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Peter Trawny

Heidegger und der


Mythos der jüdischen
Weltverschwörung
RoteReihe
Klostermann

https://doi.org/10.5771/9783465142386
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Trawny · Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung

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Peter Trawny

Heidegger und
der Mythos der jüdischen
Weltverschwörung

KlostermannRoteReihe
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3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015

2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2014


© 2014 . Vittorio Klostermann GmbH . Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der
Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet,
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Gedruckt auf Alster Werkdruck der Firma Geese, Hamburg,
alterungsbeständig ∞ ISO 9706 und PEFC-zertifiziert.
Satz: Mirjam Loch, Frankfurt am Main
Druck und Bindung: Wilhelm & Adam, Heusenstamm
Printed in Germany
ISSN 1865-7095
ISBN 978-3-465-04238-9

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„Deutsch sein: die innerste Last der Geschichte des Abend­
landes vor sich her werfen und auf die Schulter nehmen.“
Martin Heidegger, Überlegungen VII

„Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim,


den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?“
Paul Celan, Nähe der Gräber

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Inhalt

Einleitung. Revisionsbedürftigkeit einer These . . . . . . . . . . 9

Seinsgeschichtliche Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Typen des seinsgeschichtlichen Antisemitismus . . . . . . . . . . 31

Der seinsgeschichtliche Begriff der „Rasse“ . . . . . . . . . . . . . 59

Das Fremde und das Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

Heidegger und Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Werk und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Vernichtung und Selbstvernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Nach der Shoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Antwortversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Nachwort zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Nachwort zur 3. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

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Einleitung.
Revisionsbedürftigkeit einer These

Leo Strauss, Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas,


Emmanuel Levinas, Werner Brock, Elisabeth Blochmann,
Wilhelm Szilasi, Mascha Kaléko, Paul Celan – Juden, denen auf
die eine oder andere Weise Martin Heidegger begegnete, für
die er ein Lehrer war, ein Verehrer, ein Liebhaber, ein verehr­
ter Denker, ein Förderer. Häufiger schon ist festgestellt wor­
den, dass Heid­egger als Philosoph und akademischer Lehrer
in den zwanziger Jahren „junge Juden“1 (Hans Jonas) angezo­
gen habe, ja dass es überhaupt eine Nähe gebe zwischen sei­
nem Denken und dem Judentum.2 Wie die mit Celan war die
Begegnung mit den jüdischen Schülern nach 1945 schmerzhaft,
zerrissen zwischen Bewunderung und Abstoßung.3 Doch es
gab unzweifelhaft eine Annäherung. Arendts Rückkehr nach

1
Hans Jonas: Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander.
Insel Verlag: Frankfurt am Main 2003, 108 f.: „Viele dieser jungen Heid­
egger Adoranten, die von weither kamen, darunter einige aus Königs­
berg, waren – und das kann, obwohl ich keine Erklärung dafür habe,
kein purer Zufall gewesen sein – junge Juden. Diese Affinität war aber
wohl eher einseitig. Ich weiß nicht, ob es Heidegger so ganz behaglich
war, dass gerade junge Juden zu ihm strömten, aber er war an sich ganz
und gar apolitisch.“ Das abschließende Urteil über das „Apolitische“ bei
Heidegger ist schlicht falsch. Heidegger dachte im Dritten Reich „politi­
scher“ als die meisten Professoren.
2
Marlène Zarader: La dette impensée. Heidegger et l’héritage hébraïque.
Paris: Seuil 1990.
3
Gerhart Baumann: Erinnerungen an Paul Celan. Suhrkamp Verlag:
Frankfurt am Main 1986.

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Deutschland Anfang der fünfziger Jahre war auch eine Rück­
kehr zu Heidegger.
Gewiss gab es Irritationen. Jacques Derrida, auch er jüdischer
Herkunft, hat in einem kleinen Text mit dem Titel „Heid­eggers
Schweigen“ von einer „Verwundung des Denkens“ gesprochen,
vom „Schweigen nach dem Krieg über Auschwitz“4. Heidegger
hat sich öffentlich zur Shoa nicht geäußert. Die Öffentlichkeit
war für ihn keine moralische Instanz, sondern das Gegenteil.
Oft spricht er von der „Diktatur der Öffentlichkeit“5. Das
Schweigen, das Verschweigen, ist für ihn eine philosophische
Haltung. Hat er in seinen persönlichen, in den intimen Begeg­
nungen vielleicht über Auschwitz gesprochen? Es gibt kein
Zeugnis, das davon erzählte. Immerhin gibt es ein Gedicht für
Hannah Arendt, ein einziges Zeugnis, das von einer „Last“
spricht. Dieses Gedicht, was wiegt es?
Die Irritationen führten nicht dazu, dass Heidegger des
Antisemitismus bezichtigt wurde. Rüdiger Safranski hatte
in seiner einflussreichen Biographie entschieden behauptet,
Heid­egger sei kein Antisemit gewesen. 6 Das ist bisher die vor­
4
Jacques Derrida: Heideggers Schweigen. In: Antwort. Martin Heid­
egger im Gespräch. Hrsg. von Günther Neske und Emil Kettering. Nes­
ke Verlag: Pfullingen 1988, 159. Was meint „Verwundung des Denkens“?
Was oder wer hat wem eine Wunde geschlagen? Ereignet sich die „Ver­
wundung“ in Heideggers Denken? Was hat sie ihm beigebracht? Oder ist
Heid­eggers Denken eine Verletzung des Denkens überhaupt? Ist unser
Denken verwundet? Ist gar der Antisemitismus überhaupt eine Wunde
des Denkens?
5
Z. B. Martin Heidegger: Brief über den „Humanismus“. In: Ders.:
Wegmarken. GA 9. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frank­
furt am Main 2/1996, 317.
6
Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und sei­
ne Zeit. Hanser Verlag: München u. Wien 1994, 297: „Heidegger – ein
Antisemit? / Er war es nicht im Sinne des ideologischen Wahnsystems
der Nationalsozialisten. Denn auffällig ist, daß sich weder in den Vorle­
sungen und den philosophischen Schriften noch in den politischen Reden
und Pamphleten antisemitische, rassistische Bemerkungen finden.“ Dar­
über hinaus vgl. Philippe Lacoue-Labarthe: Die Fiktion des Politischen.
Heidegger, die Kunst und die Politik. Edition Patricia Schwarz: Stutt­

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herrschende Meinung. Es gibt die wichtige apologetische The­
se: Heidegger engagierte sich zwar im Nationalsozialismus,
die einen meinen kürzer, die anderen länger, doch ein Antise­
mit war er nicht. Spricht nicht seine Biographie dagegen? Wer
könnte Antisemit sein, der so selbstverständlich mit Juden leb­
te, ja, sogar mindestens eine „jüdische Geliebte“ hatte?
Antisemitisch – war und ist, was sich aus Gerüchten, Vor­
urteilen und pseudo-wissenschaftlichen (rassen-theoretischen
oder rassistischen) Quellen affektiv und/oder administrativ
gegen Juden richtet und a.) zu Diffamierungen b.) zu einem
allgemeinen Feindbild c.) zur Isolierung – Berufsverbot, Get­
to, Lager, d.) zur Vertreibung – Emigration; e.) zur Vernich­
tung führt – Pogrome, Massenhinrichtungen, Vernichtungs­
lager. Heute ist zudem als antisemitisch zu bezeichnen, was die
Juden als „die Juden“ charakterisieren soll. Faktisch sind die
verschiedenen Stufen einerseits nicht leicht zu trennen. Ande­
rerseits halte ich die Annahme für problematisch, eine verbale
Diffamierung müsse in der Shoa enden.7
Die Sicht auf Heidegger erhält eine neue, bisher unbekann­
te Facette: auf einem gewissen Abschnitt seines Weges öffnete
der Philosoph sein Denken einem Antisemitismus, der genau­
er als seinsgeschichtlicher Antisemistismus bezeichnet werden
kann. Daran scheint es – wie zu sehen sein wird – keinen Zwei­
fel zu geben. Alles hängt jedoch davon ab, zu erörtern, was
unter dem Begriff des „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“
zu verstehen ist. Eine Sensibilität für diesen Begriff zu entwi­
ckeln – das ist die erste Absicht der folgenden Überlegungen.
Die Einführung des Begriffs muss wohlüberlegt sein. Denn
gart 1990, 42 f.: „Heidegger hat den Nazismus überschätzt, und mögli­
cherweise unter Gewinn und Verlust verzeichnet, was bereits vor 33 sich
ankündigte, und wogegen er gleichwohl Widerstand bewies: den Anti­
semitismus, die Ideologie (‚Politische Wissenschaft‘), die Gewalttätig­
keit.“ In der Tat ist Heideggers Denken keine „Ideologie“ (er lehnt sie
strikt ab), obwohl es zuweilen ideologisch wird.
7
Vgl. zum Problem Wolfgang Benz: Was ist Antisemitismus? C. H.
Beck: München 2004, 9 ff.

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es ist evident, dass sie verheerende Folgen zeitigen könnte. Der
„Antisemit“ ist moralisch und politisch erledigt – zumal nach
der Shoa. Der Verdacht des Antisemitismus könnte die Heid­
eg­ger­sche Philosophie mit großer Wucht treffen. Wie kann es
sein, dass einer der größten Philosophen des 20. Jahrhunderts
nicht nur für den Nationalsozialismus, sondern auch noch für
den Antisemitismus gewesen ist? Es wird nicht leicht sein, die
Frage zu beantworten. Sie – die Frage – stigmatisiert Heid­eg­
gers Denken und stellt uns vor ein Rätsel.
Mit ihm drängt sich die weitere Frage auf, ob und inwie­
fern der Antisemitismus Heideggers Philosophie als ganze
kontaminiert. Gibt es eine antisemitische Ideologie, die das
Denken Heideggers so sehr besetzt, dass wir von einer „anti­
semitischen Philosophie“ sprechen müssten? So dass wir dann
Abstand von dieser Philosophie nehmen müssten, weil es eine
„antisemitische Philosophie“ nicht gibt und nicht geben kann?
Dass wir – nach Jahrzehnten – erkennen müssten: bei Heid­eg­
gers Denken kann es sich in der Tat nicht um „Philosophie“
handeln, auch nicht um ein „Denken“, sondern nur um eine
unheimliche Verirrung? Die Fragen müssen verneint werden.
Doch es ist kein leichter Weg bis zu dieser Antwort.
Der Begriff der „Kontamination“ ist für das Folgende
auf eine spezifische Weise wichtig. Der Antisemitismus, der
bestimmte Passagen der „Schwarzen Hefte“ befällt, kon-tami­
niert, berührt anderes mit. Die Folge ist, dass Gedanken, die
bisher als neutrale theoretische Einsichten aufgefasst wurden,
in einem anderen Licht erscheinen. Das geschieht, weil die
Kontamination die Ränder von Gedanken angreift, sie auf­
löst, verwischt. Dadurch gerät die Topographie von Heid­eg­
gers Denken ins Wanken. Die Interpretation muss sich dieser
Unsicherheit stellen. Es wird darauf ankommen, die Frage zu
beantworten, wie weit die Kontamination reicht und wie sie
einzugrenzen ist.
Das Prädikat „antisemitisch“ ist besonders gefährlich, weil
es zumeist so verwendet wird, dass es eine ideologische Kom­

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plizenschaft mit der Shoa behauptet. Führten alle Wege des
Anti­semitismus nach Auschwitz? Nein. Die Ätiologie eines
Genozids ist stets problematisch, weil vieldeutig. Heideggers
Äußerungen über die Juden können nicht mit Auschwitz ver­
knüpft werden. Allerdings – selbst wenn es keinen Hinweis
dafür gibt, dass Heidegger den „Verwaltungsmassenmord“
(Hannah Arendt) an den Juden befürwortet hätte, selbst wenn
es kein Anzeichen gibt, Heidegger hätte gewusst, was in den
Vernichtungslagern geschah, so kann niemals ganz ausge­
schlossen werden, er könnte Gewalt gegen Juden für notwen­
dig gehalten haben. Ein Denken jenseits von Gut und Böse
folgt seinen eigenen Notwendigkeiten. Dieser Möglichkeitsrest
ist das Gift, das in bestimmten Äußerungen Heideggers wirkt.
Die bisher unbekannten Äußerungen befinden sich in den
sogenannten „Schwarzen Heften“ – eine von Heidegger selbst
erfundene und verwendete Bezeichnung für 34 schwarze
Wachstuchhefte8, in denen er ungefähr zwischen 1930 und 1970
seinem Denken eine einzigartige Form gegeben hat. Sie haben
zum größten Teil einfache Überschriften wie „Über­legungen“,
„Anmerkungen“, „Vier Hefte“, „Winke“ und „Vorläufiges“.
Die Titel „Vigiliae“ und „Notturno“ sind ungewöhnlich, nicht
nur im Kontext der „Schwarzen Hefte“, sondern im gesamten
Heideggerschen Werk. Alle Hefte tragen römische Ziffern. Der
Bestand der Hefte hat sich nicht vollständig erhalten. Es fehlen
die „Überlegungen I“, das erste Heft überhaupt. Was mit den
fehlenden Aufzeichnungen geschah, ist unbekannt.
Die Reihenfolge der römischen Zählung gibt nicht unbe­
dingt die Chronologie der Entstehung wieder. Heidegger hat
teilweise gleichzeitig an mehreren Heften geschrieben. Da nur
an wenigen Stellen Korrekturen zu finden sind und die Noti­
zen sich keineswegs stets in aphoristischer Form präsentieren,
ist nicht anzunehmen, dass sie direkt ins Heft geschrieben
8
Die Zahl ergibt sich wie folgt: vierzehn Hefte mit dem Titel „Über­
legungen“, neun „Anmerkungen“, zwei „Vier Hefte“, zwei „Vigilae“, ein
„Notturno“, zwei „Winke“, vier „Vorläufiges“.

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worden sind. Vorarbeiten, die existiert haben müssen, haben
sich nicht erhalten. Die Texte, um die es geht, sind demnach
keine bloß privaten Aufzeichnungen oder gar bloße Notizen.
Es handelt sich um ausgearbeitete philosophische Schriften.
Nach Auskunft Hermann Heideggers hatte sein Vater
entschieden, dass die „Schwarzen Hefte“ als Abschluss der
Gesamtausgabe veröffentlicht werden sollten. Aus guten
Gründen ist die Entscheidung modifiziert worden. Das Manu­
skript ist zu wichtig, als dass sich seine Herausgabe dem Zufall
der Dauer anderer Editionsprojekte unterordnen ließe. Mar­
tin Heid­eg­gers Anweisung scheint die Sonderrolle des Manu­
skripts zu bestätigen. Sind die „Schwarzen Hefte“ so etwas wie
sein philosophisches Vermächtnis?
Der Status dieses einzigartigen Manuskripts im Verhältnis
zu den veröffentlichten (wie „Sein und Zeit“) und unveröffent­
lichten Abhandlungen (wie den „Beiträgen zur Philosophie“),
zu den Vorlesungen, den Aufsätzen und Vorträgen hängt von
der Beantwortung dieser Frage ab. Wäre es ein philosophisches
Vermächtnis, könnte es im Kontext aller anderen Schriften
entweder als eine Art von Destillat oder als Grundtext oder als
beides gelesen werden. Dafür spricht, dass Heidegger in den
unveröffentlichten Abhandlungen permanent auf die „Schwar­
zen Hefte“ verweist. Dagegen spricht, dass die Hefte selten die
philosophische Intensität entfalten, die z. B. die „Beiträge zur
Philosophie“ auszeichnet.
Zum Aroma der „Schwarzen Hefte“ gehört ihr einzigartiger
Stil. Hat man angenommen, die unveröffentlichten Abhand­
lungen seien esoterische Texte, dann sind die Hefte noch inti­
mere Spuren des Heideggerschen Denkens. Der Autor, der
für gewöhnlich verborgen bleibt, tritt in Form einer Persona
in Erscheinung. Aber wie ist eine Personalisierung des Textes
überhaupt möglich, wenn das Manuskript sich doch nirgend­
wo als Tagebuch oder Denktagebuch, sondern überall als die
Vergegenwärtigung des eigentlichsten Denkens darstellt? Ist
die Persona der „Schwarzen Hefte“ nicht immer noch eine

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Maske, hinter der sich der Philosoph nicht nur vor der Öffent­
lichkeit verbirgt? Hat er in den zuweilen peinlichen Parolen,
die besonders in den dreißiger Jahren auftauchen, sich nicht
auch noch vor sich selbst verborgen?
Vollendet sich Heideggers Philosophie vielleicht öffentlich­
keitsfern am Rande des Schweigens und der Stille? In einer
Nachkriegsaufzeichnung heißt es, dass eine bestimmte „Bemer­
kung bereits ihrem Wesen nach nicht mehr in die Öffentlich­
keit für Leser gesagt“ sei, „sondern dem Geschick des Seyns
selbst und dessen Stille“9 angehöre. Schreiben jenseits der Leser
für das „Geschick des Seyns selbst“? Heidegger hat dieser ex-
tremen Stilisierung schließlich – wie wir sehen werden – selbst
widersprochen.
Das wirft ein Licht auf diejenigen „Schwarzen Hefte“, die
im Folgenden berücksichtigt werden müssen. Es handelt sich
um jene Hefte, die bis 1948 entstanden sind. In ihnen kommt
Heidegger vor allem zwischen 1938 und 1941 mehr oder weni­
ger unvermittelt auf „die Juden“ zu sprechen. Sie werden in
eine seinsgeschichtliche Topographie oder Autotopographie
(weil jedem Ort ein spezifisches Selbstverhältnis entspricht)
versetzt, in der ihnen eine besondere und spezifische Bedeu­
tung zugeschrieben wird, und diese Bedeutung ist antisemiti­
scher Natur.
Heideggers antisemitische Äußerungen – eingeschrieben
in einen philosophischen Kontext – finden sich ausschließlich
in Manuskripten, die der Philosoph so lange wie möglich der
Öffentlichkeit vorenthalten wollte. Er hat seinen Antisemitis­
mus selbst noch vor den Nationalsozialisten verborgen.10 War­
9
Martin Heidegger: Anmerkungen II, 77. In: Ders.: Anmerkungen
III–V. GA 97. Hrsg. von Peter Trawny. Frankfurt am Main 2015. Für
die Zitation aller weiteren „Schwarzen Hefte“ gilt, dass die Seitenzahl
unmittelbar nach dem einzelnen Heft angegeben wird, weil das Zitieren
sich nach dessen Paginierung richtet.
10
Vgl. Holger Zaborowski: „Eine Frage von Irre und Schuld?“ Martin
Heidegger und der Nationalsozialismus. Fischer Verlag: Frankfurt am
Main 2010, 637: „Wäre Heidegger tatsächlich ein innerlich und zutiefst

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um? Weil er der Ansicht war, dass sein Antisemitismus sich
von dem der Nationalsozialisten unterschied. Das ist bedingt
richtig. Trotzdem – hier empfiehlt sich Behutsamkeit. Heid­eg­
ger hat nicht nur seinen Antisemitismus vor der Öffentlichkeit
verborgen, sondern sein Denken schlechthin: „Das Denken
im anderen Anfang ist nicht für die Öffentlichkeit“11, heißt
es schon um das Jahr 1935. Den Antisemitismus zu verbergen
fügt sich in ein Denken ein, das in der Öffentlichkeit nur ein
perfektes Verbrechen an der Philosophie erkennen konnte.
Die folgenden Überlegungen verfolgen eine Interpretation
jenseits der Apologie; einer Apologie, deren Heideggers Werk
weiterhin bedürfen wird. Sie folgen der schon angesprochenen
Bewegung einer Kontamination. Daher könnte die eine oder
andere Beurteilung einer Äußerung zu einseitig ausfallen, sie
könnte auch irren. Kommende Diskussionen mögen meine
Deutungen widerlegen oder korrigieren. Ich wäre der Erste,
der sich darüber freute.

überzeugter Antisemit im Sinne des von den Nationalsozialisten vertre­


tenen rassistischen Antisemitismus gewesen, dann hätte er in der Zeit von
1933 bis 1945 und vor allem während des Rektorats reichlich Gelegenheit
gehabt, dies auch öffentlich zu zeigen und damit den neuen Machthabern
entgegenzuarbeiten.“ Das ist ein Argument gegen einen „innerlichen und
zutiefst überzeugten Antisemitismus“. Allerdings wissen wir, inwiefern
Heidegger dazu tendierte, sein Denken von jeder Form der Öffentlich­
keit fernzuhalten. Philosophie und Öffentlichkeit schließen sich für ihn
geradezu aus. Dass er seine antisemitischen Ideen sekretierte, kann auch
in diesem Sinne verstanden werden.
11
Martin Heidegger: Überlegungen VI, 14. In: Ders.: Überlegungen II–
VI. GA 94. Hrsg. von Peter Trawny. Frankfurt am Main 2014.

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Seinsgeschichtliche Landschaft

In den Jahren nach „Sein und Zeit“ befand sich Heidegger in


einer philosophischen Krise. Sie machte sich in vielerlei Hin­
sichten bemerkbar. Es ist nicht nur das Zurückhalten des im
§ 8 von „Sein und Zeit“ angekündigten zweiten Teils zu nen­
nen. Bereits der dritte Abschnitt des ersten Teils wurde nur
in Form einer Vorlesung im Sommer 1927 nachgereicht. Was
danach in den Vorlesungen dargestellt wird, sind tastende Ver­
suche. Das Projekt einer „absoluten Wissenschaft vom Sein“1
wird nicht realisiert. Ebenso bleibt das Unternehmen einer
„Metontologie“2 eine gerade einmal begonnene Baustelle. Die
daran anknüpfende Ausarbeitung einer Metaphysik der Frei­
heit3 bleibt rudimentär.
Da kommt dem Philosophen ein Narrativ 4 entgegen, das
1
Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie. GA 24.
Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt am Main 1975,
15.
2
Martin Heidegger: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Aus­
gang von Leibniz. GA 26. Hrsg. von Klaus Held. Frankfurt am Main
2/1990, 199.
3
Martin Heidegger: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. GA 31.
Einleitung in die Philosophie. Hrsg. von Hartmut Tietjen. Frankfurt am
Main 1982.
4
Ich bevorzuge den Begriff des „Narrativs“ und halte den der
„Remythisierung“ für unpassend. Heidegger war nicht daran interes­
siert, eine „neue Mythologie“ zu stiften – selbst wenn er in späteren
Manuskripten den Begriff der „Mytho-logie des Ereignisses“ (Martin
Heidegger: Zum Ereignis-Denken. GA 73.2. Hrsg. von Peter Trawny.
Frankfurt am Main 2013, 1277) zu restituieren scheint. In „Überlegun­
gen (II) und Anweisungen“ heißt es: „Schon gar nicht aber, wie seit
langem hilft die Verweisung an irgendeine höhere und höchste Wirk-

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sein Denken nachgerade revolutioniert. Die Philosophie
schien in unlebendigen Positionen zu erstarren. „Sein und
Zeit“ war zwar ein akademischer Erfolg, doch das bedeutete
nicht etwa, dass die akademische Philosophie als ganze in
Bewegung geraten wäre. Die unaufhörliche Zerstreuung der
akademischen Forschung wurde von Heidegger mit wach­
sender Ungeduld wahrgenommen. Die Zeit selbst war in eine
Wirtschaftskrise geraten. So konnte es nicht weitergehen.
Politische Veränderungen kündigten sich zunächst zaghaft,
dann mit Gewalt an.
Bereits in „Sein und Zeit“ hatte der Philosoph erläutert, was
er unter „Geschick“5 verstand. „Geschick“ sei das „Geschehen
der Gemeinschaft des Volkes“. Im „Miteinandersein in der­
selben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte Mög­
lichkeiten“ seien die Lebenswege der Einzelnen „im vorhinein
schon geleitet“. „In der Mitteilung und im Kampf“ werde die
„Macht des Geschickes erst frei“. Dieses sei die „einzige Auto­
rität, die ein freies Existieren“6 haben könne. Für Heidegger war
das „eigentliche Dasein“ stets einem solchen „Geschick“ aus­
gesetzt. Das Ausbleiben des „Geschicks“ hätte er für eine Ver­
fallsform des „Daseins“ gehalten. Später, nach 1945, musste er im
„Nihilismus“ gerade das konstatieren: das „Ungeschichtliche“
des „Amerikanismus“7, die Zerstörung jeglichen „Geschicks“.
Als daher alles auf ein Ende zulief, begann Heidegger den
„Anfang“ zu finden. Bereits im Winter 1931/32 hält er eine
Vorlesung, in der es ihm um den „Anfang der abendländi­

lichkeit – Christentum –; erdachter Mythos irgendwelcher Art –; […].“


Martin Heid­egger: Winke x Über­legungen (II) und Anweisungen, 84.
In: Ders.: Überlegungen II–VI. GA 94. A.a.O. Die erwähnte „Mytho-
-logie des Ereignisses“ muss am Anfang einer Thematisierung stehen,
die dem narrativen Charakter der Seinsgeschichte nachspürt.
5
Martin Heidegger: Sein und Zeit. GA 2. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm
von Herrmann. Frankfurt am Main 1977, 508.
6
Ebd., 516.
7
Martin Heidegger: Hölderlins Hymne „Der Ister“. GA 53. Hrsg. von
Walter Biemel. Frankfurt am Main 1984, 179.

18

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schen Philosophie“ und dem darin angelegten Verständnis der
„Wahrheit“8 geht. In der ersten Hälfte der Vorlesung interpre­
tiert Heidegger Platons Höhlengleichnis öffentlich zum ersten
Mal. Im Verlauf dieser Deutung betont Heidegger, dass „heu­
te zwar Gift und Waffen zum Töten bereit“ seien (Heidegger
bezieht sich auf den Tod des Sokrates durch das Schierlings­
gift), doch „der Philosoph“ fehle. „Heute“ gebe es „überhaupt
nur, wenn es hoch kommt, mehr oder minder gute Sophisten“,
„die allenfalls einem Philosophen, der kommen soll, den Weg
bahnen“ 9 können. Ende und Anfang verbinden sich mit dem
Kommen eines Philosophen, einer Philosophie jenseits der
Sophisterei des akademischen Alltags.
Doch die eigentliche Vorlesung des Anfangs ist die im Som­
mer 1932. Heidegger hat später darauf hingewiesen, dass „seit
dem Frühjahr 1932“ „in den Grundzügen der Plan“ feststand,
„der in dem Entwurf ,Vom Ereignis‘ seine erste Gestalt“10
gewonnen habe. Diese Vorlesung, bemerkenswerterweise eine
Anaximander- und Parmenides-Auslegung, beginnt mit einer
Beschwörung des Narrativs: „Unser Auftrag: der Abbruch des
Philosophierens? D. h. das Ende der Metaphysik aus ursprüng­
lichem Fragen nach dem ,Sinn‘ (Wahrheit) des Seyns. / Wir
wollen den Anfang der abendländischen Philosophie aufsu­
chen […].“11 Was Heidegger fand, war das Narrativ eines Endes
und eines Anfangs, das er mindestens anderthalb Jahrzehnte
als die „Seinsgeschichte“ immer wieder bedenken konnte.
Der Aufbruch, der seine Philosophie in diesem Moment
elektrisierte, war die Möglichkeit, sie nicht mehr als eine Her­
8
Martin Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlen­
gleichnis und Theätet. GA 34. Hrsg. von Hermann Mörchen. Frankfurt
am Main 1988, 10.
9
Ebd., 85.
10
Martin Heidegger: Besinnung. GA 66. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm
von Herrmann. Frankfurt am Main 1997, 424.
11
Martin Heidegger: Der Anfang der abendländischen Philosophie.
Auslegung des Anaximander und Parmenides. GA 35. Hrsg. von Peter
Trawny. Frankfurt am Main 2012, 1.

19

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meneutik historisch kanonisierter Texte oder einer historisch
kanonisierten Welt zu betreiben, sondern unter entscheiden­
der Einbeziehung von „Sein und Zeit“ sein Denken mit dem
gesamten Verlauf einer im Kern revolutionären Europäischen
Geschichte zu verknüpfen. Der Anfang, den Heidegger immer
mehr im vorsokratischen Denken bei Anaximander, Hera­
klit und Parmenides fand, war zu einem Ende gekommen.
„Sophisten“ versuchten müde, sich gegenseitig zur Übernahme
ihrer historisch versteinerten Positionen zu überreden, und er
selbst schien einer der ihren geworden zu sein. Zudem war die
politische Lage brisant. Da drängte sich der Eindruck auf, die
Figur des Anfangs müsse wiederholt werden. Was Heidegger
philosophisch zur Sprache brachte, beschränkte sich nicht auf
sein Denken, sondern ereignete sich plötzlich weltgeschicht­
lich, und das konnte – so schien es ihm – kein Zufall sein.
In der eben zitierten Passage vom Beginn der Sommervor­
lesung 1932 befindet sich ein Verweis auf die „Überlegungen
II“, d. h. auf das erste erhaltene „Schwarze Heft“. Dort wird
der Gedanke eines Abbruchs der Philosophie durchgespielt:
„Müssen wir heute am Ende mit dem Philosophieren abbre-
chen - weil Volk und Rasse ihm nicht mehr gewachsen und
seine Kraft dadurch nur noch mehr zerfasert und zur Unkraft
herabgesetzt wird. / Oder ist das Abbrechen gar nicht erst nötig,
da doch schon lange kein Geschehnis mehr?“12 Die Alterna­
tive ist folgende: mit der Philosophie muss entweder gebro­
chen werden, weil sie in der End-Situation einer bestimmten
schwächelnden Geschichte steht, oder weil sie selbst bereits so
geschwächt ist, dass ein Weitermachen sich ausschließt. Letzt­
lich kommt beides zusammen: die akademische Philosophie
der Zeit war schwach wie diese selbst.13

12
Heidegger: Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, 89. In:
Ders.: Überlegungen II–VI. GA 94. A.a.O.
13
Was hier einsetzt, ist die „Metapolitik“. Dieser Begriff muss in sei­
ner besonderen Bedeutung für Heidegger neu beurteilt werden. Vgl. im
Übrigen zur „Politik“ in der NS-Zeit bei Heidegger Christian Som-

20

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Eine Konsequenz konnte die „Flucht in den Glauben oder
irgend eine wilde Blindheit“ sein, unter der Heidegger „Ratio­
nalisierung oder Technisierung“ versteht. Das und der „Glau­
be“ war natürlich abzulehnen. Der „Abbruch“ musste anders
geschehen. Denn er müsse „ebenso vollzogen werden wie der
Anfang – so daß dieses Aufhören ein eigenstes Geschehen
und letzte Anstrengung werden müßte –“. So wie der Anfang
verwirklicht werden muss, so der „Abbruch“. „Abgebrochen
und be-endet“ werden aber müsse „nur jenes anfangsarme
Sichverlaufen der Geschichte der ,nachgriechischen‘ Philoso­
phie“. Aus diesem „Geschehnis“ könne dann eine „Eröffnung
des Anfangs“, ein „Wiederanfangen“, entstehen. Das Narrativ
des „ersten“ und „anderen Anfangs“ – akzentuiert durch einen
„Abbruch“ – war gefunden.14

mer: Heidegger 1933. Le programme platonicien du Discours de recto-


rat. Hermann Éditeurs: Paris 2013, Zaborowski: „Eine Frage von Irre
und Schuld?“ Martin Heidegger und der Nationalsozialismus. A.a.O.,
Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus
in die Philosophie. Matthes & Seitz: Berlin 2009, Heidegger à plus for­
te raison. Éditions Fayard: Paris 2007, Tom Rockmore: On Heidegger’s
Nazism and Philosophy. University of California: Berkeley 1992. Sowie
auch den wichtigen Aufsatz von Donatella di Cesare: Heidegger, das
Sein und die Juden. In: Information Philosophie, 2/2014, S. 8–21. Mein
Aufsatz versteht sich nicht als eine allgemeine Auseinandersetzung mit
Heideggers Parteinahme für und Lösung vom Nationalsozialismus. Es
geht mir wie di Cesare um den Antisemitismus, der allerdings als eine
wichtige Dimension des ganzen Kontexts betrachtet werden muss.
14
Die These, das Verhältnis des „ersten“ zum „anderen Anfang“ würde
Heideggers Denken bis 1945 bewegen, muss differenziert werden. Dass
ein Manuskript wie das der „Beiträge zur Philosophie“ von diesem Ver­
hältnis bestimmt wird, ist deutlich. Doch in den Schriften nach 1940 ver­
schwindet die Rede vom „anderen Anfang“ wenn nicht abrupt, so doch
mehr und mehr. So wird der Gedanke im Manuskript „Das Ereignis“ von
1941/42 bereits anders akzentuiert. So heißt es einmal: „Die Erfahrung
des Anfangs als Untergang.“ Martin Heidegger: Das Ereignis. GA 71.
Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt am Main 2009,
280. Hier macht sich die konkrete Erfahrung der Geschichte geltend. Der
Verlauf des Krieges ist bedrohlich. Der „Untergang“ als onto-tragische
Bewegung wird nun immer wichtiger.

21

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Es ist das Narrativ der „Geschichte des Seyns“, die Heid­
egger einmal so zusammenfasst: „Erster Anfang: Aufgang,
(Idee), Machenschaft. / Anderer Anfang: Ereignis.“ Das Ganze
sei „das Seyn“15. Das Narrativ verbindet zwei Anfänge und ein
Ende, das als „Machenschaft“ bezeichnet wird. Die „Machen­
schaft“ ist die an ihr Ende kommende „Metaphysik“, die im
„Ereignis“ über- bzw. verwunden wird. Das ist eine annähern­
de Bestimmung. Das „Ereignis“, das Heidegger auf verschie­
denen Wegen ausdenkt, kann nicht mit einem Wort ausgesagt
werden, wenn es überhaupt ausgesagt werden kann.16
Diese Struktur der Seinsgeschichte, dieses Narrativ, ist
ambivalent. Eine Version der Erzählung entfaltet sich im Ver­
hältnis von Ursprung und Ab- bzw. Verfall, wobei der Ver­
fall die Möglichkeit einer spezifischen Wiederholung des
Ursprungs nicht zerstört, aber verdeckt und verweigert. In
diesem Sinne verstellt die „Machenschaft“ als Endform der
Metaphysik die Einkehr in einen Ort, an dem die „Wahrheit
des Seyns“ womöglich nicht nur als verweigerte, sondern als
rein geschehende erfahren werden kann. Von diesem Gedan­
ken aus ist es nur ein kleiner Schritt zu einer Denkweise, die als
seinsgeschichtlicher Manichäismus bezeichnet werden kann.17
Die „Machenschaft“, d. h. die neuzeitliche Technik, wird
gleichsam zu einem Feind der Eröffnung jenes anderen Ortes.
Die „Machenschaft“ muss verschwinden, muss sich zerstören,
damit das Andere – verstellt oder offen – geschehen kann. Um
das Jahr 1941 meint Heidegger, dass „aller Imperialismus“ –
d. h. die politische Dynamik aller Kriegsgegner – „zu einer
15
Martin Heidegger: Die Geschichte des Seyns. 1. Die Geschichte des
Seyns. 2. κοινόν. Aus der Geschichte des Seyns. GA 69. Hrsg. von Peter
Trawny. Frankfurt am Main 2/2012, 27.
16
Vgl. Peter Trawny: Adyton. Heideggers esoterische Philosophie. Mat­
thes & Seitz: Berlin 2010, 94ff.
17
Ich bin mir der Problematik des Begriffes bewusst. Der Manichäismus
behauptet die kämpferische Trennung zweier unversöhnlicher „Prinzi­
pien“ von Finsternis und Licht. Zuweilen analog dazu trennt Heidegger
das „Seyn“ vom „Seienden“ (im „Seyn“ gibt es dann „Seyendes“).

22

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höchsten Vollendung der Technik getrieben“ werde. Er sieht
den „letzten Akt“ des Geschehens voraus, „daß sich die Erde
selbst in die Luft sprengen und das jetzige Menschentum ver­
schwinden“ werde. Das aber sei „kein Unglück, sondern die
erste Reinigung des Seins von seiner tiefsten Verunstaltung
durch die Vormacht des Seienden“18.
Die Verwendung des Wortes „Reinigung“ ist mehrdeutig:
1. die „Reinigung“ ist die κάθαρσις, Element eines onto-tragi­
schen Denkens bei Heidegger, in dem das Sein selbst als tragisch
betrachtet wird. Im Kontext der Tragödie spielt die κάθαρσις
in der „Poetik“ (1449b27) des Aristoteles eine wichtige Rol­
le. Übermäßige Anfälle von Jammern und Schaudern führen
zur Reinigung von eben solchen Erregungen. Die κάθαρσις als
heilige Handlung ist jedoch älter19 ; 2. die „Reinigung“ ist die
Befreiung von einer Verunreinigung, von einem Schmutz, der
mit dem „Seienden“ als Stoff, als Materie identifiziert werden
könnte. Dieser Gedanke erinnert an den Neoplatonismus, der,
grob gesagt, das Üble im Stoff als solchen erkennt; 3. die „Rei­
nigung“ ist die Vernichtung eines fremden Körpers, der die
mögliche Reinheit des Eigenen verhindert. Diese Reinigung
als eine des Seienden lehnt Heidegger ab. Doch es wird zuletzt
zu fragen sein, ob er der Ideologie dieser Reinigung ganz ent­
kommen konnte.
Es scheint demnach um „Entscheidungen zwischen dem
Seienden und dem Seyn“20 zu gehen – als bilde der Unterschied
zwischen dem „Seyn“ und dem „Seienden“ eine Alternative.

18
Martin Heidegger: Überlegungen XIV, 113. In: Ders.: Überlegungen
XII–XV. GA 96. A.a.O.
19
Vgl. Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassi­
schen Epoche. Verlag W. Kohlhammer: Stuttgart etc. 1977, 129–142.
20
Martin Heidegger: Überlegungen X, 40. In: Ders.: Überlegungen
VII–XI. GA 95. Hrsg. von Peter Trawny. Frankfurt am Main 2014. Vgl.
auch Martin Heidegger: Überlegungen XIII, 28. In: Ders.: Überlegun­
gen XII–XV. GA 96. Hrsg. von Peter Trawny. Frankfurt am Main 2014:
„Und alle Zugehörigen wissen die eine Entscheidung: wessen die Herr­
schaft sein wird, des Seienden oder des Seyns.“

23

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Es lässt sich beobachten, dass sich dieses Narrativ, seine Atmo­
sphäre, am Ende der dreißiger Jahre in Heideggers Denken
intensiviert. Die Intensität der vermeintlichen „Entscheidung“,
die auf eine Befreiung des „Seyns“ hinauslaufen soll, führt zu
einer umso stärkeren Abhängigkeit, je radikaler Heidegger die
Befreiung beschwört.21 In diesem Denken hat der Weltkrieg
seine Spur hinterlassen. In einer anderen, späteren Version des
Heideggerschen Technik-Denkens enthält das „Ge-Stell“22
selbst die Möglichkeit eines gewandelten Verhältnisses zu ihm.
Der seinsgeschichtliche Manichäismus wird zurückgenommen,
der Unterschied von „Seyn“ und „Seiendem“ ist keine Alterna­
tive mehr, die Technik als „Feind“ verschwindet, obwohl auch
hier noch der Philosoph von ihrer „Verwindung“23 spricht.
Ein weiteres Beispiel für den seinsgeschichtlichen Manichä­
ismus bietet eine Aufzeichnung aus den „Überlegungen IX“,
irgendwann um 1938 entstanden. Heidegger bemerkt, dass
„jetzt zuweilen der zweite Weltkrieg in den Gesichtskreis der
Menschen“ rücke, es jedoch so scheine, „als ob zum anderen
Male die eigentliche Entscheidung nicht errechnet werden“
könne. Denn die „Entscheidung“ laute „keinesfalls: Krieg oder

21
Heidegger kennt dieses Problem, wenn er schreibt: „Wie furchtbar
kann die Sklaverei werden, die aus der unmittelbaren Abhängigkeit
aufsteht, in die notwendig alle Gegnerschaft und Bekämpfung gerät?“
Martin Heidegger: Überlegungen IV, 93. In: Ders.: Überlegungen II–VI.
GA 94. A.a.O. Auf Heideggers eigentümliche Alternative von „Seyn“
und „Seiendem“ bezogen ließe sich sagen, dass das „Seyn“ umso mehr
in die Abhängigkeit vom „Seienden“ gerät, je stärker es von diesem abge­
setzt wird. „Gelassenheit“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass
Heid­eg­ger das Verhältnis von „Seyn“ und „Seiendem“ befriedet, indem
er es entspannt.
22
Vgl. die Formulierung, nach der das „Ge-Stell“ als das „Vorspiel“ des
„Er-eignisses“ gedacht werden könnte. Martin Heidegger: Der Satz der
Identität. In: Ders.: Identität und Differenz. GA 11. Hrsg. von Friedrich-
Wilhelm von Herrmann. Frankfurt am Main 2006, 45 f.
23
Martin Heidegger: Leitgedanken zur Entstehung der Metaphysik, der
neuzeitlichen Wissenschaft und der modernen Technik. GA 76. Hrsg.
von Claudius Strube. Frankfurt am Main 2009, 363.

24

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Frieden, Demokratie oder Autorität, Bolschewismus oder
christliche Kultur – sondern: Besinnung und Suche der anfäng­
lichen Ereignung durch das Seyn oder Wahn der endgültigen
Vermenschung des entwurzelten Menschen“ 24. Doch womög­
lich sei der Mensch nicht nur „entscheidungsunfähig“, sondern
„entscheidungsunbedürftig“ geworden. Denn die „Genüg­
samkeit des Menschen“ steigere sich nur noch „an seiner Ver­
gnüglichkeit (in der Biederkeit und Gewalttätigkeit einträchtig
zusammengehen) zum Riesenhaften“ auf. Das Entweder-Oder
kann extremer kaum gedacht werden. Es entfaltet sich zwi­
schen dem Denken der Freiheit eines im „Seyn“ wohnenden
„Da-seins“ oder dem bloßen Dahinvegetieren eines sich den
Funktionen der modernen Gesellschaft, d. h. des „Seienden“,
ganz integrierenden Lebewesens.25 In einer solchen Alternative
kann es nur eine Gewaltentscheidung geben. Wer diese Ent­
scheidung ignoriert, ist einem „Wahn“ verfallen.
Es gibt kein Narrativ ohne Haupt- und Nebenrollen der
Akteure. Wir hörten bereits, dass Heidegger von „Volk und
Rasse“ spricht, eine Formulierung, die er in den Vorlesungen
vor 1933 verschweigt. Bereits vorher erschien im Manuskript
gleichsam wie aus dem Nichts der assertorische Satz: „Der
Deutsche allein kann das Sein ursprünglich neu dichten und
sagen – er allein wird das Wesen der θεωρία neu erobern und
endlich die Logik schaffen.“26 Das Narrativ hat am Anfang

24
Martin Heidegger: Überlegungen IX, 16 f. In: Ders.: Überlegungen
VII–XI. GA 95. A.a.O.
25
Die zweite Alternative erinnert an die seinsgeschichtliche Figur des
von Nietzsche sogenannten „letzten Menschen“ (vgl. Friedrich Nietz­
sche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Kritische
Studienausgabe. Bd. 4. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari.
Dtv und De Gruyter Verlag: München und Berlin 1980, 19). Überhaupt
ist auf eine gewisse Weise in den „Überlegungen“ kein Philosoph so prä­
sent wie Nietzsche. Heidegger scheint zuweilen mit der Stimme Nietz­
sches sprechen zu wollen, indem er sie noch zu übertreffen versucht.
26
Heidegger: Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, 30. In:
Überlegungen II–VI. GA 94. A.a.O.

25

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zwei Hauptakteure: „die Griechen“ und „die Deutschen“ ver­
körpern in chiasmischer Weise jeweils zugleich Anfang und
Ende. „Die Griechen“ haben den „Anfang der abendländischen
Philosophie“ markiert. Wenn dieser Anfang in sein Ende über­
geht, haben sie selbst auf hier nicht weiter zu entwickelnde Art
und Weise Anteil daran. „Die Deutschen“ wiederum befin­
den sich an der Stelle, wo dieses Ende geschieht, indem es im
„Abendland“ ankommt. Ein Ende kann sich in der Geschichte
aber nur ereignen, wo ein Anfang geschieht.
Da alles Denken in diesem Ende einbegriffen ist, ist es das
„deutsche Denken“ schlechthin, das ein solches Ende emp­
fängt. Doch indem „die Deutschen“ den Anfang bei „den
Griechen“ zu durchschauen beginnen, sind sie es, die nun den
Anfang anders zu wiederholen vermögen. Was Heidegger von
den Deutschen erwartet, ist ein zunächst rein philosophisches
Vorhaben, das „Wesen der θεωρία“ erneut zu verwirklichen
sowie „die Logik“ – d. h. eine andere θεωρία und eine ande­
re Logik als die bisherige, neuzeitliche – zu schaffen – Pro­
jekte, die die Nationalsozialisten gewiss für abstrus gehalten
hätten, wären sie überhaupt daran interessiert gewesen. Um
aber diese Projekte zu realisieren, müsse erst das Ende bereitet
werden: „Die Größe des Untergangs wäre erreicht – nicht als
eines Unwertigen – sondern als Ergreifen und Ausharren im
innersten und äußersten Auftrag des Deutschen.“, heißt es als
Abschluss jener Überlegung zum Abbruch der Philosophie.
Der „Untergang“ ist das Ende, das sich als „Auftrag des Deut­
schen“ zu erkennen gibt. Es ist die Form des „Abbruchs“, die
das Ende wissentlich verwirklichen würde – und nicht einfach
passieren ließe. Auf diesen „Auftrag“ des „Untergangs“ wird
Heidegger später immer wieder zurückkommen.
Heidegger sah nun die Landschaft seines Denkens vor sich.
„Die Griechen“ – der „erste Anfang“: „Die Deutschen“ – der
„andere Anfang“. In dieses Verhältnis wurde fortan alles ein­
geschrieben, was das Mittelalter, die Neuzeit und die Moder­
ne hervorgebracht hatten. Und alles, was auf der Bühne der

26

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Geschichte erschienen war, wurde bestimmten Protagonisten
zugeschrieben. Zunächst waren es „die Römer“, dann „die
Christen“ und darunter vor allem „die Jesuiten“, aber auch
die „Protestanten“ und „Katholiken“, dann „die Russen“ bzw.
das „Russentum“, das „Chinesentum“, „die Engländer“, „die
Franzosen“, „die Amerikaner“ bzw. der „Amerikanismus“, die
„Europäer“, „die Asiaten“. All diese Kollektive werden im Ver­
hältnis des „ersten“ zum „anderen Anfang“ lokalisiert. Auch
„die Juden“ kamen hinzu.
Für uns ist heute ist der Gebrauch solcher Kollektiv­begriffe
problematisch geworden. Ihn zu jener Zeit bei Heidegger zu ver­
urteilen, ist aber anachronistisch.27 Er war üblich. So drückt sich
im Jahre 1915 Hermann Cohen in seinem Aufsatz „Deutschtum
und Judentum“ in dieser Hinsicht kaum anders aus als später
Heidegger. Wie Deutsche allgemein den Juden Eigenschaften
zuschrieben, so Juden den Deutschen.28 Das Ende des Dritten

27
„Freilich, die Schwierigkeiten der Verallgemeinerung, wenn wir ,die
Deutschen‘ und ,die Juden‘ sagen, schrecken den Betrachter ab. In Zei­
ten des Konfliktes sind solche Spezies dann leicht zu handhaben. So
fragwürdig solche allgemeinen Kategorien sind, es hat das ihren stimm­
kräftigen Gebrauch niemals gehindert.“ Gershom Scholem: Juden und
Deutsche. In: Judaica 2. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1970, 20 f.
Im Folgenden werde ich mir die Anführungszeichen sparen. Der Grund
dafür ist der, dass noch nicht entschieden ist, ob wir gänzlich auf Kollek­
tivbegriffe verzichten können. Denn noch die völlige Individualisierung
braucht einen allgemeinen Horizont, von dem sie ausgeht. Solange wir
noch nicht von einer echten Auflösung der kollektiven Identitäten ausge­
hen können, bleiben Kollektivbegriffe ambivalent in Geltung. Das Weg­
lassen der Anführungszeichen will diese Ambivalenz nicht bestreiten,
doch sie dient in einem Text, der vor Anführungszeichen nur so strotzt,
der Lesbarkeit.
28
Hermann Cohen: Deutschtum und Judentum. In: Deutschtum und
Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland. Hrsg. von Christoph
Schulte. Reclam Verlag: Stuttgart 1993, 52: „Die Menschheit des Deutsch-
tums allein ruht auf dem Grunde einer Ethik. […] An diesem Hauptpunk­
te sollte nun wiederum jedermann die innere Gemeinschaft zwischen
Deutschtum und Judentum fühlen. Denn der Begriff der Menschheit hat
seinen Ursprung im Messianismus der israelitischen Propheten.“

27

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Reichs war das Ende dieser Kollektiv­begriffe – und damit auch
jenes Heideggerschen Narrativs, das sich auf die Polarität zwi­
schen „den Deutschen“ und „den Griechen“ stützte.
Alles, was Heidegger mit dem Nationalsozialismus verband,
entstammt dem Narrativ des „ersten Anfangs“ bei den Griechen
und des „anderen Anfangs“ bei den Deutschen. Diese Erzäh­
lung bildet den Grund dafür, dass Heidegger die „nationale
Revolution“29 begrüßte und sich in ihren Dienst stellte. Mit ihr
verband er einen „geistigen Nationalsozialismus“30, den er früh
von einem „,Vulgärnationalsozialismus‘“31 unterschied. Sie war
es auch, die ihn bis ganz zuletzt, bis zur „Kapitulation“32, trotz
aller philosophischer Distanzierung, loyal bleiben ließ. Zwar
nicht „unmittelbar“, jedoch „mittelbar“ – so Heidegger – hän­
ge sein Denken mit dem Nationalsozialismus zusammen, da
sie „zugleich in verschiedener Weise auf eine Entscheidung
über das Wesen und die Bestimmung der Deutschen und damit
[über] das Geschick des Abendlandes“33 drängten. Die Revo­
lution, sie war von Anfang an für Heidegger genau das: der
Auftrag „der Deutschen“, das „Geschick des Abendlandes“
zu wenden. Der Abschied fiel schwer, und nur langsam fand

29
Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Bd. I.
Triumph. Erster Halbband 1932–1934. Süddeutscher Verlag: München
1965, 240. In der berühmten Rede von Otto Wels, in der er das Ermächti­
gungsgesetz der Nationalsozialisten im März 1933 ablehnt, heißt es: „Die
Herren von der Nationalsozialistischen Partei nennen die von ihnen ent­
fesselte Bewegung eine nationale Revolution, nicht eine nationalsozialis­
tische.“ Ich erwähne das nur deshalb, weil Heidegger mit seinem Narra­
tiv von den beiden Anfängen bei Griechen und Deutschen gewiss leichter
an einer „nationalen“ als an einer „nationalsozialistischen Revolution“
anschließen konnte.
30
Martin Heidegger: Überlegungen und Winke III, 42. In: Ders.: Über­
legungen II–VI. GA 94. A.a.O.
31
Ebd., 52.
32
Martin Heidegger: Zum Ereignis-Denken. GA 73. 1. Hrsg. von Peter
Trawny. Frankfurt am Main 2013, 848.
33
Martin Heidegger: Überlegungen VII, 24. In: Ders.: Überlegungen
VII–XI. GA 95. A.a.O.

28

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Heid­egger zu einem Denken, das sich vom Traum einer welt­
geschichtlichen deutschen Revolution befreite.
Zugleich war es allerdings dieses Narrativ, das Heidegger
erlaubte, sich weit vom realen Nationalsozialismus zu entfer­
nen. Ende der dreißiger Jahre wurde die Kritik an ihm immer
heftiger: an der Verabsolutierung des Rasse-Begriffs, am Biolo­
gismus im Allgemeinen, an der Technisierung des Landes, am
Imperialismus, schließlich auch am Nationalismus. Selbst noch,
dass Heidegger diese Kritik in den philosophischen Gedanken
der „Überwindung der Metaphysik“ transformieren konnte,
d. h. in die Überwindung des Nationalsozialismus als der letz­
ten – notwendigen34 – Gestalt der abendländischen Metaphysik,
war eine Folge des produktiven Narrativs. Was sich also begab,
war eine Verschiebung in Heideggers Verhältnis zum National­
sozialismus: der ersten Phase seines Eintretens für den Natio­
nalsozialismus, die er in einer Bemerkung auf die „Jahre 1930–
1934“35 festlegt und die mit der Hoffnung auf eine unmittelbar
revolutionäre Realisierung des „anderen Anfangs“ zusammen­
hängt, folgt eine zweite im Hinblick auf „die Notwendigkeit
seiner Bejahung und zwar aus denkerischen Gründen“36, d. h.
34
So ist m. E. Heideggers berühmte Bemerkung in der „Einführung in
die Metaphysik“ über „die innere Wahrheit und Größe dieser Bewegung
[des Nationalsozialismus, P. T.] (nämlich der Begegnung der planetarisch
bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen)“ zu verstehen.
Der Nationalsozialismus war notwendig für den Übergang in den „ande­
ren Anfang“. Vgl. Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik.
GA 40. Hrsg. von Petra Jaeger. Frankfurt am Main 1983, 208. Allerdings
kommt die Formulierung bereits in der Vorlesung vom WS 1934/35 über
Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ vor. Dass Heid­eg­
ger zu dieser Zeit bereits die volle seinsgeschichtliche Interpretation des
Nationalsozialismus kannte, ist unwahrscheinlich. Die „innere Wahrheit
und Größe des Nationalsozialismus“ Anfang 1935 bestand darin, dem
Narrativ des „ersten“ und „anderen Anfangs“ im Verhältnis von Grie­
chen und Deutschen zu dienen.
35
Martin Heidegger: Überlegungen XI, 76. In: Ders.: Überlegungen
VII–XI. GA 95. A.a.O.
36
Ebd. Dass Heidegger hier die „denkerischen Gründe“ betont, kann
nur so verstanden werden, dass er von „1930–1934“ anscheinend politi­

29

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in der Ansicht, der Nationalsozialismus sei zwar ein ganz und
gar der „Machenschaft“ verfallener, aber doch für die „Über­
windung der Metaphysik“ (eine andere Formulierung für den
„anderen Anfang“) notwendiger Abschnitt der Geschichte.
Wie in dieser seinsgeschichtlichen Topographie die Juden
vorkommen, ist eine Frage, die bisher noch nicht beantwortet
werden konnte.

sche Gründe verfolgte. Das aber ist ohne Zweifel bereits eine Selbstaus­
legung, die mit Zurückhaltung betrachtet werden muss.

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Typen des seinsgeschichtlichen Antisemitismus

Der Antisemitismus ist der Brennpunkt seiner verschiede­


nen Formen. Was Heidegger betrifft, so finden sich in den
„Schwarzen Heften“ drei Bemerkungen, die auf drei verschie­
dene in sich kohärente Typen eines seinsgeschichtlichen Antise-
mitismus schließen lassen. Der Begriff des seinsgeschichtlichen
Antisemitismus soll keineswegs besagen, dass wir es mit einem
besonders elaborierten oder raffinierten Antisemitismus zu
tun hätten. Heidegger hat sich im Grunde auf bestimmte all­
gemein bekannte Formen bezogen. Allerdings hat er sie philo­
sophisch, d. h. seinsgeschichtlich, interpretiert. Die drei Typen
dieses Antisemitismus‘ zeichnen sich in den folgenden Bemer­
kungen ab:

„Die zeitweilige Machtsteigerung des Judentums aber hat dar­


in ihren Grund, daß die Metaphysik des Abendlandes, zumal
in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das
Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechen­
fähigkeit, die sich auf solchem Wege eine Unterkunft im ,Geist‘
verschaffte, ohne die verborgenen Entscheidungsbezirke von
sich aus je fassen zu können. Je ursprünglicher und anfäng­
licher die künftigen Entscheidungen und Fragen werden, um
so unzugänglicher bleiben sie dieser ,Rasse‘. (So ist Husserls
Schritt zur phänomenologischen Betrachtung unter Abset­
zung gegen die psychologische Erklärung und historische Ver­

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rechnung von Meinungen von bleibender Wichtigkeit – und
dennoch reicht sie nirgends in die Bezirke wesentlicher Ent­
scheidungen, setzt vielmehr die historische Überlieferung der
Philosophie überall voraus; die notwendige Folge zeigt sich
alsbald im Einschwenken in die neukantische Transzendental­
philosophie, das schließlich einen Fortgang zum Hegelianis­
mus im formalen Sinne unvermeidlich machte. Mein ,Angriff‘
gegen Husserl ist nicht gegen ihn allein gerichtet und über­
haupt unwesentlich – der Angriff geht gegen das Versäum­
nis der Seinsfrage, d. h. gegen das Wesen der Metaphysik als
solcher, auf deren Grund die Machenschaft des Seienden die
Geschichte zu bestimmen vermag. Der Angriff gründet einen
geschichtlichen Augenblick der höchsten Entscheidung zwi­
schen dem Vorrang des Seienden und der Gründung der Wahr­
heit des Seyns.)“1

„Die Juden ,leben‘ bei ihrer betont rechnerischen Begabung


am längsten schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich
auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung
zur Wehr setzen. Die Einrichtung der rassischen Aufzucht
entstammt nicht dem ,Leben‘ selbst, sondern der Übermäch­
tigung des Lebens durch die Machenschaft. Was diese mit
solcher Planung betreibt, ist eine vollständige Entrassung der
Völker durch die Einspannung derselben in die gleichgebaute
und gleichschnittige Einrichtung alles Seienden. Mit der Ent­
rassung geht eine Selbstentfremdung der Völker in eins – der
Verlust der Geschichte – d. h. der Entscheidungsbezirke zum
Seyn.“2

1
Martin Heidegger: Überlegungen XII, 67. In: Ders.: Überlegungen
XII–XV. GA 96. A.a.O.
2
Ebd., 82.

32

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3

„Auch der Gedanke einer Verständigung mit England im


Sinne einer Verteilung der ,Gerechtsamen‘ der Imperialismen
trifft nicht ins Wesen des geschichtlichen Vorgangs, den Eng­
land jetzt innerhalb des Amerikanismus und des Bolschewis­
mus und d. h. zugleich auch des Weltjudentums zu Ende spielt.
Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische,
sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschen­
tümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung
alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche ,Aufgabe‘
übernehmen kann.“3

zu 1

In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, ungefähr um


1937, in den „Überlegungen VIII“, tauchen die Juden oder
das Judentum unvermittelt zum ersten Mal als Akteure des
seinsgeschichtlichen Narrativs auf. 4 Eine „der verstecktesten
3
Martin Heidegger: Überlegungen XIV, 121. In: Ders.: Überlegungen
XII–XV. GA 96. A.a.O.
4
Sie tauchen hier nicht schlechthin zum ersten Mal im Werk Heid­
eg­gers auf; ich beziehe mich ausschließlich auf die „Schwarzen Hefte“.
Folgende Äußerung aus einem Seminarprotokoll vom Winter 33/34 gab
bereits Anlass zu Diskussionen: „Einem slavischen Volke würde die
Natur unseres deutschen Raumes bestimmt anders offenbar werden als
uns, den semitischen Nomaden wird sie vielleicht überhaupt nie offen­
bar.“ Martin Heidegger: „Über Wesen und Begriff von Natur, Geschich­
te und Staat“. Übung aus dem Wintersemester 1933/34. In: Heidegger
und der Nationalsozialismus. Dokumente. Heidegger-Jahrbuch 4. Hrsg.
von Alfred Denker und Holger Zaborowski. Karl Alber Verlag: Freiburg
u. München 2009, 82. Die Äußerung betrifft das für Heidegger wichti­
ge Verhältnis von Ort und Selbst. Die „Erde“ ist nicht schlechthin der
Globus, sondern die jedem Volk jeweils anders erscheinende „Verwurze­
lung“ in einer Landschaft. In diesem Sinne entspricht die deutsche Land­
schaft einzig den Deutschen. Die zitierte Äußerung gehört von der Sache
her in den Bereich des seinsgeschichtlichen Antisemitismus. Die Wort­
wahl allerdings klingt wenig nach Heidegger. Das Protokoll wurde von

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Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste“ sei „die zähe
Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durch­
ein­ander­mischens, wodurch die Weltlosigkeit des Judentums
gegründet“5 werde. Für Heidegger ist das „Riesige“ zu dieser
Zeit eine der Formen der „Machenschaft“, d. h. der sich totali­
sierenden Rationalisierung und Technisierung der Welt. Diese
Entwicklung bedarf einer bestimmten Denkform, die er in der
„Geschicklichkeit des Rechnens“ bzw. in der „Rechenfähig­
keit“ der Juden erkennen will.
Der seltsame Gedanke bedarf einer genaueren Interpreta­
tion. Denn Heidegger behauptet nicht, die „Weltlosigkeit“
sei ein gleichsam natürlicher Charakter des Judentums. 6 Er
Helmut Ibach verfasst, vielleicht identisch mit dem Herausgeber Helmut
Ibach: Kleine Feldpostille. Soldatische Richtbilder aus drei Jahrtausen­
den. Verlag A. Fromm: Osnabrück 1962. Die historische Frage, warum in
den „Schwarzen Heften“ der seinsgeschichtliche Antisemitismus unge­
fähr 1937 auftaucht und dann sich zwischen 1939 und 1941 steigert, ist
wichtig, kann aber nur vermutungsweise beantwortet werden. Auffällig
ist, dass Heidegger die Juden als Kriegsfeinde identifiziert. Je mehr also
Deutschland und damit der eigene Gedanke einer besonderen abendlän­
dischen Aufgabe der Deutschen in eine politisch-militärische Krise gerät,
desto häufiger steuert Heidegger antisemitische Denkbewegungen an.
Hinzutritt, dass die beiden Söhne Hermann und Jörg immer mehr in die
kriegerischen Auseinandersetzungen verstrickt werden.
5
Martin Heidegger: Überlegungen VIII, 9. In.: Ders.: Überlegungen
VII–XI. GA 95. A.a.O.
6
Dieser Gedanke schließt scheinbar aus, Heideggers Zuschreibungen
zum Judentum mit Hegels Lehre vom „Volksgeist“ oder von den „Volks­
geistern“ in Verbindung zu bringen: „Die konkreten Ideen, die Völker­
geister, haben ihre Wahrheit und Bestimmung in der konkreten Idee, wie
sie die absolute Allgemeinheit ist, – dem Weltgeist, um dessen Thron sie
als die Vollbringer seiner Verwirklichung, und als Zeugen und Zierate
seiner Herrlichkeit stehen“, heißt es bei Hegel (Georg Wilhelm Fried­
rich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. von Johannes
Hoffmeister. 4. Auflage. Felix Meiner Verlag: Hamburg 1955, § 352, 293;
vgl. auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philoso­
phie der Weltgeschichte. Bd. 1. Die Vernunft in der Geschichte. Hrsg. von
Johannes Hoffmeister. 6. Auflage. Felix Meiner Verlag: Hamburg 1994,
59 f.). Indem Heidegger die „Machenschaft“ zur Begründungsinstanz
des „rechnenden Judentums“ und des imperialistischen Nationalsozia-

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denkt vielmehr, dass sie durch die „zähe Geschicklichkeit des
Rechnens“ erst „gegründet“ werde. Diese „Geschicklichkeit“
aber sei „eine der verstecktesten Gestalten des Riesigen“, d. h.
der „Machenschaft“. Ursprung der „Weltlosigkeit des Juden­
tums“ ist daher – die „Machenschaft“, die das „Rechnen“
als weltbestimmende Tätigkeit zur Macht bringt. Dass die
„Machenschaft“ die „Weltlosigkeit“ des Menschen fordert und
begründet, ist ein bekannter Gedanke aus dem Repertoire der
Technik-Kritik. Dass sie die „Weltlosigkeit des Judentums“
begründet, ist eine problematische Zuspitzung.
Heidegger scheint demnach eine recht banale antisemitische
Zuschreibung (einer „betont rechnerischen Begabung“) seins­
geschichtlich zu transformieren – und in dieser Denkfigur ist
sein Antisemitismus verankert. Es ist der „Schacherjude“7,
der in jedem Antisemitismus eine der vertrautesten Figuren
des Judentums repräsentiert. Seit dem 12. Jahrhundert galt
im christlichen Okzident das Zinsverbot, von dem die Juden
nach päpstlichem Dekret ausdrücklich ausgenommen waren.
So waren sie die einzige Gruppe der Gesellschaft, die Geld
verleihen durfte. Zugleich wurde ihnen die Teilnahme an
bestimmten Handwerksberufen verboten. Das war die histori­
sche Situation, in der „der Jude“ unmittelbar (d. h. ohne einem
„ordentlichen Beruf“ nachzugehen) mit dem Geld verknüpft
wurde. Ursprünglich bedeutet „Schachern“ im Jiddischen
„Handel treiben“.

lismus macht, scheint er dem Hegelschen Verhältnis von Allgemeinem


und Besonderen zu entgehen. Und doch bleibt die Struktur zwischen den
„Volksgeistern“ und dem „Weltgeist“ erhalten – nur dass der „Weltgeist“
des 20. Jahrhunderts die „Machenschaft“ ist.
7
In einem Brief von Martin an Elfride Heidegger heißt es 1920: „Hier
spricht man viel davon, daß jetzt so viel Vieh aus den Dörfern von den
Juden fortgekauft wird […]. Die Bauern werden hier oben allmählich
auch unverschämt u. alles ist überschwemmt von Juden u. Schiebern.“
„Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfri­
de 1915–1970. Hrsg. von Gertrud Heidegger. Deutsche Verlags-Anstalt:
München 2005, 112.

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Die Assoziation von Judentum und Geld setzt soziologisch
bereits dort an, wo in einer provinziell-ländlichen Lebenswei­
se – wie in Heideggers Heimat Meßkirch – die Bauern und
Handwerker ihr Geld „im Schweiße ihres Angesichts“ verdie­
nen, während Juden aus erwähnten oder sonstigen Gründen
ihr Einkommen anders erwirtschaften. 8 Davon ausgehend
kehrt die Assoziation in einer Vielzahl von Zuschreibungen
wieder. Eine davon betrifft die Vorstellung von einem „Welt­
judentum“, das mit der Kontrolle der nationalen Ökonomi­
en und anderer Instrumente die Weltherrschaft ergreift (das
betrifft die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“, auf
die noch genauer einzugehen sein wird, weil Heidegger sich

8
Vgl. Martin Buber: Sie und Wir. In: Deutschtum und Judentum.
A.a.O., 157: „Bekanntlich rührt die Problematik des jüdischen Verhält­
nisses zur Wirtschaft der herrschenden Völker daher, daß ihre Betei­
ligung meist nicht beim Fundament des Hauses beginnt, sondern im
zweiten Stockwerk. Dagegen haben sie keinen Anteil oder nur einen sehr
geringen an der Urproduktion, an der mühevollen Erlangung der Roh­
stoffe, der Schwerarbeit am Boden, sowohl Landwirtschaft wie Berg­
werk. In der handwerklichen Bearbeitung der Rohstoffe bevorzugen sie
zumeist die leichten Berufe, die im Sitzen ausgeübt werden, und in der
industriellen Bearbeitung stellen sie Techniker, Ingenieure und Direkto-
ren und halten sich von der schweren Arbeit an der Maschine fern. Wie
ich mit großer Sorge hörte, hat sich daran auch in der sowjetrussischen
Wirtschaft nicht viel geändert.“ Auch das ist ein Beispiel, wie im Jahre
1939 allgemeine Zuschreibungen gemacht wurden. Buber argumentiert
nicht historisch, sondern im Kontext des „Lebens des Volkes“. Die Dis­
kussion des Verhältnisses der Juden zur „Urproduktion“ scheint eine Tra­
dition zu haben. Bereits Theodor Herzl setzt sich mit ihm auseinander,
wenn er schreibt: „Wer aber die Juden zu Ackerbauern machen will, der
ist in einem wunderlichen Irrtume begriffen. Der Bauer ist nämlich eine
historische Kategorie, und man erkennt das am besten an seiner Tracht,
die in den meisten Ländern Jahrhunderte alt ist, sowie an seinen Werk­
gerätschaften, die genau dieselben sind wie zu Urväterzeiten. […] Wir
wissen aber, daß es jetzt für all‘ das Maschinen gibt. Die Agrarfrage ist
eine Maschinenfrage. Amerika muß über Europa siegen […].“ Theodor
Herzl: Der Judenstaat. Jüdischer Verlag: Berlin 101934, 25 f. Herzl führt
die Frage nach der „Urproduktion“ mit dem Problem der Bedeutung der
technischen Moderne eng.

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sehr wahrscheinlich auf sie bezieht). Eine andere betrifft die
den Juden unterstellte metaphysisch-religiöse Einstellung des
„Mammonismus“9, ein Begriff Georg Simmels, der die Vergöt­
zung des Geldes kritisch karikiert. Eine weitere Variante zielt
auf das Rechnen ganz allgemein.
Das Rechnen wird von Heidegger ganz allgemein mit der
Rationalität verknüpft. Damit kann er seinen ehemaligen
Lehrer Edmund Husserl in eine Geschichte einordnen, in
der eine „zeitweilige Machtsteigerung des Judentums“ die
„Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen
Entfaltung“, zur Entscheidungslosigkeit verdammt. Heid­eg-
ger spricht von einem „,Angriff‘“ auf Husserl, den er aber so-
gleich relativiert. Er sei „überhaupt unwesentlich“. Doch die
Relativierung bleibt vor dem Hintergrund der initialen Ein­
ordnung unglaubwürdig. Husserl wird in eine Geschichte
einer „leeren Rationalität und Rechenfähigkeit“ eingeschrie­
ben auf Grund seiner Zugehörigkeit zu einer „,Rasse‘“. Man
darf zwar nicht übersehen, dass Heidegger diesen Begriff in
Anführungszeichen setzt, aber wie immer man dies deutet, es
kann an der allgemeinen Richtung von Heideggers Gedanken
nichts abschwächen.
Problematisch an Heideggers Äußerungen ist nicht nur der
Gedanke, Husserls Zugehörigkeit zum Judentum sei verant­
wortlich dafür, dass seine Phänomenologie „nirgends in die
Bereiche wesentlicher Entscheidungen“ hineinreiche. Darü­
ber hinaus bekommt seine auch nach dem Krieg häufig vor­
getragene Kritik an einem „rechnenden Denken“10, das von
einem „besinnlichen Denken“ unterschieden wird und das

9
Georg Simmel: Deutschlands innere Wandlung. In: Ders.: Der Krieg
und die Geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze. Duncker &
Humblot: München u. Leipzig 1917, 14 ff.
10
Martin Heidegger: Gelassenheit. Verlag Günther Neske: Pfullin­
gen 1959, S. 12 f.: „Das rechnende Denken kalkuliert. Es kalkuliert mit
fortgesetzt neuen, mit immer aussichtsreicheren und zugleich billigeren
Möglichkeiten.“

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anders als dieses niemals zur „Bodenständigkeit“ finden kann,
einen faden Beigeschmack. Denn einer der Gegenbegriffe zur
„Bodenständigkeit“ in der „Heimat“ ist die „Weltlosigkeit“, die
– als Konsequenz der „Machenschaft“ – das Judentum nach
Heidegger charakterisiert.11 Sollte also die Rationalität als sol­
che eine seinsgeschichtliche Erfindung der Juden sein – oder
fasst Heidegger vielmehr das Judentum als eine Form, in der
sich die „Machenschaft“ verwirklicht?
Doch ganz gleich, wie die Antwort ausfällt, ist es abwegig,
die „Geschicklichkeit des Rechnens“ allein auf die Philosophie
der Neuzeit zu beziehen. Gewiss wird man sagen können, dass
die Mathematik in den Anwendungen der Technik und der
erstarkenden Naturwissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert
eine neue Bedeutung erhält. Doch es dürfte klar sein, dass die
Mathesis auch im mathematischen Sinne ihren Ursprung im
griechischen Denken hat.12 Das betrifft Heideggers Narrativ
vom seinsgeschichtlichen Verhältnis zwischen den Griechen
und den Deutschen. In ihm haben die Pythagoräer, hat Pla­
tons Verhältnis zu ihnen und die Einführung der Mathematik
besonders im „Timaios“, hat Euklid und seine „Elemente“, kei­
nen Platz, ganz zu schweigen von den Ägyptern, von denen die
Griechen in der Mathematik lernten (um sie allerdings dann
anders zu interpretieren).
Ein Typ des Antisemitismus bei Heidegger schreibt den
Juden eine „Geschicklichkeit des Rechnens und Schie­
bens und Durcheinandermischens“ zu, die er philosophisch

11
Es dürfte kein Zufall sein, dass Leo Strauss besonders auf Heideggers
Verwendung des Begriffs der „Bodenständigkeit“ hingewiesen hat. Vgl.
Strauss: Philosophy as Rigorous Science and Political Philosophy. In:
Ders.: Studies in Platonic Political Philosophy. Hrsg. von Thomas L.
Pangle. University of Chicago Press: Chicago und London 1983, S. 33.
12
Was auch Heidegger weiß, wenn er schreibt: „Die mathematische
Wissensidee zu Beginn der Neuzeit – selbst im Grunde antik – […].“
Heidegger: Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, 63. In: Ders.:
Überlegungen II–VI. GA 94. A.a.O. Umso mehr kann man sich fragen,
warum er diese Einsicht nicht festgehalten und ausgebaut hat.

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erschreckend weit ausinterpretiert. Der Jude erscheint als das
von der „Machenschaft“ beherrschte, weltlos kalkulierende
Subjekt, das sich rechnend „eine Unterkunft im ,Geist‘ ver­
schafft“ haben soll. In diesem Sinne wird dann wohl genau
diese „Unterkunft“ als Ziel von Heideggers „,Angriff‘“ gelten
dürfen.13

zu 2

Im ersten der obigen Zitate erklärt Heidegger Husserls Phä­


nomenologie indirekt aus dem Charakter einer „,Rasse‘“. Die
Anführungszeichen sollen eine gewisse Distanz signalisieren.
Und wirklich steht Heidegger dem „Rassedenken“ des Natio­
nal­sozialismus ablehnend gegenüber. „Alles Rassedenken“ sei
„neuzeitlich“, bewege sich „in der Bahn der Auffassung des
Menschen als Subjektum“14. Damit wird aber zugleich unaus­
weichlich, das „Rassedenken“ dem Sein der Neuzeit, der
„Machenschaft“ zuzuschreiben. Das „Rassedenken“ ist eine
„Folge der Machenschaft“15.
Dass Heidegger mit dem „Rassedenken“ nichts zu tun haben
will, ist also klar. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass er die

13
In den „Beiträgen zur Philosophie“ scheint es eine Passage zu geben,
die dem hier Dargestellten widersprechen könnte: „Der reine Blödsinn
zu sagen, das experimentelle Forschen sei nordisch-germanisch und das
rationale dagegen fremdartig! Wir müssen uns dann schon entschlie­
ßen, Newton und Leibniz zu den ‚Juden‘ zu zählen.“ Martin Heidegger:
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). GA 65. Hrsg. von Friedrich-
Wilhelm von Herrmann. Frankfurt am Main 1989, 163. Der Schein trügt
jedoch. Die Aussage: alles „rechnende Denken“ ist „jüdisch“, ist nicht
identisch mit der Aussage: alles „jüdische Denken“ ist „rechnend“. Die
erste Aussage muss Heidegger ablehnen, weil die großen Denker der
Neuzeit in der Tat keine Juden sind. Die zweite Aussage kann er, ohne
mit der ersten in einen Widerspruch zu geraten, bejahen. Vgl. auch die
vorangehende Fußnote.
14
Heidegger: Überlegungen XII, 69. In: Ders.: Überlegungen XII–XV.
GA 96. A.a.O.
15
Ebd., 82.

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Gegebenheit der „Rasse“ bezweifelt hätte. „Rasse“ sei „eine
notwendige und sich mittelbar aussprechende Bedingung des
geschichtlichen Daseins (Geworfenheit)“. Diese werde im „Ras­
sedenken“ „zur einzigen und hinreichenden […] verfälscht“.
„Eine Bedingung“ werde „zum Unbedingten aufgesteigert“16.
Heideggers Distanz zum „Rassedenken“ betrifft demnach die
theoretische Verabsolutierung eines Moments der „Geworfen­
heit“ unter anderen Momenten, jedoch nicht die Ansicht, dass
„Rasse“ zum Dasein gehört.
Allerdings führt Heidegger nicht aus, wie er sich die „Ras­
se“ als „eine […] Bedingung“ der „Geworfenheit“ denkt. Einer
Beachtung der Leiblichkeit des Daseins geht er fast immer aus
dem Weg. Auch eine „kulturelle“ Konnotation ist unwahr­
scheinlich, da er überhaupt den Begriff der „Kultur“ ableh­
nend bis zornig interpretiert. Am ehesten wäre einer ethni­
schen Deutung nachzugehen. Demnach wäre die „Rasse“ als
Volkszugehörigkeit zu verstehen. Doch damit wiederholte sich
die Frage nach der Bedeutung von „Rasse“ nur in einem ande­
ren Zusammenhang. Was besagt Volkszugehörigkeit über die
Sprachgemeinschaft hinaus (in letzterer Hinsicht waren die
Juden häufig gewiss die besseren Deutschen)? Die Frage nach
der „Rasse“ bei Heidegger wird im noch Folgenden zu klären
sein. Auch wenn er das „Rassedenken“ der „Machenschaft“
nicht übernimmt, lässt sich doch eine Annäherung an die Ideo­
logie des Nationalsozialismus rekonstruieren.
Der Philosoph erklärt auf der einen Seite das „Rassedenken“
zur „Folge der Machenschaft“. Auf der anderen Seite meint er,
dass „die Juden“ „bei ihrer betont rechnerischen Begabung am
längsten schon nach dem Rasseprinzip“ „,leben‘“. Wie verhal­
ten sich diese Aussagen zueinander? Muss eine ihrer Konse­
quenzen nicht darin bestehen, dass die „Machenschaft“ und
die „rechnerische Begabung“ zusammengehören? Es scheint

16
Martin Heidegger: Überlegungen III, 127. In. Ders.: Überlegungen
II–VI. GA 94. A.a.O.

40

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so. Dennoch verlangt die Klärung dieser Frage besondere Vor­
sicht. Denn in ihr geht es um ein Element des seinsgeschicht­
lichen Antisemitismus.
Die „Einrichtung der rassischen Aufzucht“ entstamme
„nicht dem ,Leben‘ selbst“, meint Heidegger. Das „,Leben‘“
geschieht, ohne sich auf die Bildung und Veredelung von Ras­
sen auszurichten. Mit diesem Gedanken will Heidegger sich
nicht in die Belange der Biologie einmischen. Er scheint eher
sagen zu wollen, dass der alltägliche Umgang von Menschen
sich um die „Reinerhaltung“ einer „Rasse“ nicht kümmert. Es
bedarf daher einer „Einrichtung“ bzw. des Ursprungs jeder
„Einrichtung“, d. h. der „Machenschaft“, um das „,Leben‘“ in
dieser Weise zu organisieren. Diese Organisation fand Heide­
gger einerseits bei den Nationalsozialisten. Andererseits sah er
sie bei den Juden, die „am längsten schon nach dem Rasseprin­
zip“ „,leben‘“, was nur heißen kann, dass sie ein „Merkmal“
der „Machenschaft“ – die „Einrichtung der rassischen Auf­
zucht“ – als erste verwirklichten. Nach Heidegger war es den
Juden bei der „Einrichtung der rassischen Aufzucht“, d. h. der
„machenschaftlichen“ Organisation der „Rasse“ aufgegeben,
eine Pionierrolle übernehmen.17
Den Hintergrund der Äußerung bilden u. a. die Nürnberger

17
Natürlich ist es eine mögliche Frage, ob es einen jüdischen „Ras­
sismus“ geben könnte. Christian Geulen definiert in seiner klugen
„Geschichte des Rassismus“ Rassismus als eine Tätigkeit, „entweder
hergebrachte oder aber neue Grenzen von Zugehörigkeit theoretisch zu
begründen und praktisch herzustellen“ (Geulen: Geschichte des Rassis-
mus. Verlag C. H. Beck: München 2007, 11). In diesem Sinne spricht der
Autor davon, dass das Judentum zwar eine „asymmetrische Selbst- und
Fremdbildstruktur“ kenne, aber dadurch „keineswegs automatisch auf
die Eroberung, Kolonisierung oder Unterdrückung fremder Kulturen“
(25) aus sei. Der „passive Anspruch auf Exklusivität“ habe „das Judentum
häufig in Konkurrenz zu den jeweils hegemonialen Kulturen“ gebracht.
Es ist eine sozialpsychologische Frage, ob und wie der „passive Anspruch
auf Exklusivität“ – das „auserwählte Volk“ zu sein – ein Reiz sein kann,
auf den stets anwesenden Unterschied von Zugehörigkeit und Nichtzu­
gehörigkeit rassistisch zu reagieren.

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Rassengesetze, die am 15. September 1935 vom Reichstag ein­
stimmig angenommen wurden. Ein „Gesetz zum Schutze des
deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ sowie ein „Gesetz
zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehe­
gesundheitsgesetz)“ diskriminierte in vielerlei Hinsicht Juden,
Zigeuner, Schwarze und Mischlinge (übrigens ebenso Frauen
überhaupt, d. h. auch die deutschen). Es sollte im Großen und
Ganzen eine Rassentrennung gewährleisten, durch die das
„deutsche Blut“ rein, d. h. unvermischt, bleiben konnte.
Allerdings – Heidegger spricht nicht nur davon, dass die
Juden „am längsten schon nach dem Rasseprinzip“ „,leben‘“
würden. Denn er fährt mit der Behauptung fort: „weshalb sie
sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwen­
dung zur Wehr setzen“. Was ist eine „uneingeschränkte
Anwendung“ des „Rasseprinzips“? Und wo liegt der Zusam­
menhang zwischen einer eigenen „Anwendung“ eines solchen
Prinzips und einer gerade daraus folgenden Abwehr seiner
Schrankenlosigkeit? Kann Heidegger damit die Nürnberger
Gesetze meinen?
Die Datierung der Aufzeichnung legt nahe, dass sie kurz
vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entstanden ist. Die
Novemberpogrome im Jahr 1938 liegen zurück. Am 10. No-
vember des Jahres brannte nahe der Universität in Freiburg
die Synagoge.18 Heidegger gab ein Seminar über Nietzsches

18
Vgl. Klaus-Dieter Alicke: Lexikon der jüdischen Gemeinden im
deutschen Sprachraum. Bd. 1. Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh 2008,
sp. 1306: „In den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 wurde
die Freiburger Synagoge am Werderring niedergebrannt. Die Brandstif­
ter zwangen dabei die leitenden Männer der Synagogengemeinde, dem
Brand beizuwohnen. Auch der jüdische Friedhof wurde in der gleichen
Nacht geschändet. / Noch während die Synagoge brannte, wurden ca.
140 jüdische Männer verhaftet und am Abend das 10. Novembers ins
KZ Dachau abtransportiert.“ Weiter heißt es: „Ein Großteil der noch in
der Stadt verbliebenen 350 Juden [„mehr als 1.100 Juden“ wanderten aus]
wurde Ende Oktober 1940 – zusammen mit etwa 6.500 anderen – nach
Gurs verschleppt; die meisten von ihnen kamen entweder hier ums Leben

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zweite „Unzeitgemäße Betrachtung“. Noch am 9. November
fand eine Übung statt.19 Ist es möglich, dass Heidegger mit
der „uneingeschränkten Anwendung“ des „Rasseprinzips“ die
Gewalt meint, unter der die Juden zu leiden hatten?
Das lässt den Gedanken, die Juden seien die ersten gewesen,
die gemäß dem „Rasseprinzip“ „,lebten‘“, in einem besonde­
ren Licht erscheinen. Die Nationalsozialisten wenden „unein­
geschränkt“ an, was lange vor ihnen die Juden schon prakti­
zierten. Mehr noch: die Erläuterung im Titel der „Nürnberger
Gesetze“, sie dienten „zum Schutze des deutschen Blutes“, setzt
eine Gefahr, eine ansteckende Krankheit oder einen strategisch
agierenden Angreifer voraus. Die „uneingeschränkte Anwen­
dung“ des „Rasseprinzips“ wäre dann eine bloße Schutzmaß­
nahme in einem Konflikt.
Doch – und das ist das Wesentliche – die Erfindung des
„Rassedenkens“ wird seinsgeschichtlich kontextualisiert.
Sie sei eine „Folge der Machenschaft“. Wenn Heidegger die
„Geschicklichkeit des Rechnens“ für jüdisch hält, diese aber
typisch neuzeitlich sei, dann wird all das insgesamt nun zu
einem Epiphänomen der modernen Technik erklärt. Deshalb
auch schreibt er „leben“ in Anführungszeichen: das „Leben“

oder wurden in den Vernichtungslagern ermordet.“ Hannah Arendt


befand sich 1940 in demselben Lager, das sie aber im Juni verlassen konn­
te. Vgl. Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit.
S. Fischer Verlag: Frankfurt am Main, 225 ff.
19
Vgl. Martin Heidegger: Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitge­
mäßer Betrachtung. GA 46. Hrsg. von Hans-Joachim Friedrich. Frank­
furt am Main 2003, 259 ff. Eine Aufzeichnung aus diesem Seminar lautet:
„Dieses Immermehr Macht, was das Wesen der Mächtigkeit ausmacht,
regelt alle Ansprüche, d. h. die Gewalt und der Raub sind nicht Folgen
und Ausführungsweisen berechtigter Ansprüche, sondern umgekehrt:
Der Raub ist der Grund der Rechtfertigung. Noch wissen wir wenig von
der ,Logik‘ der Macht, weil wir ständig noch moralische Überlegungen
einmischen und weil die Machtbehauptung selbst in ihrem Machtinter­
esse mit ,moralischen‘ Gründen und Zielen arbeitet (vgl. der engl. cant
z. B.).“ (Ebd., 215 f.) Der „cant“ ist ein Jargon, der verschiedenen Grup­
pen (religiösen Sekten, Kriminellen etc.) zugeschrieben werden kann.

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als absolutes Prinzip sei eine „Folge“ des „Willens zur Macht“,
d. h. eine Erbschaft des letzten Metaphysikers Nietzsche. Heid­
egger schreibt das „Rassedenken“ der Juden und der Natio­
nalsozialisten in die Geschichte des Seins, in die Geschichte
der „Machenschaft“ ein. Die Feindschaft zwischen den Juden
und den Nationalsozialisten (Heidegger hütet sich hier, von
den Deutschen zu sprechen) resultiert aus einer seinsgeschicht­
lichen Konkurrenz – und es ist besonders problematisch,
dass die Anzettelung dieser unausweichlichen Konkurrenz
anscheinend eher den Juden zugeschrieben wird.
An dieser Stelle muss betont werden, dass Heidegger den
„machenschaftlichen“ Konflikt zwischen Juden und Natio­
nalsozialisten zuweilen neutral zu fassen versucht. Er bemerkt
einmal, dass man sich „nicht allzulaut über die Psychoanalyse
des Juden ,Freud‘ empören“ solle, „wenn man und solange man
überhaupt nicht anders über alles und Jedes ,denken‘“ könne
als so, „daß Alles als ,Ausdruck‘ ,des Lebens‘“20 betrachtet
werde. Die „arischen Abwandlungen der Grundlehren der
Psychoanalyse“21 werden mit dieser selbst kritisiert. Der Phi­
losoph spricht von der „jüdischen ,Psychoanalyse‘“22, als wäre
diese Theorie prinzipiell jüdisch; eine Auslegung, deren Mög­
lichkeit seit Bestehen der Psychoanalyse bekannt war und die
zur Zeit des Nationalsozialismus zu einem antisemitischen
Stereotyp wurde.23 Was Heidegger aufgreift, ist die von ihm
20
Martin Heidegger: Überlegungen XIV, 79 f. In: Ders.: Überlegungen
XII–XV. GA 96. A.a.O.
21
Heidegger: Überlegungen VII, 88. In: Ders.: Überlegungen VII–XI.
GA 95. A.a.O.
22
Heidegger: Überlegungen IX, 123. In: Ders.: Überlegungen VII–XI.
GA 95. A.a.O.
23
Freud versuchte z. B. den Nicht-Juden Carl Gustav Jung auch aus
„rassischen“ Gründen auf seine Seite zu ziehen. So heißt es in einem Brief
an Karl Abraham: „Um so wertvoller ist sein Anschluß. Ich hätte beinahe
gesagt, daß erst sein Auftreten die Psychoanalyse der Gefahr entzogen
hat, eine jüdische nationale Angelegenheit zu werden.“ Vgl. Peter Gay:
Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Büchergilde Gutenberg: Frank­
furt am Main 1989, 234.

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angenommene Unfähigkeit der Nationalsozialisten, über den
seinsgeschichtlichen Ort der Psychoanalyse – die Metaphysik
Nietzsches – hinausgehen zu können. Judentum und National­
sozia­lismus sind plötzlich seinsgeschichtlich dasselbe.
Was die „Machenschaft“ aber mit dieser verborgenen Kon­
kurrenz betreibe, ist insgeheim – so Heidegger – eine „vollständi-
ge Entrassung der Völker“. Mit ihr gehe „eine Selbstentfremdung
der Völker in eins – der Verlust der Geschichte – d. h. der Ent­
scheidungsbezirke zum Seyn“. Wenn oben betont wurde, dass
Heidegger keineswegs den Rasse-Gedanken an sich, sondern
nur seine Verabsolutierung ablehne, dann ist diese Äußerung
dafür der stärkste Beleg. Denn wenn die Rasse nach Heidegger
ein Moment der „Geworfenheit“ ist, diese aber als Endlichkeit
des Daseins so etwas wie die Bedingung von Geschichtlichkeit
ist, dann ist eine „vollständige Entrassung der Völker“ „der Ver­
lust der Geschichte“. Freilich ist damit noch nicht erklärt, wie
zwei Feinde, die jeweils dem „Rasseprinzip“ folgen, zu einer
„vollständigen Entrassung“ beitragen können.
Der zweite Typus des Antisemitismus bei Heidegger kann
als „rassisch“ oder „rassistisch“ bezeichnet werden. Zwar
lehnt Heidegger das „Rassedenken“ ab. Trotzdem geht er von
einer besonderen Bedeutung der Rasse in der „Geworfenheit“
und d. h. für die Geschichtlichkeit aus. Heidegger ist also kei­
neswegs der Ansicht, es gäbe eine Überlegenheit der Arier.
Dennoch - und das ist ein quälendes „dennoch“ – ist er der
Ansicht, der Kampf zwischen den Juden und den National­
sozialisten sei ein aus rassischen Motiven geführter Kampf um
die Geschichte.

zu 3

Karl Jaspers schreibt in seiner „Philosophischen Autobiogra­


phie“ über Heidegger: „Ich sprach über die Judenfrage, über
den bösartigen Unsinn von den Weisen von Zion, worauf er:
,Es gibt doch eine gefährliche internationale Verbindung der

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Juden.‘“24 Die „Protokolle der Weisen von Zion“25 entstan­
den im Umkreis der Dreyfus-Affäre, die sich in den neunzi­
ger Jahren des 19. Jahrhunderts in Paris abspielte und deren
Kontext weit in die zaristische Politik dieser Zeit hinein­
reicht. Zu ihm gehören auch antisemitische Roman-Fiktio­
nen und ein Anwachsen der Bedeutung des Zionismus, der
vornehmlich von der seit 1860 bestehenden Alliance Israélite
Universelle und dann seit 1897 von der Zionistischen Weltor­
ganisation vorangetrieben wurde. Deren Gründungsveran­
staltung in Basel wurde zum fiktiven Ursprung der „Proto­
kolle“. Ihre durchschlagende Verbreitung begann nach dem
Ersten Weltkrieg. In Deutschland erschienen sie zum ersten
Mal 1920.
Ihre Wirkung ist auch aus heutiger Sicht als erstaunlich zu
bezeichnen. Im eigentlichen Sinne keine Fälschung, sondern
eine Fiktion, weil kein Original existiert, wurden die „Proto­
kolle“ zu einer ersten Quelle des modernen Antisemitismus.
Hitler ist früh als ein „Schüler der Weisen von Zion“ 26 charak­
terisiert worden, womit gemeint war, dass er in den „Protokol­
len“ Anregungen zur Ausarbeitung einer totalitären Rassen-
Politik gefunden habe. Alfred Rosenberg hat die „Protokolle“
kommentiert. Hannah Arendt bemerkt, dass ihre „ungeheure
Popularität […] nicht dem Judenhaß, sondern eher der Bewun­
derung der Juden und dem Wunsch, etwas von ihnen zu lernen,

24
Karl Jaspers: Philosophische Autobiographie. Erweiterte Neuausga­
be. Piper-Verlag: München 1977, S. 101.
25
Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen
Antisemitismus – eine Fälschung. Text und Kommentar. Hrsg. von Jef­
frey S. Sammons. Wallstein Verlag: Göttingen 1998. Vgl. zu den Protokol­
len auch Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. VII. Zwischen
Assimilation und „Jüdischer Weltverschwörung“. Athenäum Verlag:
Frankfurt am Main 1988, S. 74 ff. sowie Wolfgang Benz: Die Protokolle
der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung.
C. H. Beck: München 2011.
26
Alexander Stein: Adolf Hitler „Schüler der Weisen von Zion“. Ver­
lagsanstalt „Graphia“: Karlsbad 1936.

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geschuldet war“27. Dabei war für sie die Methode der National­
sozialisten klar: „Die Fiktion einer gegenwärtigen jüdischen
Weltherrschaft bildete die Grundlage für die Illusion einer
zukünftigen deutschen Weltherrschaft.“28 Die „Protokolle“
sind das Zeugnis der erwähnten Konkurrenz zwischen den
Juden und den Nationalsozialisten, von der Heidegger offen­
bar ausging.
In den „Protokollen der Weisen von Zion“ finden sich viele
Typen antisemitischer Phantasmagorien. Die erste ist die von
einer Geheimorganisation, die auf der Ebene globaler Entschei­
dungen die Fäden spinnt. Dafür werden alle möglichen Mittel
eingesetzt: die Politik, die Finanzen, die Kultur, der Kommu­
nismus, die Presse, alles wird unterwandert, überall wird Unru­
he verbreitet. Selbst die Philosophie wird eingesetzt. So heißt es
einmal: „Glauben Sie nicht, daß unsere Behauptungen nur lee­
re Worte seien. Blicken Sie auf die von uns erweiterten Erfolge
der Lehren von Darwin, Marx und Nietzsche. Ihre zersetzen­
de Wirkung auf nichtjüdische Köpfe sollte uns wenigstens klar
sein.“29 Die Philosophen – Marionetten des „Weltjudentums“.
Mehr als diese eigentümliche Bemerkung könnte eine andere
Äußerung auf Heidegger gewirkt haben. Unter der Überschrift
„Die Bändigung des Widerstandes der Nichtjuden durch Krie­
ge und den allgemeinen Weltkrieg“ heißt es: „Sobald ein nicht­
jüdischer Staat es wagt, uns Widerstand zu leisten, müssen wir
in der Lage sein, seine Nachbaren zum Kriege gegen ihn zu
veranlassen. Wollen aber auch die Nachbaren gemeinsam Sache
mit ihm machen und gegen uns vorgehen, so müssen wir den
Weltkrieg entfesseln.“30 Das brachte die von Heidegger ange­
nommene Konkurrenz auf den Punkt. Wagten die National­

27
Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antise­
mitismus, Imperialismus, Totalitarismus. Piper Verlag: München 6/1988,
757.
28
Ebd., 795.
29
Die Protokolle der Weisen von Zion. A.a.O., 37.
30
Ebd., 53.

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sozialisten es nicht, gegen das „Weltjudentum“ vorzugehen?
Und gelang diesem nicht der perfekte Gegenschlag?
Dass und wie Hitler die „Protokolle“ propagandistisch
zu nutzen verstand, bezeugen verschiedene Reden. Einmal,
in einer Rede, die er in Berlin-Siemensstadt am 10. Novem­
ber 1933 hält, spricht er von „dem Völkerstreit und dem Haß
untereinander“, der „von ganz bestimmten Interessenten“
„gepflegt“ werde. Das sei „eine kleine wurzellose internatio­
nale Clique, die die Völker gegeneinander“ hetze. Dabei hand­
le es sich um „Menschen, die überall und nirgends zuhause
sind, sondern die heute in Berlin leben, morgen genauso in
Brüssel sein können, übermorgen in Paris und dann wieder in
Prag oder Wien oder in London“, die sich „überall zu Hause“
fühlten. Sie seien „als internationale Elemente anzusprechen“,
„weil sie überall ihre Geschäfte betätigen“ könnten. Doch „das
Volk“ könne „ihnen gar nicht nachfolgen“, „das Volk“ sei „ja
gekettet an seinen Boden, gekettet an seine Heimat, gebunden
an die Lebensmöglichkeiten seines Staates, der Nation“. 31 Oder
in jener Rede im Reichstag vom 30. Januar 1939, in der er „pro­
phezeit“: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in-
und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal
in einen Weltkrieg zu stürzen, dann würde das Ergebnis nicht
die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Juden­
tums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in
Europa.“32 Stereotypen des Antisemitismus der „Protokolle“.
Heidegger hatte ein Ohr für Hitlers Reden. Jedenfalls
erwägt er, inwiefern die „Engländer“ in „Amerikanismus und
Bolschewismus“ auch die Rolle des „Weltjudentums“ über­
nehmen.33 Dieses möchte er nicht als „rassische“, sondern als

31
Vgl. Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Bd. I.
Triumph. Erster Halbband 1932–1934. A.a.O., 330.
32
Vgl. Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Bd. II.
Untergang 1939–1940. Erster Halbband. A.a.O., 1328.
33
Was oder wer ist „England“? Unmittelbar vor der unter 3 zitierten
Stelle heißt es: „Warum erkennen wir so spät, daß England in Wahrheit

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„metaphysische“ Erscheinung verstehen. Es sei die „Art von
Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Ent­
wurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche
,Aufgabe‘ übernehmen“ könne. Wenn es stimmt, dass Heid­eg­
ger eine von der „Machenschaft“ geweckte und geleitete Kon­
kurrenz der Nationalsozialisten und Juden annimmt, dann
wird nun klarer, welche Eigenschaft das Judentum in diesem
Kampf vertritt. Die „Machenschaft“ kann deshalb die „voll­
ständige Entrassung der Völker“ betreiben, weil die Juden
„schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden“
erstreben.
Mit dieser weit verbreiteten Tendenz, den Juden eine hei­
matlose bzw. kosmopolitische Lebensweise zuzuschreiben34 ,

ohne abendländische Haltung ist und sein kann? Weil wir erst künftig­
hin begreifen werden, daß England die neuzeitliche Welt einzurichten
begann, die Neuzeit aber ihrem Wesen nach auf die Entfesselung der
Machenschaft des gesamten Erdkreises gerichtet ist.“ Heidegger versteht
England als den Ursprung des Amerikanismus und des Bolschewismus,
weil es die „Entfesselung der Machenschaft“ betreibt. An einer anderen
Stelle schreibt er: „Was wir den Tschechen und Polen verschafften, wollen
England und Frankreich auch den Deutschen zugute kommen lassen; nur
daß Frankreich seine Geschichtslosigkeit in einem zerstörten Deutsch­
land und daß England seine Geschichtslosigkeit in einem Riesengeschäft
erhalten möchte; während dem künftigen Deutschen die Erharrung einer
anderen Geschichte zugewiesen ist – denn sein Denken steht im Über­
gang zur Besinnung.“ Heidegger: Überlegungen XIII, 95 f. In: Ders.:
Überlegungen XII–XV. GA 96. A.a.O. Ohne dass diese Aussage über
England erschöpfend Auskunft gibt, hat die Behauptung, es gehe Eng­
land in der Zerstörung Deutschlands um ein „Riesengeschäft“, im vorlie-
genden Kontext eine antisemitische Tendenz.
34
Diese Zuschreibung war so weit verbreitet, dass sie von Juden selbst
affirmiert wurde: „Die Tragödie des Juden ist die Tragödie des Bürger­
tums, das in den Großstädten lebt. Der Jude ist ein Mensch der großen
Stadt, mehr als die Hälfte aller Juden der Welt leben in Großstädten. […]
Gewohnt, an die Wasserleitung zu gehen, und mit aller Selbstverständ­
lichkeit das Wasser zu trinken, aufgewachsen mit Telephon, Auto und
Elektrizität, ging ihnen das Gefühl und der Sinn für die Urproduktion
verloren. Sie ahnten nichts mehr vom Brunnen, den die Väter gruben,
von dem mühevollen Weg der Ahnen und von dem Licht, das Gott einst

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tritt der Feind auf, der auf internationaler Ebene ungreifbar
Krieg führt. So heißt es einmal bei Heidegger:

„Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutsch­


land hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und
braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegeri­
schen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das
beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern.“35

Der Satz ist auf den ersten Blick recht einfach zu interpretieren.
Doch sein Kontext macht eine Deutung schwierig. Fairness ist
eine unverzichtbare Voraussetzung der Interpretation. Daher
muss ich kurz auf diesen Kontext eingehen.
Die ganze „Überlegung“ trägt die Überschrift „Am Beginn
des dritten Jahres des planetarischen Krieges“. Heidegger ver­
sammelt zehn Aussagen, die die aktuelle Lage des Krieges dar­
stellen. Doch vorher heißt es: „Sofern man also nur historisch
und nicht geschichtlich denkt und auch noch den Planetaris­
mus in die Wandlung der Geschichte einbezieht, statt ihn nur
und höchstens geographisch als Rahmen der ‚historischen‘
Begebenheiten zu verwenden, sofern man nur ‚Tatsachen‘, die
immer nur halb wahr sind und deshalb irrig, gelten läßt, möch­
ten sich folgende Feststellungen treffen lassen:“ Als neunter
Punkt erscheint dann die erwähnte Äußerung über das „Welt­
judentum“.
Es gibt zwei Möglichkeiten, das „sofern“ zu deuten: 1. als
Einschränkung; 2. als Konzession. Als Einschränkung könnte
geschaffen. Dieses Schicksal ist freilich das Schicksal der europäischen
Großstädter überhaupt.“ Joachim Prinz: Wir Juden. In: Deutschtum
und Judentum. A.a.O., 95 f. Vgl. zur Tatsache, dass die meisten Juden um
1900 zwar im Deutschen Reich in Berlin lebten, der prozentuale Anteil
der Juden an der Gesamtbevölkerung aber niedriger war als in anderen
Europäischen Großstädten Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des
Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hit­
ler. Klostermann Verlag: Frankfurt am Main 2003, 42 f.
35
Martin Heidegger: Überlegungen XV, 17. In: Ders.: Überlegungen
XII–XV. GA 96. A.a.O.

50

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es besagen: was folgt, ist nicht ernst gemeint, es gibt lediglich
einen Überblick, den ich, Heidegger, für ganz unzutreffend
halte. Als Konzession kann es bedeuten: was folgt, ist für die
geschrieben, die sich vordringlich für „historische“ „‚Tatsa­
chen‘“ interessieren. Auch diese Sichtweise soll hier einmal
legitim sein.
Ich habe mich für die zweite Möglichkeit entschieden. Ich
gebe zu, dass sie vielen anderen vergleichbaren Stellen in den
„Schwarzen Heften“ widerspricht. Allermeistens verachtet
Heidegger „historische Begebenheiten“. Hier aber scheint er
sich darauf zu besinnen, dass diese eben doch eine spezifische
Bedeutung haben. Unter der Oberfläche des „schräg“ formu­
lierten Textes erkennt man die Intention, nach der sich Heid­
egger um den Sieg der Wehrmacht sorgt.
Der Vorteil des „Weltjudentums“ im von der „Machen­
schaft“ veranlassten Kampf gegen „uns“ besteht darin, „über­
all unfaßbar“ von irgendwoher die Geschicke leiten zu kön­
nen. Noch mehr: offenbar vermag das „Weltjudentum“ – wie in
den „Protokollen“ behauptet – Armeen zu bewegen, ohne sich
selbst einzusetzen. Das Opfer liegt auf „unserer“ Seite. Wie bei
dieser „Machtentfaltung“ der Kampf ausgehen wird, ist klar.
Besonders schwer wiegt die Bemerkung, das „Weltjudentum“
werde „durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigran­
ten“ – denkt Heidegger an Thomas Mann, der sich seit Oktober
1941 in seinen von der BBC in London ausgestrahlten Reden
an die „deutschen Hörer“ wendete? denkt er allgemein an die
Flüchtlinge und unter ihnen an die Juden? – „aufgestachelt“.
Zwar zieht Heidegger keineswegs ausdrücklich in Erwägung,
man hätte sie nicht „hinauslassen“ sollen, doch der Gedanke
liegt nicht fern.
Das Opfer des „besten Bluts der Besten des eigenen Vol­
kes“ – darin sprach Heidegger ohne Zweifel auch das Schick­
sal seiner beiden Söhne an. Wenn er in dieser Hinsicht seine
sonst anscheinend konsequent eingehaltene Neutralität ver­
lässt, kann daher eine innere Beteiligung vorausgesetzt wer­

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den. Heidegger war in Fragen des Krieges und des Opfers der
deutschen Soldaten stets parteiisch – und er konnte es dabei
nicht unterlassen, seiner Parteilichkeit eine seinsgeschichtliche
Note zu verleihen.36
Das „Weltjudentum“ beherrscht zwar nicht die Geschich­
te – die unbedingt von der „Machenschaft“ kontrolliert wird –,
doch unter den von der Technik dominierten Mächten scheint
es die erste zu sein. So seien die „imperialistisch-kriegerische
und die menschheitlich-pazifistische Denkweise“, d. h. sowohl
die „Denkweise“ der totalitären Staaten (Deutsches Reich,
Italien und Sowjetunion) als auch der westlichen Demokrati­
en, „Ausläufer der ,Metaphysik‘“. Als solche scheinen sie vom
„Weltjudentum“ unterwandert zu werden. Denn Heidegger
fährt fort:

„Daher kann sich auch beider das ,internationale Judentum‘


bedienen, die eine als Mittel für die andere ausrufen und
bewerkstelligen – diese machenschaftliche ,Geschichts‘-mache
verstrickt alle Mitspieler gleichermaßen in ihre Netze“.37

Das „Weltjudentum“ habe also die Macht, die im Krieg befind­


lichen Staaten gegeneinander auszuspielen, indem es sich ihrer
„Denkweisen“ „bediene“. Nicht eindeutig ist, ob Heidegger
das „,internationale Judentum‘“ mit den zuvor genannten
„Denkweisen“ in „dieser machenschaftlichen ,Geschichts‘-
mache“ zusammenfasst oder ob er diese für das „,internatio­
nale Judentum‘“ reserviert. Jedenfalls zeigt der Gedanke, wie
er in der Auslegung des Verhältnisses von „Weltjudentum“ und

36
Heidegger: Brief über den „Humanismus“. A.a.O., 339: „Darum haben
die jungen Deutschen, die von Hölderlin wußten, angesichts des Todes
Anderes gedacht und gelebt als das, was die Öffentlichkeit als deutsche
Meinung ausgab.“ Obwohl das gewiss stimmt, muss doch gefragt wer­
den, was sie wohl „gedacht und gelebt“ haben könnten?
37
Heidegger: Überlegungen XIII, 77. In: Ders.: Überlegungen XII–XV.
GA 96. A.a.O.

52

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„Machenschaft“ schwankte. Einerseits sprach er dem „Welt­
judentum“ eine Sonderstellung als international agierender
Repräsentant der Technik zu. Andererseits gehörte alles in die­
selbe Geschichte. Wer „in diesem Kampf die ,Weltherrschaft‘“
behaupte und erringe, sei „nicht weniger gleichgültig wie das
Schicksal derer, die am meisten zerrieben“ werden. „Alle“ sei­
en noch „auf der Ebene der Metaphysik“ und blieben „vom
Anderen ausgeschlossen“. Die Juden waren lediglich eine wei­
tere Gestalt der metaphysischen Topologie.
Dabei war sich Heidegger, wie es scheint, über die Folgen
des Krieges besonders für die Juden im Klaren. Im Manuskript
über die „Geschichte des Seyns“, in jenen in ihrem Inhalt sin­
gulären Passagen über die seinsgeschichtliche Dimension der
„Macht“, spricht er über die „planetarischen Hauptverbre­
cher der neuesten Neuzeit“38 – und er meint ohne Zweifel die
ersten Beherrscher der totalitären Staaten. „Zu fragen wäre“
allerdings, „worin die eigentümliche Vorbestimmung der
Judenschaft für das planetarische Verbrechertum begründet“39
ist. Es liegt zunächst nahe, diesen Satz unmittelbar so zu ver­
stehen, dass Heidegger fragen möchte, was die Juden in die
„eigentümliche Vorbestimmung“ versetzt habe, das Opfer der
„planetarischen Hauptverbrecher“ werden zu müssen.
Freilich schließt der Satz nicht aus, dass Heidegger die
„eigentümliche Vorbestimmung der Judenschaft“ nicht dar­
in erblickt, zum Opfer jener Verbrecher zu werden, sondern
diese selbst zu sein. 40 Diese Interpretation würde zu Heid­

38
Heidegger: Die Geschichte des Seyns. GA 69. A.a.O., 78.
39
Im Buch fehlt dieser Satz. Er steht im Manuskript, doch er findet sich
nicht in der Abschrift Fritz Heideggers, der ihn also wohl „gestrichen“
hat. Im Sinne der Ausgabe „letzter Hand“ haben die Herausgeber und
der Nachlassverwalter damals entschieden, den Satz nicht zu veröffent­
lichen. Im Licht der „Schwarzen Hefte“ stellt er sich inzwischen anders
dar. Er gehört übrigens zeitlich ganz in den Zusammenhang der hier
besprochenen anderen antisemitischen Stellen.
40
Vgl. Heidegger: Überlegungen XV, 119. In: Ders.: Überlegungen
XII–XV. GA 96. A.a.O. Dort heißt es einmal: „Die jetzt veröffentlichten

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eggers Äußerungen über die Macht des „Weltjudentums“ pas­
sen. Gewiss gehörten für Heidegger Stalin und Hitler zu den
„planetarischen Hauptverbrechern“. Doch es ist nicht auszu­
schließen, dass diese Kennzeichnung neben Hitler und Stalin
die „Judenschaft“ mit umfasst. Wie auch immer der Satz gele­
sen werden mag, so belegt die Formulierung von der „eigen-
tümlichen Vorbestimmung“ (kursiv von mir) in jedem Falle
den seinsgeschichtlichen Charakter dieses Denkens über die
Juden.
Ähnlich der den Juden nachgesagten „Geschicklichkeit des
Rechnens“ ist auch dieser an den „Protokollen der Weisen
von Zion“ orientierte Typus des Antisemitismus bei Heid­eg­
ger schwer zu begrenzen. Das zeigt die Vorlesung vom Som­
mer 1942 über Hölderlins „Ister“-Hymne. Heidegger sieht
die Deutschen mehr denn je vom „Amerikanismus“, d. h.
dem „Ungeschichtlichen“, bedroht. Diese Bedrohung kommt
jedoch nicht von Außen, sondern von Innen. Der Philosoph
konnte nicht verstehen, warum die Deutschen nicht in der Lage
waren, ihr „Eigenes“ in dem von ihm vorgedachten Verhält­
nis von „Dichten und Denken“ zu erkennen, und stattdessen
die globale „totale Mobilmachung“ mitmachten, ja, sogar zu
ihrem Pionier wurden. Steckte hinter dem „Amerikanismus“
nicht das „überall unfaßbare“ „Weltjudentum“?
Überhaupt scheint das Gegenteil von allem, was Heidegger
philosophisch zu retten suchte – „Bodenständigkeit“, „Hei­
mat“, das „Eigene“, die „Erde“, die „Götter“, die „Dichtung“
etc. – auf das „Weltjudentum“ übertragbar zu sein. Damit
bekommt dieses eine Art von Modell-Status. Wenn der Rabbi­
ner Joachim Prinz an der oben zitierten Stelle behauptet, dass
das „Schicksal der europäischen Großstädter überhaupt“ sich
im „Schicksal“ der Juden verkörpert, dann ist der Jude, der

Berichte über die bolschewistischen Mordkeller sollen grauenhaft sein.“


Heidegger scheut sich, Vergleichbares über die Deutschen zu sagen.
Zudem meinte er, dass das „Weltjudentum“ die Schlüsselpositionen der
Bolschewisten besetze.

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„den ,Riecher‘“ für das Moderne“ 41 hat, der Gegenspieler des
Heideggerschen Denkens schlechthin.
Wohlgemerkt, antisemitisch daran ist nicht, dass das Juden­
tum mit einem internationalen Lebensstil identifiziert wird.
Selbst Arendt konzediert, dass die „Lügen über die jüdische
Weltverschwörung“ „ihre Grundlage in der wirklich bestehen­
den, internationalen Verbundenheit und gegenseitigen Abhän­
gigkeit des über die Erde verstreuten jüdischen Volkes“ 42, d. h.
in der Diaspora, hatten. Es ist nicht antisemitisch, in dieser
Lebensweise eine „Entwurzelung“ zu sehen. Doch es ist anti­
semitisch, dieser Lebensweise eine konkrete Feindschaft gegen
das „Bodenständige“ der Deutschen zu unterstellen. Wenn
Heidegger gegenüber Jaspers von einer „internationalen Ver­
bindung der Juden“ gesprochen hat (und es gibt keinen Anlass
zu meinen, Jaspers habe sich getäuscht oder nicht mehr richtig
erinnert), dann konnte er das im Blick auf die Diaspora tun.
Sie als „gefährlich“ zu bezeichnen, verrät den antisemitischen
Hintergrund.
Diesem Vorwurf scheint Heidegger jedoch zu entgehen,
wenn er den Konflikt mit dem „Weltjudentum“ in der „Ma-
chenschaft“ stattfinden lässt. Sie fungiert als die seinsge­
schichtliche Bewegung, in der der Kampf ausgetragen wird.
Mit dieser Deutung erhält Heideggers Antisemitismus seinen
eigentümlichen Charakter. Denn es ist keineswegs so, dass er
41
Prinz: Wir Juden. In: Deutschtum und Judentum. A.a.O., 95. Auch
Prinz’ Gedanke ist letztlich eine spezifische Auslegung, nach der in der
Moderne die Diaspora das „Schicksal“ des Menschen schlechthin sei. Ich
würde dafür plädieren, dass die weltverändernden Formen der Technik
nichts mit der Diaspora zu tun haben, dass der mit der Globalisierung
einhergehende Kosmopolitismus vorbildlos ist. Götz Aly setzt in seiner
Studie „Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und
Rassenhass 1800–1933“ (S. Fischer Verlag: Frankfurt am Main 2011) den
Unterschied zwischen dem Grundkonservativen und dadurch Behäbi­
gen, Rückständigen und Heimtümelnden und dem Fortschrittlichen,
Lernbegierigen und Modernen als einen sehr wichtigen für den deut­
schen Antisemitismus an.
42
Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. A.a.O., S. 750.

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im „,Kampf‘“ zwischen dem „Weltjudentum“ und den Natio­
nalsozialisten einen „,Sieg‘“ der letzteren begrüßt hätte. Im
Gegenteil – in diesem „,Kampf‘“ kann es nach Heidegger
nur „um die Ziellosigkeit schlechthin“ 43 gehen. Der „eigent­
liche Sieg“ hingegen liegt für ihn dort, „wo das Bodenlose
sich selbst“ ausschließt, weil es „das Seyn nicht wagt, sondern
immer nur mit dem Seienden“ rechne „und seine Berechnungen
als das Wirkliche“ setzt. Es ist in dieser Äußerung keineswegs
eindeutig, ob neben dem Judentum nicht auch der Charakter
der „Machenschaft“ überhaupt „das Bodenlose“ sein kann.
Philosophisch galt es für Heidegger zu verstehen, warum sich
„das Abendländische“ nicht „als Geschichte“ erfuhr und „für
ein Kommendes“ sich öffnete, „statt – unwissend in Allem –
den Amerikanismus nachzuahmen und zu übertreiben“44. Das
„Abendland“ war der „Machenschaft“ verfallen, die von den
Griechen herkommende Aufgabe einer Weltstiftung im „Den­
ken und Dichten“ schien verloren. Warum? –
Schließlich tritt die Schwierigkeit einer solchen seinsge­
schichtlichen Konstruktion selbst ans Licht. Im „Kampf“ der
Nationalsozialisten mit den Juden als „Folge der Machen­
schaft“ herrscht eine bedenkenswerte Asymmetrie. Zwar
bemerkt Heidegger an vielen Stellen, dass die Nationalsozia­
listen die Technisierung und in dieser Hinsicht Modernisie­
rung des Landes rücksichtslos vorantrieben. Doch der Cha­
rakter des Technischen, das „Machenschaftliche“, war das
„Bodenlose“, das „Weltlose“, das der Philosoph dem Judentum
zuschrieb. Waren die Nationalsozialisten also eigentlich von
der „Machenschaft“ und d. h. von den Juden verführte Deut­
sche? Im Licht dieser Frage werden die Nationalsozialisten zu
Marionetten der „überall unfaßbaren“ Macht der Juden. Legen
die „Protokolle“ den Gedanken nicht nahe, dass der Natio­
43
Heidegger: Überlegungen VIII, 9. In: Ders.: Überlegungen VII–XI.
GA 95. A.a.O.
44
Heidegger: Überlegungen XV, 10. In: Ders.: Überlegungen XII–XV.
GA 96. A.a.O.

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nalsozialismus die boshafteste Erfindung der Juden hätte sein
können? Der „Selbstausschluss“ des „Bodenlosen“ jedenfalls,
den Heidegger als den „eigentlichen Sieg“ bezeichnet – er wäre
der Zusammenbruch der „Machenschaft“ und des Judentums.
Damit gerät der Begriff der „Machenschaft“ selbst in eine
Krise. Zwar betont Heidegger, dass „das Wort“ „ein Wesen des
Seins“ meine „und nicht etwa die Verhaltung und das Gehaben
eines bestimmten Seienden genannt ,Mensch‘“, dass also „diese
,Machenschaft“ „höchstens eine entfernte Folge der seynsge­
schichtlich gedachten“45 sei – doch ist nicht das „Weltjudentum“
oder der „Amerikanismus“ ein Muster für ein solches „Wesen
des Seins“? Der Begriff der „Machenschaft“ könnte ideologi­
sche Momente enthalten, die nicht weit von dem entfernt sind,
was ideologisch dem „Weltjudentum“ zugeschrieben wird –
ohne allerdings ganz in diesen Momenten aufzugehen. 46 Der
Gedanke, die „Machenschaft“ betreibe einen kriegerischen
Konflikt zwischen Juden und Nationalsozialisten, der ohne­
hin nur um die „Ziellosigkeit“ kreise, kann den Eindruck nicht
abschwächen, dass es an diesem Punkte einen antisemitischen
Einfluss der „Protokolle“ auf Heideggers Denken gibt. Wenn
Heidegger schreibt, dass „im Amerikanismus der Nihilismus
seine Spitze“ erreiche, dann konnte ihn keine mögliche Lösung
jenes Konflikts mehr verhindern. 47
45
Heidegger: Die Geschichte des Seyns. GA 69. A.a.O., 47.
46
Eine Identität von „Machenschaft“ und „Weltjudentum“ zu behaup­
ten, würde z. B. die ganze Diskussion mit Ernst Jüngers Verständnis der
„totalen Mobilmachung“ oder der „Gestalt des Arbeiters“ ignorieren.
Dennoch wird es unvermeidlich sein, in der Genese von Heideggers
Technik-Denken ein antisemitisches Ressentiment mitzudenken.
47
Vgl. Dan Diner: Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines
Ressentiments. Propyläen Verlag: München 2002, 33: „In mancher Hin­
sicht lässt sich Antiamerikanismus gar als weitere Stufe in der über den
Antisemitismus hinausgehenden Verweltlichung der Judenfeindschaft
verstehen.“ An einer Stelle der „Überlegungen XIII“ spricht Heidegger
von der „mit Moral übermalten händlerischen Rechenhaftigkeit der
englisch-amerikanischen Welt“ (Heidegger: Überlegungen XIII, 50. In:
Ders.: Überlegungen XII–XV. GA 96. A.a.O.). Das muss im vorliegen­

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Hier zeichnet sich das eigentliche Problem eines seinsge­
schichtlichen Antisemitismus ab. Sollten gewisse Elemen­
te des seinsgeschichtlichen Narrativs von vornherein eine
determinierte Rolle erhalten, sollte z. B. dem „Amerikanis­
mus“ nichts anderes zufallen können als die „Einrichtung des
Unwesens der Machenschaft“, sollte daher „alles Grauenhafte
im Amerikanismus“48 liegen, eben weil der „Amerikanismus“
schlicht unfähig zum „Anfang“ ist, weil er den „Ursprung“
nicht kennt, weil er ein Spross des „Riesengeschäfte“ treiben­
den Englands ist (vgl. Fußnote 31, S. 48), ist dann die Seinsge­
schichte selbst nicht antisemitisch?

den Kontext wahrscheinlich als eine Äußerung des seinsgeschichtlichen


Antisemitismus verstanden werden.
48
Martin Heidegger: Metaphysik und Nihilismus. 1. Die Überwindung
der Metaphysik. 2. Das Wesen des Nihilismus. GA 67. Hrsg. von Hans-
Joachim Friedrich. Frankfurt am Main 1999, 150.

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Der seinsgeschichtliche Begriff der „Rasse“

Heideggers Auffassung der „Rasse“ ist ambivalent. Offenkun­


dig wird der Begriff in philosophischen Texten vor 1933 ausge­
spart. Überhaupt schweigt der Philosoph vor 1933 von seinen
politischen Sympathien für die Nationalsozialisten. Zieht man
Heideggers Veröffentlichungen und Vorlesungen in Betracht,
wäre auch schwer auszumachen, wo er sich für etwas wie die
„Rasse“ philosophisch interessiert haben könnte.
Zum Begriff der „Rasse“ ist allgemein zu sagen, dass sei­
ne Herkunft nicht eigentlich in der Biologie zu finden ist. Er
„bezieht sich vor allem auf Tierarten, die durch Domestika­
tion und Zucht vom Menschen neu erschaffen wurden“1. Pla­
ton freilich geht es weniger um die Neuschaffung als um die
eugenische Veredelung, wenn er in seiner „Politeia“ die Zucht
von Hunden, Vögel und Pferden auf den Menschen überträgt
(459b). Platons größter Schüler im 19. Jahrhundert, Nietzsche,
bezieht sich vermutlich auf solche Ideen, wenn er in der „Mor­
genröthe“ davon spricht, dass „die Griechen“ „uns das Muster
einer reingewordenen Rasse und Cultur“2 geben. Allerdings ist
auch sein Verhältnis zum Rassen-Begriff alles andere als ein­
deutig, was sich schon darin zeigt, dass Nietzsche die „Grie­
chen“ als „Muster“ einer „reinen europäischen Rasse und Cul­
tur“ ansieht.3

1
Geulen: Geschichte des Rassismus. A.a.O., 13.
2
Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. KSA 3. A.a.O., 214.
3
Vgl. Gerd Schank: „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche. De Gruy-
ter Verlag: Berlin u. New York 2000. Nietzsche bezweifelte nicht das
Vorhandensein von „Rassen“, er schwankte z. B. in Bezug auf die Frage

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Heidegger ist dem problematischen Status der „Rasse“ bei
Nietzsche begegnet. Auch in Ernst Jüngers „Arbeiter“ konnte
er sehen, dass die Verwendung des Begriffs Komplikationen
verursacht. Jünger spricht von der „Rasse des Arbeiters“4 , von
einer „neuen Rasse“5 also, die die „Welt mobilisiert“. Doch er
fügt hinzu, „daß Rasse innerhalb der Arbeitslandschaft mit
biologischen Rassenbegriffen nichts zu schaffen“6 habe. Es ist
deutlich, dass der Begriff von zeitgenössischen Diskursen aus
in den Text eindringt. Jünger wollte in ihnen mitreden, ohne
sich ihnen ganz auszuliefern. Die Aktualität des „Rasse“-
Begriffs wurde von Jünger anerkannt.
Das musste auch Heideggers Strategie sein. Er war bereit,
den herrschenden Diskurs aufzunehmen, um sich gleichzeitig
von ihm abzusetzen; eine Denkbewegung, die Heidegger um
1933 oft vollzog. In seiner Vorlesung vom Sommer 1934 über
„Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache“ kommt
nach ihrer „Mischung“. Einerseits scheint er die „Reinheit“ der „Ras­
se“ zu betonen, andererseits ist er der Ansicht, dass „gemischte Ras­
sen“ „der Quell großer Cultur“ seien (Friedrich Nietzsche: Nachge­
lassene Fragmente 1885–1889. KSA 12. A.a.O., 45.) Es mag sein, dass
der Begriff der Rasse nicht aus den zentralen Diskussionen der Biolo­
gie stammt. Es ist allerdings zu bemerken, dass Charles Darwin den
Begriff „race“ wie selbstverständlich verwendet. Der englische Titel
von „Über die Entstehung der Arten“ von 1859 lautet: „On the Origins
of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favo­
ured Races in the Struggle of Life“. Gobineaus „Essai sur l’inégalité
des races humaines“, der Wagner beeinflusste, erschien in zwei Bän­
den zwischen 1853–1855. Um auf die Schwierigkeit, die der Begriff der
„Rasse“ auch heute noch impliziert, hinzuweisen, sei an die Bedeutung
der „race“ im „United States Census“ erinnert. Die soziale Struktur
der USA scheint einen Verzicht auf den Begriff der „race“ unmöglich
zu machen, gerade weil es einen sozusagen normalen „racism“ gibt. In
einer Situation, in der die Vorherrschaft bestimmter sozialer Gruppen
rassistisch begründet wird, ist die Behauptung, es gäbe gar keine Ras­
sen, problematisch.
4
Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. In: Sämtliche
Werke. Bd. 8. Ernst Klett: Stuttgart 1981, 288.
5
Ebd., 309.
6
Ebd., 156.

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er auf die „Rasse“ zu sprechen. Der Begriff meine „nicht nur
Rassisches als das Blutmäßige im Sinne der Vererbung, des
Erbblutzusammenhangs und des Lebensdranges“, sondern er
meine „zugleich auch oft das Rassige“. „Rassisch im ersteren
Sinne“ brauche „noch lange nicht rassig zu sein“, es könne
„vielmehr sehr unrassig sein“7. Heideggers Umgang mit den
„Rasse“-Begriff scheint dem Jüngers zu ähneln. Er wird ver­
ändert in die eigene Sprache integriert. Es gibt aber einen ent­
scheidenden Unterschied.
Heidegger bezweifelt nicht die biologische Bedeutung des
Begriffs. „Rasse“ sei „nicht nur Rassisches als das Blutmäßige“8.
Dass es dieses „Blutmäßige“ gibt, wird nicht in Frage gestellt.
Vielmehr spricht der Philosoph in derselben Vorlesung von
der „Stimme des Blutes“ in ihrem Verhältnis zur „Grundstim­
mung des Menschen“9. Für einen Moment tritt das „Blut“ in
den Vordergrund. Das zeigt auch eine Begriffsreihe aus dem
Seminar über Hegels Rechtsphilosophie. Die „Sorge“ müsse
als „Wahrheit (Natur – Boden – Blut – Heimat – Landschaft –
Götter – Tod)“10 verstanden werden; eine Sequenz von Begrif­
fen, die nicht zufällig zusammengestellt sind.
Genauso wie Heidegger mit dem Begriff der „Rasse“
umgeht, nämlich seine positive Bedeutung anzuerkennen,
um sie einzuschränken (allerdings in ziemlich dunkler Weise,
denn was ist „rassig“?11), behandelt er auch das Ideologem von
„Blut und Boden“.12 „Blut und Boden“ seien „zwar mächtig

7
Martin Heidegger: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache.
GA 38. Hrsg. von Günter Seubold. Frankfurt am Main 1998, 65.
8
Ebd. (Unterstrichen in der Nachschrift der Vorlesung.)
9
Ebd., 153.
10
Martin Heidegger: Seminare Hegel – Schelling. GA 86. Hrsg. von
Peter Trawny. Frankfurt am Main 2011, 162.
11
Der Begriff des „Rassigen“ wird heute wohl ausschließlich auf Frauen
und Sportwagen angewendet.
12
Zaborowski betont, dass Heidegger bei seinem Verständnis von „Staat
und Volk“ „gelegentlich, wenn auch nicht oft sogar eine allem äußeren
Anschein nach eindeutig als rassistisch zu bezeichnende Position ein­

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und notwendig, aber nicht hinreichende Bedingung für das
Dasein des Volkes“13. Wie die „Rasse“ ist das „Blut“ eine „not­
wendige“, jedoch keine „hinreichende Bedingung“. So lautet
auch die schon erwähnte Formulierung in den „Überlegungen
III“: „Eine Bedingung“ werde „zum Unbedingten aufgestei­
gert“.
Soviel scheint klar, doch die Frage bleibt, welche positi­
ve Bedeutung Heidegger in der notwendigen Bedingung der
„Rasse“ für das „geschichtliche Dasein“ sehen will. Die Hin­
weise, die er gibt, beschränken sich auf „Geworfenheit“ und
„Blut“. In einer weiteren Äußerung aus den ersten „Schwar­
zen Heften“ spricht er von der „Macht der ,Rasse‘ (des
Eingeborenen)“14. Diese „Macht“ aber werde nicht entfaltet.
Man züchte vielmehr „kurzsichtige Ahnungslose“. Dieses
Ausbleiben der Entfaltung betrifft die „Geworfenheit“. Was in
ihr zur Entfaltung bereit vorliegt, wird nicht verwirklicht. In
der Sprache von „Sein und Zeit“ gefasst, ließe sich sagen, dass
der „Geworfenheit“ der „Entwurf“ fehlt.
Diesem Gedanken entspricht eine Äußerung Heideggers,
die den „Entwurf“ mit dem Ideologem von „Blut und Boden“
verbindet. Der „Entwurf des Seins als Zeit“ überwinde „alles
Bisherige im Sein und Denken“. Es gehe nicht um eine „Idee“,
sondern um einen „Auftrag“, nicht um eine „Lösung“, son­

genommen“ habe (vgl. Zaborowski: „Eine Frage von Irre und Schuld?“
A.a.O, 420). Wenn „rassistisch“ meint, dass Heidegger aus der „rassi­
schen“ Begründung des „Volkskörpers“ der Deutschen eine Überlegen­
heit gegen andere Völker abgeleitet hätte, muss m. E. der Philosoph vom
Vorwurf des „Rassismus“ freigesprochen werden. Ein „seinsgeschicht­
licher Rassismus“ bestünde dagegen darin, dass Heidegger in der Topo­
graphie der seinsgeschichtlichen Protagonisten auf den Begriff der „Ras­
se“ nicht verzichten wollte, weil er glaubte, die eigentliche Bedeutung von
„Rasse“ käme überhaupt erst in einer bestimmten Epoche der Seinsge­
schichte zum Vorschein. Dazu später.
13
Martin Heidegger: Sein und Wahrheit. GA 36/37. Hrsg. von Hartmut
Tietjen. Frankfurt am Main 2001, 263.
14
Heidegger: Überlegungen und Winke III, 96. In: Ders.: Überlegun­
gen II–VI. GA 94. A.a.O.

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dern um „Bindung“. Der „Entwurf“ löse sich „nicht ab zu
reinem Geist“, sondern öffne und binde „erst Blut und Boden
zu Handlungsbereitschaft und Wirk- und Werkfähigkeit“15.
So verstanden erscheint „Blut und Boden“ als eine „Gewor­
fenheit“, die im „Entwurf“ erst zur Wirkung gebracht wird.
Die „Geworfenheit“ von „Blut und Boden“ wäre dann die
„Rasse“ als eine „notwendige Bedingung“, die im „Entwurf“
erst ihren „Auftrag“ und ihre „Bindung“ bekäme – die Zuge­
hörigkeit zu einem „Volkskörper im Sinne des leiblichen
Lebens“16, die im „Entwurf“ erst ihre eigentliche Bedeutung
erhielte.
So bestimmt der Philosoph die von ihm immer wieder ange­
sprochene „Bodenständigkeit“ als die Eigenschaft eines Men­
schen, der „aus Boden herkommend, in ihm genährt auf ihm
steht“. Das sei „das ursprüngliche – jenes – was mir oft durch
Leib und Stimmung schwingt – als ginge ich über die Äcker
am Pflug, über einsame Feldwege zwischen reifendem Korn,
durch die Winde und Nebel, Sonne und Schnee, die der Mutter
Blut und das ihrer Vorfahren im Kreisen und Schwingen hiel­
ten …“ 17 Die „Rasse“ ist Zugehörigkeit zu einem „Volkskör­
per“ im Sinne des „Blutes der Mutter“ und „ihrer Vorfahren“.
Sie ist „Ursprung“ in diesem Sinne.
Eine Frage, die allerdings auch gestellt werden muss, ist
die, ob nicht mit dem Zugeständnis eines legitimen Gebrauchs
des Rassebegriffs, das sogleich in eine Beschränkung seines
Gebrauchs überführt wird, eine rhetorische Figur Anwendung
findet, die es Heidegger im Umgang mit den Nationalsozia­
15
Ebd., 26 f. Etwas später (ebd., 41): „Die stimmende und bildschaffende
Kraft des Entwurfs das Entscheidende […].“ Es lässt sich übrigens auch
z. B. am Begriff der „Sorge“ zeigen, wie Heidegger um 1933 versuchte,
die Fundamental-Ontologie von „Sein und Zeit“ zu politisieren, d. h. die
Politik zu ontologisieren, also „Metapolitik“ zu treiben.
16
Heidegger: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache. GA 38.
A.a.O., 65.
17
Heidegger: Winke X Überlegungen (II) und Anweisungen, 45. In:
Ders.: Überlegungen II–VI. GA 94. A.a.O.

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listen ermöglichte, seine eigenen, möglicherweise regimekriti­
schen Ideen zu verfolgen. Ohne Frage ist nicht nur nicht auszu­
schließen, dass sich der Philosoph Verdächtigungen vom Leibe
halten wollte, wenn er in den akademischen Veranstaltungen
unmittelbar nach 1933 – zumal als Rektor der Freiburger Uni­
versität – auf die Nationalsozialisten zuging, um sie in seine
Richtung ziehen zu können. Es ist sogar sehr wahrscheinlich,
dass er philosophisch nie oder nur in ganz engen Grenzen mit
dem real existierenden Nationalsozialismus übereinstimm­
te. Nicht ohne Grund hat er die „Schwarzen Hefte“ und die
seinsgeschichtlichen Abhandlungen vor der Öffentlichkeit
verborgen. Doch um diese Problematik geht es hier gar nicht.
Vielmehr wird zu zeigen sein, dass Heidegger einen seinsge­
schichtlichen Antisemitismus, der einen seinsgeschichtlichen
Begriff der „Rasse“ einschloss, durchaus mit einer kritischen
Distanznahme vom realen Nationalsozialismus verbinden
konnte.
Was Heidegger bereits im Verlauf des Rektorats immer
deutlicher wurde, war die vermeintliche Unfähigkeit der Deut­
schen, ihren „Volkskörper“ im Verhältnis von „Geworfenheit“
und „Entwurf“ in Bewegung zu bringen. Die „Vielen, die jetzt
,über‘ Rasse und Bodenständigkeit“ redeten, bewiesen „in
jedem Wort und in jeder Handlung und Unterlassung“, „daß
sie von all dem nicht nur nichts ,haben‘, geschweige denn von
Grund aus rassig und bodenständig sind“18. Wie in anderen
Bereichen der konkreten Verwirklichung der in der Revolution
von 1933 proklamierten ideologischen Motive beginnt der Rek­
tor recht schnell, auch mit Bezug auf die Rasse kritische Töne
anzuschlagen. Die Revolution fiel in seinen Augen hinter ihre
Möglichkeiten zurück. Es wurde „,über‘ Rasse und Boden­
ständigkeit“ geredet, die Zugehörigkeit zum „Volkskörper“
wurde betont, doch es wurden keine Konsequenzen gezogen.

18
Heidegger: Überlegungen und Winke III, 102. In: Ders.: Überlegun­
gen II–VI. GA 94. A.a.O.

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Der „Entwurf“-Charakter der „Rasse“, nämlich die „abend­
ländische Verantwortung“19 der Deutschen, dieses „Volkes der
Erde“20, wurde nicht erkannt.
Auf die Enttäuschung über die verpassten revolutionären
Chancen folgte nun auch die eigentlich philosophische Reak­
tion. „Alles ,Blut‘ und alle ,Rasse‘, jedes ,Volkstum‘“ sei „ver­
geblich und ein blinder Ablauf, wenn es nicht schon in einem
Wagnis des Seins“ schwinge „und als Wagendes dem Blitz­
strahl sich frei“ stelle, der es dort treffe, „wo seine Dumpfheit
auseinanderbrechen“ müsse, „um der Wahrheit des Seyns den
Raum einzuräumen, innerhalb dessen erst das Seyn ins Werk
des Seienden gesetzt werden“21 könne. Der Blick wandelt sich.
Heidegger erkennt mehr und mehr, dass die „Geworfenheit“
der „Rasse“ hinter das „Wagnis“, der „Wahrheit des Seyns“ zu
entsprechen, zurückfällt.
Der Weg, den Heidegger hinsichtlich des Begriffs der „Ras­
se“ in den späteren dreißiger Jahren einschlägt, ist derselbe,

19
Martin Heidegger: Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedan­
ken (1945). In: Ders.: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges.
GA 16. Hrsg. von Hermann Heidegger. Frankfurt am Main 2000, 378.
Bei der Konzeption des Begriffs der „abendländischen Verantwortung“
ist allerdings zu beachten, dass Heidegger ihn erst nach dem Krieg ver­
wendete. In den „Schwarzen Heften“ taucht er ebenso nach 1945 in den
„Anmerkungen II“ auf. Die Entscheidung, vom „Abend-Land“ und
„Abendländischen“ zu sprechen, entspringt einer Verschiebung des Nar­
rativs vom „ersten“ und „anderen Anfang“ im Verhältnis der Griechen
und Deutschen. Hat Heidegger unter „abendländischer Verantwor­
tung“ etwas anderes verstanden als die Einschreibung der europäischen
Geschichte in den Übergang vom „ersten“ zum „anderen Anfang“? Frei­
lich ist „Europa“ für Heidegger nicht das „Abend-Land“. Darauf kann
hier nicht weiter eingegangen werden.
20
Martin Heidegger: Seminare Kant – Leibniz – Schiller. Teil 1: Som­
mersemester 1931 bis Wintersemester 1935/36. GA 84.1. Hrsg. von Gün­
ther Neumann. Frankfurt am Main 2013, 338. „Erde“ ist hier – in dieser
ambivalenten Wendung – gewiss auf die „Erde“ im „Streit von Welt und
Erde“ bezogen, nicht auf den Planeten.
21
Heidegger: Überlegungen X, 103. In: Ders.: Überlegungen VII–XI.
GA 95. A.a.O.

65

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dem er in beinahe allen Dimensionen seines Verhältnisses zum
Nationalsozialismus folgt. Je mehr er sah, dass das Narrativ
vom „ersten“ und „anderen Anfang“ nichts mit der „nationa­
len Revolution“ zu tun hatte, je deutlicher er erkannte, dass der
reale Nationalsozialismus niemals ein Interesse hatte, sich an
Hölderlins Dichtung zu orientieren, desto mehr nahm er auch
philosophisch Abstand vom „Rassedenken“.
„Alles Rassedenken“ sei „neuzeitlich“, bewege „sich in
der Bahn der Auffassung des Menschen als Subjektum“. Im
„Rassedenken“ werde der „Subjektivismus der Neuzeit durch
Einbeziehung der Leiblichkeit in das Subjektum und die
vollständige Fassung des Subjektums als Menschentum der
Menschenmasse vollendet“. „Gleichzeitig“ vollziehe „sich die
Ermächtigung der Machenschaft in die Unbedingtheit“22. Wo
sich der Mensch mit seiner Leib-Seele-Geist-Anthropologie
zum Fundament des Seins mache, habe eine „brutalitas des
Seins“23 eingesetzt, mit der sich der Mensch „zum factum bru­
tum“ mache „und seine Tierheit durch die Lehre von der Rasse
,begründet‘“. Diese Gedanken, die Heidegger auch öffentlich,
z. B. in den Nietzsche-Vorlesungen, vortrug, bilden den Kern
der seinsgeschichtlichen Kritik am „Rassedenken“. Eine Apo­
logetik, die darin eine umfassende Absage an den Begriff der
„Rasse“ erkennen möchte, irrt trotzdem.
Das gilt auch dann noch, wenn Heidegger sich immer mehr
vom real existierenden Nationalsozialismus entfernt. „Man
verfalle doch nicht der Grundtäuschung“, heißt es einmal, „als
sei mit der jedermann leicht möglichen Einsicht in die biolo­
gischen Züchtungsbedingungen des ,Volkes‘ das Wesent­liche
getroffen – wo doch die Vorherrschaft dieser ihrer Natur
nach groben und gängigen biologischen Denkweise gera­
de die Besinnung auf die Grundbedingungen des Volkseins“
22
Heidegger: Überlegungen XII, 69 f. In: Ders.: Überlegungen XII–XV.
GA 96. A.a.O.
23
Heidegger: Überlegungen XI, 57 f. In: Ders.: Überlegungen VII–XI.
GA 95. A.a.O.

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verhindere. Das „Wissen und gar Schaffen dieser Bedingun­
gen“ müsse eine „Befreiung von allem Rechnen auf den Nut­
zen“ sein, „sei dieser Eigen- oder Gemeinnutz“ 24. Heidegger
scheint demnach offenbar mit dem Verzicht auf die „Einsicht
in die biologischen Züchtungsbedingungen des ,Volkes‘“ so
etwas wie eine Abschaffung der Nürnberger Rassegesetze zu
fordern. Was ein „Volk“ ist, lässt sich nicht durch technische
Organisation bewerkstelligen. Der Philosoph führt die Entste­
hung des „Volkes“ in dieser Zeit gänzlich abiologisch auf das
„Da-sein“ zurück.25
Doch an dieser Stelle erscheint es angezeigt, die Bemer­
kung über die „rechnerische Begabung“ der Juden nicht aus
den Augen zu verlieren: Muss die geforderte „Befreiung von
allem Rechnen auf den Nutzen“ nicht den Eindruck erwecken,
Heidegger wolle die Deutschen aus ihrer im Verhältnis zum
„Rasseprinzip“ der Juden epigonalen Rolle befreien? Gewiss
kann nicht jede Kritik am „rechnenden Denken“ auf Heid­
eg­­gers antisemitische Invektive zurückgeführt werden, die
Juden seien die rassenpolitische Avantgarde. Aber wir können
hier die seinsgeschichtlich-antisemitische Kontamination des
Heid­eg­gerschen Denkens, von der oben die Rede war, auch
nicht einfach unbeachtet lassen.
Es muss sorgfältig bedacht werden, wie die seinsgeschicht­
liche Auslegung der „Rasse“ in den Zusammenhang des sich
entfaltenden Narrativs der Seinsgeschichte überhaupt gehört.
Einen Aspekt der Kritik am „Rassedenken“ bildet die Wie­
derholung der Kritik an dem früher bereits angemahnten Irr­
tum einer Verabsolutierung der „Rasse“. Sie erscheint nun als
ein Moment der im „Subjektivismus der Neuzeit“ schlecht­
hin angelegten Tendenz, das „Subjektum“ mit seiner spezifi­
schen Anthropologie und Organisation absolut zu setzen. Das
24
Heidegger: Überlegungen V, 36 f. In: Ders.: Überlegungen II–VI.
GA 94. A.a.O.
25
Vgl. Trawny: Adyton. Heideggers esoterische Philosophie. A.a.O.,
78 ff.

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aber kann keineswegs bedeuten, dass Heidegger sich davon
distanzieren müsste, die „Rasse“ weiterhin als ein geschicht­
liches Phänomen ernstzunehmen. Im Gegenteil: die „Unbe­
dingtheit“ der „Machenschaft“ schließt so unausweichlich die
Absolutheit des „Rassedenkens“ ein, dass mit ihr die „Rasse“
überhaupt erst wirklich relevant wird, nämlich durch ihre
seinsgeschichtliche Bedeutung.
Nun muss das „Weltjudentum“ als eine der Hauptfiguren
der „Machenschaft“ dargestellt werden. Das ergibt sich aus
ihrer „Unbedingtheit“. Da die Juden „am längsten schon nach
dem Rasseprinzip“ leben, haben sie im Spielraum des in der
„Unbedingtheit“ der „Machenschaft“ angelegten „Subjektivis­
mus der Neuzeit“ eine privilegierte Position. An dieser Stel­
le wird greifbar, dass Heidegger mit seinen Äußerungen über
die Juden keine aggressive Aversion verbunden haben muss.
Bei Berücksichtigung der „Protokolle der Weisen von Zion“
darf man annehmen, dass die Topographie der Seinsgeschichte
in seinen Augen einen Rekurs auf die „Machtentfaltung“ der
Juden unvermeidlich machte.
Wenn die seinsgeschichtliche Integration des „Rasseden­
kens“ in den „Subjektivismus der Neuzeit“ den Begriff der
Rasse keineswegs überflüssig macht, so zeigt das bereits, dass
Heidegger die „Entrassung der Völker“ als eine „Selbstent­
fremdung“ erscheint. Er hält daran fest, dass die „Rasse“ eine
„notwendige“, wenngleich keine absolute „Bedingung“ des
„Volkskörpers“ sei. Dem entspricht auch ein späterer Gedan­
ke. Als gegen Ende der dreißiger Jahre Heidegger immer mehr
die seinsgeschichtliche Bedeutung des „Russischen“ betont,
stellt er einmal die Frage, „warum nicht die Reinigung und
Sicherung der Rasse dazu bestimmt sein sollte, einmal eine
große Mischung zur Folge zu haben: die mit dem Slaventum“,
mit „dem Russischen – dem ja der Bolschewismus nur aufge­
drängt und nichts Wurzelhaftes“26 sei. Im „Russischen“ sah der
26
Heidegger: Überlegungen XI, 67. In: Ders.: Überlegungen VII–XI.
GA 95. A.a.O.

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Philosoph eine Parallele zu den Deutschen. Wie diese wurden
die Russen von der „Unbedingtheit“ der „Machenschaft“ in
Schach gehalten. Was hier der Nationalsozialismus, war dort
der Bolschewismus. Und die dritte Figur der „planetarischen
Hauptverbrecher“ war das „Weltjudentum“.
Der seinsgeschichtliche Antisemitismus besteht darin, dass
Heidegger meint: Die „nach dem Rasseprinzip“ lebenden
Juden machen in der „Unbedingtheit“ der „Machenschaft“,
dieser „brutalitas des Seins“, eben die in diesem „Rasseprin­
zip“ fundierte Selbstauslegung, die ihnen aufgibt, „schlechthin
ungebunden“ die „Entwurzelung des Seienden“ zu betreiben,
zum Sinn und Zweck ihrer „Machtentfaltung“. Das „Welt­
judentum“ muss ihm als ein Volk oder als die Gruppe eines
Volkes erschienen sein, das/die in höchster Selbstkonzentrati­
on kein anderes Ziel verfolgte als die Zersetzung aller anderen
Völker: eine „Rasse“, die bewusst die „Entrassung der Völker“
betrieb.

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Das Fremde und das Fremde

Einer der irritierendsten Gedanken in Heideggers Denken am


Ende der dreißiger Jahre ist der, dass die „Machenschaft“ eine
„vollständige Entrassung der Völker durch die Einspannung
derselben in die gleichgebaute und gleichschnittige Einrich­
tung alles Seienden“ betreibe und damit eine „Selbstentfrem­
dung der Völker“ als „Verlust der Geschichte“ bewirke. Das
Problem, wie bei Heidegger das Verhältnis von Rasse und Volk
zu denken ist, wurde schon angesprochen. Die Verbindung von
„Entrassung“ und „Selbstentfremdung der Völker“ legt nahe,
einen wie auch immer gearteten Zusammenhang zwischen der
Rasse und dem Eigenen eines Volkes anzunehmen; wie auch
immer geartet, weil Heidegger den Zusammenhang nie deut­
lich machen konnte.
Das Eigene wird vom Fremden unterschieden. Es lässt sich
fragen, wie Heidegger das Fremde gedacht hat. Auffällig ist,
dass am Beginn der dreißiger Jahre und im weiteren Verlauf
des Jahrzehnts das Wortfeld des „Fremden“ („Fremdheit“,
„Befremdlichkeit“, „Befremdung“, das „Befremdlichste“, das
„Nur-befremdliche“ etc.) einen großen Raum einnimmt. Heid­
egger ist bemüht, eine Philosophie des Fremden mit der spe­
zifischen Choreographie einer Revolution zu verbinden. Im
Augenblick des Zusammenbruchs des Gewohnten sollte alles
anders und d. h. fremd werden.
So zielt Heideggers philosophisches Vorhaben auf ein eigen­
artiges Projekt: „Den Menschen hindurchjagen durch die ganze
Fremdheit und Befremdlichkeit des Wesens von Sein bei aller

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Wesentlichkeit desselben.“1 Das „Wesen von Sein“ ist fremd.
Diese Fremdheit erzeugt offenbar eine gewisse Weigerungs­
haltung des Menschen, die ein „Hindurchjagen“ nötig macht.
Dieses Geschehen soll dem „Wesen von Sein“ nichts nehmen,
seine „Wesentlichkeit“ soll erhalten bleiben. Die Revolution
muss radikal sein.
Nun wird die Topographie des Seins eine einzige Land­
schaft des Fremden. Die Frage, „warum ist überhaupt Seiendes
und nicht nichts?“ – für Heidegger die Frage der Metaphysik –
wird zum „Anlauf in das Befremdende der Fremde des Da“2.
Das „Da-sein“ – eine fremde Ortschaft. Die Philosophie hat
die Aufgabe, diese Ortschaft zu eröffnen. Sie „geht zurück in
das Verborgene als das Unverständliche und Befremdende“ 3.
In dieser Landschaft verkörpern bestimmte Denker das
Fremde. „Heraklit – Kant – Hölderlin – Nietzsche“ seien
„ganze Fremde“, die „in ihr großes Eigenstes“ zurückgestellt
werden müssen, damit „wir sie mit unserer Halbheit“ nicht
„gemein“  4 machen. Die Denker sind – nach einem Sokrati­
schen Wort – die Atopischen, die Ortlosen. Sie sind die, „die
das Seyn stiften und die Wahrheit des Seyns denken“, „Fremd­
linge im Seienden, befremdlich für Jedermann“5.
Es geht um die „Ankunft einer anderen Wahrheit“, um
einen „Überfall der Fülle des Nur-befremdlichen“6. Diese
„andere Wahrheit“ kann in der Gewohnheit und d. h. in der
gewöhnlichen Auffassung der Wahrheit nicht untergebracht

1
Heidegger: Winke x Überlegungen (II) und Anweisungen, 55. In:
Ders.: Überlegungen II–VI. GA 94. A.a.O.
2
Martin Heidegger: Überlegungen IV, 38. In: Ders.: Überlegungen II–
VI. GA 94. A.a.O.
3
Ebd., 52.
4
Heidegger: Überlegungen und Winke III, 96. In: Ders.: Überlegun­
gen II–VI. GA 94. A.a.O.
5
Heidegger: Überlegungen IV, 102. In: Ders.: Überlegungen II–VI.
GA 94. A.a.O.
6
Martin Heidegger: Überlegungen VI, 46. In: Ders.: Überlegungen II–
VI. GA 94. A.a.O.

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werden. Der „Überfall der Fülle des Nur-befremdlichen“ ist
das philosophisch intensivierte Verständnis der Revolution. In
ihr sollte nichts mehr von dem übrigbleiben, was Heidegger
nur als Gestalten des Endes ansehen konnte.
Das „Nur-Befremdliche“ kann philosophisch nur durch den
Unterschied des Seienden vom Sein erhellt werden, d. h. durch
die Anfang der dreißiger Jahre noch „ontologische Differenz“
genannte Abspaltung des Seins vom Seienden. Das Sein selbst
ist das völlig Andere zum Seienden. Es ist so sehr anders, dass
es als das Nicht-Seiende gedacht werden muss. Dieses Sein
selbst entzieht sich, ist verborgen und kann nur als „Wahr­
heit des Seyns“ im Sinne einer Verborgenheit, eines Entzugs
in bestimmten Stimmungen und Grundstimmungen erfahren
werden. Da es nichts Bekanntes und Gewohntes enthält, da es
unvergleichlich, weil vollkommen einzigartig ist, darf es als
das „Nur-befremdliche“ bezeichnet werden.
Mit Heidegger ließe sich dieser Gedanke weiterspinnen. Es
ließe sich die Frage nach einer Atopographie des Fremden7 stel­
len, in der das Fremde und sein Ort oder seine Ortlosigkeit
von einer langweiligen Dialektik des Fremden und Vertrauten
befreit werden könnte. In einer solchen Xenologie ließe sich
vielleicht eine Philosophie des Fremden als das Fremde der
Philosophie – als ein Denken des Fremden, das von diesem
selbst nicht unberührt bliebe – entfalten. In Heideggers Den­
ken über das Fremde zeigt sich, wie extrem er sich die Folgen
der Revolution dachte und wie radikal er damit jede Form von
Politik – auch die Platonische – destruierte. Die Revolution
war für ihn eine seinsgeschichtliche Totalumwälzung nicht nur
der gewohnten Lebenswelt, sondern auch der Philosophie, der
Wissenschaft, der Kunst und der Religion. Klar ist, dass die
Nationalsozialisten so etwas nur für die abseitige Idee eines
Phantasten gehalten hätten. Heidegger wusste, warum er sol­
7
Vgl. Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur
Phänomenologie des Fremden I. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main
1997, 184 ff.

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che Gedanken nur den „Schwarzen Heften“ anvertraute, war­
um er sie – wie er sagte – „verschwieg“8.
Dabei sind solche Fragen der Philosophie seit dem Neo­
platonismus eines Plotin, seit der mystischen Theologie eines
Pseudo-Dionysius oder bestimmten Predigten von Meister
Eckhart nicht unbekannt. So gesehen zeigt sich Heidegger
einer bestimmten Denk-Tradition zugehörig, die die Fremd­
heit der philosophischen Wahrheit kennt und diese gegen
bequeme Vereinfachungen verteidigt. Alles in allem ließe sich
also sagen, dass hinter dem revolutionären Pathos Heidegger­
schen Stils, der dem Zeit-Geschmack geschuldet ist, attraktive
philosophische Fragen stehen.
Das eigentliche Problem beginnt aber anderswo. Es ist
bemerkenswert, dass Heidegger offenbar das Phänomen der
Fremde nicht nur für das Sein selbst reserviert, sondern auch
eine Fremdheit des Seienden kennt. Anders ist es nicht zu ver­
stehen, dass er im Zusammenhang mit dem den „Bauern“ „auf­
geredeten“ „Radioapparat“ auf „städtische Fremde“ zu spre­
chen kommt, „die das Dorf zunehmend überschwemmen“9.
Hier erhält die Fremdheit ein andere Bedeutung. Sie wird als
etwas erfahren, was den vorausgesetzten Ursprung gefährdet.
„Technik und Entwurzelung“ bilden eine Einheit, in der das
technische Gerät die ursprüngliche Lebensgewohnheit zer­
stört.10
8
Heidegger: Überlegungen IV, 24. In: Ders.: Überlegungen II–VI.
GA 94. A.a.O.: „Der wirkende Vollzug der Verschweigung und Verhal­
lung als Eröffnung und Umstellung des Seienden mit wesendem Seyn. /
Das fordert aber den wesentlichen Verzicht, von Verschweigung zu reden
und etwa vom Wesen der Sprache als Schweigen zu sagen – es sei denn
verschwiegen.“
9
Martin Heidegger: Überlegungen V, 79. In: Ders.: Überlegungen II–
VI. GA 94. A.a.O.
10
Die Behandlung des Stadt-Land-Verhältnisses bei Heidegger ist häu­
fig kritisiert worden. Zuletzt bei Hans Dieter Zimmermann: Martin und
Fritz Heidegger. Philosophie und Fastnacht. C. H. Beck Verlag: München
2/2005, 60 ff. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, ob bei Heideggers
Vorliebe für die „Schwarzwaldhütte“ nur von einer „Stilisierung“ ausge­

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Noch problematischer wird der Umgang mit dem Frem­
den, wenn Heidegger es in die seinsgeschichtliche Polarität
von Deutschen und Griechen, von „erstem“ und „anderem
Anfang“ der Philosophie einschreibt. Hier konstatiert er einen
„Erbfehler der Deutschen, nach dem Fremden zu blicken“.
Dieser Fehler müsse „überwunden“, ein „eigener Geschmack“
entwickelt werden. Es sei falsch, es „den Anderen nachzutun
und auf die ,Politik‘ Alles und das Erste“ zu setzen. Jedes Volk
verliere „sein Eigenstes“ „um so leichter, je einziger dieses nur
das Seine und das Unvergleichliche“11 sei.
Dieser „Erbfehler – das Hinter-den-anderen-herlaufen und
das Verherrlichen des Fremden, weil es fremd“12 sei, müsse
abgelegt werden. Überhaupt „taumeln die Deutschen in der
Wesensfremdheit, die ihnen die Neuzeit“ aufgedrängt habe.
Darin liege „die Gefahr, daß sie der ausschließlichen Herr­
schaft ihres eigenen Unwesens verfallen“13. Das „Unwesen“ ist
einerseits der der „Machenschaft“ dienende Nationalsozialis­
mus, andererseits jener „Erbfehler“ selbst.
Daraus entspringt die dramatisch klingende Frage: „Wohin

gangen werden darf. Es ist nicht sachgerecht, der Faktizität des Wohnens
in differenten Landschaften jegliche Bedeutung abzusprechen.
11
Heidegger: Überlegungen VII, 12. In: Ders.: Überlegungen VII–XI.
GA 95. A.a.O. Der Gedanke, dass die Deutschen ein „Fremdes“ nach­
ahmen, ist nicht originell. Er findet sich z. B. beim frühen Nietzsche. So
heißt es am Beginn von „David Strauss der Bekenner und Schriftsteller“:
„Hätten wir wirklich aufgehört, sie [die Franzosen, P. T.] nachzuahmen,
so würden wir damit noch nicht über sie gesiegt, sondern uns nur von
ihnen befreit haben: erst dann, wenn wir ihnen eine originale deutsche
Kultur aufgezwungen hätten, dürfte auch von einem Triumphe der deut­
schen Kultur die Rede sein. Inzwischen beachten wir, dass wir von Paris
nach wie vor in allen Angelegenheiten der Form abhängen - und abhän­
gen müssen: denn bis jetzt giebt es keine deutsche originale Kultur.“ In:
Unzeitgemäße Betrachtungen. KSA 1, 164 f. Heidegger hat den Begriff
der „Kultur“ natürlich erbittert abgelehnt.
12
Heidegger: Überlegungen VII, 14. In: Ders.: Überlegungen VII–XI.
GA 95. A.a.O.
13
Heidegger: Überlegungen IX, 1. In: Ders.: Überlegungen VII–XI.
GA 95. A.a.O.

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sind die Deutschen geraten? “ Sie seien immer noch dort, wo
Hölderlin und Nietzsche sie vorgefunden haben. Daher der
zunehmend resignative Verdacht, dass es „vielleicht“ das
„Wesen der Deutschen“ sei, „immer noch und immer unwis­
sender – ,das Fremde‘ zu verherrlichen und nachzumachen“.
„Vielleicht“ komme diese Verleugnung des „Wesens“ „durch
den von ihnen noch gründlicher geübten ,Amerikanismus‘ und
durch den noch ,rastloser‘ vollzogenen ,Romanismus‘“. Dann
wäre es nicht das „,Volk‘“, das „dem Seyn die Stätte seiner
Wahrheit bereitet“14.
Anders gesagt: „Befreiung“ ist für Heidegger „Gründung in
das ungehobene Wesen, die ihre Weisung aus der bodenständi­
gen Nähe zum Ursprung“ empfängt. Der „Schein von Befrei­
ung“ aber ist die „Wegführung in das wurzellose Fremde, das
keinen Fug zu schenken“15 vermag. Die „Entrassung der Völ­
ker“ als deren „Selbstentfremdung“ ist diese Auslieferung an
das „wurzellose Fremde“. Der Preis, den sie für diese „Selbst­
entfremdung“ zahlen, ist eine Scheinfreiheit.
Es gibt bei Heidegger demnach zweierlei Fremdes. Um dem
Unterschied beider zunächst philosophische Überzeugungs­
kraft zu verleihen, müsste das ontologisch Fremde von einem
ontisch Fremden unterschieden werden. Es gäbe das Sein selbst
als das Fremde selbst und fremdes Seiendes, das u. a. auch als
ethnisches Fremdes auftreten könnte. Allerdings dürfte die
Überzeugungskraft dieser Unterscheidung nicht überschätzt
werden; denn das Fremde als das Sein selbst schreibt Heid­eg­
ger den Griechen und den Deutschen auf zweifache Weise zu:
Erstens ist es der „Ursprung“ schlechthin, der „Bodenstän­
digkeit“ gewährt, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er nach
Heidegger der „Überfall der Fülle des Nur-befremdlichen“ ist.
„Ursprung“ aber ist nur Griechen und Deutschen eigen, sofern
14
Heidegger: Überlegungen X, 101 f. In: Ders.: Überlegungen VII–XI.
GA 95. A.a.O.
15
Heidegger: Überlegungen XIII, 64. In: Ders.: Überlegungen XII–XV.
GA 96. A.a.O.

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sie über den „ersten“ und den „anderen Anfang“ entscheiden.
Dies wiederum ist essentiell für die zweite Weise der Seins­
fremdheit. Denn für die Deutschen gibt es eine ausgezeichnete
Fremde und zwar die der Griechen. Diese Fremde wird von
Heidegger in seinen Hölderlin-Vorlesungen interpretiert.16 Sie
gehört in das Narrativ der Begegnung von Griechen und Deut­
schen, einer Begegnung, in der sie in der Durchdringung des
jeweils Anderen, des jeweils Fremden, das „Eigene lernen“. Mit
der narrativen Festlegung des Fremden erhält es die Signatur
des „Anfangs“ und wird so in das Eigene transformiert.
Die Frage ist aber, wie dem Sein selbst, diesem ganz Ande­
ren zum Seienden, eine Signatur eignen soll, die es gerade den
Deutschen (und den Griechen) erlaubt, ihm „eine Stätte zu
bereiten“? Zwar ließe sich behaupten, dass das Denken des
Seins selbst eine griechische Herkunft habe. Doch nichts gibt
Anlass anzunehmen, dass das Sein selbst diese Herkunft zu
bewahren hätte, da es nichts aufweist – nicht einmal eine Spra­
che –, wodurch die „Verwurzelung“ in einer geschichtlichen
Konstellation zweier Völker möglich würde.
Damit soll keineswegs geleugnet werden, dass die Philo­
sophie und mit ihr das Seins-Denken eine Geschichte hat. Es
kann auch nicht geleugnet werden, dass die deutsche Rezep­
tion des „Griechentums“ seit Winckelmann und seinen Schrif­
ten eine europäische Besonderheit darstellt. Die kulturpoliti­
schen Projekte Goethes oder Wagners (beides Namen, denen
Heidegger lange Zeit ablehnend gegenüberstand) können ohne
sie nicht verstanden werden. Heidegger gehört demnach mit
16
Heidegger: Hölderlins Hymne „Der Ister“. GA 53. A.a.O., 67: „Das
Fremde freilich, durch das hindurch die Heimkehr wandert, ist kein
beliebiges Fremdes im Sinne des bloßen unbestimmten Nicht-Eigenen.
Das auf die Heimkehr bezogene, d. h. mit ihr einige Fremde, ist die
Herkunft der Heimkehr und ist das gewesen Anfängliche des Eigenen
und Heimischen. Dieses Fremde des geschichtlichen Menschentums der
Deutschen ist für Hölderlin das Griechentum.“ Überflüssig zu sagen,
dass das, was „für Hölderlin“ gilt, nach Heidegger „für die Deutschen“
gilt.

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seinem Narrativ der seinsgeschichtlichen Bedeutung des Ver­
hältnisses von Deutschen und Griechen in eine Reihe großer
Denker, Dichter und Komponisten. Das ändert aber nichts
daran, dass der Gedanke eines Seins selbst es verbietet, ihm
geschichtliche (oder historische) Attribute einzuschreiben und
es so für spezifische Narrative zu reservieren.17
Denn es ist wahr, dass das Sein selbst ob seiner ihm eige­
nen Negativität „nur-befremdlich“ ist. Im Sein selbst gibt es
nichts, das uns wie ein Seiendes bekannt sein könnte. Der
Adressat dieses „Nur-befremdlichen“ kann demnach weder
exklusiv ein Deutscher noch ein Franzose, weder ein Russe
noch ein Chinese sein. Sein Adressat ist der Möglichkeit nach
jeder. Und das „wurzellose Fremde“? Heidegger bestimmt
es häufig als „Amerikanismus“, seltener als „Romanismus“,
obwohl auch „die Franzosen“ nach bestimmten Äußerungen
in den „Schwarzen Heften“ dem „Ursprung“ nicht zu ent­
sprechen vermögen. Gleichgültig, ob Heidegger wirklich grob
konservativ mit „Amerikanismus“ das Amerikanische als das
im Kern europäische Prinzip der nihilistischen Massenkultur
meint, oder ob er in ihm die Fortsetzung und die eigentliche
Form des „Weltjudentums“ erblickt – sowohl die eine als die
andere Möglichkeit stehen für das „wurzellose Fremde“.
Zweifellos kann der vermeintliche „Erbfehler der Deut­
schen“, dem Fremden nachzulaufen, überhaupt nur verstanden
werden, wenn dieses Fremde eine Gestalt bekommt. Für den

17
Deshalb ist die Diskussion um einen Sprachchauvinismus bei Heid­
egger von vornherein unsinnig. Vgl. Victor Farías: Heidegger und der
Nationalsozialismus. S. Fischer Verlag: Frankfurt am Main 1989, 389 f.
Das Denken des Seins ist nicht an eine bestimmte Sprache gebunden.
Was der Satz: „Das ist ein Tisch.“ in Bezug auf das „ist“ meinen kann,
lässt sich in allen Sprachen sagen (Sein als Existenz, als Wesen, als Wahr­
heit etc.) – selbst wenn diese kein Wort für das Verbalsubstantiv „Sein“
haben. Eine andere Frage ist die nach der Übersetzbarkeit der Sprachen.
Dass Heidegger diesbezüglich ein besonderes Interesse und eine beson­
dere Vorstellung hatte, ist bekannt. Im Übrigen ist die Behauptung, dass
Sprachen nicht „eins zu eins“ übersetzbar sind, keine chauvinistische.

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„Bauer“ ist es bereits der „Städter“, der den „Radioapparat“
empfiehlt. Für den Deutschen mag es vielgestaltig sein: eine
der Gestalten des Fremden kann das „Weltjudentum“ oder der
„noch gründlicher geübte ,Amerikanismus‘“ sein. Sofern das
„Weltjudentum“, wie oben erwähnt, „überall unfassbar“ ist,
kann es als das „wurzellose Fremde“ schlechthin erscheinen.
Heidegger hat niemals daran gedacht, dass womöglich gerade
in der Erfahrung dieses Fremden – so es als „Fremdes“ bezeich­
net werden kann – ein „Eigenes“ sich hätte bewähren können.
Vielmehr wurde es für ihn immer deutlicher, dass der „Erb­
fehler“ seine Konsequenzen forderte. Die Deutschen wollten
das „Volk der Dichter und Denker“ nicht sein. Sie waren nicht
bereit, dem „ersten Anfang“ mit einem „anderen Anfang“ zu
entsprechen. Das trieb Heidegger immer tiefer in den Gedan­
ken, dass auch die Deutschen der globalen Technik nichts ent­
gegenzusetzen hätten. Das „wurzellose Fremde“ war mächti­
ger, es beherrschte die Deutschen, es war immer schon überall
da. Alles wurde nun der „totalen Mobilmachung“ (E. Jünger)
bzw. der „Machenschaft“ zugeschrieben. Die Frage blieb, wel­
che Lebensweise diesem Fremden am meisten entsprach. Nach
1945 war die „Heimatlosigkeit“ zu einem „Weltschicksal“18
geworden. War der Triumph der Technik nicht doch der letzte
Sieg des „Weltjudentums“?
Nach dem Krieg bemerkt Heidegger einmal, dass „frem­
des Wesen“ „unser noch uns vorenthaltenes eigenes Wesen“19
umstelle und verunstalte. Mit der ihm eigenen Ambivalenz
fragt er weiter, „woher“ „die Verführbarkeit der Deutschen zu
fremdem Wesen, woher das Unvermögen zur Politik“, „woher
die Anmaßung und woher die Gründlichkeit, mit der auch das
Irrige und Maßlose betrieben“ werde, „woher die Formlosig­
keit und alles Unwesen, das sie begleitet“, stamme. Doch die
Ambivalenz liegt nicht in den Fragen, sie liegt in der Ansicht,
18
Heidegger: Brief über den „Humanismus“. A.a.O., 339.
19
Martin Heidegger: Anmerkungen I, 70. In: Ders.: Anmerkungen I–V.
GA 97. A.a.O.

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es gebe ein „fremdes Wesen“, das die „Deutschen“ verführt
habe. Das „fremde Wesen“ ist eine seinsgeschichtliche Größe,
die sich in faktischen Fremden verkörpern kann. Häufig sind
für Heidegger die „Fremden“ schlicht die Juden.

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Heidegger und Husserl

Das Selbstverständnis philosophischer Strömungen hängt stets


mit der Geschichte ihrer Entstehung zusammen. Generationen
von Philosophen bilden ein Gespräch auf der Grundlage einer
gemeinsamen Herkunft. Diese Herkunft braucht keineswegs
allzu harmonisch sein, es genügt, dass man sich auf sie in einer
gewissen Spannweite abweichender Ansichten einigen kann.
Die „Phänomenologie“, wie sie sich im 20. Jahrhundert beson­
ders in Deutschland und Frankreich und davon ausgehend bei­
nahe in ganz Europa, ja, in der ganzen Welt entfalten konnte,
empfing und empfängt ihr Selbstverständnis vom Gründervä­
terpaar Edmund Husserl und Martin Heidegger.1
Dieses Selbstverständnis hat feste Anknüpfungspunkte.
Husserl kam 1916 nach Freiburg. Der habilitierte Heidegger
wurde sein Assistent. „Seit 1919 selbst lehrend-lernend“ habe
er „in der Nähe Husserls das phänomenologische Sehen“2 ein­
geübt, heißt es in einer Stellungnahme von 1963. Heidegger
schätzt besonders die sechste „Logische Untersuchung“ und
spricht von Husserl als dem „Meister“.
Zudem hatte Heidegger 1926 „Sein und Zeit“ „Edmund
Husserl in Verehrung und Freundschaft zugeeignet“ – dieses
1
Vgl. noch zuletzt Heidegger und Husserl. Neue Perspektiven. Hrsg.
von Günter Figal und Hans-Helmuth Gander. Klostermann Verlag:
Frankfurt am Main 2/2013. Bei allen Differenzen betrachtet man sich als
zusammengehörig.
2
Martin Heidegger: Mein Weg in die Phänomenologie. In: Zur Sache
des Denkens. GA 14. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann.
Frankfurt am Main 2007, 98.

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Buch, das bis heute Philosophierende in seinen Bann zieht und
das noch Jürgen Habermas als „den wohl tiefsten Einschnitt
in der deutschen Philosophie seit Hegel“3 bezeichnete. Selbst
als deutlich wurde, dass das spätere Denken Heideggers im
Grunde nichts mehr mit Husserls zu tun hatte, konnte man auf
das „Hauptwerk“ verweisen, in dem die Widmung steht. Es
spricht aus einer Zeit, in der niemand ahnen konnte, dass sich
die deutsche Geschichte schmerzhaft auch in die Gründungs­
geschichte der Phänomenologie einzeichnen würde.
Freilich ist inzwischen bekannt, dass Husserl das Werk
ablehnte. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass er schockiert
war. 4 Er musste erkennen, dass der, von dem er in der Tat
erwartet hatte, er könne die „transzendentale Phänomenolo­
gie“ fortsetzen, einen eigenen, in seinen Augen irrigen Weg
einschlug. In einem Brief Husserls an Roman Ingarden heißt
es, er denke darüber nach, einen „Artikel gegen Heidegger“5
zu schreiben. 1934 spricht er von Heideggers Denken als der
„zeitgemäßen Ontologie des Irrationalismus“6.

3
Jürgen Habermas: Heidegger – Werk und Weltanschauung. In: Victor
Farías: Heidegger und der Nationalsozialismus. S. Fischer: Frankfurt am
Main 1989, 13.
4
Vgl. Randbemerkungen Husserls zu Heideggers Sein und Zeit und
Kant und das Problem der Metaphysik. Hrsg. von Roland Breeur. Hus­
serl Studies 11 (1–2). 1994, 3–63. Es ist jedoch durchaus nicht so, dass
ihm nicht bekannt sein konnte, inwiefern Heidegger auf einem eige­
nen Weg war. Dagegen spricht die Zusammenarbeit am „Enzyclopae­
dia Britannica“-Artikel. Heidegger selbst verweist in einer Notiz auf
ein „Todtnauberger Gespräch“, in dem um die Zeit der Entstehung von
„Sein und Zeit“ Unterschiede zwischen Husserl und Heidegger deut­
lich geworden sein müssen. Vgl. Edmund Husserl: Phänomenologische
Psychologie. Vorlesungen SS 1925. Hua IX. Hrsg. von Walter Biemel.
Nijhoff: Haag 1973, 274.
5
Edmund Husserl: Briefwechsel. Bd. III. Die Göttinger Schule. Hrsg.
von Karl Schuhmann. Kluwer Academic Publishers: Dordrecht et al.
1994, 265.
6
Edmund Husserl: Briefwechsel. Bd. VII. Wissenschaftlerkorres­
pondenz. Hrsg. von Karl Schuhmann. Kluwer Academic Publishers:
Dordrecht et al. 1994, 15. Brief an Émile Baudin, kursiv von mir.

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Es ist natürlich keine Kleinigkeit, dass Heidegger Husserl
„Sein und Zeit“ widmete. Man kann annehmen, Heidegger
sei davon ausgegangen, sein Lehrer müsse in der Lage sein,
bei allen Unterschieden nicht nur in Einzelfragen die heraus­
ragende Bedeutung des Werks anzuerkennen. Psychologisch
betrachtet muss bei Heidegger eine Enttäuschung angenom­
men werden, die er freilich als solche nie eingestanden hat. Der
Lehrer wollte nicht lernen. Und was ist ein Lehrer, der verwei­
gert, zu lernen? Kann nicht nur der Lernende lehren?
Heidegger wurde 1928 Husserls Nachfolger an der Freibur­
ger Universität. Der Lehrer hatte seinen Schüler noch dabei
gefördert. Die Lektüre von „Sein und Zeit“ geschah später.
Vielleicht würde ein Teil der deutschen Akademiehistorie heu­
te anders aussehen, hätte Husserl das Buch direkt bei seinem
Erscheinen gelesen. Die Schwierigkeit, noch weiter von einem
Gründerväterpaar der Phänomenologie sprechen zu können,
beginnt mit Heideggers Übernahme von Husserls Lehrstuhl.
Im sogenannten „Spiegel-Gespräch“ von 1966 spricht Heid­
egger ganz richtig von „Differenzen in sachlicher Hinsicht“7,
die sich „anfangs der dreißiger Jahre“ „verschärften“. Husserl
habe dabei eine „öffentliche Abrechnung mit Max Scheler und
mir gehalten, deren Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig“
gelassen haben soll. In der Berliner Universität habe Husserl
„vor 1600 Zuhörern gesprochen“. Man berichtete von einer
„‚Art von Sportpalast-Stimmung‘“. Die Quelle dieses Berichts
ist bekannt.8 Es ist nicht ganz unbedeutend, dass nach 1945
der Berliner Sportpalast vor allem mit Goebbels’ Ausrufung
des „totalen Kriegs“ vom Februar 1943 konnotiert wurde. Das
wusste Heidegger. Hatte Husserl öffentlich gegen ihn gehetzt?

7
Martin Heidegger: Spiegel-Gespräch. In: Ders.: Reden und andere
Zeugnisse eines Lebensweges. GA 16. Hrsg. von Hermann Heidegger.
Frankfurt am Main 2000, 660.
8
Vgl. dazu Karl Schuhmann: Zu Heideggers Spiegel-Gespräch über
Husserl. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. 32/4. 1978, 591–
612.

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Der Vortrag, den Husserl auf Einladung der Kantgesell­
schaft in Frankfurt, Berlin (10. Juni 1931) und Halle gehalten
hat, ist überliefert. Er trägt den Titel „Phänomenologie und
Anthropologie“9. Was Husserl dort ausführt, hatte er bereits
ein Jahr zuvor in seinem „Nachwort zu den Ideen I“10 detail­
lierter dargestellt. Zunächst fällt auf, dass Heideggers Name
nicht erscheint. Husserl spricht von der „Situation der deut­
schen Philosophie, mit der in ihr um Vorherrschaft ringenden
Lebensphilosophie, mit ihrer neuen Anthropologie, ihrer Phi­
losophie der ‚Existenz‘“11. Einer der Protagonisten der damals
so bezeichneten „Existenz-Philosophie“ war Heidegger. Es
war klar, wer gemeint war.
Die Auseinandersetzung ist im Grundton maßvoll, doch da
und dort durchaus ruppig. Husserl verteidigt sich gegen „Vor­
würfe des ‚Intellektualismus‘ oder ‚Rationalismus‘“12, die von
den Repräsentanten jener Strömungen schriftlich oder münd­
lich tatsächlich erhoben wurden. Er könne jedoch den „von
diesen Seiten her erhobenen Einwänden“ „keinerlei Berechti­
gung zuerkennen“13. Im Gegenteil: Husserl betont angriffslus­
tig, „daß man also, sei es in einer empirischen oder apriori­
schen Anthropologie stecken bleibt“.
Es trifft demnach zu, dass Husserl Heidegger auch öffent­
lich kritisierte (in privaten Briefen tat er es vorher). Doch es
lässt sich nicht behaupten, diese Kritik habe die Ebene eines
rein philosophischen Disputs verlassen. Gewiss, die Enttäu­

9
Edmund Husserl: Phänomenologie und Anthropologie. In: Aufsätze
und Vorträge (1922–1937). Hua XXVII. Hrsg. von Thomas Nenon und
Hans Rainer Sepp. Kluwer Academic Publishers: Dordrecht et al. 1989,
164–181.
10
Edmund Husserl: Nachwort zu den Ideen I. In: Ideen zu einer reinen
Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch.
Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. Hua V.
Hrsg. von Marly Biemel. Martinus Nijhoff: Haag 1952.
11
Ebd., 139.
12
Ebd.
13
Ebd., 140.

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schung über die verweigerte Anerkennung von der Vater­
figur14 reichte tief. Nun wandte sich Husserl auch noch in der
Öffentlichkeit ab. Heideggers Darstellung der Geschehnisse
im „Spiegel-Gespräch“ bleibt trotzdem unangemessen.
In den „Anmerkungen V“, einem „Schwarzen Heft“ vom
Ende der vierziger Jahre, nimmt Heidegger die Selbstvertei­
digung im „Spiegel-Gespräch“ vorweg. Bei den erwähnten
Vorträgen Husserls habe man „eher von Kundgebungen“15
sprechen können. Husserl habe Heideggers Denken als
„Unphilosophie“ gebrandmarkt, wobei er, Heidegger, auf das
„Nachwort aus den Ideen I“ verweist. Er aber sei an Husserl
„vorbeigegangen“16. Er habe auch als Rektor „nie das Gerings­
te gegen Husserl unternommen“. Man lüge, er habe „ihn aus
der Universität vertrieben und die Bibliothek verboten“. Auch
seien „seine Werke niemals aus der Seminarbibliothek entfernt
worden, wie das für jüdische Autoren vorgeschrieben war“.
Noch einmal betont er, dass es eine „schmerzliche Not­
wendigkeit“ war, an Husserl „vorbeizugehen“. Wer von „ver­
abscheuungswürdigem Verrat“ spreche, wüsste nicht, „daß
er nur Rache“ rede und „von dem, was früh geschah, nichts“
wisse, nämlich „daß mein eigener Weg des Denkens als Abfall
ausgelegt wurde, daß man zur Propaganda die Zuflucht nahm,
als mein Weg anders nicht aufzuhalten war“. Das erste stimmt,
das zweite nicht.17

14
Heidegger in einem Brief an Husserl vom Oktober 1927: „Lieber
väterlicher Freund! / Ich danke Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemah­
lin herzlich für die verflossenen Freiburger Tage. Ich hatte wirklich das
Gefühl wie ein Sohn aufgenommen zu sein.“ Heidegger: Zur Sache des
Denkens. GA 14. A.a.O., 130.
15
Martin Heidegger: Anmerkungen V, 52. In: Ders.: Anmerkungen I–V.
GA 97. A.a.O.
16
Ebd., 53.
17
Ist es eine nur rhetorische Figur, dass Heidegger dort, wo er den
Vorwurf des Antisemitismus wittert, dem Gegner mit einem politisch
belasteten Vokabular begegnet? „Sportpalast-Stimmung“, „Kundge­
bung“, „Propaganda“ – all das wird auf Husserl gerichtet. Sollte dahinter

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„Sein und Zeit“ bleibe „das würdigste Zeugnis“18 für das,
„was ich Husserl verdanke – daß ich von ihm lernte und für
seinen Weg zeugte dadurch, daß ich nicht sein Anhänger blieb,
der ich auch nie war“. Genau das aber „verstieß gegen die
Hausordnung, lange vor dem, daß von Nationalsozialismus
und Judenverfolgung die Rede war“19. Es ist mehr als deutlich,
dass der für Heidegger entscheidende Bruch in Husserls Unfä­
higkeit liegt, dem Schüler eine eigene philosophische Unab­
hängigkeit zu gönnen. Dieser Bruch hat stattgefunden, bevor
von „Natio­nalsozialismus und Judenverfolgung“ gesprochen
wurde …
Damit verlassen wir den Bereich der Schwierigkeiten, die
in einem philosophischen Lehrer-Schüler-Verhältnis angelegt
sind. Das Problempotential des Verhältnisses zwischen Heid­
eg­ger und Husserl scheint über die Fragen von Lehrer- und
Schülerschaft hinauszugehen. Am Ende der zwanziger Jahre
begannen Kräfte das Verhältnis zu zerstören, die weder aus
einer philosophischen Konkurrenz noch aus psychologischen
Motiven zu erklären sind. Es hieß, Heidegger habe sich mehr
und mehr als Antisemit zu erkennen gegeben. Dabei dürfte es
sich verbieten, sein Verhältnis zu Husserl auf ein allein privat-
antisemitisches Ressentiment zurückzuführen und die philo­
sophische Auseinandersetzung außen vor zu lassen.20 Vielmehr

vielleicht die Strategie stecken, dem Juden die elende Vergangenheit


anzulasten? Ich erinnere mich, dass Paul Celan nach einer Lesung in der
„Gruppe 47“ Anfang der fünfziger Jahre unsäglich beleidigt wurde, als
jemand, vielleicht Hans Werner Richter, meinte, Celan lese „im Tonfall
von Goebbels“. Zitiert nach Milo Dor: Auf dem falschen Dampfer. Frag­
mente einer Autobiographie. Zsolnay Verlag: Wien 1988, 214.
18
Ebd., 54.
19
Ebd.
20
Vgl. die Diskussion um Elfride Heideggers Brief an Malvine Husserl
vom 29. April 1933, in dem Elfride – gelinde gesagt – sehr unsensibel auf
die Folgen der Gleichschaltungsgesetze vom März und April 1933 zu
sprechen kommt, bei Zaborowski: „Eine Frage von Irre und Schuld?“
A.a.O., 390 f. Absurd ist jedoch die Mitteilung in der Festschrift zum
550. Jubiläum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Malvine (1860–

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muss es um die Frage gehen, ob Heideggers philosophische
Ablehnung der Husserlschen Phänomenologie von einem
seinsgeschichtlichen Antisemitismus kontaminiert wurde.
In den „Überlegungen XII“ aus dem Jahre 1939 (Husserl
starb ein Jahr zuvor) spricht Heidegger von der „leeren Ratio­
nalität und Rechenfähigkeit“21 des „Judentums“. Dieser Geis­
tesprägung entspreche es, dass „je ursprünglicher und anfäng­
licher die künftigen Entscheidungen und Fragen“ würden,
diese „dieser ‚Rasse‘“ „um so unzugänglicher“ blieben. „So“
reiche Husserls Denken „nirgends in die Bezirke wesentlicher
Entscheidungen“. Heideggers „‚Angriff‘“ richte sich aber nicht
gegen Husserl „allein“ und sei „überhaupt unwesentlich“, der
„Angriff“ gehe „gegen das Versäumnis der Seinsfrage, d. h.
gegen das Wesen der Metaphysik als solcher“.
Husserls Denken steht außerhalb „wesentlicher Entschei­
dungen“, weil es im Abstrakten und Kalkulierenden, der Geis­
tesart „dieser ‚Rasse‘“ der Juden, hängen bleibe. Doch das ist
selbst eine abstrakte Feststellung, die Heidegger durch eine
konkrete Kritik an Husserls Unfähigkeit zu seinsgeschichtli­
chen Entscheidungen untermauern müsste. Also wäre einmal
zu fragen, ob er eine solche Kritik an anderer Stelle geliefert
hat. Dabei ist anzumerken, dass die vorausgesetzte Annah­
me einer seinsgeschichtlich geprägten „Rechenhaftigkeit“ der
Geistesart einer jüdischen „‚Rasse‘“ die Kritik natürlich von
vornherein sinnlos machen würde.
In den erwähnten „Anmerkungen V“ (vom Ende der vier­
ziger Jahre) reißt Heidegger eine philosophische Kritik an
Husserl an. So fragt er, ob „sich, wer im Denken das Prinzip

1950), Husserls Gattin, hätte „am Vortag der Deportation aller badischen
Juden 1940“ den „Freitod“ gewählt. Zudem wird mit dem Datum „1891“
Heidegger ein falsches Geburtsjahr angedichtet. Vgl. 550 Jahre Albert-
Ludwigs-Universität Freiburg. Bd. 1: Bilder, Episoden, Glanzlichter.
Hrsg. von Dieter Speck. Karl Alber Verlag: Freiburg 2007, 171.
21
Heidegger: Überlegungen XII, 67. In: Ders.: Überlegungen XII–XV.
GA 96. A.a.O.

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‚zu den Sachen selbst‘ ausspricht, der schon als der Sachkun­
dige bewährt“22 habe. Die Frage wird negiert, da er „sich in
der Sache des Denkens noch arg versehen und bei solchem
Versehen gegen sein eigenes Prinzip handeln“ könne, „unver­
mögend, auch noch das Prinzip der Sache zu opfern“. „‚Daß
sich (was?) von ihm selbst her zeige‘“ – Heideggers Ansatz der
Phänomenologie – sei „nicht nur eine andere Formulierung
des Prinzips der sachgemäßen Beschreibung“. Hier zeige sich
„schon die Wendung des Denkens in die ᾽Αλήθεια als Wesens­
zug des Seins selbst“. Und er schließt: „Von allem diesen weiß
Husserl nicht nur nichts; er sperrt sich dagegen.“
Gewiss – diese Bemerkung befindet sich in einem Kontext,
in dem vom Judentum keine Rede ist. Sie kann als eine rein
philosophische Kritik verstanden werden. Doch da in dieser
Kritik Husserls Unfähigkeit und Unwilligkeit angesprochen
wird, seinsgeschichtlich zu denken, lässt sich Heideggers frü­
here Bemerkung über die „leere Rationalität und Rechenfähig­
keit“ des Judentums nicht ignorieren. Sie drängt sich der Aus­
legung vielmehr auf.
Zudem ist die eigentliche Dimension der Kritik nicht deut­
lich. Zwar spricht Heidegger bereits in „Sein und Zeit“ von der
ἀλήθεια23, jedoch keineswegs von der ᾽Αλήθεια. Sollte Husserl
aus seiner Lektüre von „Sein und Zeit“ die Möglichkeit erhal­
ten haben, „die Erfahrung der ᾽Αλήθεια aus der Erfahrung der
Vergessenheit des Seins zu denken“? Zweifelsohne nicht. So
philologisch ist Heideggers Kritik auch nicht angelegt. Hus­
serls Denken blieb als solches außerhalb der „Erfahrung der
᾽Αλήθεια“. Es blieb der Metaphysik verhaftet, ohne Zugang zur
seinsgeschichtlichen „Wendung des Denkens in die ᾽Αλήθεια
als Wesenszug des Seins selbst“. Husserl hatte die „künftigen
Entscheidungen“ nicht verstanden, weil er sich vor der Seins­
geschichte verschloss.
22
Heidegger: Anmerkungen V, 17. In: Ders.: Anmerkungen I–V. GA 97.
A.a.O.
23
Heidegger: Sein und Zeit. GA 2. A.a.O., 290 f.

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In dem „Bericht über das Ergebnis der Verhandlungen im
Bereinigungsausschuss vom 11. und 13.  12.  1945“24 der Univer­
sität Freiburg, in der es nach Kriegsende um die Beurlaubung
Heideggers ging, befindet sich auch ein Abschnitt über des­
sen „Verhalten gegen Juden“. Die Frage, ob beim „Zerwürf­
nis Heid­eggers mit seinem Lehrer Husserl“ dessen „jüdische
Abstammung“ eine Rolle gespielt habe, wird mit den bereits
bekannten Hinweisen Heideggers zurückgewiesen. Es seien
„vielmehr philosophische Meinungsverschiedenheiten“ gewe­
sen, die „1930 oder 1931“ von Husserl auch öffentlich ausge­
tragen worden seien. Dann heißt es: „Nach Herrn Euckens
Kenntnis hat Husserl die Auffassung gehabt, dass Heidegger
sich aus Antisemitismus von ihm abgewandt habe. Im einzelnen
machte Herr Eucken hierüber keine weiteren Mitteilungen, da
diese nicht im Sinne Husserls liegen würden.“25 Freilich – Hus­
serl war seit sieben Jahren tot. Was 1945 „im Sinne Husserls“
gelegen hat, war vielleicht nicht mehr so wichtig. Und dennoch
kann man fragen, ob Husserl privat Heideggers philosophische
Kritik an ihm als antisemitisch motiviert bezeichnet hatte.
24
In: Martin Heidegger und das „Dritte Reich“. Ein Kompendium.
Hrsg. von Bernd Martin. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt
1989, 196.
25
Walter Eucken war der Sohn Rudolf Euckens, der bereits mit Hus­
serl befreundet war. Walter Eucken ist einer der Begründer der soge­
nannten „Freiburger Schule der Nationalökonomie“, eine ökonomische
Richtung, die seit 1950 als „Ordoliberalismus“ bezeichnet wird, d. i.
eine Art von reguliertem Liberalismus. Der Historiker Bernd Martin
bezeichnet Eucken als den „eigentlichen Widerpart und Herausforderer
des die nationalsozia­l istische Hochschulpolitik vorantreibenden Rek­
tors“ Heidegger (ebd., 26). So kann es nicht verwundern, dass Eucken
nach dem Krieg sich nicht zurückhielt – zumal Eucken auch Heideggers
Hochschulpolitik selbst für antisemitisch hielt. Wendula Gräfin von
Klinckowstroem: Walter Eucken: Eine biographische Skizze. In: Walter
Eucken und sein Werk. Rückblick auf den Vordenker der sozialen Markt­
wirtschaft. Hrsg. von Lüder Gerken. Mohr Siebeck: Tübingen 2000, 73 ff.
Dass Heidegger die „nationalsozialistische Hochschulpolitik“ voran­
trieb, als er sich mit seinen philosophischen Universitätsplänen immer
mehr isolierte, erscheint durchaus als ein Widerspruch.

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Nicht gegenüber Eucken, aber gegenüber seinem alten
Schüler Dietrich Mahnke hat sich Husserl in einem Brief
vom Mai 1933 zu Heideggers Antisemitismus geäußert. Hus­
serl beschreibt dort seine enttäuschenden Erfahrungen nach
1933 im Allgemeinen und mit seinem ehemaligen Schüler im
Besonderen. Sarkastisch spricht er vom „schönsten Abschluß
dieser vermeintlichen philosophischen Seelenfreundschaft“.
Diesen erkennt er sowohl in Heideggers „ganz theatralischem“
„öffentlich vollzogenem Eintritt in die nationalsozialistische
Partei“ als auch in einem „in den letzten Jahren“ „immer stär­
ker zum Ausdruck kommenden Antisemitismus – auch gegen­
über seiner Gruppe begeisterter jüdischer Schüler und in der
Fakultät“26. Es ist demnach möglich und sogar wahrscheinlich,
dass Husserl auch mit Eucken in diesem Sinne über Heidegger
gesprochen hat.
Nun ist seit langem bekannt, dass Heidegger bereits
1916 in einem Brief von einer „Verjudung unsrer Kultur u.
Universitäten“27 sprach; ein Urteil, das Viele – sogar Juden
selbst – fällten. Im Rückblick muss allerdings gefragt werden,
ob nicht Heideggers späterer seinsgeschichtlicher Antisemitis­
mus ein anderes Licht auf dieses vielleicht rein private Ressen­
timent zurückwirft. Hat nicht gerade er selbst später immer
wieder die – wenn auch irrige – seinsgeschichtliche Motivation
seiner Hochschulpolitik betont?
In diesem Zusammenhang bekommt die in jenem admi­
nistrativen „Bericht“ der Freiburger Universität auftauchen­
de Episode, dass Heidegger geäußert haben solle, „er sei in
eine judenfreie Fakultät gekommen und wünsche nicht, daß
ein Jude berufen werde“28, eine andere Bedeutung. Es hat den

26
Zitiert nach: Heidegger und das „Dritte Reich“. A.a.O., 149.
27
„Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfri­
de 1915–1970. A.a.O., 51.
28
Eucken war offenbar bei der entsprechenden Fakultätssitzung nicht
zugegen. Die Geschichte war ihm „berichtet worden“, wie es heißt.
Überhaupt ist der „Bericht“ in Bezug auf Heideggers „Verhalten gegen

90

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Anschein, dass er schon in der Zeit des Rektorats einen seins­
geschichtlichen Antisemitismus verfolgt hatte. Und es nicht
unwahrscheinlich, dass er auch das Verhältnis zu Husserl die­
sem Antisemitismus geopfert hat.
Husserls Bemerkung, man habe ihm „‚Intellektualismus‘
oder ‚Rationalismus‘“ vorgeworfen, seine Zeichnung, Heid­
eggers Denken sei die „zeitgemäße Ontologie des Irratio­
nalismus“, erscheint vor dem Hintergrund von Heideggers
seinsgeschichtlichem Antisemitismus anders. Sicher, um anti­
semitische Ideen als „irrational“ zu beurteilen, brauchen wir
keine philosophische Transformation dieser Ideen in seinsge­
schichtliche Verhältnisse. Es ist aber in der Betrachtung der
Beziehung zwischen Heidegger und Husserl nicht unwichtig,
dass Heideggers philosophische Abneigung gegenüber Hus­
serls Phänomenologie womöglich von Anfang an antisemiti­
sche Momente enthielt.
Bleibt die Frage – wann hat wer von „Judenverfolgung“
gesprochen? Heidegger jedenfalls spricht nie von ihr. Nun, als
er sich des Bruchs mit Husserl erinnert, fällt beiläufig dieses

die Juden“ zweideutig. Es wird deutlich, dass belastende Aussagen


vor allem von Walter Eucken und auch von Adolf Lampe stammen.
So betont Eucken „nach der Erinnerung“, dass Heidegger „als Rektor
in öffent­l ichen Reden von ‚der Judenherrschaft in der Systemzeit‘ und
von den Juden als ‚den Fremden‘ gesprochen“ haben soll. Entlastende
Bemerkungen stammen z. B. von Gerhard Ritter. Wie sehr hier univer­
sitätspolitische Motive eine Rolle spielen, ist schwer zu sagen. Immerhin
spricht Heidegger einmal „vom Denunziantentum des Herrn Lampe,
von der Lügenhaftigkeit des Herrn Sauer und von der Hinterhältigkeit
und Scheinheiligkeit des Herrn von Dietze“ – und er fragt: „Was ist da
von den übrigen Geschäfte machenden Figuren zu erwarten; welches
Recht haben diese Leute, gegenüber den Nazis sich als die Moralisten zu
gebärden?“ Martin Heidegger: Zum Ereignis-Denken. GA 73.2. Hrsg.
von Peter Trawny. Frankfurt am Main 2013, 1019. Lampe und von Diet­
ze waren zur NS-Zeit im christlich-oppositionellen „Freiburger Kreis“
aktiv und gerieten 1944 in Haft. Eucken war mit einer Jüdin verheiratet.
Aber auch Ritter wurde 1944 verhaftet. Es liegt auf der Hand, dass Heid­
egger mit dem geistigen Liberalismus Euckens und der protestantischen
Grundhaltung Lampes und von Dietzes nichts anfangen konnte.

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Wort. Warum betont Heidegger, der Bruch habe lang vor der
„Rede“ von „Nationalsozialismus und Judenverfolgung“ statt­
gefunden? Denkt Heidegger an die Nachkriegszeit, in der frei
über die „Judenverfolgung“ gesprochen werden konnte, ohne
dass diese Freiheit dazu genutzt wurde? Oder denkt Heidegger
an die dreißiger Jahre? Denkt er an die antisemitische Propa­
ganda? War in ihr von der „Judenverfolgung die Rede“? Denkt
Heidegger an clandestine Gespräche, an Begegnungen, in
denen man seinen Abscheu gegen die Gerüchte von den Lagern
zum Ausdruck brachte? Können diese überhaupt mit Husserl
zusammenhängen? Wann hat Heidegger von der „Judenverfol­
gung“ gewusst?

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Werk und Leben

Nicht selten wird die Heidegger-Forschung unter die Maxime


gestellt, das Denken und Leben des Philosophen deutlich zu
trennen. Es ist so, wie Walter Biemel in seiner einflussreichen
Heidegger-Monographie aus dem Jahr 1973 sagt: „Hier [im
Falle Martin Heideggers] ist es nicht das Leben, durch das wir
etwas über sein Werk erfahren können, sondern sein Werk ist
sein Leben.“1 Einen Zugang zu diesem Leben zu finden besage
demnach, „seinem Schaffen nachzugehen, zu erfassen versu­
chen, welches der Leitgedanke dieses Schaffens“ sei. Biemel
behauptet eine Einheit von Werk und Leben, in der das Werk
die Mitte ist, um die sich das Leben entfaltet.
Eine solche Deutung des Verhältnisses von Leben und Werk
hat ihr Recht. Sie ist, was Heideggers Werk und Leben betrifft,
im Großen und Ganzen auch zutreffend: für ihn war und blieb
das Werk, der Nachlass, die ausstrahlende Mitte. Doch daraus
scheint Biemel zu schließen, dass das Leben, die Erzählung die­
ses Lebens, die Biographie, bedeutungslos sei. Das entspricht
nicht dem Gedanken, dass das Leben sich um seine Mitte, um
das Werk, entfaltet; denn dann muss sich in diesem Leben die
Spur des Werks finden lassen.
„Ausgangspunkt der Philosophie: das faktische Leben als
Faktum.“2, heißt es in einer frühen Aufzeichnung. Das klingt
anders. In dieser Hinsicht scheint das faktische Leben, je meine

1
Walter Biemel: Martin Heidegger. Rowohlt Taschenbuch Verlag:
Reinbek bei Hamburg 1973, 7.
2
Martin Heidegger: Grundproblem der Phänomenologie (1919/20).
GA 58. Hrsg. von Hans-Helmuth Gander. Frankfurt am Main 1993, 162.

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„Selbstwelt“3, die „personale Rhythmik meines Lebens“, eine
Bedingung des Denkens zu sein. Das wäre zu starr. Deshalb
heißt es an anderem Ort, dass die Philosophie zwar der „fak­
tischen Lebenserfahrung“ entspringe, doch „dann“ springe sie
„in der faktischen Lebenserfahrung in diese selbst zurück“4.
Philosophie und Leben - eine rhythmische Symbiose.
Philosophie ist demnach keine Wissenschaft, für die gelten
würde, dass sie sich nicht nur vom faktischen Leben entfernt,
sondern sich auch notwendig von ihm entfernen muss. Das
wissenschaftliche Urteil kann sich einzig und allein auf das
berufen, was sich am wissenschaftlichen Gegenstand zeigt.
Das Leben des Wissenschaftlers steht zu diesem Gegen­
stand – jedenfalls, sofern er sich zumeist nicht als Phänomen
des faktischen Lebens erweist (z. B. das Elementarteilchen)
– in keinerlei Verhältnis. Das Leben des Philosophen hin­
gegen ist mit seinem Gegenstand oder Nicht-Gegenstand
verflochten.
Daher entspricht es Heideggers Leben und Denken, das
Leben „auf der Hütte“ als einen philosophischen Akt zu
betrachten, sein politisches Engagement mit seinem Denken
zu verbinden, wie auch die seiner Frau eingestandene Notwen­
digkeit, den „Flügelschlag jenes Gottes [Eros]“5 erfahren zu
müssen, im Kontext des Werks zu verstehen. Er, der Denker,
ist es, der all das vom Leben forderte, was das Leben gab. Wie
steht es nun mit dem Leitwort dieser Überlegungen „Heid­
eg­gers seinsgeschichtlicher Antisemitismus“? War Heidegger
wirklich ein Antisemit?
Heidegger hat mit Juden freundlichen und zuvorkommen­
den, ja intimen Umgang gepflegt. Wie hätte das auch anders
sein können? Husserl war sein Lehrer, von dem er sich aus phi­

3
Ebd., 33.
4
Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens. GA 60.
Hrsg. von Matthias Jung und Thomas Regehly. Frankfurt am Main 1995, 8.
5
„Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfri­
de 1915–1970. A.a.O., 264.

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losophischen Gründen immer weiter entfernte; Jonas Cohn,
einen jüdischen Kollegen, unterstützte er als Rektor zunächst,
um ihn dann im Rahmen des „Gesetzes zur Wiederherstellung
des Berufsbeamtentums“ im Juli 1933 in den Ruhestand zu
versetzen6 ; von seinem Assistenten Werner Brock, dem er 1933
zu einem Stipendium in Cambridge verhalf, hielt er sehr viel,
meinte aber, dass er „im Seminar nicht arbeiten“ könne, „dem
Juden“ fehle etwas7; ganz zu schweigen von Hannah Arendt,
aber auch von Elisabeth Blochmann, mit denen er in Kontakt
blieb bis zu ihrem Tod; Mascha Kaléko begegnet er Ende der
fünfziger Jahre und scheint sie sogleich zu verehren8 ; Paul
Celan, dessen Dichtung er besonders schätzte etc. All diesen
Juden und Jüdinnen ist Heidegger auf verschiedene Weise wie
selbstverständlich begegnet und keine von diesen Beziehun­
gen ist aus antisemitischen Gründen abgebrochen worden. Im
Gegenteil – manche überlebten selbst noch die Shoa oder wur­
den – schmerzhaft im Falle Celans – nach ihr aufgenommen.
Wenn die auf den vorangegangenen Seiten vorgelegte Inter­
pretation zutrifft, kann aus diesen und noch anderen Tatsachen
nur folgen, dass Heidegger einerseits als Philosoph antisemiti­
sche Gedanken formulierte und dass er andererseits mit Juden
in zuweilen großem Einvernehmen lebte. Diese Spannung
entspricht einer bekannten Beobachtung der Antisemitismus-
Forschung:
Hannah Arendt spricht in den „Elementen und Ursprün­
gen totaler Herrschaft“ von den „Ausnahmejuden“9. Die west­
europäische „Gesellschaft“ habe „nie Juden, immer nur Aus­
nahmen des jüdischen Volkes – Ausnahmejuden – die Türen
der Salons geöffnet“. Damit seien die „Ausnahmejuden“ einer

6
Zimmermann: Martin und Fritz Heidegger. A.a.O., 82 ff.
7
Martin Heidegger / Kurt Bauch: Briefwechsel 1932–1975. Hrsg. von
Almuth Heidegger. Karl Alber Verlag: Freiburg und München 2010, 32.
8
Jutta Rosenkranz: Mascha Kaléko. Biografie. Dtv: München 2007,
177.
9
Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. A.a.O., 141 ff.

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„prinzipiellen Zweideutigkeit“ ausgesetzt worden. Man habe
von ihnen verlangt, „Juden, aber nicht wie Juden zu sein“. Sie
sollten also keineswegs wie „,gewöhnliche Sterbliche‘“ sein,
sondern wie „etwas Ungewöhnliches“.
Nach Arendt ist das in den Zeiten der nationalsozialisti­
schen Verfolgung so geblieben. So schreibt sie einmal pointiert
in ihrem Buch über Eichmann: „Hitler selbst soll 340 ,prima
Juden‘ gekannt haben, die er entweder ganz zu Deutschen
ernannt oder mit den Privilegien von Halbjuden ausgestattet
hat.“10 Hier glaubt sie noch, Reinhard Heydrich, der Orga­
nisator der Shoa, sei selber „Halbjude“ gewesen. Das hat sich
als falsch erwiesen. Immerhin musste Heydrich sich zu Leb­
zeiten mit diesem Gerücht beschäftigen. Es gäbe noch ande­
re berühmte Beispiele von „Ausnahmejuden“ zu nennen, so
die Episode aus Richard Wagners Biographie, dass er darauf
bestand, die Uraufführung seines Bühnenweihfestspiels „Par­
sifal“ in Bayreuth von Hermann Levi dirigieren zu lassen.
Wie auch immer solche Verhältnisse im Einzelnen ausgese­
hen haben – eine antisemitische Einstellung zu haben und mit
Juden freundschaftlich und fürsorglich zu verkehren, schloss
sich und schließt sich nicht aus. Im Gegenteil, die Ausnahme
scheint die Regel zu bestätigen. Ob das auch für Heidegger
zutrifft? Immerhin finden sich auch bei ihm mindestens zwei
Formulierungen, die anscheinend darauf schließen lassen, dass
er in Bezug auf Juden Ausnahmen machte. Eine betrifft sein
Verhältnis zu Arendt, worauf ich in einem späteren Kapitel ein­
gehen werde. Die andere betrifft Gotthold Ephraim Lessing,
den er einmal ostentativ einen „deutschen Denker“11 nennt –
und gerade damit indirekt als einen nicht deutschen markiert.
Schließlich gilt aber insbesondere für den seinsgeschicht­

10
Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banali­
tät des Bösen. Piper Verlag: München 1964, 171.
11
Martin Heidegger: Überlegungen X, 107. In: Ders.: Überlegungen
VII–XI. GA 95. A.a.O. Die Frage ist also, warum Heidegger den Dichter
des „Nathan“ einen „deutschen Dichter“ nennt.

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lichen Antisemitismus, dass sich nur schwer vorstellen lässt,
das, wogegen er sich richtet, verkörpere sich in bestimmten
Personen. Zu ihm gehört geradezu, dass er sich nicht zeigt, dass
er sich verbirgt. Wie hätte er aussehen können, wenn er erschie­
nen wäre? Jedes mögliche „Bild“ geht am seinsgeschichtlichen
Antisemitismus vorbei, kann ihm nicht entsprechen. Gibt es
einen Antisemitismus ohne das konkrete „Bild“ des angefein­
deten Juden? Bei Heidegger scheint es dies zu geben.
Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass Heidegger
im konkreten Umgang mit Juden niemals „Ausnahmen“ zu
machen brauchte. Es war ihm klar, dass das „Weltjudentum“
kein Gesicht hatte. Zwar gab es die „hinausgelassenen Emi­
granten“. Doch ihre Rolle war nur, das „Weltjudentum“ auf­
zustacheln, wie Heidegger formuliert. Das aber blieb „überall
unfaßbar“, d. h. unsichtbar. Hier mag auch ein Grund liegen,
warum Heidegger die antisemitischen Passagen den „Schwar­
zen Heften“ vorbehielt. Der seinsgeschichtliche Antisemitis­
mus ließ sich letztlich mit den bestehenden rassentheoretisch
begründeten antisemitischen Vorstellungen – die Heidegger
ablehnte, ohne den Begriff der Rasse überhaupt zurückzuwei­
sen – nicht in Einklang bringen.
Das Werk ist die Mitte des Lebens. Alle Lebenswege strah­
len von ihr aus, weisen auf sie zurück. Das bleibt auch in den
„Schwarzen Heften“ so. Heidegger hat zwischen den schrift­
lichen Äußerungen über die Juden und seinem Leben mit ihnen
offenbar keinen gravierenden Widerspruch empfunden. Das
„Weltjudentum“ war eben „überall unfaßbar“. Doch wie bei
allem, was ein Philosoph denkt, rückt sein Werk in ein noch
intensiveres Licht, wenn das vom Werk bestimmte Leben mit
in Betracht gezogen wird. Dafür steht Heideggers Wiederbe­
gegnung mit Hannah Arendt nach der Shoa.

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Vernichtung und Selbstvernichtung

Die narrative Topographie der Seinsgeschichte wird in den


„Schwarzen Heften“ mit Namen und Begriffen abgesteckt, die
das Szenario des Zweiten Weltkriegs abbilden, um es seinsge­
schichtlich zu bearbeiten. Den „Deutschen“ – diesen Reprä­
sentanten des „anderen Anfangs“ – wird „Rußland“ zur Seite
gestellt. Wie die „Deutschen“ seinsgeschichtlich vom „Natio­
nalsozialismus“ unterschieden werden, so die „Russen“ vom
„Bolschewismus“. Dann erscheint immer deutlicher die seins­
geschichtliche Macht des „Amerikanismus“, das Erbe „Eng­
lands“. Auch „Frankreich“ taucht auf, die Nation Descartes’,
die Nation von Paris, für das Heidegger sich Ende der vierzi­
ger Jahre immer mehr zu interessieren beginnt. Das „Christen­
tum“ wird markiert als ein Hindernis für den „Anfang“. Selbst
das „Asiatische“ wird genannt, neutral neben dem „Chinesen­
tum“, eine damals gebräuchliche Diffamierung, die in Chi­
na nur das Land von massenhafter Ausbeutung gesehen hat.
Und eben das „Judentum“, das „Weltjudentum“ oder auch die
„Judenschaft“.
Diese Topographie wird in eine spezifische Ordnung, um
nicht zu sagen, in eine bestimmte Kampfordnung (τάξις)
gebracht: auf der einen Seite die Agenten der „Machenschaft“ –
„England“, „Amerikanismus“, „Bolschewismus“ bzw. seins­
geschichtlich verstandener „Kommunismus“ und „Judentum“
(auch „Christentum“) – auf der anderen Seite die Stätten des
„Anfangs“ – „Griechenland“, „Deutschland“ und „Rußland“.
Sie ist doppelt determiniert. Auf der einen Seite können wir in
ihr die Frontenverläufe des Kriegs erkennen. In den „Überlegun­

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gen“, die zwischen 1938 und 1941 entstehen, verfolgt Heidegger
aufmerksam das Kriegsgeschehen. Er interessiert sich für die
„‚historischen‘ Begebenheiten“1. Auf der anderen Seite erweist
sich die Topographie als eine Inszenierung des Dramas der
Geschichte des Seins. Die Frontenverläufe werden in ein Nar­
rativ eingeschrieben, in dem der „Anfang“ und das „Ende“ die
beiden wesentlichen formalen Elemente bilden. Der „Anfang“
wird dem „deutschen“ „Denken und Dichten“ – immer im
Rekurs auf die vorsokratischen „Griechen“ – zugeschrieben, das
„Ende“ den Mächten der „Machenschaft“. Die doppelte Bestim­
mung der Topographie folgt demnach dem von Heidegger stark
betonten Unterschied zwischen Historie und Seinsgeschichte.
Die doppelte Determination des Krieges geht nicht nur in
den „Überlegungen“, sondern auch in den 1942 einsetzenden
„Anmerkungen“ stets zwischen der historischen und seins­
geschichtlichen Deutung hin und her. Auf der historischen
Ebene geht es im Verhältnis zwischen „Anfang“ und „Ende“
um „Entscheidungen“, um eine „Zerstörung“, ja „Verwüs­
tung, deren Herrschaft durch Kriegskatastrophen und Kata­
strophenkriege nicht mehr angetastet“, doch „bezeugt werden
kann“2. Der historische Krieg ist also „Zeugnis“ der Geschich­
te des Seins. In ihr selbst geht es jedoch nicht mehr darum, wer
militärisch siegt oder unterliegt. Der Krieg „bezeugt“ vielmehr
eine „Entscheidung“, in der „alle“ zu „Sklaven der Geschichte
des Seyns“ 3 werden; der „Sklave“ ist nicht nur ein Gezwunge­

1
Heidegger: Überlegungen XV, 16. In: Ders.: Überlegungen XII–XV.
GA 96. A.a.O.
2
Heidegger: Überlegungen XII, 65. In: Ebd.
3
Heidegger: Überlegungen XIII, 89, In: Ebd. Der Gedanke des
„Sklaven der Geschichte des Seyns“ ist zentral für Heideggers seinsge­
schichtliches Denken. Alles was geschieht, muss geschehen, eben weil es
geschieht. Auch deshalb nennt Heidegger sein Denken „un-menschlich“
(Heidegger: Geschichte des Seyns. GA 69. A.a.O., 24). Es kehre „sich
nicht an Maßstäbe und Ziele und Antriebe des bisherigen Menschen­
tums“. Daraus lässt sich verstehen, warum die Äußerungen über die ver­
folgten und vernichteten Juden so kalt klingen.

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ner, sondern auch der Dienende. Wie aber „dienen“ die Juden
der „Geschichte des Seyns“?
Die seinsgeschichtliche Bedeutung des Krieges besteht in
der „Reinigung des Seins von seiner tiefsten Verunstaltung
durch die Vormacht des Seienden“4. Das ist für Heidegger
die „höchste Vollendung der Technik“. Die „Vollendung“ der
„höchsten Stufe der Technik“ sei „dann erreicht, wenn sie
als Verzehr nichts mehr zu verzehren hat – als sich selbst“5.
Und er fragt: „In welcher Gestalt vollzieht sich diese Selbst­
vernichtung?“ Die „Reinigung des Seins“ ist die im Krieg sich
ereignende „Selbstvernichtung“ der Technik. Wie Heraklit
denkt Heidegger an einen Weltenbrand6, der die Welt von der
„Vormacht des Seienden“ befreien soll. Die Geschichte mün­
det in einer apokalyptischen Reduktion. Gibt es noch einen
„Anfang“, oder gibt es nur noch „Ende“?
Die apokalyptische Reduktion der Geschichte ist ein wei­
teres Narrativ, das in die schon bestehende narrative Topo­
graphie der Seinsgeschichte eingebaut wird. Heidegger hat
vermutlich erst in dem Moment an die „Selbstvernichtung“
der „Machenschaft“ gedacht, als der Krieg „totalen“ Charak­
ter annahm. Nun aber muss die Topographie mit den Prota­
gonisten bevölkert werden. Die Front wird in die „Selbstver­
nichtung“ eingeschrieben. Das „Weltjudentum“ übernimmt
4
Heidegger: Überlegungen XIV, 113. In: Ders.: Überlegungen XII–
XV. GA 96. A.a.O. Vgl. auch S. 23 des vorliegenden Buchs.
5
Heidegger: Anmerkungen I, 26. In: Ders.: Anmerkungen I–V. GA 97.
A.a.O.
6
Vgl. Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von
Hermann Diels. Hrsg. von Walther Kranz. Erster Band. 18. Auflage.
Weidmann: Zürich u. Hildesheim 1989, Frg. 22 B 66: πάντα γάρ τὸ πῦρ
ἐπελθὸν κρινεῖ καὶ καταλήψεται. „Denn Alles wird das Feuer, herange­
kommen, richten und ergreifen.“ In seiner Kriegs-Vorlesung über Hera­
klit vom Sommer 1943 heißt es prägnant: „Der Planet steht in Flammen.
Das Wesen des Menschen ist aus den Fugen.“ Martin Heidegger: Hera­
klit. 1. Der Anfang des abendländischen Denkens. 2. Logik. Heraklits
Lehre vom Logos. GA 55. Hrsg. von Manfred S. Frings. 3Frankfurt am
Main 1994, 123.

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wie der „Amerikanismus“ und der „Nationalsozialismus“
seine Rolle.
Diese Rolle ist vieldeutig. Um die Vieldeutigkeit zu verste­
hen, muss man in der „Entscheidung“ zwischen „Anfang“ und
„Ende“ verschiedene Figuren des „Endens“ differenzieren: die
„Zerstörung“, die „Verendung“, die „Verwüstung“, die „Ver­
nichtung“ und die „Selbstvernichtung“. In den Differenzen
von „Vernichtung“, „Zerstörung“ und „Selbstvernichtung“ ist
die apokalyptisch-reduktive Rolle des „Weltjudentums“ ein
wesentlicher Faktor. Vielleicht ist das Judentum sogar nichts
anderes als die apokalyptische Reduktion selbst.
Von der „Vernichtung“ spricht Heidegger in dem exoteri­
schen Text der Vorlesung „Vom Wesen der Wahrheit“ aus dem
Wintersemester 1933/34. Er interpretiert das berühmte Frag­
ment 53 des Heraklit, wonach der πόλεμος der Vater und der
König aller Dinge sei, die einen macht er zu Göttern, die ande­
ren zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Frei­
en. Dieser Spruch wird von Heidegger in dieser Zeit häufiger
gedeutet.
Der πόλεμος wird als „Stehen gegen den Feind“7 verstanden.
Der „Feind“ sei „derjenige und jeder, von dem eine wesentliche
Bedrohung des Daseins des Volkes und seiner Einzelnen“ aus­
gehe. Der „Feind“ brauche keineswegs der „äußere“ zu sein,
d. h. er brauche sich nicht in der Form einer feindlichen Nation
zu zeigen. Vielmehr könne es „so aussehen, als sei kein Feind
da“. Dann sei es ein „Grunderfordernis, den Feind zu finden,
ins Licht zu stellen oder gar erst zu schaffen“. Ob demnach
der „Feind“ wirklich existiere oder nicht, sei gleichgültig. Das
„Dasein“ brauche einen „Feind“.
Der „Feind“ könne „in der innersten Wurzel des Daseins
eines Volkes sich festgesetzt haben und dessen eigenem Wesen
sich entgegenstellen und zuwiderhandeln“. Der „Feind“ ist also
7
Martin Heidegger: Sein und Wahrheit. 1. Die Grundfrage der Philoso­
phie. 2. Vom Wesen der Wahrheit. GA 36/37. Hrsg. von Hartmut Tietjen.
Frankfurt am Main 2001, 90 f.

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ein „Feind“ des „Wesens“. Daher werde der „Kampf“ „um so
schärfer und härter und schwerer“. Denn „oft weit schwieriger
und langwieriger ist es, den Feind als solchen zu erspähen, ihn
zur Entfaltung zu bringen“ „und den Angriff auf weite Sicht
mit dem Ziel der völligen Vernichtung anzusetzen“.8
Dem „Wesens“-„Feind“ wird also mit „völliger Vernich­
tung“ begegnet. Der Diskurs, der nichts mit Heraklits Spruch
8
Faye schreibt über die zitierten Worte: „Dies ist mit Sicherheit eine der
unterträglichsten Stellen in Heideggers Werk. Der Kampf […] beschreibt
haargenau in der für Heidegger so charakteristischen Sprache den Ras­
senkampf des Nationalsozialismus gegen die Juden, die sich im deutschen
Volk assimiliert haben. Es geht um einen Kampf, der während der Jahre
1933-1935 zu den ersten antisemitischen Maßnahmen führte, wie sie im
Rahmen der Gleichschaltung beschlossen wurden und der dann über die
Nürnberger Rassegesetz in der ‚Endlösung‘ mündete, in der Vernichtung
des europäischen Judentums.“ Faye: Heid­egger. A.a.O., 229 f. Für Faye
ist klar, dass der „Feind“ das Judentum ist. Er deutet seine Verborgen­
heit als Folge der Assimilation. Zudem interpretiert er die „völlige Ver­
nichtung“ im Sinne der physischen Vernichtung, die dann in der Shoa
realisiert wurde. Von all dem ist hier natürlich nicht die Rede. Doch Hei­
degger unternimmt nichts, das eine solche Interpretation der Passage aus­
schlösse. Zaborowski kommentiert die Stelle folgendermaßen: „Gerade
im philosophischen Kontext wird man, wenn von Kampf die Rede ist,
oft auch an Heraklits Wort vom polemos – Kampf oder Krieg – als dem
‚Vater aller Dinge‘ – denken müssen – ein Wort, das für Heidegger zuneh­
mend wichtig wurde und das ihm dabei half, die Aufhebung des realen
Kampfes ins Geistige zu rechtfertigen.“ Zaborowski: „Eine Frage von
Irre und Schuld?“ A.a.O., 271. Abgesehen davon, dass Heraklits Spruch
keinen „geistigen Kampf“ meint – darin behält Heidegger mit seiner
Deutung Recht –, bleiben Zaborowskis Hinweise unscharf. Wie könnte
es im „geistigen Kampf“ eine „völlige Vernichtung“ geben? Man kann
philosophische Ideen und Argumente nicht „völlig vernichten“. Zudem
wäre die Verwendung eines Begriffes wie den der „völligen Vernich­
tung“ in einer leidenschaftlichen Diskussion, d. h. in einem „geistigen
Kampf“, recht ungewöhnlich. Ich meine übrigens nicht, dass Heidegger
hier zweifelsohne an eine physische Vernichtung denkt. Ich sehe aber,
dass er die Möglichkeit, daran denken zu können, offenbar einräumt. Im
Unterschied zu Heideggers „völliger Vernichtung“ vgl. Friedrich Nietz­
sche: Menschliches, Allzumenschliches. KSA 2. A.a.O., 326: „Wer davon
lebt, einen Feind zu bekämpfen, hat ein Interesse daran, dass er am Leben
bleibt.“

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zu tun hat, ist offensichtlich brutal. Möglicherweise will Hei­
degger den neuen Machthabern entgegenkommen. Denn die
Semantik dieser Formulierung ist aktuell. Ist es nicht der
„Parasit“, der sich „in der innersten Wurzel des Daseins eines
Volkes festgesetzt“ hat? Ist es daher noch notwendig, den
„Feind“ genauer zu bezeichnen?
Heidegger schweigt. Doch an späterer Stelle sagt er: „Der
Marxismus kann daher nur dann endgültig erledigt werden,
wenn wir uns zuvor mit der Ideenlehre und ihrer zweijahrtau­
send langen Geschichte auseinandersetzen.“9 Es ist der „Mar­
xismus“, der als „Wesens“-„Feind“ betrachtet wird. Marx ist im
Bewusstsein der dreißiger Jahre der „Jude Marx“10. Unüber­
sehbar erscheint der „Marxismus“ als Gestalt der Metaphysik,
d. h. der Seinsgeschichte. Platons „Ideenlehre“ wird als die
Voraussetzung des „Marxismus“ dargestellt.
Unausgesprochen wird der „Marxismus“, d. h. das „Juden­
tum“, der „völligen Vernichtung“ ausgesetzt. Der „Wesens“-
„Feind“ muss jedoch selber tätig sein. Er muss angreifen. Das
fordert der πόλεμος, wie Heidegger ihn denkt. Zur Zeit des
Krieges hat er dann das Narrativ der Seinsgeschichte verän­
dert. Die historischen Ereignisse forderten eine ständige Über­
arbeitung des seinsgeschichtlichen Denkens. Die Juden sind
nun nicht einfach der „Wesens“-„Feind“ des „Daseins eines
Volkes“, sondern sie übernehmen eine „polemische“ Rolle im
„christlichen Abendland“ schlechthin:

9
Ebd., 151.
10
Vgl. Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. 107.-110.
Auflage. Hoheneichen-Verlag: München 1937, 127 f.: „Da Jahwe durchaus
als stofflich wirkend gedacht wird, so verwebt sich im Falle des Juden­
tums starrer Eingottglaube mit praktischer Stoffanbetung (Materialis­
mus) und ödestem philosophischen Aberglauben, wofür das sog. Alte
Testament, der Talmud und Karl Marx gleiche Einsichten vermitteln.“
Eine typische Sequenz der Zeit: Judentum = Jahwe – Monotheismus –
Materialismus – Marxismus.

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„Die Judenschaft ist im Zeitraum des christlichen Abendlan­
des, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung. Das
Zerstörerische in der Umkehrung der Vollendung der Meta­
physik – d. h. der Metaphysik Hegels durch Marx. Der Geist
und die Kultur wird zum Überbau des ‚Lebens‘ – d. h. der
Wirtschaft, d. h. der Organisation – d. h. des Biologischen –
d. h. des ‚Volkes‘.“11

Die „Judenschaft“ zerstört die metaphysische Struktur des


„christlichen Abendlandes“, insofern sich diese Struktur in
Hegels Philosophie vollendet. Marx, der beanspruchte, Hegel
vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben, legt die Gleise, die
direkt in die „Machenschaft“, und d. h. jetzt in das „Dritte
Reich“, führen. Denn die Sequenz „Überbau des ‚Lebens‘ – d. h.
der Wirtschaft, d. h. der Organisation – d. h. des Biologischen –
d. h. des ‚Volkes‘“ bringt es auf den Punkt: Marx, der zerstöreri­
sche Jude, ist der Vorbereiter des Nationalsozia­lismus.
(Hitler, dessen Antisemitisums brutal biologistisch ist,
spricht in „Mein Kampf“ vom „destruktiven Prinzip der
Juden“12 – wohl in Bezug auf Theodor Mommsens berüchtigte
Formulierung von den Juden als „wirksames Ferment des Kos­
mopolitismus und der nationalen Decomposition“13. Und „der
Jude“, das ist für Hitler ohnehin immer auch „der Marxist“.)
Das „Prinzip der Zerstörung“ ist dasselbe wie die um 1940
von Heidegger dem „Weltjudentum“ zugeschriebene „weltge­
schichtliche ‚Aufgabe‘“ der „Entwurzelung des Seienden aus
dem Sein“14. Die „Judenschaft“ „zerstört“ die Ordnung des
Unterschieds zwischen Seiendem und Sein. Marx, der sich
11
Heidegger: Anmerkungen I, 29. In: Ders.: Anmerkungen I–V. GA 97.
A.a.O.
12
Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. 815.–820. Auf­
lage. Franz Eher Nachfolge GmbH: München 1943, 498.
13
Theodor Mommsen: Römische Geschichte. Bd. III. Weidmann: Ber­
lin 8/1889, 550.
14
Heidegger: Überlegungen XIV, 121. In: Ders.: Überlegungen XII–
XV. GA 96. A.a.O.

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in seiner Dissertation mit Demokrit und Epikur beschäftigt,
wird mit der materialistischen Fundierung seines Denkens als
Jude identifiziert.15
[Exkurs: Emmanuel Levinas versucht in seinem 1961 er-
schienenen Aufsatz „Heidegger, Gagarin und wir“ die wich­
tigste Differenz zwischen dem Judentum und Heidegger und,
sie werden ausdrücklich genannt, den Heideggerianern auszu­
legen. Im Wesentlichen geht es dabei um die von Heidegger
betonte topographische Ordnung der Welt und der vom Juden­
tum bejahten Zerstörung dieser Ordnung in der Technik.
Das „Eingepflanztsein in eine Landschaft, die Verbunden­
heit mit dem Ort“, das sei die „Spaltung der Menschheit in Ein­
heimische und Fremde“. In dieser Perspektive sei „die Technik
weniger gefährlich als die Geister des Orts“. Sie besiege „das
Privileg dieser Verwurzelung und des Exils“, das sich darauf
berufe. Die „Technik“ entreiße „uns dieser Heideggerschen
Welt und dem Aberglauben des Orts“.16
Dagegen habe Gagarin uns gezeigt, wie wir den Ort ver­
lassen können. So heißt es: „Eine Stunde lang hat ein Mensch
außerhalb jedes Horizonts existiert – alles um ihn herum war
Himmel, oder genauer, alles war geometrischer Raum. Ein
Mensch existierte im Absoluten des homogenen Raums.“17 Im
Jahre 1961 hatte Juri Gagarin mit der Raumkapsel Wostok I
106 Minuten lang die Erde umrundet.
Entscheidend aber ist, dass Levinas für die Idee, den „Ort“
durch den „homogenen Raum“ zu ersetzen, das „Judentum“
beansprucht. Es habe die „Götzenbilder nicht sublimiert, es hat
15
Bekanntlich lautete das Thema von Marx’ verschollener Disserta­
tion von 1840/41 „Die Differenz der demokritischen und epikureischen
Naturphilosophie“. Es ist demnach eine antisemitische Strategie, Marx in
seinem Materialismus (der ohnehin eher ein limitierter ist) als „Juden“ zu
kennzeichnen.
16
Emmanuel Lévinas: Heidegger, Gagarin und wir. In: Ders.: Schwieri­
ge Freiheit. Versuch über das Judentum. Jüdischer Verlag: Frankfurt am
Main 1992, 175.
17
Ebd., 175 f.

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ihre Zerstörung gefordert“. Es habe „wie die Technik das Uni­
versum entmystifiziert“. Durch seine „abstrakte Universalität“
verletze es „Phantasien und Leidenschaften“. Doch es habe den
„Menschen in der Nacktheit seines Gesichts entdeckt“.18
Auch Levinas spricht von einer „destruction“. In den Augen
Heideggers handelt es sich um die vom Universalismus ausge­
hende „Zerstörung“, um die „Zerstörung“ der „Machenschaft“,
die noch keine „Vernichtung“ ist. Es ist ein wenig unheimlich,
zu sehen, inwiefern Levinas die apokalyptische Reduktion der
Seinsgeschichte bejaht. Er ist es, der von der anderen Seite her
kommend die Auseinandersetzung des „universalistischen“
Judentums mit Heidegger in die apokalyptische Reduktion
einschreibt.
Heidegger verrechnet all das zur Geschichte der Metaphy­
sik. Irgendwann zu Beginn der vierziger Jahre notiert er sich
über den Platonismus Folgendes: „Die Ansetzung des ἀγαθόν
als der τελευταία ἰδέα über der ἀλήθεια und des ἀληθές als
γιγνωσκόμενον ist der erste und d.h. der eigentlich am weites­
ten tragende Schritt zur serienmäßigen Herstellung von Fern­
kampfflugzeugen und zur Erfindung des radiotechnischen
Nachrichtenwesens, mit dessen Hilfe jene zum Einsatz kom­
men im Dienste der gleichfalls durch jenen Schritt vorgezeich­
neten unbedingten Mechanisierung des Erdkreises und des
Menschen.“19 Heidegger wendet seine Auslegung der Meta­
physik auf aktuelle und akute Phänomene an. „Fernkampf­
flugzeuge“ zerstören und vernichten jenseits des Textes Städte.
Platons Ideenlehre, die in den Augen Heideggers mit einer
Erniedrigung der ἀλήθεια verknüpft ist, ist der Ursprung einer
jeden „serienmäßigen Herstellung“. Alles, was produziert wird,
fordert ein Modell. Dieses Modell, dieses Paradigma wird von
Platon in den Ideen geliefert. Das ist auch das Argument, weshalb
18
Ebd., 176.
19
Martin Heidegger: Metaphysik und Nihilismus. 1. Die Überwindung
der Metaphysik. 2. Das Wesen des Nihilismus. GA 67. Hrsg. von Hans-
Joachim Friedrich. Frankfurt am Main 1999, 164.

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Heidegger den „Marxismus“ als eine Art des Platonismus fasst.
Für ihn ist der Platonismus eine Philosophie der „Produktion“.
Was aber hier „serienmäßig“ produziert wird, sind sowohl
„Fernkampfflugzeuge“ als auch das „radiotechnische Nach­
richtenwesen“. Dabei erfasst Heidegger richtig, dass die Flug­
zeuge den Funk voraussetzen. Auch insofern ist der Platonis­
mus der „am weitesten tragende Schritt“, denn er – im Sinne
der Technik – trägt die „Fernkampfflugzeuge“ weit hinein in
die feindlichen Gebiete.
Ist es ein Zufall, dass Levinas von Gagarins Kapsel Wos­
tok I und Heidegger von den „Fernkampfflugzeugen“ spricht?
Nach Heidegger dienen beide der „Zerstörung“, beide haben
die Erde verlassen und bewegen sich im universalen Raum. Es
deutet sich an, dass für Heidegger die Platonische Idee und
das Judentum einen Zusammenhang bilden. Augustinus übri­
gens fragt sich im 8. Buch von „De civitate Dei“, ob Platon
die Propheten und darunter vor allem den Propheten Jeremia
hätte kennen können. Er kommt zu einem negativen Urteil,
sagt aber dennoch, dass er der Behauptung, Platon müsse jene
Bücher gekannt haben, beinahe zustimmen möchte. Judentum,
Platonismus, Christentum – drei Gestalten des Universalis­
mus, die Heidegger in den „Schwarzen Heften“ angreift.]
Die vollendete apokalyptische Reduktion erreicht die
Geschichte des Seins dort, wo kein „Feind“ mehr existiert,
der, auf welche Art auch immer, das „Dasein des Volkes“
bedroht. Die Geschichte selbst muss die „Entscheidung“ voll­
ziehen. Nun wird „Vernichtung“ zur „Selbstvernichtung“.
Die „Selbstvernichtung“ aber kann nun nach Heidegger alles
und jeden treffen. Die „Machenschaft“ ist total, macht keine
Ausnahme. Einmal spricht er von der „Selbstvernichtung“ des
„‚Kommunismus‘“, d. h. des von ihm so gedachten „seinsge­
schichtlichen“ „Kommunismus“, wonach es zwischen „Bol­
schewismus“ und „Amerikanismus“ und ihrem angeblichen
Versprechen universaler Mittelmäßigkeit keinen Unterschied
gibt. Dann spricht er, nach dem Krieg, von der „Selbstvernich­

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tung“ der „Deutschen“ und – noch vor Kriegsende von der
„Selbstvernichtung“ des „‚Jüdischen‘“. So heißt es:

„Wenn erst das wesenhaft ‚Jüdische‘ im metaphysischen Sinne


gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstver­
nichtung in der Geschichte erreicht; gesetzt, daß das ‚Jüdische‘
überall die Herrschaft vollständig an sich gerissen hat, so daß
auch die Bekämpfung ‚des Jüdischen‘ und sie zuvörderst in die
Botmäßigkeit zu ihm gelangt.“20

„Selbstvernichtung“ braucht nicht überall als „physische“ Ver­


nichtung verstanden zu werden. Vielmehr gibt es nach Hei­
degger auch eine „Selbstvernichtung des Menschentums“21,
die darin besteht, dass das neuzeitliche Subjekt als „letzter
Mensch“ (Nietzsche) in die „Verendung“ übergeht. Anderer­
seits gibt es aber auch eine „Selbstvernichtung“ des „Gegners“,
zu welcher die „‚Politik‘“ in ihrem „neuzeitlichen Wesen“
nichts anderes tun müsse, als den „Gegner“ in eine „Lage hin­
einzuspielen“, in der es nur noch „Selbstvernichtung“22 geben
könne. Wahrscheinlich denkt Heidegger an dieser Stelle an den
„‚Amerikanismus‘“, heißt es doch an derselben Stelle: „Man
entdeckt jetzt erst und spät genug und nur wieder halb als eine
politische Gegnerschaft den ‚Amerikanismus‘.“
Es ist aber nicht zu rechtfertigen, dass die Oszillation
des Begriffs der „Selbstvernichtung“ eine Gleichgültigkeit
der Bedeutung zur Folge hat. Vielmehr muss jede einzelne
Bedeutungsnuance beachtet werden. Zudem müssen wir zur
Kenntnis nehmen, wann Heidegger z. B. über die „Selbstver­
nichtung“ des „‚Jüdischen‘“ und die „Selbstvernichtung“ der

20
Heidegger: Anmerkungen I, 30. In: Ders.: Anmerkungen I–V. GA 97.
A.a.O.
21
Heidegger: Überlegungen XIV, 18. In: Ders.: Überlegungen XII–XV.
A.a.O.
22
Heidegger: Überlegungen XIV, 13. In: Ders.: Überlegungen XII–XV.
A.a.O.

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„Deutschen“ spricht. An dieser Stelle ist der Zeugnischarakter
der „Schwarzen Hefte“ relevant. Wie in den Vorlesungen ist
es wichtig zu sehen, wann Heidegger welche Veränderung im
Narrativ der Seinsgeschichte vornimmt.
Die apokalyptische Reduktion erweist sich als die „Selbst­
vernichtung“ der „‚Technik‘“. In der narrativen Topographie
von Heideggers Denken zeigt sich eine seinsgeschichtliche
Einheit von „Amerikanismus“, „England“, „Bolschewismus“,
„Kommunismus“, „Nationalsozialismus“ und „Judentum“
bzw. „Weltjudentum“. Alle diese Protagonisten der Seins­
geschichte sind von einer „betont rechnerischen Begabung“
determiniert; einer „Begabung“ freilich, die Heidegger expli­
zit den Juden zuschreibt. Sie bewegen sich in einem weltlosen
Raum in „Fernkampfflugzeugen“ und Raumkapseln. Sie sind
vielleicht die (un-)eigentlichen Agenten der „Machenschaft“.
Vor dem Kriegsende, vor dem „Ende“ betrifft die „Selbst­
vernichtung“ diese Agenten der „Machenschaft“. Was auf dem
Spiel steht, ist der „andere Anfang“. Die „Entscheidung“ for­
dert, dass dieser „Anfang“ ohne Sieger und Besiegte gesche­
hen muss. Denn der Unterschied von Sieger und Besiegten fällt
unmittelbar in die Technik zurück. Sie muss sich selbst ver­
nichten, indem sie ihre Agenten mit sich reisst.
Das Kriegsende zeigt jedoch, dass sich die Agenten der
„Machenschaft“ durchgesetzt haben. Nun treibt sie die „Deut­
schen“ in die „Selbstvernichtung“. Heidegger spricht von einer
„Tötungsmaschinerie“, die „das deutsche Volk und Land in ein
einziges Kz“23 verwandelt habe. Die „Selbstvernichtung“ der
„Machenschaft“ bleibt aus, das kann nur die „Selbstvernich­
tung“ der „Deutschen“ zur Folge haben.
Bleibt die Frage, wie wir die „Selbstvernichtung“ des
„‚Jüdischen‘“ und des „Jüdischen“ zu verstehen haben (hat­
ten Anführungsstriche bei Heidegger jemals eine dunklere,

23
Heidegger: Anmerkungen I, 151. In: Ders.: Anmerkungen I–V. GA 97.
A.a.O.

110

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schrecklichere Bedeutung?). Das „‚Jüdische‘“ ist nun offenbar
die „Machenschaft“. In diesem Sinne sind die National­sozia­
listen und mit ihnen Amerikaner, Engländer und Bolsche­
wisten allesamt Vertreter des „‚Jüdischen‘“24. Was sich gegen
es wendet, gerät in seine „Botmäßigkeit“, denkt nach seinen
Regeln. Das „Jüdische“ aber ist – was sollte es sonst sein? – der
Charakter der faktischen Juden. Die „Selbstvernichtung“ der
„Machenschaft“ geschieht in Form der Vernichtung des „Jüdi­
schen“ durch das „‚Jüdische‘“: Auschwitz – die „Selbstvernich­
tung“ des Judentums? Der Gedanke vernichtet die Vernichte­
ten noch einmal.

24
D. h., dass Heidegger hier vorwegnimmt, was später heißt: „Ackerbau
ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die
Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das
Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie
die Farbikation von Wasserstoffbomben.“ (Martin Heidegger: Bremer
und Freiburger Vorträge. 1. Einblick in das was ist; 2. Grundsätze des
Denkens. GA 79. Hrsg. von Petra Jaeger. Frankfurt am Main 2/2005, 27)
Was allerdings hier neutral-relativistisch dem „Ge-Stell“ zugeschrieben
wird, wird ungefähr acht Jahre früher dem „‚Jüdischen‘“ zugeschrieben.
Es ist nicht einfach, die Frage zu stellen, warum Heidegger die „Machen­
schaft“ mit dem „‚Jüdischen‘“ identifiziert. Die Anführungsstriche lösen
den stereotypischen Charakter der „betont rechnerischen Begabung“
von den faktisch existierenden Juden ab, um ihn insgesamt der Tech­
nik unterzuschieben. Damit ist das Judentum der seinsgeschichtliche
„Feind“ schlechthin.

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Nach der Shoa

Es ist keine öffentliche Äußerung von Heidegger bekannt, in


der er auf die Shoa Bezug genommen hätte. Zwei Anspielungen
in den „Bremer Vorträgen“, in denen Heidegger wie Hannah
Arendt zur selben Zeit von einer „Fabrikation von Leichen in
Gaskammern und Vernichtungslagern“1 spricht, können nicht
als Äußerung über die Shoa gelten. Eine solche müsste keine
„Entschuldigung“ sein, aber vielleicht ein Versuch, das Den­
ken am Geschehenen scheitern zu lassen, oder vielleicht ein
Ausdruck des Mutes, zu trauern.
Wir wissen inzwischen, wie schwierig es ganz allgemein
war, in solcher Weise über die Shoa zu sprechen. Eine öffent­
liche und breite Diskussion über sie wurde in Deutschland im
Grunde erst durch den vierteiligen amerikanischen, durchaus
problematischen Fernsehfilm „Holocaust – Die Geschichte der
Familie Weiss“ im Jahr 1978 ausgelöst. Gewiss hatten Dichter
und Denker schon darüber und davon geschrieben: Hannah
Arendt sowieso, Theodor W. Adorno oder auch Paul Celan in
der „Todesfuge“. Selbst Ernst Jünger spricht in „Der Friede“
– in diesem Appell vom Ende des Zweiten Weltkriegs – von
den „Mordhöhlen“, die „auf fernste Zeiten im Gedächtnis der
Menschen haften“. Sie seien die „eigentlichen Mahnmale dieses
Krieges“2. Doch das Gespräch, die nüchterne Anerkennung
1
Martin Heidegger: Bremer und Freiburger Vorträge. 1. Einblick in
das was ist; 2. Grundsätze des Denkens. GA 79. Hrsg. von Petra Jae­
ger. Frankfurt am Main 2/2005, 27, 56. Vgl. auch Arendt: Elemente und
Ursprünge totaler Herrschaft. A.a.O., 912.
2
Ernst Jünger: Der Friede. Ein Wort an die Jugend Europas und an die
Jugend der Welt. Die Argonauten: o. O. u. Z., S. 15.

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des Geschehenen, war ohne Zweifel schmerzhaft – und darum
schwer.
Von besonderer Bedeutung war für Heidegger die Wieder­
begegnung mit Hannah Arendt, der hochbegabten ehemaligen
Schülerin, der Geliebten. Ihr hatte er in einem Brief Anfang
1933 mitgeteilt, „heute in Universitätsfragen genau so Antise­
mit“ zu sein „wie vor 10 Jahren und in Marburg, wo ich für
diesen Antisemitismus sogar die Unterstützung von Jacobsthal
und Friedländer fand“3; eine ambivalente Bemerkung, denn er
fügt hinzu: „Und erst recht kann es nicht das Verhältnis zu
Dir berühren.“ Heidegger formuliert die „Ausnahme“. Doch
Arendt hat niemals auch nur durchblicken lassen, sie hätte sich
in ihrer Beziehung zu ihm als „Ausnahmejüdin“ empfunden.
Abgesehen von seinem akademischem Vorbehalt gegen Juden
hat er sich ihnen gegenüber verhalten wie gegenüber jedem
anderen auch. 4
Die Äußerung zeigt aber, dass Heidegger gegenüber Arendt
einen für die zwanziger und dreißiger Jahre nicht ungewöhn­
lichen Antisemitismus zum Ausdruck bringen kann. Er richte­
te sich bei ihm gegen die Juden vor allem an den Universitäten.
In dieser Hinsicht spricht er in einem Brief vom 18. Okto­
ber 1916 von einer „Verjudung unsrer Kultur u. Universitä-

3
Hannah Arendt / Martin Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere
Zeugnisse. Hrsg. von Ursula Ludz. Klostermann Verlag: Frankfurt am
Main 1998, 69.
4
An diesem Punkt kann ich mir eine persönliche Äußerung nicht ver­
sagen. Uns ist es zur Gewohnheit geworden, zu Menschen ein indifferen­
tes, von ihrer kulturellen oder geschlechtlichen oder sozialen Herkunft
unabhängiges Verhältnis einzunehmen. Auf solche Weise der „political
correctness“ zu entsprechen entspringt Erfahrungen, über die Heidegger
nicht verfügte. Wie bereits in Bezug auf die Textsammlung „Deutschtum
und Judentum“ ausgeführt, war es vor 1945 üblich, einen Deutschen als
Deutschen und einen (deutschen) Juden als (deutschen) Juden zu betrach­
ten. Vgl. dazu auch die Diskussion über das Deutschtum zwischen Karl
Jaspers und Hannah Arendt in ihrem Briefwechsel um 1933. Dazu in mei­
nem Buch Denkbarer Holocaust. Die politische Ethik Hannah ­A rendts.
Königshausen & Neumann: Würzburg 2005, 165 ff.

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ten“ 5 – eine Lagebeurteilung, die zu dieser Zeit so gewöhn­
lich war, dass sie sogar von Juden geteilt wurde. 6 Auch Arendt
scheint Heideggers Antisemitismus „in Universitätsfragen“
vor 1933, vor der Einführung des „Gleichschaltungsgesetzes“,
nicht ausdrücklich abgelehnt zu haben. Sie hielt ihn wohl für
ein allgemeines kulturelles Phänomen. Beim seinsgeschicht­
liche Antisemitismus, den sie vermutlich niemals kennenge­
lernt hat, war Heidegger noch nicht angelangt.
Arendt war es auch, die im April 1969 einen Brief von Elfri­
de Heidegger erhielt, in dem sie gebeten wurde, den Verkaufs­
preis des Manuskripts von „Sein und Zeit“ zu ermitteln. Als
Grund für die Nachfrage gibt Elfride Heidegger an, dass „wir
nichts vom Geld verstehen“7 – obwohl doch Fritz Heidegger,
der Bruder ihres Mannes, jahrzehntelang in der Volksbank von
Meßkirch tätig war. War es ein Zufall, dass das Ehepaar Heid­
eg­ger bei der Erwägung eines Verkaufs der Handschrift an die
Jüdin Arendt dachte? Verstand sie etwas vom Geld? In den
„offiziellen“ Erklärungen der letzten Jahrzehnte zu Heidegger
galt Elfride als Antisemitin, nicht ihr Mann. Arendt hat der
Bitte übrigens ohne Verzug entsprochen.
Worüber Heidegger und Arendt nach der Wiederbegegnung
1950 gesprochen haben, ist nicht bekannt. Undenkbar, dass
Arendt die Shoa nicht ansprach. In einem Brief vom April 1950
erwähnt Heidegger dann, „daß das Schicksal der Juden und der
Deutschen ja seine eigene Wahrheit“ habe, „die unser histori­
sches Rechnen nicht erreicht“8 ; eine ambivalente Bemerkung,

5
„Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfri­
de 1915-1970. A.a.O., 51.
6
Der im Juni 1922 aus antisemitischem Motiv ermordete Reichsaußen­
minister Walther Rathenau schreibt in seinem Aufsatz „Höre, Israel!“
(1897) von einem „Ziel“ des „Staates, „der Verjudung des öffentlichen
Wesens entgegenzuarbeiten“ – und bezeichnet es als „berechtigt“. Wal­
ther Rathenau: Höre, Israel!. In: Deutschtum und Judentum. A.a.O., 37.
7
Arendt / Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. A.a.O.,
170.
8
Ebd., 94.

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da sie der Interpretation viel Spielraum lässt (übrigens ist das
„ja“ und das „je“ in Heideggers Handschrift kaum zu unter­
scheiden). Noch weniger eindeutig ist eine Äußerung Heid­eg­
gers aus einem Brief einen Monat später, in dem er behauptet,
dass ihm „noch einmal ein Ruck 1937/38“ „die Katastrophe
Deutschlands klar“9 werden ließ. Mit höchster Wahrschein­
lichkeit stammen alle antisemitischen Äußerungen in den
„Schwarzen Heften“ aus späterer Zeit. Es kann aber sein, dass
Heid­egger Gründe hatte, die „Katastrophe Deutschlands“ mit
diesen Bemerkungen nicht zu verbinden. Die eigentliche „Kata­
strophe Deutschlands“, an der „Machenschaft“ gescheitert zu
sein, war etwas anderes. War sie wirklich etwas anderes?
Mit wem mag er sonst das Thema der Shoa berührt haben?
Alle möglichen Zeugen, die mir bekannt sind, haben sich ent­
weder nicht erinnert, darüber mit ihm gesprochen zu haben,
oder sie haben darüber geschwiegen. Alle bekannten Brief­
wechsel schweigen ebenso. Lediglich ein Brief, den Herbert
Marcuse im August 1947 an Heidegger richtete, forderte eine
ausweichende Antwort heraus.10
Die „Schwarzen Hefte“ brechen für einen Augenblick das
Schweigen, das Totschweigen. Herausgefordert von Plakaten,
die von der „Psychological Warfare Division“ der „Supreme
Headquaters Allied Powers Europe“ nach dem Krieg verteilt
wurden, bezieht er sich auf die Shoa. Auf dem Plakat waren
unter der Überschrift: „Diese Schandtaten: Eure Schuld!“
Fotografien aus befreiten Konzentrationslagern abgebildet.
In einem Rückblick versucht er, dem „Geschick“ einen Sinn
abzuringen.
„Wir“ seien nachwievor „im unscheinbaren Kostbaren des
gesparten Schatzes“ 11. Doch um „uns“ darin zu „lassen, muß­

9
Ebd., 104.
10
Heidegger: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. GA 16.
A.a.O., 430 ff.
11
Heidegger: Anmerkungen I, 151. In: Ders.: Anmerkungen I–V. GA 97.
A.a.O.

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ten wir sowohl erst das Eigene erfahren und zu ihm ge-freyt
seyn, zugleich aber mußten die Fremden uns lassen im Sinne
einer Hilfe, die eine nicht geringere freye-freyende – Gesin­
nung voraussetzte“. Das „Eigene“ musste erfahren werden,
um im „gesparten Schatz“ zu bleiben. Beinahe unverständ­
lich ist der Hinweis auf die „Fremden“, die uns ebenso „las­
sen“ mussten. Wie haben uns die „Fremden“ – und sehr oft
bezeichnen die „Fremden“ die Juden – „geholfen“? Haben sie
uns gelassen oder verlassen? Oder sind die „Fremden“ hier gar
die „Griechen“, die allerdings nur unter den seinsgeschichtli­
chen Bedingungen von Heideggers Hölderlin-Interpretation
so bezeichnet werden könnten und denen damit durchaus kei­
ne historische Aktualität zuzuschreiben wäre? Der Philosoph
fügt dann auch hinzu: „Wie dunkel ist es über all diesem Einfa­
chen – und dennoch – wie nahe ist diese Möglichkeit des einen
eigenen Geschicks – das viel auszutragen verlangt.“
Dann fährt er fort:

„Wäre z. B. die Verkennung dieses Geschickes – das uns ja nicht


selbst gehörte, wäre das Niederhalten im Weltwollen – aus dem
Geschick gedacht, nicht eine noch wesentlichere ‚Schuld‘ und
eine ‚Kollektivschuld‘, deren Größe gar nicht – im Wesen nicht
einmal am Greuelhaften der ‚Gaskammern‘ gemessen wer­
den könnte –; eine Schuld – unheimlicher denn alle öffentlich
‚anprangerbaren‘ ‚Verbrechen‘ – die gewiß künftig keiner je
entschuldigen dürfte. Ahnt ‚man‘, daß jetzt schon das deutsche
Volk und Land ein einziges Kz ist – wie es ‚die Welt‘ allerdings
noch nie ‚gesehen‘ hat und das ‚die Welt‘ auch nicht sehen will
– dieses Nicht-wollen noch wollender als unsere Willenlosig­
keit gegen die Verwilderung des Nationalsozialismus.“

Die „Verkennung“ des „Geschicks“, im „unscheinbaren Kostba­


ren des gesparten Schatzes“ bleiben zu dürfen, wird als „Welt­
wollen“ charakterisiert. Die temporale Struktur des Kontexts
verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart. „Uns“ eignet

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noch der „gesparte Schatz“, doch „wir mußten“ erst das „Eigene
erfahren“. Das „Weltwollen“ aber ist offenbar ein aktuelles. Es
entspricht immer noch dem „Geschick“, über das „wir“, eben
weil es „Geschick“ ist, nicht verfügen. Würden „wir“ in die­
sem „Weltwollen“ „niedergehalten“ – nun, nach dem Ende des
Krieges –, dann wäre dieses „Niederhalten“ eine „Schuld“, „de­
ren Größe gar nicht – im Wesen nicht einmal am Greuelhaften
der ‚Gaskammern‘ [warum die Anführungsstriche?] gemessen
werden könnte“. Das „Weltwollen“ der „Deutschen“ ist seinsge­
schichtlich wichtiger als das „Greuelhafte der ‚Gaskammern‘“.
Das „Nicht-sehen-wollen“, dass „jetzt schon das deutsche
Volk und Land ein einziges Kz“ sei, sei „noch wollender als
unsere Willenlosigkeit“ gegenüber der Entartung des Natio­
nalsozialismus. Beide Äußerungen treffen demnach die Sieger,
die Alliierten. Ihre Politik, nämlich das deutsche „Weltwollen“
zu begrenzen, sei verbrecherischer als der Massenmord, den
„gewiß künftig keiner je entschuldigen dürfte“.
Die Argumentation ist verfahren. Es gibt ein deutsches „Ge­
schick“ des „Weltwollens“, eine Erfahrung des „Eigenen“ mit
der „Hilfe“ der „Fremden“. Dieses „Geschick“ wird gegen die
„Verwilderung des Nationalsozialismus“ abgehoben. Es führte
demnach keineswegs zum „Greuelhaften der ‚Gaskammern‘“,
das dem entarteten Nationalsozialismus zugeschrieben wird.
Nun könnten aber die Verbrechen der Alliierten sogar noch die­
se „‚Verbrechen‘“ [warum die Anführungszeichen?], die Heid­
eg­ger einräumt, übertreffen.
All das bestätigt die Antwort an Marcuse, in der beklagt
wird, dass „die Alliierten“ vor „der Weltöffentlichkeit“
„,Ostdeutsche‘“12 umbringen konnten, „während der blutige
Terror der Nazis vor dem deutschen Volk tatsächlich geheim­
gehalten worden“ sei. In den „Anmerkungen II“ spricht Heid­
eg­ger von einer „in Gang gebrachten Tötungsmaschinerie“, die
die „vollständige Vernichtung“ der Deutschen bewirken sollte.

12
Ebd., 431.

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Und Heidegger fügt hinzu: „Daß diese Maschinerie nur die
,Strafe‘ für den Nationalsozialismus sei, oder auch nur die bloße
Ausgeburt einer Rachsucht, möge man noch eine Zeit lang eini­
gen Törichten [sic] glauben machen. Man hat in Wahrheit die
erwünschte Gelegenheit gefunden, nein, in den letzten 12 Jah­
ren mitorganisiert und zwar bewußt, um diese Verwüstung in
Gang zu bringen. Wenn dabei Verzögerungen eintreten, dann
entspringen sie nur der Berechnung, die darauf sieht, daß diese
Maschinerie das eigene Geschäftsgebahren [sic] nicht noch zu
plötzlich stört.“ Diese Bemerkung, betont Heidegger, sei „nicht
mehr in die Öffentlichkeit für Leser gesagt“, sondern sie gehöre
„dem Geschick des Seyns selbst und dessen Stille“13. Wie heißt es
in den „Protokollen“? Sollte ein „nichtjüdischer Staat“ es wagen,
gegen die Juden („gegen uns“) vorzugehen, „so müssen wir den
Weltkrieg entfesseln“. Waren es nicht die Juden, die die Deut­
schen in ihre „Katastrophe“ gestürzt haben? Und selbst wenn
das eine abwegige Insinuation wäre, bliebe Heideggers Ansicht,
„man“ habe „in den letzten 12 Jahren“ die „Gelegenheit“ „mit-
organisiert“, die Deutschen zu vernichten, noch abwegiger.
Ungefähr zwei Jahre später, d. h. so um die Jahre 1947 und
1948, nimmt Heidegger denselben Gedanken noch einmal auf.
Er setzt kritisch an der Gepflogenheit an, die Daten „1933“
und „1945“ historisch zu betonen. Es sei dabei „vielleicht über­
haupt irrig, so zu rechnen und die Geschichte nur historisch
zu nehmen, obzwar die ganze neuzeitliche europäische Welt in
dieser Weise rechnend mit Deutschland“14 verfahre. Doch die
Deutschen merkten „immer noch nicht, was vor sich geht und
daß dieses Rechnen noch nicht am Ende der Rechnung ist“.
Es bleibe „noch“ „die Aufgabe“, „die Deutschen geistig und
geschichtlich auszulöschen“. Ein „alter Geist der Rache“ gehe
„um die Erde“. Die „Geistes-Geschichte dieser Rache“ werde
13
Heidegger: Anmerkungen II, 60. In: Ders.: Anmerkungen II–V.
GA 97. A.a.O.
14
Martin Heidegger: Anmerkungen V, 21. In: Ders.: Anmerkungen
II–V. GA 97. A.a.O.

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„nie geschrieben werden“, das verhindere „die Rache selber“.
Sie gelange „nicht einmal in die öffentliche Vorstellung“, denn
die „Öffentlichkeit“ sei „selber schon Rache“.
Der „Geist der Rache“ 15 ist ein „Geist“ der „Rechnung“,
die „noch nicht am Ende“ ist. Die „geistige und geschicht­
liche“ Auslöschung der Deutschen stehe „noch“ aus. Von einer
„Tötungsmaschinerie“ spricht Heidegger nicht mehr, die Vor­
hersage einer physischen Auslöschung hat sich nicht erfüllt.
Was der Vernichtung allerdings nicht entgangen ist, ist Heid­
eggers Narrativ von der seinsgeschichtlichen Sonderrolle der
Griechen und der Deutschen. Wahrscheinlich hat er gespürt,
dass die Zeit dieser philosophischen Erzählung vorbei war.
Doch war sie vorbei, weil ein „Geist der Rache“ über die Deut­
schen gekommen war? Hatte sich das Narrativ der deutschen
Sonderrolle – wie immer diese aussah – nicht vielmehr selbst
mitvernichtet in der Vernichtung der Juden?
Obwohl wir in den bisher erwähnten Quellen keine Hinwei­
se auf Heideggersche Äußerungen zur Shoa finden, hat er doch

15
Vgl. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Ein Streitschrift.
KSA 5. A.a.O., 267: „Alles, was auf Erden gegen ,die Vornehmen‘, ,die
Gewaltigen‘, ,die Herren‘, ,die Machthaber‘ gethan worden ist, ist nicht
der Rede werth im Vergleich mit dem, was die Juden gegen sie gethan
haben: die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und
Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwerthung von deren
Werthen, also durch einen Akt der geistigsten Rache Genugthuung zu
schaffen wusste. So allein war es eben einem priesterlichen Volke gemäss,
dem Volk der zurückgetretensten Rachsucht.“ Heidegger kann sich bei
seiner eigenartigen Hypostasierung eines gegen die Deutschen vorge­
henden „Geistes der Rache“ gewiss auf Nietzsches Moral-Geneaologie
berufen. Das wirft auch ein Licht zurück auf Nietzsches Antisemitismus,
der dadurch nicht verschwindet, dass der Philosoph an anderer Stelle die
„Rasse“ der Juden anschwärmt und seiner Wut auf Antisemiten freien
Lauf lässt. Wahrscheinlich ist die These nicht unhaltbar, dass der (christ­
lich-)konservative Strang der deutschen Philosophie-Geschichte vom
Deutschen Idealismus über Nietzsche zu Ernst und Friedrich-Georg
Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger insgesamt mehr oder weni­
ger latent antisemitisch war. Freilich kommt es dabei darauf an, die Art
dieser Antisemitismen differenziert zu betrachten.

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einmal selbst das Wort ergriffen, um sie anzusprechen. In einem
Gedicht, verfasst nach dem Wiedersehen, nach der ersten Rück­
kehr – welch einer – an Hannah Arendt, schreibt Heidegger:

„Nur dir

GEDACHT UND ZART

,Gedacht‘ –
Oh, hilf mir wagen,
dies zu sagen.

Hör! ,Gedacht‘
heißt jetzt:
entwacht:
entsetzt
in alle Klüfte jenes Grimms,
dem Klag um Klage
deines Blutes, oh vernimm’s,
entstürzt und mein Zu-Dir
fortan ins ,wehe! frage!‘
wirft, deß’ Scheit Du mir
mit jedem Kommen bürdest als die Last,
die nah, je näher, tiefer faßt,
am Schwingen jeder Rührung zerrt,
am Zarten der Berührung zehrt!“16

Das Gedicht setzt ein mit dem, was Arendt an Heidegger


unverwechselbar fand. Das Denken, das Ereignis des Den­
kens, wird „jetzt“ zu einem „Entwachen“, „Entsetzen“. „Jetzt“
hat der Denker den „Grimm“ erkannt, der in den Klagen des
jüdischen „Blutes“ erklingt. „Jetzt“ sei „mein Zu-Dir“ zu
einer schmerzhaften Frage geworden, „deß’ Scheit Du mir /

16
Arendt / Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. A.a.O.,
101 f. Ich zitiere nur einen Teil des Gedichts.

121

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mit jedem Kommen bürdest als die Last“. Heidegger spielt auf
einen Vers Hölderlins an, in dessen Gedicht „Mnemosyne“
es heißt: „Und vieles / Wie auf den Schultern eine / Last von
Scheitern ist / Zu behalten. Aber bös sind / Die Pfade.“17 Es
ist bemerkenswert, dass das „Scheit“ von der Kommenden „als
die Last“ aufgebürdet wird.
In der intimen Widmung („Nur dir“) wird möglich, was
Heidegger in einer anderen Form nicht sagen und wohl auch
nicht fühlen konnte. Die „Last“ wird spürbar in der Begeg­
nung mit der Überlebenden, mit der (ehemals) Geliebten, die
dem Verbrechen entging. Der Denker scheint zu bezeugen,
welche weitreichenden Folgen in der Wiederbegegnung lie­
gen – als wäre ihm erst in der Nähe Arendts die Shoa bewusst
geworden. Was wiegt dieses Gedicht, dieses Eingeständnis
einer „Last“ im Denken? Vielleicht alles, vielleicht nichts.
Hannah Arendt scheint darüber nachgedacht zu haben. Die
erste Aufzeichnung aus ihrem „Denktagebuch“ vom Juni 1950
lautet: „Das Unrechte, das man getan hat, ist die Last auf den
Schultern, etwas, was man trägt, weil man es sich aufgeladen
hat.“18 Es geht dann um die „Geste der Verzeihung“, die die
„Gleichheit und damit das Fundament menschlicher Bezie­
hungen so radikal“ zerstöre, „dass eigentlich nach einem sol­
chen Akt gar keine Beziehung mehr möglich sein sollte“. Für
Arendt war die Rückkehr nach Deutschland eine Frage der
„Verzeihung“, nicht nur gegenüber Heidegger.
Doch was hat sie über Heidegger wirklich gedacht? In
einem Brief an Jaspers von 1946 hat sie ihn als einen „potenti­
ellen Mörder“, als einen „Lügner“ mit „ausgesprochen patho­
17
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. I. Hrsg. von
Michael Knaupp. Hanser Verlag: München 1992, 437. Das „Scheit“ ist
das Holzscheit. „Scheit“ hängt mit dem Verbum „scheiden“ zusammen.
„Scheitern“ hier bei Hölderlin ist der Plural von „Scheit“ (vgl. Scheiter­
haufen).
18
Hannah Arendt: Denktagebuch 1950 bis 1973. Bd. 1. Hrsg. von Ursu­
la Ludz und Ingeborg Nordmann. Piper Verlag: München und Zürich
2002, 3.

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Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
logischem Einschlag“19 bezeichnet. Das war in der Wieder­
begegnung irrelevant. Andere Distanzierungsversuche wie
die Charakterisierung Heideggers als „Fuchs“20 bleiben ange­
sichts des Geschehenen harmlos. Was hätte sie gesagt, wenn
sie Heid­eggers antisemitische Aufzeichnungen gekannt hätte?
Was hätten all jene gesagt, die im ersten Satz dieser Überle­
gungen genannt wurden? Hätte Löwith den Kontakt wieder
aufgenommen? Hätte Celan Heidegger besucht?
Anders gefragt: wie werden wir mit Heideggers seinsge­
schichtlichem Antisemitismus im Verhältnis zur Shoa umge­
hen? Nun steht nicht mehr zur Debatte, ob man Heideggers
„politischen Irrtum“ gegen eine „politisch-korrekte“ und
darum unwillentlich oder willentlich die Verhältnisse verzer­
rende Öffentlichkeit verteidigen soll (wenn man es kann). Es
gibt einen Antisemitismus in Heideggers Denken, der – wie
es einem Denker entspricht – eine (unmögliche) philosophi­
sche Begründung erfährt, dabei aber über zwei, drei Stereoty­
pen nicht hinauskommt. Die seinsgeschichtliche Konstruktion
macht es noch schlimmer. Sie ist es, die zur Kontamination
dieses Denkens führen könnte.
In einer der wahrscheinlich letzten unmittelbaren Äußerun­
gen über die Juden in den „Schwarzen Heften“ heißt es:

„,Prophetie‘“ ist die Technik der Abwehr des Geschicklichen


der Geschichte. Sie ist ein Instrument des Willens zur Macht.
Daß die großen Propheten Juden sind, ist eine Tatsache, deren
Geheimes noch nicht gedacht worden. (Anmerkung für Esel:
mit ,Antisemitismus‘ hat die Bemerkung nichts zu tun. Dieser
ist so töricht und so verwerflich, wie das blutige und vor allem
unblutige Vorgehen des Christentums gegen ,die Heiden‘. Daß
auch das Christentum den Antisemitismus als ,unchristlich‘

19
Hannah Arendt / Karl Jaspers: Briefwechsel 1926 bis 1969. Hrsg. von
Lotte Köhler und Hans Saner. Piper Verlag: München u. Zürich 1993, 84.
20
Arendt / Heidegger: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. A.a.O.,
382.

123

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Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
brandmarkt, gehört zur hohen Ausbildung der Raffinesse sei­
ner Machttechnik.)“21
Zunächst bröckelt die Fassade der Aufzeichnung. War die
Äußerung über die an den Deutschen arbeitende „Tötungsma­
schinerie“ nur „dem Geschick des Seyns selbst und dessen Stil­
le“ gesagt, so wird nun „für Esel“ (d. h. für die Öffentlichkeit?)
angemerkt, dass das Gesagte „mit ,Antisemitismus‘“ „nichts
zu tun habe“. Was wird aber gesagt? Im Grunde Folgendes:
das Fürsprechen und Vorhersagen ist gegen ein Verständnis
des „Geschicklichen der Geschichte“ gerichtet, das stark an die
griechische μοῖρα erinnert, an das unerkundbare Spinnen des
Schicksalsfadens, eines Schicksals, dem selbst die griechischen
Götter noch ausgesetzt sind.
Dabei scheint Heidegger vorauszusetzen, dass der Prophet
primär über die Zukunft und nicht kritisch über die Gegen­
wart spricht. Zudem wird ignoriert, dass im Narrativ des Aus­
erwähltseins zum Propheten das Ergriffenwerden durch Gott
oft genug als bitteres Schicksal beschrieben wird (vgl. Ezechiel).
Häufig wurde das Sprechen der Propheten von anderen Juden
selbst bekämpft und verfolgt. Das „Amt“ des Propheten wäre

21
Heidegger: Anmerkungen II, 77. In: Ders.: Anmerkungen II–V. GA 97.
A.a.O. Es fällt auf, dass Heidegger kaum einmal das Judentum als Religion
betrachtet. Das gilt nicht nur für die „Schwarzen Hefte“, sondern für sein
Werk insgesamt. Eine Ausnahme bildet der „Brief an einen jungen Studen­
ten“, in dem der Philosoph vom „Fehl Gottes und des Göttlichen“ spricht.
Diese Weise der „Abwesenheit“ sei „nicht nichts“, sondern die „erst anzu­
eignende Anwesenheit der verborgenen Fülle des Gewesenen“, worunter
er die „Göttlichkeit im Griechentum, im Prophetisch-Jüdischen, in der
Predigt Jesu“ (Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze. GA 7. Hrsg.
von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt am Main 2000, 185)
versteht. Die Äußerung klingt versöhnlich, ihr Schwerpunkt liegt aber
darauf, dass es sich um die „Fülle des Gewesenen“ handelt. Wenn in den
„Schwarzen Heften“ vom „,ewigen Volk‘“ die Rede ist, meint Heidegger
nicht die Juden, sondern die Deutschen (Johann Gottlieb Fichte erwägt in
seiner „Achten Rede an die deutsche Nation“ das Verhältnis von Volk und
Ewigkeit). Ein Hindernis für die Annäherung an das Judentum als Reli­
gion war gewiss seine Bedeutung für das Christentum.

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demnach durchaus vergleichbar mit dem sich opfernden Dich­
ter, den Heidegger in Hölderlin und nur in ihm gesehen hat.22
Für den Denker ist das prophetische Sprechen eine „Tech­
nik“, ein „Instrument des Willens zur Macht“. Darüber hinaus
stecke darin ein ungedachtes „Geheimes“. Was will er damit
andeuten? Ist es den Juden durch ihre „,Prophetie‘“ gelungen,
„in den letzten 12 Jahren“ den Niedergang der Deutschen „mit-
organisiert“ zu haben? Wieder streifen wir diese Behauptung.
Kann ein Philosoph so etwas insinuieren? Drängt sich hier
nicht der Eindruck auf, dass der Denker sich in einen Okkul­
tismus verirrt, für den uns die Wort fehlen? Oder müssen wir
gar eine antisemitische Paranoia diagnostizieren?
Heidegger hält das, was er mit dem Hinweis auf das „Gehei­
me“ der jüdischen Propheten andeutet, nicht für Antisemi­
tismus. Die Begründung dieser Abwiegelung allerdings ist
wenig überzeugend. Der Antisemitismus wird mit dem Ver­
hältnis des Christentums zu den „,Heiden‘“ verglichen. Dass
Christen gegen Nichtchristen vorgegangen sind, sei ebenso

22
Ein anderer Weg, sich Heideggers seinsgeschichtlichem Antisemitis­
mus zu nähern, ist der einer eigentümlichen Affinität. So heißt es einmal:
„Volkskunde jedweder Art und Ausdehnung findet nie das ,ewige Volk‘,
wenn dieses nicht zuvor in seinen Einzelnen des wesentlichen Fragens
und Sagens Jene zugewiesen erhält, die den Gott des Volkes suchen und
eine Entscheidung über das Zu oder Gegen Ihn in die Wesensmitte des
Volkes werfen […].“ Heidegger: Überlegungen XI, 83. In: Ders.: Überle­
gungen VII–XI. GA 95. A.a.O. Halten wir einen Moment die Möglich­
keit offen, dieser „Gott“, der in die „Wesensmitte eines Volkes“ gewor­
fen werden müsse, habe irgendetwas mit dem „letzten Gott“ zu tun, so
böte sich die Gelegenheit, von diesem Gedanken ausgehend einen Blick
auf das Judentum zu werfen. Im zuweilen durchaus als messianisch zu
bezeichnenden Denken des „letzten Gottes“ als eines nicht-universalisti­
schen Gottes eines Volkes klingt die Gottesauffassung des Judentums an
(freilich eine ganz vorläufige Behauptung). Sah Heidegger die Deutschen
nicht als ein „auserwähltes Volk“? Wie steht der „letzte Gott“ zu die­
ser „Auserwähltheit“? Gibt es bei Heidegger eine uneingestandene Nähe
zum Judentum? Und wenn es diese Nähe geben würde, was hieße das für
den seinsgeschichtlichen Antisemitismus? Vgl. zu diesem Ganzen auch
Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). GA 65. A.a.O., 399.

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dumm wie der Antisemitismus. Ihn christlich zu verwerfen,
gehöre nur zur „Machttechnik“ der Christen. Das Törichte
und Verwerfliche des Antisemitismus selbst kommt gar nicht
zur Sprache – vielmehr benutzt Heidegger ihn nur als Folie,
um das Törichte und Verwerfliche des Christentums anzu­
prangern. Zudem scheint er das „vor allem unblutige Vorge­
hen“, d. h. wahrscheinlich die theologische Verurteilung der
Nichtchristen durch die Christen, für besonders bedenk­
lich zu halten. Der Antisemitismus ist für Heidegger nicht
„töricht und so verwerflich“, weil er in einem Geschehen des
„Willens zu Macht“ seinen Ort hat, sondern weil er – anders
als die Philosophie – dieses Geschehen nicht zu durchschauen
vermag.
So wenig Heidegger den Verdacht des Antisemitismus
zerstreuen kann, so sehr haben wir Anlass zu sagen, dass er
geradezu einen weiteren Typus desselben stiftet. Für ihn kom­
men in der technischen Wirklichkeit des „Willens zur Macht“
Judentum und Christentum zusammen. Dadurch erhalten die
in den „Schwarzen Heften“ recht heftigen Angriffe auf Chris­
ten und Jesuiten eine besondere Note. Dass es einen christ­
lichen Antisemitismus gegeben hat, widerspricht dieser Sicht
nicht.
Heideggers antisemitische Äußerungen nehmen eine Rich­
tung. Je mehr sich der „planetarische Krieg“ dem Ende nähert,
je mehr verlagert sich der Schwerpunkt der Formulierungen
von der Kennzeichnung der Juden als Agenten der „Machen­
schaft“ zum Judentum als einer Religion, die in ihrer Verbin­
dung mit dem Christentum eine verheerende Rolle in der Seins­
geschichte spielt. Der „jüdisch-christliche Monotheismus“23
wird als Ursprung der „modernen Systeme der totalen Dikta­
tur“ vorgestellt; eine bekannte Strategie Heideggers, nach der
der Nationalsozialismus ein Epiphänomen des Judentums ist.

23
Heidegger: Anmerkungen V, 10. In: Ders.: Anmerkungen I–V. GA 97.
A.a.O.

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Jetzt manifestiert sich Heideggers Offenheit für die „Göt­
ter“, für den Polytheismus.24 „Jehova“25 sei „derjenige der Göt­
ter, der sich anmaßte, sich zum auserwählten Gott zu machen
und keine anderen Götter mehr neben sich zu dulden“. Die
Anspielung auf das „auserwählte Volk“ ist deutlich. Der Phi­
losoph fragt und antwortet so: „Was ist ein Gott, der sich gegen
die anderen zum auserwählten hinaufsteigert? Jedenfalls ist
er nie ‚der‘ Gott schlechthin, gesetzt, daß das so Gemeinte je
göttlich sein könnte. Wie, wenn die Göttlichkeit des Gottes in
der großen Ruhe beruhte, aus der er die anderen Götter aner­
kennt.“ Noch einmal schreibt sich Heidegger in den deutschen
Sonderweg ein, der von Winckelmann ausgeht und über Höl­
derlin, Schelling und Nietzsche zu ihm selbst führt, auf dem
es möglich wurde, hinter das Christentum zurück und über
es hinaus sich nach anderen Göttern zu sehnen. Die Topologie
vom „ersten“ und „anderen Anfangs“ taucht auf:
„Von hier aus ist zu ermessen, was für das Denken in das ver­
borgene anfängliche Wesen der Geschichte des Abendlandes
das Andenken an den ersten Anfang im Griechentum bedeu­
tet, das außerhalb des Judentums und d. h. des Christentums
geblieben.“ 26
24
In den „Anmerkungen II“ heißt es einmal: „Aber nötig wäre, daß man
sich eines Tages über mein Anti-Christentum wenigstens einmal und nur
einen Gedanken macht. Das geschehe nicht, um mein Denken vielleicht
noch ‚christlich‘ zu dulden. Ich bin nicht Christ, und einzig deshalb, weil
ich es nicht sein kann. Ich kann es nicht sein, weil ich, christlich gespro­
chen, die Gnade nicht habe. Ich werde sie nie haben, solange meinem
Weg das Denken zugemutet bleibt.“ Heidegger: Anmerkungen II, 138.
In: Ders.: Anmerkungen I–V. GA 97. A.a.O. In der Tat hat sich in der
Interpretation von Heideggers Denken Jahrzehnte lang zäh die Ansicht
gehalten, Heideggers Ausführungen z. B. zum „letzten Gott“ (und zu
den „Göttern“) ließen sich stets noch „christlich“ verstehen. Es wäre
christlich gewesen, sie als gezielte Blasphemien aufzufassen.
25
Heidegger: Anmerkungen IV, 62. In: Ders.: Anmerkungen I–V. GA
97. A.a.O.
26
Heidegger: Anmerkungen I, 30. In: Ders.: Anmerkungen I–V. GA 97.
A.a.O.

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Die Entscheidung ist deutlich: Das „Griechentum“ der Phi­
losophie wird gegen das „Judentum“ und „Christentum“ der
Religion ausgespielt. In der Tat sind die Unterschiede zwischen
Denken und Glauben unübersehbar. Auch Leo Strauss, ein
Student Heideggers, hat sie betont – ohne aber jene angeblichen
Folgen zu betonen, an denen Heidegger offenbar interessiert
war.27 Die Entscheidung für den griechischen Anfang Europas
braucht keine antisemitischen Konsequenzen zu haben.
Ob Heideggers Hinweise auf den „Monotheismus“ An-
spruch erheben dürfen, in einen bestehenden religionskri­
tischen Diskurs28 überführt zu werden, ist fraglich. Gewiss
könnte man denken, vom „Polytheismus“ aus seien spezifische
Einflüsse auf die politische Philosophie ausgegangen. Doch
weder lassen sich die z. B. bei Platon aufweisen, noch hat Heid­
egger selbst daran gedacht. Im Gegenteil, seine Zurückhaltung
vor oder Abneigung gegen die Demokratie hält sich in seinem
ganzen Denken durch. Demnach haben Heideggers Bemer­
kungen zur Religion des Judentums den seinsgeschichtlichen
Antisemitismus nicht überwunden.

27
Vgl. Leo Strauss: Reason and Revelation. In: Heinrich Meier: Leo
Strauss and the Theologico-Political Problem. Cambridge University
Press: New York 2006, 141–180.
28
Vgl. Jan Assmann: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in
Ägypten, Israel und Europa. Hanser Verlag: München 2000.

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Antwortversuche

Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich eine begründete


Vermutung: Der seinsgeschichtliche Manichäismus, der sich
am Ende der dreißiger Jahre steigert, das Narrativ, dass eine
Geschichte der Welt und der Heimat von einer Un-Geschichte
der Weltlosigkeit und Heimatlosigkeit bedroht wird, bildete
ein Milieu, worin der bei Heidegger gewiss seit langem latent
vorhandene Antisemitismus nun selbst eine seinsgeschicht­
liche Bedeutung annehmen konnte. In diesem Milieu konnten
abwegige Erzählungen („Protokolle der Weisen von Zion“)
und einfältige Legenden wie z. B. die von einer jüdischen
„Geschicklichkeit des Rechnens“ in Heideggers Denken ein­
dringen und wuchern.
Man darf sich nichts vormachen: Obwohl wir nicht wissen,
was Heidegger von der „Fabrikation von Leichen in Gaskam­
mern und Vernichtungslagern“ geahnt oder sogar gewusst
hat, und selbst wenn wir ihm glauben, dass „Hunderttausen­
de“ „unauffällig in Vernichtungslagern liquidiert“ 1 wurden,
so impliziert doch ein zentraler Gedanke des seinsgeschicht­
lichen Antisemitismus‘, dass die Juden ein militärischer Feind
der Nationalsozialisten oder, schlimmer noch, der Deutschen
waren. An welchem Punkt hätte Heidegger in dem von diesen
Feinden geführten Krieg die Gewalt gegen die Juden begrenzt?

1
Heidegger: Bremer und Freiburger Vorträge. GA 79. A.a.O., 56. Kur­
siv von mir. Ähnlich lautend Heideggers Bemerkung in jenem Brief an
Marcuse, dass „der blutige Terror der Nazis vor dem deutschen Volk tat­
sächlich geheimgehalten worden“ sei. Vgl. Heidegger: Reden und andere
Zeugnisse eines Lebensweges. GA 16. A.a.O., 431.

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Welche Reichweite hatte in seinen Augen die oben erwähnte
„Vorbestimmung“ für die „planetarischen Hauptverbrecher“?
War die „Fabrikation von Leichen“ wirklich undenkbar, wenn
sie einen, vielleicht sogar den Feind betraf? Nicht dass Heid­
eg­ger den Krieg gewollt hätte. Doch als er da war, hat er ihn
für einen unvermeidlichen Schritt in der „Überwindung der
Metaphysik“ gehalten.
Heidegger hat der Öffentlichkeit jedes Recht abgesprochen,
im Durchdenken philosophischer Probleme von Bedeutung
sein zu können. Die Zurückhaltung ist verständlich, müssen
wir doch voraussetzen, dass es der Öffentlichkeit niemals
primär um die Wahrheit gehen kann. Auch die „Schwarzen
Hefte“, dieser wahrscheinlich intimste Text Heideggers, ver­
schweigen die Shoa. Die „Unfähigkeit zu trauern“2 war gewiss
nicht nur in konservativen Kreisen weit verbreitet. Dabei
konnte Heidegger sehr einfühlsam über Trauer und Schmerz
sprechen. Und doch schreibt er in den „Bremer Vorträgen“:
„Überall bedrängen uns zahl- und maßlose Leiden. Wir aber
sind schmerzlos, nicht vereignet dem Wesen des Schmerzes.“3
Hat er womöglich sich selbst damit gemeint oder zumindest
mitgemeint? Wäre dann nicht in einem solchen Eingeständ­
nis das Echo einer Betroffenheit zu hören? Die Unfähigkeit,
das „Wesen des Schmerzes“ zu erfahren, liegt jedoch seiner
Ansicht nach in den Voraussetzungen der modernen Technik,
nicht in der Indifferenz eigener Emotionalität.
Das Fehlen der Bezeugung einer Trauer über die „zahl- und
maßlosen Leiden“ bei einer inflationären Bezeugung der Trau­
er über die seinsgeschichtliche „Heimatlosigkeit“ 4 ist auffäl­
lig. Doch nehmen wir einmal an, der Philosoph wäre wirklich

2
Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern.
Piper Verlag: München 1967.
3
Heidegger: Bremer und Freiburger Vorträge. GA 79. A.a.O., 57.
4
Martin Heidegger: Zum Ereignis-Denken. GA 73.1. Hrsg. von Peter
Trawny. Frankfurt am Main 2013, 819: „Das Heimweh ist die Urtrauer.“
Der Text, aus dem dieser Satz stammt, entstand um 1945.

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vollkommen unzugänglich gewesen für den Schmerz, der sich
angesichts der Shoa einstellt, wäre dann nicht die Wiederbe­
gegnung mit Hannah Arendt ganz und gar unverständlich, ja
geradezu unglaublich? Muss sich Arendt nicht sicher gewesen
sein, dass dieser geliebte Mann den Schmerz erfahren hat?
Nicht, dass sie ihm das „Scheit“ ausdrücklich aufgebürdet hat,
doch undenkbar ist, Arendt hätte angenommen, der Geliebte
wäre kalt geblieben vor den Verbrechen der Deutschen. Frei­
lich bleiben wir auf Vermutungen angewiesen.5
Bei Heidegger gibt es einen seinsgeschichtlichen Antisemi­
tismus, der nicht wenige Dimensionen seines Denkens zu kon­
taminieren scheint. Dieser Tatbestand wirft ein neues Licht auf
Heideggers Philosophie sowie auf ihre Rezeption. War bisher
Heideggers Verwicklung in den Nationalsozialismus ein Pro­
blem, das zu teilweise überzogenen Verurteilungen, teilwei­
se aber auch zu berechtigten Vorbehalten führte, ist mit dem
Bekanntwerden der „Schwarzen Hefte“ das Vorhandensein
eines spezifischen Antisemitismus‘ – der sogar in einer Zeit
aufkommt, in der sich der Denker mit dem real existierenden
Nationalsozialismus sehr kritisch auseinandersetzt – nicht zu
übersehen.
An den Folgen dieses nun philologisch nicht mehr bezwei­
felbaren Sachverhalts wird sich die philosophische und aka­
demische Auseinandersetzung mit Heidegger in den nächsten
Jahren abarbeiten. Man muss kein Prophet sein, um eine insti­

5
Erwähnenswert ist außerdem Heideggers Begegnungen mit dem
Auschwitz-Überlebenden Psychoanalytiker Viktor Frankl in Wien und
in Freiburg Ende der fünfziger Jahre. Vgl. Viktor E. Frankl: Was nicht in
meinen Büchern steht. Lebenserinnerungen. Beltz Verlag: Weinheim und
Basel 2002, 91 f. Leider teilt Frankl dort nicht mit, was zwischen beiden
zur Sprache kam. Auch hier wäre zu fragen, ob diese Begegnung ohne
ein Gespräch über das Geschehene überhaupt denkbar ist. Frankl hatte
Heidegger das Buch, in dem er sich seiner Zeit in Auschwitz erinnert,
„… trotzdem Ja zum Leben sagen. Drei Vorträge. Deuticke Verlag: Wien
1946“, geschenkt. Es konnte in Heideggers Nachlass bisher nicht gefun­
den werden.

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tutionelle Krise der Rezeption seines Denkens vorauszusagen.
Die Frage, ob die antisemitischen Passagen der „Schwarzen
Hefte“ einen Abschied von Heideggers Denken notwendig
nahelegen, scheint keineswegs abwegig zu sein. Wer mit Heid­
egger philosophieren will, muss sich über die antisemitischen
Implikationen bestimmter Gedankenzüge im Klaren sein.
Von nun an kann jeder Versuch Anstoß erregen, in Heid­
eggers Denken den seinsgeschichtlichen Antisemitismus zu
isolieren und so von antisemitismusfreien Sphären seines Den­
kens unterscheiden zu wollen. Die Kontamination beginnt
nicht erst im Denken der dreißiger Jahre und beschränkt sich
auch danach nicht darauf. Gibt es in Heideggers Philosophie
Grundentscheidungen, die von vornherein für die Annahme
eines seingeschichtlichen Feindes offen sind? Schießt die eigen­
tümliche, nicht selten faszinierende Radikalität dieses Denkens
über das Ziel des Philosophierens hinaus, wenn es die „Reini­
gung des Seins“ begehrt? Ist diese Radikalität der Ursprung des
seinsgeschichtlichen Antisemitismus?
Die antisemitische Kontamination von Heideggers Den­
ken – wie weit reicht sie? Befällt sie das corpus dieses Den­
kens im Ganzen? Erfasst sie die Seinsgeschichte bzw. das
seinsgeschichtliche Denken schlechthin? Lässt sie sich ein­
grenzen? Ich habe schon angedeutet, dass ich Heideggers
seinsgeschichtlichen Antisemitismus für die Konsequenz eines
seinsgeschichtlichen Manichäismus halte, der am Ende der
dreißiger Jahre voll zum Ausbruch kam und sein Denken in
ein Entweder-Oder trieb, das die Juden und ihr Schicksal nicht
verschont. Als Heideggers Narrativ von der deutschen Rettung
des Abendlandes – die Sehnsucht nach einer „Reinigung des
Seins“ – in eine Krise gerät, treten die Juden auf die Seite des
Feindes. Die Grenzen der Kontamination von Heideggers Text
decken sich daher mit den Grenzen des seinsgeschichtlichen
Manichäismus. In dem Maße, wie das „Seyn“ und das „Sei­
ende“ keine Alternative mehr waren, die sich in der Alterna­
tive von „Machenschaft“ und „anderer Anfang“ widerspie­

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gelte, verschwand die Möglichkeit zur Hypostasierung eines
feindseligen „Weltjudentums“. Von einem seinsgeschichtlichen
Antisemitismus zu sprechen, impliziert also nicht, dass das
seinsgeschichtliche Denken als solches antisemitisch ist.
Schließlich ist es wohl unvermeidlich, das Begehren einer
„Reinigung des Seins“ mit Reinheits-Phantasmagorien in ein
Verhältnis zu bringen, die an der Organisation eines der größ­
ten Menschheitsverbrechen zumindest mitbeteiligt waren. Die
„Reinheit des Blutes“ sei „die Voraussetzung des Fortbestan­
des des deutschen Volkes“, heißt es in den Nürnberger Geset­
zen. Heidegger hat am Ende der dreißiger Jahre diese Reini­
gung auf die Seite der „tiefsten Verunstaltung des Seins durch
die Vormacht des Seienden“ gesetzt (deshalb unterstreicht er
„Reinigung des Seins“). Und doch ist er in seiner Radikali­
sierung der Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden
einem Grundzug der „brutalitas des Seins“, d. h. der Gewalt­
tätigkeit der „Machenschaft“, im eigenen Denken zum Opfer
gefallen. Das Extrem eines reinen Seins, wenn es, wie bei Heid­
egger, als Geschichte, als Ortschaft des „Da-seins“, gedacht
wird, kann der Gewalt nicht entkommen, von der es sich mit
aller Macht abzusetzen versucht. Es verfällt notwendig einer
Gegen-Gewalt, die sich umso mehr steigert, je gewalttätiger sie
die erste Gewalt erfährt.
Heidegger hat sich von dem Narrativ, das am Anfang sei­
ner Radikalisierung der Differenz von „Seyn“ und „Seiendem“
steht, befreit – langsam zwar, auch schmerzhaft, doch zuletzt
deutlich. Sein Denken hat in seinen letzten drei Jahrzehnten
ein Maß erlangt, das ihm in der maßlosen Zeit ungefähr zwi­
schen 1933 und 1947 fehlte. Die „Schwarzen Hefte“ bezeugen,
wie tief sich Heidegger auf die Erschütterungen der Zeit ein­
gelassen hat, wie sehr sein Denken an diesen Erschütterungen
gelitten hat – nicht nur im Sinne der Beschädigung, als die
sich der seinsgeschichtliche Antisemitismus erweist. Vieles
hat Heid­eg­ger nach 1945 so gedeutet, wie er es sehen wollte –
kaum ein Text zeigt das so offen, wie die „Schwarzen Hefte“.

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Zugleich aber stellen sie schonungslos eine Aussetzung dar,
die Heidegger am Ende seines Lebens nicht verleugnen wollte.
Hatte er vergessen, was die Hefte enthalten? Oder wollte er
uns teilhaben lassen an einem philosophischen Drama, das in
der deutschen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts einzig­
artig ist? War nicht vielleicht Heideggers Geheimhaltung der
„Schwarzen Hefte“ samt der Anweisung, sie ganz zuletzt zu
veröffentlichen, mit der Absicht verbunden, uns besonders zu
zeigen, wie sehr sich sein – das – Denken auf Abwege begab? 6
Hätten nicht alle ihm Nahestehenden, d. h. Verwandte und
Freunde und Mitarbeiter, ihm von der Veröffentlichung abge­
raten?
Am Ende lässt sich also sagen, dass sich Heideggers Denken
weiterhin als eine einzigartige philosophische Herausforde­
rung präsentieren wird. Um zu diesem Ausblick zu kommen,
brauche ich nicht erst auf die Werke Heideggers zu verweisen,
die in ihrer immer neu überraschenden Kraft des Denkens zu
jener unerschöpflichen Quelle der Philosophie gehören, an der
sich alle großen Texte der Philosophen von Platon bis Witt­
genstein versammeln. Nicht nur die Geschichte der Philoso­
phie des letzten Jahrhunderts ist ohne ihn nicht zu verstehen.
Heideggers Wirkungsgeschichte überschreitet die Grenzen
der Philosophie. Er wird der Philosoph bleiben, der uns die
„finstere Zeit“ des 20. Jahrhunderts vielleicht wie kein anderer
erinnern lässt. Freilich tut er es ganz anders als jene „Menschen
in finsteren Zeiten“7, die Hannah Arendt in ihren Aufsätzen
vergegenwärtigt – indem sie Heidegger die Zugehörigkeit
nicht verweigert. Seine Verwicklung noch in die dunkelsten
Züge jener Zeit akzentuiert die Erinnerung, die wir durch ihn
empfangen. Sie ist schmerzhaft nicht nur durch das Erinner­
te, sondern zugleich durch die zuweilen entsetzliche Art und
6
Vgl. Peter Trawny: Irrnisfuge. Heideggers An-archie. Matthes &
Seitz: Berlin 2014.
7
Hannah Arendt: Menschen in finsteren Zeiten. Hrsg. von Ursula
Ludz. Piper Verlag: München u. Zürich 1989.

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Weise der Erinnerungs-Schrift selbst. Und kann es nicht eine
Dankbarkeit dafür geben, dass uns Heideggers Denken diesen
Schmerz, ja diesen Schrecken niemals und nirgendwo erspart?
Dennoch – die „Schwarzen Hefte“ aus den dreißiger und
vierziger Jahren werden eine Revision der Auseinanderset­
zung mit Heideggers Denken nötig machen. Nichts von dem,
was in der Diskussion über die Rolle des Nationalsozialismus
in diesem Denken hin und her erwogen wurde, lässt sich mit
dem vergleichen, was das Narrativ einer deutschen Rettung
des Abendlandes in dieser Philosophie schließlich angerichtet
hat. Selbst wenn Heideggers Denken jene Revision überstehen
wird, werden es die Sätze, um die es in den vorliegenden Über­
legungen ging, wie aufbrechende Narben entstellen. – Eine
„Verwundung des Denkens“ hat sich ereignet.

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Nachwort zur 2. Auflage

Heideggers „Überlegungen“, die erste Reihe der „Schwarzen


Hefte“, sind erschienen und haben ein außergewöhnliches
Medienecho verursacht. Die Reaktionen waren überwiegend
negativ. Doch die philosophische und akademische Aus­ein­
ander­setzung steht noch bevor. Sicher ist, dass mit dieser
Veröffentlichung Heideggers Schriften eine neue Dimension
zuwächst. Sie wird Veränderungen in ihrem Gesamtzusam­
menhang nach sich ziehen. Vor allem die seinsgeschichtlichen
Abhandlungen („Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“,
„Besinnung“ etc.) wird man nun mit den „Überlegungen“ par­
allel lesen müssen – schon weil diese Abhandlungen durchge­
hend auf die „Überlegungen“ verweisen.
Die Reaktion auch der internationalen Medien – besteht
hier nicht eine seltsame Kluft zwischen der akademischen
und öffentlichen Wichtigkeit Heideggers? – hängt mit der
Diskus­sion um Heideggers gegen die Juden gerichteten, d. h.
anti-semitischen Äußerungen zusammen. Hier haben sich
verschiedene Deutungen vernehmen lassen. Ich möchte zwei
davon nennen und ihre Stimmigkeit abwägen.
Der historische Blick auf Heideggers Äußerungen kontextu­
alisiert und stellt fest, dass sie hinter den exponiertesten Anti­
semitismen des „Dritten Reichs“ weit zurückbleiben. In der
Tat kann der von mir so bezeichnete seinsgeschichtliche Anti­
semitismus nicht mit einem Antisemitismus à la Julius Strei­
cher verglichen werden. Zudem hat Heidegger seine Äußerun­
gen sekretiert. Er hat im antisemitischen Milieu des „Dritten
Reichs“ keine Rolle gespielt. – Diese historischen Erinnerun­

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gen sind nicht unwichtig, müssen aber von einer philosophi­
schen Auslegung unterschieden werden. Das ist schon deshalb
so, weil Heidegger seine Äußerungen zum „Weltjudentum“ in
einem philosophischen Kontext aufkommen lässt. Schließlich
kann das Problematische jener Stellen nicht gelöst werden,
indem man auf noch Problematischeres verweist.
Eine andere Deutung behauptet, dass die in Rede stehen­
den Passagen zu einer groß angelegten „Kulturkritik“ gehö­
ren. Demnach sei es mehr oder weniger natürlich, dass in einer
„Kritik“ am „Amerikanismus“ und am „Bolschewismus“, am
„Nationalismus“ und am „Imperialismus“ etc., auch das „Welt­
judentum“ genannt werde. Insofern die Geschichte sich in
einem Endzustand der totalen „Machenschaft“ verliere, gera­
te alles unter ihre (der „Machenschaft“) Herrschaft. Da das
„Weltjudentum“ durch seine „betont rechnerische Begabung“
ein besonderes Verhältnis zur Technik und ihrer Ökonomie
habe, sei es umso mehr ein Herr dieser Herrschaft, umso mehr
es sich als ihr Sklave erweise. – Ich stehe dieser Interpreta­tion
skeptisch gegenüber. Würde heute jemand behaupten, dass die
Chinesen deshalb besonders gut für den globalen Kapitalismus
geeignet wären, weil sie zu einer ganz uneuropäischen per­
sönlichen Selbstverleugnung, ja Selbstversklavung fähig seien,
würde man das wahrscheinlich nicht für eine sinnvolle Kapita­
lismuskritik halten. Zurecht würde die Zuschreibung empören.
Zudem wurde ich für die These kritisiert, Heideggers Antise­
mitismus sei von den „Protokollen der Weisen von Zion“ beein­
flusst, wenn nicht geprägt gewesen. Es wurde und wird einge­
wendet, Heidegger habe die „Protokolle“ nicht gelesen, nicht
gekannt. Dieser pseudophilologische Einwand setzt die These
voraus, dass nur der ein Nationalsozialist war, der Hitlers „Mein
Kampf“ gelesen hat. Damit würde man die Zahl der Nationalsozi­
alisten im „Dritten Reich“ recht schnell auf eine ziemlich geringe
Anzahl reduzieren können. Ich behaupte nicht, dass Heid­eg­ger
die „Protokolle der Weisen von Zion“ gelesen hat. Unter ihrem
Einfluss stand aber jeder, der (von) Hitlers Reden hörte.

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Ich denke also, dass der Begriff des seinsgeschichtlichen
Antisemitismus noch seinen heuristischen Dienst tut.1 Er wird
erst dann ad acta gelegt werden können, wenn uns eine andere,
bessere Deutung der Passagen gelingen wird. Ich möchte beto­
nen, dass die Bezeichnung „grüner Vogel“ nur darauf schlie­
ßen lässt, dass uns ein Vogel mit grünem Gefieder begegnet,
nicht aber, dass alles uns begegnende Grüne vogelig sein muss.
Der Hinweis auf einen seinsgeschichtlichen Antisemitismus
bei Heidegger bedeutet also nicht, dass die Seinsgeschichte als
solche antisemitisch sei.
In einer Hinsicht möchte ich mich selbst kritisieren. Der
Begriff der „Kontamination“ entspricht einer Logik der Rei­
nigung, die vielleicht von Heideggers Idee einer „Reinigung
des Seins“ her in meinen Text übergegangen ist. Ich habe mei­
ne Gedanken da und dort selbst „kontaminieren“ lassen. Ein
vergiftetes Denken aber wird schwach, wird blind. Habe ich
Heid­eggers Äußerungen zum „Weltjudentum“ darum über­
inter­pretiert? Ich habe den Begriff der „Kontamination“ wört­
lich im Sinne des Mitberührt-, Miterfasstwerdens verstanden.
Als Heidegger auf welcher Grundlage auch immer sein Den­
ken von einer imaginären Bedrohung durch das „Weltjuden­
tum“ erfassen ließ, was wurde da von dieser aufgenommenen
Bedrohung mitberührt? Es ist diese Logik der Reinigung, der
Säuberung, vor der sich alles Denken unbedingt bewahren
muss – ohne dass es die Bewahrung von der Reinheit her ver­
steht.
Es wäre wünschenswert, wenn in Zukunft der Fokus sich
auf die philosophischen Probleme richtete, auf die wir in den
„Schwarzen Heften“ vom Ende der dreißiger Jahre treffen. Mir

1
Inzwischen liegen mir auch die bis vor kurzem verschollenen
„Anmerkungen I“ vor. Silvio Vietta, in dessen Besitz sich das „Schwarze
Heft“ befand, sagt in der ZEIT vom 23. Januar 2014: „Es gibt in mei­
nem ‚Schwarzen Heft‘ keinen einzigen Satz gegen Juden, kein einziges
antisemitisches Wort.“ Dieser Äußerung muss ich – auf der Basis meiner
Interpretation – widersprechen.

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scheint, dass uns noch eine Diskussion über Heid­eg­gers radi­
kalen Anti-universalismus bevorsteht. Das Universalistische –
das „Planetarische“ – scheint für Heidegger einzig und allein
im technisch-mathematisch-wissenschaftlichen Charakter der
Moderne begründet zu sein. Seine Wirkung ist für alles Parti­
kulare oder Singuläre zerstörerisch. Die Möglichkeit seinsge­
schichtlicher „Heimat“ (vgl. GA 73.1, 753 ff.) wird durch dieses
Universalistische vernichtet. Es ist offensichtlich, dass Heid­
egger dieses Verhältnis zur Technik, zum Universalistischen
als solchen, revidieren musste. Das Denken des „Ge-Stells“
findet ein sinnvolleres Verhältnis zu ihm.
Es ist die Shoa, die jede Auseinandersetzung mit antisemi­
tischen Ideen vor 1945 mit einer Asymmetrie markiert. Was
wir wissen, wusste Heidegger zwischen den Jahren 1938 und
1941 nicht. Er sekretierte seine „Überlegungen“ in einer Zeit,
in der jedermann antisemitische Reden schwingen konnte. Der
Antisemitismus war eine Karriere. Daher gilt es, eine herme­
neutische Gerechtigkeit walten zu lassen. Doch gerade diese
muss konstatieren, dass Heidegger seine Äußerungen zum
„Weltjudentum“ notierte, als in Deutschland die Synagogen
brannten. Und sie muss feststellen, dass selbst in den „Schwar­
zen Heften“, diesen esoterischsten Manuskripten, viele Worte
der Trauer über das Leid der Deutschen, doch keine über das
der Juden zu finden sind. Es herrscht ein Schweigen, das uns
noch lange in den Ohren klingen wird.
Und doch kann auch dieses Schweigen nicht das letzte Wort
sein. Die Philosophie ist, wenn sie geschieht, frei. Zur Freiheit
gehört die Gefahr des Scheiterns: „… denn allem wesentlichen
Denken tut not die Freiheit zum Irrtum, das lange, nutzlose
Irren …“ (GA 95, 227). Bei allem Problematischen, das in die
„Überlegungen“ eingegangen ist, bleibt diese Zumutung ste­
hen. Besteht nicht das Drama der Philosophie in der Möglich­
keit des Irrens? Es gibt vielleicht keine Philosophie ohne einen
ihr ganz eigenen Schmerz.
20. April 2014, P. T.

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Nachwort zur 3. Auflage

Als 1989 die „Beiträge zur Philosophie“ veröffentlicht wurden,


begann sich unser Verständnis von Heideggers Denken zu
ändern. Der Gedanke vom „Ereignis“ setzte einen Akzent, von
dem Philosophen ausgingen. Auch die akademische Forschung
folgte – wenn auch ein wenig widerwillig – der Entwicklung.
Vom Jahr 2014 wird eine ähnliche Veränderung ausgehen.
Die Veröffentlichung der „Schwarzen Hefte“ haben eine Dis­
kussion um Heidegger ausgelöst, die den Umgang mit seinem
Denken beeinflussen wird, ohne Zweifel stärker noch als die
Erscheinung der „Beiträge zur Philosophie“.
Der Umbruch bringt mehr Gutes als Schlechtes mit sich.
Wir werden mit einem Problem konfrontiert, das niemand
ignorieren kann. Die Anerkennung dieses Problems wird – in
gewisser Hinsicht paradoxer Weise – eine neue Freiheit in der
Heidegger-Deutung zur Folge haben. Die Zeit, in der die Heid­
egger-Lektüre eine bloße Rekonstruktion der Denkbewegung
verfolgte, verblasst. Denn die Rekonstruktion ist immun gegen
das Problem schlechthin.
Kann ich aber behaupten, dass die Diskussionen um Heide­
ggers Antisemitismus zu einer Verlebendigung dieses Denkens
geführt haben? Gewiss, niemand kann die Konsequenzen die­
ser Äußerungen abschätzen. Es gibt Feinde der Philosophie,
die die Wirkung von Heideggers Denken gern verhindern
würden – ein vergeblicher Versuch schon deshalb, weil er in
den performativen Widerspruch verfällt, stets daran erinnern
zu müssen, Heidegger vergessen zu sollen. Aber auch neutrale
Leser werden zurückhaltend bleiben.

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Dennoch ist etwas geschehen. Mit der Veröffentlichung der
„Schwarzen Hefte“ hat sich Heidegger noch einmal – und viel­
leicht erst jetzt wirklich – in die Schmerz-Geschichte der Shoa
eingeschrieben. Auch er konnte ihr also nicht entrinnen. Die
Trauer um den Verlust stößt auf den Schrecken des Denkens,
das diese Trauer nicht kennt. Solange es Menschen gibt, gibt es
diese „Tränenspur“ 1.
20. Januar 2015, P. T.

1
Paul Celan: Eingedunkelt. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main
1991, 41: „Schreib dich nicht / zwischen die Welten, // komm auf gegen /
der Bedeutungen Vielfalt // vertrau der Tränenspur / und lerne leben.“

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 113 Euklid 38


Alicke, Klaus-Dieter 42
Farías, Victor 78
Aly, Götz 55
Faye, Emmanuel 21, 103
Anaximander 19 f.
Fichte, Johann Gottlieb 124
Arendt, Hannah 9 f., 13, 43, 46 f.,
Frankl, Viktor E. 131
55, 95–97, 113-115, 121 ff., 131,
Freud, Sigmund 44
134
Friedländer, Paul 114
Aristoteles 23
Assmann, Jan 128 Gagarin, Juri 106, 108
Augustinus 108 Geulen, Christian 41, 59
Gobineau, Arthur de 60
Baumann, Gerhart 9
Goebbels, Joseph 83, 86
Benz, Wolfgang 11, 46
Goethe, Johann Wolfgang von
Biemel, Walter 79
77
Blochmann, Elisabeth 9, 81
Brock, Werner 9, 81 Habermas, Jürgen 82
Buber, Martin 36 Hegel. Georg Wilhelm Friedrich
Burkert, Walter 23 34, 82, 104 f.
Heidegger, Elfride 35, 86, 115
Celan, Paul 5, 9, 86, 95, 113, 123,
Heidegger, Fritz 53, 115
142
Heidegger, Hermann 14, 34
Cesare, Donatella di 21
Heidegger, Jörg 34
Cohen, Hermann 27
Heraklit 20, 72, 101 ff.
Cohn, Jonas 81
Herzl, Theodor 36
Darwin, Charles 47, 60 Heydrich, Reinhard 82
Demokrit 105 Hitler, Adolf 46 ff., 54, 96, 105,
Derrida, Jacques 10 138
Dietze, Constantin von 91 Hölderlin Friedrich 52, 54, 72,
Diner, Dan 57 76 f., 117, 122, 125, 127
Domarus, Max 28, 48 Husserl, Edmund 31 f., 37 ff.,
81–92
Epikur 105
Husserl, Malvine 81
Eucken, Walter 89 ff.

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Ibach, Helmut 34 Pseudo-Dionysius Areopagita
Ingarden, Roman 82 74
Jacobsthal, Paul 114 Rathenau, Walther 115
Jaspers, Karl 45 f., 55, 114, 122 Ritter, Gerhard 91
Jonas, Hans 9 Rockmore, Tom 21
Jung, Carl Gustav 44 Rosenberg, Alfred 46, 104
Jünger, Ernst 57, 60 f., 79, 113, Rosenkranz, Jutta 81
Jünger, Friedrich-Georg 120
Safranski, Rüdiger 10
Kaléko, Mascha 9, 81 Salamander, Rachel 9
Kant, Immanuel 72 Schank, Gerd 59
Scheler, Max 83
Lacoue-Labarthe, Philippe 10
Schmitt, Carl 120
Lampe, Adolf 91
Scholem, Gershom 27
Levi, Hermann 96
Simmel, Georg 37
Levinas, Emmanuel 9, 106 ff.
Sokrates 19
Lessing, Gotthold Ephraim 96
Sommer, Christian 20 f.
Löwith, Karl 9, 123
Stalin, Josef 54
Mahnke, Dietrich 90 Strauss, Leo 9, 38, 128
Mann, Thomas 51 Streicher, Julius 137
Marcuse, Herbert 116, 129 Szilasi, Wilhelm 9
Martin, Bernd 89
Trawny, Peter 22, 134
Marx, Karl 47, 104 ff.
Meier, Heinrich 128 Vietta, Silvio 139
Meister Eckhart 72
Wagner, Richard 60, 77, 96
Mitscherlich, Alexander und
Waldenfels, Bernhard 73
Margarete 130
Wels, Otto 28
Mommsen, Theodor 105
Winckelmann, Johann Joachim
Nietzsche, Friedrich 25, 42 ff., 77, 127
47, 59 f., 66, 72, 75 f., 103, 109, Wittgenstein, Ludwig 134
120, 127
Young-Bruehl, Elisabeth 42
Parmenides 19 f.
Zaborowski, Holger 15, 21,
Platon 19, 38, 59, 73, 104, 107 f.,
61 f., 86, 103
128
Zarader, Marlène 9
Plotin 74
Zimmermann, Hans Dieter 74,
Poliakov, Léon 46
95
Prinz, Joachim 50, 54
Zumbini, Massimo Ferrari 50

144

https://doi.org/10.5771/9783465142386
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