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Heidegger Und Husserl-Neue Perspektiven
Heidegger Und Husserl-Neue Perspektiven
Rudolf Bernet
Forum
Forum
2
Heidegger
Heidegger
HeideggerForum
Vittorio Klostermann
Heidegger und Husserl
Herausgegeben von
Günter Figal
Beirat
Damir Barbarić (Zagreb)
Thomas Buchheim (München)
Donatella Di Cesare (Rom)
Michael Großheim (Rostock)
John Sallis (Boston)
HeideggerForum
Heidegger und Husserl
Neue Perspektiven
VittorioKlostermann
Dieser Band ist zugleich der neunte Band der Schriftenreihe der
Martin-Heidegger-Gesellschaft.
Verantwortlich: Günter Figal, Hans-Helmuth Gander,
Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Manfred Riedel (†) , Hartmut Tietjen.
Vorwort 7
Günter Figal
Phänomenologie und Ontologie 9
Jean-Luc Marion
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl
und Heidegger 25
Rudolf Bernet
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 43
Dan Zahavi
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 73
Michael Großheim
Phänomenologie des Bewußtseins oder Phänomenologie
des „Lebens“? Husserl und Heidegger in Freiburg 101
Hans-Helmuth Gander
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 137
Mario Ruggenini
Die Zukunft der Phänomenologie
Zwischen der Sinngebung der Subjektivität und dem Fragen
nach der Wahrheit 159
John Sallis
Die Logik des Denkens 185
Personenverzeichnis 207
Edmund Husserl und Martin Heidegger,
photographiert von Karl Löwith, 1921.
Vorwort
Die in diesem Band versammelten Texte wurden als Vorträge auf der
Tagung Heidegger und Husserl gehalten, die vom 12. – 14. Oktober
2007 in Freiburg stattfand. Veranstaltet wurde die Tagung von der
Martin-Heidegger-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Philo-
sophischen Seminar und dem Husserl-Archiv der Universität Frei-
burg und der Stadt Freiburg.
Die Erstellung der Satzvorlage wurde besorgt von Christian
Diem, Sarah Eichner, Marco Eisenmenger, Melanie El Mouaaouy,
Andreas Friedrich, Tobias Keiling, Sophia Obergfell, Hannah Wal-
lenfels und Lis Wey. Ihnen sei für ihre engagierte Arbeit herzlich
gedankt.
1.
1
Heidegger, Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens,
GA 14, 70.
10 Günter Figal
2
Vgl. dazu den Beitrag von László Tengelyi, Sinnwirkungen in der Male-
rei, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, hrsg. von Günter Figal,
Band 7, Tübingen 2008, 281–296.
Phänomenologie und Ontologie 11
Daß es so war, hat wohl mit der Wirkung Heideggers zu tun. Sein
philosophischer Entwurf muß so überwältigend gewesen sein, daß
die Seinsfrage, der er sich in den frühen zwanziger Jahren zuwandte
und die er mit Sein und Zeit erneut stellen und konkret ausarbeiten
wollte,3 dem ihr eigenen Gestus zum Trotz in eine dröhnende Selbst-
verständlichkeit geriet. Bis zum Ermüden ist über die ‚Seinsfrage‘
geschrieben und gesprochen worden. Die Frage war und ist mit
dem Namen Heideggers auch für solche verbunden, die keine Zeile
von ihm gelesen haben. Sie wurde als Nabel des abendländischen
Denkens beschworen, als Mystizismus verlacht und als ideologische
Verblendung denunziert. Auch wo es sachlich zuging, wurde der
ontologische Anspruch Heideggers nicht ernsthaft phänomenolo-
gisch diskutiert. Er wurde einfach übernommen4 oder in anderer als
phänomenologischer Hinsicht kritisiert – als noch zur ‚Metaphy-
sik‘ gehörig und deshalb der ‚Dekonstruktion‘ bedürftig oder als
Denken der Immanenz, das in der herausfordernden Erscheinung
des ‚Anderen‘ ethisch durchbrochen werde. So bleibt offen, ob und,
wenn ja, wie und inwieweit die Phänomenologie mit der Ontologie
vereinbar ist.
2.
Die Frage ist nicht nur wichtig, sie ist auch verwickelt genug, um
gesteigerte philosophische Aufmerksamkeit zu fordern. Die Ver-
wicklungen fangen bereits mit einer Zuschreibung des Themas
an. Einerseits ist Heideggers Bedeutung dabei offensichtlich; der
Ansatz von Sein und Zeit ergibt sich nicht zuletzt aus der Verhält-
nisbestimmung von Phänomenologie und Ontologie: Die Ontolo-
3
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2.
4
So bei Jean-Paul Sartre, und zwar schon im Untertitel von L’être et le
néant (Paris 1943): Essai d’ontologie phénoménologique. Außerdem bei
Maurice Merleau-Ponty, Le vivisble et l’invisible, Paris 1964, 182. Vgl. auch
Eugen Fink, Zum Problem der ontologischen Erfahrung (1950), in: Nähe
und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, Freiburg/Mün-
chen 1976, 127–138, hier besonders 128–129: „Bei Heidegger kehrt das Den-
ken zu der Grundfrage zurück, die das Philosophieren des Abendlandes in
seinem geschichtlichen Anfang beherrscht, zur Frage nach dem Sein. Auch
Gadamer schließt seinen hermeneutischen Entwurf wie selbstverständlich
mit einer „ontologischen Wendung“ ab.
12 Günter Figal
5
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 48.
6
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 50.
7
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phäno-
menologischen Philosophie. Erstes Buch, Husserliana III.1, hrsg. von Karl
Schuhmann, Den Haag 1976, 23.
8
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 26.
9
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phäno-
menologischen Philosophie. Drittes Buch, Husserliana V, Den Haag 1952,
89 und 105.
10
Vgl. Günter Figal, Heidegger als Aristoteliker, in: Alfred Denker, Gün-
ter Figal, Franco Volpi u. a. (Hrsg.), Heidegger und Aristoteles (Heidegger-
Jahrbuch 3), Freiburg/München 2007, 53–76.
Phänomenologie und Ontologie 13
11
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 26–27.
12
Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 90 und 87.
13
Edmund Husserl, Der Encyclopaedia Britannica Artikel. Erster Ent-
wurf, in: Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, Den Haag 1962,
237–255, hier 249–250.
14 Günter Figal
14
Heidegger, Zur Sache des Denkens, GA 14, 131.
15
Edmund Husserl, Ideen III, Husserliana V, 148.
16
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 67.
17
Heidegger, Brief an Husserl, GA 14, 131.
Phänomenologie und Ontologie 15
18
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 80.
19
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 84.
20
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 83.
21
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 84.
22
Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Husserlia-
na XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den Haag 1974, 151.
23
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 129.
24
Heidegger, Ontologie GA 63, 7.
16 Günter Figal
haftet mit dem Sein des Seienden, das ihm innerhalb seiner eigenen
Welt begegnet“.25 Das heißt jedoch nicht, das Dasein gehöre unter
die in der Welt begegnenden Dinge und könne derart wie das „fac-
tum brutum eines Vorhandenen“ festgestellt werden.26 Vom „Daß
der Faktizität“ sagt Heidegger, es werde „in einem Anschauen
nie vorfindlich“.27 Es liegt vielmehr im So-und-nicht-anders des
Daseins selbst, darin, daß Dasein im Dasein gelebt werden muß. In
diesem Sinne spricht Heidegger auch vom „Überantwortetsein an
das Da“.28 Erfahren wird dieses Überantwortetsein als die Unmög-
lichkeit, sich im Dasein nicht da seiend zu verhalten. So bedeu-
tet sie für das Dasein, „daß es ist und zu sein hat“,29 Sofern die
Faktizität immer wieder neu übernommen und vollzogen werden
muß, erweist sich in ihr Sinn, mit einem Wort des jungen Heidegger
gesagt, als „Vollzugssinn“.30
Auch mit diesem Gedanken ist Heidegger auf Husserl verwiesen.
Der Gedanke eines Vollzugssinns ist für Husserls Phänomenologie
so wesentlich, daß Husserl sich sogar für deren Abgrenzung gegen-
über der Ontologie auf ihn berufen kann. Dem „katastematischen“
Charakter der Ontologie setzt er den „genetischen“ oder „kineti-
schen“ der Phänomenologie entgegen. Die phänomenologische
Betrachtungsweise nehme die Einheit der Dinge „als Einheit im Fluß,
nämlich als Einheit eines konstituierenden Flusses“; sie verfolge „die
Bewegungen, die Abläufe, in denen solche Einheit und jede Kompo-
nente, Seite, reale Eigenschaft solcher Einheit das Identitätskorrelat“
sei.31 Sie stellt keine Wesensbestimmungen im Hinblick auf ihr mög-
liches oder wirkliches Vorliegen fest, sondern vollzieht die Einheit
der Dinge, um sie so nachvollziehbar zu machen. Das Genetische
oder Kinetische der Phänomenologie hat mit einem gegenüber dem
Sein defizienten Werden nichts zu tun, sondern betrifft den durch-
sichtigen Aufbau der Dinge.
Die Bestimmung der Phänomenologie vom „Vollzugsinn“ her
zeigt aber nicht nur die Nähe Heideggers zu Husserl; sie zeigt auch,
wieso Heidegger bei radikaler Abweichung von Husserl denken
kann, er führe dessen Ansatz konsequent weiter. Berücksichtigt man
25
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 75.
26
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 180.
27
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 180.
28
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 180.
29
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 179.
30
Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 32.
31
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 129.
Phänomenologie und Ontologie 17
32
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 84.
33
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phäno-
menologischen Philosophie. Zweites Buch, Husserliana IV, hrsg. von Marly
Biemel, Den Haag 1952, 183–190.
34
Heidegger, Prolegomena, GA 20, 151.
18 Günter Figal
3.
Trotzdem ist damit über die Bedeutung der Ontologie für die Phäno-
menologie noch nicht endgültig entschieden. Es läßt sich bezweifeln,
daß die Ontologie „katastematisch“ sein muß. Ebenso ist fraglich, ob
sie als „dogmatische Wissenschaft“ angemessen bestimmt ist. Zwar
ist unbestreitbar, daß es die Ontologie wesentlich mit dem Fakti-
schen zu tun hat. Aber sie stellt das Faktische nicht einfach fest und
nimmt es erst recht nicht dogmatisch hin. Seit es die Ontologie über-
haupt gibt, ist es ihre Aufgabe, das Faktische in seinem Stellenwert
und seinem inneren Aufbau zu klären. In diesem Sinne hat schon
Aristoteles, der Begründer der Ontologie, das innere Gefüge des
Faktischen erfaßt, indem er das Seiende zwiefach, als „Was es ist“
(τί ἐστι) und „Dies-da“ (τόδε τι) bestimmt und die Seiendheit des
Seienden (οὐσία) sowohl als Wesensbestimmten (τὸ τί ἦν εἶναι) und
als Vor- und Zugrundeliegendes (ὑποκείμενον) versteht. Mit Ari
stoteles wäre das Faktische, mit dem es die Ontologie zu tun hat, als
die Wesensbestimmtheit im Hinblick auf das Dies-da und entspre-
chend als das Dies-da in seiner Bestimmtheit zu bestimmten. Derart
verstanden, ist das Seiende umgrenztes Vorliegendes ὑποκείμενον
ὡρισμένον etwas Vorliegendes, das nur in und aufgrund seiner
bestimmten Gestalt vorliegt.35
Die Ontologie im aristotelischen und insofern kanonischen Sinne
ist also in der Tat, wie Husserl sagt, „Wissenschaft von den mög-
lichen kategorialen Formen, in denen Substratgegenständlichkeiten
sollen wahrhaft sein können“. Aber sie ist eine solche Wissenschaft
gerade nicht, indem sie die kategorialen Formen und die Substrakt-
gegenständlichkeiten feststellt oder „dogmatisch“ hinnimmt, son-
dern indem sie diese in ihrem Verhältnis zueinander reflektiert. So
geht es in der Ontologie nicht einfach um das Faktische, sondern um
dessen innere Möglichkeit.
35
Aristoteles, Metaphysica 1028a; die Metaphysik wird zitiert nach:
Aristotle’s Metaphysics, hrsg. von William David Ross, zwei Bände, Oxford
1924.
Phänomenologie und Ontologie 19
Das gilt auch für die Ontologie des Daseins, und dennoch ergibt
sich für diese ein besonderes Problem – eben das Problem, durch
das sie für Husserl fragwürdig wurde. Die Ontologie des Daseins
betrifft immer auch das Sein des ontologischen Betrachters selbst.
Daraus ergibt sich die von Husserl gesehene Gefahr des „erkennt-
nistheoretischen Zirkels“. Daß die Gefahr besteht, dürfte nicht zu
bezweifeln sein: Wie soll das ontologisch Untersuchte zugleich die
untersuchende Instanz sein können? Heidegger hat in Sein und Zeit
mit diesem Zirkeleinwand gerungen, ohne eine wirklich überzeu-
gende Antwort zu finden. Anders als Heidegger meinte, löst die
Schwierigkeit sich nicht dadurch, daß die Leistung der Ontologie
als „Entwurf“ des ontologisch thematischen Daseins in seinem Sein
verstanden wird, der sich dann durch das faktische Dasein bestä-
tigt. Indem die ontologische Betrachtung sich zur Beurteilung an die
Instanz des Betrachteten verweist, geht das Besondere der ontologi-
schen Einsicht verloren. Diese läßt sich nicht bestätigen, indem man
das thematische Dasein, „selbst zu Wort kommen“ läßt.36 Die Selbst-
aussage des Daseins müßte ontologisch sein, um der ontologischen
Interpretation gerecht zu werden, aber das würde die ontologische
Betrachtung nur verdoppeln. Wenn die Auskunft des thematischen
Daseins jedoch nicht ontologisch ist, hat sie als Bestätigung der onto-
logischen Betrachtung keinen Wert. Also läßt die Daseinsontologie
sich nicht durch die Berufung auf das faktische Dasein begründen.
Sofern sie Ontologie ist, hat die Ontologie des faktischen Daseins
nicht den Charakter der Faktizität.
Dem läßt sich Rechnung tragen, indem man die Ontologie des
Daseins nicht als Daseinsvollzug versteht, sondern konsequent nach
dem Vorbild der aristotelischen Ontologie, das heißt: als immanente
Reflexion. Sie verhielte sich zum analysierten Daseinsvollzug wie
das Nachdenken zum Handeln. Als Reflexion ist sie Austrag einer
inneren Zwiefältigkeit im „Faktischen“, die im faktischen Daseins-
vollzug unbedacht bleibt. Die eigentliche Leistung der Daseinsonto-
logie besteht im Auseinanderhalten der Formen des Daseins und des
Daseinsvollzugs, der durch diese Formen bestimmt ist. Nur sofern
beides auseinander gehalten ist, kann die ontologische Analyse die
Formen als „Existenzialien“ bestimmen. Zwar müssen die Formen
im jeweiligen Dasein wiedergefunden werden können; aber dabei
werden die Daseinsvollzüge erst durch die Formen in dem ver-
ständlich, was sie „überhaupt sind“. Einen „erkenntnistheoretischen
36
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 417.
20 Günter Figal
Zirkel“ gibt es für die Daseinsontologie nur, wenn man sich, wie
Heidegger es tut, ohne weitere Differenzierung auf das „faktische
Selbst“, den „konkreten Menschen“ beruft. Aber die ontologische
Betrachtung ist anders „da“ als der ontologisch analysierte Daseins-
vollzug. Sie ist „da“ auf reflektierte und darin auf intensivere Weise.
Heidegger kommt diesem reflexiven Grundzug der Daseins
ontologie am nächsten, wenn er betont, die ontologische Erfassung
des Daseins müsse dem Dasein „im Gegenzug zur verfallenden
ontisch-ontologischen Auslegungstendenz abgerungen werden“.
Das „Seiende, das wir je selbst sind“, sei „ontologisch das Fernste“,37
weil dieses in sich die Tendenz habe, „das eigene Sein aus dem Seien-
den her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst
verhält, aus der ‚Welt‘“, die hier im Sinne des Vorhandenen zu ver-
stehen ist.38 Sofern die „Welt“ aber in Wahrheit vom Dasein her
verstanden werden muß, spielt im Dasein selbst ein ontologischer
Konflikt: der Konflikt zwischen Daseins- und Vorhandenheitsonto-
logie. Unter dieser Voraussetzung ist die Daseinsontologie eine dem
Dasein immanente Klärung. Weder gehört sie zu einem anderen als
dem analysierten Dasein noch gehört sie diesem einfach zu. Sie ist
eine andere Einsichtsmöglichkeit des Daseins und insofern ist sie das
Dasein selbst, aber anders.
Damit ist auch die Voraussetzung dafür gewonnen, das Verhältnis
von Ontologie und Phänomenologie zu bestimmen. Die Grundfigur
des von Heidegger genannten Konflikts zwischen Daseins- und Vor-
handenheitsontologie ist leicht als diejenige zu erkennen, die auch
Husserl als die der Verschiedenheit von Ontologie und Phänomeno-
logie bestimmt hatte; phänomenologisch gehe es nicht darum, „wie
die Dinge überhaupt sind“, sondern darum, „wie beschaffen das
Bewußtsein von den Dingen ist“. Unter der Voraussetzung, daß das
“Bewußtsein“ als Dasein in seinem Weltbezug zu begreifen ist, wird
letzteres für Heidegger zur ontologischen Aufgabe. Ontologisch ist
die Aufgabe, sofern das Sein von etwas vom Sein des Daseins her
aufgeklärt wird; die Kategorien ordnen sich, wenn es so ist, in ihrer
Gesamtheit den Existenzialien zu.39
37
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 412.
38
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 22.
39
Heidegger kombiniert hier die Frage nach dem „Bewußtsein der Dinge“
mit der aristotelischen Annahme einer leitenden Grundbedeutung von „sei-
end“ die als Einheit aller anderen Bedeutungen fungieren soll. Vgl. Figal,
Heidegger als Aristoteliker.
Phänomenologie und Ontologie 21
40
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 177: „Dasein ist seine Erschlossenheit“.
41
Plato, Res publica 509b; Platons Dialoge werden zitiert nach: Platonis
Opera, hrsg. von John Burnet, Oxford 1900–1907.
42
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 63.
22 Günter Figal
gische geworden. Insofern ist es in der Tat, wie Husserl sagt, „eine
bloße Blickwendung“, was von der Phänomenologie zur Ontologie,
von der Ontologie zur Phänomenologie führt.43 Der ontologische
Blick hält sich im Offenen an das Faktische; der phänomenologische
kommt vom Offenen her, und dabei wird ihm das Faktische zum
Phänomenalen.
Wenn es so ist, hat Heidegger mit seiner Erörterung des Offe-
nen für das Verständnis der ἐποχή und damit für das Verständnis
der Phänomenologie als solcher eine außerordentliche Entdeckung
gemacht. Während die ἐποχή bei Husserl als eine willkürliche
Entscheidung des Phänomenologen erscheint – als Sache seiner
„vollkommenen Freiheit“44 – läßt sich mit Heidegger die Mög-
lichkeit der ἐποχή, also die Möglichkeit der Phänomenologie ver-
stehen. Aus der Offenheit, die Heidegger auch unter den Namen
der „Wahrheit“ oder ἀλήθεια und schließlich der „Lichtung“
bedenkt, kommt demnach die Möglichkeit einer Wissenschaft von
den „Ursprüngen“ aller Erkenntnis, die als solche „Mutterboden
aller philosophischen Methode“ ist.45 Weil die Phänomenologie aus
der Möglichkeit aller Erkenntnis herkommt, ist sie voraussetzungs-
los und gibt mit ihrer Voraussetzungslosigkeit jeder methodischen
Untersuchung den Maßstab ihrer Klärungsansprüche. Obwohl
Heidegger die Phänomenologie als Ontologie entwerfen wollte, hat
er letztlich den radikalen Anspruch der Phänomenologie bekräf-
tigt. Im Zuge seiner Ontologie macht Heidegger auf phänomeno-
logische Weise klar, warum, „Ontologie nicht Phänomenologie“
ist46 und warum sie zugleich von dieser „umspannt“ werden kann.
Heideggers Denken ist wesentlich phänomenologisch. Insofern ist
es konsequent, daß Heidegger sich schließlich von der Ontologie
abkehrt und sein Denken der später „Lichtung“ genannten Offen-
heit widmet, in der allein es das nun als „Anwesen“ gedachte Sein
geben kann. In diesem Zusammenhang hat Heidegger die Phäno
menologie als die „sich wandelnde und nur dadurch bleibende
Möglichkeit des Denkens“ bestimmt, „dem Anspruch des zu
Denkenden“ – also der Lichtung – „zu entsprechen“.47 Wenn das im
Sinne philosophischer Forschung geschehen soll, ist es – mit einer
43
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 105.
44
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 64.
45
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 80.
46
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 129.
47
Heidegger, Zur Sache des Denkens, GA 14, 101.
Phänomenologie und Ontologie 23
48
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 533.
Jean-Luc Marion
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit
durch Husserl und Heidegger
1.
1
Wir haben dieses Quasi-Prinzip zunächst als Schlußfolgerung gesetzt:
Jean-Luc Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heideg
ger et la phénoménologie, zweite Auflage, Paris 2004, 303. Nachdem Michel
Henry es im Wesentlichen für gültig erklärt hatte (Michel Henry, Les quatre
principes de la phénoménologie, in: Revue de la Métaphysique et de Morale, 1
(1991), 3–26, wieder abgedruckt in: Michel Henry, Phénoménologie de la vie,
Band 1. De la phénoménologie, Paris 2003), haben wir es näher ausgeführt in:
Jean-Luc Marion, Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation,
dritte Auflage, Paris 2005, 13–102.
26 Jean-Luc Marion
2
Gegebenheit eher mit donnéité als mit donné oder donation wiederzu-
geben, wurde übrigens von manchen Husserl-Übersetzern vorgeschlagen
(hinsichtlich der verschiedenen möglichen Übersetzungen vgl. Marion, Etant
donné, 98), insbesondere von Jean-François Lavigne, Husserl et la naissance
de la phénoménologie (1900–1913). Des Recherches logiques aux Ideen: la
genèse de ’idéalisme transcendantal phénoménologique, Paris 2005, 175.
3
Dies war die zentrale Fragestellung von Dominique Janicaud in: Le
tournant théologique de la phénoménologie française, Combas 1991.
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 27
2.
4
Jean-Luc Marion, L’autre philosophie première et la question de la donati-
on, in: Philosophie 49 (1996), 29–50; wieder abgedruckt in: Jean-Luc Marion,
De surcroît. Etudes sur les phénomènes saturés, Paris 2001; das erste Kapitel
übersetzt als Eine andere ‚Erste Philosophie‘ und die Frage der Gegebenheit
(in: Michel Gabel/Hans Joas (Hrsg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe.
Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg 2007). Auch
in: Marion, Etant donné, 13–102.
5
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2.
6
Wir haben versucht, dies zu zeigen in: Marion, Etant donné, 53–55 (über-
setzt als Reduktive ‚Gegen-Methode‘ und die Faltung der Gegebenheit, in:
Gabel/Joas (Hrsg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe, 37–55).
7
Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57.
28 Jean-Luc Marion
die richtige Perspektive (die wir hier bestätigen werden) eröffnet hat,
so verfügte der junge Heidegger doch noch ebensowenig über die
Analytik des Daseins wie über die Hermeneutik der Faktizität, und
zwar dergestalt, daß dieses Fehlen den übrigens häufigen Gebrauch
von es gibt, von Gegebenheit und Ereignis mit einer beträchtlichen
Unentschiedenheit einhergehen läßt.8 Das Risiko übermäßiger Ent-
sprechungen und unbedachter Antizipationen vom Beginn auf die
spätere Durchführung wäre bei dieser Lektüre fast unvermeidlich.
Der sicherste Weg scheint also zu sein, die Funktion und die Trag-
weite der Gegebenheit in Sein und Zeit selbst zu untersuchen. Denn
selbst wenn diese weniger die besonderen Fälle der Gegebenheit9
betreffen als vielmehr die des es gibt, so scheinen sie doch ebenso
bedeutsam wie schwierig zu interpretieren.
Halten wir zunächst fest, daß im Augenblick der formalen Frage-
stellung nach dem Sein (in § 2) die erste ausdrückliche Erwähnung
des Begriffs erfolgt: „Aber ‚seiend‘ nennen wir vieles und in ver-
schiedenem Sinne. Seiend ist alles, wovon wir reden, was wir meinen,
wozu wir uns so und so verhalten, seiend ist auch, was und wie wir
selbst sind. Sein liegt im Daß- und Sosein, in Realität, Vorhandenheit,
Bestand, Geltung, Dasein, im ‚es gibt‘. An welchem Seienden soll der
Sinn von Sein abgelesen werden“?10 Man hört hierbei in der Tat ein
Echo von Brentanos Frage nach der Pluralität (in diesem Fall der
8
Veröffentlicht von Bernd Heimbüchel unter dem Titel Zur Bestimmung
der Philosophie (GA 56/57) in der Gesamtausgabe. Wir haben versucht,
hierzu einen kurzen Kommentar zu geben: Ce que donne ‚cela donne‘, in:
Philippe Capelle/Geneviève Hébert/Marie Dominique Popelard (Hrsg.), Le
souci du passage. Mélanges offerts à Jean Greisch, Paris 2004, 291–306.
9
Vorwiegend die „Gegebenheit des Ich“ (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2,
154 und 155), von der Ganzheit des „Daseins“ (Heidegger, Sein und Zeit,
GA 2, 253 und 407–408) und der „Erlebnisse“ (Heidegger, Sein und Zeit,
GA 2, 352). Wir übernehmen hier eine Bemerkung von Jean-François Cour-
tine: „das Heideggersche ‚es gibt‘, so wie es lange vor den späten Variationen
von Zeit und Sein in Sein und Zeit erscheint, um zu zeigen, übrigens in An-
führungszeichen, die es zu deuten gilt, daß das Sein nicht ist, sondern daß es
Sein gibt“ (Jean-François Courtine, Présentation, in: A. Meinong. Théorie de
l’objet, Paris 1999, hier 34, eigene Übersetzung; der Text von Meinong wurde
ins Französische übersetzt von J.-F. Courtine und Marc de Launay). Wir
werden hier in gewisser Hinsicht nur versuchen, diese Anführungszeichen
zu interpretieren.
10
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 9. In seinem persönlichen Beispiel präzi-
siert Heidegger, daß „Dasein“ hier „noch der gewöhnliche Begriff und noch
kein anderer“ sei (Heidegger, GA 2, 9, Anm. a).
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 29
Vielfalt) der Sinne des Seins, die formuliert wird durch eine kritische
Bestandsaufnahme der traditionellen metaphysischen Sinngebungen
ebenso wie einer Skizze jener Sinnformen, welche die Existenzialana-
lytik herausarbeiten wird. Dieser zweifachen Liste fügt sich nun aber
das es gibt hinzu, das wir offenkundig in seiner wörtlichen Bedeutung
beibehalten (cela donne), ohne es durch sein ungenaues, aber durch
den Gebrauch üblich gewordenes französisches Äquivalent, das il y
a, zu überdecken und zu verbergen.11 Die Addition dieses Syntagmas
wirft jedoch in ihrem Inneren eine Schwierigkeit auf: Wenn nämlich
das es gibt weder zu den Sinngebungen des Seins gehört noch zu den
Kategorien des Seienden oder gar zum Wortschatz der Metaphysik,
warum fügt es sich dann in dieser Form ihrer Liste hinzu? Handelt
es sich im übrigen nur um einen Terminus vom selben Rang wie die
anderen, oder vielmehr um ein neues Thema? Gehört er in diesem
Fall noch zur Frage nach dem Seienden und zur Suche nach den Sinn-
formen des Seins? Zu diesen Fragen liefern die unmittelbar folgenden
Fälle des es gibt keine Antwort, denn sie halten sich hierbei an den
vorbegrifflichen Gebrauch der Umgangssprache.12
3.
11
Wir übernehmen eine treffende Bemerkung von Jean-François Courtine
über das „es gibt“, das nur sehr unzureichend das französische „il y a“ oder
das englische „there is“ wiedergibt. Tatsächlich befinden wir uns mit diesem
„es gibt“ in der Nähe einer sicherlich elementaren Figur, die über die Maßen
erschöpft und auf beinahe nichts (aber eben nicht auf nichts) von der Gege-
benheit oder dem gegebenen Sein reduziert wurde.“ (Courtine, Husserl et la
naissance de la phénoménologie, 34; vgl. Marion, Etant donné, 51). Warum
aber sollte man plötzlich von einer Erschöpfung reden? Es könnte ganz im Ge-
genteil sein, daß das es gibt keine Analogie oder Abstufung verträgt, daß es sich
vielmehr entweder perfekt ereignet oder überhaupt nicht, gerade weil es eine
Tatsache oder sogar ein Ereignis anzeigt. Und darüber hinaus: Kann man auf
legitime Weise die Gegebenheit mit dem gegebenen Sein gleichstellen, wenn es
doch darum geht, gerade zu denken, daß „das Sein nicht ist“? Es handelt sich
nicht um ein Detail, es ist vielmehr so, daß sich alles in solchen Details abspielt.
12
Beispielsweise Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 49, 84, 116, 210, 329, 342
und 492–498.
30 Jean-Luc Marion
‚gibt es‘ Welt?“13 Das Seiende entdeckt sich nur in der Welt, gerade
weil es nur als innerweltliches ist, nie ohne eine bereits offene Welt.
Aus dieser transzendentalen Anteriorität der Welt gegenüber dem
innerweltlich Seienden geht klar hervor, daß die Welt sich nicht mit
der Anzahl der innerweltlich Seienden vervielfacht. Und da nur das
Seiende ist, muß man daraus schließen, daß die Welt, die kein Sei-
endes ist, eigentlich ebenfalls nicht sein kann. Man wird also nicht
sagen, daß die Welt ist, sondern, strenggenommen, daß es die Welt
gibt – „es gibt“ die Welt. Ein ähnlicher Ausschluß aus dem Sein von
etwas, das sich nur als ein Seiendes definieren kann, bestätigt sich
genau in § 44, der das in der ganzen ersten Sektion des veröffent-
lichten Teils Erreichte resümiert, indem er das es gibt als solches in
die Existenzialanalytik einführt: „Sein – nicht Seiendes – ‚gibt es‘
nur, sofern Wahrheit ist. Und sie ist nur, sofern und solange Dasein
ist. Sein und Wahrheit ‚sind‘ gleichursprünglich.“14 Der erste Satz
bestätigt das zuvor Erreichte: Wenn nur das Seiende ist, und wenn
„das Sein nicht aus Seiendem ‚erklärt‘ werden kann“,15 dann ist das
Sein selbst im engeren Sinne nicht, es geschieht vielmehr durch das
Privileg eines es gibt. Umgekehrt bleibt das Dasein, so privilegiert
es auch gegenüber all den anderen Seienden erscheinen mag, immer
noch ein Seiendes,16 und man kann folglich von ihm behaupten, daß
es ist (ohne Anführungszeichen). Diese Opposition bestätigt im
übrigen nur eine Formulierung aus § 43: „Allerdings nur solange
Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis,
‚gibt es‘ Sein.“17 Mit dem Risiko der Vereinfachung müßte man hie-
raus schließen, daß die Differenz (die bald die ontologische genannt
werden wird) zwischen dem Seienden und dem Sein zwischen dem
liegt, was ist und dem, was es gibt.
Der zweite Satz dieses Absatzes in § 44 dehnt nun dieses dem
Sein zugestandene Privileg auf die Wahrheit aus: Die Wahrheit ist
13
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 97. Könnte man nicht die Unterschei-
dungen zwischen den beiden Modi des innerweltlich Seienden in die Nähe
des folgenden Satzes rücken: „Aber Zuhandenes ‚gibt es‘ doch nur auf dem
Grunde von Vorhandenem.“ Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 96.
14
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 504.
15
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 260; vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2,
275.
16
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 16: „Es ist vielmehr dadurch ontisch
ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst
geht.“
17
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 281.
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 31
nur mit einer Einschränkung (kursiv), denn sie schließt sich gleich
ursprünglich dem Sein an, das seinerseits ebenfalls nicht ist; oder
aber sie „sind“ beide nur unter dem Vorbehalt von Anführungszei-
chen. Es gibt tritt so an Ort und Stelle des ist, wenn es sich nicht
mehr um ein, sei es auch privilegiertes Seiendes handelt, sondern
entweder um das Sein oder um das, was seine Phänomenalisierung
erfordert: zunächst die Welt, dann hier die Wahrheit. Eine gewisse
Ambiguität bleibt dabei dennoch erhalten, da dieser Text sich noch
typographische Hilfsmittel erlaubt, um aufrechtzuerhalten, daß das
Sein „ist“, daß die Wahrheit ist und daß beide „sind“. Diese Ambigui
tät wird gleichwohl durch eine vorherige Erklärung desselben § 44
korrigiert: „Wahrheit ‚gibt es‘ nur, sofern und solange Dasein ist.“18
So ist nur das Seiende (par excellence), das den Rang des Daseins
hat, während die Wahrheit eine andere Instanz erfordert, ein es gibt,
dem man zweifelsohne einige schnelle Angaben zur Zeit hinzufügen
könnte. Denn die zweite Sektion des veröffentlichten Teils endet
damit, daß sie ebenso deutlich in Frage stellt, daß die Zeit anders
sein könne als in ihrer allgemeinen und metaphysischen Bedeutung:
„Dabei blieb noch völlig unbestimmt, in welchem Sinne die ausge-
sprochene öffentliche Zeit ‚ist‘, ob sie überhaupt als seiend ange-
sprochen werden kann.“19 Und tatsächlich muß die Zeit zunächst
(im metaphysischen Sinne) reduziert werden auf die Präsenz, da die
Präsenz ihrerseits auf die Gegenwart, und die Gegenwart wiederum
auf den Augenblick reduziert wird, der selbst noch als Punkt ange-
nommen wird (Aristoteles, Hegel), damit die Zeit im strengen Sinne,
und in diesem Fall im Sinne der Metaphysik, wieder dahin gelangt,
zu sein. Umgekehrt wird eine korrekte phänomenologische Analyse
der Zeit anhand der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins allein
von der „Zeit […], die ‚es gibt‘“20 sprechen.
Ziehen wir einen vorläufigen Schluß: Selbst wenn man natürlich
Sein und Zeit nicht einfach als Vorwegnahme von Zeit und Sein lesen
darf, so kann und muß man darin sogar unter anderen allgemeinen
Entscheidungen die beiden folgenden anerkennen: Zunächst, daß
das Sein nicht mehr ist als die Zeit, da nur ein Seiendes sein kann
18
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 299. Ebenso: „Warum müssen wir vor-
aussetzen, daß es Wahrheit gibt? Was heißt ‚voraussetzen‘? Was meint das
‚müssen‘ und ‚wir‘? Was besagt: ‚es gibt Wahrheit‘?“ Heidegger, Sein und
Zeit, GA 2, 301.
19
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 543.
20
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 543.
32 Jean-Luc Marion
und muß; dann, daß das, was nicht ist, dennoch gegeben ist, anders
gesagt, es phänomenalisiert sich gemäß dem es gibt. Man findet also
eine Phänomenalität des es gibt (und in diesem Sinne der Gegeben-
heit), die Zeit und Sein in ihrer Überlagerung zur Sprache bringt,
während die Phänomenalität des est/ist nur die Verstrickung des
Daseins mit den anderen Seienden beschreibt, deren Sein es ins Spiel
bringt.
4.
21
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 97 (vgl. oben, Anm. 13).
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 33
22
Emil Lask, Zum System der Philosophie, in: Gesammelte Schriften (im
folgenden: GS), hrsg. von Eugen Herrigel, Band III, Tübingen 1924, 171–236,
hier 179–180. Dieser Text griff Die Logik der Philosophie und die Kategori-
enlehre, die Heidegger gleich nach ihrem Erscheinen 1911 gelesen hatte, wie-
der auf und begründete sie neu. Die Hauptthese dieses Werkes war bereits die
Gegebenheit: „Durch die Identität ist das bloße Etwas eine Gegenstand, ein
Etwas, das ‚es gibt‘. Die Kategorie des ‚Es-Gebens‘ ist die reflexive Gegen-
ständlichkeit.“ (Emil Lask, GS II, Tübingen 1923, 1–282, hier 142). Vgl. hier-
zu den klassischen Artikel von Theodore Kisiel, Why students of Heidegger
will have to read Emil Lask, in: Man and world 28 (1998), 197–240 (wieder
abgedruckt in: Theodore Kisiel, Heidegger’s Way of Thought. Critical and
Interpretative Signposts, London/New York 2002, 101–136).
23
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 9 (vgl. oben, Anm. 10).
24
Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die
Transzendentalphilosophie, Tübingen 1892, 326. (z. B. in GA 56/57, 34,
GA 58, 71 oder 226 zitiert Heidegger nach der dritten Auflage von 1915, um
die Verwirrung zwischen zwei Annahmen der Gegebenheit zu kritisieren:
jener, die dem Erlangen einer wissenschaftlichen Erkenntnis vorausgeht und
jener, die daraus hervorgeht.).
25
Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 327–328.
34 Jean-Luc Marion
Kategorie legt die Gegebenheit also bereits die ganze Bedeutung des
Seienden fest, was auch bedeutet, daß sie ihm vorausgeht. – (c) Blei-
ben die §§ 43–44, die, weit davon entfernt, alle ontisch-ontologischen
Bedeutungen unter dem es gibt zu subsumieren, nur für das Sein, die
Wahrheit, die Welt und die Zeit darauf zurückgreifen, im Gegensatz
zu allen Seienden einschließlich des Daseins. Diese radikale Unter-
scheidung findet sich jedoch schon bei einem Vorgänger, Natorp.
Tatsächlich schließt Natorp das Ich selbst von jeder Gegebenheit
aus, wenn er Gegebenes zuläßt: „Datum hieße Problem; Problem
aber ist das reine Ich eben nicht. Es ist Prinzip; ein Prinzip aber ist
niemals ‚gegeben‘, sondern, je radikaler, um so ferner allem Gege-
benen. ‚Gegeben‘ würde überdies heißen ‚Einem gegeben‘, das aber
hieße wiederum: Einem bewußt. Das Bewußt-sein ist im Begriff des
Gegebenen also schon vorausgesetzt.“26 Wie in Sein und Zeit geht
das Dasein insbesondere nicht aus dem es gibt hervor, für Natorp ist
das Ich hiervon ausgenommen. Selbstverständlich wird der Unter-
schied hierbei nur noch deutlicher sichtbar: Gegeben bedeutet für
Natorp wie ein Gegenstand dem Bewußtsein gegeben ist, während
für Heidegger der vorhandene Gegenstand das weltliche es gibt
eher in sich verbirgt. Am Ende läßt sich zumindest festhalten, daß
Natorps Frage von Heidegger übernommen wird, und sei es nur, um
radikal umgekehrt zu werden, so wie das Dasein das Ich umkehrt.27
Aus diesem zusammenfassenden Überblick kann man zumin-
dest schließen, daß Sein und Zeit in keiner Weise außer Acht lassen
konnte, daß seine Verwendungen des es gibt in den strategischen
Debatten seiner Zeitgenossen über den Status, die Situation und das
Ausmaß der Gegebenheit einen festen Platz einnahmen. Alle teilen
die vorangestellte Frage: Muß man Gegenstände oder Seiendes defi-
nieren, muß man mit einer Ontologie oder mit einer Theorie des
Gegenstandes beginnen? Aber diese vorangestellte Frage wird bei
ihnen allen vor dem Hintergrund einer Grundannahme formuliert,
die implizit geblieben ist, obwohl sie alle Debatten infiltriert: Kann
man zwischen Gegenständen und Seienden unterscheiden, ohne sie
zunächst zur jeweiligen Gegebenheit in ihnen in Beziehung zu set-
zen? Niemand hat dies besser gesehen und dargelegt als Husserl,
26
Paul Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Erstes
Buch. Objekt und Methode der Psychologie, Tübingen 1912, 40.
27
Vgl. Christoph Wolzogen, „Es gibt“. Heidegger und Natorps „Prakti-
sche Philosophie“, in: Annemarie Gethmann-Siefert/Otto Pöggeler (Hrsg.),
Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt am Main 1988, 313–337.
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 35
5.
schließlich auch nicht nur die Welt, wie für Lask, denn selbst die for-
malen Unmöglichkeiten, die Teil der Welt sind, können gegeben sein.
Tatsächlich erstellt der Text selbst, der mit der grundlegenden
Erklärung endet, „überall [sei] die Gegebenheit […] eine Gegeben-
heit im Erkenntnisphänomen“, eine lange Liste der „verschiedenen
Modi der eigentlichen Gegebenheit“; sie umfaßt mit der Gegebenheit
nahezu alle möglichen Phänomene, darunter genau jene, die Natorp,
Rickert oder Lask ausgeschlossen hatten. Husserl listet tatsächlich
(a) die „Gegebenheit der cogitatio“ auf, (b) die „Gegebenheit der
in frischer Erinnerung nachlebenden cogitatio“, also das Ich (gegen
Natorp). Dann (c) „die Gegebenheit der im phänomenalen Fluß
dauernden Erscheinungseinheit“, (d) „die Gegebenheit der Verän-
derung derselben“, (e) „die Gegebenheit des Dinges in der ‚äußeren‘
Wahrnehmung“ und (f) die Gegebenheit der „verschiedenen Formen
der Phantasie und Wiedererinnerung“. Es handelt sich, könnte man
global sagen, um die Tatsachen und die Seienden der Welt. Aber, so
fügt Husserl hinzu, man muß in die Gegebenheit „natürlich auch“
(g) „die logischen Gegebenheiten“ einbeziehen, nämlich die „der
Allgemeinheit, des Prädikats,“ etc.; (h) also letztlich sogar „auch die
Gegebenheit eines Widersinns, eines Widerspruchs, eines Nichtseins,
usw.“32 Diese letztgenannten Figuren der Gegebenheit gehören
jedoch nicht zur Welt (im Sinne von Lask), sie gehen auch nicht auf
die Kategorie der Tatsächlichkeit zurück (Rickert zufolge) und stel-
len kein Faktum der Erfahrung dar (wie für Natorp). Mit welchem
Recht nehmen also der Widersinn, der Widerspruch und das Nicht-
sein (ja sogar das Unmögliche) ihren Platz in der Gegebenheit ein?
Tatsächlich wird die Gegebenheit für Husserl genau in dem Maße
allgemein, wie die Reduktion allgemein ihr Recht ausübt. Wie aber
kommt es, daß das, was keine Ausnahme bildet, in diesem Fall das
Unmögliche, das Nichtsein, der Widersinn und der Widerspruch,
noch den Titel des Gegebenen verdient und sie alle auf die Gege-
benheit zurückführt, da sie die Grenzen des Seienden überschrei-
ten? Muß man daraus schließen, daß die Gegebenheit sich über die
32
Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Husserliana II, 74. In der Tat wird
Husserl nach 1907 andere „Modi der eigentlichen Gegebenheit“ entdecken,
insbesondere den Leib, die passiven Synthesen, die Intersubjektivität und die
Teleologie. Die spätere Phänomenologie wird ihnen noch weitere hinzufügen
(Sein/Seiendes, Zeit, Welt und Wahrheit, Gesicht, Selbstliebe, Hermeneutik,
différance, etc.). Wir behaupten, daß sie alle auf die Gegebenheit zurückge-
hen, ob man dies nun eingestehen mag oder nicht.
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 37
Seiendheit hinaus erstreckt, über das Seiende als das Mögliche der
Metaphysik?
6.
Husserls Entscheidung wird nur dann intelligibel, wenn man auf ein
von Bolzano formuliertes, aber ungelöstes Problem in § 67 der Wis-
senschaftslehre zurückkommt, der den symptomatischen Titel trägt:
„Es gibt auch gegenstandlose Vorstellungen.“33 Bolzano fordert,
wie man weiß, daß jede Vorstellung einen Gegenstand, ein Etwas
haben müsse, das sie vorstellt, „auch der Gedanke Nichts“.34 Und
er führt, hiervon ausgehend, drei Beispiele an: Zunächst den Wider-
spruch (das runde Viereck) und den Widersinn (die grüne Tugend),
also zwei formale und undenkbare Unmöglichkeiten; dann die tat-
sächliche, nur empirische Unmöglichkeit, die jedoch formal nicht
undenkbar ist (der goldene Berg). Bald wird man zwei bestimmende
Punkte bemerken. (a) Diese drei Beispiele entsprechen Husserls letz-
ten Ausdehnungen der Gegebenheit. (b) Um diese gegenstandlosen
Vorstellungen, die folglich die Grenzen der Seiendheit überschreiten,
näher zu bestimmen, greift Bolzano auf das es gibt zurück, so wie
Husserl auf die Gegebenheit zurückgreift. Genau gesagt kann man
nicht davon sprechen, daß „für Bolzano […] das ‚Nichts‘ immerhin
als Vorstellung ‚existiert‘“,35 denn weder sein noch existieren erstre-
cken sich bis zu ihm, sondern nur es gibt.
Mehr noch als durch Bolzano und sogar Twardowski36 wurde
die Verbindung von Gegebenheit und gegenstandlosen Vorstellun-
gen von Meinong etabliert. Tatsächlich gab seine Gegenstandstheorie
von 1904 dieser Verbindung die Form eines berühmten Paradoxes
33
Hervorhebung durch den Verfasser.
34
Bernard Bolzano, Wissenschaftslehre, § 67 (zitiert nach: Bolzano, Schrif-
ten, Band 11, zweiter Teil, Wissenschaftslehre §§ 46–90, hrsg. von Jan Berg,
Stuttgart/Bad Cannstatt 1997, 112).
35
Jocelyn Benoist, Représentations sans objets. Aux origines de la phéno-
ménologie et de la philosophie analytique, Paris 2001, 19; eine ungenaue For-
mulierung eines im übrigen unverzichtbaren Werkes.
36
Der jedoch für Husserl in dieser Frage wesentliche Anregungen gegeben
hat. Das Dossier ihres Gedankenaustauschs wurde in bemerkenswerter Wei-
se zusammengestellt von Jacques English, in: Edmund Husserl – Kasimir
Twardowski. Sur les objets intentionnels (1893–1901), Présentation, traduc-
tions, notes, remarques et index par Jacques English, Paris 1993.
38 Jean-Luc Marion
37
Alexius Meinong, Über Gegenstandstheorie, in: Gesamtausgabe (im fol-
genden: GA), Band II, Abhandlungen zur Erkenntnistheorie und Gegen-
standstheorie, bearbeitet von Rudolf Haller, Graz 1971, 481–530, hier 490;
ursprünglich Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie
(Leipzig 1904). Um elegant zu erscheinen, läßt die französische Übersetzung
das Wesentliche vermissen, nämlich die Gegebenheit („Il y a des objets à
propos desquels on peut affirmer qu’il n’y en a pas.“). Die die Übersetzung
übrigens auch an anderer Stelle (§ 6) verbirgt oder verfälscht, indem sie sie mit
„gegeben-sein“ („être-donné“) wiedergibt, gerade dort, wo sich die Gege-
benheit dem Sein entzieht. Vgl. die Übersetzung Théorie de l’objet et Présen-
tation personnelle mit einer aufschlußreichen Einleitung von Jean-François
Courtine (hier insbesondere 73 und 83).
38
Meinong, Über Gegenstandstheorie, GA II, 500 (wo man Gegebenheit
ganz offensichtlich nicht mit l’être-donné übersetzen darf; vgl. Meinong,
Théorie de l’objet, 83). Vgl. „die Gegenstandstheorie beschäftige sich mit
dem Gegebenen ganz ohne Rücksicht auf dessen Sein“ (Meinong, Über Ge-
genstandstheorie, GA II, 519).
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 39
vom Sein, daß man vielleicht sagen könnte, „der reine Gegenstand
stehe ‚jenseits von Sein und Nichtsein‘“; oder er scheint, insofern er
gegeben ist, „außerseiend“.39 Es zeichnet sich also eine Wissenschaft
ab, die mehr inhaltliche Merkmale aufweist als die Metaphysik, die
sich ihrerseits an den Bereich dessen hält, was ist oder was sein kann
(das Mögliche), und die dabei das Unmögliche ausschließt. So all-
gemein sie auch sein mag, die ontologia der metaphysica generalis
bleibt dennoch „eine aposteriorische Wissenschaft, die vom Gegebe-
nen so viel in Untersuchung zieht, als für empirisches Erkennen eben
in Betracht kommen kann, die gesamte Wirklichkeit.“ Eine andere
Wissenschaft, die Gegenstandstheorie, geht ihr voran und versteht
sie, insofern sie sich wahrhaft als „eine apriorische [Wissenschaft
erweist], die alles Gegebene betrifft“.40
Man muß Meinong somit nicht nur das Verdienst anerkennen,
das von Bolzano aufgeworfene Problem bis in seine paradoxen Kon-
sequenzen getrieben zu haben, sondern vor allem die Gegebenheit
deutlich zu einer mächtigeren und umfassenderen Instanz als das
Sein erhoben zu haben, zumindest des Seins, wie es die ontologia
der Metaphysik versteht. Selbst das, was nicht ist, das heißt was
nicht sein kann, da es keinen Zugang zur Möglichkeit hat, kann im
Modus eines Gegenstandes gedacht werden und findet sich folglich,
als ein solcher Gegenstand, gegeben. Von Bolzano bis zu Meinong,
und über den annähernd so genannten Neukantianismus hinweg,
klafft also ein Spalt zwischen dem Seienden und dem Gegenstand.
Er erlaubt, durch einen Rückgriff auf das es gibt dort, wo man nicht
sagen kann es ist, einen Schritt außerhalb des Seienden, also vielleicht
auch außerhalb der Metaphysik, zu tun.
39
Meinong, Über Gegenstandstheorie, GA II, 494. Vgl.: „Der Gegenstand
ist von Natur außerseiend, obwohl von seinen beiden Seinsobjektiven, sei-
nem Sein und seinem Nichtsein, jedenfalls eines besteht.“ Was auf diese Weise
zum „Satz vom Außersein des reinen Gegenstandes“ wird, geht natürlich mit
einer Wiedereinsetzung von Kants These einher, daß „Sein wie Nichtsein
dem Gegenstande gleich äußerlich ist“, weil beide keines seiner wirklichen
Prädikate ausmachen (Meinong, Über Gegenstandstheorie, GA II, 494).
40
Meinong, Über Gegenstandstheorie, GA II, 520–521.
40 Jean-Luc Marion
7.
41
Wir sehen nicht, wie Jocelyn Benoist die zentrale Rolle der Gegebenheit
als solcher für Meinong in Frage stellen kann („Dennoch ist es fraglich, ob
diese Referenz an die Denkweisen und an das, was der Imperativ der Ge-
gebenheit zu sein scheint, in Meinongs Analyse so zentral ist“, in: Benoist,
Représentations sans objets, 123, Hervorhebungen von uns). Ebensowenig,
wie Jean-François Courtine über eine Annäherung zwischen dem es gibt von
Meinong und dem es gibt von Heidegger im Jahre 1927 erstaunt sein kann
(„alberne Idee“, in: Meinong, Théorie de l’objet, 134).
42
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Kant’s gesammelte Schriften,
hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band III,
Berlin 1911, 186 (A 290).
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 41
43
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine
Pänomenologie, Husserliana III, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1950,
96; vgl. Husserl, Ideen I, Husserliana III, 109 (wo der Unterschied zwischen
Erlebnis und Transzendenz auf den Unterschied zwischen zwei leibhaft
Gegebenen zurückgeht), und den Kommentar von Didier Franck, Chair et
corps. Sur la phénoménologie de Husserl, Paris 1981, 24–26.
44
Husserl verkennt nicht die Möglichkeit, ja die Pflicht eines solchen
Hinausgehens außerhalb des Seienden (vgl. die Klarstellung in Marion,
Réduction et donation, Kap. V, §§ 1–7), aber er beläßt es weitgehend im
Unentschiedenen.
42 Jean-Luc Marion
1
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchun-
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 45
gen zur Konstitution, Husserliana IV, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag
1952.
2
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 52 und 63.
3
Heidegger, Prolegomena, GA 20, 168–170.
4
In seiner Vorlesung vom Sommersemester 1925 zitiert Heidegger die Pa-
ragraphenzählung der steinschen Ausarbeitung und nicht etwa diejenige der
kritischen Ausgabe in Husserliana IV.
5
Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, 168.
6
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 140.
7
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 185–187.
46 Rudolf Bernet
8
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 238–239.
9
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 237.
10
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 136–139.
11
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 140–147.
12
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 145.
13
Aus dem Manuskript der Vorlesung vom Sommersemester 1925 geht al-
lerdings nur hervor, daß Heidegger die Titel der beiden ersten beiden Teile
der Ideen II und deren daraus ersichtliche Problemstellung bekannt waren.
14
Der Inhalt und zuweilen sogar der Wortlaut der Zollikoner Seminare in
den sechziger Jahren erweckt allerdings den Eindruck, daß Heidegger dieses
Versäumnis (offenbar unter Heranziehung der 1952 erstmals in Band IV der
Husserliana erschienen kritischen Edition der Ideen II) später nachgeholt
hat.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 47
sen, der zufolge die Analysen der Leiblichkeit in den Ideen II sich
noch im Rahmen einer „naturalistischen“ Einstellung bewegen. Dem
folgenden Zitat aus Sein und Zeit ist aber auch zu entnehmen, daß
Heidegger überhaupt dem ganzen Aufbau von Husserls Ideen II mit
großem Mißtrauen begegnet sein muß: „Die Frage steht nach dem
Sein des ganzen Menschen, den man als leiblich-seelisch-geistige
Einheit zu fassen gewohnt ist. Leib, Seele, Geist mögen wiederum
Phänomenbezirke nennen, die in Absicht auf bestimmte Untersu-
chungen für sich thematisch ablösbar sind; in gewissen Grenzen mag
ihre ontologische Unbestimmtheit nicht ins Gewicht fallen. In der
Frage nach dem Sein des Menschen aber kann dieses nicht aus den
überdies erst wieder noch zu bestimmenden Seinsarten von Leib,
Seele, Geist summativ errechnet werden. Und selbst für einen in die-
ser Weise vorgehenden ontologischen Versuch müßte eine Idee vom
Sein des Ganzen vorausgesetzt werden.“15
Von einer solch „summativen“ Komposition und von einer
Mißachtung der Ganzheit menschlichen Seins kann aber in den
Ideen II nicht die Rede sein. Nicht nur betont Husserl immer wie-
der die Verschmelzungseinheit von Leib, Seele und Geist, sondern
auch die Scheidung zwischen einer Bestimmung menschlichen
Lebens in naturalistischer oder personalistischer Einstellung hat
für ihn keinen absoluten Wert. Husserl schreibt: „Das Thema der
folgenden Betrachtungen soll nun die Konstitution der Naturrea-
lität Mensch […] sein, d. h. des Menschen, wie er sich in der natu-
ralistischen Betrachtung darbietet: als materieller Körper, auf den
sich neue Seinsschichten, die leiblich-seelischen, aufbauen. Es ist
möglich, daß in diese konstitutive Betrachtung manches hineinge-
zogen werden muß, was spätere Untersuchungen als dem persona-
len oder geistigen Ich zugehörig erweisen werden.“16 Die Einheit
menschlichen Lebens setzt sich also nach Husserl nicht zusammen
aus einem naturalistisch und einem personalistisch bestimmten
Teil, vielmehr gibt es deswegen verschiedene phänomenologische
Zugänge zu menschlichem Sein, weil dieses πολλαχῶς λέγεται.
Husserls Betrachtung des menschlichen Leibes als eine physiologi-
sche Realität und auch seine Besinnung auf den Zusammenhang von
Bewußtsein und Gehirn sind ein Stück genuiner, sich stets an die
Erfahrung haltender Phänomenologie, das durch die Bestimmung
des Leibes als Wahrnehmungs- und Willensorgan, als Nullpunkt
15
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 64–65.
16
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 143.
48 Rudolf Bernet
20
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 168.
21
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 152.
22
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 153.
23
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 153.
24
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 55–56.
25
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 56.
50 Rudolf Bernet
2. Seelisches Bewußtsein
Als Paradigma eines seelischen Erlebnisses gilt Husserl also eine sinn-
liche Wahrnehmung, in welcher das intentionale Bewußtsein Emp-
findungen in leiblicher, das heißt durch die Sinnesorgane vermittelter
Weise auffaßt und zu Erscheinungen bzw. „Abschattungen“ von
räumlichen Dingen macht. Was an dieser Doppelform leiblichen
Bewußtseins nun aber spezifisch „seelisch“ sein soll, ist nicht unmit-
telbar deutlich. Ein erster Ansatz zu einer Antwort ergibt sich bereits
aus Husserls Hinweis darauf, daß leibliche Wahrnehmungserlebnisse
nicht nur mit leiblichem intentionalem Bewußtsein, sondern auch
mit leiblichen Bewegungen verbunden sind. Diese Bewegungen des
eigenen wahrnehmenden Leibes können sowohl passiv als aktiv sein:
Mein Leib wird entweder („mechanisch“) bewegt oder er bewegt
sich selbst und bewegt vermittels dieser eigenen Beweglichkeit auch
andere Leiber oder Körper.26 Aktive oder „spontane“ eigene leibli-
che Bewegungen mögen zwar durch äußere Reize bedingt sein, aber
sie haben ihren eigentlichen Grund in der subjektiven „Freiheit“,
das heißt im freien „Vermögen“ eines auf den Eigenleib bezogenen
„Ich kann“. Als durch mich frei beweglicher wird der eigene Leib so
zu meinem „Willensorgan“.27 Als ein solches „freibewegtes Sinnes-
organ, als freibewegtes Ganzes der Sinnesorgane“, als „Mittel aller
Wahrnehmung“28 gehorcht der Eigenleib subjektivem Wollen und
Können, welche eben sein spezifisch „Seelisches“ ausmachen. Die
„Seele“ ist somit für Husserl das spezifisch subjektive Moment an
dem als „Wahrnehmungsorgan“ und als „Willensorgan“ bezeichne-
ten Eigenleib. Der Leib ist das mit ihr verwachsene „Organ“, dessen
die Seele sich im leiblichen Wahrnehmen und im leiblichen Sich-
Bewegen bedient. Mit Aristoteles gesprochen ist die Seele somit der
„Steuermann“ des eigenen Leibes-Schiffs.29
Im Normalfall lenkt der Seelenkapitän die Fahrt seines Leibes-
Schiffs auf wachsame Weise. Husserl bedenkt aber auch noch die
Möglichkeit von Fällen, in denen der Steuermann entweder über-
müdet eingeschlafen ist oder in denen er das Schiff nicht mehr mit
26
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 151–152.
27
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 151–152.
28
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 56.
29
Vgl. Aristoteles, De anima II,1. Nicht uninteressant ist im Zusammen-
hang mit Husserl auch der Umstand, daß Plato dieselbe Metapher im Phaid-
ros und in den Nomoi, XII zur Bezeichnung der Leitung der Seele durch die
Vernunft verwendet.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 51
3. Leibliches Bewußtsein
Wenn wir uns nun dem Bereich eines nicht intentionalen und nicht
ichlichen leiblichen Bewußtseins zuwenden, so muß neben den
hyletisch-darstellenden Empfindungen, kinästhetischen Empfin-
30
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die Funda-
mente der Wissenschaften, Husserliana V, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag
1952, 116–117; vgl. auch Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 134.
31
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 92.
32
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 92: „Wie schon der bildliche Ausdruck
Erlebnisstrom (oder Bewußtseinsstrom) besagt, sind uns die Erlebnisse […]
in der Erfahrung nicht gegeben als in sich zusammenhangslose Annexe von
materiellen Leibern […]. Sie sind vielmehr durch ihr eigenes Wesen eins,
miteinander verbunden und verflochten […] und nur in dieser Einheit eines
Stromes möglich.“
33
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 33.
52 Rudolf Bernet
dungen und sinnlichen Gefühlen von Schmerz und Lust noch eine
neue, von Husserl „Empfindnis“ genannte Art leiblichen Emp-
findens in Betracht gezogen werden.34 Die Empfindnisse spielen
in der Erfahrung des eigenen Leibes eine ganz zentrale Rolle. Im
Gegensatz zu den darstellenden Empfindungen werden Empfind-
nisse primär nicht so aufgefaßt, daß sie sich auf die Bestimmung der
Eigenschaften eines wahrgenommenen Dinges beziehen. Im Gegen-
satz zu den kinästhetischen Empfindungen betreffen Empfindnisse
auch nicht die Bewegungen des eigenen Leibes und deren motivie-
renden Einfluß auf den Ablauf einer dinglichen Wahrnehmung. Im
Gegensatz zu den sinnlichen Lust- und Unlustgefühlen, schließlich,
sind Empfindnisse auch keine Triebgefühle, die mit dem sinnlichen
Wert eines intentionalen Gegenstandes in Verbindung gebracht wer-
den könnten. Empfindnisse bezeichnen vielmehr einen sinnlichen
Erfahrungsbereich, welcher primär ausschließlich den eigenen „aes
thesiologischen“ Leib betrifft. Es handelt sich dabei also um eine
vor-ichliche und vor-intentionale sinnliche Selbsterfahrung oder um
eine intime Selbstaffektion des Leibes, welcher jeder unmittelbare
Bezug auf ein Wahrnehmen oder Besorgen von Dingen sowie über-
haupt auf ein transzendierendes In-der-Welt-Sein entbehrt. Husserls
leibliche Empfindnisse dürfen also nicht mit Heideggers „Stimmun-
gen“ oder einer anderen Form daseinsmäßiger „Befindlichkeit“
verstanden werden. Es fehlt in Sein und Zeit nicht nur der Name,
sondern überhaupt jegliches Verständnis für solche rein immanenten
leiblichen Phänomene.
Neben den Tiefenempfindungen des eigenen Leibes, wie etwa das
von Husserl erwähnte „Herzgefühl“,35 handelt es sich bei den Emp-
findnissen vorwiegend um „Wirkungseigenschaften“36 an der Ober-
fläche des eigenen Leibes, wie etwa um die Empfindung, berührt
zu werden. Solche Empfindnisse von einer Berührung beziehen sich
ausschließlich auf den eigenen Leib und sie sind in ihm auch präzise
„lokalisiert“.37 Durch diese Lokalisierung der Empfindnisse erwächst
dem Eigenleib eine „Ausbreitung“, das heißt eine spezifisch leibliche
Form der Räumlichkeit, die vom extensiven objektiven Raum der
wahrgenommenen Dinge streng unterschieden werden muß: „Loka-
lisation von Empfindnissen [ist] in der Tat etwas prinzipiell ande-
34
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 144–147.
35
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 165.
36
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 146.
37
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 145.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 53
38
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 149.
39
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 147.
40
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 147. Vgl. Martin Heidegger, Zollikoner
Seminare. Protokolle – Gespräche – Briefe, hrsg. von Medard Boss, Frank-
furt am Main 1987, 108: „Wenn ich das Glas greife, so spüre ich das Glas
und meine Hand. Das ist die sogenannte Doppelempfindung, nämlich das
Empfinden des Getasteten und das Spüren meiner Hand. Beim Sehen spüre
ich nicht mein Auge in dieser Weise.“
41
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 147.
54 Rudolf Bernet
42
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 148.
43
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 150.
44
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 161.
45
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 155.
46
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 161.
47
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 163.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 55
48
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 165.
49
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 166.
50
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 166.
51
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 166.
56 Rudolf Bernet
52
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 240.
53
Die Beobachtung, daß die Wahrnehmung unseres Körpers im Spiegelbild
für sich genommen noch keine Erfahrung unseres eigenen Leibes und noch
weniger seiner Expressivität impliziert, ist auch Husserl nicht entgangen.
Man erkennt sich erst dann im Spiegel, wenn man sich bereits mit der Frage
beschäftigt hat, wie man für einen Anderen „ausschaut“. Aber auch dann,
wenn man gelernt hat, den Körper im Spiegel mit dem eigenen Leib zu iden-
tifizieren, sieht man im Spiegel nur seine eigenen Augen, nicht aber den ei-
genen Blick als leibliches Ausdrucksphänomen. Vgl. dazu Husserl, Ideen II,
Husserliana IV, 148, Anm.
54
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 161.
55
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 167–169.
56
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 169–170.
57
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 169.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 57
mag ich jedoch nie. Wie Husserl treffend bemerkt, stehen mir dabei
nicht nur meine eigenen seelischen Leibesempfindungen im Wege,
sondern auch die Unübersichtlichkeit meines eigenen Körpers: Ich
„habe […] nicht die Möglichkeit, mich von meinem Leib oder ihn
von mir zu entfernen, und dem entsprechend sind die Erscheinungs-
mannigfaltigkeiten des Leibes in bestimmter Weise beschränkt:
gewisse Körperteile kann ich nur in eigentümlicher perspektivischer
Verkürzung sehen, und andere (z. B. der Kopf) sind überhaupt für
mich unsichtbar. Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrneh-
mung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege
und ist ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding.“58 Mit
Heidegger gesprochen kennzeichnet sich das Erscheinen meines
Eigenleibes also durch eine wesentliche Form der Endlichkeit. Mein
Leib, der mir die Sichtbarkeit der Dinge erschließt, entzieht sich als
sehender meinem Sehen. In seiner Nähe sowohl zu meinem eigenen
Sehen als auch zu entfernten Dingen wird er von mir übersehen. Dies
hat mein Leib mit der von Heidegger immer wieder neu bedachten
Zeigefunktion eines Zeichens gemein.
Eine ganz neue Bestimmung erfährt mein Leib, wenn ich von der
Beschreibung meiner unmittelbaren inneren leiblichen Erfahrungen
zur Beschreibung meiner Erfahrung von deren Abhängigkeit von
äußeren Umständen übergehe. Damit vollzieht man nach Husserl
einen ersten, entscheidenden Schritt zur Ausbildung einer phäno-
menologischen Ontologie, welche den Leib als eine eigene Art von
Realität mit ihrer spezifischen Seinsweise und mit ihren spezifischen
Eigenschaften untersucht. Phänomenologisch verfährt diese neue
Ontologie insofern, als sie ihre Bestimmung der Realitätsform des
Leibes nicht einfach aus der überkommenen metaphysischen Defi-
nition der res extensa übernimmt, sondern vielmehr neu bestimmt
und auf die Beschreibung des erfahrungsmäßig gegebenen, funkti-
onalen Zusammenhangs von leiblichen „Zuständen“ mit äußeren,
materiellen „Umständen“ gründet: „Der Leib […] hat immer Emp-
findungszustände, und welche besonderen er hat, das hängt von
58
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 159.
58 Rudolf Bernet
59
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 155.
60
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 155.
61
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 156.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 59
62
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 55–58.
63
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 65–75.
64
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 27–32.
60 Rudolf Bernet
65
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 158.
66
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi-
schen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die Fundamente
der Wissenschaften, Husserliana V, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag 1952,
124.
67
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 158.
68
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 158–159.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 61
69
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 135.
70
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 137.
71
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 58–65.
62 Rudolf Bernet
72
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 64.
73
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 135.
74
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 161.
75
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 65, vgl. auch 135.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 63
76
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 136.
77
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 135.
78
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 133.
79
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 132.
64 Rudolf Bernet
sie zeigt eine Identität darin, daß sie im ganzen unter gegebenen
physischen Umständen sich geregelt reagierend ‚verhält‘, so und so
empfindet, wahrnimmt etc.“80 Die Betrachtung der idiopsychischen
Konditionalität vertieft also den Gegensatz zwischen seelischer und
physischer Realität durch den Hinweis auf die Geschichtlichkeit
seelischen Seins und die „Geschichtslosigkeit“ materiellen Seins.81
Wie Aristoteles die ἕξις der Seele von ihrer δύναμις her versteht,
so bestehen auch für Husserl die bleibenden Eigenschaften der Seele
vorwiegend aus Vermögen. Diese Vermögen oder „Dispositionen“,
die immer auf vergangene und zukünftige seelische Erlebnisse ver-
weisen, sind es, welche die wahre „subjektive Habe“ der Seele aus-
machen: „Jedes Erlebnis hinterläßt Dispositionen und schafft in
Hinsicht auf die seelische Realität Neues. Sie selbst [sc. „die Seele“]
ist also eine beständig sich verändernde.“82 Als zur seelischen Reali-
tät gehörige Eigenschaften sind diese Dispositionen und Vermögen
keine bloßen Möglichkeiten, denen erst durch ihre Verwirklichung
eine Realität zuwachsen würde. Sie sind vielmehr, mit Heidegger
gesprochen, „wirkliche Möglichkeiten“, nämlich ein faktisch-exi
stentiales „Sein-Können“ des individuellen Menschen.
Aus der phänomenologischen Beschreibung der physiopsychi-
schen und der idiopsychischen Konditionalitäten ergibt sich also
gleichermaßen, daß nicht der Raum, sondern die Zeit die grundle-
gende Wesensform seelischen Seins ausmacht. Damit erweist sich die
Zeit, und zwar, genauer, die Zeit des subjektiven Bewußtseins als der
Horizont eines angemessenen phänomenologischen Verständnisses
des Seins seelischer Realitäten. Was seelisches Sein von naturhaftem
Sein unterscheidet, ist letztlich also nicht der Unterschied zwischen
dem Motivationszusammenhang von seelischen Erlebnissen und
dem Kausalzusammenhang von physischen Körpern, sondern eben
die Form der Zeit. Das Wesen der Seele gründet mit anderen Worten
in der Subjektivität, das Wesen der Subjektivität gründet im Wesen
des Bewußtseins, und das Wesen des Bewußteins gründet in der Zeit.
Aus dieser zeitlichen Seinsbestimmung seelischen Seins ergibt sich
dann des weiteren, daß die Seele zwar „eine absolut unzerstückbare
Einheit“ ist,83 aber daß sie keine Einheit im Sinne einer Substanz
sein kann: „es gibt keine Seelensubstanz: die Seele hat kein ‚An sich‘
80
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 127.
81
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 137.
82
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 133.
83
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 133.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 65
wie die ‚Natur‘, weder eine mathematische Natur wie das Ding der
Physik noch eine Natur wie das Ding der Anschauung.“84
Was schließlich die intersubjektive Konditionalität betrifft, die
Husserl neben die psychophysische und die idiopsychische Kon-
ditionalität der seelischen Realität stellt, so handelt es sich dabei um
Wahrnehmungsumstände, welche die von Husserl „solipsistisch“
genannte Sphäre des leib-seelischen Einzelsubjekts überschreiten.
Erst mit der Berücksichtigung dieser intersubjektiven Konditiona-
lität wird verständlich, wie der leiblich vermittelten Wahrnehmung
von äußeren Dingen, vom eigenen Leibkörper sowie schließlich von
der ganzen Natur ein allgemein verifizierbarer und somit objektiver
Wahrheitswert zuwachsen kann.85 Als seelische Konditionalität ver-
standen, umfaßt der Einfluß, den die Anderen auf meine Wahrneh-
mungen ausüben, selbstverständlich noch nicht den vollen Bereich
des sozialen menschlichen Lebens, so wie er im Dritten Abschnitt
der Ideen II unter dem Titel „Die Konstitution der geistigen Welt“
untersucht wird. Die intersubjektive Konditionalität betrifft nur
seelische Erlebnisse, die sich von den geistigen Akten durch ihre Lei-
besgebundenheit unterscheiden. Wir bewegen uns bei der Betrach-
tung dieser leiblich vermittelten seelischen Intersubjektivität somit
immer noch innerhalb der von Husserl (in einem erweiterten, das
heißt nicht naturwissenschaftlichem Sinne) „naturalistisch“ genann-
ten Einstellung:86 „Diese Form seelischen Daseins […] besteht in
der auf die […] Form der Leiblichkeit […] begründeten Form der
sozialen Gemeinschaft als einer Gemeinschaft einheitlichen Daseins
durch das Band der Wechselverständigung.“87 Die „personalis-
tisch“ genannte Einstellung hingegen sieht ab von all den erwähn-
ten Konditionalitäten seelischer Erlebnisse und richtet sich auf die
Erforschung der „geistigen Individualität“ der „menschlichen Per-
son“ in ihrem Bezug auf die „Umwelt“ und in ihrem Umgang mit
anderen „Personen“ und mit „Person-Gemeinschaften, sozialen
Institutionen.“88
Husserls Untersuchungen zur Konstitution der geistigen Welt im
3. Teil der Ideen II gelten dann der Ausbildung eines neuen Zweigs
der phänomenologischen Ontologie, der sich mit der Seinsweise
84
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 132.
85
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 78.
86
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 139–143.
87
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 133.
88
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 139–143.
66 Rudolf Bernet
89
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 220.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 67
7. Erfahrung und Realität von Leib und Seele aus der Perspektive
der Fundamentalontologie
90
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 144.
91
Heidegger, Prolegomena, GA 20, 170–171.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 69
und der Geschichte wäre Heidegger wohl als eine Vorausnahme der
Grundabsicht seiner eigenen Existentialanalyse erschienen. Ebenso
müßte Heidegger auch Husserls Bestimmung der seelischen Eigen-
schaften als dynamische Vermögen bzw. als existentiale Wirklichkeit
eines Sein-Könnens sehr entgegengekommen sein. Wir haben schon
erwähnt, daß ein aufmerksames Studium aller Teile von Husserls
Ideen II auch Heideggers Befürchtung einer Zerteilung der Ganz-
heit menschlichen Seins in Leib, Seele und Geist hätte beschwichti-
gen müssen.
Aber Heidegger hätte sicher Anstoß genommen an Husserls Ver-
ankerung der seelischen Erlebnisse in der Spontaneität des „reinen
Ich“ sowie überhaupt an Husserls Begriff eines seelischen „Bewußt-
seins“. Wenn es Husserl dazumal wohl kaum gelungen wäre, diese
Bedenken zu zerstreuen, so vielleicht schon eher dem heutigen,
aus dem zeitlichen Abstand argumentierenden Leser von Husserls
Ideen II. Wie man sich auch zu Husserls Begriff eines reinen Ichs
stellen mag, so gilt jedenfalls, daß seelische Erlebnisse zufolge ihrer
innigen Verschmelzung mit dem Leib unvermeidlich eine Verleibli-
chung des Ichsubjekts implizieren. Der Leib ist bei Husserl weniger
„Träger“ als vielmehr „Organ“ ichlicher Absichten. Zudem haben
wir auch festgestellt, daß nach Husserl ichliche seelische Erleb-
nisse eher die Ausnahme als die Regel sind. Die Freiheit, welche
die seelischen Erlebnisse kennzeichnet, muß als eine Befreiung von
naturkausalen Automatismen verstanden werden, die sich durchaus
mit ihrer Bedingtheit durch konditionale Umstände und mit ihrem
passiven Vollzug verträgt. Als leiblichem Bewußtsein fehlt es den
seelischen Erlebnissen ebenfalls an der Durchsichtigkeit eines car-
tesianisch verstandenen Bewußtseins. Husserl schreibt in dem auch
von Heidegger bereits berücksichtigten 3. Abschnitt seiner Ideen II:
„Hier handelt es sich nicht um Motivation von Stellungnahmen
durch Stellungnahmen […], sondern von Erlebnissen beliebiger
Art […]: die Sinnlichkeit, das sich Aufdrängende, Vorgegebene, das
Getriebe in der Sphäre der Passivität. Das einzelne darin ist im dunk-
len Untergrund motiviert, hat seine ‚seelischen Gründe‘ […]. Die
‚Motive‘ sind oft tief verborgen, aber durch ‚Psychoanalyse‘ zutage
zu fördern.“92
Es ist also unzweifelhaft, daß der Begriff des „Bewußtseins“
durch Husserls phänomenologische Erforschung leiblicher Bewußt-
seinsformen eine ganz ungewöhnliche Erweiterung erfahren hat.
92
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 222.
70 Rudolf Bernet
logie genüge. Aber wir müssen uns andererseits auch die Frage offen
halten, ob Heideggers Konzentration auf die existentiale Sorge um
das eigene Sein die Berücksichtigung von anderen Vollzugsweisen
menschlichen Lebens und insbesondere von dessen materiellen und
leiblichen Umständen nicht verschattet.
Schließlich müßte auch noch der Frage nachgegangen werden, ob
unsere Erfahrung vom Wesen unseres eigenen Leibes wirklich stets
mit einer Offenbarung seiner sinnvollen Dienlichkeit verbunden
ist. Sartre und Lévinas waren da anderer Meinung als Husserl und
Heidegger. In Sartres Beschreibung der „nausée“ und in Lévinas’
Bestimmung des „il y a“ handelt es sich vielmehr um Erfahrungen
des Seins des Eigenleibs, in welchen dieser seines persönlichen Cha-
rakters beraubt wird und sich als nutzlos und gefühllos, kurz: als
gänzlich fremd und feindlich erweist.
Dan Zahavi
Phänomenologie und
Transzendentalphilosophie
der Lektüre von Sein und Zeit (oder Prolegomena zur Geschichte
des Zeitbegriffs) auf Merleau-Ponty stößt. Sowohl Heidegger als
auch Merleau-Ponty beziehen sich auf Husserl, aber ihre Darstel-
lung ist so grundverschieden, daß man sich ab und zu fragen mag,
ob beide von demselben Autor sprechen. Niemand kann übersehen,
daß Merleau-Pontys Interpretation Husserls signifikant von derje-
nigen Heideggers abweicht. Sie ist wesentlich wohlwollender. Tat-
sächlich stellt sich Merleau-Ponty sehr oft gegen übliche Ansichten,
wenn er die Verdienste Husserls bzw. Heideggers bewertet. Dies ist
nicht nur in seiner berüchtigten Bemerkung auf der allerersten Seite
von Phénoménologie de la perception der Fall, wo er verkündet, daß
das gesamte Werk Sein und Zeit nur eine Artikulation von Husserls
Lebensweltkonzept ist, sondern auch – um ein weiteres Beispiel zu
nennen – in einer seiner Sorbonne-Vorlesungen, in der er schreibt,
Husserl nehme das Thema der Geschichtlichkeit weit ernster als
Heidegger.1
Angesichts Merleau-Pontys beständigen und relativ enthusia
stischen (obwohl keineswegs unkritischen) Interesses an Hus-
serl stellt sich die Frage, wie es kommt, daß sich viele Anhänger
Merleau-Pontys weigern, seine Husserl-Interpretationen ernst zu
nehmen? Angeblich kommt das daher, daß Merleau-Pontys Ausle-
gungen Husserls nicht so sehr davon handeln, was Husserl gesagt
hat, sondern eher davon, was er Merleau-Pontys Ansicht nach
hätte sagen sollen, und daß diese Auslegungen infolgedessen eher
als eine Darstellung Merleau-Pontys eigener Gedanken, denn als
echte Husserl-Interpretationen gelesen werden müssen.2 Warum ist
man sich so sicher, daß die Philosophie der beiden gegensätzlich sei
und Merleau-Ponty Husserls Position, um ihr die Befremdlichkeit
zu nehmen, mehr oder weniger absichtlich falsch dargestellt habe?
Der Grund ist scheinbar, daß viele Interpreten davon überzeugt sind,
Husserl sei ein Cartesianer geblieben, ein Idealist und Solipsist bis
zum bitteren Ende, ungeachtet dessen, was Merleau-Ponty selbst
darauf entgegnet hätte. In der Tat, eine solche Husserl-Interpretation
wird nicht nur von Merleau-Pontianern, sondern auch, sogar mit
1
Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, Paris
1945; vgl. Maurice Merleau-Ponty, Merleau-Ponty à la Sorbonne. Résumé
de Cours 1949–1952, Cynara 1988, 421–422.
2
Gary Brent Madison, The Phenomenology of Merleau-Ponty, Athens
1981, 170, 213 und 330; vgl. Hubert L. Dreyfus/ Paul Rabinow, Michel Fou-
cault. Beyond Structuralism and Hermeneutics, Chicago 1983, 36; Martin C.
Dillon, Merleau-Ponty’s Ontology, Evanston 1997, 27.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 75
3
Vgl. Taylor Carman, Heidegger’s Analytic. Interpretation, Discourse and
Authenticity in Being and Time, Cambridge 2003, 54.
4
Carman, Heidegger’s Analytic, 65.
5
Carman, Heidegger’s Analytic, 54.
6
Vgl. Carman, Heidegger’s Analytic, 56.
76 Dan Zahavi
7
Carman, Heidegger’s Analytic, 80.
8
Carman, Heidegger’s Analytic, 86.
9
Jean-Luc Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heid
egger et la Phénoménologie, Paris 1989, 62.
10
Vgl. Marion, Réduction et donation, 78.
11
Vgl. Marion, Réduction et donation, 124.
12
Vgl. Marion, Réduction et donation, 81.
13
Vgl. Marion, Réduction et donation, 89.
14
Vgl. Marion, Réduction et donation, 90, 93 und 97.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 77
15
Hermann Leo van Breda, Maurice Merleau-Ponty et les Archives-Husserl à
Louvain, in: Revue de Métaphysique et de Morale 67 (1962), 410–430, hier 420.
78 Dan Zahavi
16
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektität. Texte aus
dem Nachlaß. Dritter Teil. 1929–1935, Husserliana XV, hrsg. von Iso Kern,
Den Haag 1973, LXVI.
17
Vgl. dazu Dan Zahavi, Husserl’s Phenomenology of the Body, in: Études
Phénoménologiques 19 (1994), 63–84; Dan Zahavi, Horizontal Intentiona-
lity and Transcendental Intersubjectivity, in: Tijdschrift voor Filosofie 59/2
(1997), 304–321; Dan Zahavi, The Fracture in Self-Awareness, in: Dan Zahavi
(Hrsg.), Self-Awareness, Temporality and Alterity, Dordrecht 1998, 21–40;
Dan Zahavi, Self-Awareness and Affection, in: Natalie Depraz/Dan Zaha-
vi (Hrsg.), Alterity and Facticity. New Perspectives on Husserl, Dordrecht
1998, 205–228; Dan Zahavi, Merleau-Ponty on Husserl. A Reappraisal, in:
Ted Toadvine/Lester M. Embree (Hrsg.), Merleau-Ponty’s Reading of Hus-
serl, Dordrecht 2002, 3–29; Dan Zahavi, Husserl und das Problem des Vor-
reflexiven Selbstbewußtseins, in: Heinrich Hüni/Peter Trawny (Hrsg.), Die
erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held, Berlin 2002, 697–724; Dan
Zahavi, Internalism, Externalism, and Transcendental Idealism, in: Synthese
160/3 (2008), 355–374.
18
Vgl. Edmund Husserl, Husserl an Cassirer, 3. IV. 1925 (Durchschlag), in:
Husserliana Dokumente III, Briefwechsel, Band V, Die Neukantianer, hrsg.
von Karl Schuhmann, Dordrecht/Boston/London 1994, 3–6, hier 4.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 79
jekt erkennen. Natürlich gibt es eine Stelle, an der Kants Einfluß auf
Husserl sichtbar wird. Wie Husserl in Erste Philosophie I zugibt,
benutzte er einen von Kant stammenden Begriff, als er sich entschied,
seine eigene Phänomenologie als transzendental zu bezeichnen.19
Warum verdient Husserls Phänomenologie den Namen trans-
zendental? Husserls Standardantwort darauf ist, daß die Phänome-
nologie deshalb transzendental ist, weil ihr Ziel in der Aufklärung
der Konstitution von Transzendenz besteht.20 Oder, wie er es in den
Cartesianischen Meditationen ausdrückt, sind die beiden Begriffe
Transzendenz und transzendental miteinander verknüpft und die
Aufgabe der transzendentalen Phänomenologie besteht darin, welt-
liche Transzendenz durch eine systematische Aufklärung der konsti-
tuierenden Intentionalität zu erhellen.21 Husserl räumt ein, daß auch
die traditionelle Erkenntnistheorie mit dem Problem der Transzen-
denz konfrontiert war, nämlich in Form der Frage, wie Gewißheiten
und Evidenzen des immanenten bewußten Lebens objektive Gültig-
keit gewinnen können.22 Einfacher gesagt, bestand das traditionelle
Problem darin, aus der Sphäre des Bewußtseins herauszukommen.
Husserl stellt demgegenüber fest, daß bereits die Übernahme dieser
Problemdarstellung eine Lösung unmöglich macht. In der Tat ist die-
ses Problem ein Pseudo-Problem, das nur dann auftaucht, wenn man
die wahre Lektion der Intentionalität vergißt und die Subjektivität
als isolierte, von der Welt abgetrennte Einheit sieht. Es ist somit ein
entscheidender Fehler, Erfahrung als Verbindung zweier unabhän-
gig voneinander veränderbarer Dimensionen zu betrachten, gerade
als ob Subjektivität und Welt nur per Zufall zusammenpaßten.23
Für Husserl bilden Subjektivität und Welt keine eigenständigen
Entitäten; sie sind vielmehr verflochten, grundlegend miteinander
verbunden.
19
Vgl. Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923–1924). Erster Teil. Kriti-
sche Ideengeschichte, Husserliana VII, hrsg. von Rudolf Boehm, Den Haag
1956, 230.
20
Vgl. Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Husserliana
XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den Haag 1974, 259.
21
Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, in: Cartesianische
Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg. von Stephan Strasser,
Den Haag 1950, 41–193, hier 34 und 65.
22
Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 116.
23
Vgl. Edmund Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nach-
lass (1908–1921), Husserliana XXXVI, hrsg. von Robin Daryl Rollinger in
Verbindung mit Rochus Sowa, Dordrecht 2002, 30.
80 Dan Zahavi
24
Vgl. Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX,
hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1962, 254.
25
Edmund Husserl, Die Pariser Vorträge, in: Cartesianische Meditationen
und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg. von Stephan Strasser, Den Haag
1950, 1–39, hier 36.
26
Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Husserliana
XVII, 282.
27
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie, Husserliana VI, hrsg. von Walter Biemel,
Den Haag 1954, 190–191.
28
Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phä-
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 81
Wie er in der Krisis schreibt, kann die ἐποχή mit einem Übergang
von einem zweidimensionalen zu einem dreidimensionalen Leben
verglichen werden.32 Husserl erscheint es sogar besser, wie er in Erste
Philosophie II anmerkt, den Terminus „Ausschaltung“ überhaupt zu
vermeiden. Er könnte uns leicht zu jener verfehlten Sicht der Dinge
verleiten, die die Welt nicht mehr als Thema der Phänomenologie
ansieht, obwohl die transzendentale Forschung in Wahrheit auch
„die Welt selbst, nach all ihrem wahren Sein“ 33 einschließt.
Diese Interpretation kann anhand von Material gestützt werden,
das in dem vor kurzem veröffentlichten Husserliana-Band XXXIV
Zur phänomenologischen Reduktion: Texte aus dem Nachlass zu
finden ist. In diesen zwischen 1926 und 1935 entstandenen Texten
weist Husserl darauf hin, daß die Rede von einer „Ausschaltung“ der
natürlichen Welt nichts anderes meint, als daß der Transzendental-
philosoph aufhören muß, die Welt naiv zu setzen.34 Dies impliziert
aber nicht, daß ich nicht weiterhin die Welt beobachten und thema-
tisieren kann, Urteile über sie fällen kann, usw., sondern lediglich,
daß ich dies in einer reflexiven Art und Weise tun muß, die die Welt
als intentionales Korrelat betrachtet.35 Um es anders auszudrücken:
Die ἐποχή und die Reduktion durchzuführen bedeutet, eine the-
matische Umstellung herbeizuführen. Die Welt zeigt sich fortan als
Phänomen, und als solches bleibt sie im Fokus meiner phänomeno-
logischen Forschung.36 Husserl sagt: „Welt als ‚Phänomen‘, als Welt
in der ἐποχή, ist doch nur ein Modus, in dem dasselbe Ich, das Welt
vorgegeben hat, sich auf diese Vorgegebenheit und was in ihr liegt,
besinnt und nicht etwa darum sie und ihre Geltung preisgegeben
oder gar einfach zum Verschwinden gebracht hat.“37
32
Vgl. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
120.
33
Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923–1924). Zweiter Teil. Theorie
der Phänomenologischen Reduktion, Husserliana VIII, hrsg. von Rudolf
Boehm, Den Haag 1959, 432.
34
Edmund Husserl, Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem
Nachlass (1926–1935), Husserliana XXXIV, hrsg. von Sebastian Luft, Dord
recht 2003, 12.
35
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
58.
36
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
204 und 323.
37
Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV, 223.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 83
38
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
225.
39
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
226.
84 Dan Zahavi
40
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 554 und 555; Bernhard Waldenfels,
Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt
am Main 2000, 217.
41
Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik,
Halle 1927, VII.
42
Vgl. Michel Henry, L’essence de la manifestation, erster Band, Paris 1963,
67.
43
Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 23.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 85
behauptet, die Seinsweise des Daseins sei von solcher Art, daß sie
transzendentale Konstitution ermöglicht.44
Ich behaupte natürlich nicht, es gäbe einen reibungslosen Über-
gang zwischen Husserl und Heidegger, eine unproblematische
Kontinuität, als ob das Denken des Letzteren einfach als natürliche
Entwicklung jenes des Ersteren angesehen werden könnte. Es gibt
mehrere bedeutsame Unterschiede, und man sollte niemals verges-
sen, daß wir es hier mit unabhängigen Denkern, die von verschie-
denen Persönlichkeiten der philosophischen Tradition beeinflußt
waren, zu tun haben. Dennoch findet Heideggers Kritik an Husserl
innerhalb eines Horizonts gemeinsamer Annahmen statt. Diese Kri-
tik ist eine immanente, der Phänomenologie innewohnende Kritik,
und sie ist weder ein Bruch noch eine allgemeine Zurückweisung.
Aus den gleichen Gründen würde ich behaupten, daß ein genaues
Verständnis des husserlschen Programms unerläßlich ist, um den
phänomenologischen Aspekt in Heideggers Denken verstehen und
schätzen zu können. Anders ausgedrückt: Wenn man die Verbin-
dung zwischen Husserl und Heidegger ignoriert oder herunterspielt,
ist es sehr gut möglich, daß man am Ende Heideggers Philosophie
fehlinterpretiert. Nehmen wir z. B. Mark Okrents kürzlich erschie-
nenen Artikel Heidegger in America or How Transcendental Philo-
sophy Becomes Pragmatic. Ausgehend von einer sehr cartesianischen
Lesart der Phänomenologie Husserls behauptet Okrent, daß Phä-
nomenologie, Pragmatismus und Transzendentalphilosophie eine
inkonsistente Triade darstellen und daß insofern Heidegger ein prag-
matischer Philosoph sei und auch als transzendentaler Pragmatist
ausgelegt werden könne, er deswegen kein Phänomenologe sei.45
44
Vgl. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 601–602.
45
Vgl. Mark Okrent, Heidegger in America or How Transcendental Philo-
sophy Becomes Pragmatic, in: Jeff Malpas (Hrsg.), From Kant to Davidson.
Philosophy and the Idea of the Transcendental, London 2003, 122–138, hier
137.
86 Dan Zahavi
46
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Zwei-
ter Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis,
Husserliana XIX/2, hrsg. von Ursula Panzer, 729 und 732.
47
Vgl. Husserl, Erste Philosophie I, Husserliana VII, 198–199, 235 und
282; Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
420–421; Edmund Husserl, Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie,
Husserliana XXIV, hrsg. von Ullrich Melle, Den Haag 1984, 729 und 732;
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchun-
gen zur Konstitution, Husserliana IV, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag
1952, 128; Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in
die reine Phänomenologie. Erster Halbband, Husserliana III.1, hrsg. von
Karl Schumann, Den Haag 1976, 246; Husserl, Cartesianische Meditationen,
Husserliana I, 48.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 87
48
Edmund Husserl, Manuskript F I 28, Sommersemester 1920, 281 und 282,
zitiert in: Iso Kern, Husserl und Kant. Eine Untersuchung zu Husserls Ver-
hältnis zu Kant und zum Neukantianismus, Den Haag 1964, 104.
49
Vgl. Husserl, Erste Philosophie I, Husserliana VII, 234–235.
50
Vgl. Husserl, Erste Philosophie I, Husserliana VII, 282.
51
Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und
die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband, Husserliana XXIX,
hrsg. von Reinhold Nikolaus Smid, Dordrecht 1993, 120.
52
Vgl. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 539.
53
Vgl. Dan Zahavi, Husserl’s Intersubjective Transformation of Transcen-
dental Philosophy, in: Journal of the British Society for Phenomenology
27/3 (1996), 228–245; Dan Zahavi, Husserl und die transzendentale Inter-
subjektivität. Eine Antwort auf die sprachpragmatische Kritik, Dordrecht
1996.
88 Dan Zahavi
54
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 176.
55
Vgl. Husserl, Die Pariser Vorträge, Husserliana I, 35. vgl. Husserl, Car-
tesianische Meditationen, Husserliana I, 182; Husserl, Erste Philosophie II,
Husserliana VIII, 449; Husserl, Phänomenoloische Psychologie, Husserlia-
na IX, 295, 344 und 474.
56
Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 175.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 89
57
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 69; Husserl,
Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 345; Husserl, Erste Phi-
losophie II, Husserliana VIII, 464.
58
Vgl. Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 465; Husserl, Auf-
sätze und Vorträge (1922–1937), Husserliana XXVII, 259; Husserl, Ideen I,
198; Husserl, Die Pariser Vorträge, 10.
59
Edmund Husserl, Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die
C-Manuskripte, Materialienband VIII, hrsg. von Dieter Lohmar, Dordrecht
2006, 393.
60
Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 495, Anm. 2; vgl. Hus-
serl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV, 560.
61
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 137; Husserl,
Formale und Transzendentale Logik, Husserliana XVII, 248.
62
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 173; Husserl, Zur
Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV, 17, 73 und 403.
90 Dan Zahavi
63
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV,
74–75.
64
Vgl. Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 480.
65
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 193.
66
Vgl. Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 505.
67
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 480.
68
Vgl. Stephan Strasser, Grundgedanken der Sozialontologie Edmund Hus-
serls, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 29 (1975), 3–33, hier 33.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 91
aus dem Nachlaß. Zweiter Teil. 1921–1928, Husserliana XIV, hrsg. von Iso
Kern, Den Haag 1973, 117 und 125; Husserl, Zur Phänomenologie der Inter-
subjektivität III, Husserliana XV, 136.
73
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 611.
74
Vgl. Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 269.
75
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 428–429, 569 und 602–604.
76
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 47.
77
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 141, 231 und 629.
78
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 142.
79
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 93
Wie hier deutlich wird, darf man unter keinen Umständen Hus-
serl so verstehen, als ob sein Begriff von Intersubjektivität ein Ersatz
für den Begriff der Subjektivität wäre. Für Husserl hat es nur Sinn,
von Intersubjektivität zu sprechen, wenn es eine (mögliche) Mehr-
heit von Subjekten gibt, und die Intersubjektivität kann deshalb
weder der Individualität und Verschiedenheit der einzelnen Subjekte
vorangehen noch sie begründen. Daher kann man sich nach Hus-
serl nicht auf den Begriff der Intersubjektivität berufen, ohne sich in
irgendeiner Form zu einer Philosophie der Subjektivität zu beken-
nen. Der Begriff der Intersubjektivität stellt hier also eine Ergänzung
dar und keine Alternative.
Husserl ist zweifellos ein Transzendentalphilosoph. Aber meiner
Ansicht nach vertritt er eine Form der Transzendentalphilosophie,
die sich der Endlichkeit des transzendentalen Subjekts bewußt ist.
Dies wird nicht nur durch Husserls Berufung auf die Pluralität
transzendentaler Subjekte klar, sondern auch durch seine Betonung
des fortlaufenden und unvollendeten Charakters der transzenden-
talen Reflexion. In Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III
bemerkt Husserl z. B., daß insofern die Vernunft, die das Korrelat
des wahren Seins ist, auch eine Struktur der Normalität darstellt,
nämlich diejenige der Vernunftsubjekte,84 dann auch das Sein und
die Wahrheit in Form absoluter Objektivität einer subjektrelativen
Normalität entsprechen85 und ihre Konstitution läßt sich als die Kul-
mination der Entwicklung der transzendentalen Intersubjektivität
verstehen, die eben als eine Entwicklung in der Ausbildung immer
neuer und in immer höheren Stufen sich vereinheitlichender Norm-
systeme zu begreifen ist.86 Immer neue Generationen kooperieren
auf transzendentaler Ebene bei der Konstitution immer neuer Struk-
turen der Gültigkeit der objektiven Welt, die eine durch Tradition
überlieferte Welt ist.87 Es gibt, wie Husserl schreibt, keine feste Welt:
Die Welt ist vielmehr, was sie für uns ist, nur in der Relativität von
Normalitäten und Abnormalitäten.88 Normalität ist eine an Tradi-
84
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 36.
85
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 35.
86
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 421.
87
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 463.
88
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 95
tionen gebundene Klasse von Normen. Ich lerne von anderen, was
als normal gilt, und ich bin dadurch Teil alltäglicher Traditionen.
Deshalb spricht Husserl auch von normalem und generativem Leben
und bemerkt, daß jedes (normale) menschliche Wesen dadurch histo-
risch ist, daß es als Mitglied einer historisch beständigen Gesellschaft
betrachtet wird.89 In einem Manuskript aus den 1920er Jahren drückt
er es folgendermaßen aus: „Was ich von mir aus original (urstiftend)
erzeuge, ist das Meine. Aber ich bin ‚Kind der Zeit‘, ich bin in einer
weitesten Wir-Gemeinschaft, die ihre Tradition hat, die wieder in
neuer Weise Gemeinschaft hat mit den generativen Subjekten, mit
den nächsten und fernsten Vorfahren. Und sie hat auf mich ‚gewirkt‘,
ich bin, was ich bin, als Erbe. Was ist nun mein wirklich originales
Eigene, wiefern bin ich wirklich urstiftend? Nun, ich bin es auf dem
Untergrund der ‚Tradition‘, all mein Eigenes ist fundiert, teils durch
diese Vorfahrentradition, teils durch Mitfahrentradition.“90 Es kann
auch auf andere Art gezeigt werden, daß Husserl der Transzenden-
talphilosophie eine historische Dimension hinzuzufügen versuchte.
In einer früher zitierten Passage schreibt Husserl, daß die Transzen-
denz der Welt durch andere und durch die generativ konstituierte
Mitsubjektivität konstituiert ist. Genau dieses Konzept generativer
Intersubjektivität91 zeigt, daß Husserl nicht länger die Geburt und
den Tod des Subjekts als bloße kontingente Tatsachen ansah, son-
dern vielmehr als transzendentale Möglichkeitsbedingungen der
Weltkonstitution.92 Wie Husserl in der Krisis schreibt, gehört die
Einbettung in den Einheitsstrom einer Geschichtlichkeit, bzw. in
einen generativen Zusammenhang mit Geburt und Tod, genau so
untrennbar zum Ich wie die Form der Wahrnehmungsgegenwart.93
Man kann darüber diskutieren, ob Husserls Versuch, eine inter-
subjektive Transformation der Transzendentalphilosophie durchzu-
führen ein fruchtbarer Ansatz oder ein letztes aporetisches Konzept
Wozu führt uns eine Bewertung von Husserls Begriff des Tran
szendentalen? Ein Kommentator behauptete kürzlich, daß Husserl
während der 1920er und 1930er Jahre „increasingly wide-reaching,
even baroque, in his conception of the transcendental“94 wurde.
Aber anstatt Husserls Verständnis des Transzendentalen barock zu
nennen, wäre es eher angebracht zu erkennen, daß er die Idee des
Transzendentalen einer weitreichenden Transformation unterwor-
fen hat. Wie ich anderswo festgestellt habe, ist Husserls spätere Phä-
nomenologie dadurch charakterisiert, daß er versuchte, die statische
Opposition zwischen dem Transzendentalen und dem Mundanen,
zwischen Konstituierendem und Konstituiertem zu überwinden.95
Vor diesem Hintergrund sollte man beispielsweise diejenigen Aus-
sagen aus den Cartesianischen Meditationen verstehen, die besagen,
daß die Konstitution der Welt eine Mundanisierung des konsti-
tuierenden Subjekts impliziert96 – das heißt, daß die konstitutive
Erfahrung des Subjekts mit der Erfahrung seines eigenen weltlichen
Seins Hand in Hand geht. Tatsächlich behauptete Husserl schließ-
lich, daß die transzendentale Subjektivität sich notwendigerweise
als weltliches Wesen begreifen muß, wenn sie eine objektive Welt
konstituieren möchte, da Objektivität nur von einem Subjekt, das
sowohl leiblich als auch sozialisiert ist, konstituiert werden kann.97
Diese Erkenntnis gewann Husserl nicht erst am Ende seines Lebens.
In einem zwischen 1914 und 1915 geschriebenen Text, der unlängst
94
Dermot Moran, Making Sense. Husserl’s Phenomenology as Transcen-
dental Idealism, in: From Kant to Davidson, 48–74, hier 51.
95
Vgl. Zahavi, Husserl und die transzendentale Intersubjektivität; Dan Za-
havi, Husserl’s Phenomenology, Stanford 2003.
96
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 130.
97
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 130; vgl. Hus-
serl, Ideen III, Husserliana V, 128; Edmund Husserl, Ding und Raum. Vor-
lesungen 1907, Husserliana XVI, hrsg. von Ulrich Claesges, Den Haag 1973,
162.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 97
98
Vgl. Husserl, Transzendentaler Idealismus, Husserliana XXXVI, 133.
99
Vgl. Husserl, Transzendentaler Idealismus, Husserliana XXXVI, 135.
98 Dan Zahavi
Konklusion
Viel mehr könnte gesagt werden, aber ich denke, daß es schon klar sein
sollte, warum ich einen guten Teil der üblichen heideggerianischen
Kritik an Husserl für unbegründet halte. Oftmals wird angenom-
men, Heideggers Kritik an Husserl, wie er sie in persönlichen Brie-
fen, in der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs
und in Sein und Zeit ausdrückte, sei ein privilegiertes, maßgebendes
und endgültiges Urteil über Husserls Phänomenologie. Aber diese
Haltung ist offen gesagt grotesk. Die Interpretation Heideggers
basiert nicht nur auf einer sehr begrenzten textlichen Grundlage – sie
bezieht sich im großen und ganzen nur auf die Logischen Untersu-
chungen und die Ideen I –, es gibt außerdem andere Ursachen dafür,
die Verläßlichkeit dieser Interpretation in Frage zu stellen. Heideg
ger hatte seine eigenen Absichten, und er hatte Gründe, seine eigene
Originalität gegenüber dem alten Lehrer hervorzuheben.101
100
Vgl. Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1966, 331–336.
101
Vgl. Dan Zahavi, How to Investigate Subjectivity. Heidegger and Natorp
on Reflection, in: Continental Philosophy Review 36/2 (2003), 155–176.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 99
102
Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
439–440.
Michael Großheim
Phänomenologie des Bewußtseins oder
Phänomenologie des „Lebens“?
Husserl und Heidegger in Freiburg
1.1 Einleitung
1
Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 241.
2
Letzteres ist aber der Fall in: Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu
seiner Biographie, Frankfurt/New York 1992, 167–179.
3
Vgl. Heidegger, Ontologie, GA 63, 74; Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 38.
102 Michael Großheim
8
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 137, vgl. 231.
An anderer Stelle sucht er den dritten Weg nicht zwischen Mathematik und
Mystik, sondern zwischen „Logistizismus“ und „Gefühlsphilosophie“
(Heidegger, Die Idee der Philosophie GA 56/57, 110; vgl. Heidegger, Herak-
lit, GA 55, 176; Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristo-
teles, GA 61, 38).
9
Vgl. ausführlich: Michael Großheim, Ludwig Klages und die Phänome-
nologie, Berlin 1994.
Husserl und Heidegger in Freiburg 105
10
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena
zur reinen Logik, Husserliana XVIII, hrsg. von Elmar Holenstein, Den Haag
1975, 85.
11
Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17,
101. Vgl. „Der Sorge der Gewißheit kommt es […] primär an auf Gültig-
keit und Verbindlichkeit, das, wovon etwas gültig ist, das Seiende selbst aber,
kommt nicht primär in den Blick, es kommt nicht zu seinem Recht“ (Heid
egger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 281).
12
Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 102.
13
Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 221.
14
Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 90,
vgl. 275.
106 Michael Großheim
15
Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 41.
16
Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 153.
17
Vgl. Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 24; Heidegger, Die Idee der
Philosophie, GA 56/57, 110; Heidegger, Ontologie, GA 63, 71–72; Heid
egger, Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, 186; Heidegger, Anmer-
kungen zu Karl Jaspers, GA 9, 3. Skepsis gegenüber der „Strenge“ der Ma-
thematik auch Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 9.
18
Vgl. Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 3; Heidegger, Phä-
nomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 162–167; Heideg
ger, Der Begriff der Zeit, Vortrag vor der Marburger Theologenschaft Juli
1924, hrsg. von Hartmut Tietjen, Tübingen 1989, 25: „Aber die Angst vor
dem Relativismus ist die Angst vor dem Dasein.“
19
Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 175.
20
Die historische Bedeutung der cartesischen Zweifelsbetrachtung liegt für
Husserl in der Entdeckung der absolut schauenden, selbst erfassenden Evi-
denz. Descartes’ Irrtum habe darin gelegen, seine historische Entdeckung
nicht richtig gewürdigt und sogleich wieder verlassen zu haben: „Wir tun
nichts weiter als reinlich fassen und konsequent weiterführen, was in dieser
uralten Intention schon lag“ (Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenolo-
gie. Fünf Vorlesungen, Husserliana II, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag
1950, 10). Das vom Rätsel der Transzendenz freie Sein der Cogitationes stellt
die gesuchte Sphäre letzter und absoluter Evidenz dar. Zu Descartes’ Be-
deutung für das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz vgl. Husserl,
Husserl und Heidegger in Freiburg 107
Die Idee der Phänomenologie, Husserliana II, 33. Daß Descartes in Husserls
Augen bald darauf wieder in alte Fehler zurückfällt, ändert nichts an dem
grundlegenden Wandel des Stils der Philosophie, der von ihm ausgehe in
Gestalt der „radikalen Wendung vom naiven Objektivismus zum transzen-
dentalen Subjektivismus“ (Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen,
in: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg.
von Stephan Strasser, Den Haag 1950, 46). Vgl. zu Descartes auch Husserl,
Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 47; Husserl, Die Idee der Phäno-
menologie, Husserliana II, 148; Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phä-
nomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phäno-
menologische Untersuchungen zur Konstitution, Husserliana IV, hrsg. von
Marly Biemel, Den Haag 1952, 103; Edmund Husserl, Die Krisis der europäi-
schen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana
VI, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1954, 455; Edmund Husserl, Aufsätze
und Vorträge (1911–1921) Husserliana XXV, hrsg. von Thomas Nenon und
Hans-Rainer Sepp, Dordrecht/Boston/London 1989, 76.
21
Vgl. Heidegger, Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis
Kant, GA 23, 138–140.
22
Vgl. z. B. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 442.
23
Vgl. Otfried Höffe, Ethik als praktische Philosophie, in: Otfried Höf-
fe (Hrsg.), Die Nikomachische Ethik (Klassiker Auslegen 2), Berlin 1995,
13–38, hier 19–30.
24
Aristoteles, Ethica Nicomachea 1094b: (der griechische Text der Niko-
machischen Ethik wird zitiert nach: Aristotelis Ethica Nicomachea, hrsg. von
Ingram Bywater, Oxford 1894. Die deutsche Übersetzung folgt meist der von
Olof Gigon in: Die Nikomachische Ethik, eingeleitet und übertragen von
Olof Gigon, Zürich 1951) „Wir werden uns aber mit demjenigen Grade von
Bestimmtheit begnügen müssen, der dem gegebenen Stoffe entspricht. Denn
man darf nicht bei allen Fragen die gleiche Präzision verlangen, wie man es ja
auch nicht im Handwerklichen tut. […] Es kennzeichnet den Gebildeten, in
jedem einzelnen Gebiet nur so viel Präzision zu verlangen, als es die Natur des
108 Michael Großheim
Gegenstandes zuläßt. Andernfalls wäre es, wie wenn man von einem Mathe-
matiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen und vom Redner zwingende
Beweise fordern würde.“ Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea 1098a.
25
Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17,
103.
26
Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 24.
27
Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, 29.
28
Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, 242.
29
Heidegger, Ontologie, GA 63, 72, vgl. 47.
30
Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 61.
31
Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 181.
32
Vgl. Heidegger, Ontologie, GA 63, 45.
Husserl und Heidegger in Freiburg 109
33
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine
Phänomenologie, Husserliana III, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1950,
239–240.
34
Vgl. z. B. Ulrich Melle, Die Phänomenologie Edmund Husserls als Phi-
losophie der Letztbegründung und radikalen Selbstverantwortung, in: Hans
Rainer Sepp (Hrsg.), Edmund Husserl und die Phänomenologische Bewe-
gung. Zeugnisse in Text und Bild, Freiburg im Breisgau/München 1988,
45–59, hier 48–49. – Husserls eigene Beispiele für Intentionalität: „Ich sehe
einen Baum, der grün ist; ich höre das Rauschen seiner Blätter, ich rieche seine
Blüten.“ „Ich erinnere mich an meine Schulzeit.“ „Ich bin betrübt über die
Erkrankung des Freundes“ (Husserl, Die Krisis der europäischen Wissen-
schaften, Husserliana VI, 236).
35
Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921),
vierte Auflage, Berlin 1949, 108.
36
Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 62.
37
Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Som-
110 Michael Großheim
mersemester 1925, Husserliana IX, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1962,
388; vgl. auch Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil. Kri-
tische Ideengeschichte, Husserliana VII, hrsg. von Rudolf Boehm, Den Haag
1956, 342; Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 20–21.
38
Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kri-
tik der logischen Vernunft, Husserliana XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den
Haag 1974, 392; Husserl, Erste Philosophie, Husserliana VII, 277; Edmund
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß.
Zweiter Teil. 1921–28, Husserliana XIV, hrsg. von Iso Kern, Den Haag 1973,
526.
39
Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, 90. Vgl. Hermann
Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, 218: „Das schwächere
Innenweltdogma beschränkt sich darauf, jedem Bewußthaber eine priva-
te Innenwelt mit obligatorischem Vertreter für jeden ihm zu Bewußtsein
kommenden Gegenstand seiner Außenwelt zu vindizieren; daraus wird das
Immanenzdogma, wenn man – letztlich im Interesse personaler Emanzipa-
tion von den unwillkürlichen Regungen – diese Innenwelt als abgeschlossen
vorstellt und damit das Erleben des Bewußthabers von seiner Außenwelt
absperrt.“
Husserl und Heidegger in Freiburg 111
40
Vgl. Edmund Husserl, Ding und Raum, Husserliana XVI, hrsg. von Ul-
rich Claesges, Den Haag 1973, 139–140.
41
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster
Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis,
Husserliana XIX.1, hrsg. von Ursula Panzer, Den Haag/Boston/Lancaster
1984, 26.
42
Husserl grenzt eine eigene Sphäre der Immanenz unter verschiedenen
Titeln ab, z. B. als „Sphäre absoluter immanenter Gegebenheiten“, „Sphäre
der reinen Selbstgegebenheiten“, „Sphäre reiner Evidenz“ (Husserl, Die Idee
der Phänomenologie, Husserliana II, 43, 60 und 76), „Bewußtseinssphäre“
(Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 68; Husserl, Erste Philosophie, Husser-
liana VII, 144), „immanente Sphäre“ (Husserl, Formale und transzendentale
Logik, Husserliana XVII, 174).
43
Vgl. Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), Husserliana XXV, 35.
44
Edmund Husserl, Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vor-
112 Michael Großheim
haftigkeit ist.45 Das hat Folgen für das Arbeitsfeld des Phänomenolo-
gen: „Wie weit reicht nun der Titel Phänomenologie? Nun offenbar
so weit als die Möglichkeit einer rein immanenten, alle Transzendenz
ausschaltenden Untersuchung reicht“.46 Phänomenologie wird zur
„Wissenschaft vom Bewußtsein in sich selbst“.47 Auch die nachträg-
lichen Kommentare zu seiner Intention in den „Logischen Unter-
suchungen“ stellen das Projekt der Phänomenologie dar, als ob in
seinem Mittelpunkt nur eine Innenweltanalyse in transzendentaler
Einstellung gestanden habe.48 Und um dem Zauberwort „transzen-
dental“ einmal etwas von seinen Nimbus zu nehmen, muß man an
dieser Stelle bemerken: Nicht jede Innenweltpsychologie verfährt
transzendental, aber jede transzendentale Untersuchung setzt eine
Innenwelt voraus.
Als Fazit läßt sich festhalten: Auch wenn Husserl das von ihm
zum wichtigsten Bestandteil des Menschen stilisierte „Bewußtsein“
nicht ausdrücklich als „Innenwelt“ bezeichnet, auch wenn er eine
49
Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 388.
50
Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phä-
nomenologischen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die
Fundamente der Wissenschaften, Husserliana V, hrsg. von Marly Biemel, Den
Haag 1952, 148; Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Hus-
serliana VI, 83; Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil.
Theorie der phänomenologischen Reduktion, Husserliana VIII, hrsg. von
Rudolf Boehm, Den Haag, 1959, 79; Husserl, Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins, Husserliana X, 346; Husserl, Formale und transzendentale
Logik, Husserliana XVII, 260. Die Abgrenzung von der bloßen Reflexion auf
„reines seelisches Innensein“ ist für Husserl wichtig, weil die Verwechslung
mit dieser (aus seiner Sicht) falschen Form der Innenbetrachtung so nahe
liegt. Es gibt hier eine scharfe Konkurrenz zweier verschiedener Ansätze der
Innenweltanalyse.
51
Husserl, Erste Philosophie, Husserliana VIII, 78.
52
Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische
und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Ver-
haltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, achte Auflage,
Frankfurt am Main 1981, Einleitung (1968), IL-LXIV.
53
Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.1, 24.
114 Michael Großheim
Husserl selbst hat erklärt: „Der Problemtitel, der die ganze Phä-
nomenologie umspannt, heißt Intentionalität“.55 Diese Bemerkung
greift Heidegger in seiner Einleitung zu Husserls „Vorlesungen zur
Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“ auf, um sie – ver-
mutlich gegen den Willen des Autors – zuzuspitzen: „Auch heute
noch ist dieser Ausdruck kein Losungswort, sondern der Titel eines
zentralen Problems“.56 Was Heidegger konkret im Auge hat, ist die
in der Philosophie seit langem unauffällig mitschwimmende Innen-
welttheorie. Im Rahmen einer Kritik der Erkenntnistheorie seines
Marburger Kollegen Nicolai Hartmann bezieht er auch das Kon-
zept der Intentionalität mit ein: „Im Sichrichten auf … und Erfassen
54
Vgl. dazu z. B. Hermann Schmitz, „Bewußtsein von etwas“ als leibliches
Geschehen, in: Subjektivität. Beiträge zur Phänomenologie und Logik, Bonn
1968, 1–31, hier besonders 3. Zu Heideggers Auseinandersetzung mit dem
Terminus vgl. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung,
GA 17, 318; Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 424.
55
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 337.
56
Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Husserliana X;
Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), Husserliana XXV.
Husserl und Heidegger in Freiburg 115
geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die
es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart
nach immer schon ‚draußen‘ bei einem begegnenden Seienden der
je schon entdeckten Welt“.57 Eigentlich kennt Heideggers Ansatz
sogar kein „draußen“ mehr, der Ausdruck ist hier vermutlich aus
didaktischen Gründen dem traditionellen Sprachgebrauch entlehnt
und durch Anführungszeichen verfremdet.
Die von Heidegger bekämpfte Innenwelttheorie wird zwar in der
Gegenwartsphilosophie kaum noch offensiv vertreten; das bedeutet
jedoch nicht, daß sie aus dem Repertoire der unthematisiert aner-
kannten Arbeitsvoraussetzungen, geschweige denn aus dem allge-
meinen menschlichen Selbstverständnis verschwunden wäre. Gerade
in der Popular-Philosophie ist sie verbreitet und verwurzelt wie eh
und je. Daher ist die phänomenologische Kritik des Innenweltdog-
mas einer der wichtigsten Beiträge zur aktuellen Anthropologie.
Heidegger ist der erste konsequente Kritiker dieses Motivs. Seine
philosophiegeschichtliche Bildung ermöglicht ihm eine nüchterne
Einordnung von Husserls traditionell angelegtem Bewußtseinsbe-
griff.58 Sein Ziel ist gerade „nicht eine immanente Wahrnehmung in
theoretischer Abzweckung, ausgehend auf Feststellung vorhandener
‚psychischer‘ Vorgangs- und Aktbeschaffenheiten“.59
Weitere Anhaltspunkte bekommt man im Rahmen von Heideg
gers Auseinandersetzung mit Franz Brentanos Intentionalitätsbe-
griff, dem Husserl wichtige Anregungen verdankt. Heidegger rügt
hier vor allem zwei Punkte:
1. die Identifizierung von Intentionalität mit dem Psychischen
2. die an Descartes erinnernde Auffassung des Psychischen im tra-
ditionellen Sinne des immanent Wahrnehmbaren, des immanent
Bewußten.
57
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 62. Zu Heideggers Kritik an Nicolai
Hartmann im besonderen und Innenwelttheorien allgemein vgl. Heidegger,
Sein und Zeit, GA 2, 60 und 62 und die entsprechenden Vorformen Heideg
ger, Einführung in die phänomenologische Forschung GA 17, 318 und Heid
egger, Prolegomena, GA 20, 216 und 221, ferner Heidegger, Sein und Zeit,
GA 2, 33, 202–204 und 366 sowie Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe
der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 204–205.
58
Vgl. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung,
GA 17, 271.
59
Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 31. Überhaupt ist, wenn
Heidegger „Immanenz“ und „Transzendenz“ sagt, von Husserl die Rede
(z. B. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 60–61).
116 Michael Großheim
60
Vgl. Heidegger, Heidegger, Prolegomena, GA 20, 62.
61
Jean-Paul Sartre, Die Transzendenz des Ego, in: Die Transzendenz des
Ego. Philosophische Essays 1931–1939. Deutsch von Uli Aumüller, Traugott
König und Bernd Schuppener. Mit einem Nachwort von Bernd Schuppener,
Reinbek bei Hamburg 1982, 39–96, hier 61.
62
Vgl. z. B. Jean-François Lyotard, Die Phänomenologie (1954), übersetzt
von Karin Schulze, Hamburg 1993, 44: „Diese Pfeife auf dem Tisch wahr-
nehmen, heißt nicht, eine Miniatur-Reproduktion dieser Pfeife im Kopf zu
haben, wie die Assoziations-Psychologie meint, sondern auf den Gegenstand
Pfeife selbst gerichtet zu sein.“
63
Daher auch die Enttäuschung mancher frühen Phänomenologen, wenn
sie im Rückblick über Husserls Wendung nach innen urteilen. Vgl. z. B.
Hedwig Conrad-Martius, Die transzendentale und die ontologische Phäno-
Husserl und Heidegger in Freiburg 117
72
Martin Heidegger/Heinrich Rickert, Briefe 1912 bis 1933 und andere Do-
kumente, hrsg. von Alfred Denker, Frankfurt am Main 2002, 48 (Brief vom
27. Januar 1920).
73
Vgl. Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kri-
tik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920.
74
Ott, Martin Heidegger, 78.
75
Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, 191.
76
Heinrich Rickert, System der Philosophie. Erster Teil. Allgemeine
Grundlegung der Philosophie, Tübingen 1921, 312, vgl. 311 sowie Rickert,
Die Philosophie des Lebens, 5–6, 112.
120 Michael Großheim
77
Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 351.
78
Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 15.
79
Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61,
89.
80
Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61,
82. „Die Tendenz der Lebensphilosophie muß aber doch im positiven Sinne
genommen werden als Durchbruch einer radikaleren Tendenz des Philoso-
phierens, obgleich die Grundlage ungenügend ist“ (Heidegger, Ontologie,
GA 63, 69). „Diese Opposition gegen die Philosophie des Lebens, die von
Rickert ausgegangen ist, beruht von vornherein auf diesem Mißverständnis,
daß sie die kategoriale Problematik der Philosophie bezüglich des Lebens und
die biologische verwechselt. Rickert muß insofern recht gegeben werden, als
die Philosophie des Lebens de facto in ihren Untersuchungen und Resultaten
im Grund nicht zu den kategorialen Strukturen vorgedrungen ist, daß sie
aber der Tendenz nach so etwas im Auge hat“ (Heidegger, Logik. Die Frage
nach der Wahrheit, GA 21, 216).
81
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 46.
Husserl und Heidegger in Freiburg 121
82
Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 111, 118.
83
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 97, 100, 113
und 117.
122 Michael Großheim
84
Martin Heidegger an Elisabeth Blochmann am 15. Juni 1918, in: Mar-
tin Heidegger – Elisabeth Blochmann. Briefwechsel 1918–1969, hrsg. von
Joachim W. Storck, zweite Auflage, Marbach am Neckar 1990, 14.
Husserl und Heidegger in Freiburg 123
85
„Der Grundgedanke meiner Philosophie ist, daß bisher noch niemals die
ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung dem Philosophieren zugrundegelegt
worden ist, mithin noch niemals die ganze und volle Wirklichkeit. […] Aber
der Empirismus ist nicht minder abstrakt. Derselbe hat eine verstümmelte,
von vornherein durch atomistische theoretische Auffassung des psychischen
Lebens entstellte Erfahrung zugrunde gelegt. Er nehme, was er Erfahrung
nennt: kein voller und ganzer Mensch läßt sich in diese Erfahrung einschrän-
ken. Ein Mensch, der auf sie eingeschränkt wäre, hätte nicht für Einen Tag
Lebenskraft!“ (Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur
Philosophie der Philosophie, Gesammelte Schriften (im folgenden: GS),
Band VIII, hrsg. von Bernhard Groethuysen, zweite Auflage, Stuttgart/Göt-
tingen 1960, 171).
86
Vgl. zum Phänomen der Subjektivität bei Husserl und Heidegger aus-
führlich: Schmitz, Husserl und Heidegger.
87
Vgl. z. B. den eben zitierten Brief an Elisabeth Blochmann vom 1. Mai 1919.
88
Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 173.
89
Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 11.
124 Michael Großheim
90
Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 208.
91
Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 99.
92
Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 175.
93
Heidegger, Ontologie, GA 63, 18.
94
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 359.
95
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 25, 33, 61–62, 115 und 172. Gegen
Husserls Fundierungstheorem: Heidegger, Einführung in die phänomeno
logische Forschung, GA 17, 298.
96
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 237; vgl. Heid
egger, Prolegomena, GA 20, 248.
97
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am
Main 1967, 189 (Abschnitt 593).
Husserl und Heidegger in Freiburg 125
98
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 219.
99
Vgl. Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 325.
100
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Zweiter Band. Zweiter Teil.
Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Husser-
liana XIX.2, hrsg. von Ursula Panzer, Den Haag/Boston/Lancaster 1979,
659–660; vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.1, 119.
101
Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.1, 420.
102
Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.2, 558–560;
vgl. Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 307–308; Edmund Husserl, Aufsätze
und Rezensionen (1890–1910), Husserliana XXII, hrsg. von Bernhard Rang,
Den Haag/Boston/London 1979, 276.
103
Vgl. Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 146.
104
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 225–228.
105
Husserl, Logische Untersuchungen, XIX.2, 550–552.
106
Vgl. Heidegger, Ontologie, GA 63, 88–90.
126 Michael Großheim
107
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 114 und 111. Spä-
ter kehrt dieses Muster in etwas eingeschränkter Form wieder, wenn das „ur-
sprüngliche ‚Als‘ der umsichtigen Auslegung“ dem „Als der Vorhandenheits-
bestimmung“ gegenübergestellt wird (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 158).
108
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 96.
109
Vgl. dazu die Details in: Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heid
egger, 6–8.
110
Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 87.
111
Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 59.
112
Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 131.
113
„Theorie“ wird auch als „Sorglosigkeit“ gefaßt; vgl. Heidegger, Phäno-
Husserl und Heidegger in Freiburg 127
118
Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 34–35.
119
Dilthey, Weltanschauungslehre, GS VIII, 171. Vgl. Michael Großheim,
Auf der Suche nach der volleren Realität: Wilhelm Dilthey und Ludwig
Klages. Zwei Wege der Lebensphilosophie, in: Dilthey-Jahrbuch 10 (1996),
161–189.
120
Vgl. Martin Heidegger, „Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heideggers
an seine Frau Elfride 1915–1970, hrsg. von Gertrud Heidegger, München
2005, 57 und 101.
121
Vgl. dazu auch Heidegger/Rickert, Briefe, 52.
122
Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 22.
Husserl und Heidegger in Freiburg 129
123
Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 98.
124
Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen XIX.1, 457; Husserl, Ideen I,
Husserliana III.1, 266–267. – In Heideggers Augen ist es eine „Ungeheu-
erlichkeit“, etwa die Liebe als Bewußtsein-von-etwas zu bezeichnen (Heid-
egger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 59).
125
„Dieselbe Sorge der Gewißheit führt nun dazu, das, was – trotz all dieser
Verklammerung in traditioneller Hinsicht – an Positivem in der Phänomeno-
logie geleistet wurde, in eigentümlicher Weise zu verunstalten: 1. hinsichtlich
der Intentionalität, sofern diese weniger ausdrücklich als unausdrücklich im-
mer als spezifisches theoretisches Sichverhalten gefaßt wird. Charakteristisch
ist, daß Intentionalität in der Übersetzung meist mit Meinen wiedergegeben
wird, daß man vom willentlichen, liebenden, hassenden Meinen usf. spricht.
Durch diese Fixierung schleicht sich eine bestimmte Vorzeichnung der Blick-
richtung für jede intentionale Analyse ein, was ausdrücklich sich dadurch
noch zeigt, daß in der Tat bewußt behauptet wird, daß für jeden intentiona-
len Zusammenhang verwickelter Art das theoretische Meinen das Fundament
bildet, daß jedes Urteil, jedes Wollen, jedes Lieben auf ein Vorstellen fundiert
sei, das überhaupt das Wollbare, das Haß- und Liebbare vorgibt“ (Heidegger,
Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 271). Vgl. zum
„Meinen“ bei Husserl: Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 222.
130 Michael Großheim
126
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 18.
127
Heidegger, Ontologie, GA 63, 80.
128
Der Zusammenhang von Welt und Leben wird gelegentlich auch so ge-
faßt, daß Welt der Gehalt des Lebens sein soll: „Mit der phänomenologischen
Kategorie ‚Welt‘ besprechen wir zugleich, und das ist wichtig, was gelebt
wird, wovon Leben gehalten ist, woran es sich hält“ (Heidegger, Phänomeno-
logische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 86; vgl. Heidegger, Grund-
probleme der Phänomenologie, GA 58, 96; Heidegger, Phänomenologische
Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles, GA 62, 116).
Ausschlaggebender ist jedoch eine breiter ausgeführte Bestimmung von Welt,
die die zweite These zu Heideggers Lebensbegriff stützt.
129
Die Verengung von der allgemeineren „Bedeutsamkeit“ zur engeren „Zu-
handenheit“ zeigt sich auch in den Beispielen. In der lebensphilosophischen
Phase geht Heidegger nicht von einem „Zeugzusammenhang“, sondern von
einem „Lebenszusammenhang“ aus (dem Erlebnis des Sonnenaufgangs für
den Chor der thebanischen Ältesten in Sophokles’ „Antigone“), um diesen
mit dem Phänomen des Sonnenaufgangs für den Astronomen in Kontrast
zu setzen, der ein bloßer Vorgang in der Natur ist (Heidegger, Die Idee der
Philosophie, GA 56/57, 74).
Husserl und Heidegger in Freiburg 131
130
Heidegger, Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant,
GA 23, 21.
131
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 150. Vorher betont Heidegger den „Vor-
rang der Präsenz der Verweisungsganzheit und der Verweisungen vor den in
den Verweisungen sich selbst zeigenden Dingen“ (Heidegger, Prolegomena,
GA 20, 254; vgl. auch Heidegger, Geschichte der Philosophie von Thomas
von Aquin bis Kant GA 23, 24).
132
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 75.
133
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 123, vgl. 334.
134
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 63; vgl. Heidegger, Der Ursprung des
Kunstwerks, GA 5, 30; Georg Simmel, Lebensanschauung, Berlin 1918, 28.
135
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 72.
136
Einzelnes, z. B. ein einzelnes Zeichen ist „nicht ein Ding, das zu einem
anderen Ding in zeigender Beziehung steht, sondern ein Zeug, das ein Zeug-
ganzes ausdrücklich in die Umsicht hebt, so daß sich in eins damit die Welt-
mäßigkeit des Zuhandenen meldet“ (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 80).
132 Michael Großheim
137
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 56, 128, 159, 176 und 204; Heidegger,
Prolegomena, GA 20, 328.
138
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 121.
139
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 242. Entsprechend pejorativ verwendet
Heidegger folgende Ausdrücke: „Kompositum“ (Heidegger, Sein und Zeit,
GA 2, 191, 198; Heidegger, Prolegomena, GA 20, 207), „summatives Resul-
tat“ (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 125, vgl. 48 und 128; Heidegger, GA 20,
329), „summatives Beieinander“ (Heidegger, Grundprobleme der Phänome-
nologie, GA 58, 167), „summatives Mit- oder Nacheinander“ (Heidegger,
Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 22), „bloß Summe“ (Heidegger, Die
Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 412, vgl. 435), „Gesamtsumme“
(Heidegger, Prolegomena, GA 20, 228), „commercium“ (Heidegger, Sein und
Zeit, GA 2, 62 und 132; Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 143
und 289).
140
Aristoteles, Metaphysica 1041b; Aristoteles Metaphysik wird zitiert nach:
Aristotle’s Metaphysics, hrsg. von William David Ross, zwei Bände, Oxford
1924.
141
Vgl. Leibniz, Monadologie, §§ 1–2.
142
Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte,
Werke 12, Frankfurt am Main 1970, 274.
143
Vgl. zu Dilthey: Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwär-
tige Kampf um eine historische Weltanschauung. 10 Vorträge (Gehalten in
Kassel vom 16.IV.–21.IV.1925), in: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992/93), 143–180,
Husserl und Heidegger in Freiburg 133
hier 165; zu Scheler: Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, in:
Wesen und Formen der Sympathie. Die deutsche Philosophie der Gegenwart,
Gesammelte Werke, Band 7, hrsg. von Manfred S. Frings, Bern/München
1973, 7–332, hier 41.
144
Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, 23.
145
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 75, vgl. 112.
146
Vgl. Heidegger, Ontologie, GA 63, 60.
134 Michael Großheim
Wie oben (1.5 und 1.6) gezeigt kann Heidegger sich mit der Ein-
schränkung des phänomenologischen Gegenstandsbereichs auf eine
147
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 219.
148
Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 108.
149
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 68–69; vgl. Heidegger, Prolegomena,
GA 20, 252–253.
Husserl und Heidegger in Freiburg 135
eigens präparierte Region nicht abfinden.150 Diese Kritik hat eine dop-
pelte Stoßrichtung, gegen Husserls Konzentration auf eine bestimmte
Region (das „Bewußtsein“) und gegen seine Phänomenologie der
Präparate (nach aufwendiger Ausschaltung der natürlichen Welt-
zugewandtheit in transzendentaler Einstellung zu untersuchende
Bewußtseinsakte).
Heidegger spielt die Formel „Leben“ auch gegen die philosophi-
sche Arbeit mit Präparaten aus. Wie das gemeint ist, kann man sich an
einer Äußerung der Husserl-Schülerin Gerda Walther klarmachen. Sie
schreibt 1928/29 über die Arbeit ihres philosophischen Lehrers: „In
unermüdlicher Zähigkeit ist Husserl bemüht, alles und jedes in den
Maschen seines ‚reinen Bewußtseins‘ einzufangen, in seiner ‚konsti-
tutiven Phänomenologie‘ in einem Bewußtseins-Koordinatensystem
auch das kleinste Stäubchen des Weltalls in seine Gegebenheitsweise
im ‚reinen Bewußtsein‘ aufzulösen, bis die ganze Welt schließlich im
‚reinen Bewußtsein‘ festgenagelt und geordnet ist, wie die armen auf
Nadeln gespießten Schmetterlinge im Glaskasten eines Sammlers.
Es läßt sich kaum ein konsequenterer Priester des Panrationalismus
denken, als ihn [sic!].“151 Der im Glaskasten aufgespießte Schmetter-
ling bietet dem Erkenntnisinteresse, insbesondere dem an „strenger
Wissenschaft“ ausgerichteten, natürlich sehr gute Möglichkeiten.
Während Husserl dem Sammler gleicht, der sich mit derart fixierten
Präparaten beschäftigt, fordert Heidegger den Wissenschaftler mit
Nachdruck zur Arbeit in der freien Natur auf. Er soll sich so der weit-
aus anspruchsvolleren Gegenständlichkeit widmen, dem lebendigen,
äußerst beweglichen und daher sehr viel schwerer zu beobachtenden
Schmetterling. „Leben“ steht hier also für das reichhaltigere, durch
seine Dynamik aber auch schwerer zu erfassende Material.
Am gleichen Beispiel hat Goethe schon deutlich gemacht, daß
der Präparat-Wissenschaftler vordergründig im Vorteil ist, genauer
betrachtet aber einen hohen Preis zahlen muß: „Mendelssohn und
andre […] haben versucht die Schönheit wie einen Schmetterling zu
fangen, und mit Stecknadeln, für den neugierigen Betrachter festzu-
stecken; es ist ihnen gelungen; doch es ist nicht anders damit, als mit
dem Schmetterlingsfang; das arme Thier zittert im Netze, streifft sich
die schönsten Farben ab; und wenn man es ia unversehrt erwischt, so
stickt es doch endlich steif und leblos da; der Leichnam ist nicht das
150
Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 137.
151
Gerda Walther, Ludwig Klages und sein Kampf gegen den „Geist“, in:
Philosophischer Anzeiger 3 (1928/29), 48–90, hier 51–52.
136 Michael Großheim
ganze Thier, es gehört noch etwas dazu, noch ein Hauptstück, und
bei der Gelegenheit, wie bey ieder andern, ein sehr hauptsächliches
Hauptstück: das Leben, der Geist der alles schön macht.“152
152
Johann Wolfgang von Goethe, An Hetzler den Jüngeren (Straßburg, d.
14. Jul. 1770), in: Briefe der Jahre 1764–1786, Goethes Briefe. Hamburger
Ausgabe, hrsg. von Karl Robert Mandelkow, Band I, München 1988, 110–111,
hier 111.
153
Heidegger legt Wert darauf, „daß Philosophie nicht in allgemeinen ab-
gezogenen Definitionen besteht, sondern immer ein Element der faktischen
Lebenserfahrung ist“ (Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59,
36). „Ausgang sowohl wie Ziel der Philosophie ist die faktische Lebenserfah-
rung“ (Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60,
15). „Philosophie ist historisches (d. h. vollzugsgeschichtlich verstehendes)
Erkennen des faktischen Lebens“ (Heidegger, Phänomenologische Interpre-
tationen zu Aristoteles, GA 61, 2).
Hans-Helmuth Gander
Phänomenologie der Lebenswelt:
Husserl und Heidegger
„Wer heute das Wort ‚Lebenswelt‘ in den Mund nimmt, spricht [wie
Bernhard Waldenfels zutreffend bemerkt] nicht nur die Sprache
Husserls, sondern die Sprache einer Übergangszeit“,1 die bis an die
Schwelle des 20. Jh. zurückreicht. In zahlreichen Studien wurden
inzwischen die begriffsgeschichtlichen Spuren im einzelnen verfolgt
und gesichert. Geprägt wird diese Zeit von der Ende des 19. Jh.
aufblühenden Lebensphilosophie. Zu ihren Repräsentanten zählen
unter anderen Henri Bergson oder auch Wilhelm Dilthey, die die für
die moderne Philosophie konstitutive Wende auf das Subjekt wei-
terentwickeln, und zwar in Richtung eines Erlebnis-Ich. Der damit
verbundene Perspektivenwechsel wird im Begriff der Lebenswelt
mitvollzogen. Das heißt, daß die Welt, die als Kosmos oder Univer-
sum von jeher Thema der Philosophie war, als das Ganze nun bezo-
gen wird auf das Leben. Der Philosophie kommt dabei die Aufgabe
zu, im Erleben als Innewerden des Lebens durch ‚Selbstbesinnung‘
hinter dem Objektivismus der Wissenschaften den Lebenszusam-
menhang aufzudecken. In unterschiedlicher Weise versuchen Hus-
serl und Heidegger mit ihren Konzeptionen einer Phänomenologie
der Lebenswelt, sich dieser Herausforderung zu stellen.
Im ersten Teil der nachfolgenden Überlegungen wird vornehm-
lich im Ausgang von Husserls berühmter Spätschrift Die Krisis der
europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomeno-
logie der Aufweis der Bodenfunktion der Lebenswelt in ihrer wis-
senschaftsbegründenden wie transzendentalphänomenologischen
Funktion rekonstruiert. Rekonstruiert wird dieser Aufweis aller-
dings nur so weit, daß von hier aus Husserls Ansatz einer lebens-
1
Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am Main
1985, 7.
138 Hans-Helmuth Gander
1.
2
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie, Husserliana VI, hrsg. von Walter Biemel,
Den Haag 1954, 49.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 139
3
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 129.
4
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 129.
5
Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 39.
6
Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie
der Logik, redigiert und hrsg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg 1948, 44.
7
Husserl, Erfahrung und Urteil, 44.
8
Husserl, Erfahrung und Urteil, 44.
9
Husserl, Erfahrung und Urteil, 44–45.
140 Hans-Helmuth Gander
der Weg der Erkenntnis „von der Doxa zur Episteme aufzusteigen“10
hat. Doch darf, betont Husserl, „über dem letzten Ziel der Ursprung
und das Eigenrecht der unteren Stufen nicht vergessen werden“.11
Das konstitutive Band zwischen δόξα und ἐπιστήμη besteht darin,
daß die „Welt als Lebenswelt […] vorwissenschaftlich die ‚gleichen‘
Strukturen [hat wie] die objektiven Wissenschaften“.12 Zurecht
wurde darauf verwiesen, daß nur „aufgrund einer gewissen Struk-
turgleichheit zwischen Lebenswelt und idealwissenschaftlichen
Elementarbegriffen […] sich die phänomenologische Herleitung
der objektiven Wissenschaft aus der Lebenswelt bewerkstelligen“13
läßt. So gesehen fungiert für Husserl das ‚lebensweltliche Apriori‘14
als „letzte Kritiknorm für alle faktische Wissenschaft“,15 sofern das
„Wissen von der objektiv-wissenschaftlichen [Welt] in der Evidenz
der Lebenswelt“16 gründet.
Im Sinne des programmatischen Anspruchs seiner transzenden-
talen Phänomenologie kann es für Husserl demnach „bei der Ent-
deckung der Lebenswelt als theoretisches Thema (nämlich der der
objektiven Wissenschaft als Selbstverständlichkeit vorgegebenen
Welt) nicht sein Bewenden haben“.17 Das heißt, Husserl kann für
sich selbst beim Aufweis des Eigenrechts, ja Vorrechts der δόξα
nicht Halt machen. Er kann dies schon darum nicht, weil diese
Entdeckung ihrer Bodenfunktion überhaupt nur vollzogen wer-
den konnte aus einem reflexiven Ansatz heraus, der im vorhinein
bereits die konstitutive Naivität der δόξα überschritten hat. Mit
anderen Worten ist für Husserl die Entdeckung der Lebenswelt in
der Intention, die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlichen
Erkennens aufzuweisen, an ein Wissen geknüpft, das sich diesseits
der wissenschaftlichen wie der alltäglichen Erkennensweisen als ein
Wissen sui generis erweist. In seiner transzendentalen Struktur lei-
10
Husserl, Erfahrung und Urteil, 45.
11
Husserl, Erfahrung und Urteil, 45.
12
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 142.
13
Paul Janssen, Edmund Husserl. Einführung in seine Phänomenologie,
Freiburg/München 1976, 142.
14
Vgl. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
143.
15
Rüdiger Welter, Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer
Erfahrungswelt (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und
Lebenswelt 14), München 1986, 99.
16
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 133.
17
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 463.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 141
18
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 102.
19
Ernst Wolfgang Orth, Phänomenologie der Vernunft zwischen Szientis-
mus, Lebenswelt und Intersubjektivität, in: Ernst Wolfgang Orth (Hrsg.),
Profile der Phänomenologie. Zum 50. Todestag von Edmund Husserl (Phä-
nomenologische Forschungen 22), Freiburg/München 1969, 63–87, hier 80.
142 Hans-Helmuth Gander
überhaupt Erfahrungswelt ist, ist immer früher als die Auslegung des
Reflektierenden“.20 So gesehen bleibt auch der Transzendentalphä-
nomenologe im Vollzug der Reduktion auf das reine Bewußtseins-
leben als konstitutiver Subjektivität einbehalten in den vorgängigen
universalen Welthorizont. Dieser umspannt das gesamte intentionale
Leben und ist als dieser Weltboden nicht außer Geltung zu setzen.
Zu Husserls Grundeinsichten gehört daher, daß „jede weltliche
Gegebenheit Gegebenheit ist im Wie eines Horizontes, daß in Hori-
zonten weitere Horizonte impliziert sind und schließlich jedwedes
als weltlich Gegebene den Welthorizont mit sich führt und nur
dadurch als weltlich bewußt wird“.21 Das Wie der Vorgegebenheit
der Welt wird damit zum phänomenologischen Universalproblem.
Genauer besehen wandelt sich für Husserl das Weltproblem, wie
Eugen Fink betont, in die „Frage nach dem Wesen der transzen-
dentalen Subjektivität, für die letztlich die ‚Welt‘ gilt, und in deren
sich zur Einheit einer universalen Apperzeption gestaltendem Leben
der Weltglauben mit seinem Seinssinn Welt in ständigem Gesche-
hen ist“.22 Wenn Husserl somit das Problem des Seins der Welt
transponiert in den „Relator ‚Vorgegebenheit für ein Subjekt‘“,23
so wird Welt hier der Reduktion auf ein subjekt-unabhängiges An-
sich-sein entzogen. Und aufgrund der intentionalen Verfaßtheit des
Bewußtseins wird Welt zugleich davor bewahrt, lediglich als ein
rein bewußtseinsimmanentes Phänomen zu gelten. Genauer bese-
hen erweist sich, mit Eugen Fink gesprochen, als das „wahre Thema
der Phänomenologie […] weder die Welt einerseits, noch eine ihr
gegenüberzustellende transzendentale Subjektivität andererseits,
sondern das Werden der Welt in der Konstitution der transzenden-
talen Subjektivität“.24
So betrachtet reduziert sich, wie Husserl in den Vorlesungen Erste
Philosophie ausführt, „die reale Welt auf ein Universum von inten-
tionalen Korrelaten von wirklichen und möglichen intentionalen
Erlebnissen meines transzendentalen Ich und ist von diesen als Kor-
20
Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kri-
tik der logischen Vernunft, Husserliana XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den
Haag 1974, 207.
21
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 267.
22
Eugen Fink, Studien zur Phänomenologie 1930–1939 (Phaenomenologica
21), Den Haag 1966, 120.
23
Welter, Der Begriff der Lebenswelt, 57.
24
Fink, Studien zur Phänomenologie 1930–1939, 139.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 143
relat untrennbar“.25 Von daher ist nach Husserl das Subjekt „immer
bei sich selbst, nämlich im abgeschlossenen Kreis seiner eigenen
transzendentalen Subjektivität“.26 Es ist dies im Sinne einer Latenz
immer auch bereits in der natürlichen Einstellung, „wenn es die Welt
erfährt und als Weltkind ihr hingeben ist“.27 Für die explizit „tran-
szendentale […] Einsicht in den subjektiven Grund des Seinssinnes
der Welt“28 ist es daher erforderlich, daß sich das Welt erkennende
Bewußtsein in seiner konstituierenden Leistung als extramundane
transzendentale Subjektivität erkennt. Dies gelingt, wie Husserl
in einer komplexen Operation zeigt, mittels der transzendentalen
Epoché, die die letztfungierende transzendentale Subjektivität rein
als sie selbst in den Blick bringt.
Diese Sphäre letztfungierender transzendentaler Subjektivität
läßt sich als eine solipsistische Sphäre kennzeichnen. Husserl selbst
charakterisiert die transzendentale Phänomenologie als „transzen-
dentale Egologie“.29 Das im Durchgang durch die transzendentale
Reduktion aufgewiesene transzendental reine Ich ist für Husserl
durch „eine einzigartige philosophische Einsamkeit [ausgezeichnet],
die das methodische Grunderfordernis ist für eine wirklich radikale
Philosophie“.30 Daß „alles, was für mich ist, seinen Seinssinn aus-
schließlich aus mir selbst, aus meiner Bewußtseinssphäre schöpfen
kann“,31 dieser Grundsatz behält für Husserl auch im Horizont der
Intersubjektivitätstheorie seine fundamentale Geltung.
In Formale und transzendentale Logik heißt es: „Zuerst und
allem Erdenklichen voran bin Ich. Dieses ‚Ich bin‘ ist für mich […]
der intentionale Urgrund für meine Welt, wobei ich nicht überse-
hen darf, daß auch die ‚objektive‘ Welt, die ‚Welt für uns alle‘ als
25
Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil. Theorie
der phänomenologischen Reduktion, Husserliana VIII, hrsg. von Rudolf
Boehm, Den Haag 1959, 180.
26
Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil, Husserliana VIII, 180.
27
Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil, Husserliana VIII, 180.
28
Janssen, Edmund Husserl, 144.
29
Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil, Husserliana VIII, 174. Vgl. „Als
Phänomenologe bin ich notwendig Solipsist, obschon nicht im gewöhnli-
chen, lächerlichen Sinn, der in natürlicher Einstellung wurzelt, aber eben
doch im transzendentalen.“ (Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil, Hus-
serliana VIII, 174).
30
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
187–188.
31
Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, hrsg. und
eingeleitet von Stephan Strasser, Den Haag 1950, 176.
144 Hans-Helmuth Gander
mir in diesem Sinne geltende, ‚meine‘ Welt ist“.32 Mit der „Welt für
uns alle“ ist bei Husserl hier die transzendentale Vergemeinschaf-
tung des Ich angesprochen, in der ich mich als vom Anderen kon-
stitutiert erfahre. Dieses Konstituiertsein betrifft jedoch nur mich
als vergemeinschaftetes Ich, nicht aber das im Durchgang durch
die phänomenologische Reduktion aufgewiesene transzendentale
Ich, das Husserl in Cartesianische Meditationen als „solus ipse“33
auszeichnet. Mit anderen Worten: auch dadurch, daß die Anderen
und mithin die objektive Welt als transzendentale Phänomene mei-
ner Eigenheitssphäre aufgewiesen werden, bleibt im Entwurf seiner
eigenen Monadologie die Egologie, wie Husserl selbst sagt, „eine
solipsistische Phänomenologie“.34 Bereits 1928 hat Theodor Celms
darauf hingewiesen, daß sich für Husserl Subjektivität zwar nur
als Intersubjektivität realisiert, Husserl aber den Solipsismus nicht
wirklich vermeiden kann. Vielmehr etabliert Husserl in der Mona-
dengemeinschaft das Modell eines „pluralistischen Solipsismus“.35
Das heißt, die ‚einzigartige philosophische Einsamkeit‘, von der
Husserl spricht, universalisiert sich zur Einsamkeit innerhalb einer
transzendentalen Monadengemeinschaft.
Die im Monadenmodell aufscheinende Nähe zu Leibniz verdeut-
licht sich bei Husserl, wenn man sich den Grundgedanken von Leib-
niz vergegenwärtigt. Das bedeutet, daß für Leibniz in der Vielzahl der
gegebenen einfachen Substanzen mit dieser Vielheit eine ebensolche
an verschiedenen Welten gesetzt ist, die selbst jedoch nichts ande-
res sind als perspektivische Ansichten einer einzigen. Das aber heißt
doch, daß in diesem Ansatz von Perspektivität sich die Möglichkeit
der Ansicht von etwas zwar entsprechend der jeweiligen Betrach-
tungshinsicht perspektivisch vervielfacht, aber nicht, wie etwa bei
Nietzsche, perspektivisch auflöst. Für Leibniz wäre eine Auflösung
auch gar nicht möglich, sofern es eine ontologisch fundierte tragende
Ordnung im Sinne einer prästabilierten Harmonie gibt.
Eine solche erfahrungsungebundene Ordnung, wie wir sie bei
Leibniz noch konstatiert finden, ist jedoch nach Kant, und also auch
für Husserl, nicht mehr annehmbar. Von daher liegt bei Husserl die
32
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 243–244.
33
Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana
I, 12.
34
Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil, Husserliana VIII, 176.
35
Theodor Celms, Der phänomenologische Idealismus Husserls und ande-
re Schriften 1928–1943 (Philosophie und Geschichte der Wissenschaft 21),
hrsg. von Juris Rozenvalds, Frankfurt am Main u. a. 1993, 168.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 145
36
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter
Teil 1929–1935, Husserliana XV, eingeleitet und hrsg. von Iso Kern, Den
Haag 1973, 384.
37
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil 1929–
1935, Husserliana XV, 384.
38
In einer Notiz von 1931 heißt es: „Aber ich, in transzendentale Einstel-
lung eintretend und die auslegende Konstruktion der transzendentalen In-
tersubjektivität vollziehend, erkenne die von meinem horizonthaften Sein
erschliessbaren Horizonte meines eigenen Seins und als darin beschlossen
alles für mich erdenklichen Seins und darin auch die horizonthaften Mög-
lichkeiten der bekannten Anderen und die in den unbekannten beschlosse-
nen Möglichkeiten […], also die Implikation der Anderen in mir und die
wechselseitige der koexistenten Anderen in der Weise, wie sie zu verstehen
ist in der Endlichkeit und Subjektivität ihrer Zugänglichkeit.“ (Husserl, Zur
Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil 1929–1935, Husserliana
XV, 384) In der Krisis spricht Husserl von der durch die Phänomenologie
„systematisch zu entfaltenden Einheit der Intentionalität in wechselseitiger
Implikation der Lebensströme der einzelnen Subjekte; was in der naiven
Positivität oder Objektivität ein Außereinander ist, ist von innen gesehen
ein intentionales Ineinander.“ (Husserl, Die Krisis der europäischen Wissen-
schaften, Husserliana VI, 260).
146 Hans-Helmuth Gander
Welt lebend ist. Nun wird diese Welt ihrerseits jedoch im transzen-
dentalen Bewußtsein allererst konstituiert. Husserl selbst erkennt
hierin eine nicht aufzulösende und von ihm so auch angesprochene
„Paradoxie“.39 In ihrer faktischen Notwendigkeit muß diese Para-
doxie daher als Voraussetzung für eine transzendentale Selbsterfas-
sung erkannt werden. Der phänomenologische Zuschauer darf also
nicht als weltenthobenes Subjekt betrachtet werden. Denn das in
natürlicher Einstellung naiv vollzogene Weltleben ist für die tran
szendentale Reflexion der unhintergehbare Ausgangspunkt. Weil
dies so ist, ist der Rückgang auf die Lebenswelt nicht nur im Blick auf
den die Lebensbedeutsamkeit verfehlenden Objektivismus, sondern
ebenso für Husserls Entwurf einer transzendentalen Phänomeno
logie unverzichtbar.
Die im natürlichen Weltleben erfahrene Lebenswelt ist „als erste
elementarste Form tatsächlicher subjektiv-intentionaler Orientie-
rung […] eine kulturelle und anthropologische Tatsächlichkeit“.40
Ihre Analyse – und damit komme ich zum nächsten Schritt meiner
Untersuchung – bestimmt Husserl als Aufgabe einer lebensweltli-
chen Ontologie. In der Krisis-Schrift heißt es dazu, daß die Lebens-
welt „ohne alles transzendentale Interesse, also in der ‚natürlichen
Einstellung‘ (transzendentalphilosophisch gesprochen: der naiven
vor der Epoché), zum Thema einer eigenen Wissenschaft – einer
Ontologie der Lebenswelt rein als Erfahrungswelt […] werden“41
kann.
Für Husserl, dem die Erfahrungswelt die „in wirklicher und
möglicher erfahrenden Anschauung einheitlich und konsequent ein-
stimmig anschaubare […] Welt“42 ist, hat die Lebenswelt in all ihren
Relativitäten einzig als Wahrnehmung „ihre allgemeine Struktur, an
die alles relativ Seiende gebunden ist“.43 Da diese selbst nicht mehr
relativ ist, schreibt sie damit verbindlich die Ordnung der Welt als
raum-zeitliche fest. Darin aber erweist sich die Lebenswelt für Hus-
serl, und zwar ungeachtet aller konkreten soziokulturellen Unter-
schiede, als ein und dieselbe für alle Menschen. Das heißt, es gibt
mit der kategorialen Ordnung von Raum und Zeit, wie Husserl es
39
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil 1929–
1935, Husserliana XV, 438.
40
Orth, Phänomenologie der Vernunft zwischen Szientismus, Lebenswelt
und Intersubjektivität, 81.
41
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 176.
42
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 176.
43
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 142.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 147
44
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 107.
45
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 107.
46
Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 25.
148 Hans-Helmuth Gander
47
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchun-
gen zur Konstitution, Husserliana IV, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag
1952, 34.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 149
2.
48
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 71.
49
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 71.
50
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 71.
51
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 75.
150 Hans-Helmuth Gander
sung in sich selbst“52 hat. Denn im Erleben offenbart sich mir sein
Bedeutungscharakter unmittelbar und gleichsam in einem Schlage.
Das im Kontext des Kathedersehens angesprochene Als nennt
Heidegger an anderer Stelle bezeichnenderweise „das ‚Als‘ der
Bedeutsamkeit“.53 Dieses Als der Bedeutsamkeit ist ein, wie er sagt,
„notwendig immer situationsentwachsenes historisches“.54 Das so
bestimmte Strukturmoment bezeichnet in diesen frühen Vorlesun-
gen nichts anderes als jenes bekannte hermeneutische Als, das in
Sein und Zeit im Unterschied zum apophantischen Als von Heideg
ger als Konstituens der fundamentalen vortheoretischen Seinsweise
der Auslegung, in der sich der Mensch ja beständig bewegt, zum
Aufweis gebracht wird. Entscheidend ist für Heidegger hierbei, daß
jegliches vorprädikative schlichte Sehen von Dingen selbst immer
schon verstehend-auslegend ist. Daß und wie vom Auslegenden her
das Auszulegende in seinen Verweisungsbezügen vorverstanden sein
muß, um sich in seiner Dienlichkeit zu erschließen, präzisiert der
frühe Heidegger im gewählten Beispiel des Kathedersehens mit dem
Mittel einer Selbstanfrage. In ihrem Gefolge wird das umweltlich
erlebende Ich in den sein auslegendes Verstehen allererst konstitu-
ierenden Möglichkeiten offengelegt. Heidegger fragt sich, ob dieses
‚Erfassen des Katheders in einem Schlag‘ nur unter der Voraussetzung
einer Teilhabe an der eigenen akademischen Lebensform möglich ist.
Den Einwand stützt er durch den Hinweis auf einen Schwarzwald-
bauern, der den Hörsaal betreten könnte, ohne zu wissen, daß dies
da ein Katheder ist bzw. so heißt. Heidegger verschärft den Blick-
winkel noch, indem er einen Senegalesen assoziiert, der unversehens
aus seiner Hütte in den Hörsaal versetzt, dem Katheder in völliger
Unkenntnis seiner Dienlichkeit gegenüberstünde.
Bei diesen Beispielen geht es Heidegger darum, zu zeigen, daß
auch eine mangelnde oder gar fehlende Vertrautheit mit dem aka-
demischen Lebenszusammenhang nicht dazu führt, daß anstelle
des Katheders einzig Farbkomplexe und Flächen gesehen werden.
Denn auch der Schwarzwaldbauer sieht nach Heidegger den vor ihm
befindlichen „Gegenstand als mit einer Bedeutung behaftet“.55 Er
sieht nämlich, wie Heidegger betont, „den Platz für den Lehrer“.56
52
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 91.
53
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 114.
54
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 114.
55
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 71.
56
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 71.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 151
Und auch der hier von Heidegger als Beispiel des Exotisch-Fremden
zitierte Senegalese sieht das Katheder entsprechend der apriorisch
existenzialen Auslegung nicht als bloßes Etwas, sondern aller Wahr-
scheinlichkeit nach „als ein Etwas, ‚mit dem er nichts anzufangen
weiß‘“.57 Das aber heißt, daß so individuell und sogar grundverschie-
den das auffassende Sehen von so etwas wie einem Katheder ausfal-
len mag, so eignet doch dem umweltlichen Erleben immer schon
ein „bedeutungshaftes Moment“.58 Wichtig zu beachten ist, daß
dieses ‚bedeutungshafte Moment‘ nicht als ein dem erstgegebenen
Gegenstand zusätzlich aufgelagerter Bedeutungscharakter begriffen
werden darf.
Von hier aus formuliert Heidegger die Grundeinsicht, daß das
„Bedeutungshafte des ‚zeuglichen Fremdseins‘ und das Bedeutungs-
hafte ‚Katheder‘ […] ihrem Wesenskern nach absolut identisch“59
sind. Das dergestalt identisch Bedeutungshafte hat seinen Wesens-
kern im Potential seiner das Umweltliche konstituierenden Bedeut-
samkeit. Bedeutsamkeit ist demnach die formale Struktur allen
umweltlichen Erlebens. Da Bedeutsamkeit immer Bedeutsamkeit
von etwas Bedeutsamem für jemanden ist, gibt sie sich im Bezug
auf den umweltlich Erlebenden entweder wie im Beispiel des Kathe-
ders für den Professor erschlossen oder im Blick auf den Senegale-
sen verschlossen. Damit kommt ein weiterer entscheidender Aspekt
zum Tragen. Denn im Aufweis des unterschiedlich gearteten bedeu-
tungshaften Momentes konturiert sich als erkenntnisfundierender
wie verhaltensregulierender Aspekt jetzt die Differenz der Bedeut-
samkeit als Unterschied der Lebenswelten. In diesem Sinne ist also
die Lebenswelt in sich immer schon zugleich plural und kontingent
verfaßt und als diese kulturelle Sinnbezugsvielfalt durch und durch
historisch bestimmt. Dabei ist es die jeweils konkrete Lebenswirk-
lichkeit, die in ihrer Bedeutsamkeit die Sinnerschlossenheit des
jeweiligen Umwelterlebens konstituiert.
Auf der Ebene des Beispieles heißt das, daß der Senegalese aus
seinem eigenen nichtwissenschaftlich geprägten geschichtlichen
Erfahrungshorizont heraus, innerhalb dessen sich seine Deutungs-
kategorien ausbilden, wesensmäßig das Katheder nicht als ein sol-
ches zu begreifen vermag. Die wissenschaftliche Lebenswelt bleibt
auf der Ebene des gewählten Beispiels in ihren Bedeutungszu-
57
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 72.
58
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 72.
59
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 72.
152 Hans-Helmuth Gander
60
Wilhelm Dilthey, Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der
Gesellschaft und der Geschichte, Ausarbeitung und Entwürfe zum zweiten
Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1870–1895), Gesammelte
Schriften (im folgenden: GS), Band XIX, hrsg. von Helmut Johach und Frith-
jof Rodi, Göttingen 1982, 23.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 153
61
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 166.
154 Hans-Helmuth Gander
62
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 258.
63
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 258.
64
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 208.
65
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 258.
66
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 210.
67
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 62.
68
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 165.
69
Dilthey, Grundlegung der Wissenschaften, GS XIX, 349.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 155
70
Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 208.
71
Heidegger, Wegmarken, GA 9, 35.
72
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 260.
73
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 261.
74
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 261.
75
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 261.
156 Hans-Helmuth Gander
des Selbst zugleich jenen Punkt aufgewiesen, von wo aus „der Sinn
der [geschichtlich kulturellen] Wirklichkeit in allen Schichten des
Lebens“76 verständlich wird.
Beim frühen Heidegger selbst findet sich über diese Anzeige hin-
aus allerdings keine weitere anthropologisch forcierte Analyse der
geschichtlich kulturellen Wirklichkeit als dem faktisch historischen
Gestaltungsraum der Selbstbestimmung des Menschen. Offen bleibt
demnach die Frage, in welcher Weise dieses Mich-selbst-haben kon-
kretisiert werden kann, um sich darin als gelingend identisches Selbst
zu gestalten. Um aber diese Frage beantworten zu können, wäre es
nötig, das in formal ontologischer Anzeige vergewisserte Situation-
sein des Menschen auf jene Entscheidungssituationen hin zu kon-
kretisieren, die im Ansatz darin die Situation als historisch kulturell
und im Sinne etwa von Charles Taylor auch als moralisch bestimmte
Dimension entwickeln.
Was bei Heidegger eigentümlich leer bleibt, gewinnt demgegen-
über bei Husserl eine klarere Kontur, wenn man seinen Kulturbe-
griff etwas näher betrachtet. Ausgang hierzu bietet die im ersten Teil
bereits exponierte Annahme Husserls, daß eine konkrete Lebens-
welt immer eine Kulturform ist. Mit anderen Worten erweist sich
Kultur als die Wirklichkeit des Menschen, in der er als interagie-
rendes Wesen mit Seinesgleichen zusammenlebt. Als europäische,
und das heißt für Husserl neuzeitlich wissenschaftlich technische
Kultur, ist diese Kultur in die Krise geraten. Europäisch in diesem
Sinne, also nicht geographisch zu nehmen, sondern im Sinne der
wissenschaftlich-technischen Kultur zu fassen, zeigt an, daß jene
kulturelle Entwicklung, die in Europa ihren Ausgang nahm, spä-
testens mit dem weltumspannenden Prozeß der Industrialisierung
zu einem globalen Ereignis geworden ist, in dem das geographische
Europa selbst nur noch eine Stimme unter vielen anderen darstellt.
Als Krise aber birgt sie für Husserl, wie es in den Kaizo-Artikeln
von 1924 heißt, zugleich in sich die Chance bzw. das Ziel zu einer
‚Erneuerung der Kultur‘ beizutragen. Kultur bestimmt Husserl als
„den Inbegriff der Leistungen, die in den fortlaufenden Tätigkeiten
vergemeinschafteter Menschen zustande kommen und die in der
Einheit des Gemeinschaftsbewußtseins und seiner forterhaltenden
Tradition ihr bleibendes geistiges Dasein haben“.77
76
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 261.
77
Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937), Husserliana XXVII,
hrsg. von Thomas Neuon und Hans Rainer Sepp, Dordrecht 1989, 21.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 157
Mit dem Begriff des geistigen Erbes deutet sich an, daß für Hus-
serl Kultur nicht allein der „Inbegriff anschaulicher und zugleich
immanent sinnhafter menschlicher Wirklichkeiten“78 ist. Vielmehr
begreift Husserl im Verweis auf das geistige Erbe Kultur noch in
einem zweiten Sinn und das heißt als „höchstes Norm- und Selbst-
Bewußtsein, in welchem die Kultur ihre eigene Wirklichkeit […]
auf den Begriff bringt.“79 In diesem Sinne heißt es im dritten Kaizo-
Artikel, daß „das handelnde Leben einer Gemeinschaft, einer gan-
zen Menschheit […] die Einheitsgestalt praktischer Vernunft, die
eines ‚ethischen‘ Lebens annehmen [kann]. Das aber in wirklicher
Analogie zum ethischen Einzelleben verstanden. Ebenso wie dieses
wäre es also ein Leben der ‚Erneuerung‘ aus dem eigenen Willen
heraus geboren, sich selbst zu einer echten Menschheit im Sinne
praktischer Vernunft, also ihre Kultur zu einer ‚echt humanen‘ Kul-
tur zu gestalten“.80 Dieses Kulturideal findet sich auch am Ende der
Krisis-Schrift formuliert, wenn Husserl mit Blick auf die „Unend-
lichkeit des Lebens und Strebens auf Vernunft“81 hin betont, daß
„Vernunft [als das Spezifische des Menschen als in personalen
Aktivitäten und Habitualitäten lebendes Wesen] gerade das besagt,
worauf der Mensch als Mensch in seinem Innersten hinaus will“.82
So betrachtet kann Husserl im Entwurf seiner Phänomenologie der
Lebenswelt hervorheben, daß „Menschsein ein Teleologischsein
und Sein-sollen ist und diese Teleologie in allem und jedem ichli-
chen Tun und Vorhaben waltet“.83 Was Husserl hier als ethisches
Ziel seiner Phänomenologie der Lebenswelt propagiert, ist, wie
er selbst sagt, die „Idee der Autonomie, [also die] Idee einer Wil-
lensentschiedenheit, sein gesamtes personales Leben zur syntheti-
schen Einheit eines Lebens in universaler Selbstverantwortlichkeit
zu gestalten“.84
78
Ernst Wolfgang Orth, Edmund Husserls ‚Krisis der europäischen Wis-
senschaften und die transzendentale Phänomenologie‘. Vernunft und Kultur,
Darmstadt 1999, 143.
79
Orth, Edmund Husserls ‚Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie‘, 143.
80
Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937), Husserliana XXVII, 22.
81
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 275.
82
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 275.
83
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
275–276.
84
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 272.
158 Hans-Helmuth Gander
Was von Husserl hier als Kulturideal formuliert wird, ist eine
Form von Lebenswelt höherer Stufe. Für diese gilt, daß in ihr
der Glaube an die Vernunft die Kultur prägt und bestimmt. Es ist
aber nicht eine lediglich szientifische Vernunft, eine technologisch
geprägte Rationalität, die hier intendiert ist. Denn der von Husserl
geforderte universale Glaube an die Vernunft hat sein Fundament
darin, daß die Kultur als höhere Stufe der Lebenswelt darum weiß,
daß ihr eigenes Telos nichts anderes als eben die Vernunft selbst ist,
die sich im konkreten Vollzug als universaler Vernunftglaube eta-
bliert und damit selbst in die Verantwortung für die Welt nimmt.
Wirksam entfalten kann sich diese Verantwortung, wenn der phä-
nomenologische Rückgang auf die Lebenswelt deren Lebensbedeut-
samkeit als notwendige Voraussetzung für eine höhere menschliche
Lebensform erschließt. Damit aber erschließt eine Phänomenologie
der Lebenswelt jenen moralischen Raum, in dem die philosophische
Selbstbesinnung aus der „Idee einer Willensentschiedenheit, sein
gesamtes personales Leben zur synthetischen Einheit eines Lebens
in universaler Selbstverantwortlichkeit zu gestalten“85 heraus, jenen
neuen Begriff von Vernunft ausarbeitet, der nach Husserl aus der
gegenwärtigen Krise herausführt. Für dieses Konzept einer lebens-
bedeutsamen Vernunft ließe sich, ohne daß dies hier nun noch weiter
ausgeführt werden könnte, auch Heideggers Entwurf einer herme-
neutischen Lebensweltphänomenologie öffnen, mindestens in dem
Bereich, den Heideggers frühe Vorlesungen als die Dimension einer
Hermeneutik der Faktizität erschließen.
85
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
272.
Mario Ruggenini
Die Zukunft der Phänomenologie
Zwischen der Sinngebung der Subjektivität
und dem Fragen nach der Wahrheit
1
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 21–22.
160 Mario Ruggenini
ἐποχή und die transzendentale Reduktion sind bei Husserl die bei-
den Momente einer Strategie der Enthüllung des Verdeckten, das
heißt, des Subjekts als des transzendentalen Prinzips der universalen
Sinngebung, während bei Heidegger die Voraussetzung als Ansatz
gilt, daß es eine Frage nach dem Sein und nicht direkt nach dem Sei-
enden gibt, weil zwischen Sein und Seiendem eine Differenz besteht,
die zu entdecken und in Geltung zu setzen ist. In beiden Fällen ist
die Frage, ob die Entwicklung, die dem Ansatz folgt, die Voraus-
setzung rechtfertigen kann (aber zugleich muß die Rechtfertigung
selbst erläutert werden).
Was Husserl betrifft, erweist sich die ‚natürliche Einstellung‘ des
phänomenologischen Bewußtseins als das vorgängige Moment einer
unmittelbaren Besinnungslosigkeit, eine Art notwendig vorausge-
hende Unwissenheit, in der das Bewußtsein sich noch nicht verlo-
ren hat, obwohl es sich auch noch nicht finden kann. Eine solche
Situation drückt Husserls wiederholte Charakterisierung der ‚natür-
lichen Einstellung‘ als ursprüngliche Naivität, fast als verzauberte
Verwunderung vor dem unmittelbaren Erscheinen der Welt, aus.
Das Bewußtsein kann sich nur um die Welt kümmern, ohne daß
dieser ‚natürliche‘ Vorzug der Welt den ausdrücklichen Irrtum einer
absoluten Setzung der Wirklichkeit zum Schaden des Bewußtseins
selbst schon einschließt. Was Husserl ausdrücklich in Betracht zieht,
ist, daß die ‚natürliche Einstellung‘ die „Generalthesis“ enthält, „ver-
möge deren die reale Umwelt beständig […] als daseiende ‚Wirklich-
keit‘ bewußt ist“,2 aber nicht die „philosophische Verabsolutierung
der Welt“.3 Letztere sei vielmehr ein „philosophischer Widersinn“,
der nur dann entsteht, wenn man über den letzten Sinn der Welt zu
philosophieren meint, ohne dabei zu bemerken, daß „die Welt selbst
ihr ganzes Sein als einen gewissen ‚Sinn‘ hat, der absolutes Bewußt-
sein, als Feld der Sinngebung, voraussetzt“.4
Die „Generalthesis“ als solche „kann […] nie widersinnig
werden“,5 aber entweder kann man ihre völlige Hingabe an die
Wirklichkeit der Welt im Sinne eines realistischen Dogmatismus
2
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie, Husserliana III.1, hrsg. von Karl Schuhmann, Den
Haag 1976, 62.
3
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 120.
4
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 120–121 (Hervorhebung durch den
Verfasser). Die Paragraphen 30 bis 55 sind für diese Betrachtungen besonders
zu berücksichtigen.
5
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 120.
Die Zukunft der Phänomenologie 161
6
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 599–600.
7
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 106.
162 Mario Ruggenini
lung eingeführt hat. Nur für diese naive Einstellung gilt das Sein als
das Erste aufgrund einer direkten Erfahrung, die keine Rücksicht auf
sein Erleben hat. Das natürliche Bewußtsein kann aber nicht das Sein
als das Erste ausdrücklich setzen, ohne seine Naivität zu verlieren
und ins Widersinnige zu geraten. „An sich“ bleibt das Bewußtsein
das Erste, auch wenn es seinen Vorrang hinsichtlich des Seins, das
von ihm intentional konstituiert wird, noch nicht entdeckt hat.
Auf dem Wege der Reduktion und der Konstitution, nämlich der
universalen Sinngebung, hat die Phänomenolgie ihre Ontologie
gefunden, die aber jede Alterität auflöst, sie scheint, was diese Sinn-
gebung angeht, keine Grenze anerkennen zu können. „Die Phäno-
menologie als Wissenschaft von allen erdenklichen transzendentalen
Phänomenen […] ist eo ipso apriorische Wissenschaft von allem
erdenklichen Seienden […], von dem Seienden überhaupt, als wie
es seinen Seinssinn und seine Geltung aus der korrelativen inten
tionalen Konstitution schöpft.“8 Die unerbittliche Folge, die Husserl
ohne Zögern zieht, ist, die transzendentale Subjektivität selbst in den
Bereich des konstituierten Seienden miteinzuschließen. In der Tat
fügt Husserl unmißverständlich hinzu: „Das befaßt auch das Sein der
transzendentalen Subjektivität selbst, deren erweisbares Wesen es ist,
transzendental in sich und für sich konstituierte zu sein.“9
Kann es sich auch in diesem Fall um eine intentionale Konstitu-
tion handeln, wie sie im Fall von Dingen und von anderen Personen
gegeben ist. Und wenn nicht, wie kann es möglich sein, die Diffe-
renz der konstituierenden Subjektivität zu allem von ihr Konstitu-
ierten zu sichern? Der Begriff der Konstitution, so wie ihn Eugen
Fink als ‚operativen‘ in seiner von Husserl nicht erklärten Funk-
tion bestimmt hat,10 zeigt, wie eng die Verbindung der phänome-
nologischen Ontologie Husserls mit der überlieferten Ontologie
8
Edmund Husserl, Der Encyclopaedia Britannica Artikel (vierte, letzte
Fassung), in: Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, hrsg. von
Walter Biemel, Den Haag 1962, 277–301, hier 296–297.
9
Husserl, Der Encyclopaedia Britannica Artikel (vierte, letzte Fassung),
Husserliana IX, 297.
10
Vgl. Eugen Fink, Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie, in:
Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hrsg. von
Franz-Anton Schwarz, Freiburg im Breisgau/München 1976, 180–204.
Die Zukunft der Phänomenologie 163
11
Edmund Husserl, Aus dem Schlußteil der dritten Fassung des Encyclopa-
edia Britannica Artikels (Beilage XXX), in: Phänomenologische Psychologie,
Husserliana IX, 519–526, hier 519.
12
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 601.
13
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 601
14
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 601 (Hervorhebung durch den
Verfasser).
15
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 600.
16
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 600.
17
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 600.
164 Mario Ruggenini
[ist], der doch die volle Bestimmtheit dieses Seins nur als unendliche
‚Idee‘ zugänglich macht.“ 18
In Wahrheit ist die Schwierigkeit eine doppelte, weil sie von der
Struktur der Apodiktizität erzeugt wird, die, erstens, von Husserl
in seinem Absolutismus unerklärt bleibt (dazu gibt es neue ein-
schränkende Erläuterungen in den Cartesianischen Meditationen)
und, zweitens, diese Apodiktizität, in solchem exklusiven egologi-
schen Sinne verfaßt, die Konstitution der ‚Monaden-Gemeinschaft‘
sehr problematisch macht, mit der Husserl seinen Absolutismus
der Subjektivität ergänzen möchte. Total verkehrt ist für ihn die
methodische Idee, die ein direktes „Hineinspringen in die transzen-
dentale Intersubjektivität“19 als berechtigt erklärt, weil im Gegen-
teil das „ego meiner Epoché […] seine Einzigkeit und persönliche
Undeklinierbarkeit“20 nicht übersprungen werden kann. Es ist nur
mein Ego, das „sich […] für sich selbst transzendental deklinier-
bar macht; [das] also von sich aus und in sich die transzendentale
Intersubjektivität konstituiert, der es sich dann zurechnet, als bloß
bevorzugtes Glied, nämlich als Ich der transzendentalen Andern.“21
Die absolute Egologie Husserls drückt hier auf radikalste Weise die
moderne Idee aus, die von Descartes stammt und von der nachfol-
genden Philosophie der ἐποχή umfassend geteilt wurde, indem sie
das Ich als Grundprinzip zur Erneuerung des Denkens versteht.
In diesem Radikalismus gibt es sicher die Größe eines Abschlus-
ses, der einen neuen Anfang öffnen kann. Dank Husserls Intentio-
nalität wird das Thema der Intersubjektivität auf die transzendentale
Konstitution der Welt entschieden ausgerichtet, aber die streng ego-
logische Struktur der Apodiktizität schließt jede wirkliche Gegen-
seitigkeit prinzipiell aus. Wenn ich allein das „ego meiner Epoché“
bin, das heißt, sofern ἐποχή und Reduktion die ganz private Sache
jeder Selbstkonstitution sind, dann bin ich und bleibt jedes Ich für
sich selbst das undeklinierbare ‚Ur-Ich‘ der universalen Sinngebung.
Die kooperative Teilnahme der Anderen kommt immer zu spät, nur
indem „das immerfort einzige Ich […] eine erste Gegenstandssphäre,
die ‚primordiale‘, konstituiert […], durch die eine intentionale
18
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 601.
19
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie, Husserliana VI, hrsg. von Walter Biemel,
Den Haag 1954, 188.
20
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 188.
21
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
188–189.
Die Zukunft der Phänomenologie 165
22
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 189.
23
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 189
(Hervorhebung durch den Verfasser).
24
Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kri-
tik der logischen Vernunft, Husserliana XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den
Haag 1974, 279.
25
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 279.
26
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 279–280.
27
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 280.
166 Mario Ruggenini
Und was bedeutet der Andere nach dieser Erklärungen und dem
Wortsinn nach? Die Frage wird von Husserl gestellt und die Ant-
wort lautet: „alter sagt alter-ego, und das ego, das hier impliziert ist,
das bin ich selbst […] (als primordinaler Mensch) als personales Ich
unmittelbar waltend in meinem, dem einzigen Leib […]; im übrigen
Subjekt eines konkreten intentionalen Lebens“.29 Husserl konzipiert
die Idee einer „mittelbaren Intentionalität“,30 die, die Fremderfah-
rung als analogische Apperzeption und „Appräsentation“31 genannt,
den „Schritt zu dem Anderen“32 vollziehen kann, einem Anderen,
der den „Sinn Mensch“33 bekommen muß. Das Ergebnis dieser
besonderen intentionalen Operation muß sein, daß „der Andere […]
selbst leibhaftig vor uns da“34 stehe. Husserl aber erklärt: „Ande-
rerseits hindert diese Leibhaftigkeit nicht, daß wir ohne weiteres
zugestehen, daß dabei eigentlich nicht das andere Ich selbst […]
zu ursprünglicher Gegebenheit komme.“35 Nicht seine Erlebnisse,
28
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 281. Das
Logik-Werk hatte erklärt: „Das subjektive Apriori ist es, das dem Sein von
Gott und Welt und allem und jedem für mich, den Denkenden, vorangeht.
Auch Gott ist für mich, was er ist, aus meiner eigenen Bewußtseinsleistung,
auch hier darf ich aus Angst vor einer vermeinten Blasphemie nicht wegse-
hen, sondern muß das Problem sehen. Auch hier wird wohl, wie hinsichtlich
des Alterego, Bewußtseinsleistung nicht besagen, daß ich diese höchste Tran-
szendenz erfinde und mache.“(Husserl, Formale und transzendentale Logik,
Husserliana XVII, 258) Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen
und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg. und eingeleitet von Stephan Stras-
ser, Den Haag 1950, 116–121.
29
Husserl, Cartesianische, Husserliana I, 140.
30
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 138.
31
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 139.
32
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 138.
33
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 138.
34
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 139.
35
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 139.
Die Zukunft der Phänomenologie 167
nicht seine Erscheinungen selbst, nichts von dem, was seinem Eigen-
wesen selbst angehört, kann ich als ursprüngliche Erfahrung haben.
„Wäre das der Fall, wäre das Eigenwesentliche des Anderen in
direkter Weise zugänglich, so wäre es bloß Moment meines Eigen-
wesens, und schließlich er selbst und ich selbst einerlei.“36 Die sich
ergebende „ursprüngliche Paarung“37 von Ego und Alterego bringt
deshalb mit sich, „daß das vermöge jener Analogisierung Apprä-
sentierte nie wirklich zur Präsenz kommen kann, also zu eigentli-
cher Wahrnehmung“.38 Der Andere ist also „phänomenologisch als
Modifikation meines selbst“ zu apperzipieren, „doch nicht einfach
als Duplikat meiner selbst, also mit meiner und einer gleichen Ori-
ginalsphäre, darunter mit den räumlichen Erscheinungsweisen, die
mir von meinem Hier aus eigen sind, sondern […] mit solchen, wie
ich sie selbst in Gleichheit haben würde, wenn ich dorthin ginge
und dort wäre. […] Mein primordinales ego [konstituiert] das für
es andere ego durch eine appräsentative Apperzeption […], die
ihrer Eigenart gemäß nie Erfüllung durch Präsentation fordert und
zuläßt.“39 Das Argument der phänomenologischen Analyse ist also,
daß das andere ego ich selbst „im Modus Dort“40 bin, und daraus
der merkwürdige Schluß gezogen wird, daß „nach diesen Aufklä-
rungen […] es also kein Rätsel mehr [ist], wie ich in mir ein anderes
Ich, und radikaler, wie ich in meiner Monade eine andere Monade
konstituieren und das in mir Konstituierte eben doch als Anderes
erfahren kann“.41 Die transzendentale Intersubjektivität als „offene
Monadengemeinschaft“42 ist „in mir, im meditierenden ego, rein aus
Quellen meiner Intentionalität für mich konstituiert, aber als solche,
die in jeder in der Modifikation Anderer konstituierten als dieselbe,
nur in anderer subjektiver Erscheinungsweise konstituiert ist, und
konstituiert als dieselbe objektive Welt notwendig in sich tragend.“43
Die ‚Krisis‘ erklärt, „daß jedes transzendentale Ich der Intersubjekti-
vität (als Welt […] mitkonstituierendes) notwendig als Mensch in der
Welt konstituiert sein muß, daß also jeder Mensch ‚ein transzenden-
36
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 139.
37
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 142.
38
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 142.
39
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 146–148.
40
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 146.
41
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 154.
42
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 158.
43
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 158.
168 Mario Ruggenini
tales Ich in sich trägt‘“.44 So kann jeder, der den Weg der ἐποχή und
der Reduktion gegangen ist, „sein letztes, in all seinem menschlichen
Tun fungierendes Ich erkennen“.45
Diese Darstellung der Intersubjektivität als Monadengemein-
schaft scheint höchst spekulativ und zu optimistisch, fast ein Rück-
fall in die Metaphysik des deutschen Idealismus, der Preis in der
Tat, den Husserl für seinen Neucartesianismus der Apodiktizität
bezahlen muß. Der Schritt zum Anderen scheitert, weil er gestehen
muß, daß der Andere unzugänglich bleibt: „Die Appräsentation
[gibt] das originaliter Unzugängliche des Anderen“,46 und „fremder
Leibkörper und fremdes waltendes Ich“ sind nur „in der Weise einer
einheitlichen transzendierenden Erfahrung gegeben“.47 Am Anfang
seiner Analyse der Fremderfahrung hat Husserl eingeräumt, wie
schon gesehen, daß die leibhaftige Präsenz des Anderen „nicht das
andere Ich selbst […] zu ursprünglicher Gegebenheit kommen“ läßt.
Dieses Zugeständnis bedeutet, daß der andere meiner prinzipiellen
Möglichkeit, ihn als meinen Anderen zu konstituieren, Widerstand
leistet, das heißt, daß seine Andersheit nicht reduzierbar ist. Damit
ist aber eine Transzendenz eingeführt, die die Tragweite der phäno-
menologischen Anerkennung des Anderen radikal abschwächt, weil
sie nur auf dem Niveau seiner Leibhaftigkeit annehmbar ist, nämlich,
auf dem Niveau einer Beziehung, die einen überwiegend physikali-
schen Charakter hat. Kann man das Unzugängliche, das heißt, das,
was nicht appräsentierbar ist, auf diese Weise trennen von dem, was
„leibhaftig vor uns da“ ist? Kann der Andere nur als Leib da sein?
Was macht diesen Leib zu mehr als nur einem Körper, wenn das,
was im Anderen als das Unzugängliche angenommen wird, ausge-
schaltet bleibt? Man muß hinsichtlich dieser Analyse anerkennen,
daß das Unzugängliche im Anderen eine physikalische Idee der
Beziehung zwischen Subjekten trotz bester Intentionen erhält, die
mit der „Struktur der Apodiktizität“ übereinstimmt. Apodiktizität
bedeutet so viel wie Sein als Präsenz, und es ist offensichtlich, daß
die Phänomenologie trotz ihrer starken Impulse zur Erneuerung der
Philosophie unter dem schweren Joch der Ontologie der Präsenz
44
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
189–190.
45
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 190.
46
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 143.
47
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 143–144 (Hervor-
hebung durch den Verfasser).
Die Zukunft der Phänomenologie 169
48
Vgl. Thomas Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger, eingeleitet und hrsg.
von Günter Gawlick, Hamburg 1959, 16–18.
49
Aristoteles, Politica 1253 a; die Politik wird zitiert nach: Aristotelis Po-
170 Mario Ruggenini
litica, hrsg. von William David Ross, Oxford 1972: οὐθὲν γάρ, ὡς φαμέν,
μάτην ἡ φύσις ποιεῖ·λόγον δὲ μόνον ἄνθρωπος ἔχει τῶν ζῴων.
50
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil.
Untersuchungen zur Phänomenologie und Erkenntnis, Husserliana XIX.1,
301.
51
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.1, 356.
52
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.1, 377.
Vgl. Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 51: „Jede Aussage, die nichts wei-
ter tut, als solchen Gegebenheiten durch bloße Explikation und genau sich
anmessende Bedeutungen Ausdruck zu verleihen, ist also wirklich […] ein
absoluter Anfang, im echten Sinne zur Grundlegung berufen, principium.“
Laut Husserl gibt es eine Sphäre, in der die Bedeutung mit dem Gegebenen
verglichen wird, um dieses letztere ausdrücken zu können. Das Wort kommt
nach der Aufnahme vom Gegebenen von seiten des Bewußtseins und in der
Aussage/Ausdruck kommt es auf nichts anderes an, als auf die Angleichung
der Bedeutung an das Gegebene.
Die Zukunft der Phänomenologie 171
Vorrang des Ich nicht verzichten, auf das Ego als Prinzip, das sich als
Grund und Ursprung des neuzeitlichen Denkens durchgesetzt hat
– transzendental oder empirisch verstanden, absolut oder endlich.
Was Sein und Zeit betrifft, ist hervorzuheben, daß der „Ansatz der
existenzialen Frage nach dem Wer des Daseins“53 in diesem Sinne zu
verstehen ist: „Dasein ist Seiendes, das je ich selbst bin, das Sein ist
je meines.“54 Was folgt, sind die Erläuterungen des Seins des Daseins
als Mitseins, so wie der Welt des Daseins als Mitwelt. Und wenn
behauptet wird, daß „als Mitsein […] das Dasein wesenhaft umwil-
len Anderer“ „‚ist‘“55 – ein Gedanke, der bei Husserl und seiner
Phänomenologie der Intersubjektivität unmöglich zu finden ist –,
so lautet die Erklärung der „zum Mitsein gehörigen Erschlossenheit
des Mitdaseins Anderer […]: im Seinsverständnis des Daseins liegt
schon, weil sein Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses
Verstehen ist […] nicht eine […] Kenntnis, sondern eine ursprüng-
lich existenziale Seinsart“.56 Daraus folgt: „Sofern Dasein überhaupt
ist, hat es die Seinsart des Miteinanderseins.“57 Nach dem Transzen-
dentalismus von Sein und Zeit ist jedes Dasein mit einem Apriori
ausgestattet, so daß der Bezug zu den Anderen für jeden konstitutiv
ist. Das ist eine fast objektivistische Lösung des Problems des Solip-
sismus, der der neuzeitlichen Subjektivität anhaftet. Aber man muß
sagen, daß der Solipsismus durch diese Lösung nur bestätigt wird.
Das Apriori der „ursprünglich existenzialen Seinsart“ schließt jede
von ihnen in sich selbst ein, statt das Zusammensein der Existenzen
zu fördern; es entbindet von der des Miteinanderseins entbindet. Es
fehlt die Erfahrung der Andersheit des Anderen, des Heraustretens
von sich selbst, um dem Anderen bei ihm selbst in seiner Andersheit
zu begegnen, wenn jede Existenz die Differenz des Anderen apriori
schon in sich selbst aufgehoben hat. Es fehlt dieser Phänomenolo-
gie die Erfahrung, daß das Mitsein der Existenzen seinen Grund im
Anderen, nicht in den Existenzen findet. Was erstaunlich scheint, ist,
daß das Mitsein keine Rede und keine Sprache, kein ausgesprochenes
Wort, fordert.
Gegen den ungelösten Egologismus der modernen Philosophie
ist die These, daß kein Ego möglich ist außerhalb der Sprache, was
53
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 153.
54
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 153.
55
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 164.
56
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 165.
57
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 167.
172 Mario Ruggenini
mit sich bringt, daß nur die Möglichkeit, das unvordenkliche Ereig-
nis der Sprache nachzuholen, der Phänomenologie die Tür einer
Zukunft öffnen kann, die das konkrete Miteinandersein der Existen-
zen, das heißt, die wirkliche Intersubjektivität, verantworten kann.
Der phänomenologische Grund dieser These ist die existenzial-phä-
nomenologische Erfahrung, daß niemand eine Welt, die noch nicht
gesprochen und interpretiert worden wäre, weder entdecken kann,
noch könnte. Für diese Erfahrung kommen wir alle zu spät, weil
jeder Neugeborene von einer Welt angenommen wird, die von Spre-
chenden schon gewohnt ist, wenn ihm die Möglichkeit zu existieren
gegeben wird. Am Anfang ist das Wort, weder das Sein, noch das Ich,
noch die Tat,58 weil ohne das Wort keine eigentliche Tätigkeit mög-
lich ist. Denn um wirklich tätig zu sein, muß der Handelnde verant-
wortlich sein, sonst ist das, was an Neuem geschieht, nur physische
Bewegung, die wiederum nur eine bewußte Existenz wahrnehmen
und messen kann. Was die Philosophie seit ihrem metaphysischen
Ursprung nötig hat, ist eine andere Erfahrung mit der Sprache und
mit der Philosophie im allgemeinen, besonders mit der Phänome-
nologie in ihrem ersten Entwurf. Dann überläßt das Wort als Name
(ὄνομα) und Begriff, als solche dem Wort vorangehend, das Feld
dem enthüllenden, offenbarenden, aber auch verhüllend-verbergen-
den Wort im Horizont einer grundlegenden Erfahrung der End-
lichkeit, mit der die Beziehung zwischen der Wahrheit der Worte
und dem sprachlichen Sein der Existenz ins Spiel kommt. Deshalb
darf die Sprache nicht umgangen werden, wenn ein Rückfall in den
‚Logozentrismus‘ im Namen verschiedener, manchmal ahnungs-
loser, oft regressiver Mythologien des Vorsprachlichen vermieden
werden soll. Es bedarf einer Überwindung der erklärten oder unter-
schwellig waltenden Fortdauer des traditionellen Intellektualismus
aufgrund einer anderen Erfahrung von Sprache. Und diese wird zu
einer anderen Erfahrung von Wahrheit, einer kosmischen Wahrheit,
wenn das Dasein des Menschen als In-der-Welt-sein nur vom Wort
erschlossen werden kann. Ohne Sprache keine Welt, aber keine Spra-
che ohne Welt. Das untrennbare Ereignis beider vollzieht sich im Da-
sein der Existenzen. Da sind wir an der Grenze der menschlichen
Möglichkeit zu denken, aber auch nur an deren Anfang.
58
Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, in: Weimarer Klassik 1798–
1806, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe,
Band 6.1, hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert,
Norbert Miller und Gerhard Sauer, München 1986, 535–673, hier 568.
Die Zukunft der Phänomenologie 173
Kraft des Wortes ist der Mensch in der Tat nicht bloß Leben,
sondern Existenz in der Welt, das heißt Möglichkeit und Verantwor-
tung. Und all das, was geschieht – nicht nur in Gedanken, sondern
auch in Erfahrungen, Gefühlen, Freuden und Ängsten, ist nie auf
seine einsame Jemeinigkeit reduziert, sondern in die Erschlossenheit
des Gesprächs der Existenzen einbegriffen, das die Menschen, von
dem Augenblick an, in dem sie ihre Augen für das ihn umgebende
Sein öffnen, zur Teilhabe daran aufruft. Daher existieren Menschen
für (und durch) die Wahrheit, weil sie schon immer im Gespräch
miteinander sind und dieses Gespräch für jede Existenz ihr In-der-
Welt-Sein, ihre Verantwortung für die Welt erschließt. Das muß jen-
seits der Phänomenologie der Intersubjektivität Husserls gedacht
und gesagt werden. Andererseits kann man von der Wahrheit nur
als Wahrheit der Existenz sprechen, die sich zu denken gibt, weil sie
sich sagen läßt und sich auf diese Weise im Gespräch hervorbringt
oder verweigert, indem sie sich allein aufgrund des konstitutiven
Faktums, nicht nur der Tatsache, ins Spiel bringt, daß sie Menschen
sprechen läßt. Eine Wahrheit, die nie ‚ist‘, die nicht irgendwo dar-
auf wartet, entdeckt zu werden, sondern die zur Existenz kommt.
Wahrheit ereignet sich, insofern die Existenz zum Wort gerufen ist,
aber nicht jede Rede ist ein Wort der Wahrheit, sie ist es nur in dem
Maße, wie sie sich für die Existenz als Welt-Erschließung ereignet,
als Gabe von Seinsmöglichkeiten, im Gespräch mit anderen, das
heißt in der Vereinigung mit anderen. Diese Gemeinschaft entsteht
nicht nur dann, wenn man miteinander übereinkommt und ein Ein-
verständnis erzielt, sondern zuerst und vor allem, weil man sich im
Gespräch auseinandersetzt und die Differenzen austrägt, oft bis zum
offenen Widerspruch, immer jedoch im Versuch, auf einen Wahr-
heits-Anspruch zu antworten, der jeden nicht nur von den Worten
her erreicht, sondern zugleich von einem tieferen Ursprung her –
von der Bestimmung zum Wort, die jedem aus dem Ereignis der Welt
zukommt. Der Ursprung für unser Im-Gespräch-Sein ist daher das
Faktum, daß wir da sind, daß wir uns in einer Welt vorfinden, die
bereits von anderen gesagt und gesprochen wurde, in diesem Sinne
in einer anderen Welt, die zwar verschiedene Erfahrungen der Welt-
lichkeit der Welt sich ereignen läßt und versammelt, so wie auch die
Sprache eine andere ist, die jedoch bei niemandem ihren Ursprung
hat, sondern vielmehr jenes Ereignis ist, innerhalb dessen sich erst
jeder Ursprung, jede Beziehung, jede Bereicherung und jeder Ver-
lust, interpretieren läßt. Das gilt auch für „andere Worte“, für die
Worte des ‚Anderen‘, für das Ereignis der Welt-Sprache als unhinter-
174 Mario Ruggenini
59
Vgl. Heraklit, VS 22 B 30; die Fragmente Heraklits werden zitiert nach:
Hermann Diels/Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, siebte
Auflage, Berlin 1954, Band 1–3.
60
Vgl. VS 22 B 53: Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ
βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν
δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους.
Die Zukunft der Phänomenologie 175
5. Wahrheit als ἀλήθεια. Die Wahrheit der Sprache und die Tran-
szendenz des Wahren
Die Existenz spricht, weil in den Worten das Sein der Dinge interpre-
tiert und ausgelegt wird. Sie ist kein Zeigen, keine Aufweisung, kein
einfaches Sehen oder Erscheinen-lassen nach der üblichen, phäno-
menologischen Denkweise, weil es keine einfache Transparenz gibt
(nach Husserl selbst, aber mehr noch nach Heidegger und vielen
anderen bis Derrida). Die Notwendigkeit der Welt, in der Existenz
je den Raum der hermeneutisch-sprachlichen Begegnung der Dinge
zu erschließen, geht jedem Existierenden immer schon voraus, was
bedeutet, daß nicht die Existenz sich entscheidet zu sprechen, son-
dern sie von Beginn an in Anspruch genommen ist von der Notwen-
digkeit der Welt, Wort zu werden. Die Existenz entspricht dieser
Notwendigkeit, die sie sein läßt, aber insofern, als sie die Verantwor-
tung übernimmt, das Gehörte zu hüten, es in jene Worte zu über-
setzen, mit denen sie am Gespräch der verschiedenen Existenzen
teilnimmt. Jeder spricht also, um die Wahrheit zu sagen, das heißt,
um das Sein der Welt (Existenzen, Lebewesen, Dinge) zu interpretie-
ren und so zu enthüllen. Aber gerade deshalb, gerade weil er spricht,
kann jeder Existierende die von ihm interpretierte Wahrheit auch
176 Mario Ruggenini
verraten, indem er lügt, schweigt, die Suche und das Vertrauen der
anderen, den von ihnen ausgehenden Wahrheitsanspruch stört und
beeinträchtigt. Auch der bewußte Verrat gehört zur Verbergung,
das heißt zur Unmöglichkeit und Undenkbarkeit einer vollkommen
offenbaren Wahrheit, die in sich unabhängig von den Interpretati-
onsbemühungen feststehen sollte, um jedem Wort und Gespräch ein
anspruchsvolles Vertrauen zu sichern. Daß das Wahre notwendig in
einem Spannungsverhältnis sowohl zu einem Ungesagten als auch
zu einem Ungedachten steht, das sie trägt und bedroht, birgt somit
ein Risiko gegen das sich die Wahrheit nie völlig absichern kann, ist
aber kein Zeichen einer metaphysischen Katastrophe. Es ist gerade
die sich in Worten erschließende Wahrheit selbst, die diesen Spiel-
raum zwischen Enthüllung und Verhüllung eröffnet, die einander
wechselseitig bedürfen, so wie das, was gesagt werden kann, immer
auf Anderes verweist, das verborgen bleibt, während wir umgekehrt
das, was wir noch suchen müssen, nur ausgehend von dem denken,
was davon schon ans Licht gekommen ist, oft in einem kaum zu
durchdringenden Helldunkel. Die paradoxe Enthüllung des Ver-
borgenen, seine Wahrheit, bringt die Notwendigkeit mit sich, daß
das, was offenbar wird, zugleich immer auch die Verdunkelung und
Verhüllung dessen bewirkt, was immer noch zu sagen bleibt, an das
man nicht denkt, bis nicht ein neues Wort, eine neue Enthüllung das
Fragen nach und die Erfahrung von dem anregt, was bisher unge-
dacht geblieben ist.
So geschieht es, daß das, was sich zunächst enthüllt hat, einen
anderen Sinn annimmt, manchmal eine Wahrheit, die als umfassen-
dere erscheinen mag, manchmal aber auch eine, die als Korrektur
oder gar Widerlegung dessen, was man bisher für wahr hielt, zu ver-
stehen ist. Allgemein gesagt, ist nichts, was die Rede einmal enthüllt
und offenbar gemacht hat, einem Licht ohne Untergang übereignet,
der Untergang einer früher schon entschlossenen ist vielmehr oft
die Bedingung für den Aufgang einer neuen Wahrheit, sowie das
Vergessen die Möglichkeit einer neuen Erfahrung gewähren kann.
Wenn aber für das Geschehnis der sich erschließenden Wahrheit das
Spannungsverhältnis zum Dunkel konstitutiv ist, aus dem, wenn
etwas hervorgeht, anderes zurückfällt, sobald die ihm gewährte Zeit
verstrichen ist, so gehört zu diesem Spannungsverhältnis das endli-
che Schicksal jeder Enthüllung und Offenbarung. Und dazu gehört
auch, daß jede Form von Fehler, Irrtum, Verstellung und Lüge, das
heißt also jede Art von Gewalt, die unauslöschliche Kehrseite der
Welt-Erschließung im Gespräch der Menschen darstellt.
Die Zukunft der Phänomenologie 177
61
Die Etymologie von veritas, verus, das heißt der lateinischen Übersetzung
der griechischen ἀλήθεια, verweist auf ein Vertrauensverhältnis demgegen-
über, der es verdient, daß man ihm glaubt, der „glaub-würdig“ ist (die slawi-
sche Form vera, „Glaube“, schwingt im deutschen Wort wahr mit). Severus
ist demnach derjenige, der kein Vertrauen (zu anderen) hat, so wie securus
der ist, der ohne Sorgen ist (sine cura).
62
Vgl. Plato, Res publica 505a; Platons Dialoge werden ziertiert nach: Pla-
tonis Opera, hrsg. von John Burnet, Oxford 1900–1907.
178 Mario Ruggenini
und das Thema der Wahrheit ins Zentrum seiner Seinsfrage zu stellen.
An anderer Stelle habe ich die These vertreten, daß die Beiträge zur
Philosophie die radikale ‚Kehre‘ in der Weise, die Seinsfrage weiter zu
bringen, darstellen.63 Die Pointe meiner These ist, daß das Denken
der ἀλήθεια ihre eigene Dynamik dem Sein überträgt und ihm die
Möglichkeit gibt, die grundlegende Stellung einzunehmen, die Sein
und Zeit dem Dasein, noch nicht dem Sein, in der Tat zuerkannte,
und zwar trotz der nachdrücklichen Betonung des Vorrangs von Sein
gegenüber dem Seienden. Woher kommt dann dem Sein die wesent
liche Dynamik des Selbstentzugs, der eine entscheidende Bedeutungs-
verwandlung der Themen der Lichtung und der Seinsvergessenheit
mit sich bringt, wenn nicht von einer Vertiefung der Entdeckung der
ἀλήθεια nach der ersten Einführung in Sein und Zeit? Trotz Heid
eggers intensiven Bestehens auf die Seinsfrage, hebt die Frage nach
der Wahrheit jenen vorhergehenden Ansatz bei dem Sein als solchem
durch die ‚Kehre‘ auf. So muß Heidegger vorbehaltlos behaupten: „das
Wesen des Seins“ sei „die ἀλήθεια”,64 nachdem er die Idee, daß die
Wahrheitsfrage nur die Vor-frage der Seinsfrage sei, in den Beiträgen
überwunden hatte: „Die Vor-frage nach der Wahrheit ist zugleich die
Grundfrage nach dem Seyn, dieses als Ereignis west als Wahrheit.“65
Zugleich wird aber gesagt: „Die Wahrheit ist das erste Wahre, und
zwar lichtend-verbergend, des Seyns. Das Wesen der Wahrheit liegt
darin, als das Wahre des Seyns zu wesen“. Auf diese Weise scheint
Heidegger das Wesen der Wahrheit immer noch um des Seins willen
zu denken, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß die Leere, die
das Beharren beim Fragen nach dem Sein nur scheinbar besetzt, nur
vom Denken der ἀλήθεια wirklich erfüllt ist. Was geschieht ist also,
daß die ἀλήθεια das Sein als die Grundfrage von Heideggers Denken
auf unscheinbare Weise vertritt. Damit ist zugleich gesagt, daß nur
die ἀλήθεια den Weg für das Ereignis öffnen kann, so wie es Heid
egger selbst im Anschluß an das vorangegangene Zitat erläutert: „das
Seyn […] als Ereignis west als Wahrheit“.66
Was Heidegger jedoch gefehlt hat, ist die Einsicht, daß das, was
unausweichlich zur Erfahrung und Auffassung der Wahrheit als
ἀλήθεια führt, gerade die Bestimmung der endlichen Existenz zum
63
Vgl. Mario Ruggenini, La verità dell’essere, l’essere della verità, in: An-
nuario Filosofico 23 (2007), 57– 80.
64
Heidegger, Parmenides, GA 54, 218.
65
Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 348.
66
Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 348.
Die Zukunft der Phänomenologie 179
paßt. Das Bedürfnis der Sprache nach Wahrheit eröffnet der Welt
die Möglichkeit, sich in den Worten der Menschen als das Andere
zu zeigen, das sie sein läßt; auf diese Weise bietet die Sprache den
Sprechern Existenzmöglichkeiten, die ihrerseits der Welt weitere
Möglichkeiten geben, Ereignis zu werden im Gespräch, zu dem sie
Menschen ruft.
Die Wahrheit der Sprache als ἀλήθεια ist die Wahrheit der Welt.
Die Transzendenz des Wahren ist daher nicht als das In-sich-Stehen
von etwas zu verstehen, das es selbst bleibt unabhängig von den
Reden, sondern als die Selbstbildung und Selbstbestimmung des
Wahren in den Worten, die Menschen miteinander wechseln, ohne
daß es sich deshalb auf die Verfügbarkeit für einen einzelnen Spre-
cher oder für das Übereinkommen mehrerer reduziert. Die Wahrheit
urteilt somit über die Rede der einzelnen aufgrund des Urteils, das
jeder von den Reden der anderen gibt, aber sie identifiziert sich nie
mit irgendeinem der ‚Wahr-sprüche‘ (italienisch ver-detto, franzö-
sich verdict, spanisch veredicto: die Wahrheit des Urteilsspruch im
Gericht), zu denen die Auseinandersetzung der Sprecher gelangt.
Die Wahrheit vergleicht die Worte der einen mit den Worten der
anderen, um immer neue Möglichkeiten der Rede hervorzubringen.
Sie beansprucht also nicht Geltung im Sinne eines Urteilsspruchs,
der jede Rede beendet, von dem nichts gestrichen und dem nichts
mehr hinzugefügt werden kann, außer dem Kommentar einer
Autorität vielleicht, der disziplinarischen Gehorsam verlangt. Der
Schiedsspruch der Wahrheit ist vielmehr jener Wahrspruch, das vere
dictum, das immer dann, wenn ein Abschluß erreicht ist, dessen
vorläufigen Charakter zumindest im Prinzip nicht verheimlicht und
somit immer neue Verstehensversuche anregt, wenn das helldunkle
Licht, das er wirft, neue Möglichkeiten der Intelligenz enthüllt, die
das Nicht-Gesagte jedes erreichten Urteils, jedes Urteilsspruches,
jeder erläuternden Rede, in sich birgt.
In der Sprache, das heißt im Miteinandersprechen der Existenzen,
wird die Möglichkeit aufs Spiel gesetzt, daß es eine Welt geben kann,
die gestattet, den einen in den Worten der anderen die Wahrheit zu
suchen, die sie im Gespräch zusammenhält und jede aufruft, die
eigene Differenz mit der schuldigen Achtung auf die der anderen zu
verantworten. Die ἀλήθεια im Gespräch ist das, was weder Husserl
noch Heidegger gedacht haben. Und nur die denkende Erfahrung
des Gesprächs, weder die Philologie, noch irgendeine spekulative
Erleuchtung, kann die Differenz zwischen ἀλήθεια und veritas
erklären und die Spannung im Ereignis zwischen Sichentziehen und
Die Zukunft der Phänomenologie 181
67
Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 338.
182 Mario Ruggenini
ser Formen eine besondere Bedeutung nur in dem Maße, wie sie sich
Gehör verschafft in der Erschließung von Existenzmöglichkeiten,
denen die Philosophie ihr Gehör schenken muß, um diese auf ihre
eigene Weise befragen zu können, gemäß ihrer Aufgabe, das Unge-
dachte und das Ungesagte der Reden zu erkunden. Somit bleibt die
Philosophie auf der Suche nach der Wahrheit, die das Gesagte nur
aufgrund dessen offenbart, was es vor ihr verbirgt, also nur dem-
jenigen überhaupt enthüllt, der es zu befragen und zu interpretie-
ren versteht. In keinem Fall aber schützen besondere Garantien die
Wahrheit der Philosophie, weder vor der unbewußten Illusion noch
vor dem bewußten Betrug. Schließlich meint Pluralität auf keinen
Fall Unbezüglicheit, so wie die Möglichkeit des Bezugs nicht die
Ableitbarkeit der einen Erfahrung aus der anderen oder umgekehrt
Reduzierbarkeit der einen auf die andere bedeutet. Im Gegenteil, es
ist gerade der Philosophie eigen, ein Auge zu haben für die verbor-
gene Einheit jenseits – unterhalb – der offenbaren und für diese Sorge
zu tragen, gemäß der weisen Aufforderung Heraklits „die verbor-
gene Harmonie mehr als die offenbare“68 zu schätzen.
68
Heraklit, VS 22 B 54.
John Sallis
Die Logik des Denkens
Von Anfang an wird Logik verstanden als die Logik des Denkens.
Bereits im griechischen Denken schreibt man der Logik die Aufgabe
des Identifizierens, Formulierens und Formalisierens von Denkge-
setzen zu. Entsprechend ist Logik darauf verpflichtet, zu untersu-
chen, wie Begriffe, Urteile oder Sätze und Argumente in der Gestalt
von Syllogismen gebildet werden. Was Logik von anderen Erkennt-
nisdisziplinen, von anderen Arten der ἐπιστήμη oder Wissenschaft
unterscheidet, ist, daß Logik diese verschiedenartigen Gebilde nur
hinsichtlich ihrer Form betrachtet, das heißt, ohne deren Inhalt
im mindesten zu beachten. Ob ein Syllogismus richtig gebildet
ist, so daß der Schlußsatz aus den Prämissen folgt, erweist sich so
schlechterdings als eine Frage der Form der beteiligten Sätze und
der formalen Beziehung zwischen ihnen; die Gültigkeit des Argu-
ments ist nicht im geringsten mit dem Inhalt der Sätze verknüpft,
mit dem also, wovon sie handeln. Aufgrund dieses Nichtbeachtens
oder Abziehens des Inhalts ist die Formalisierung bereits der Idee
von Logik selber eigentümlich. Auf diese Weise stellt die moderne
Mathematisierung der Logik lediglich die Vollendung einer bereits
von Anfang an wirksamen Tendenz dar.
Diese klassische Auffassung von Logik bringt Heidegger in sei-
ner Vorlesung über Logik von 1934 prägnant zum Ausdruck. Hier
bestimmt er Logik als „die Wissenschaft von den Grundgebilden
des Denkens“1 und genauer, als „die Wissenschaft von den forma-
len Grundgebilden und Regeln des Denkens.“2 Indes werden diese
Bestimmungen, die am Anfang der Vorlesung von 1934 stehen,
nicht im Zuge einer erneuten Bestätigung vorgebracht, sondern
vielmehr als Vorbereitung zu einer „Erschütterung“ der Logik (wie
Heidegger es nennt) mit weitreichenden Folgen für diese Disziplin.
1
Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 5.
2
Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 11.
186 John Sallis
1.
3
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena
188 John Sallis
bei aller Kritik, die Husserl gegen den Psychologismus richtet, – auf
dem Spiel steht, ist die Unterscheidung zwischen den idealen Geset-
zen der Logik und den realen Gesetzen empirischer Wissenschaften
wie eben auch der Psychologie.
Entscheidend ist die Einsicht, daß die Gesetze der Logik nicht
reale Leistungen der Psyche betreffen, sondern vielmehr die idea-
len Gegenstände des Denkens oder die idealen Verknüpfungen, die
für diese Gegenstände gelten. Das Gesetz vom ausgeschlossenen
Widerspruch beispielsweise hat nichts gemein mit unserem Unver-
mögen, widersprüchliche Attribute zu denken; nicht wenige würden
behaupten, daß wir solche Widersprüche tatsächlich denken können.
Was das Gesetz ausschließt, ist die objektive Möglichkeit von Wider-
sprüchen; was es prinzipiell – das heißt, idealerweise – ausschließt, ist
die Möglichkeit eines objektiven Inhalts, in dem sich widersprüchli-
che Attribute verbinden.
Husserl sagt, daß die abschließende Klärung der Psychologis-
musdiskussion „von der richtigen Erkenntnis des fundamentalsten
erkenntnistheoretischen Unterschiedes, nämlich dem zwischen Rea-
lem und Idealem“4 abhängt. So sind die idealen Gesetze der Logik
von absoluter Genauigkeit, im Unterschied zu den vagen Verall-
gemeinerungen ausgehend von Erfahrung, welche die empirische
Psychologie als Gesetzmäßigkeiten ansetzt. Die idealen Gesetze der
Logik weisen eine apriorische Gültigkeit auf, anders als empirische
Gesetze, die nur durch Induktion gewonnen werden und die deshalb
nur Wahrscheinlichkeitscharakter haben.
Vor und gegen diesen Hintergrund entwirft Husserl am Ende
der Prolegomena die Idee einer reinen Logik, einer Logik, in der
die Idealität ihres Inhalts gesichert würde. Solch eine reine Logik
bliebe weiterhin eine Logik des Denkens, nun aber im Sinne einer
Logik, die jene Gesetzmäßigkeiten formulierte, welche die idea-
len Beziehungen bestimmen, die zum Gegenstand des Denkens
gehören. Aufgrund der formalen und idealen Beschaffenheit ihrer
Gesetze würde reine Logik die Bedingungen der Möglichkeit von
Theorie im allgemeinen ausweisen. Recht verstanden, würde reine
Logik die Theorie der Theorie, die Wissenschaft der Wissenschaf-
ten werden.
zur reinen Logik, Husserliana XVIII, hrsg. von Elmer Holenstein, Den Haag
1975, 125.
4
Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XVIII, Erster Band,
190–191.
Die Logik des Denkens 189
5
Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XVIII, 167.
6
Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XVIII, 7.
7
Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil. Unter-
suchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Husserliana
XIX.1, hrsg. von Ursula Panzer, Den Haag/Boston/Lancaster 1984, 7.
190 John Sallis
8
Vgl. Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer
Kritik der logischen Vernunft, Husserliana XVII, hrsg. von Paul Jansen, Den
Haag 1974, 109. Diese Arbeit ist erstmals 1929 erschienen.
9
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 7.
10
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 6.
Die Logik des Denkens 191
liche Richtungen fragt, indem sie auf der einen Seite zurückgeht auf
die produktiven Aktivitäten und Habitualitäten, die, auf der anderen
Seite, Ergebnisse und ideale Gebilde konstituieren, die anschließend
in ihrer idealen Objektivität bestehen bleiben. Husserl legt nahe,
daß gerade diese Zweiseitigkeit, – das heißt, die Schwierigkeit, die
in jener liegt – die Tatsache erklärt, daß Logik nach Jahrtausenden
noch immer nicht den Weg wahrhaft rationaler Entwicklung einge-
schlagen hat.14 Die Schwierigkeit, so erklärt er, liegt primär in der
Tatsache, daß die idealen Gebilde wie Urteile nicht bereits da sind
wie äußere Dinge, sondern aus unserer Denktätigkeit hervorgehen;
einmal hervorgebracht, bleiben diese idealen Gebilde indes bestehen
und scheinen so auf undurchschaubare Weise zwischen Subjektivität
und Objektivität herumzutreiben.15 Traditionell neigt man dazu, sie
entweder der einen oder der anderen Seite zuzuordnen, während
doch eine Untersuchung erforderlich ist, die – transzendental veror-
tet – in beide Richtungen vorgeht.
Erforderlich wird eine Doppelbewegung, ein Schweben, sozusa-
gen zwischen den Strukturen formaler Logik und der subjektiven
Wende, die von der transzendentalen Logik ins Spiel gesetzt wird.
Auf der einen Seite nimmt die Logik die beständigen Gebilde auf, die
konstituiert worden sind; dadurch daß sie aber auf die unterliegende
konstituierende Tätigkeit zurückgeht und diese durch eine thema-
tisierende Reflexion wiedererweckt, vermag es Logik, die Einheit
der idealen Gebilde gegen Verschiebungen und Verstellungen abzu-
sichern, die zu semantischen und sprachlichen Mehrdeutigkeiten
führen.16 Auf diese Weise wendet sich die Bewegung, die von der
formalen hin zur transzendentalen Logik ging, zurück zur formalen
Logik, um dieser eine Genauigkeit und Strenge einzuschärfen, zu der
sie anders nicht fähig wäre.
14
Vgl. dazu Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana
XVII, 38–39.
15
Vgl. dazu Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana
XVII, 85–86.
16
Vgl. dazu Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana
XVII, 184.
Die Logik des Denkens 193
2.
17
Vgl. dazu Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 24. Die
Vorlesung wurde im Wintersemester 1925/26 gehalten.
18
Heidegger, Mein Weg in die Phänomenologie, GA 14, 97.
194 John Sallis
19
Vgl. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 12–13.
Die Logik des Denkens 195
20
Vgl. dazu Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 18.
196 John Sallis
21
Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 52.
22
Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XVIII, 136.
23
Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 92.
Die Logik des Denkens 197
voraus, dann gilt, „daß das Psychische in sich selbst so etwas wie
eine Beziehung ist des Realen zum Idealen“.24 Indem sie intentional
ist, öffnet die Psyche eher den Unterschied, als daß sie einen bereits
vorhandenen Spalt überbrückte. Auf tiefgründigster Ebene ereignet
sich eine solche Öffnung durch das, was Husserl transzendentale
Konstitution nennt und als die Ideationsleistung des intentiona-
len Bewußtseins umreißt. So schreibt sich Heideggers Auffassung
weiterhin in diese phänomenologische Auffassung ein, selbst dann,
wenn – in den späteren Teilen der selben Vorlesung – Heideggers
Daseinsanalytik dazu gelangt, die phänomenologische Auffassung
von Psyche zu verschieben – oder zumindest neu zu verankern. In
einem kürzlich veröffentlichten Text von 1927, bezieht sich Heideg
ger gar – in versöhnlicher Geste vielleicht – auf die transzendentale
Konstitution derart, daß sie vom Dasein ermöglicht würde.25
Indessen findet man keine derart versöhnlichen Gesten in der
zweiten der vier Vorlesungen. Tatsächlich wird die Differenz bereits
im Titel der Vorlesung hörbar, die Heidegger im Sommersemester
1928, seinem letzten Semester in Marburg, gehalten hat. Die Vorle-
sung trägt den Titel Metaphysische Anfangsgründe der Logik, und
die spezifische Herangehensweise Heideggers an dieses Thema wird
durch den Zusatz angezeigt im Ausgang von Leibniz. Die Vorlesung
wendet sich also nicht primär der Logik als solcher zu, sondern ihren
ursprünglichen metaphysischen Grundlegungen, wie sie im Denken
Leibniz‘ zu erkennen sind.
Gleichwohl ist der Ton zu Beginn der Vorlesung von 1928 jenem
der früheren Vorlesung sehr ähnlich. Heidegger bemerkt, daß Logik,
wie sie für gewöhnlich gelehrt wird, staubtrocken sei; auch erscheine
sie ziemlich nutzlos und ganz abgetrennt von der Philosophie. Heid
egger erklärt: „nicht, um eine Kollegvorlesung unterhaltsamer zu
machen, bedarf es einer anderen Logik, sondern einzig darum, weil
die sogenannte Logik gar keine Logik ist und mit Philosophie nichts
24
Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 98.
25
Heidegger schreibt, daß das Dasein „in sich die Möglichkeit der tran
szendentalen Konstitution birgt“, und auch, daß „die Existenzverfassung des
Daseins die transzendentale Konstitution alles Positiven ermöglicht.“ Diese
Bemerkungen fallen in Anlage I zu einem Brief vom 22. Oktober 1927, den
Heidegger Husserl anläßlich ihrer Zusammenarbeit für den Artikel Phäno-
menologie in der Encyclopedia Britannica geschrieben hat. Die Texte sind
veröffentlich in: Heidegger, Zur Sache des Denkens, GA 14, 129 – 132, hier
131.
198 John Sallis
26
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von
Leibniz, GA 26, 5–6.
27
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von
Leibniz, GA 26, 7.
28
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von
Leibniz, GA 26, 27.
Die Logik des Denkens 199
sung von 1928 sich also vornimmt, ist genau die Dekonstruktion
von Logik.
Und doch, selbst beim Abschluß der Vorlesung bleibt die Frage
bestehen: bewirkt diese Dekonstruktion von Logik die Erneuerung
von Logik? Läßt sie Logik philosophisch werden? Ist der Ertrag der
Dekonstruktion eine philosophische Logik? Oder läßt der Schritt
zurück in die metaphysischen Gründe nicht einfach die Logik hinter
sich? Gegen Abschluß der Vorlesung findet man mehrere bedeut-
same Hinweise. Zuerst bezieht Heidegger Logik auf die Grund-
probleme der Wahrheit und der Transzendenz, um dann auf dieser
Grundlage zu erklären, daß „Logik selbst Metaphysik“29 sei. Es ist,
als ob derselbe Schritt von der Logik zu den metaphysischen Grün-
den ein Schritt sei, der die Logik in den Bereich der Metaphysik
hineinzöge. So nimmt Heidegger zweitens Bezug auf die „Radika-
lisierung der Logik zur Metaphysik“ und schließlich gar auf eine
„Logik als Metaphysik.“30 Die Radikalisierung und Begründung
von Logik hatten, so scheint es, eine Angleichung der Logik an die
Metaphysik bewirkt. Was bleibt, ist nicht eine philosophische Logik,
sondern eher ein metaphysischer Diskurs, aus dem Logik als solche
verschwunden ist.
Die dritte Vorlesung über Logik wurde im Sommersemester 1934
gehalten. Wie die erste bringt auch deren Titel eine bestimmte Auf-
fassung darüber zum Ausdruck, was Logik ist. Der Titel lautet Logik
als Frage nach dem Wesen der Sprache. Wie in vielen anderen Erörte-
rungen bemerkt Heidegger, daß sich das Wort Logik vom Ausdruck
ἐπιστήμη λογική herleitet; jetzt indes betont er, daß Logik, wie die
Wissenschaft oder das Wissen vom λόγος, auf ausgezeichnete Weise
mit Sprache verbunden ist.
Anders als die anderen Vorlesungen beginnt diese mit einer
Besprechung der Strukturen überlieferter Logik: Heidegger
beschreibt die Art und Weise, wie Logik Ausdrücke, Sätze und Syl-
logismen erforscht, und er zeigt, wie die Logik, entsprechend die-
sen Leitthemen, die Prinzipien der Identität, des ausgeschlossenen
Widerspruchs und des Grundes umfaßt. Er unterstreicht auch den
rein formalen Charakter von Logik.
29
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von
Leibniz, GA 26, 281.
30
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von
Leibniz, GA 26, 282.
200 John Sallis
31
Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 8.
32
Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 18.
33
Vgl. dazu Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache,
GA 38, 169.
Die Logik des Denkens 201
34
Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 11.
35
Heidegger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 8.
36
Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 348.
37
Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 348.
38
Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 348.
202 John Sallis