnis der Philosophie zur Poesie einlassen. Die Philosophie
ist das Denken im Element des Gedankens. Die Poesie ist das Sin
gen im Element des Gesanges. (Der erste Vers der ältesten ›Dich
tung‹ des Abendlandes nennt das Singen: ›Singe den Zorn, o Göt
tin, …‹). Der Gedanke des Denkers ist im Element des Wortes.
16 Zum Begriff der Mimesis verweise ich nochmal auf Paul Ricœur, Temps et
récit I, und insbesondere auf die Definition der »mimèsis III«: »L’intersection,
donc, du monde configuré par le poème et du monde dans lequel l’action
effective se déploie et déploie sa temporalité spécifique« (S. 109).
17 Siehe dazu auch Die Seinsfrage und das Ereignis, GA 73.1, S. 83: »Und
soll das Suchen nicht ziellos sich zerstreuen, dann bedarf es der Weisung.
Diese kann nur aus dem kommen, was uns geschichtlich trägt und führt – aus
der Art, wie die Wahrheit des Seins die abendländische Geschichte durch
herrscht.«
18 Es handelt sich um eine spätere Formulierung, die in einigen Manuskrip
ten aus den 50er Jahren auftritt und die an die Versuche der 30er Jahre über
den μύθος anknüpft. Siehe u. a. Ontologische Differenz, GA 73.2, S. 1406.
172 5. Poetik der Seinsgeschichte
Der Gesang des Sängers ist im Element des Wortes. Das Wort ist
der Wink und der Klang der Stille. Die Stille ist die Versammlung
des Seyns in die Rückkehr zu seiner Wahrheit.«19
Mit diesen Zeilen beginnt ein kurzes Manuskript aus den 40er Jahren,
das den Titel Das Wesen der Philosophie trägt. Dort wird die geläu
fige Polarisierung von Argument und Narration in ihren allerersten
Voraussetzungen abgewendet, indem jedes Wort, sei es ein poeti
sches oder ein philosophisches, in ein urtümliches Epos eingebettet
wird, das schon alle Möglichkeiten des Sagens enthält. Im Inneren
dieser sprachlichen Gebärmutter ist das Denken mit einem Singen
verschwistert, das allein erklingen zu lassen vermag, was dem Ge
danken in der Tiefe einer unauslotbaren Stille zugewunken wird.
Es ist nicht die Sprache, die das Wort hervorbringt, sondern das
Wort selbst, das für Heidegger als »Sage« des Seins die Möglichkeit
alles Sprechens und darin des Denkens erschließt. Dieses unsagbare
Wort wird noch im selben Manuskript als »das antwortende Diktat
der Stille«20 gefasst, in dem das Dichten selbst für ein uranfängliches
»Dictare« steht, das dem Denker und Sänger, genauso wie einem
antiken Rhapsoden,21 eine uralte Sage ins Ohr diktiert. Philosophie
und Poesie sind daher nur als Tradierung eines Epos zu verstehen,
das als »antwortende Sage der Stille des Seyns«22 das Geheimnis des
Seinsgeschicks in den Mythos übersetzt.
In einem Zeichen also, das kein ausgesprochenes, sondern ein
unsagbares »Wort der Stille«23 ist, erklingt der Wink des Seins als
Gedanke und Gesang. Es ist ein singender Gedanke und ein denken
der Gesang, der vom Sein nicht sprechen, sondern nur erzählen will.
Für die Auffassung des seinsgeschichtlichen Sagens als einer epischen
24 Ebd.
25 In der epischen »Sage« kann dann nur noch eine Einheit von »Gedanke«
und »Gesang« bestehen, in der das ursprüngliche Dichten schon das ver
einende »Verhältnis« sowie die Gründung beider ist. Siehe dazu ebd.: »Das
verborgene Wesen des Denkens und des Singens ist die Dichtung. In ihr
beruhen Gedanke und Gesang. In ihr beruht vordem das Verhältnis beider.
Dieses verhält, hält an sich und spart zögernd beide. Die Dichtung ereignet
sich ursprünglich als das Verhältnis beider und entläßt sie aus sich, ohne sie
zu verlassen. Die Dichtung ist als die antwortende Sage der Stille des Seyns
verhältnishaft zu Denken und Singen, weil sie ereignet ist aus der Stille.«
26 GA 54, 102 f.
174 5. Poetik der Seinsgeschichte
Wort zuerst entsteht. Es ist von daher von nicht geringer Bedeutung,
wenn die ältesten Funde des Terminus ἀληθές (wahr) ausgerechnet
bei Homer, und also bei einem epischen Sänger und keinem Philo
sophen, gemacht wurden. Denn in einem narrativen Vorgehen ent
steht das Wort, bevor es zum λόγος der Philosophen und mithin
zum argumentativen Diskurs wird, ursprünglich als μύθος und ἔπος .
Indem sowohl diese letzten wie schließlich auch der erste immer
nur das Wort und nie die Sprache – und insofern ein Gesagtes oder
bestenfalls ein zu Sagendes – benennen, weisen sie auf eine Auffas
sung vom Sagen, das nach bester epischer Tradition nur im Nach
erzählen eines Überlieferten spricht und auf jedes autogene Element
verzichtet. So gesehen gehört dann das Denken selbst, »sofern dies
der Grundton im Echo des Seyns und also Geschichte des Seyns
ist«,27 in das reine »Nach‑sagen«28 einer Geschichte, die der seins
geschichtliche Rhapsode vom Sein empfängt und als sein »Echo«
wiedergibt.
Jedes Mal, dass die Wahrheit sich im Wort niederschlägt, wolle
man dies Philosophie, Poesie oder Mythos nennen, ereignet sich das
ursprüngliche Dichten als Erhallen eines Epos, das nicht von Men
schen, sondern vom Sein selbst erzählt wird. Im Bezug auf solche
narrative Wahrheitsschöpfung sprach Heidegger von einer »Phan
tasie (φαντασία) des Seyns«, der gegenüber »die Einbildungskraft
des Menschen nur das Gestammel eines halbgierigen Vorstellens«
ist.29 Als Werk solcher übermenschlichen »Phantasie«30 gleicht die
Wahrheit in allem einer kosmogonischen Sage, die, indem sie Verse
und Begriffe in ihr Lied einflechtet, alles menschliche Geschehen im
Akt des Wortes vollbringt. Dem Einzelnen bleibt dann übrig, sich
auf den stillen Gesang des Seins einzulassen und ihm in Gedanken,
Werken und Taten zu entsprechen.
Wenn »die Geschichte des Seyns« in der Art ihrer Formulierung mit
gutem Recht als episch bezeichnet werden kann, hat sie im Aufbau
ihrer Handlung eher die strukturellen Merkmale einer tragischen
Inszenierung. Und tatsächlich orientierte sich Heidegger beim Zu
sammenfügen seiner abendländischen Denkgeschichte am Vorbild
einer griechischen Tragödie, die sich allmählich zu einem katastro
phalen Ausgang steigerte.
Gerade in den frühen 30er Jahren, als das große Narrativ des
griechischen Anfangs seinen Lauf nahm, fielen der »Prometheus
(Aischylos) und der Anfang der Philosophie«31 plötzlich in eins zu
sammen. In den Entwürfen zur Freiburger Sommervorlesung 1932
häufen sich die Verweise auf die tragische Dichtung des Aischylos
und Sophokles in direktem Zusammenhang mit der Auslegung der
Fragmente des Anaximander, Parmenides und Heraklit. Das legt die
Vermutung nahe, dass gerade durch die Tragiker Heidegger den Zu
gang zu seiner Interpretation der vorplatonischen Philosophie fand.
Insofern ist z. B. die Deutung von Anaximanders δίκη, die in
Heideggers Werk eine sehr lange Geschichte hat, kaum nachzuvoll
ziehen, wenn man sie nicht mit dem Schicksal des Prometheus ver
bindet, der, an einen Fels gekettet, seiner »Verfehlung (Irre)« »den
Fug« »geben – zugestehen«32 muss, wie Heideggers Übersetzung
von Aischylos »ἁμαρτίας σφε δεῖ θεοῖς δοῦναι δίκην«33 lautet. Aus der
Tragödie ins Philosophische übertragen ist dann bei Anaximander
das »διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας«34 folgen
dermaßen interpretiert: »es gewähren nämlich sie (die Seienden als
solche) Fug und Entspruch einander in Rücksicht des Unfugs«35 –
wodurch die griechische δίκη zum »Fug des Seins« gemacht wird, der
das Seiende in seinem »Gefüge« hält und als »ferne Verfügung«36 das
gesamte Geschehen in ein Geschick bindet.
37 GA 36/37, S. 144.
38 Siehe die Entwürfe und Aufzeichnungen zur Sommervorlesung 1932,
GA 35, S. 210.: »Vgl. Aischylos, Prometheus 9, 30. Verfügung schaffen –
walten lassen – den (Kampf) zwischen Fug und Unfug – alle Dinge Einsätze
und Verluste des (Kampfes). Dieser – in keine Grenzen geschlagen – sondern
selbst gliedernd und trennend.«
39 Freiburger Wintervorlesung 1934/35 Hölderlins Hymnen »Germanien«
und »Der Rhein«, GA 39, S. 118.
40 Das Da-sein, GA 73.1, S. 319.
5.2 Dramaturgie des Denkens 177
»παθεῖν bedeutet hier jedoch nicht die bloße ›Passivität‹ des Hin
nehmens und Duldens, sondern das Aufsichnehmen – ἀρχὴν δὲ
θηρᾶν, das Durchmachen bis zum Ende: das eigentliche Erfahren.
41 Ebd., S. 318 f.
42 Ebd., S. 274.
43 Was die Figuren von Antigone und Prometheus über alle Unterschiede
hinaus verbindet, scheint mir gerade eine Haltung gegenüber ihrem Schicksal
zu sein. So gehen beide – im Gegensatz zu den meisten tragischen Helden, die
sich bis zuletzt der Katastrophe zu entziehen versuchen – von ihrem ersten
Auftritt an bewusst der eigenen Vernichtung entgegen.
44 Dass Hölderlin eine Übersetzung der Antigone angefertigt hat, mag be
stimmt eine gewichtige Rolle gespielt haben, wobei Heideggers Deutung
des griechischen Textes eigene Wege geht. Siehe vor allem die Freiburger
Sommervorlesung 1942 Hölderlins Hymne »Der Ister«; dort heißt es in Be
zug auf das Gespräch zwischen Antigone und Ismene (Antigone, V. 100 ff.):
»Hölderlins Übertragung bleibt hier, mag sie auch wie stets das Element des
Edlen bewahren, merklich fern von der plastischen, strengen und doch nicht
harten Fügung der Reden und Gegenreden. Zuweilen trifft sie überhaupt
nicht das Wesentliche« (GA 53, S. 122).
178 5. Poetik der Seinsgeschichte
Dieses παθεῖν – das Erfahren des δεινόν, dieses Erleiden und Lei
den ist der Grundzug jenes Tuns und Handelns: τό δρᾶμα , was
das ›Dramatische‹, die ›Handlung‹ der griechischen Tragödie
ausmacht.«45
45 Ebd., S. 128.
46 Sophokles, Antigone, V. 92.
47 Ebd., V. 95–96.
48 GA 53, S. 123.
49 Ebd., S. 124.
50 Ebd. Siehe dazu auch Heideggers Überlegungen über das Wesen der πόλις ,
in denen sich das Tragische zu verdichten scheint: »Dieser Stätte und Statt
entspringt das, was gestattet ist und was nicht – das, was der Fug ist und was
5.2 Dramaturgie des Denkens 179
»Sehen wir das Wesen des ›Tragischen‹ darin, daß der Anfang der
Grund des Untergangs, der Untergang aber nicht ›Ende‹, sondern
der Unfug, das, was das Schickliche ist und was das Unschickliche. Denn das
Schickliche bestimmt das Geschick und dieses die Geschichte« (ebd., S. 101).
51 Ebd., S. 154.
52 Ebd., S. 68.
53 Die Seinsfrage und das Ereignis, GA 73.1, S. 264.
180 5. Poetik der Seinsgeschichte
das Rund des Anfangs ist, dann gehört zum Wesen des Seyns das
Tragische.
Dies aber ermöglicht, daß dort, wo das Seiende in den Ur
sprung des Seyns reicht, in der Geschichte des Seienden und zwar
allein jenes Seienden, dessen Wesen im Bezug zum Seyn verwur
zelt ist, ›Tragödien‹ sind. Die große – wesentliche – Dichtung als
Stiftung des Seyns ist tragisch. Und vielleicht sind die bisherigen
›tragischen Dichtungen‹ nur Vorhöfe, weil sie gemäß ihrer Zuge
hörigkeit zur Metaphysik des Abendlandes das Seiende dichten
und nur mittelbar das Seyn. Die Benennung ›tragisch‹ hat jedoch
im Zusammenhang dieser Besinnung keine besondere Rolle, vor
allem nicht in dem Sinne, als sollte da eine ›tragische Philoso
phie‹ erdacht werden. Wesentlich ist allein das Wissen vom An
fang als dem Grund des ihn rundenden Untergangs. Sprechen wir
aus dem Denken des Anfangs vom ›Ende‹, dann meint dieses nie
das bloße Aufhören und Nachlassen, sondern das dem Anfang
gewachsene und doch ihm verfallene Vollenden dessen, was der
Anfang, vorspringend seiner Geschichte, als Möglichkeiten setzt
und entscheidet.
Die erste Geschichte des Seins, von der φύσις bis zur ›ewigen
Wiederkehr‹, ist ein untergehender Anfang. […] Weil Anfang nur
anfänglich erfahren werden kann, wird auch erst aus dem anderen
Anfang der Seynsgeschichte jener erste und seine Geschichte ins
Offene – doch nie ins Öffentliche – kommen.
Ist die Philosophie Denken des Seyns im Sinne des erfragenden
Vordenkens in die Gründung der Wahrheit des Seyns, dann sagt
der Name ›tragische Philosophie‹ zweimal dasselbe. Philosophie
ist in sich ›tragisch‹ nach dem genannten Gehalt dieses Wortes.«54
Mit diesem langen Abschnitt beginnt der XVII. Teil der großen
Abhandlung Besinnung, der den prägnanten Titel »Die Seyns
geschichte« trägt. Dass nun ein ganzer Paragraph das »Wesen des
Seyns« in Bezug zu seiner Geschichte als tragisch darlegt, bezeugt
deutlich genug, wie ernst es Heidegger mit der Tragödie tatsäch
lich war.
Es ist vor allem die unlösbare Verkettung von Auf- und Unter
gang, wie wir sie aus der Handlung der Seinsgeschichte in der narra
tiven Verdrehung und Überlappung von Anfang und Ende kennen,
die hier das Wesen des Tragischen ausmacht. Doch ist nicht der ein
tragischer Held, der, vom Pathos des Zugrundegehens ergriffen, die
Handlung des Dramas zu ihrem katastrophalen Ende steuert, son
dern das Sein selbst, das als einziger Akteur der Narration die Tra
gödie seiner Geschichte ihrem Scheitelpunkt zutreibt. Infolgedessen
gibt es auf einmal auch keine einzelnen Tragödien mehr, sondern nur
das eine Urdrama der Geschichte des Seins, die als einzige wahre
Tragödie alles Seiende in den Untergang reißt.
Mit einem geübten Winkelzug dreht Heidegger dabei das Ver
hältnis zwischen den Inspirationsquellen und den Ergebnissen sei
nes Denkens um und wagt zu behaupten, dass nicht das Tragische
aus der griechischen Theaterkunst auf die Seinsgeschichte übertra
gen wurde, sondern dass umgekehrt Tragödien im alten Griechen
land überhaupt entstehen konnten, weil dort die Seinsgeschichte
ihren Anfang genommen und dadurch das Wesen des Tragischen
erstmals gegründet habe.55 Dies fordert aber zugleich, dass alle bis
her geschriebenen und aufgeführten Tragödien, die sich »gemäß ih
rer Zugehörigkeit zur Metaphysik« immer noch nur mit Seiendem
befassten, als bloße »Vorhöfe« des authentisch Tragischen abzuwer
ten seien. Denn den Namen Tragödie verdient letzten Endes allein
die Geschichte des abendländischen Denkens »von der φύσις bis zur
›ewigen Wiederkehr‹«.
Als »untergehender Anfang« wäre die gesamte Philosophie nichts
anderes als die tragische Inszenierung des Seins in Form einer Ge
schichte und dadurch die einzige wahre »Dichtung als Stiftung des
Seyns«. In aller Konsequenz schließt dann Heidegger daraus, dass
es auch keine Philosophie geben kann, die nicht eine »tragische Phi
losophie« sei, worin sich Denken und Narration in einer Tautologie
ausschöpfen, die zwischen Erzähltem und Gedachtem nicht mehr
unterscheidet. Indem es aber nicht die philosophische Narration ist,
die vom Sein erzählt, sondern das Sein selbst, das sich das Ereignis
seines Denkens als Tragödie einer Geschichte erdichtet, wird auch
noch eine andere Unterscheidung, nämlich die zwischen dem Er‑
zähler und dem Erzählten, definitiv hinfällig: »Das Seyn selbst ist
›tragisch‹«56, d. h. es selbst ist seine untergehende Geschichte – die
Tragik eines Denkens, das sich das Geschehen seiner eigenen Kata
strophe selbst erschafft.
Dadurch wurde die große Erzählung des Abendlandes, mit ih
rem Versprechen eines neuen Morgens nach einer finsteren Nacht,
nicht bloß zur Metapher einer viel zu langen Denkgeschichte, die
über zwei Jahrhunderte hinweg den Begriff von Philosophie geprägt
hatte und ihn nun zu verabschieden trachtete, sondern sie musste,
indem sie jede Trennungslinie zwischen Realität und Fiktion endgül
tig verwischte, bereits das faktische Ereignis eines Weltuntergangs
werden, wie ihn Heidegger in den letzten Jahren des zweiten Welt
krieges tatsächlich zu erleben glaubte. Das beschworene »Ende der
›Philosophie‹«57 setzte dann zugleich das unwiderrufliche »Ende
der Geschichte«58 fest, in einer Überschneidung und gegenseitigen
Gleichschaltung von Narration, Politik und Philosophie.
Dafür wurde das historische Geschehen nicht bloß einer Nar
rativierung unterzogen, sondern die Narrativierung selbst musste
durch ein Denken des Narrativen aufgehoben werden, das jedes
erzählte Faktum in ein Gedachtes überführte. Ohne Rücksicht auf
Verluste vollbrachte sich in der viel zu realen Tragödie eines Krieges
der Untergang der Moderne als epochaler Zusammenbruch einer fa
belhaften metaphysischen Menschheit,59 in dem nach einem immer
wiederkehrenden Muster all die äußerst tragischen Ereignisse, die
in den 40er Jahren die Weltgeschichte erschütterten, auf die seins
geschichtliche Ebene eines Denkens übertragen wurden, das dem
Geschehen jede menschliche Relevanz entzog und es als einen nur
für das Sein belangvollen Umstand zurückließ.
Demzufolge bestand 1945 das Schlimmste an den schrecklichsten
Lebensverhältnissen, unter denen Heideggers Zeitgenossen kämpf
ten und starben, »auf das Ganze und Eigentliche des abendländi
schen Geschickes gesehen, keineswegs darin, daß vielleicht viele
Menschen umkommen, sondern daß diejenigen, die durchkommen,
nur noch leben, um zu essen, damit sie leben«.60 Und selbst an
genommen, Heidegger wollte sich nur gegen eine Verdinglichung
83 Siehe u. a. Überlegungen VIII, GA 95, S.112: »Bist du Einer, der nur die
Zeitgenossen unterhält und ärgert; / bist du Einer, der sich noch des Gro
ßen und Einfachen erinnern kann; / bist du Einer, der zum Anstoß von Be
sinnungen wird; / bist du Einer, der dem Seyn eine Bahn seiner Geschichte
schafft? –«
84 Anmerkungen II, GA 97, S. 161.
85 Ebd.
86 Anmerkungen IV, GA 97, S. 373.
87 Anmerkungen V, GA 97, S. 488.
5.3 Die Schrift und das Sein 189
spricht. Die Nachschrift ist nicht für Leser. Die Schrift‑steller als
Schriften‑Hersteller, nicht als die Nach‑schreibenden, schreiben
für die Leser und die Leser schreien nach Schriftstellern.
Das echte Schreiben ist das erste Lesen, denn es liest, indem es
die Zu‑Schrift hört; es liest, insofern es sich in die Versammlung
sammelt, als welche die Einfalt des Brauches das Gespräch des
Unter‑schieds ist.
105 Und tatsächlich konnte sich Heidegger, als erster (und einziger) Nach
schreiber des Seins, auch als den allerersten (und vielleicht einzigen legitimen)
seiner eigenen Rezipienten betrachten. Vgl. den Brief vom 18. 9. 1932 an Eli
sabeth Blochmann: »Vorläufig studiere ich meine Manuskripte, d. h. ich lese
mich selbst u. muß sagen, daß es im Positiven u. Negativen viel fruchtbarer
ist als sonstige Lektüre, zu der ich ohnehin wenig Lust u. Gelegenheit habe«
(M. Heidegger / E. Blochmann, Briefwechsel, S. 53).
194 5. Poetik der Seinsgeschichte
108 Siehe dazu R. Jirgl, a. a. O., S. 290 f.: »Der Methode nach funktionierte
das ähnlich wie die Arbeitsweise der Holovision: Hauptangriffstellen sind
die halluzinatorischen Zentren im Gehirn, die Amygdala. Man spricht ja
schonlange von der ›positiven Virologie der Wünsche‹ – jetzt hatte Man zum
Erstenmal einen biomorfen elektrischen Wirkkreis hergestellt & in-Form
von Rückkopplungen mit den geschriebenen Geschichten & den erwünsch
ten Topoi geschlossen. Doch für jedes 1zelne Buch, will man dem Text zur
Wirkung verhelfen, bedarf es der zugehörigen morfologischen Maske, einer
Art Schema zur Decodierung für die Materialisation der-Schrift.« Nichts
scheint auf den ersten Blick von der heideggerschen Handschrift weiter ent
fernt zu sein als solche Bücher mit ihrer hochentwickelten und übergrei
fenden Technik. Wie aber André Leroi-Gouhran in Le Geste et la Parole
(1964–1965) darlegt, besteht in der Geschichte des Menschen eine unlösliche
Verbindung zwischen Hand, Technik und Wort. Damit hätte auch Heidegger
etwas anfangen können – »denn die Hand ist in einem mit dem Wort die We
sensauszeichnung des Menschen« (GA 54, S. 118). Und indem das Wesen des
Wortes »im Zeichen als dem gezeichneten Zeigenden Sichzeigenden« (Das
Wort und die Sprache, GA 74, S. 75) gründete, war einer Gleichung von zei
gender »Hand« und gezeichnetem »Wort« nicht mehr auszuweichen. Dass
solch ein handwerklich begabtes Wort sich zu einem technischen Ungeheuer
hatte steigern müssen, das in der Sprache der »Denkmaschinen« die gesamte
menschliche Welt neu einrichtete (siehe Der Satz vom Grund, GA 10, S. 182),
scheint mir bereits in den Voraussetzungen des Heidegger’schen Denkens zu
liegen.
109 Anmerkungen IV, GA 97, S. 346.
110 Siehe dazu auch Anmerkungen I, GA 97, S. 85: »Das Gebrauchtseyn des
Menschenwesens als Ant‑wort zum Wort im Seyn«. Denkerisches Sagen als
Antwort des Menschen auf das Sein wäre dann bloße Selbstreferenzialität des
196 5. Poetik der Seinsgeschichte
Ereignis«, betrachtet. Denn nun erübrigt sich der nächste und letzte
Schritt, den Heidegger zwar riskierte, sich aber nie einzugestehen
vermochte, von selbst: Die Erzählung löst sich von ihrem Erzähler
sowie von ihrem Erzählten ab und erzählt nur von und für sich
selbst.
Allein in solcher Verabsolutierung der Schrift wäre dann auch das
uralte ζῷον λόγον ἔχον ein für allemal überwunden. Das Wort erkennt
dann endlich, dass es den Menschen »hat«.111 Nun kann es sich von
vom vernünftigen Tier lossagen, vom animal rationale, das das Wort
jahrtausendelang in seinem Besitz gefangen hielt. In der vollzogenen
Überwindung der Metaphysik bedürfte die Schrift des Seins auch
nicht mehr »des Blutes vom Menschen=Tier, Biologie als Schauplatz
für das WORT« und würde, bar noch ihrer letzten menschlichen
Inszenierung, reine »Sage des Ungesprochenen«.112 Jetzt bleibt al
les »Sagen überflüssig«, und das unhörbare Wort des Seins braucht
weder adressiert noch ausgesprochen zu werden.
Am Ende stellt sich die Frage: Wozu das Ganze? Warum überhaupt
eine Seinsgeschichte? Hätte Heidegger sich nicht mit der ontologi
schen Differenz, der Daseinsanalyse und, wenn man unbedingt will,
noch mit seinem Denken der Technik begnügen können? Hätte dies
nicht ausgereicht, um als ein großartiger Philosoph in die Philoso
phiegeschichte einzugehen? Was hatte es für einen Sinn, eine solche
Erzählung des Seins zusammenzubasteln? Hat das überhaupt noch
etwas mit Philosophie zu tun? Und wenn selbst nach Heideggers
Verständnis das Seinsdenken keine Philosophie mehr sein sollte, ist
es überhaupt noch ein Denken? Denkt man noch, wenn man daran
festhält, dass die gesamte Geschichte der europäischen Welt, ein
schließlich all ihrer Kriege, Weltkriege und Revolutionen, bloß das
lang anhaltende Ende der Denkversuche von Anaximander, Heraklit
und Parmenides ist? Denkt man noch, wenn man behauptet, dass
Amerikaner, Bolschewiki, Engländer, Juden und wer auch immer
Agenten der »Machenschaft des Seienden« und nur dazu da sind,
das Sein in die ewige Vergessenheit zu verbannen? Und was ist es
überhaupt mit diesem Sein? Muss sich das Denken mit so etwas be
schäftigen? Wäre es so unverzeihlich, sich dem Seienden zu widmen,
dem Menschen zum Beispiel?
Angesichts der Verlegenheit, in die dieser Denker schon ganze
Generationen von Lesern, Schülern, Stuiderenden, »Heideggeria
nern« etc. versetzt hat, ist es ein beliebter Ausweg, einen frühen von
einem späten Heidegger zu unterscheiden, um immer wieder gern
auf einen ganz frühen guten zurückzukommen, der sich die Hände
noch nicht schmutzig gemacht hat, um dann anschließend zu ei
nem ganz späten, zur Besinnung gekommenen Heidegger hinüber
zuspringen, der sich die Hände gründlich gewaschen haben soll.
Solchen akrobatischen Ausweichmanövern zum Trotz hätte ich mir
dann als Gegenstand dieser Arbeit ausgerechnet den mittleren und
bösesten Heidegger mit seinem finsteren metapolitischen Epos des
198 Schlusswort
Seins ausgesucht. Das geschah aus zweierlei Gründen, die wenig mit
einer Lust an zu großen Herausforderungen zu tun haben.
Einerseits halte ich den Versuch, das Sein durch eine Geschichte
zu denken, und zwar in der doppelten Bedeutung eines Geschehens
und einer Narration, für den konsequentesten Schritt, um aus den
Aporien der Zeitlichkeit herauszukommen, mit denen Sein und Zeit
abgebrochen wurde. Schon Paul Ricœur, auf dessen Werk Temps et
récit ich mich oft gestützt habe, hatte in der narrativen Form einer
erzählten Geschichte eine Möglichkeit gesehen, die drei Modi der
ekstatischen Zeit in einer pluralen Einheit zusammenzufügen, wobei
der letzte vereinheitlichende Akt einer »refiguration« der Zeit nicht
dem Autor, sondern dem Leser im Vollzug seiner Rezeption über
lassen wurde. Andererseits denke ich, dass alle späteren Entwicklun
gen des Seinsdenkens, wie wir sie ab den 50er Jahren von Heidegger
kennen, aus dem einzigen Bemühen hervorgegangen sind, die Phi
losophie als eine Geschichte zu fassen, die noch in ihrer Überwin
dung die narrativen Merkmale einer erzählten Handlung bewahrte.
Wenngleich also das Projekt der Seinsgeschichte chronologisch gut
einzugrenzen ist zwischen den 30er und den 40er Jahren, besitzt es
nicht bloß eine zentrale, sondern darüber hinaus eine zentripetale
Rolle im Schaffen Heideggers, sodass seine früheren wie seine spä
teren Werke unausweichlich auf es zu beziehen sind.
Doch es gab noch einen anderen Grund, der mich anzog. Es ging
um den hybriden Charakter eines narrativen Konstrukts, in dem
ohne spürbare Übergangslinien Philosophie, Historie, Politik, Epik
und, in manchen Fällen, reines Drama bruchlos ineinanderfließen.
Dass hierdurch Heidegger eine Erzählung zustande brachte, mit der
er sich erhofft hatte, direkt in das wirkliche Geschehen eingreifen zu
können, um aus einer fiktiven Geschichte eine wahre Geschichte zu
machen, hat mich angespornt, nach den narrativen Bedingungen die
ser unglaubwürdigsten aller Narrationen zu suchen. Hatte Heideg
gers Geschichte gerade als Fiktion ihre Chance?
Immer noch lässt mich der Verdacht nicht los, dass Heideggers
monumentaler narrativer Versuch eher auf die Stiftung einer Pseu
doreligion hinausläuft, die ein Epos des Denkens als ihre heilige
Schrift benötigt. Dabei kommen mir die Worte von Erich Auer
bach in den Sinn, der in Bezug auf die Ansprüche, die ein genui
nes Narrativ wie das homerische Epos an seine Rezipienten stellt,
Folgendes sagte: »[E]s ist, solange wir diese Gedichte hören oder
lesen, ganz gleichgültig, ob wir wissen, daß alles nur Sage, daß alles
Schlusswort 199
›erlogen‹ ist. Der Vorwurf, den man oft erhoben hat, Homer sei ein
Lügner, nimmt seiner Wirkung nichts; er hat es nicht nötig, auf die
geschichtliche Wahrheit seiner Erzählung zu pochen, seine Wirk
lichkeit ist stark genug; er umgarnt uns, er spinnt uns in sie ein, und
das ist ihr genug.«1
Dass nun bei den Philosophen gerade Homer nie in einem gu
ten Licht gestanden hat, ist seit Platon bekannt. Dem aber scheint
Auerbach erwidern zu wollen, dass ein guter Geschichtenerzähler
eigentlich auf etwas ganz anderes als Wahrheit, oder mindestens auf
eine »geschichtliche Wahrheit«, abzielt. Anders aber ergeht es dem
Verfasser einer heiligen Schrift, wie etwa dem »biblischen Erzähler«,
auf den der Vorwurf der Philosophen – noch Auerbach zitierend
und, ich hoffe, nicht ganz missdeutend – voll und ganz zutrifft: »Der
Wahrheitsanspruch der Bibel ist nicht nur weit dringender als der
Homers, er ist auch tyrannisch: er schließt alle anderen Ansprüche
aus. Die Welt der Geschichten der Heiligen Schrift begnügt sich
nicht mit dem Anspruch, eine geschichtlich wahre Wirklichkeit zu
sein – sie behauptet, die einzige wahre, die zur Alleinherrschaft be
stimmte Welt zu sein. Alle anderen Schauplätze, Abläufe und Ord
nungen haben keine Berechtigung, von ihr unabhängig aufzutreten,
und es ist verheißen, daß sie alle, die Geschichten aller Menschen
überhaupt, sich in ihren Rahmen einordnen und sich ihr unterord
nen werden.«2
Für Heidegger, der Homer eine so ursprüngliche Erfahrung der
Wahrheit zusprach, die er allen Philosophen bestritt, musste die epi
sche Erzählung einen ganz besonderen Rang angenommen haben.
Er lässt sich kaum noch mit Auerbachs Kategorien beschreiben.
Und dennoch scheint mir die Seinsgeschichte, mit ihrem unleug
bar tyrannischen »Wahrheitsanspruch«, der nicht bloß die Philo
sophie, sondern selbst das historische Geschehen neu schreiben
wollte, dem klassischen Format einer heiligen Schrift gefährlich
nahezukommen.
Dass andererseits Dichtung eine Erfahrung der Wahrheit mit sich
bringt, die der Philosophie in nichts nachsteht, wusste Heidegger
selber viel zu gut. Als er aber sich in die Schöpfung eines philoso
phischen Narrativs hineinwagte, das als Hybrid von Dichtung und
Philosophie keines von beiden sein wollte und doch an beidem hing,
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