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Ihre Wirkungsgeschichte hat längst darüber entschieden, daß

Heidegger und Husserl

Heidegger und Husserl. Neue Perspektiven


Husserl und Heidegger die beiden bedeutendsten Denker der
phänomenologischen Bewegung sind, und daß sie zu den größten
Philosophen des 20. Jahrhunderts zählen. Die Neigung, die Größe
des einen der beiden Freiburger Phänomenologen dadurch zu
erhöhen, daß man die Bedeutung des anderen schmälert, hat sich
Neue Perspektiven
mit den Jahren von selbst verflüchtigt. Aber ihre philosophischen
Differenzen sind geblieben.

Rudolf Bernet
Forum

Forum
2
Heidegger

Heidegger
HeideggerForum

Vittorio Klostermann
Heid­eg­ger und Husserl
Herausgegeben von
Günter Figal

Beirat
Damir Barbarić (Zagreb)
Thomas Buchheim (München)
Donatella Di Cesare (Rom)
Michael Großheim (Rostock)
John Sallis (Boston)

Heid­eg­gerForum
Heid­eg­ger und Husserl
Neue Perspektiven

Herausgegeben von Günter Figal


und Hans-Helmuth Gander

VittorioKlostermann
Dieser Band ist zugleich der neunte Band der Schriftenreihe der
Martin-Heid­eg­ger-Gesellschaft.
Verantwortlich: Günter Figal, Hans-Helmuth Gander,
Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Manfred Riedel (†) , Hartmut Tietjen.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der


Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main · 2009


Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der
Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet,
dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen
Reproduktionsverfahren zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu
verbreiten.
Gedruckt auf Alster Werkdruck der Firma Geese, Hamburg,
alterungsbeständig∞ ISO 9706 und PEFC-zertifiziert .
Satz: LAS-Verlag, Regensburg
Druck: Strauss GmbH, Mörlenbach
Bindung: Litges & Dopf GmbH, Heppenheim
Printed in Germany
ISSN 1868-3355
ISBN 978-3-465-04077-4
Inhalt

Vorwort 7

Günter Figal
Phänomenologie und Ontologie 9

Jean-Luc Marion
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl
und Heid­eg­ger 25

Rudolf Bernet
Leiblichkeit bei Husserl und Heid­eg­ger 43

Dan Zahavi
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 73

Michael Großheim
Phänomenologie des Bewußtseins oder Phänomenologie
des „Lebens“? Husserl und Heid­eg­ger in Freiburg 101

Hans-Helmuth Gander
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heid­eg­ger 137

Mario Ruggenini
Die Zukunft der Phänomenologie
Zwischen der Sinngebung der Subjektivität und dem Fragen
nach der Wahrheit 159

John Sallis
Die Logik des Denkens 185

Zu den Autoren 203

Personenverzeichnis 207
Edmund Husserl und Martin Heid­eg­ger,
photographiert von Karl Löwith, 1921.
Vorwort

Die in diesem Band versammelten Texte wurden als Vorträge auf der
Tagung Heid­eg­ger und Husserl gehalten, die vom 12. –  14. Oktober
2007 in Freiburg stattfand. Veranstaltet wurde die Tagung von der
Martin-Heid­eg­ger-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Philo-
sophischen Seminar und dem Husserl-Archiv der Universität Frei-
burg und der Stadt Freiburg.
Die Erstellung der Satzvorlage wurde besorgt von Christian
Diem, Sarah Eichner, Marco Eisenmenger, Melanie El Mouaaouy,
Andreas Friedrich, Tobias Keiling, Sophia Obergfell, Hannah Wal-
lenfels und Lis Wey. Ihnen sei für ihre engagierte Arbeit herzlich
gedankt.

Günter Figal Hans-Helmuth Gander


Günter Figal
Phänomenologie und Ontologie

1.

In der Philosophie gibt es im wesentlichen keinen Fortschritt.


Bedeutende Philosophien werden von den ihnen nachfolgenden
nicht überholt, sondern im Idealfall ergänzt. Dadurch wird das
Bild reicher und differenzierter. Zwar können Möglichkeiten, die
in einer früheren Philosophie angelegt sind, durch eine spätere her-
vorgehoben und verwirklicht werden. Aber das heißt nicht, die frü-
here Philosophie sei dadurch in die spätere aufgehoben. Durch die
Verwirklichung einer zuvor nur angelegten Möglichkeit entsteht,
wenn die Verwirklichung erfolgreich ist, etwas Neues, das sich in
den früher gegebenen Zusammenhang nicht mehr einfügen läßt. Die
Verwirklichung steht in einem anderen Zusammenhang als die Mög-
lichkeit; deshalb tritt mit der Verwirklichung etwas hinzu, das nicht
schon in der Möglichkeit enthalten war. Erst recht ist das so, wenn
Gedanken im Zuge ihrer philosophischen Ausarbeitung abgewan-
delt, umgedeutet oder in eine andere Richtung entwickelt werden.
Dann hat man es offensichtlich mit zwei Ausführungen gleichen
Rechts zu tun, die in einem mehr oder weniger spannungsvollen
Verhältnis zueinander stehen. Das Denken ist weniger zeitlich als
räumlich; seine Ausprägungen stehen zueinander in eigentümlicher
Simultaneität. Der Raum des Denkens ist ein Raum mit vielen auf-
einander bezogenen Orten. In ihm ist keine bedeutende Philosophie
ersetzbar, denn keine ist, mit Heid­eg­ger gesagt, „vollkommener“ als
eine andere; jede hat „ihre eigene Notwendigkeit“.1
Das gilt auch für Heid­eg­gers eigenes Denken und für das Denken,
aus dem heraus es entwickelt wurde, also für Husserls Phänomeno-
logie. Als Heid­eg­gers phänomenologischer Entwurf mit Sein und

1
Heid­eg­ger, Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens,
GA 14, 70.
10 Günter Figal

Zeit vorgelegt wurde, war die Phänomenologie als solche reicher


und zugleich schwieriger geworden; man hatte, wenn man der Sache
gerecht werden wollte, Heid­eg­gers Ansatz ebenso wie den Husserls
zu berücksichtigen und den Stärken und Grenzen beider Entwürfe
Rechnung zu tragen.
In der französischen Phänomenologie ist das im Lauf der Jahrzehnte
auf geradezu vorbildliche Weise geschehen. Von Sartre über Mer-
leau-Ponty bis zu Lévinas, Ricoeur, Derrida und Marion ging die
phänomenologische Herausforderung immer von beiden, von Hus-
serl und ebenso von Heid­eg­ger aus. In Deutschland war die Wir-
kung aufgeteilter; Husserl erschien nicht selten als bloße Vorstufe
des heid­eg­gerschen Denkens oder Heid­eg­ger wurde als phänomeno­
logischer Abweichler behandelt. Doch immerhin bleiben selbst in
einer so entschieden von Heid­eg­ger geprägten Philosophie wie der
Hermeneutik Gadamers husserlsche Motive lebendig, so daß Gada-
mer mit Recht auch Husserl zu den für ihn maßgeblichen Auto-
ren zählen kann. Als solche ist die zwiefache phänomenologische
Heraus­forderung auch spürbar in den Arbeiten von Eugen Fink.
Die auf Husserl und Heid­eg­ger zurückgehende phänomenologi-
sche Philosophie hat zum Verständnis beider viel beigetragen. Aber
sie hat sich auch von der Problemlage, die das spannungsvolle Ver-
hältnis Husserls und Heid­eg­gers zueinander bestimmte, entfernt.
Das Bild der Phänomenologie war mit den Jahren immer weniger
vom Ausgangskonflikt zwischen Husserl und Heid­eg­ger geprägt.
Statt dessen ging es, im mehr oder weniger deutlichen Anschluß
an beide, um die Weiterentwicklung zentraler Motive, um neue
Beschreibungen, neue Synthesen. Vorrangiges Ziel war und ist im
allgemeinen die Erschließung der Phänomene in dem durch Husserl
und Heid­eg­ger eröffneten phänomenologischen Spielraum. Im Zen-
trum des Interesses stehen dabei vor allem Fragen der Wahrnehmung
und der Leiblichkeit, der Alterität und der Zeit, einschließlich der
Frage nach einem als Wesen und Intensivierung der Zeit zu denken-
dem Sich-Ereignen oder Geschehen von Sinn.2 Darüber ist die Frage,
die den Kern der Auseinandersetzung Heid­eg­gers mit Husserl bil-
dete, in den Hintergrund getreten. Es ist die Frage nach dem phäno-
menologischen Status der Ontologie, danach, in welchem Verhältnis
Phänomenologie und Ontologie zueinander stehen.

2
Vgl. dazu den Beitrag von László Tengelyi, Sinnwirkungen in der Male-
rei, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, hrsg. von Günter Figal,
Band 7, Tübingen 2008, 281–296.
Phänomenologie und Ontologie 11

Daß es so war, hat wohl mit der Wirkung Heid­eg­gers zu tun. Sein
philosophischer Entwurf muß so überwältigend gewesen sein, daß
die Seinsfrage, der er sich in den frühen zwanziger Jahren zuwandte
und die er mit Sein und Zeit erneut stellen und konkret ausarbeiten
wollte,3 dem ihr eigenen Gestus zum Trotz in eine dröhnende Selbst-
verständlichkeit geriet. Bis zum Ermüden ist über die ‚Seinsfrage‘
geschrieben und gesprochen worden. Die Frage war und ist mit
dem Namen Heid­eg­gers auch für solche verbunden, die keine Zeile
von ihm gelesen haben. Sie wurde als Nabel des abendländischen
Denkens beschworen, als Mystizismus verlacht und als ideologische
Verblendung denunziert. Auch wo es sachlich zuging, wurde der
ontologische Anspruch Heid­eg­gers nicht ernsthaft phänomenolo-
gisch diskutiert. Er wurde einfach übernommen4 oder in anderer als
phänomenologischer Hinsicht kritisiert – als noch zur ‚Metaphy-
sik‘ gehörig und deshalb der ‚Dekonstruktion‘ bedürftig oder als
Denken der Immanenz, das in der herausfordernden Erscheinung
des ‚Anderen‘ ethisch durchbrochen werde. So bleibt offen, ob und,
wenn ja, wie und inwieweit die Phänomenologie mit der Ontologie
vereinbar ist.

2.

Die Frage ist nicht nur wichtig, sie ist auch verwickelt genug, um
gesteigerte philosophische Aufmerksamkeit zu fordern. Die Ver-
wicklungen fangen bereits mit einer Zuschreibung des Themas
an. Einerseits ist Heid­eg­gers Bedeutung dabei offensichtlich; der
Ansatz von Sein und Zeit ergibt sich nicht zuletzt aus der Verhält-
nisbestimmung von Phänomenologie und Ontologie: Die Ontolo-

3
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2.
4
So bei Jean-Paul Sartre, und zwar schon im Untertitel von L’être et le
néant (Paris 1943): Essai d’ontologie phénoménologique. Außerdem bei
Maurice Merleau-Ponty, Le vivisble et l’invisible, Paris 1964, 182. Vgl. auch
Eugen Fink, Zum Problem der ontologischen Erfahrung (1950), in: Nähe
und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, Freiburg/Mün-
chen 1976, 127–138, hier besonders 128–129: „Bei Heid­eg­ger kehrt das Den-
ken zu der Grundfrage zurück, die das Philosophieren des Abendlandes in
seinem geschichtlichen Anfang beherrscht, zur Frage nach dem Sein. Auch
Gadamer schließt seinen hermeneutischen Entwurf wie selbstverständlich
mit einer „ontologischen Wendung“ ab.
12 Günter Figal

gie soll „nur als Phänomenologie möglich“ sein,5 und umgekehrt


sei die Phänomenologie – „sachhaltig genommen“ – „Wissenschaft
vom Sein des Seienden“ und demnach als solche Ontologie.6 Doch
andererseits ist die Verbindung von Phänomenologie und Ontolo-
gie keine Entdeckung Heid­eg­gers; sie geht nicht auf Sein und Zeit
als Gründungsurkunde zurück. Die Verbindung war schon längst
vor Heid­eg­ger durch Husserl geknüpft worden. Das Programm
der Phänomenologie, wie es in Ideen I entwickelt wird, bezieht
auch die Ontologie ein. „Jede Tatsachenwissenschaft (Erfahrungs-
wissenschaft)“, so heißt es hier, habe „wesentliche theoretische
Fundamente in eidetischen Ontologien“.7 Diese wiederum seien
begründet in einer „formalen Ontologie“, von der es heißt, daß sie
„die Formen aller möglichen Ontologien überhaupt […] in sich“
berge.8 Diese formale Ontologie wiederum werde von der Phäno-
menologie „umspannt“, und zwar in dem Sinne daß die Phänome-
nologie „den Mutterboden, aus dem alle ontologischen Einsichten
entstammen, in sich“ befasse.9 Die Phänomenologie ist für Husserl
zwar nicht, was sie dann für Heid­eg­ger sein wird: Fundamental­
ontologie. Aber sie hat dieselbe – oder beinah dieselbe Aufgabe: Sie
klärt das Fundament der Ontologie. Zwar ist Heid­eg­gers ontologi-
sches Interesse deutlich stärker und radikaler; deshalb geht er auf
die antiken Grundtexte, vor allem auf die des Aristoteles zurück
und entwickelt in der Auseinandersetzung mit diesen seinen Ent-
wurf.10 Aber Heid­eg­ger schlägt kein grundsätzlich neues Thema
an. Im Zusammenhang der Phänomenologie hat Sein und Zeit den
Stellenwert einer immanenten Korrektur.
Das zeigt sich, wenn man die Entwürfe Husserls und Heid­eg­
gers im einzelnen betrachtet. Zwar treten Husserl und Heid­eg­ger
mit jedem Gedankenschritt deutlicher auseinander, aber man sieht

5
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 48.
6
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 50.
7
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phäno-
menologischen Philosophie. Erstes Buch, Husserliana III.1, hrsg. von Karl
Schuhmann, Den Haag 1976, 23.
8
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 26.
9
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phäno-
menologischen Philosophie. Drittes Buch, Husserliana V, Den Haag 1952,
89 und 105.
10
Vgl. Günter Figal, Heid­eg­ger als Aristoteliker, in: Alfred Denker, Gün-
ter Figal, Franco Volpi u. a. (Hrsg.), Heid­eg­ger und Aristoteles (Heid­eg­ger-
Jahrbuch 3), Freiburg/München 2007, 53–76.
Phänomenologie und Ontologie 13

auch, wie Heid­eg­ger an Husserls Vorgaben gebunden bleibt. Denk-


bar verschieden ist schon die Grundbestimmung der Ontologie.
Während die formale Ontologie im Sinne Husserls eine „eidetische
Wissenschaft vom Gegenstande überhaupt“ ist,11 geht es Heid­eg­ger
um eine Ontologie des – menschlichen – Daseins. Auch Heid­eg­gers
Ontologie zielt in gewisser Weise auf den „Gegenstand überhaupt“.
Das geschieht jedoch so, daß sie auf dessen Möglichkeit, also auf
die Möglichkeit der Gegenstandskonstitution und Gegenstandser-
fahrung zurückgeht und sich dabei nicht mehr am Gegenstand oder
dem Gegenständlichen im Sinne Husserls orientiert. Schon in einer
frühen Vorlesung, in der Heid­eg­gers philosophisches Programm sich
gerade erst abzeichnet, hatte er die Orientierung am Gegenständli-
chen, an der „Dingerfahrung“ und die mit ihr verbundene „General-
herrschaft des Theoretischen“ kritisiert.12
Doch Heid­eg­gers Abgrenzung von Husserls „theoretischer“
Philosophie ist weniger dramatisch als es erscheinen kann. Für sich
genommen hätten die Abwendung von der Gegenstandsontolo-
gie und die Hinwendung zur Ontologie des Daseins noch keinen
Bruch mit Husserl bedeutet. Zum Bruch führt die Umstellung vom
„Gegenstand überhaupt“ auf das Dasein erst dadurch, daß mit ihr
zum ontologischen Thema wird, was zugleich die Bedingung der
Möglichkeit der Ontologie und ebenso der Phänomenologie ist. Im
Zuge der heid­eg­gerschen Wendung wird die das Sein verstehende
Instanz als solche zum Seienden; die Instanz, für die allein es Phä-
nomene gibt, wird als solche zum Phänomen.
Von Husserl aus gesehen, liegt darin die eigentliche Provokation.
Behauptet wird, mit Husserl gesagt, der „Widersinn des erkennt-
nistheoretischen Zirkels“; es wird „im besonderen“ vorausgesetzt,
„was im allgemeinen Sinn der transzendentalen Frage selbst mitbe-
schlossen ist“.13 Heid­eg­ger war sich über den provokativen Charak-
ter seines Gedankens im Klaren. Aber er war überzeugt davon, daß
Husserls Einwand nicht treffe und daß sein Gedanke nicht der von
Husserl befürchteten Zirkularität verfalle. „Übereinstimmung“, so
schreibt Heid­eg­ger an Husserl, bestehe „darüber, daß das Seiende
im Sinne dessen, was Sie ‚Welt‘ nennen, in seiner transzendentalen

11
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 26–27.
12
Heid­eg­ger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 90 und 87.
13
Edmund Husserl, Der Encyclopaedia Britannica Artikel. Erster Ent-
wurf, in: Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, Den Haag 1962,
237–255, hier 249–250.
14 Günter Figal

Konstitution nicht aufgeklärt werden kann durch einen Rückgang


auf Seiendes von ebensolcher Seinsart“. Aber damit sei „nicht gesagt,
das, was den Ort des Transzendentalen ausmacht, sei überhaupt
nichts Seiendes“. Deshalb müsse nach der „Seinsart des Seienden,
in dem sich ‚Welt‘ konstituiert“, gefragt werden. Es gelte zu zeigen,
„daß die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden“ sei
„von der alles anderen Seienden“. Als „diejenige, die sie ist,“ berge
sie „in sich die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution“.
Zur Bekräftigung fügt Heid­eg­ger hinzu, die „transzendentale Kon-
stitution“ sei „eine zentrale Möglichkeit der Existenz des faktischen
Selbst“. Das faktische Selbst, „der konkrete Mensch“, sei „als sol-
cher – als Seiendes nie eine ‚weltlich reale Tatsache‘“.14 Eben das hat
Husserl nicht geglaubt. Im 1930 veröffentlichten Nachwort zu Ideen
I spricht er, deutlich im Hinblick auf Heid­eg­ger und möglicherweise
die Rede vom „konkreten Menschen“ aufnehmend, von einer „den
reinen Sinn der Philosophie verderbenden Verirrung, welche die
Philosophie auf Anthropologie, bzw. auf Psychologie, auf die posi-
tive Wissenschaft vom Menschen bzw. vom menschlichen Seelenle-
ben gründen will.“15
Der Vorwurf wird durch Heid­eg­gers Formulierung nahege-
legt, aber er ist dennoch nicht überzeugend. Er geht nicht nur an
Heid­eg­gers Anspruch, sondern erst recht an der Einlösung dieses
Anspruches in Sein und Zeit vorbei. Heid­eg­ger grenzt sein Unter-
nehmen auf durchaus einleuchtende Weise gegen die Anthropologie
und Psychologie ab, indem er auf sein ontologisches Programm ver-
weist; in Anthropologie und Psychologie wie auch in der Biologie
fehle die – für Heid­eg­ger entscheidende – „Frage nach der Seinsart
dieses Seienden, das wir selbst sind“.16 Es ist diese Frage und kein
wie auch immer begründetes Interesse am menschlichen Leben und
Erleben, was Heid­eg­ger nach dem „faktischen Selbst“, dem „kon-
kreten Menschen“17 fragen läßt. Das Faktische und Konkrete, wie
es ihn beschäftigt, hat ausschließlich ontologische Bedeutung. Also
müßte Husserls Kritik eigentlich gegen die heid­eg­gersche Ontologie
und damit auch gegen Heid­eg­gers Ontologisierung der Phänomeno-
logie gerichtet sein. Berechtigt wäre Husserls Kritik, wenn die Phä-
nomenologie in der Tat mit jener Bindung an ein „faktisches Selbst“

14
Heid­eg­ger, Zur Sache des Denkens, GA 14, 131.
15
Edmund Husserl, Ideen III, Husserliana V, 148.
16
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 67.
17
Heid­eg­ger, Brief an Husserl, GA 14, 131.
Phänomenologie und Ontologie 15

unverträglich ist, wie sie nach Heid­eg­gers Überzeugung mit der


Ontologie einhergeht. Dann wird fraglich, wie die Phänomenologie
die Ontologie noch „umspannen“ kann. Auf jeden Fall aber kann sie
selbst nicht ontologisch sein.
Das ist in der Tat Husserls Überzeugung. Für ihn ist die Onto-
logie eine „dogmatische Wissenschaft“.18 Es gehe in der Ontologie
zwar um das Wesen der Dinge, um dessen Bestimmung in „eide-
tischer Allgemeinheit“,19 aber derart, daß ihre Erörterungen die
Gestalt „eidetischer Existentialurteile“ hätten.20 Ontologisch gehe es
darum, „wie Dinge überhaupt sind“.21 Die Ontologie ist, wie Husserl
sagt, „Wissenschaft […] von den möglichen kategorialen Formen, in
denen Substratgegenständlichkeiten sollen wahrhaft sein können“;22
sie untersucht nicht einfach das jeweils Vorliegende, sondern die
Möglichkeiten seines Vorliegens, aber so auch diese Möglichkeiten
auf das Vorliegen hin. Darin ist die Ontologie „katastematisch“;23 sie
stellt die Wesensbestimmungen des Seienden als solche ihres mög-
lichen Seins fest und versieht sie dabei mit dem Index des „seiend“.
Weil die festgestellten Bestimmungen wirklich die des Seienden sind,
ist das Seiende, was es ist.
Im Ausgang von diesem Verständnis der Ontologie müßte ein
solches Feststellen und Festgestelltsein auch die ontologisierte
Phänomenologie Heid­eg­gers betreffen. Gerade wenn man die Rede
vom „faktischen Selbst“ nicht als anthropologisch mißversteht,
läßt sie sich derart auffassen – vorausgesetzt man ist bereit, das
‚Festgestellte‘ nicht als Gegenstandsbestimmtheit im Sinne Hus-
serls und also auch die Feststellung nicht als eine der „kategorialen
Formen“ der Gegenstände zu denken. „Faktisch“ im Sinne Heid­
eg­gers ist nicht das Festgestellte von Wesensbestimmungen und
ihres möglichen oder tatsächlichen Vorliegens. Wesentlich festge-
stellt, faktisch ist vielmehr das menschliche Dasein in seiner Unum-
gänglichkeit. Der Ausdruck „Faktizität“ bedeutet, wie Heid­eg­ger
sagt, „jeweilig dieses Dasein“;24 er soll zu verstehen geben, „daß
sich dieses Seiende verstehen kann als in seinem ‚Geschick‘ ver-

18
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 80.
19
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 84.
20
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 83.
21
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 84.
22
Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Husserlia-
na XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den Haag 1974, 151.
23
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 129.
24
Heid­eg­ger, Ontologie GA 63, 7.
16 Günter Figal

haftet mit dem Sein des Seienden, das ihm innerhalb seiner eigenen
Welt begegnet“.25 Das heißt jedoch nicht, das Dasein gehöre unter
die in der Welt begegnenden Dinge und könne derart wie das „fac-
tum brutum eines Vorhandenen“ festgestellt werden.26 Vom „Daß
der Faktizität“ sagt Heid­eg­ger, es werde „in einem Anschauen
nie vorfindlich“.27 Es liegt vielmehr im So-und-nicht-anders des
Daseins selbst, darin, daß Dasein im Dasein gelebt werden muß. In
diesem Sinne spricht Heid­eg­ger auch vom „Überantwortetsein an
das Da“.28 Erfahren wird dieses Überantwortetsein als die Unmög-
lichkeit, sich im Dasein nicht da seiend zu verhalten. So bedeu-
tet sie für das Dasein, „daß es ist und zu sein hat“,29 Sofern die
Faktizität immer wieder neu übernommen und vollzogen werden
muß, erweist sich in ihr Sinn, mit einem Wort des jungen Heid­eg­ger
gesagt, als „Vollzugssinn“.30
Auch mit diesem Gedanken ist Heid­eg­ger auf Husserl verwiesen.
Der Gedanke eines Vollzugssinns ist für Husserls Phänomenologie
so wesentlich, daß Husserl sich sogar für deren Abgrenzung gegen-
über der Ontologie auf ihn berufen kann. Dem „katastematischen“
Charakter der Ontologie setzt er den „genetischen“ oder „kineti-
schen“ der Phänomenologie entgegen. Die phänomenologische
Betrachtungsweise nehme die Einheit der Dinge „als Einheit im Fluß,
nämlich als Einheit eines konstituierenden Flusses“; sie verfolge „die
Bewegungen, die Abläufe, in denen solche Einheit und jede Kompo-
nente, Seite, reale Eigenschaft solcher Einheit das Identitätskorrelat“
sei.31 Sie stellt keine Wesensbestimmungen im Hinblick auf ihr mög-
liches oder wirkliches Vorliegen fest, sondern vollzieht die Einheit
der Dinge, um sie so nachvollziehbar zu machen. Das Genetische
oder Kinetische der Phänomenologie hat mit einem gegenüber dem
Sein defizienten Werden nichts zu tun, sondern betrifft den durch-
sichtigen Aufbau der Dinge.
Die Bestimmung der Phänomenologie vom „Vollzugsinn“ her
zeigt aber nicht nur die Nähe Heid­eg­gers zu Husserl; sie zeigt auch,
wieso Heid­eg­ger bei radikaler Abweichung von Husserl denken
kann, er führe dessen Ansatz konsequent weiter. Berücksichtigt man
25
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 75.
26
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 180.
27
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 180.
28
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 180.
29
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 179.
30
Heid­eg­ger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 32.
31
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 129.
Phänomenologie und Ontologie 17

den Vollzugscharakter des konstituierenden Bewußtseins, wird ver-


ständlich, weshalb Heid­eg­ger in seinem Brief an Husserl behaupten
kann, die „transzendentale Konstitution“ sei „eine zentrale Mög-
lichkeit der Existenz des faktischen Selbst“. Die Konstitution, also
der schrittweise Aufbau von Begegnendem in seiner Bedeutung,
findet ja nicht in der Betrachtung des Phänomenologen, sondern
im betrachteten Bewußtseinsvollzug statt. Damit aber geschieht sie
nach Heid­eg­gers Überzeugung „faktisch“, und entsprechend löst
sich der „genetische“ oder „kinetische“ Charakter der Phänomeno-
logie nur ontologisch ein.
Selbst mit diesem Gedanken folgt Heid­eg­ger noch den Vorgaben
Husserls. Er hält sich an den Grundsatz, daß es phänomenologisch
nicht auf die Frage ankommt, „wie die Dinge überhaupt sind“, son-
dern darauf, „wie beschaffen das Bewußtsein von Dingen ist“.32 Mit
der Ersetzung des „Bewußtseins“ durch „Dasein“ weicht Heid­eg­ger
zwar von Husserls Ausarbeitungen, aber nicht von seinem Grundsatz
ab. Wie Husserl versteht Heid­eg­ger die Dinge phänomenologisch als
immanente Korrelate intentionaler Einstellungen. Daß Heid­eg­ger
sich anders als Husserl nicht an der „Dinganschauung“ oder „Ding-
vorstellung“ orientiert, sondern das primäre ‚Bewußtsein‘ der Dinge
im praktischen Umgang mit ihnen verortet, reißt keinen Abgrund
zwischen ihnen auf. Darüber, daß Husserl diese Ausprägung des
Dingbezugs nicht fremd ist, können die auf die „Umwelt“ bezoge-
nen Analysen im zweiten Buch der Ideen belehren;33 daß Heid­eg­
ger mit diesen Analysen vertraut war, sieht man bei der Lektüre der
einschlägigen Paragraphen von Sein und Zeit auf den ersten Blick.
Unannehmbar für Husserl ist aber der Gedanke, daß die Konstituti-
onsleistung des Daseins wesentlich an seine Faktizität, an das fakti-
sche „Aktsein“34 der Daseinsvollzüge gebunden sei. Unannehmbar
wäre also die Konzeption des Daseins im Rahmen einer – wie auch
immer ausgearbeiteten – „katastematischen“ Ontologie. Indem
Heid­eg­ger gegenüber Husserl die Faktizität des Daseins, das „fak-
tische Selbst“ und den „konkreten Menschen“ betont, läßt er, wie
Husserl glauben müßte, seinen Entwurf dem Grundcharakter dieser
Ontologie unterstellt sein. Ob es sich um das Sein der Dinge oder

32
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 84.
33
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phäno-
menologischen Philosophie. Zweites Buch, Husserliana IV, hrsg. von Marly
Biemel, Den Haag 1952, 183–190.
34
Heid­eg­ger, Prolegomena, GA 20, 151.
18 Günter Figal

um das Sein des Daseins handelt, macht unter dem Gesichtspunkt


des „Faktischen“ keinen allzu großen Unterschied. Denkt man von
Husserl aus, so ist Prägung der Phänomenologie durch eine solche
Ontologie in jedem Fall problematisch.

3.

Trotzdem ist damit über die Bedeutung der Ontologie für die Phäno-
menologie noch nicht endgültig entschieden. Es läßt sich bezweifeln,
daß die Ontologie „katastematisch“ sein muß. Ebenso ist fraglich, ob
sie als „dogmatische Wissenschaft“ angemessen bestimmt ist. Zwar
ist unbestreitbar, daß es die Ontologie wesentlich mit dem Fakti-
schen zu tun hat. Aber sie stellt das Faktische nicht einfach fest und
nimmt es erst recht nicht dogmatisch hin. Seit es die Ontologie über-
haupt gibt, ist es ihre Aufgabe, das Faktische in seinem Stellenwert
und seinem inneren Aufbau zu klären. In diesem Sinne hat schon
Aristoteles, der Begründer der Ontologie, das innere Gefüge des
Faktischen erfaßt, indem er das Seiende zwiefach, als „Was es ist“
(τί ἐστι) und „Dies-da“ (τόδε τι) bestimmt und die Seiendheit des
Seienden (οὐσία) sowohl als Wesensbestimmten (τὸ τί ἦν εἶναι) und
als Vor- und Zugrundeliegendes (ὑποκείμενον) versteht. Mit Ari­
stoteles wäre das Faktische, mit dem es die Ontologie zu tun hat, als
die Wesensbestimmtheit im Hinblick auf das Dies-da und entspre-
chend als das Dies-da in seiner Bestimmtheit zu bestimmten. Derart
verstanden, ist das Seiende umgrenztes Vorliegendes ὑποκείμενον
ὡρισμένον etwas Vorliegendes, das nur in und aufgrund seiner
bestimmten Gestalt vorliegt.35
Die Ontologie im aristotelischen und insofern kanonischen Sinne
ist also in der Tat, wie Husserl sagt, „Wissenschaft von den mög-
lichen kategorialen Formen, in denen Substratgegenständlichkeiten
sollen wahrhaft sein können“. Aber sie ist eine solche Wissenschaft
gerade nicht, indem sie die kategorialen Formen und die Substrakt-
gegenständlichkeiten feststellt oder „dogmatisch“ hinnimmt, son-
dern indem sie diese in ihrem Verhältnis zueinander reflektiert. So
geht es in der Ontologie nicht einfach um das Faktische, sondern um
dessen innere Möglichkeit.

35
Aristoteles, Metaphysica 1028a; die Metaphysik wird zitiert nach:
Aristotle’s Metaphysics, hrsg. von William David Ross, zwei Bände, Oxford
1924.
Phänomenologie und Ontologie 19

Das gilt auch für die Ontologie des Daseins, und dennoch ergibt
sich für diese ein besonderes Problem – eben das Problem, durch
das sie für Husserl fragwürdig wurde. Die Ontologie des Daseins
betrifft immer auch das Sein des ontologischen Betrachters selbst.
Daraus ergibt sich die von Husserl gesehene Gefahr des „erkennt-
nistheoretischen Zirkels“. Daß die Gefahr besteht, dürfte nicht zu
bezweifeln sein: Wie soll das ontologisch Untersuchte zugleich die
untersuchende Instanz sein können? Heid­eg­ger hat in Sein und Zeit
mit diesem Zirkeleinwand gerungen, ohne eine wirklich überzeu-
gende Antwort zu finden. Anders als Heid­eg­ger meinte, löst die
Schwierigkeit sich nicht dadurch, daß die Leistung der Ontologie
als „Entwurf“ des ontologisch thematischen Daseins in seinem Sein
verstanden wird, der sich dann durch das faktische Dasein bestä-
tigt. Indem die ontologische Betrachtung sich zur Beurteilung an die
Instanz des Betrachteten verweist, geht das Besondere der ontologi-
schen Einsicht verloren. Diese läßt sich nicht bestätigen, indem man
das thematische Dasein, „selbst zu Wort kommen“ läßt.36 Die Selbst-
aussage des Daseins müßte ontologisch sein, um der ontologischen
Interpretation gerecht zu werden, aber das würde die ontologische
Betrachtung nur verdoppeln. Wenn die Auskunft des thematischen
Daseins jedoch nicht ontologisch ist, hat sie als Bestätigung der onto-
logischen Betrachtung keinen Wert. Also läßt die Daseinsontologie
sich nicht durch die Berufung auf das faktische Dasein begründen.
Sofern sie Ontologie ist, hat die Ontologie des faktischen Daseins
nicht den Charakter der Faktizität.
Dem läßt sich Rechnung tragen, indem man die Ontologie des
Daseins nicht als Daseinsvollzug versteht, sondern konsequent nach
dem Vorbild der aristotelischen Ontologie, das heißt: als immanente
Reflexion. Sie verhielte sich zum analysierten Daseinsvollzug wie
das Nachdenken zum Handeln. Als Reflexion ist sie Austrag einer
inneren Zwiefältigkeit im „Faktischen“, die im faktischen Daseins-
vollzug unbedacht bleibt. Die eigentliche Leistung der Daseinsonto-
logie besteht im Auseinanderhalten der Formen des Daseins und des
Daseinsvollzugs, der durch diese Formen bestimmt ist. Nur sofern
beides auseinander gehalten ist, kann die ontologische Analyse die
Formen als „Existenzialien“ bestimmen. Zwar müssen die Formen
im jeweiligen Dasein wiedergefunden werden können; aber dabei
werden die Daseinsvollzüge erst durch die Formen in dem ver-
ständlich, was sie „überhaupt sind“. Einen „erkenntnistheoretischen

36
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 417.
20 Günter Figal

Zirkel“ gibt es für die Daseinsontologie nur, wenn man sich, wie
Heid­eg­ger es tut, ohne weitere Differenzierung auf das „faktische
Selbst“, den „konkreten Menschen“ beruft. Aber die ontologische
Betrachtung ist anders „da“ als der ontologisch analysierte Daseins-
vollzug. Sie ist „da“ auf reflektierte und darin auf intensivere Weise.
Heid­eg­ger kommt diesem reflexiven Grundzug der Daseins­
ontologie am nächsten, wenn er betont, die ontologische Erfassung
des Daseins müsse dem Dasein „im Gegenzug zur verfallenden
ontisch-ontologischen Auslegungstendenz abgerungen werden“.
Das „Seiende, das wir je selbst sind“, sei „ontologisch das Fernste“,37
weil dieses in sich die Tendenz habe, „das eigene Sein aus dem Seien-
den her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst
verhält, aus der ‚Welt‘“, die hier im Sinne des Vorhandenen zu ver-
stehen ist.38 Sofern die „Welt“ aber in Wahrheit vom Dasein her
verstanden werden muß, spielt im Dasein selbst ein ontologischer
Konflikt: der Konflikt zwischen Daseins- und Vorhandenheitsonto-
logie. Unter dieser Voraussetzung ist die Daseinsontologie eine dem
Dasein immanente Klärung. Weder gehört sie zu einem anderen als
dem analysierten Dasein noch gehört sie diesem einfach zu. Sie ist
eine andere Einsichtsmöglichkeit des Daseins und insofern ist sie das
Dasein selbst, aber anders.
Damit ist auch die Voraussetzung dafür gewonnen, das Verhältnis
von Ontologie und Phänomenologie zu bestimmen. Die Grundfigur
des von Heid­eg­ger genannten Konflikts zwischen Daseins- und Vor-
handenheitsontologie ist leicht als diejenige zu erkennen, die auch
Husserl als die der Verschiedenheit von Ontologie und Phänomeno-
logie bestimmt hatte; phänomenologisch gehe es nicht darum, „wie
die Dinge überhaupt sind“, sondern darum, „wie beschaffen das
Bewußtsein von den Dingen ist“. Unter der Voraussetzung, daß das
“Bewußtsein“ als Dasein in seinem Weltbezug zu begreifen ist, wird
letzteres für Heid­eg­ger zur ontologischen Aufgabe. Ontologisch ist
die Aufgabe, sofern das Sein von etwas vom Sein des Daseins her
aufgeklärt wird; die Kategorien ordnen sich, wenn es so ist, in ihrer
Gesamtheit den Existenzialien zu.39

37
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 412.
38
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 22.
39
Heid­eg­ger kombiniert hier die Frage nach dem „Bewußtsein der Dinge“
mit der aristotelischen Annahme einer leitenden Grundbedeutung von „sei-
end“ die als Einheit aller anderen Bedeutungen fungieren soll. Vgl. Figal,
Heid­eg­ger als Aristoteliker.
Phänomenologie und Ontologie 21

Aber die Aufgabe ist zugleich phänomenologisch. Was im Dasein


begegnet, kann nur dann als Phänomen verstanden werden, wenn
es von der Bedingung seines Begegnens her gedacht wird. Das ist
die eigentümliche Weltaufgeschlossenheit des Daseins, die Offen-
heit der Welt für das Dasein und des Daseins für die Welt. Es ist
konsequent, daß sich die Ontologie des Daseins in deren Bestim-
mung und damit in einem phänomenologischen Gedanken erfüllt.
Aber dieser Gedanke geht über die Ontologie hinaus. Indem Heid­
eg­ger das Dasein mit seiner „Erschlossenheit“ identifiziert,40 klärt er
die Zugänglichkeit der Dinge, indem er diese nicht mehr als Dinge,
sondern als Phänomene sieht. Zugleich klärt Heid­eg­ger, in welchem
Sinne die existenzialen Formen des Daseinsvollzugs zu verstehen
sind; sie geben die den Daseinsvollzug bestimmenden Möglichkeiten
des Daseins an, seine Erschlossenheit zu sein.
Aber die Erschlossenheit läßt sich nicht allein von den Mög-
lichkeiten des Daseinsvollzugs her fassen. Als Offenheit ist sie die
Möglichkeit dafür, daß diese Möglichkeiten nicht nur gelebt, son-
dern als solche erfaßt werden können. Damit führt der Versuch,
das in Sein und Zeit „Erschlossenheit“ genannte Offene selbst zu
denken, über das Ontologische hinaus und erweist sich als phäno­
menologisch. Zur Phänomenologie gehört wesentlich der Blick in
das Offene selbst, um von ihm her zu denken und zu beschrei-
ben. Ihr Ursprung ist, mit Platon gesagt, jenseits der Seiendheit,
ἐπέκεινα τῆς οὐσίας.41
Entsprechend gibt es keine Ontologie des phänomenologischen
Blicks, also auch nicht den „Widersinn eines erkenntnistheoretischen
Zirkels“. Der phänomenologische Blick kommt nicht von der Sei-
endheit her und geht nicht auf diese. Für ihn ist es eigentümlich, sich
nicht an das Faktische zu halten. Nicht darauf, „wie die Dinge über-
haupt sind“, ist dieser Blick gerichtet, sondern auf ihr Sichzeigen.
Das Sein ist dabei, mit Husserl gesagt, „außer Aktion“, „in Klam-
mern“ gesetzt; es steht in der phänomenologischen ἐποχή, die das
Faktische zwar nicht verschwinden läßt, aber es wirkungslos macht.
Es ist „ausgeschaltet“, man macht von ihm „keinen Gebrauch“.42
Sobald man vom Faktischen wieder philosophischen „Gebrauch“
macht, ist aus der phänomenologischen Untersuchung eine ontolo-

40
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 177: „Dasein ist seine Erschlossenheit“.
41
Plato, Res publica 509b; Platons Dialoge werden zitiert nach: Platonis
Opera, hrsg. von John Burnet, Oxford 1900–1907.
42
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 63.
22 Günter Figal

gische geworden. Insofern ist es in der Tat, wie Husserl sagt, „eine
bloße Blickwendung“, was von der Phänomenologie zur Ontologie,
von der Ontologie zur Phänomenologie führt.43 Der ontologische
Blick hält sich im Offenen an das Faktische; der phänomenologische
kommt vom Offenen her, und dabei wird ihm das Faktische zum
Phänomenalen.
Wenn es so ist, hat Heid­eg­ger mit seiner Erörterung des Offe-
nen für das Verständnis der ἐποχή und damit für das Verständnis
der Phänomenologie als solcher eine außerordentliche Entdeckung
gemacht. Während die ἐποχή bei Husserl als eine willkürliche
Entscheidung des Phänomenologen erscheint – als Sache seiner
„vollkommenen Freiheit“44 – läßt sich mit Heid­eg­ger die Mög-
lichkeit der ἐποχή, also die Möglichkeit der Phänomenologie ver-
stehen. Aus der Offenheit, die Heid­eg­ger auch unter den Namen
der „Wahrheit“ oder ἀλήθεια und schließlich der „Lichtung“
bedenkt, kommt demnach die Möglichkeit einer Wissenschaft von
den „Ursprüngen“ aller Erkenntnis, die als solche „Mutterboden
aller philosophischen Methode“ ist.45 Weil die Phänomenologie aus
der Möglichkeit aller Erkenntnis herkommt, ist sie voraussetzungs-
los und gibt mit ihrer Voraussetzungslosigkeit jeder methodischen
Untersuchung den Maßstab ihrer Klärungsansprüche. Obwohl
Heid­eg­ger die Phänomenologie als Ontologie entwerfen wollte, hat
er letztlich den radikalen Anspruch der Phänomenologie bekräf-
tigt. Im Zuge seiner Ontologie macht Heid­eg­ger auf phänomeno-
logische Weise klar, warum, „Ontologie nicht Phänomenologie“
ist46 und warum sie zugleich von dieser „umspannt“ werden kann.
Heid­eg­gers Denken ist wesentlich phänomeno­logisch. Insofern ist
es konsequent, daß Heid­eg­ger sich schließlich von der Ontologie
abkehrt und sein Denken der später „Lichtung“ genannten Offen-
heit widmet, in der allein es das nun als „Anwesen“ gedachte Sein
geben kann. In diesem Zusammenhang hat Heid­eg­ger die Phäno­
menologie als die „sich wandelnde und nur dadurch bleibende
Möglichkeit des Denkens“ bestimmt, „dem Anspruch des zu
Denken­den“ – also der Lichtung – „zu entsprechen“.47 Wenn das im
Sinne philosophischer Forschung geschehen soll, ist es – mit einer

43
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 105.
44
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 64.
45
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 80.
46
Husserl, Ideen III, Husserliana V, 129.
47
Heid­eg­ger, Zur Sache des Denkens, GA 14, 101.
Phänomenologie und Ontologie 23

abgewandelten Formulierung aus Sein und Zeit gesagt – gleich­


bedeutend damit, den Geist Heid­eg­gers zu pflegen, um dem Werk
Husserls zu dienen.48

48
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 533.
Jean-Luc Marion
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit
durch Husserl und Heid­eg­ger

1.

In neueren Diskussionen, übrigens meist französischsprachigen Dis-


kussionen, hat man eine Frage wieder auftauchen sehen, die man
nach den hartnäckigen Widerlegungen dessen, was man unter der
Bezeichnung als „Mythos des Gegebenen“ gefaßt oder vielmehr dis-
qualifiziert hat, für endgültig aufgegeben halten konnte. Es handelt
sich um die Frage der Gegebenheit. Dennoch ging es nicht darum,
ein weiteres Mal, und sicherlich ein Mal zuviel, die Diskussion
über die Möglichkeit unbegründeter Gegebenheiten aufzugreifen,
ob man sie nun im Sinne der sens data in der lockeschen Tradition
oder aber im Sinne der Inhalte der Erlebnisse aus der Diskussion der
Protokollsätze von Carnap und Neurath oder auch der unmittelba-
ren Gegebenheiten des Bewußtseins im bergsonschen Stil verstehen
müsse. Es ging vielmehr darum, den Modus des Seins oder besser des
Offenbarwerdens (gerade nicht den Modus des Seins) bestimmter
Phänomene zu hinterfragen. Denn das Prinzip – wenn man einmal
annimmt, daß es sich um ein solches handelt –, daß alles, was offen-
bar wird, zunächst einmal gegeben sein muß (selbst wenn alles, was
gegeben ist, sich gleichwohl nicht restlos offenbart),1 impliziert, daß

1
Wir haben dieses Quasi-Prinzip zunächst als Schlußfolgerung gesetzt:
Jean-Luc Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heid­eg­
ger et la phénoménologie, zweite Auflage, Paris 2004, 303. Nachdem Michel
Henry es im Wesentlichen für gültig erklärt hatte (Michel Henry, Les quatre
principes de la phénoménologie, in: Revue de la Métaphysique et de Morale, 1
(1991), 3–26, wieder abgedruckt in: Michel Henry, Phénoménologie de la vie,
Band 1. De la phénoménologie, Paris 2003), haben wir es näher ausgeführt in:
Jean-Luc Marion, Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation,
dritte Auflage, Paris 2005, 13–102.
26 Jean-Luc Marion

man die Gegebenheit als Modus der Phänomenalität hinterfragt,


als ein Wie des Phänomens. Derart, daß es sich nicht mehr um das
unmittelbar Gegebene handelt, um den perzeptiven Inhalt oder das
bewußt Erlebte, kurz gesagt um das Gegebene, sondern um den Stil
seiner Phänomenalisierung als Gegebenes, kurz gesagt um seine
Gegebenheit.2 Der gelegentlich geäußerte Verdacht der Ambigui-
tät des französischen Wortes donation spiegelt tatsächlich nur die
Ambiguität des deutschen Wortes Gegebenheit wider, das ebenso
auf das Gegebene (das Daß) wie auf seinen Modus der Offenbarwer-
dung (das Wie) verweist. So verlagerte sich der Ort der Diskussion,
wie auch ihr Gegenstand, von der Erkenntnistheorie hin zur Phäno-
menalität, und damit zur Phänomenologie. Aber die Verschiebung
selbst eröffnete bald eine andere Frage: Hält sich die Gegebenheit an
ihre vermutete phänomenologische Bestimmung – als eine Gegeben-
heit im Sinne eines Modus der Phänomenalität –, oder rückt sie nicht
unvermeidlich in die Nähe der Gegebenheit als einem ontischen
Prozeß? Man kann die Gegebenheit so als eine Gabe verstehen (im
allgemeineren Rahmen einer Soziologie der Gabe), als eine Modali-
tät der Produktion (der Wirtschaft oder der Technik zufolge), oder
sogar als ein Substitut der Schöpfung (im hier verallgemeinerten oder
stillschweigend angenommenen theologischen Sinne). Bisweilen hat
man diese letzte Hypothese bevorzugt und in der Gegebenheit die
schlichte, zwar verborgene, aber leicht auszumachende Restauration
der Schöpfung vermutet, die selbst im rein onto-theologischen Sinne
einer Kausalität und einer transzendentalen Gründung verstanden
wurde.3
Unsere Absicht wird hier nur darin bestehen, den streng phäno-
menologischen Status der Gegebenheit zu verifizieren, sie also als
eine Modalität der Phänomenalität und nicht als ein ontisch Gege-
benes zu verstehen, als eine Gegebenheit und nicht als eine metaphy-
sische und ontotheologische Begründung. Diese Verifizierung läßt
sich auf zweierlei Art denken: Entweder auf dem Wege einer streng
begrifflichen Analyse, die von der Krise jeder Begründung a priori

2
Gegebenheit eher mit donnéité als mit donné oder donation wiederzu-
geben, wurde übrigens von manchen Husserl-Übersetzern vorgeschlagen
(hinsichtlich der verschiedenen möglichen Übersetzungen vgl. Marion, Etant
donné, 98), insbesondere von Jean-François Lavigne, Husserl et la naissance
de la phénoménologie (1900–1913). Des Recherches logiques aux Ideen: la
genèse de ’idéalisme transcendantal phénoménologique, Paris 2005, 175.
3
Dies war die zentrale Fragestellung von Dominique Janicaud in: Le
tournant théologique de la phénoménologie française, Combas 1991.
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 27

wieder zur Notwendigkeit eines Rückgriffs auf ein Prinzip a poste-


riori gelangt, so paradox die Formulierung auf den ersten Blick auch
erscheinen mag: Wir haben dies an anderer Stelle versucht.4 Oder
aber, und wir folgen hier diesem bescheideneren Weg, indem man
die phänomenologische Genealogie vom Begriff der Gegebenheit
her skizziert. In unserem Fall wird dies erörtert anhand bestimmter
Arten seiner Verwendung beim frühen Heid­eg­ger und bei Husserl,
in ihrer Relation zur Theorie des Gegenstandes, so wie sie Bolzano,
Meinong und seine Zeitgenossen entwickelt haben.

2.

Um den phänomenologischen Status der Gegebenheit von Heid­eg­


ger ausgehend zu begründen, könnte man sich direkt Zeit und Sein5
zuwenden, das expliziter als jedes andere Werk die ursprüngliche
Funktion des es gibt herausstellt. Wir werden jedoch nicht so verfah-
ren, denn dieser Text, der im übrigen eher aporetisch als konklusiv
ist, führt in gewisser Weise keinen detaillierten Nachweis der Gege-
benheit, sondern setzt sie als bereits erworbene voraus: Die These es
gibt Sein, es gibt Zeit dient als Ausgangspunkt, ohne je eine wirklich
phänomenologische Exposition zu erfahren. Und dieser Ausgangs-
punkt bleibt selbst äußerst provisorisch, denn das zweifache es gibt
hebt sich schließlich bald im Ereignis auf, dessen Verankerung in der
Gegebenheit übrigens alsbald sehr problematisch wird.6 Man könnte
sich daher zwar umgekehrt auf einen der frühen Texte stützen, in die-
sem Fall die allererste Freiburger Vorlesung, die im Kriegsnotsemes-
ter 1919 gehalten wurde.7 Dieser Ansatz bleibt jedoch streitbar, denn
selbst wenn die damals mit Natorp und Rickert geführte Diskussion

4
Jean-Luc Marion, L’autre philosophie première et la question de la donati-
on, in: Philosophie 49 (1996), 29–50; wieder abgedruckt in: Jean-Luc Marion,
De surcroît. Etudes sur les phénomènes saturés, Paris 2001; das erste Kapitel
übersetzt als Eine andere ‚Erste Philosophie‘ und die Frage der Gegebenheit
(in: Michel Gabel/Hans Joas (Hrsg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe.
Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg 2007). Auch
in: Marion, Etant donné, 13–102.
5
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2.
6
Wir haben versucht, dies zu zeigen in: Marion, Etant donné, 53–55 (über-
setzt als Reduktive ‚Gegen-Methode‘ und die Faltung der Gegebenheit, in:
Gabel/Joas (Hrsg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe, 37–55).
7
Heid­eg­ger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57.
28 Jean-Luc Marion

die richtige Perspektive (die wir hier bestätigen werden) eröffnet hat,
so verfügte der junge Heid­eg­ger doch noch ebensowenig über die
Analytik des Daseins wie über die Hermeneutik der Faktizität, und
zwar dergestalt, daß dieses Fehlen den übrigens häufigen Gebrauch
von es gibt, von Gegebenheit und Ereignis mit einer beträchtlichen
Unentschiedenheit einhergehen läßt.8 Das Risiko übermäßiger Ent-
sprechungen und unbedachter Antizipationen vom Beginn auf die
spätere Durchführung wäre bei dieser Lektüre fast unvermeidlich.
Der sicherste Weg scheint also zu sein, die Funktion und die Trag-
weite der Gegebenheit in Sein und Zeit selbst zu untersuchen. Denn
selbst wenn diese weniger die besonderen Fälle der Gegebenheit9
betreffen als vielmehr die des es gibt, so scheinen sie doch ebenso
bedeutsam wie schwierig zu interpretieren.
Halten wir zunächst fest, daß im Augenblick der formalen Frage-
stellung nach dem Sein (in § 2) die erste ausdrückliche Erwähnung
des Begriffs erfolgt: „Aber ‚seiend‘ nennen wir vieles und in ver-
schiedenem Sinne. Seiend ist alles, wovon wir reden, was wir meinen,
wozu wir uns so und so verhalten, seiend ist auch, was und wie wir
selbst sind. Sein liegt im Daß- und Sosein, in Realität, Vorhandenheit,
Bestand, Geltung, Dasein, im ‚es gibt‘. An welchem Seienden soll der
Sinn von Sein abgelesen werden“?10 Man hört hierbei in der Tat ein
Echo von Brentanos Frage nach der Pluralität (in diesem Fall der

8
Veröffentlicht von Bernd Heimbüchel unter dem Titel Zur Bestimmung
der Philosophie (GA 56/57) in der Gesamtausgabe. Wir haben versucht,
hierzu einen kurzen Kommentar zu geben: Ce que donne ‚cela donne‘, in:
Philippe Capelle/Geneviève Hébert/Marie Dominique Popelard (Hrsg.), Le
souci du passage. Mélanges offerts à Jean Greisch, Paris 2004, 291–306.
9
Vorwiegend die „Gegebenheit des Ich“ (Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2,
154 und 155), von der Ganzheit des „Daseins“ (Heid­eg­ger, Sein und Zeit,
GA 2, 253 und 407–408) und der „Erlebnisse“ (Heid­eg­ger, Sein und Zeit,
GA 2, 352). Wir übernehmen hier eine Bemerkung von Jean-François Cour-
tine: „das Heid­eg­gersche ‚es gibt‘, so wie es lange vor den späten Variationen
von Zeit und Sein in Sein und Zeit erscheint, um zu zeigen, übrigens in An-
führungszeichen, die es zu deuten gilt, daß das Sein nicht ist, sondern daß es
Sein gibt“ (Jean-François Courtine, Présentation, in: A. Meinong. Théorie de
l’objet, Paris 1999, hier 34, eigene Übersetzung; der Text von Meinong wurde
ins Französische übersetzt von J.-F. Courtine und Marc de Launay). Wir
werden hier in gewisser Hinsicht nur versuchen, diese Anführungszeichen
zu interpretieren.
10
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 9. In seinem persönlichen Beispiel präzi-
siert Heid­eg­ger, daß „Dasein“ hier „noch der gewöhnliche Begriff und noch
kein anderer“ sei (Heid­eg­ger, GA 2, 9, Anm. a).
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 29

Vielfalt) der Sinne des Seins, die formuliert wird durch eine kritische
Bestandsaufnahme der traditionellen metaphysischen Sinngebungen
ebenso wie einer Skizze jener Sinnformen, welche die Existenzialana-
lytik herausarbeiten wird. Dieser zweifachen Liste fügt sich nun aber
das es gibt hinzu, das wir offenkundig in seiner wörtlichen Bedeutung
beibehalten (cela donne), ohne es durch sein ungenaues, aber durch
den Gebrauch üblich gewordenes französisches Äquivalent, das il y
a, zu überdecken und zu verbergen.11 Die Addition dieses Syntagmas
wirft jedoch in ihrem Inneren eine Schwierigkeit auf: Wenn nämlich
das es gibt weder zu den Sinngebungen des Seins gehört noch zu den
Kategorien des Seienden oder gar zum Wortschatz der Metaphysik,
warum fügt es sich dann in dieser Form ihrer Liste hinzu? Handelt
es sich im übrigen nur um einen Terminus vom selben Rang wie die
anderen, oder vielmehr um ein neues Thema? Gehört er in diesem
Fall noch zur Frage nach dem Seienden und zur Suche nach den Sinn-
formen des Seins? Zu diesen Fragen liefern die unmittelbar folgenden
Fälle des es gibt keine Antwort, denn sie halten sich hierbei an den
vorbegrifflichen Gebrauch der Umgangssprache.12

3.

Eine eingeschobene Bemerkung liefert jedoch einen ersten Hinweis:


„Welt ist selbst nicht ein innerweltlich Seiendes, und doch bestimmt
sie dieses Seiende so sehr, daß es nur begegnen und entdecktes Seien-
des in seinem Sein sich zeigen kann, sofern es Welt ‚gibt‘. Aber wie

11
Wir übernehmen eine treffende Bemerkung von Jean-François Courtine
über das „es gibt“, das nur sehr unzureichend das französische „il y a“ oder
das englische „there is“ wiedergibt. Tatsächlich befinden wir uns mit diesem
„es gibt“ in der Nähe einer sicherlich elementaren Figur, die über die Maßen
erschöpft und auf beinahe nichts (aber eben nicht auf nichts) von der Gege-
benheit oder dem gegebenen Sein reduziert wurde.“ (Courtine, Husserl et la
naissance de la phénoménologie, 34; vgl. Marion, Etant donné, 51). Warum
aber sollte man plötzlich von einer Erschöpfung reden? Es könnte ganz im Ge-
genteil sein, daß das es gibt keine Analogie oder Abstufung verträgt, daß es sich
vielmehr entweder perfekt ereignet oder überhaupt nicht, gerade weil es eine
Tatsache oder sogar ein Ereignis anzeigt. Und darüber hinaus: Kann man auf
legitime Weise die Gegebenheit mit dem gegebenen Sein gleichstellen, wenn es
doch darum geht, gerade zu denken, daß „das Sein nicht ist“? Es handelt sich
nicht um ein Detail, es ist vielmehr so, daß sich alles in solchen Details abspielt.
12
Beispielsweise Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 49, 84, 116, 210, 329, 342
und 492–498.
30 Jean-Luc Marion

‚gibt es‘ Welt?“13 Das Seiende entdeckt sich nur in der Welt, gerade
weil es nur als innerweltliches ist, nie ohne eine bereits offene Welt.
Aus dieser transzendentalen Anteriorität der Welt gegenüber dem
innerweltlich Seienden geht klar hervor, daß die Welt sich nicht mit
der Anzahl der innerweltlich Seienden vervielfacht. Und da nur das
Seiende ist, muß man daraus schließen, daß die Welt, die kein Sei-
endes ist, eigentlich ebenfalls nicht sein kann. Man wird also nicht
sagen, daß die Welt ist, sondern, strenggenommen, daß es die Welt
gibt – „es gibt“ die Welt. Ein ähnlicher Ausschluß aus dem Sein von
etwas, das sich nur als ein Seiendes definieren kann, bestätigt sich
genau in § 44, der das in der ganzen ersten Sektion des veröffent-
lichten Teils Erreichte resümiert, indem er das es gibt als solches in
die Existenzialanalytik einführt: „Sein – nicht Seiendes – ‚gibt es‘
nur, sofern Wahrheit ist. Und sie ist nur, sofern und solange Dasein
ist. Sein und Wahrheit ‚sind‘ gleichursprünglich.“14 Der erste Satz
bestätigt das zuvor Erreichte: Wenn nur das Seiende ist, und wenn
„das Sein nicht aus Seiendem ‚erklärt‘ werden kann“,15 dann ist das
Sein selbst im engeren Sinne nicht, es geschieht vielmehr durch das
Privileg eines es gibt. Umgekehrt bleibt das Dasein, so privilegiert
es auch gegenüber all den anderen Seienden erscheinen mag, immer
noch ein Seiendes,16 und man kann folglich von ihm behaupten, daß
es ist (ohne Anführungszeichen). Diese Opposition bestätigt im
übrigen nur eine Formulierung aus § 43: „Allerdings nur solange
Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis,
‚gibt es‘ Sein.“17 Mit dem Risiko der Vereinfachung müßte man hie-
raus schließen, daß die Differenz (die bald die ontologische genannt
werden wird) zwischen dem Seienden und dem Sein zwischen dem
liegt, was ist und dem, was es gibt.
Der zweite Satz dieses Absatzes in § 44 dehnt nun dieses dem
Sein zugestandene Privileg auf die Wahrheit aus: Die Wahrheit ist

13
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 97. Könnte man nicht die Unterschei-
dungen zwischen den beiden Modi des innerweltlich Seienden in die Nähe
des folgenden Satzes rücken: „Aber Zuhandenes ‚gibt es‘ doch nur auf dem
Grunde von Vorhandenem.“ Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 96.
14
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 504.
15
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 260; vgl. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2,
275.
16
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 16: „Es ist vielmehr dadurch ontisch
ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst
geht.“
17
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 281.
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 31

nur mit einer Einschränkung (kursiv), denn sie schließt sich gleich­
ursprünglich dem Sein an, das seinerseits ebenfalls nicht ist; oder
aber sie „sind“ beide nur unter dem Vorbehalt von Anführungszei-
chen. Es gibt tritt so an Ort und Stelle des ist, wenn es sich nicht
mehr um ein, sei es auch privilegiertes Seiendes handelt, sondern
entweder um das Sein oder um das, was seine Phänomenalisierung
erfordert: zunächst die Welt, dann hier die Wahrheit. Eine gewisse
Ambiguität bleibt dabei dennoch erhalten, da dieser Text sich noch
typographische Hilfsmittel erlaubt, um aufrechtzuerhalten, daß das
Sein „ist“, daß die Wahrheit ist und daß beide „sind“. Diese Ambigui­
tät wird gleichwohl durch eine vorherige Erklärung desselben § 44
korrigiert: „Wahrheit ‚gibt es‘ nur, sofern und solange Dasein ist.“18
So ist nur das Seiende (par excellence), das den Rang des Daseins
hat, während die Wahrheit eine andere Instanz erfordert, ein es gibt,
dem man zweifelsohne einige schnelle Angaben zur Zeit hinzufügen
könnte. Denn die zweite Sektion des veröffentlichten Teils endet
damit, daß sie ebenso deutlich in Frage stellt, daß die Zeit anders
sein könne als in ihrer allgemeinen und metaphysischen Bedeutung:
„Dabei blieb noch völlig unbestimmt, in welchem Sinne die ausge-
sprochene öffentliche Zeit ‚ist‘, ob sie überhaupt als seiend ange-
sprochen werden kann.“19 Und tatsächlich muß die Zeit zunächst
(im metaphysischen Sinne) reduziert werden auf die Präsenz, da die
Präsenz ihrerseits auf die Gegenwart, und die Gegenwart wiederum
auf den Augenblick reduziert wird, der selbst noch als Punkt ange-
nommen wird (Aristoteles, Hegel), damit die Zeit im strengen Sinne,
und in diesem Fall im Sinne der Metaphysik, wieder dahin gelangt,
zu sein. Umgekehrt wird eine korrekte phänomenologische Analyse
der Zeit anhand der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins allein
von der „Zeit […], die ‚es gibt‘“20 sprechen.
Ziehen wir einen vorläufigen Schluß: Selbst wenn man natürlich
Sein und Zeit nicht einfach als Vorwegnahme von Zeit und Sein lesen
darf, so kann und muß man darin sogar unter anderen allgemeinen
Entscheidungen die beiden folgenden anerkennen: Zunächst, daß
das Sein nicht mehr ist als die Zeit, da nur ein Seiendes sein kann

18
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 299. Ebenso: „Warum müssen wir vor-
aussetzen, daß es Wahrheit gibt? Was heißt ‚voraussetzen‘? Was meint das
‚müssen‘ und ‚wir‘? Was besagt: ‚es gibt Wahrheit‘?“ Heid­eg­ger, Sein und
Zeit, GA 2, 301.
19
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 543.
20
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 543.
32 Jean-Luc Marion

und muß; dann, daß das, was nicht ist, dennoch gegeben ist, anders
gesagt, es phänomenalisiert sich gemäß dem es gibt. Man findet also
eine Phänomenalität des es gibt (und in diesem Sinne der Gegeben-
heit), die Zeit und Sein in ihrer Überlagerung zur Sprache bringt,
während die Phänomenalität des est/ist nur die Verstrickung des
Daseins mit den anderen Seienden beschreibt, deren Sein es ins Spiel
bringt.

4.

Diese Schlußfolgerung mag sicherlich überraschen. Zunächst des-


wegen, weil der Schritt zurück außerhalb der Metaphysik und ihrer
Obstruktion der Seinsfrage paradoxerweise erfordern würde, daß
man auf die Phänomenologie des Seins, des Verbes est/ist/ἐστί ver-
zichtet, um zu einer tatsächlich entschieden nicht ontologischen Phä-
nomenologie zu gelangen, zumindest im Sinne der metaphysischen
ontologia Darüber hinaus auch deswegen, weil sich eine grundle-
gende Frage aufdrängt: Geht dieser Schritt zurück (oder nach vorn)
des est/ist/ἐστί, also diesseits des Seins (oder darüber hinaus), aus den
Möglichkeiten der phänomenologischen Methode als solcher hervor
– wenn zumindest jenes als solcher hier einen Sinn bewahrt? Schreitet
er, indem er eine Verschiebung hin zu einem es gibt, zu Sein und Zeit
skizziert, mit einem simplen Gewaltstreich voran, oder eröffnet er
vielmehr eine Möglichkeit, die bereits implizit in die Phänomenolo-
gie eingeschrieben ist? Anders gefragt, bleibt seine Verwendung des
es gibt/cela donne beispiellos und unbestimmt, oder vollendet er eine
bereits erahnte Möglichkeit des Zugangs zur Gegebenheit?
Es scheint, als könne man die Verwendungen des es gibt in Sein
und Zeit tatsächlich auf drei beinahe zeitgleiche Problematiken der
Gegebenheit zurückführen. – (a) Die These aus § 16, der zufolge ein
Seiendes „nur begegnen und entdecktes Seiendes in seinem Sein sich
zeigen kann, sofern es Welt ‚gibt‘“ – so daß man sich zunächst fragen
muß: „Aber wie ‚gibt es‘ Welt?“21 – kann man als Wiederaufnahme
einer zentralen These von Lask lesen: „Das Gegebene ist dabei nicht
bloß das Sinnliche, sondern die ganze ursprüngliche Welt überhaupt,
woran sich die kontemplative Formenwelt aufbaut. […] Ursprüng-
lich gibt es gar nicht ‚Gegenstände‘, sondern nur jenes Etwas, das

21
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 97 (vgl. oben, Anm. 13).
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 33

kategorial gefaßt Gegenstand wird“.22 Der ursprüngliche Charak-


ter des Gegebenen geht weit über die Anteriorität des Materials
und des sinnlichen Gehaltes (das Sinnliche) hinaus, endet aber bei
nichts weniger als der Welt selbst. Und was man hierbei unter Welt
versteht, besteht gerade nicht aus Gegenständen, denn diese setzen
jene nicht zusammen, sondern werden vielmehr von ihr ausgehend
möglich, die immer schon gegeben ist. – (b) Was den Text des § 2
angeht, der behauptet, daß alle Bedeutungen des Seienden von der
Instanz des es gibt dominiert seien („Aber ‚seiend‘ nennen wir vieles
und in verschiedenem Sinne. […] Sein liegt im Daß- und Sosein, in
Realität, Vorhandenheit, Bestand, Geltung, Dasein, im ‚es gibt‘. An
welchem Seienden soll der Sinn von Sein abgelesen werden“?),23 so
gewinnt er an Kraft, wenn man ihn in die Nähe dessen rückt, was
Rickert unter dem Titel einer „allgemeinen Form der Gegebenheit
oder Tatsächlichkeit“24 thematisierte. Er wollte auf diese Weise in
der Tatsächlichkeit selbst eine Kategorie definieren, die vollkom-
men unreduzierbar auf jene Kategorien sei, welche die Materie des
Gegebenen definierten, da sie die Tatsache selbst bezeichnet, daß das
Gegebene gegeben ist, und daß es in seiner Individualität gegeben ist.
Denn, so insistiert Rickert, die Gegebenheit verlangt, als Modus des
Gegebenen, auch nach einer rechtmäßigen Kategorie, „der Katego-
rie der Gegebenheit oder Tatsächlichkeit“.25 Im Sinne einer solchen

22
Emil Lask, Zum System der Philosophie, in: Gesammelte Schriften (im
folgenden: GS), hrsg. von Eugen Herrigel, Band III, Tübingen 1924, 171–236,
hier 179–180. Dieser Text griff Die Logik der Philosophie und die Kategori-
enlehre, die Heid­eg­ger gleich nach ihrem Erscheinen 1911 gelesen hatte, wie-
der auf und begründete sie neu. Die Hauptthese dieses Werkes war bereits die
Gegebenheit: „Durch die Identität ist das bloße Etwas eine Gegenstand, ein
Etwas, das ‚es gibt‘. Die Kategorie des ‚Es-Gebens‘ ist die reflexive Gegen-
ständlichkeit.“ (Emil Lask, GS II, Tübingen 1923, 1–282, hier 142). Vgl. hier-
zu den klassischen Artikel von Theodore Kisiel, Why students of Heid­eg­ger
will have to read Emil Lask, in: Man and world 28 (1998), 197–240 (wieder
abgedruckt in: Theodore Kisiel, Heid­eg­ger’s Way of Thought. Critical and
Interpretative Signposts, London/New York 2002, 101–136).
23
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 9 (vgl. oben, Anm. 10).
24
Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die
Transzendentalphilosophie, Tübingen 1892, 326. (z. B. in GA 56/57, 34,
GA 58, 71 oder 226 zitiert Heid­eg­ger nach der dritten Auflage von 1915, um
die Verwirrung zwischen zwei Annahmen der Gegebenheit zu kritisieren:
jener, die dem Erlangen einer wissenschaftlichen Erkenntnis vorausgeht und
jener, die daraus hervorgeht.).
25
Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 327–328.
34 Jean-Luc Marion

Kategorie legt die Gegebenheit also bereits die ganze Bedeutung des
Seienden fest, was auch bedeutet, daß sie ihm vorausgeht. – (c) Blei-
ben die §§ 43–44, die, weit davon entfernt, alle ontisch-ontologischen
Bedeutungen unter dem es gibt zu subsumieren, nur für das Sein, die
Wahrheit, die Welt und die Zeit darauf zurückgreifen, im Gegensatz
zu allen Seienden einschließlich des Daseins. Diese radikale Unter-
scheidung findet sich jedoch schon bei einem Vorgänger, Natorp.
Tatsächlich schließt Natorp das Ich selbst von jeder Gegebenheit
aus, wenn er Gegebenes zuläßt: „Datum hieße Problem; Problem
aber ist das reine Ich eben nicht. Es ist Prinzip; ein Prinzip aber ist
niemals ‚gegeben‘, sondern, je radikaler, um so ferner allem Gege-
benen. ‚Gegeben‘ würde überdies heißen ‚Einem gegeben‘, das aber
hieße wiederum: Einem bewußt. Das Bewußt-sein ist im Begriff des
Gegebenen also schon vorausgesetzt.“26 Wie in Sein und Zeit geht
das Dasein insbesondere nicht aus dem es gibt hervor, für Natorp ist
das Ich hiervon ausgenommen. Selbstverständlich wird der Unter-
schied hierbei nur noch deutlicher sichtbar: Gegeben bedeutet für
Natorp wie ein Gegenstand dem Bewußtsein gegeben ist, während
für Heid­eg­ger der vorhandene Gegenstand das weltliche es gibt
eher in sich verbirgt. Am Ende läßt sich zumindest festhalten, daß
Natorps Frage von Heid­eg­ger übernommen wird, und sei es nur, um
radikal umgekehrt zu werden, so wie das Dasein das Ich umkehrt.27
Aus diesem zusammenfassenden Überblick kann man zumin-
dest schließen, daß Sein und Zeit in keiner Weise außer Acht lassen
konnte, daß seine Verwendungen des es gibt in den strategischen
Debatten seiner Zeitgenossen über den Status, die Situation und das
Ausmaß der Gegebenheit einen festen Platz einnahmen. Alle teilen
die vorangestellte Frage: Muß man Gegenstände oder Seiendes defi-
nieren, muß man mit einer Ontologie oder mit einer Theorie des
Gegenstandes beginnen? Aber diese vorangestellte Frage wird bei
ihnen allen vor dem Hintergrund einer Grundannahme formuliert,
die implizit geblieben ist, obwohl sie alle Debatten infiltriert: Kann
man zwischen Gegenständen und Seienden unterscheiden, ohne sie
zunächst zur jeweiligen Gegebenheit in ihnen in Beziehung zu set-
zen? Niemand hat dies besser gesehen und dargelegt als Husserl,

26
Paul Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Erstes
Buch. Objekt und Methode der Psychologie, Tübingen 1912, 40.
27
Vgl. Christoph Wolzogen, „Es gibt“. Heid­eg­ger und Natorps „Prakti-
sche Philosophie“, in: Annemarie Gethmann-Siefert/Otto Pöggeler (Hrsg.),
Heid­eg­ger und die praktische Philosophie, Frankfurt am Main 1988, 313–337.
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 35

der zugleich die neukantianische Debatte abschloß und eine neue


Auseinandersetzung mit Heid­eg­ger ins Leben rief.

5.

In Die Idee der Phänomenologie, jenem Text, in dem er 1907 zum


ersten Mal und definitiv die Operation einer Reduktion einsetzt,
wendet er diese zugunsten der Gegebenheit an. „Überall ist die Gege-
benheit, mag sich in ihr bloß Vorgestelltes oder wahrhaft Seiendes,
Reales oder Ideales, Mögliches oder Unmögliches bekunden, eine
Gegebenheit im Erkenntnisphänomen, im Phänomen eines Denkens
im weitesten Wortsinn“.28 Wenn tatsächlich gilt: „Absolute Gege-
benheit ist ein Letztes“,29 so resultiert dies direkt aus der Reduktion:
„Erst durch eine Reduktion, die wir auch schon phänomenologische
Reduktion nennen wollen, gewinne ich eine absolute Gegebenheit,
die nichts von Transzendenz mehr bietet.“30 Husserl unterscheidet
sich durch den Rückgriff auf die Gegebenheit, die ihnen allen ein
gemeinsames Gut bleibt, nicht von Natorp, Rickert oder Lask. Er
übertrifft sie mit der Bedingung, die er daran knüpft, die Opera-
tion der Reduktion, die allein die Unreduzierbarkeit des Gegebe-
nen rechtfertigt, das wahrhaft unreduzierbar ist, weil es tatsächlich
aus der Reduktion resultiert. Gegeben bedeutet für ihn stets der
Erkenntnis gegeben, dem Ich in Gestalt eines Phänomens, das heißt
gemäß der noetisch-noematischen „wunderbaren Korrelation“31
zwischen dem bewußt Erlebten und dem intentionalen Gegenstand.
Dies impliziert nicht, wie für Natorp, daß das Ich einfach das Prin-
zip außerhalb der Gegebenheit eines Gegebenen bleibt, das wie eine
simple Tatsache verstanden wird, denn das Ich hat seinerseits teil
an der Gegebenheit im Bewußtsein vom zeitlichen Fluß und sei-
ner Variationen. Dies unterstellt die Gegebenheit indes auch nicht
mehr einer ungerechtfertigten Kategorie der Tatsächlichkeit, wie für
Rickert, denn auch nicht tatsächliche, nicht vorhandene Phänomene,
wie beispielsweise logische Idealitäten, sind gegeben. Dies betrifft
28
Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Husserliana II, hrsg.
von Walter Biemel, Den Haag 1950, 74.
29
Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Husserliana II, 61.
30
Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Husserliana II, 44. Zu dieser
strengen Verbindung von Gegebenheit und Reduktion vgl. Marion, Etant
donné, 42–46.
31
Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Husserliana II, 74.
36 Jean-Luc Marion

schließlich auch nicht nur die Welt, wie für Lask, denn selbst die for-
malen Unmöglichkeiten, die Teil der Welt sind, können gegeben sein.
Tatsächlich erstellt der Text selbst, der mit der grundlegenden
Erklärung endet, „überall [sei] die Gegebenheit […] eine Gegeben-
heit im Erkenntnisphänomen“, eine lange Liste der „verschiedenen
Modi der eigentlichen Gegebenheit“; sie umfaßt mit der Gegebenheit
nahezu alle möglichen Phänomene, darunter genau jene, die Natorp,
Rickert oder Lask ausgeschlossen hatten. Husserl listet tatsächlich
(a) die „Gegebenheit der cogitatio“ auf, (b) die „Gegebenheit der
in frischer Erinnerung nachlebenden cogitatio“, also das Ich (gegen
Natorp). Dann (c) „die Gegebenheit der im phänomenalen Fluß
dauernden Erscheinungseinheit“, (d) „die Gegebenheit der Verän-
derung derselben“, (e) „die Gegebenheit des Dinges in der ‚äußeren‘
Wahrnehmung“ und (f) die Gegebenheit der „verschiedenen Formen
der Phantasie und Wiedererinnerung“. Es handelt sich, könnte man
global sagen, um die Tatsachen und die Seienden der Welt. Aber, so
fügt Husserl hinzu, man muß in die Gegebenheit „natürlich auch“
(g) „die logischen Gegebenheiten“ einbeziehen, nämlich die „der
Allgemeinheit, des Prädikats,“ etc.; (h) also letztlich sogar „auch die
Gegebenheit eines Widersinns, eines Widerspruchs, eines Nichtseins,
usw.“32 Diese letztgenannten Figuren der Gegebenheit gehören
jedoch nicht zur Welt (im Sinne von Lask), sie gehen auch nicht auf
die Kategorie der Tatsächlichkeit zurück (Rickert zufolge) und stel-
len kein Faktum der Erfahrung dar (wie für Natorp). Mit welchem
Recht nehmen also der Widersinn, der Widerspruch und das Nicht-
sein (ja sogar das Unmögliche) ihren Platz in der Gegebenheit ein?
Tatsächlich wird die Gegebenheit für Husserl genau in dem Maße
allgemein, wie die Reduktion allgemein ihr Recht ausübt. Wie aber
kommt es, daß das, was keine Ausnahme bildet, in diesem Fall das
Unmögliche, das Nichtsein, der Widersinn und der Widerspruch,
noch den Titel des Gegebenen verdient und sie alle auf die Gege-
benheit zurückführt, da sie die Grenzen des Seienden überschrei-
ten? Muß man daraus schließen, daß die Gegebenheit sich über die

32
Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Husserliana II, 74. In der Tat wird
Husserl nach 1907 andere „Modi der eigentlichen Gegebenheit“ entdecken,
insbesondere den Leib, die passiven Synthesen, die Intersubjektivität und die
Teleologie. Die spätere Phänomenologie wird ihnen noch weitere hinzufügen
(Sein/Seiendes, Zeit, Welt und Wahrheit, Gesicht, Selbstliebe, Hermeneutik,
différance, etc.). Wir behaupten, daß sie alle auf die Gegebenheit zurückge-
hen, ob man dies nun eingestehen mag oder nicht.
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 37

Seiendheit hinaus erstreckt, über das Seiende als das Mögliche der
Metaphysik?

6.

Husserls Entscheidung wird nur dann intelligibel, wenn man auf ein
von Bolzano formuliertes, aber ungelöstes Problem in § 67 der Wis-
senschaftslehre zurückkommt, der den symptomatischen Titel trägt:
„Es gibt auch gegenstandlose Vorstellungen.“33 Bolzano fordert,
wie man weiß, daß jede Vorstellung einen Gegenstand, ein Etwas
haben müsse, das sie vorstellt, „auch der Gedanke Nichts“.34 Und
er führt, hiervon ausgehend, drei Beispiele an: Zunächst den Wider-
spruch (das runde Viereck) und den Widersinn (die grüne Tugend),
also zwei formale und undenkbare Unmöglichkeiten; dann die tat-
sächliche, nur empirische Unmöglichkeit, die jedoch formal nicht
undenkbar ist (der goldene Berg). Bald wird man zwei bestimmende
Punkte bemerken. (a) Diese drei Beispiele entsprechen Husserls letz-
ten Ausdehnungen der Gegebenheit. (b) Um diese gegenstandlosen
Vorstellungen, die folglich die Grenzen der Seiendheit überschreiten,
näher zu bestimmen, greift Bolzano auf das es gibt zurück, so wie
Husserl auf die Gegebenheit zurückgreift. Genau gesagt kann man
nicht davon sprechen, daß „für Bolzano […] das ‚Nichts‘ immerhin
als Vorstellung ‚existiert‘“,35 denn weder sein noch existieren erstre-
cken sich bis zu ihm, sondern nur es gibt.
Mehr noch als durch Bolzano und sogar Twardowski36 wurde
die Verbindung von Gegebenheit und gegenstandlosen Vorstellun-
gen von Meinong etabliert. Tatsächlich gab seine Gegenstandstheorie
von 1904 dieser Verbindung die Form eines berühmten Paradoxes

33
Hervorhebung durch den Verfasser.
34
Bernard Bolzano, Wissenschaftslehre, § 67 (zitiert nach: Bolzano, Schrif-
ten, Band 11, zweiter Teil, Wissenschaftslehre §§ 46–90, hrsg. von Jan Berg,
Stuttgart/Bad Cannstatt 1997, 112).
35
Jocelyn Benoist, Représentations sans objets. Aux origines de la phéno-
ménologie et de la philosophie analytique, Paris 2001, 19; eine ungenaue For-
mulierung eines im übrigen unverzichtbaren Werkes.
36
Der jedoch für Husserl in dieser Frage wesentliche Anregungen gegeben
hat. Das Dossier ihres Gedankenaustauschs wurde in bemerkenswerter Wei-
se zusammengestellt von Jacques English, in: Edmund Husserl – Kasimir
Twardowski. Sur les objets intentionnels (1893–1901), Présentation, traduc-
tions, notes, remarques et index par Jacques English, Paris 1993.
38 Jean-Luc Marion

– „es gibt Gegenstände, von denen gilt, daß es dergleichen Gegen-


stände nicht gibt“.37 Was nicht ist, weil es sich widerspricht oder weil
es sogar überhaupt keine Bedeutung hat, bleibt in der Tat darum
nicht weniger vorstellbar oder gedacht, und sei es nur, um als irreal,
unverständlich oder absurd zurückgewiesen zu werden: Es bleibt
insofern ein Gegenstand, als man es sich vorstellen muß, um es genau
als nicht seiend zu erkennen. Sogar das, was nicht ist, geht also noch
aus dem Gegenstand hervor, da sich eine Theorie seiner annimmt,
nämlich genau die Gegenstandstheorie. Ein beliebiger Gegenstand
definiert sich also nicht mehr durch sein Sein, auch nicht durch
seinen Bestand (bestehen), sondern durch seine Gegebenheit: „Es
gibt aber keinen Gegenstand, der nicht wenigstens der Möglichkeit
nach Erkenntnisgegenstand wäre. […] Alles Erkennbare ist gegeben
– dem Erkennen nämlich. Und sofern alle Gegenstände erkennbar
sind, kann ihnen ohne Ausnahme, mögen sie sein oder nicht sein,
Gegebenheit als eine Art allgemeinster Eigenschaft nachgesagt
werden.“38 Die Tatsache der eigenen, zumindest möglichen Verge-
genständlichung für die Erkenntnis auf dem Wege der Annahme
des Status eines Gegenstandes impliziert noch keine Entscheidung
über das Sein dieses Gegenstandes oder über seine Möglichkeit (sein
nicht widersprüchliches Wesen), und auch nicht über seine Stellung
(sein Dasein in der Welt). Sie erfordert vielmehr nur ein Minimum an
Gegebenheit, ein Minimum dessen, was durch das es gibt gesichert
wird. Man darf insbesondere nicht behaupten, der Gegenstand sei im
Modus des es gibt, denn die Gegebenheit befreit ihn in dem Maße

37
Alexius Meinong, Über Gegenstandstheorie, in: Gesamtausgabe (im fol-
genden: GA), Band II, Abhandlungen zur Erkenntnistheorie und Gegen-
standstheorie, bearbeitet von Rudolf Haller, Graz 1971, 481–530, hier 490;
ursprünglich Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie
(Leipzig 1904). Um elegant zu erscheinen, läßt die französische Übersetzung
das Wesentliche vermissen, nämlich die Gegebenheit („Il y a des objets à
propos desquels on peut affirmer qu’il n’y en a pas.“). Die die Übersetzung
übrigens auch an anderer Stelle (§ 6) verbirgt oder verfälscht, indem sie sie mit
„gegeben-sein“ („être-donné“) wiedergibt, gerade dort, wo sich die Gege-
benheit dem Sein entzieht. Vgl. die Übersetzung Théorie de l’objet et Présen-
tation personnelle mit einer aufschlußreichen Einleitung von Jean-François
Courtine (hier insbesondere 73 und 83).
38
Meinong, Über Gegenstandstheorie, GA II, 500 (wo man Gegebenheit
ganz offensichtlich nicht mit l’être-donné übersetzen darf; vgl. Meinong,
Théorie de l’objet, 83). Vgl. „die Gegenstandstheorie beschäftige sich mit
dem Gegebenen ganz ohne Rücksicht auf dessen Sein“ (Meinong, Über Ge-
genstandstheorie, GA II, 519).
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 39

vom Sein, daß man vielleicht sagen könnte, „der reine Gegenstand
stehe ‚jenseits von Sein und Nichtsein‘“; oder er scheint, insofern er
gegeben ist, „außerseiend“.39 Es zeichnet sich also eine Wissenschaft
ab, die mehr inhaltliche Merkmale aufweist als die Metaphysik, die
sich ihrerseits an den Bereich dessen hält, was ist oder was sein kann
(das Mögliche), und die dabei das Unmögliche ausschließt. So all-
gemein sie auch sein mag, die ontologia der metaphysica generalis
bleibt dennoch „eine aposteriorische Wissenschaft, die vom Gegebe-
nen so viel in Untersuchung zieht, als für empirisches Erkennen eben
in Betracht kommen kann, die gesamte Wirklichkeit.“ Eine andere
Wissenschaft, die Gegenstandstheorie, geht ihr voran und versteht
sie, insofern sie sich wahrhaft als „eine apriorische [Wissenschaft
erweist], die alles Gegebene betrifft“.40
Man muß Meinong somit nicht nur das Verdienst anerkennen,
das von Bolzano aufgeworfene Problem bis in seine paradoxen Kon-
sequenzen getrieben zu haben, sondern vor allem die Gegebenheit
deutlich zu einer mächtigeren und umfassenderen Instanz als das
Sein erhoben zu haben, zumindest des Seins, wie es die ontologia
der Metaphysik versteht. Selbst das, was nicht ist, das heißt was
nicht sein kann, da es keinen Zugang zur Möglichkeit hat, kann im
Modus eines Gegenstandes gedacht werden und findet sich folglich,
als ein solcher Gegenstand, gegeben. Von Bolzano bis zu Meinong,
und über den annähernd so genannten Neukantianismus hinweg,
klafft also ein Spalt zwischen dem Seienden und dem Gegenstand.
Er erlaubt, durch einen Rückgriff auf das es gibt dort, wo man nicht
sagen kann es ist, einen Schritt außerhalb des Seienden, also vielleicht
auch außerhalb der Metaphysik, zu tun.

39
Meinong, Über Gegenstandstheorie, GA II, 494. Vgl.: „Der Gegenstand
ist von Natur außerseiend, obwohl von seinen beiden Seinsobjektiven, sei-
nem Sein und seinem Nichtsein, jedenfalls eines besteht.“ Was auf diese Weise
zum „Satz vom Außersein des reinen Gegenstandes“ wird, geht natürlich mit
einer Wiedereinsetzung von Kants These einher, daß „Sein wie Nichtsein
dem Gegenstande gleich äußerlich ist“, weil beide keines seiner wirklichen
Prädikate ausmachen (Meinong, Über Gegenstandstheorie, GA II, 494).
40
Meinong, Über Gegenstandstheorie, GA II, 520–521.
40 Jean-Luc Marion

7.

Die Frage besteht also nicht mehr darin, zu entscheiden, ob die


Gegebenheit (es gibt) den Rang eines philosophischen Begriffes hat:
Das Einvernehmen einer ganzen Tradition hat sie als solche etabliert,
so daß Husserl, aber auch Heid­eg­ger, sie einfach nur erben konn-
ten.41 Eine andere, zweifellos heiklere Frage, tritt nunmehr an ihre
Stelle: Wie soll man den Spalt, den die Gegebenheit klaffen läßt, mit
dem Seienden im Sinne der Metaphysik deuten? Kant hatte ganz
klar darauf hingewiesen, daß jenseits der metaphysischen Dimen-
sion (Suarez, Wolff) zwischen dem Möglichen (dem Seienden, ens)
und dem Unmöglichen (Nichts, nihil) „noch ein höherer“ Begriff
stehen müsse, „und dieser ist der Begriff von einem Gegenstande
überhaupt (problematisch genommen, und unausgemacht, ob er
Etwas oder Nichts sei).“42 Er hatte jedoch selbst nicht grundlegend
über den ontologischen Status oder das Nichts dieses Gegenstandes
überhaupt entschieden. Welche Antworten wurden auf diese Frage
gegeben? Natorp versucht, das Gegebene auf jedes Phänomen herun-
terzubrechen, in größter Nähe zu Kant. Rickert, und in bestimmter
Hinsicht auch Lask, weitet das Gegebene in Richtung einer tran-
szendentalen Bestimmung aus (der Tatsächlichkeit oder der Welt).
Twardowski und Meinong, später auch Husserl, versuchen auf ähn-
liche Weisen, den Gegenstand und das Gegebene gleichzusetzen, die
ihrerseits wiederum als allgemeine Bestimmung der Phänomenalität
aufgestellt werden.
Diese Erweiterung selbst geht nicht vonstatten, ohne eine neue
Schwierigkeit hervorzurufen. So etwa bei Husserl, wenn er „die
prinzipielle Unterschiedenheit der Seinsweisen, die kardinalste,
die es überhaupt gibt, die zwischen Bewußtsein und Realität“ zu
beschreiben vorgibt, dann denkt und definiert er sie noch innerhalb

41
Wir sehen nicht, wie Jocelyn Benoist die zentrale Rolle der Gegebenheit
als solcher für Meinong in Frage stellen kann („Dennoch ist es fraglich, ob
diese Referenz an die Denkweisen und an das, was der Imperativ der Ge-
gebenheit zu sein scheint, in Meinongs Analyse so zentral ist“, in: Benoist,
Représentations sans objets, 123, Hervorhebungen von uns). Ebensowenig,
wie Jean-François Courtine über eine Annäherung zwischen dem es gibt von
Meinong und dem es gibt von Heid­eg­ger im Jahre 1927 erstaunt sein kann
(„alberne Idee“, in: Meinong, Théorie de l’objet, 134).
42
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Kant’s gesammelte Schriften,
hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band III,
Berlin 1911, 186 (A 290).
Die Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger 41

der einen Gegebenheit, wenn er von „einem prinzipiellen Unter-


schied der Gegebenheitsart“ spricht.43 Wenn dieser Unterschied
sogar die Gegebenheit undifferenziert läßt, welche Spezifität wahrt
sie dann noch? Und vor allem, wie verträgt sich dieses universale
Bestreben mit der von der Reduktion implizierten Zäsur? Diese
Ambiguität bedroht unvermeidlich die husserlsche Gegebenheit:
Wenn jeder Gegenstand aus dem Gegebenen hervorgeht, wie ande-
rerseits zumindest alle möglichen Gegenstände im übrigen sehr wohl
sind, dann behielte die Gegebenheit folglich eine echte Verbindung
zum Seienden und bliebe stets eine Seinsweise unter anderen. Selbst
die Verallgemeinerung der Gegebenheit, zumindest so, wie Husserl
sie durchführt, das heißt als eine Verallgemeinerung der Gegenständ-
lichkeit, verliert ihre Radikalität und schwächt ihr Vordringen ins
Außerseiende.44
Die strategische Umkehrung von Sein und Zeit wird, im Gegen-
satz dazu, evident. Heid­eg­ger will die ontologia der Metaphysik
„zerstören“, was gleichbedeutend ist mit einer Befreiung von jeder
Ontologie, sogar und insbesondere von der Ontologie des Gegen-
standes (anders gesagt der formalen Ontologie Husserls). Diese
Destruktion wird durch einen Rückgriff auf die Existenzialanaly-
tik gelenkt, bei der die Seinsweise des Daseins, anfangs zumindest,
durch die strikte Gegenüberstellung von Gegenständen und ande-
ren innerweltlich Seienden und der Seinsweise beschrieben wird. In
diesem Sinne ist das Dasein nicht, wenigstens nicht in dem Sinne, in
dem die innerweltlich Seienden sind – und in dem sie gerade nicht
mehr sind, sobald die Angst das Dasein für sich selbst im Nichts
öffnet. Wie soll man diesen Schritt zurück außerhalb der Seinsweise
der innerweltlich Seienden und der Gegenstände klar formulieren?
Durch eine mit extremer Heftigkeit vollzogene Umkehr, wenn man
sich auf die Gegebenheit als Modalität von Gegenständen bezieht

43
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine
Pänomenologie, Husserliana III, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1950,
96; vgl. Husserl, Ideen I, Husserliana III, 109 (wo der Unterschied zwischen
Erlebnis und Transzendenz auf den Unterschied zwischen zwei leibhaft
Gegebenen zurückgeht), und den Kommentar von Didier Franck, Chair et
corps. Sur la phénoménologie de Husserl, Paris 1981, 24–26.
44
Husserl verkennt nicht die Möglichkeit, ja die Pflicht eines solchen
Hinausgehens außerhalb des Seienden (vgl. die Klarstellung in Marion,
Réduction et donation, Kap. V, §§ 1–7), aber er beläßt es weitgehend im
Unentschiedenen.
42 Jean-Luc Marion

(Bolzano, Twardowski, Natorp, Meinong und Husserl zufolge). Für


Sein und Zeit verliert das es gibt tatsächlich nicht nur seine Gültigkeit
für die Bestimmung des Gegenstandes (des unmöglichen oder des
Gegenstandes überhaupt), sondern gerade auch für all das, was im
Sinne der ontologia und der formalen Ontologie nicht mehr ist, weil
sich seine Seinsweise ontologisch von allen anderen Seienden unter-
scheidet – das Dasein, oder vielmehr alles, was sein ontisch-ontolo-
gisches Privileg zum Einsatz bringt: Wahrheit, Welt, Zeit und Sein.
Heid­eg­ger richtet also das es gibt gegen den Gegenstand, während
seine Vorgänger es verwendeten, um den Gegenstand vom (mög-
lichen) Seienden zu trennen. Alle jedoch kamen immerhin bereits
darin überein, daß die Gegebenheit eine Grenze markiert, die auf die
eine oder andere Weise die Seiendheit des Seienden in Frage stellt.
Die Gegebenheit hat also sehr wohl den Rang eines Begriffes,
da man ihre begriffliche Geschichte nachzeichnen kann. Sie schließt
nicht nur Husserl und Heid­eg­ger ein, sondern den gesamten Neu-
kantianismus, ausgehend von Bolzanos Wiederaufnahme einer schon
von Kant skizzierten Frage. Von der Wissenschaftslehre fand die
Gegebenheit ihren Weg über die Erkenntnistheorie und die Gegen-
standstheorie bis hin zur Phänomenologie und zur Seinsfrage. Offen
bleibt gegenwärtig, ob die Frage der Gegebenheit in letzter Instanz
nicht aus sich selbst und aus nichts anderem – nicht einmal dem Sein
oder dem Ereignis – hervorgehen könnte.
Rudolf Bernet
Leiblichkeit bei Husserl und Heid­eg­ger

Ihre Wirkungsgeschichte hat längst darüber entschieden, daß Husserl


und Heid­eg­ger die beiden bedeutendsten Denker der phänomenolo-
gischen Bewegung sind, und daß sie zu den größten Philosophen des
20. Jahrhunderts zählen. Die Neigung, die Größe des einen der bei-
den Freiburger Phänomenologen dadurch zu erhöhen, daß man die
Bedeutung des anderen schmälert, hat sich mit den Jahren von selbst
verflüchtigt. Aber ihre philosophischen Differenzen sind geblieben.
Allerdings sind sich die meisten von uns inzwischen darüber einig,
daß die Protagonisten diese Differenzen auch schon deswegen unge-
nügend ausgetragen haben, weil jeder von ihnen die Position des
anderen nur unzulänglich zur Kenntnis genommen und zuweilen
auch gründlich mißverstanden hat. Zwar ist nicht jeder Einwand von
Husserl gegen einzelne Passagen in Sein und Zeit unberechtigt, aber
mit einem vermeintlichen Rückfall in eine vorphänomenologische
und sich in der Auflistung empirischer Tatsachen gefallende Anthro-
pologie hat Heid­eg­gers Fundamentalontologie nun wirklich nichts
gemein. Ebenso verfehlt ist es aber auch, Husserls transzendenta-
len Idealismus und seine Phänomenologie des Bewußtseins auf die
Sicherheit des cartesianischen cogito und dessen dualistische ontolo-
gische Grundlage zurückzuprojizieren. Einer fruchtbaren Ausein-
andersetzung mit der Verschiedenheit der philosophischen Ansätze
Husserls und Heid­eg­gers ist also mit der bloßen Wiederholung der
gegenseitigen Kritik wenig gedient.
Auch die alten, groben Polarisierungen haben beim gegenwär-
tigen Stand der Husserl- und Heid­eg­gerforschung ausgedient. Wer
mit dem hermeneutischen Netz des Gegensatzes von Bewußtsein
und Existenz, Eidos und Faktizität, transzendentales Ich und Dasein,
Erkenntnistheorie und Ontologie usw. ausrückt, fängt nur die gro-
ßen Fische ein, die er vorher zur bequemeren Beute eigenhändig
ausgesetzt hat. Verlegt man sich dagegen auf die Aufweisung grund-
legender Gemeinsamkeiten im Denken von Husserl und Heid­eg­ger,
44 Rudolf Bernet

so vermeidet man damit zwar die verzerrenden Polarisierungen, aber


man gerät in die neue und doppelte Gefahr einer uniformisierenden
Trivialisierung und einer Vernachlässigung subtilerer Differenzen.
Daß Leben und Lebenswelt sowohl für Husserl als auch für Heid­
eg­ger Leitbegriffe sind, daß Husserl sich durchaus von der Aufgabe
der Ausbildung einer phänomenologischen Ontologie angesprochen
fühlte, die sich keineswegs in der Bestimmung vorhandenen Seins
erschöpft, daß Husserls „Intentionalität“ und Heid­eg­gers „Tran­
szendenz“ einander ergänzen, daß es auch bei Husserl einen onto-
logischen Begriff der Wahrheit gibt, daß Husserl und Heid­eg­ger
gleichermaßen einem spezifisch phänomenologischen Begriff der
„Erfahrung“ verpflichtet sind usw., ist zwar richtig, aber nicht neu.
Wer sich auf das Verhältnis zwischen Husserl und Heid­eg­ger besin-
nen will, darf vor allem nicht vergessen, daß es die erste Absicht
ihres lebendigen Denkens war, die Philosophie von festgefahrenen
Lehrmeinungen zu befreien.
Gefragt ist also eine Mikrophänomenologie oder, wie Hus-
serl es gelegentlich formuliert hat: „Kleingeld“. Entscheidend sind
letztlich nicht die philosophischen Begriffe und schon gar nicht
die Absichtserklärungen von Husserl und Heid­eg­ger, sondern die
Sachgerechtheit ihrer Bestimmung von konkreten Phänomenen. Das
Umwechseln von eigenem Geld in fremde Währungen ist allerdings
ein spekulatives und mit erheblichem Risiko verbundenes Geschäft.
Auf Spekulationen etwa über das Verhältnis von Heid­eg­gers späte-
rem Seinsdenken und Husserls Philosophie der Geschichte oder von
Heid­eg­gers Nachdenken über die griechische φύσις und Husserls
Phänomenologie der materialen oder lebendigen Natur wollen wir
uns hier nicht einlassen. Unser Kleingeld soll also die Freiburger
Einheitswährung sein, deren Husserl und Heid­eg­ger sich in der Zeit
ihrer Begegnungen selbst bedient haben. Da wir uns aber nicht auf
die geschichtliche Darstellung ihrer faktischen Äußerungen und
Kritik beschränken möchten, sind wir auf fiktives Kleingeld ange-
wiesen. Wir wollen also versuchen uns vorzustellen, wie ein Dialog,
der zwischen Husserl und Heid­eg­ger nicht wirklich stattgefunden
hat, hätte verlaufen können. Uns mit einer Mikrophänomenologie
bescheidend, wollen wir uns hier auf das Phänomen der Leiblichkeit
im Rahmen von Husserls Ideen II1 und deren zwar bemerkenswerte,
aber sehr lückenhafte Rezeption durch Heid­eg­ger beschränken.

1
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchun-
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 45

1. Heid­eg­gers Rezeption von Husserls Ideen II

Heid­eg­gers Vertrautheit mit dem unveröffentlichten Manuskript


von Edith Steins Bearbeitung von Husserls Ideen II ist historisch
unter anderem durch zwei Fußnoten in Sein und Zeit2 und vor
allem durch die ausführlichere, kritische Darstellung in der Vorle-
sung vom Sommersemester 19253 belegt.4 Heid­eg­ger ließ sich vor
allem durch den 3. Teil von Husserls Ideen II inspirieren, und die
besondere Richtung seines Interesses äußert sich bereits in seiner
nicht ganz korrekten Angabe des Titels: „3. Teil: Die Konstitution
der geistigen Welt mit dem Titel: Die personalistische Einstellung
im Gegensatz zur naturalistischen.“5 Eindeutige Spuren seiner auf-
merksamen Lektüre des 3. Teils der Ideen II lassen sich bis in die
Terminologie von Sein und Zeit verfolgen. Ich begnüge mich hier mit
einigen wenigen Kostproben aus Husserls Ideen II: „Unter den Din-
gen meiner Umgebung lenkt dieses da meinen Blick auf sich, seine
besondere Form ‚fällt mir auf‘, den Kleiderstoff wähle ich um der
schönen Farbe, des weichen Tuches willen“;6 „erschlossene Welt“;
„Heizmaterialien, Hacken, Hämmer usw. Kohle z. B. sehe ich als
Heizmaterial; ich erkenne es und erkenne es als dienlich und dienend
zum Heizen“.7 „Personalistisch“ verstanden besteht menschliches
Leben aus einer fortwährenden, durch „Interesse“ und „Motiva-
tion“ bestimmten Interaktion einer Person mit ihrer „Umwelt“, und
Husserls Beschreibung dieses vorwiegend praktischen, Aktivität
und Passivität miteinander verschränkenden Verhaltens stimmt gut
mit Heid­eg­gers Bestimmung des „In-der-Welt-Seins“ überein. Die
„geistige Welt“ der Ideen II ist zugleich eine Werkwelt, eine soziale
„Gemeinschaftswelt“ und eine geschichtlich überlieferte kulturelle
Lebenswelt. Sie besteht aus „Gebrauchsobjekten“ und „Schriftwer-
ken, Bildwerken etc.“, das heißt aus materiellen Gegenständen, die
von ihrem „Sinn“ „durchdrungen“ und „beseelt“ sind, wobei „das

gen zur Konstitution, Husserliana IV, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag
1952.
2
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 52 und 63.
3
Heid­eg­ger, Prolegomena, GA 20, 168–170.
4
In seiner Vorlesung vom Sommersemester 1925 zitiert Heid­eg­ger die Pa-
ragraphenzählung der steinschen Ausarbeitung und nicht etwa diejenige der
kritischen Ausgabe in Husserliana IV.
5
Heid­eg­ger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, 168.
6
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 140.
7
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 185–187.
46 Rudolf Bernet

Geistige nichts Zweites ist, nichts Angebundenes ist.“ „Der geistige


Sinn ist, die sinnlichen Erscheinungen beseelend, mit ihnen in gewis-
ser Weise verschmolzen statt in einem verbundenen Nebeneinander
nur verbunden.“8 Der Sinn von Zeug und kulturellen Gegenständen
erhellt sich zuerst und zumeist aus dem Umgang mit ihnen, und erst
wenn sie aus diesem Zusammenhang gerissen werden, können sie
als bloß vorhandene physische Dinge betrachtet werden: Das Ding
„steht dann […] eben ‚da‘. Ich kann […] von da aus wieder zurück-
kehren in die Einstellung, in der das Drama, die Abhandlung oder
die einzelnen Sätze derselben mein Objekt sind; nun habe ich aber
ein Objekt, das nicht mehr da im Raume ist, an dieser Stelle; das gibt
in diesem Falle keinen Sinn.“9
Pikanterweise dient Husserl an dieser Stelle die Verschmelzungs-
einheit von menschlichem Geist mit seinem leiblichen Ausdruck
als Modell für seine Bestimmung des Seins von Gebrauchsgegen-
ständen. Es ist bekannt, daß Heid­eg­ger in Sein und Zeit weder der
Materialität von Zeug noch der Leiblichkeit des Daseins allzu große
Aufmerksamkeit gewidmet hat. Wo die eigenartige Räumlichkeit des
innerweltlichen Zeugs10 und die existenziale Räumlichkeit eines Ent-
fernungs- und Ausrichtungsraumes11 dennoch zur Sprache kommen,
wird zwar auf eine „Verräumlichung des Daseins in seiner ‚Leib-
lichkeit‘“ hingewiesen, aber bekanntlich mit dem Hinweis darauf,
daß dies „eine eigene hier nicht zu behandelnde Problematik in sich
birgt.“12 Diese Leiblichkeit ist nun aber gerade das zentrale Thema
des 2. Teils von Husserls Ideen II, der Heid­eg­ger zwar vorgelegen
haben muß,13 den er aber in der frühen Freiburger und Marburger
Zeit offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen hat.14 Vermutlich
hat er sich dabei auch durch Husserls Bemerkung abschrecken las-

8
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 238–239.
9
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 237.
10
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 136–139.
11
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 140–147.
12
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 145.
13
Aus dem Manuskript der Vorlesung vom Sommersemester 1925 geht al-
lerdings nur hervor, daß Heid­eg­ger die Titel der beiden ersten beiden Teile
der Ideen II und deren daraus ersichtliche Problemstellung bekannt waren.
14
Der Inhalt und zuweilen sogar der Wortlaut der Zollikoner Seminare in
den sechziger Jahren erweckt allerdings den Eindruck, daß Heid­eg­ger dieses
Versäumnis (offenbar unter Heranziehung der 1952 erstmals in Band IV der
Husserliana erschienen kritischen Edition der Ideen II) später nachgeholt
hat.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 47

sen, der zufolge die Analysen der Leiblichkeit in den Ideen II sich
noch im Rahmen einer „naturalistischen“ Einstellung bewegen. Dem
folgenden Zitat aus Sein und Zeit ist aber auch zu entnehmen, daß
Heid­eg­ger überhaupt dem ganzen Aufbau von Husserls Ideen II mit
großem Mißtrauen begegnet sein muß: „Die Frage steht nach dem
Sein des ganzen Menschen, den man als leiblich-seelisch-geistige
Einheit zu fassen gewohnt ist. Leib, Seele, Geist mögen wiederum
Phänomenbezirke nennen, die in Absicht auf bestimmte Untersu-
chungen für sich thematisch ablösbar sind; in gewissen Grenzen mag
ihre ontologische Unbestimmtheit nicht ins Gewicht fallen. In der
Frage nach dem Sein des Menschen aber kann dieses nicht aus den
überdies erst wieder noch zu bestimmenden Seinsarten von Leib,
Seele, Geist summativ errechnet werden. Und selbst für einen in die-
ser Weise vorgehenden ontologischen Versuch müßte eine Idee vom
Sein des Ganzen vorausgesetzt werden.“15
Von einer solch „summativen“ Komposition und von einer
Mißachtung der Ganzheit menschlichen Seins kann aber in den
Ideen II nicht die Rede sein. Nicht nur betont Husserl immer wie-
der die Verschmelzungseinheit von Leib, Seele und Geist, sondern
auch die Scheidung zwischen einer Bestimmung menschlichen
Lebens in naturalistischer oder personalistischer Einstellung hat
für ihn keinen absoluten Wert. Husserl schreibt: „Das Thema der
folgenden Betrachtungen soll nun die Konstitution der Naturrea-
lität Mensch […] sein, d. h. des Menschen, wie er sich in der natu-
ralistischen Betrachtung darbietet: als materieller Körper, auf den
sich neue Seinsschichten, die leiblich-seelischen, aufbauen. Es ist
möglich, daß in diese konstitutive Betrachtung manches hineinge-
zogen werden muß, was spätere Untersuchungen als dem persona-
len oder geistigen Ich zugehörig erweisen werden.“16 Die Einheit
menschlichen Lebens setzt sich also nach Husserl nicht zusammen
aus einem naturalistisch und einem personalistisch bestimmten
Teil, vielmehr gibt es deswegen verschiedene phänomenologische
Zugänge zu menschlichem Sein, weil dieses πολλαχῶς λέγεται.
Husserls Betrachtung des menschlichen Leibes als eine physiologi-
sche Realität und auch seine Besinnung auf den Zusammenhang von
Bewußtsein und Gehirn sind ein Stück genuiner, sich stets an die
Erfahrung haltender Phänomenologie, das durch die Bestimmung
des Leibes als Wahrnehmungs- und Willensorgan, als Nullpunkt

15
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 64–65.
16
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 143.
48 Rudolf Bernet

der Orientierung, als Ausdruck seelischen Erlebens keinesfalls auf-


gehoben oder gar durchgestrichen wird. Von dieser pluralistischen
Bestimmung menschlichen Seins her betrachtet, erweist sich schon
eher Heid­eg­gers fundamental-ontologische Bestimmung des Seins
von Dasein im ausschließlichen Rahmen der von Husserl „perso-
nalistisch“ genannten Einstellung als eine spiritualistische Engfüh-
rung. Manchem Leser des berühmten § 7 in Sein und Zeit wird auch
aufgefallen sein, mit welcher Selbstverständlichkeit Heid­eg­ger die
„Hermeneutik“ seiner Fundamentalontologie mit der Aufgabe einer
phänomenologischen Fundierung der „Methodologie der histori-
schen Geisteswissenschaften“ verbindet.17
Auf die Behandlung des 1. Teils der Ideen II und seiner phäno-
menologisch-ontologischen Analyse der „Konstitution der mate-
riellen Natur“ müssen wir hier verzichten. Unsere nachfolgende
Interpretation des der „Konstitution der animalischen Natur“
gewidmeten 2. Teils der Ideen II will im Gegenzug zu Heid­eg­gers
negativem Vorurteil dem spezifisch phänomenologischen Charakter
von Husserls Vorgehen sowie der darin anvisierten phänomenolo-
gischen Ontologie leiblichen Lebens nachspüren. Erst dann kann
abschließend beurteilt werden, was eine aufmerksamere Auseinan-
dersetzung mit diesem 2. Teil der Ideen II für Heid­eg­gers eigenen
Entwurf einer Fundamentalontologie hätte bedeuten können. Auf
die Frage, in welchem Maß Heid­eg­gers nachholende Beschäftigung
mit dem Phänomen der Leiblichkeit etwa in der großen Vorlesung
vom Wintersemester 1929/30, in den Nietzsche-Vorlesungen oder
in den Zollikoner Seminaren sein früheres Versäumnis überwinden,
kann hier nicht eingegangen werden. Ebenfalls unerwähnt muß hier
auch die unverzichtbare Rolle bleiben, welche das Phänomen der
Leiblichkeit in Husserls transzendentaler Phänomenologie spielt,
und zwar zugleich als apodiktisches Moment der Welterfahrung18
und als wesentliches Moment von Husserls späterer Bestimmung
des transzendental-phänomenologischen Idealismus.19
Husserl selbst stellt seine Bestimmung der Einheit von Seele und
Leib im 2. Teil der Ideen II in den Rahmen einer „rechtmäßigen
17
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 50–51.
18
Edmund Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt
und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937), Husserliana
XXXIX, hrsg. von Rochus Sowa, Dordrecht 2008, 251–258.
19
Vgl. Rudolf Bernet, Husserl’s Transcendental Idealism Revisited, in: The
New Yearbook for Phenomenology and Phenomenological Philosophy,
Band IV, Seattle 2004, 1–20.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 49

‚Naturalisierung‘ des Bewußtseins.“20 Der Erfahrungsbereich leib-


lich vermittelten Bewußtseins umfaßt neben den Empfindungen
(hyletisch-darstellenden und kinästhetischen), sinnlichen Gefühlen
(von „Lust“ und „Schmerz“),21 Tendenzen (Triebempfindungen „der
energischen Anspannung und Relaxion, Empfindungen der inneren
Hemmung, Lähmung, Befreiung usw.“)22 auch noch die sinnlichen
Wahrnehmungen von Gegenständen (von äußeren Dingen oder vom
eigenen Leib). Sinnliche Wahrnehmungen bezeichnen bei Husserl
eine Art von intentionalen Erlebnissen, in denen der eigene Leib des
wahrnehmenden Subjekts eine doppelte maßgebende Rolle spielt:
1) Wahrnehmungen ergeben sich aus der intentionalen Auffassung
von hyletischen Empfindungsdaten (visuellen Farbempfin­dungen,
olfaktorischen Geruchsempfindungen, akustischen Tonempfindun-
gen usw.), die dem Leib zugehören. Husserl schreibt: „Auf diese
Weise ist also das gesamte Bewußtsein eines Menschen durch seine
hyletische Unterlage mit seinem Leib in gewisser Weise verbunden,
aber freilich, die intentionalen Erlebnisse selbst sind nicht mehr
direkt und eigentlich lokalisiert, sie bilden keine Schicht mehr am
Leib.“23
2) Wenn nun aber die intentionalen Wahrnehmungserlebnisse
selbst nicht mehr eigentlich leiblich lokalisiert sind, obwohl sie
wesentlich leiblich vermittelt werden, dann muß die Leiblichkeit
der Wahrnehmungsakte eine andere sein als diejenige der leiblich
lokalisierten hyletischen Empfindungen. Husserl spricht denn auch
von einem „erfahrenden Subjektleibe“ bzw., genauer, vom Leib als
„Wahrnehmungsorgan“.24 Damit ist nicht nur gemeint, daß „der
Leib […] bei aller Wahrnehmung notwendig dabei“ ist, sondern
auch, daß wir mit unseren Augen sehen, mit unseren Händen tas-
ten, mit unseren Ohren hören. Der eigene Leib ist somit sowohl
der Träger der sinnlichen Empfindungen als auch „das Mittel aller
Wahrnehmung“.25

20
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 168.
21
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 152.
22
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 153.
23
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 153.
24
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 55–56.
25
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 56.
50 Rudolf Bernet

2. Seelisches Bewußtsein

Als Paradigma eines seelischen Erlebnisses gilt Husserl also eine sinn-
liche Wahrnehmung, in welcher das intentionale Bewußtsein Emp-
findungen in leiblicher, das heißt durch die Sinnesorgane vermittelter
Weise auffaßt und zu Erscheinungen bzw. „Abschattungen“ von
räumlichen Dingen macht. Was an dieser Doppelform leiblichen
Bewußtseins nun aber spezifisch „seelisch“ sein soll, ist nicht unmit-
telbar deutlich. Ein erster Ansatz zu einer Antwort ergibt sich bereits
aus Husserls Hinweis darauf, daß leibliche Wahrnehmungserlebnisse
nicht nur mit leiblichem intentionalem Bewußtsein, sondern auch
mit leiblichen Bewegungen verbunden sind. Diese Bewegungen des
eigenen wahrnehmenden Leibes können sowohl passiv als aktiv sein:
Mein Leib wird entweder („mechanisch“) bewegt oder er bewegt
sich selbst und bewegt vermittels dieser eigenen Beweglichkeit auch
andere Leiber oder Körper.26 Aktive oder „spontane“ eigene leibli-
che Bewegungen mögen zwar durch äußere Reize bedingt sein, aber
sie haben ihren eigentlichen Grund in der subjektiven „Freiheit“,
das heißt im freien „Vermögen“ eines auf den Eigenleib bezogenen
„Ich kann“. Als durch mich frei beweglicher wird der eigene Leib so
zu meinem „Willensorgan“.27 Als ein solches „freibewegtes Sinnes-
organ, als freibewegtes Ganzes der Sinnesorgane“, als „Mittel aller
Wahrnehmung“28 gehorcht der Eigenleib subjektivem Wollen und
Können, welche eben sein spezifisch „Seelisches“ ausmachen. Die
„Seele“ ist somit für Husserl das spezifisch subjektive Moment an
dem als „Wahrnehmungsorgan“ und als „Willensorgan“ bezeichne-
ten Eigenleib. Der Leib ist das mit ihr verwachsene „Organ“, dessen
die Seele sich im leiblichen Wahrnehmen und im leiblichen Sich-
Bewegen bedient. Mit Aristoteles gesprochen ist die Seele somit der
„Steuermann“ des eigenen Leibes-Schiffs.29
Im Normalfall lenkt der Seelenkapitän die Fahrt seines Leibes-
Schiffs auf wachsame Weise. Husserl bedenkt aber auch noch die
Möglichkeit von Fällen, in denen der Steuermann entweder über-
müdet eingeschlafen ist oder in denen er das Schiff nicht mehr mit
26
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 151–152.
27
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 151–152.
28
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 56.
29
Vgl. Aristoteles, De anima II,1. Nicht uninteressant ist im Zusammen-
hang mit Husserl auch der Umstand, daß Plato dieselbe Metapher im Phaid-
ros und in den Nomoi, XII zur Bezeichnung der Leitung der Seele durch die
Vernunft verwendet.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 51

überlegender φρόνησις lenkt, sondern sich in seinem Steuern des


Schiffs z. B. durch seine Sehnsucht nach Frau und Kind treiben läßt.
In schläfrigen Wahrnehmungen und Bewegungen wird das aktive See-
lensubjekt zwar außer Funktion gesetzt, aber es bleibt dem lebendigen
Eigenleib erhalten und es kann wieder geweckt werden. Dies trifft
nach Husserl auf alle menschlichen Wahrnehmungen und leiblichen
Bewegungen zu, die rein passiv, das heißt gewohnheitsmäßig-automa-
tisch oder unbewußt erfolgen. Der Fall, in dem die Seele sich in ihren
Wahrnehmungen und leiblichen Bewegungen den eigenen dunklen
Tendenzen und Trieben überläßt, betrifft in der Regel tierisches Ver-
halten, zuweilen aber auch das leibliche Verhalten des Menschen. Tiere
und menschliche Triebsubjekte gelten Husserl folglich als „subjekt-
lose Seelen“, sie sind aber keineswegs bloße, seelenlose Leiber.30
Kurz zusammengefaßt bezeichnet die Seele also für Husserl den
„Strom von ‚Erlebnissen‘“,31 insoweit und insofern dieser notwen-
dig durch den Eigenleib als Wahrnehmungs- und Willensorgan
vermittelt ist. Im Normalfall handelt es sich dabei um subjektive,
von Husserl „ichlich“ genannte intentionale Erlebnisse eines leib-
lich gebundenen Bewußtseins. Diese leiblich gebundenen seelischen
Erlebnisse haben aber ihr eigenes zeitliches Organisationsprinzip,32
sie haben „keine Extension“33 und sie können deswegen auch nicht
eigentlich im Leib „lokalisiert“ werden.

3. Leibliches Bewußtsein

Wenn wir uns nun dem Bereich eines nicht intentionalen und nicht
ichlichen leiblichen Bewußtseins zuwenden, so muß neben den
hyletisch-darstellenden Empfindungen, kinästhetischen Empfin-

30
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die Funda-
mente der Wissenschaften, Husserliana V, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag
1952, 116–117; vgl. auch Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 134.
31
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 92.
32
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 92: „Wie schon der bildliche Ausdruck
Erlebnisstrom (oder Bewußtseinsstrom) besagt, sind uns die Erlebnisse […]
in der Erfahrung nicht gegeben als in sich zusammenhangslose Annexe von
materiellen Leibern […]. Sie sind vielmehr durch ihr eigenes Wesen eins,
miteinander verbunden und verflochten […] und nur in dieser Einheit eines
Stromes möglich.“
33
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 33.
52 Rudolf Bernet

dungen und sinnlichen Gefühlen von Schmerz und Lust noch eine
neue, von Husserl „Empfindnis“ genannte Art leiblichen Emp-
findens in Betracht gezogen werden.34 Die Empfindnisse spielen
in der Erfahrung des eigenen Leibes eine ganz zentrale Rolle. Im
Gegensatz zu den darstellenden Empfindungen werden Empfind-
nisse primär nicht so aufgefaßt, daß sie sich auf die Bestimmung der
Eigenschaften eines wahrgenommenen Dinges beziehen. Im Gegen-
satz zu den kinästhetischen Empfindungen betreffen Empfindnisse
auch nicht die Bewegungen des eigenen Leibes und deren motivie-
renden Einfluß auf den Ablauf einer dinglichen Wahrnehmung. Im
Gegensatz zu den sinnlichen Lust- und Unlustgefühlen, schließlich,
sind Empfindnisse auch keine Triebgefühle, die mit dem sinnlichen
Wert eines intentionalen Gegenstandes in Verbindung gebracht wer-
den könnten. Empfindnisse bezeichnen vielmehr einen sinnlichen
Erfahrungsbereich, welcher primär ausschließlich den eigenen „aes­
thesiologischen“ Leib betrifft. Es handelt sich dabei also um eine
vor-ichliche und vor-intentionale sinnliche Selbsterfahrung oder um
eine intime Selbstaffektion des Leibes, welcher jeder unmittelbare
Bezug auf ein Wahrnehmen oder Besorgen von Dingen sowie über-
haupt auf ein transzendierendes In-der-Welt-Sein entbehrt. Husserls
leibliche Empfindnisse dürfen also nicht mit Heid­eg­gers „Stimmun-
gen“ oder einer anderen Form daseinsmäßiger „Befindlichkeit“
verstanden werden. Es fehlt in Sein und Zeit nicht nur der Name,
sondern überhaupt jegliches Verständnis für solche rein immanenten
leiblichen Phänomene.
Neben den Tiefenempfindungen des eigenen Leibes, wie etwa das
von Husserl erwähnte „Herzgefühl“,35 handelt es sich bei den Emp-
findnissen vorwiegend um „Wirkungseigenschaften“36 an der Ober-
fläche des eigenen Leibes, wie etwa um die Empfindung, berührt
zu werden. Solche Empfindnisse von einer Berührung beziehen sich
ausschließlich auf den eigenen Leib und sie sind in ihm auch präzise
„lokalisiert“.37 Durch diese Lokalisierung der Empfindnisse erwächst
dem Eigenleib eine „Ausbreitung“, das heißt eine spezifisch leibliche
Form der Räumlichkeit, die vom extensiven objektiven Raum der
wahrgenommenen Dinge streng unterschieden werden muß: „Loka-
lisation von Empfindnissen [ist] in der Tat etwas prinzipiell ande-

34
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 144–147.
35
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 165.
36
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 146.
37
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 145.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 53

res als Extension aller materiellen Dingbestimmungen. Sie breiten


sich zwar im Raume aus, bedecken in ihrer Art Raumflächen […].
Aber diese Ausbreitung und Hinbreitung ist eben etwas wesentlich
anderes als Ausdehnung im Sinne all der Bestimmungen, die die res
extensa charakterisieren.“38
Es lohnt sich, die verschiedenen Arten von Empfindnissen
genauer zu differenzieren. Berührungsempfindungen auf der Lei-
besoberfläche sind präziser lokalisiert als leibliche Tiefenemp-
findungen. Unter den Berührungsempfindungen verdienen dann
wiederum die in der eigenen Hand lokalisierten Tastempfindungen
eine besondere Aufmerksamkeit. Ihre Auszeichnung besteht darin,
daß diese Empfindnisse im Nachhinein doppelt aufgefaßt und
damit zwei verschiedenartigen sinnlichen Wahrnehmungen dienlich
gemacht werden können. So können „Fingerdruckempfindungen“39
mich nachträglich entweder auf eine Schnittwunde auf der Kuppe
meines linken Mittelfingers aufmerksam machen oder auf eine kleine
Unebenheit an der Oberfläche des damit betasteten Dinges. Auch
wenn ich mit einem spitzen Gegenstand über meinen Handrücken
fahre, so kann ich entweder auf die Stellen meiner Hand achten,
die von ihm nacheinander berührt werden oder aber auf die Bewe-
gung der Bleistiftspitze. Husserl spricht von der Möglichkeit einer
„Doppelauffassung“ von Tastempfindnissen: „dieselbe Tastemp-
findung, aufgefaßt als Merkmal des ‚äußeren‘ Objekts und aufge-
faßt als Empfindung des Leib-Objekts.“40 Schließlich gibt es nach
Husserl auch noch Tastempfindnisse, die nicht nur doppelt auf-
gefaßt, sondern auch doppelt empfunden werden können. Solche
„Doppelempfindungen“41 ergeben sich dann, wenn meine Hand
nicht einen Fremdkörper oder einen fremden Leib, sondern meine
andere Hand betastet. Die Berührung wird in diesem Fall nämlich
gleichzeitig von beiden Händen empfunden, das heißt sowohl von
der tastenden (rechten) Hand als auch von der betasteten (linken)
Hand. Solche Doppelempfindungen, in denen die eigene Leiblich-

38
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 149.
39
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 147.
40
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 147. Vgl. Martin Heid­eg­ger, Zollikoner
Seminare. Protokolle – Gespräche – Briefe, hrsg. von Medard Boss, Frank-
furt am Main 1987, 108: „Wenn ich das Glas greife, so spüre ich das Glas
und meine Hand. Das ist die sogenannte Doppelempfindung, nämlich das
Empfinden des Getasteten und das Spüren meiner Hand. Beim Sehen spüre
ich nicht mein Auge in dieser Weise.“
41
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 147.
54 Rudolf Bernet

keit zugleich als Wahrnehmungsorgan und als wahrgenommener


Leibkörper erfahren wird, sind dem Tastsinn vorbehalten. Wo sie,
wie etwa beim Sehen, fehlen,42 ist die Dingwahrnehmung dann auch
nicht notwenig verknüpft mit einer intimen Erfahrung der eige-
nen Leiblichkeit: „Ein bloß augenhaftes Subjekt könnte gar keinen
erscheinenden Leib haben“.43
Merleau-Ponty hat dieses Phänomen des „touchant-touché“
bekanntlich ausführlich beschrieben und in seiner Spätphilosophie
sogar zum Paradigma einer neuen Ontologie des „Fleisches“ (chair)
gemacht. Wichtig war ihm dabei vor allem der unüberwindliche
„Abstand“ (écart) zwischen den beiden Empfindungsreihen, das
heißt ihre Unverschmelzbarkeit bzw. „Differenz“, sowie die sich
darin bekundende „Transzendenz“ und „Offenheit“ des Eigen-
leibs für die Welt. Es ist auch denkbar, daß man die Besonderheit
eines „touchant-touché“, in dem zwei offene Hände sich gegensei-
tig berühren oder falten, näher ins Auge faßt und in seiner sym-
bolträchtigen Bedeutung würdigt. Phänomenologen wie Sartre und
Lévinas sind wiederum dem Unterschied zwischen einer sich im
Greifen schließenden und einer liebkosenden, offenen Hand nach-
gegangen. Husserl selbst beschränkte sich auf die Beobachtung, daß
ich sowohl meine tastende als auch meine betastete Hand zugleich
als ein leibliches Organ von Empfindungen oder Wahrnehmun-
gen, sowie als einen betasteten oder wahrgenommenen „Leibkör-
per“ erfahren kann. Husserl spricht diesbezüglich vom Eigenleib
als „Umschlagspunkt“.44 Damit ist aber in erster Linie nicht der
Umstand gemeint, daß die betastete Hand ihrerseits auch betasten
kann, sondern daß ich von meiner rechten, betasteten Hand zugleich
eine innere, empfindungsmäßige und eine äußere, der betastenden
linken Hand zugehörige, wahrnehmungsmäßige Erfahrung habe.
Meine rechte Hand ist mir somit gleichzeitig „aesthesiologisch“
als empfindsamer Leib und „somatologisch“ als wahrgenommener
Leibkörper gegeben.45 Meine rechte Hand als beseelter Leib und
meine rechte Hand als materieller Körper sind mir „kompräsent“46
und „urpräsent“,47 das heißt ursprünglich anschaulich gegeben.

42
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 148.
43
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 150.
44
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 161.
45
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 155.
46
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 161.
47
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 163.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 55

4. Mein beseelter Leib und der Leib des Anderen

Diese solipsistische Doppelerfahrung meines Leibes von innen und


von außen, das heißt als Wahrnehmungs- oder Willensorgan und als
wahrgenommener Leibkörper ist nach Husserl eine grundlegende
Voraussetzung der Wahrnehmung eines fremden Menschen als leib-
lich-seelische Einheit. Wir brauchen hier auf Husserls genaue und
m. E. auch schlüssige Beschreibung der Möglichkeit und der Grenzen
des Vollzugs einer solchen Fremderfahrung, die in der Doppelerfah-
rung meiner eigenen Leiblichkeit gründet, nicht näher einzugehen.
Es handelt sich dabei im wesentlichen um eine Verwandlung der
solipsistischen Erfahrung der „urpräsenten“ „Kompräsenz“48 des
eigenen Leibes mit der eigenen Seele in die Erfahrung einer fremden
„Kompräsenz“, in welcher nur der Leib des Anderen „urpräsent“
ist, während seine damit verbundenen seelischen Erlebnisse nur
„appräsentiert“ werden können: „die tastende Hand des Anderen,
die ich sehe, appräsentiert mir die solipsistische Ansicht dieser Hand
und dann alles, was in vergegenwärtigter Kompräsenz dazugehören
muß.“49
Nicht unerwähnt bleiben dürfen hier jedoch die beiden folgenden
Formen einer analogisierenden Übertragung, die nicht von mir auf
den Anderen, sondern, umgekehrt, vom Anderen auf mich erfolgt:
1) Erst aus der Erfahrung des fremden Menschen als einer leib-
seelischen Einheit erwächst mir die Einsicht, daß mein Leib nicht
nur ein „Träger“ von seelischen Erlebnissen ist, sondern daß er diese
auch leibhaft zum lebendigen „Ausdruck“ bringt.50 Husserl spricht
geradezu von einer „Grammatik“51 der leiblichen Ausdrucksformen
von seelischen Vorgängen. In seinem Ausdrucksverhalten schmiegt
der fremde Leib sich so sehr den fremden seelischen Erlebnissen
an, daß man geradezu den Eindruck gewinnt, die Erlebnisse des
Anderen und nicht nur dessen Leib wahrzunehmen: „Der Mensch
in seinen Bewegungen, Handlungen […] ist nicht eine bloße Ver-
bindung, Zusammenknüpfung eines Dinges, genannt Seele, mit
einem anderen, genannt Leib. Der Leib ist […] durch und durch
seelenvoller Leib. Jede Bewegung des Leibes ist seelenvoll, das
Kommen und Gehen, das Stehen und Sitzen, Laufen und Tanzen

48
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 165.
49
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 166.
50
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 166.
51
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 166.
56 Rudolf Bernet

etc.“52 Unsere erste Bekanntschaft mit der Ausdruckskraft leiblichen


Verhaltens entstammt also unserer Erfahrung von Mitmenschen.
Die (übrigens sehr beschränkte) Vertrautheit mit der Expressivität
unseres eigenen Leibes ergibt sich erst als Folge einer analogischen
Übertragung dieses Phänomens vom Anderen auf uns selbst.53
2) Nur bei der Wahrnehmung des Leibes des Anderen ist es unmit-
telbar möglich, von dessen innerer seelischer Belebung und dessen
äußerer bedeutungsvoller Expressivität zu abstrahieren und sei-
nen Leib lediglich als einen materiellen Körper zu behandeln. Das
kann ich von mir aus mit meinem eigenen Leib nicht ohne weiteres
machen, dafür stehen mir die intimen seelischen Empfindungen mei-
nes Eigenleibes zu sehr im Wege: „Wir erreichen aber in solipsisti-
scher Erfahrung nicht die Gegebenheit unserer selbst als […] das
Naturobjekt ‚Mensch‘.“54 Ursprünglich kann also allein der Leib
des Anderen zu einem Naturgegenstand gemacht bzw. naturwis-
senschaftlich „naturalisiert“ werden.55 Die Auffassung meiner selbst
„als naturwissenschaftliches Objekt“56 setzt somit voraus, daß ich
meine Erfahrung vom Anderen „als Naturwesen Mensch“ umkehre,
das heißt ausgehend vom Standpunkt des Anderen auf mich selbst
übertrage: „ich stelle mich auf den Standpunkt des Anderen und jedes
beliebigen Anderen und erkenne, daß jeder jeden Anderen findet als
Naturwesen Mensch, und daß ich mich also identifizieren muß mit
dem Menschen vom Standpunkt der äußeren Anschauung.“57 Ein
Naturgegenstand, das heißt ein „Ding an sich“ bin ich nie für mich
selbst, sondern nur als der Andere des Anderen.
Ich kann meinen Körper dann zwar als ein naturwissenschaft-
lich bestimmtes Objekt denken, meinen Leib so zu erfahren, ver-

52
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 240.
53
Die Beobachtung, daß die Wahrnehmung unseres Körpers im Spiegelbild
für sich genommen noch keine Erfahrung unseres eigenen Leibes und noch
weniger seiner Expressivität impliziert, ist auch Husserl nicht entgangen.
Man erkennt sich erst dann im Spiegel, wenn man sich bereits mit der Frage
beschäftigt hat, wie man für einen Anderen „ausschaut“. Aber auch dann,
wenn man gelernt hat, den Körper im Spiegel mit dem eigenen Leib zu iden-
tifizieren, sieht man im Spiegel nur seine eigenen Augen, nicht aber den ei-
genen Blick als leibliches Ausdrucksphänomen. Vgl. dazu Husserl, Ideen II,
Husserliana IV, 148, Anm.
54
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 161.
55
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 167–169.
56
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 169–170.
57
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 169.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 57

mag ich jedoch nie. Wie Husserl treffend bemerkt, stehen mir dabei
nicht nur meine eigenen seelischen Leibesempfindungen im Wege,
sondern auch die Unübersichtlichkeit meines eigenen Körpers: Ich
„habe […] nicht die Möglichkeit, mich von meinem Leib oder ihn
von mir zu entfernen, und dem entsprechend sind die Erscheinungs-
mannigfaltigkeiten des Leibes in bestimmter Weise beschränkt:
gewisse Körperteile kann ich nur in eigentümlicher perspektivischer
Verkürzung sehen, und andere (z. B. der Kopf) sind überhaupt für
mich unsichtbar. Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrneh-
mung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege
und ist ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding.“58 Mit
Heid­eg­ger gesprochen kennzeichnet sich das Erscheinen meines
Eigenleibes also durch eine wesentliche Form der Endlichkeit. Mein
Leib, der mir die Sichtbarkeit der Dinge erschließt, entzieht sich als
sehender meinem Sehen. In seiner Nähe sowohl zu meinem eigenen
Sehen als auch zu entfernten Dingen wird er von mir übersehen. Dies
hat mein Leib mit der von Heid­eg­ger immer wieder neu bedachten
Zeigefunktion eines Zeichens gemein.

5. Die ontologische Realität des Leibes

Eine ganz neue Bestimmung erfährt mein Leib, wenn ich von der
Beschreibung meiner unmittelbaren inneren leiblichen Erfahrungen
zur Beschreibung meiner Erfahrung von deren Abhängigkeit von
äußeren Umständen übergehe. Damit vollzieht man nach Husserl
einen ersten, entscheidenden Schritt zur Ausbildung einer phäno-
menologischen Ontologie, welche den Leib als eine eigene Art von
Realität mit ihrer spezifischen Seinsweise und mit ihren spezifischen
Eigenschaften untersucht. Phänomenologisch verfährt diese neue
Ontologie insofern, als sie ihre Bestimmung der Realitätsform des
Leibes nicht einfach aus der überkommenen metaphysischen Defi-
nition der res extensa übernimmt, sondern vielmehr neu bestimmt
und auf die Beschreibung des erfahrungsmäßig gegebenen, funkti-
onalen Zusammenhangs von leiblichen „Zuständen“ mit äußeren,
materiellen „Umständen“ gründet: „Der Leib […] hat immer Emp-
findungszustände, und welche besonderen er hat, das hängt von

58
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 159.
58 Rudolf Bernet

dem zugehörigen System von realen Umständen ab, unter denen er


empfindet.“59
Die dabei in Anspruch genommene Erfahrung betrifft, genauer,
eine von Husserl „Konditionalität“ genannte Form der Abhängig-
keit leiblicher Empfindungen von physischen Ursachen. Wie ich die
langsame Verfärbung eines Blattes Papier durch die in einem Brenn-
glas eingefangenen Sonnenstrahlen anschaulich verfolgen kann,
so kann ich auch wahrnehmen, wie ich meine Gesprächspartnerin
immer schlechter verstehe und wie mich meine Ohren zunehmend
schmerzen, wenn der Rasenmäher des Nachbars sich unserer Gar-
tenlaube nähert. Die Erfahrung einer solchen konditionalen Abhän-
gigkeit meiner leiblichen Wahrnehmungen und Empfindungen von
äußeren Umständen erlaubt es mir dann auch, meine „aesthesio-
logisch“ erfahrenen akustischen Empfindungen als „Index“ einer
Eigenschaft meines Leibes aufzufassen, nämlich der „Empfindsam-
keit“ meines Gehörs: „Die Empfindsamkeit des Leibes konstituiert
sich also durchaus als eine ‚konditionale‘ oder psychophysische
Eigenschaft.“60 Obwohl sie sich in leiblichen Empfindungen phäno-
menologisch bekundet, ist die leibliche Empfindsamkeit selbst nicht
mehr ein Modus leiblichen Erfahrens, sondern eine der Realität des
Leibes wesensmäßig zugehörige ontologische Eigenschaft: Der Leib
„ist konstituiert als eine eigene Objektivität, die sich dem formal-
allgemeinen Begriff der Realität einordnet als ein Ding, das seine
identischen Eigenschaften gegenüber wechselnden äußeren Umstän-
den bewahrt.“61
Nicht mehr unter den Begriff einer solchen, erfahrungsmäßig
gegebenen und somit phänomenologisch erfaßbaren Konditionali-
tät fällt jedoch die naturwissenschaftliche Bestimmung des kausa-
len Wirkungszusammenhangs von äußerem Reiz und körperlichen
Reaktion. Ich kann zwar erfahren, daß, „wenn“ der Krach näher
kommt, meine Ohren „dann“ immer mehr schmerzen, ich kann
damit auch die Erfahrung von der Übersensibilität meines Gehörs
machen, aber ich kann nicht mehr erfahren, sondern nur von der
Schule her wissen, welche Veränderungen in den verschiedenen Tei-
len meines inneren Ohrs durch die Modifikation von Schallschwin-
gungen verursacht werden. Die Empfindsamkeit meines Gehörs ist
eine bleibende Eigenschaft meines Leibes und sie darf als solche also

59
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 155.
60
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 155.
61
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 156.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 59

nicht mit den durch äußere Reize verursachten Modifikationen mei-


nes physischen Körpers verwechselt werden. Aber diese Differenz
schließt natürlich keineswegs aus, daß ich meine Erfahrung von der
leiblichen Empfindsamkeit meines Gehörs leiblichen Empfindun-
gen verdanke, denen eine kausal bewirkte Modifikation meines Ohrs
entspricht. Leiblichen Empfindungen und Empfindsamkeiten kor-
respondieren also in der Tat kausal bewirkte körperliche Modifika-
tionen, aber sie sind von diesen nur „bedingt“ und nicht unmittelbar
verursacht. Nicht jede Empfindung ist gleichermaßen von materiel-
len Umständen abhängig, und nicht jeder physischen Ursache ent-
spricht unter gleichen Umständen und bei jedermann eine gleiche
Empfindung.
Mit dem Übergang von der phänomenologischen Bestimmung
des Leibes als Willens- und Wahrnehmungsorgan zu seiner ontolo-
gischen Bestimmung als eine Form von Realität mit verharrenden,
konditional bzw. funktional bestimmten Eigenschaften der Empfind-
samkeit ändert sich konsequenterweise auch die Bestimmung seiner
Räumlichkeit. Phänomenologisch als Wahrnehmungsorgan genom-
men, hat der Leib nicht nur (an seiner Oberfläche oder im Leibesin-
neren) „lokalisierte“ bzw. „ausgebreitete“ intime „Empfindnisse“, er
entfaltet auch ein jedem seiner Sinne zughöriges Sinnesfeld bzw. ein
sie alle umfassendes synästhetisches Wahrnehmungsfeld.62 Bewegt
sich der wahrnehmende Leib (in willentlicher oder unwillkürlicher
Weise), so bewegt sich dieses Sinnesfeld mit ihm. Was innerhalb die-
ses Feldes erscheint und möglicherweise zu weiteren Wahrnehmun-
gen animiert, ist ein reines „Sinnending“ (auch „Phantom“ genannt),
das heißt ein Ding, so wie es erscheint und abgesehen von allen real-
kausalen, objektiven Bestimmungen.63 Wird der Leib aber naturwis-
senschaftlich als physisches Ding betrachtet, so ist er ein Ding unter
anderen Dingen. Er ist Teil eines kausalen Netzwerkes von Körpern,
von denen jeder eine (meistens veränderliche) Stelle bzw. „Lage“ im
homogenen objektiven Raum einnimmt. Der Leib wird so zu einem
„Raumkörper“, das heißt zu einer substantiellen materiellen Rea-
lität, deren Grundbestimmung, das heißt „Wesensform aller realen
Eigenschaften“ die „Extension“ ist.64
Husserls phänomenologische Ontologie der leiblichen Realität
bewegt sich also zwischen einer subjektiv-phänomenologischen

62
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 55–58.
63
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 65–75.
64
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 27–32.
60 Rudolf Bernet

und einer objektiv-naturalistischen Bestimmung des Leibes und sei-


ner Räumlichkeit: Sie faßt den Leib weder ausschließlich als Wahr-
nehmungs- und (bewegliches) Willensorgan noch ausschließlich als
dinglichen Raumkörper, sondern „als ein Ding besonderer Art“65
bzw. als „das subjektive Objekt“.66 Als subjektives Objekt bzw. als
wahrnehmendes Ding genommen, steht der Leib mit den physischen
Dingen nicht in einem Zusammenhang der physischen Kausalität,
sondern der Konditionalität. Die ihm eigene Räumlichkeit hat somit
weder die Form der leiblichen „Ausbreitung“ von intimen Empfind-
nissen bzw. der Entfaltung eines Wahrnehmungshorizontes noch die
Form der homogenen „Ausdehnung“ des objektiven Raumes. Als
ein Ding unter Dingen, das sich durch seine Wahrnehmungsfähig-
keit auszeichnet, steht der Leibkörper vielmehr im Zentrum eines
Orientierungsraumes: „Der Leib nun hat […] die einzigartige Aus-
zeichnung, daß er den Nullpunkt all dieser Orientierungen in sich
trägt. Einer seiner Raumpunkte […] ist immerfort im Modus des
letzten zentralen Hier charakterisiert […]. So besitzen alle Dinge der
Umwelt ihre Orientierung zum Leibe, wie denn alle Ausdrücke der
Orientierung diese Beziehung mit sich führen. Das ‚Fern‘ ist fern […]
von meinem Leib, das ‚Rechts‘ weist auf meine rechte Leibesseite,
etwa die rechte Hand zurück etc.“67 Der Wesensunterschied zwi-
schen der leiblichen Räumlichkeit des Orientierungsraumes und dem
festen Lagensystem des homogen ausgedehnten objektiven Raumes
zeigt sich besonders deutlich in dem Umstand, daß bei der Bewegung
des Leibes im objektiven Raum sein Orientierungs­system unverän-
dert bleibt: „der Subjektleib ‚wechselt seine Stellung‘ im Raum; die
Dinge seiner erscheinenden Umgebung sind dabei immerfort orien-
tiert; […] die Form der Orientierungsordnung mit einem Zentrum
bleibt notwendig erhalten“.68

65
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 158.
66
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi-
schen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die Fundamente
der Wissenschaften, Husserliana V, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag 1952,
124.
67
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 158.
68
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 158–159.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 61

6. Die ontologische Realität der Seele und des Geistes

Husserls phänomenologische Ontologie des Leibes wird ergänzt


durch eine von den Phänomenen seelischer Konditionalität ausge-
hende Bestimmung der Seinsweise und der funktionalen Wesens-
eigenschaften der Seele. Diese ontologische Bestimmung der Seele
als eine eigene Art von Realität ergibt sich also wiederum auf der
Grundlage der phänomenologischen Beschreibung unserer Erfah-
rung davon, wie das Auftreten von seelischen Erlebnissen und die
Bildung von seelischen Zuständen oder Eigenschaften durch ver-
schiedene Arten von Umständen bedingt sind. Da die Seele nun aber
mit dem Leib zusammen eine untrennbare Einheit bildet, ergibt es
sich von selbst, daß eine ganze Reihe von konditionalen Umständen
seelischer Erlebnisse entweder leiblicher Art oder doch zumindest
leiblich vermittelt ist. Neben diesen „psychophysischen (oder besser
physiopsychischen)“ Umständen gibt es nach Husserl jedoch auch
noch „idiopsychische“ und „intersubjektive Abhängigkeitsbezie-
hungen der Seelenrealität.“69 Dieser doppelten Reihe von kondi­
tionalen Umständen zufolge erscheint dann auch die Seele als eine
doppelte bzw. „gemischte Realität“, die „eine Naturseite […] und
eine idiopsychische Seite“ hat.70
Wir haben schon mehrmals darauf hingewiesen, daß für Hus-
serl die sinnliche Dingwahrnehmung der paradigmatische Fall eines
leiblich vermittelten seelischen Erlebnisses ist. Physiopsychische
Umstände sind somit vor allem Wahrnehmungsumstände, welche
die äußeren Wahrnehmungsbedingungen und den Zustand des Lei-
bes als Wahrnehmungsorgan betreffen. Was die Leibesumstände
betrifft, so handelt es sich in erster Linie um die Abhängigkeit eines
seelischen Wahrnehmungserlebnisses von den konditionalen Eigen-
schaften und Zuständen des Leibes, etwa von seiner Empfindsam-
keit, seiner Wachsamkeit oder Müdigkeit usw. Bei den Umständen,
die sich auf die äußeren physischen Wahrnehmungsbedingungen
beziehen, handelt es sich um Lichtverhältnisse, Lage und Entfernung
des wahrgenommenen Dinges usw.71 Sowohl bei den Leibesumstän-
den als auch den äußeren Wahrnehmungsbedingungen ist dann des
Weiteren zwischen „normalen“ oder „anomalen“, „günstigen“ bzw.
„optimalen“ oder „ungünstigen“ Umständen zu unterscheiden.

69
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 135.
70
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 137.
71
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 58–65.
62 Rudolf Bernet

Husserl verwahrt sich jedoch aus prinzipiellen, nämlich onto-


logischen Gründen gegen die Vermengung der Wirkung von kon-
ditionalen Wahrnehmungsumständen mit einer naturkausalen
Verursachung der seelischen Wahrnehmungserlebnisse. Die Seele sei
zwar durchaus eine Realität, und zwar ein Seiendes, dessen Wirklich-
keit durch materielle Umstände wesensgesetzlich mitbestimmt ist,
als Sitz von intentionalen subjektiven Bewußtseinserlebnissen müsse
sie jedoch als eine „irreale“ Realität gefaßt und somit von aller phy-
sisch-materiellen „realen“ Realität streng geschieden werden.72 Die
Ursachen, welche den Zustand eines physischen Körpers unmittel-
bar modifizieren, und die materiellen Umstände, von denen der Voll-
zug seelischer Erlebnisse abhängig ist, sind nicht einerlei, und ihre
Wirkungsart ist denn auch eine wesentlich verschiedene. Dieser prin-
zipielle Gegensatz bleibt auch da erhalten, wo, wie im Falle der phy-
siopsychischen Konditionalität, der Beitrag der leiblichen Zustände
und Umstände zu den seelischen Wahrnehmungserlebnissen seiner-
seits in der physischen Kausalität der „physiologischen“ Prozesse73
des naturalen Leibkörpers fundiert ist. Aufgrund der Eigenschaft
des Leibes als „Umschlagspunkt“ zwischen einer kausalen und einer
konditionalen Bestimmung,74 das heißt der doppelten Bestimmung
des Leibes als objektiver Körper und als subjektives Willens- und
Wahrnehmungsorgan zufolge, kommt es in der Abhängigkeit seeli-
scher Erlebnisse vom Leib zwar zu einer „Verflechtung“ zwischen
irrealen und realen Realitäten, aber diese Verflechtung ändert nichts
an der ontologischen Differenz zwischen irrealem seelischem Sein
und realem physischem Sein: „Zu jeder psychophysischen Kondi-
tionalität gehört notwendig somatologische Kausalität, unmittelbar
betrifft sie immer die Verhältnisse des Irrealen, eines Vorkommnisses
in der subjektiven Sphäre, mit einem Realen des Leibes: mittelbar
dann mit einem Realen außerhalb, das mit dem Leib in realem, also
kausalem Zusammenhang steht.“75
Wie dieses „Verhältnis“ zwischen einer den Leibkörper in sei-
nem naturalen Umfeld kennzeichnenden materiellen Kausalität
und ihrem Einfluß auf die motivationale Eigengesetzlichkeit des
Bewußtseins dann genauer zu verstehen ist, läßt Husserl jedoch
im Ungewissen. Er verwendet vielmehr seine ganz Denkkraft auf

72
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 64.
73
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 135.
74
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 161.
75
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 65, vgl. auch 135.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 63

den (implizit auch gegen Descartes’ Passions de l’âme gerichteten)


Nachweis, daß irreale seelische Erlebnisse und Leidenschaften nicht
in naturkausaler Weise vom physisch-realen Leibkörper verursacht
werden können. Die Frage, ob Husserl mit seinem Begriff der psy-
chophysischen Konditionalität in die Spur eines früheren Gegners
von Descartes, nämlich Malebranche und dessen Okkasionalismus,
tritt, können wir hier nicht weiter verfolgen.
Wir kommen dem Eigenwesen der seelischen Realität (und somit
auch ihrer Differenz von der materiellen Realität) noch einmal ein
Stück näher, wenn wir nun von der physiopsychischen Konditio-
nalität zur Betrachtung der idiopsychischen und intersubjektiven
Konditionalität der Seele übergehen. Unter einer „idiopsychischen“
Konditionalität versteht Husserl die Abhängigkeit der seelischen
Erlebnisse eines Subjekts von seinen früheren Erlebnissen und deren
Wirkungsgeschichte: „Die früheren Erlebnisse sind nicht spurlos
verschwunden, ein jedes wirkt nach. Zum Wesen der Seele gehört
eine kontinuierliche Neubildung oder Umbildung von Dispositio-
nen […]. Es ist klar, daß diese Art von Abhängigkeit noch weni-
ger als ein Analogon der physischen Kausalität anzusprechen ist als
die Bedingtheit durch äußere Umstände.“76 In seiner Bedingtheit
durch die idiopsychischen Umstände, das heißt durch seine frühe-
ren Erlebnisse und deren Nachwirkung, ist das „Bewußtsein […]
sozusagen abhängig von sich selbst.“77 Aus der Betrachtung dieser
idiopsychischen Konditionalität ergibt sich auch die Einsicht, daß
nicht, wie beim Leib, die Räumlichkeit, sondern die Zeit die eigent-
liche Realitätsform von seelischem Sein ist: „Das Seelenleben ist nach
Wesensnotwendigkeit ein Fluß; selbstverständlich fehlt ihm also
jedes Analogon einer Raumform als Form möglicherweise unverän-
dert existierender Realitäten.“78
Auch die „bleibenden seelischen Eigenschaften“79 einer indivi-
duellen Seele, nämlich ihre „Habitualitäten“ und „Dispositionen“,
haben noch eine wesentlich zeitliche Seinsweise: Sie sind aus dem
Fluß der seelischen Erlebnisse erwachsen, und sie realisieren sich im
Fluß neuer seelischer Erlebnisse. Als psychische Realität genommen
ist die Seele somit „Träger eines Seelenlebens mit seiner subjektiven
Habe und als das eine durch die Zeit sich erstreckende Einheit […]:

76
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 136.
77
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 135.
78
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 133.
79
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 132.
64 Rudolf Bernet

sie zeigt eine Identität darin, daß sie im ganzen unter gegebenen
physischen Umständen sich geregelt reagierend ‚verhält‘, so und so
empfindet, wahrnimmt etc.“80 Die Betrachtung der idiopsychischen
Konditionalität vertieft also den Gegensatz zwischen seelischer und
physischer Realität durch den Hinweis auf die Geschichtlichkeit
seelischen Seins und die „Geschichtslosigkeit“ materiellen Seins.81
Wie Aristoteles die ἕξις der Seele von ihrer δύναμις her versteht,
so bestehen auch für Husserl die bleibenden Eigenschaften der Seele
vorwiegend aus Vermögen. Diese Vermögen oder „Dispositionen“,
die immer auf vergangene und zukünftige seelische Erlebnisse ver-
weisen, sind es, welche die wahre „subjektive Habe“ der Seele aus-
machen: „Jedes Erlebnis hinterläßt Dispositionen und schafft in
Hinsicht auf die seelische Realität Neues. Sie selbst [sc. „die Seele“]
ist also eine beständig sich verändernde.“82 Als zur seelischen Reali-
tät gehörige Eigenschaften sind diese Dispositionen und Vermögen
keine bloßen Möglichkeiten, denen erst durch ihre Verwirklichung
eine Realität zuwachsen würde. Sie sind vielmehr, mit Heid­eg­ger
gesprochen, „wirkliche Möglichkeiten“, nämlich ein faktisch-exi­
stentiales „Sein-Können“ des individuellen Menschen.
Aus der phänomenologischen Beschreibung der physiopsychi-
schen und der idiopsychischen Konditionalitäten ergibt sich also
gleichermaßen, daß nicht der Raum, sondern die Zeit die grundle-
gende Wesensform seelischen Seins ausmacht. Damit erweist sich die
Zeit, und zwar, genauer, die Zeit des subjektiven Bewußtseins als der
Horizont eines angemessenen phänomenologischen Verständnisses
des Seins seelischer Realitäten. Was seelisches Sein von naturhaftem
Sein unterscheidet, ist letztlich also nicht der Unterschied zwischen
dem Motivationszusammenhang von seelischen Erlebnissen und
dem Kausalzusammenhang von physischen Körpern, sondern eben
die Form der Zeit. Das Wesen der Seele gründet mit anderen Worten
in der Subjektivität, das Wesen der Subjektivität gründet im Wesen
des Bewußtseins, und das Wesen des Bewußteins gründet in der Zeit.
Aus dieser zeitlichen Seinsbestimmung seelischen Seins ergibt sich
dann des weiteren, daß die Seele zwar „eine absolut unzerstückbare
Einheit“ ist,83 aber daß sie keine Einheit im Sinne einer Substanz
sein kann: „es gibt keine Seelensubstanz: die Seele hat kein ‚An sich‘

80
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 127.
81
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 137.
82
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 133.
83
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 133.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 65

wie die ‚Natur‘, weder eine mathematische Natur wie das Ding der
Physik noch eine Natur wie das Ding der Anschauung.“84
Was schließlich die intersubjektive Konditionalität betrifft, die
Husserl neben die psychophysische und die idiopsychische Kon-
ditionalität der seelischen Realität stellt, so handelt es sich dabei um
Wahrnehmungsumstände, welche die von Husserl „solipsistisch“
genannte Sphäre des leib-seelischen Einzelsubjekts überschreiten.
Erst mit der Berücksichtigung dieser intersubjektiven Konditiona-
lität wird verständlich, wie der leiblich vermittelten Wahrnehmung
von äußeren Dingen, vom eigenen Leibkörper sowie schließlich von
der ganzen Natur ein allgemein verifizierbarer und somit objektiver
Wahrheitswert zuwachsen kann.85 Als seelische Konditionalität ver-
standen, umfaßt der Einfluß, den die Anderen auf meine Wahrneh-
mungen ausüben, selbstverständlich noch nicht den vollen Bereich
des sozialen menschlichen Lebens, so wie er im Dritten Abschnitt
der Ideen II unter dem Titel „Die Konstitution der geistigen Welt“
untersucht wird. Die intersubjektive Konditionalität betrifft nur
seelische Erlebnisse, die sich von den geistigen Akten durch ihre Lei-
besgebundenheit unterscheiden. Wir bewegen uns bei der Betrach-
tung dieser leiblich vermittelten seelischen Intersubjektivität somit
immer noch innerhalb der von Husserl (in einem erweiterten, das
heißt nicht naturwissenschaftlichem Sinne) „naturalistisch“ genann-
ten Einstellung:86 „Diese Form seelischen Daseins […] besteht in
der auf die […] Form der Leiblichkeit […] begründeten Form der
sozialen Gemeinschaft als einer Gemeinschaft einheitlichen Daseins
durch das Band der Wechselverständigung.“87 Die „personalis-
tisch“ genannte Einstellung hingegen sieht ab von all den erwähn-
ten Konditionalitäten seelischer Erlebnisse und richtet sich auf die
Erforschung der „geistigen Individualität“ der „menschlichen Per-
son“ in ihrem Bezug auf die „Umwelt“ und in ihrem Umgang mit
anderen „Personen“ und mit „Person-Gemeinschaften, sozialen
Institutionen.“88
Husserls Untersuchungen zur Konstitution der geistigen Welt im
3. Teil der Ideen II gelten dann der Ausbildung eines neuen Zweigs
der phänomenologischen Ontologie, der sich mit der Seinsweise

84
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 132.
85
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 78.
86
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 139–143.
87
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 133.
88
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 139–143.
66 Rudolf Bernet

von persönlichem (inter-)subjektivem Leben und von idealen Kul-


turgegenständen beschäftigt, also, in traditioneller Terminologie
ausgedrückt, mit der Seinsweise des subjektiven und objektiven
Geistes. Neben die sich auf eine naturalistische Erfahrungsweise
stützenden phänomenologischen Ontologien der Natur sowie der
leib-seelischen Realitäten tritt somit eine neue phänomenologische
Ontologie der geistigen Realitäten, die in einer personalistischen
Erfahrung fundiert ist. Geistige Realitäten haben ihre eigenen,
nämlich „umweltlichen“ „Umstände“, und diese Umstände haben
wiederum ihre eigene, von der materiellen Kausalität sowie von der
leib-seelischen Konditionalität abweichende Wirkungsweise, die
Husserl „Motivation“ nennt. Diese Motivation gilt Husserl als das
„Grundgesetz der geistigen Welt“ (gemäß dem Titel des Zweiten
Kapitels des Dritten Abschnitts der Ideen II) bzw. als „die Gesetz-
lichkeit des geistigen Lebens“.89 Die Umstände, welche den Gang
meines geistigen Lebens motivieren, sind von verschiedenster Art:
Sie beziehen sich ebenso auf sinnliche Dinge wie auf kulturelle
Gegenstände, sie beziehen sich ebenso auf Sachen wie auf Ereignisse,
sie können gleichermaßen einem persönlichen wie einem so­zialen
und geschichtlichen Erfahrungszusammenhang entstammen, und
sie können gleichermaßen der Gegenwart wie der Vergangenheit
und Zukunft angehören. In allen diesen Fällen handelt es sich
jedoch um umweltliche Umstände, welche miteinander zu einem
Ganzen verflochten sind und die alle einen geistigen Weltbezug
bzw. eine Weltoffenheit der geistigen Persönlichkeit voraussetzten.
In diesem prägnanten Sinn genommen, bezeichnet die Motivation
also Abhängigkeitsverhältnisse des Bewußtseins, in denen der Leib
keine bestimmende Rolle mehr spielt. Man muß also nach Husserl
einen Unterschied machen zwischen der leiblich vermittelten Wir-
kungsgeschichte der idiopsychischen Konditionalität einerseits, und
den durch die geschichtliche Tradition motivierten Formen unseres
geistigen Verhaltens und Denkens andererseits. Ebenso muß man
dann auch auf der intersubjektiven Ebene unterscheiden zwischen
einem leiblichen Verhalten, das durch das leibliche Ausdrucksver-
halten (Gesten, Minenspiel) der Mitmenschen bedingt ist, und einem
geistigen Wechselverständnis, in dem ich mich von den sprachlich
ausgedrückten Mitteilungen der Anderen und deren geschichtlicher
Überlieferung geistig motivieren lasse.

89
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 220.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 67

7. Erfahrung und Realität von Leib und Seele aus der Perspektive
der Fundamentalontologie

Versuchen wir nun abschließend, uns in einer Art fiktionaler Herme-


neutik vorzustellen, wie Heid­eg­ger in seiner Marburger Zeit auf den
2. Abschnitt von Husserls Ideen II und deren phänomenologisch-
ontologische Bestimmung der leiblich-seelischen Einheit menschli-
chen Lebens reagiert haben könnte. Es bietet sich an, dabei weiterhin
einen Unterschied zwischen Husserls phänomenologischer Beschrei-
bung der Erfahrung vom eigenen und fremden Leib bzw. von der
eigenen und fremden Seele und Husserls ontologischer Bestimmung
der Realität von Leib und Seele zu machen.
Grundstein der husserlschen Bestimmung der Erfahrung des
eigenen Leibes ist zweifellos seine Lehre von den Empfindnissen und
von der darin implizierten leiblichen Selbstaffektion. Der Vorrang
der leiblichen Empfindnisse vor den kinästhetischen Empfindun-
gen der eigenen Leibesbewegungen, vor den Lust- und Triebemp-
findungen sowie vor den hyletischen Empfindungsdaten gründet
in ihrem ausgezeichneten Bezug auf eine „Lokalisierung“ und eine
primitiv räumliche „Ausbreitung“. Die Räumlichkeit des phänome-
nalen Orientierungsraums, aber auch schon der Sinnesfelder, und
die dimensionale Ausrichtung, Entfernung oder Annäherung des
Eigenleibes setzen nach Husserl alle ein intimes, empfindnismäßiges
Raumgefühl voraus. Ein solches eigenleibliches Raumgefühl kommt
meines Wissens in Heid­eg­gers Marburger Texten nicht zur Sprache
– auch nicht in seiner Analyse der „Befindlichkeit“. Dafür gibt es
mindestens zwei Gründe:
1) Heid­eg­ger versteht die Leiblichkeit als eine „Verräumlichung“
des Daseins, das heißt er bahnt sich einen Zugang zum Phänomen
der Leiblichkeit im Horizont der Räumlichkeit, während Husserl
gerade umgekehrt in den leiblichen Empfindnissen den Ursprung
von aller Erfahrung von Räumlichkeit sieht. Jede Erfahrung von
einem Einräumen der Dinge und jedes Verständnis vom Sein des
Raumes setzen nach Husserl die Ausbreitung leiblicher Empfind-
nisse an der Oberfläche und im Inneren des eigenen Leibes voraus.
2) Heid­eg­gers Existentialanalyse interessiert sich nicht für die
solipsistische Intimsphäre leiblicher Selbstaffektionen. Vom Phäno-
men der Verräumlichung her verstanden, gehört die Leiblichkeit in
den Zusammenhang der Transzendenz und nicht der Immanenz. Bei
Heid­eg­ger ist mein Leib nicht zuerst in mir, sondern bei den besorg-
ten Dingen und im Blick des Anderen. Er ist weltoffen und nicht in
68 Rudolf Bernet

sich selbst eingerollt. Es gibt bei Heid­eg­ger keine leibliche Zentrie-


rung ohne eine gleichzeitige transzendierende Dezentrierung. Es sei
in diesem Zusammenhang an den § 23 von Sein und Zeit erinnert,
wo Heid­eg­ger im Gegensatz zu Husserl das leibliche „Hier“ vom
„Dort“ der besorgten Dinge her versteht: „Sein Hier versteht das
Dasein aus dem umweltlichen Dort.“90
Husserls Bestimmung der Gegebenheit des Fremdleibes als ein
ursprüngliches Ausdrucksphänomen, das erst nachträglich auf
den Eigenleib übertragen werden kann, wäre somit bei Heid­eg­ger
sicher auf ein unmittelbares Einverständnis gestoßen. Aber der sich
bei Husserl daran anschließenden Betrachtung des konstitutiven
Beitrags der Fremderfahrung zu einer Objektivierung des eigenen
Leibes und zur Ermöglichung von dessen naturwissenschaftlicher
Bestimmung wäre Heid­eg­ger wohl nicht ohne Mißtrauen begeg-
net. Von einer „rechtmäßigen Naturalisierung des Bewußtseins“ ist
selbst in den Zollikoner Seminaren nicht die Rede. Schon in seiner
Vorlesung vom Sommersemester 1925 hatte Heid­eg­ger für Husserls
Auseinandersetzung mit dem „psychophysischen Parallelismus“ im
vorletzten Paragraphen des 3. Abschnitts der Ideen II wenig mehr
als Spott übrig: „Husserl kommt hier nur wieder auf seine Unter-
scheidung des Seins unter anderem Titel zurück. Es bleibt onto­
logisch alles beim Alten. […] Gefragt wird nach dem Verhältnis von
Seele und Leib, geistiger und physischer Natur, gefragt wird nach
dem alten Problem, das im 19. Jahrhundert viel diskutiert wurde,
nach dem psychophysischen Parallelismus“.91
Wie hätte Heid­eg­ger nun aber in seiner Marburger Zeit auf Hus-
serls phänomenologische Beschreibung der Erfahrung der eigenen
und der fremden Seele reagieren können? Husserls Unterscheidung
zwischen einer psychophysischen Konditionalität und einer kausa-
len Verursachung seelischer Erlebnisse durch die materielle Natur,
durch den physiologisch bestimmten Körper oder durch das Gehirn
als dessen „Zentralorgan“ hätte sicher Heid­eg­gers Beifall gefunden.
Dasselbe gilt auch für Husserls Behandlung der idiopsychischen
und der intersubjektiven Konditionalitäten, obwohl Heid­eg­ger be-
kanntlich den Phänomenen eines spezifisch leiblich vermittelten
Gedächtnisses und einer leiblich begründeten Wechselverständigung
mit dem Anderen in Sein und Zeit wenig Beachtung geschenkt hat.
Husserls Verankerung der seelischen Erlebnisse im Wesen der Zeit

90
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 144.
91
Heid­eg­ger, Prolegomena, GA 20, 170–171.
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 69

und der Geschichte wäre Heid­eg­ger wohl als eine Vorausnahme der
Grundabsicht seiner eigenen Existentialanalyse erschienen. Ebenso
müßte Heid­eg­ger auch Husserls Bestimmung der seelischen Eigen-
schaften als dynamische Vermögen bzw. als existentiale Wirklichkeit
eines Sein-Könnens sehr entgegengekommen sein. Wir haben schon
erwähnt, daß ein aufmerksames Studium aller Teile von Husserls
Ideen II auch Heid­eg­gers Befürchtung einer Zerteilung der Ganz-
heit menschlichen Seins in Leib, Seele und Geist hätte beschwichti-
gen müssen.
Aber Heid­eg­ger hätte sicher Anstoß genommen an Husserls Ver-
ankerung der seelischen Erlebnisse in der Spontaneität des „reinen
Ich“ sowie überhaupt an Husserls Begriff eines seelischen „Bewußt-
seins“. Wenn es Husserl dazumal wohl kaum gelungen wäre, diese
Bedenken zu zerstreuen, so vielleicht schon eher dem heutigen,
aus dem zeitlichen Abstand argumentierenden Leser von Husserls
Ideen II. Wie man sich auch zu Husserls Begriff eines reinen Ichs
stellen mag, so gilt jedenfalls, daß seelische Erlebnisse zufolge ihrer
innigen Verschmelzung mit dem Leib unvermeidlich eine Verleibli-
chung des Ichsubjekts implizieren. Der Leib ist bei Husserl weniger
„Träger“ als vielmehr „Organ“ ichlicher Absichten. Zudem haben
wir auch festgestellt, daß nach Husserl ichliche seelische Erleb-
nisse eher die Ausnahme als die Regel sind. Die Freiheit, welche
die seelischen Erlebnisse kennzeichnet, muß als eine Befreiung von
naturkausalen Automatismen verstanden werden, die sich durchaus
mit ihrer Bedingtheit durch konditionale Umstände und mit ihrem
passiven Vollzug verträgt. Als leiblichem Bewußtsein fehlt es den
seelischen Erlebnissen ebenfalls an der Durchsichtigkeit eines car-
tesianisch verstandenen Bewußtseins. Husserl schreibt in dem auch
von Heid­eg­ger bereits berücksichtigten 3. Abschnitt seiner Ideen II:
„Hier handelt es sich nicht um Motivation von Stellungnahmen
durch Stellungnahmen […], sondern von Erlebnissen beliebiger
Art […]: die Sinnlichkeit, das sich Aufdrängende, Vorgegebene, das
Getriebe in der Sphäre der Passivität. Das einzelne darin ist im dunk-
len Untergrund motiviert, hat seine ‚seelischen Gründe‘ […]. Die
‚Motive‘ sind oft tief verborgen, aber durch ‚Psychoanalyse‘ zutage
zu fördern.“92
Es ist also unzweifelhaft, daß der Begriff des „Bewußtseins“
durch Husserls phänomenologische Erforschung leiblicher Bewußt-
seinsformen eine ganz ungewöhnliche Erweiterung erfahren hat.

92
Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 222.
70 Rudolf Bernet

Leibliches Bewußtsein braucht weder aktiv noch ichlich zu sein, das


Modell seiner Reflexivität ist nicht das cogito, sondern die beiden
sich berührenden Hände, und meistens hat das leibliche Bewußtsein
mit einem Vorstellen von Gegenständen gar nichts zu tun, sondern
erschöpft sich im Empfinden und Bewegen. Das ist Husserls große
Entdeckung, die in ihrer philosophischen Relevanz seiner ‚Entdek­
kung‘ der („fungierenden“) Intentionalität nicht nachsteht. Ob die-
ser phänomenologischen Aufweisung eines leiblichen Bewußtseins
durch dessen Aufteilung in Leib und Seele wirklich ein Dienst erwie-
sen wird, bleibt allerdings eine berechtigte Frage, welche in der Tat
an die ontologischen Fundamente von Husserls Bestimmung der
leib-seelischen Einheit rührt.
Die durch Husserls phänomenologische Ontologie von Leib
und Seele in Anspruch genommenen Erfahrungen betreffen insbe-
sondere konditionale Zusammenhänge von inneren und äußeren
Umständen mit leiblichen Bewußtseinsformen. In Anlehnung an
das Vorgehen der neuzeitlichen Naturwissenschaft wird in Husserl
phänomenologischer Ontologie die Realität bzw. das Wirklich-Sein
und Wirklich-Bleiben von Leib und Seele somit nicht substantia-
listisch, sondern funktional bestimmt. Gegen eine solche funktio-
nale Zugangsweise hätte Heid­eg­ger zwar sicher wenig einzuwenden
gehabt, aber sein eigener fundamentalontologischer Ansatz hätte
ihm wohl die Frage nahegelegt, ob es nun wirklich die vorhandenen
und zuhandenen „Umstände“ sind, von denen wir die existentiale
Wirklichkeit unseres eigentlichen leiblichen Daseins am besten ver-
stehen können. Dieser prinzipielle Einwand gegen eine material-
ontologische Bestimmung menschlichen Lebens und Leibens muß
sinnvollerweise dann auch noch auf die Frage nach dem geeigneten
Zugang zum Verständnis des eigenen Seins bezogen werden. Daß
Husserls material-ontologische Bestimmung der Realität von Leib
und Seele mit deren Vergegenständlichung verbunden ist, wäre
allerdings nur dann ein vernichtender Einwand, wenn Husserl das
Sein von leiblichem und seelischem Bewußtsein als Vorhandensein
bestimmt hätte. Davon kann aber, wie wir gesehen haben, nicht die
Rede sein. Als „Organ“ seelischen Empfindens, Erlebens, Wahrneh-
mens und Wollens kennzeichnet sich der Leib vielmehr durch seine
unauffällige Dienlichkeit und seine lebendige Beweglichkeit. Auch
für die seelischen „Eigenschaften“ gilt, daß sie nicht einfach vorhan-
den sind, sondern als Sein-Können wirksam sind. Natürlich ist damit
nicht behauptet, daß Husserls ontologische Bestimmung von Leib
und Seele den Anforderungen von Heid­eg­gers Fundamentalonto­
Leiblichkeit bei Husserl und Heidegger 71

logie genüge. Aber wir müssen uns andererseits auch die Frage offen
halten, ob Heid­eg­gers Konzentration auf die existentiale Sorge um
das eigene Sein die Berücksichtigung von anderen Vollzugsweisen
menschlichen Lebens und insbesondere von dessen materiellen und
leiblichen Umständen nicht verschattet.
Schließlich müßte auch noch der Frage nachgegangen werden, ob
unsere Erfahrung vom Wesen unseres eigenen Leibes wirklich stets
mit einer Offenbarung seiner sinnvollen Dienlichkeit verbunden
ist. Sartre und Lévinas waren da anderer Meinung als Husserl und
Heid­eg­ger. In Sartres Beschreibung der „nausée“ und in Lévinas’
Bestimmung des „il y a“ handelt es sich vielmehr um Erfahrungen
des Seins des Eigenleibs, in welchen dieser seines persönlichen Cha-
rakters beraubt wird und sich als nutzlos und gefühllos, kurz: als
gänzlich fremd und feindlich erweist.
Dan Zahavi
Phänomenologie und
Transzendentalphilosophie

Gibt es so etwas wie eine phänomenologische Tradition? Darüber


scheiden sich die Meinungen. Manche behaupten, daß die Phäno-
menologie eine der dominierenden philosophischen Traditionen des
20. Jahrhunderts darstellt. Edmund Husserl war ihr Begründer und
so bekannte Namen wie Scheler, Heid­eg­ger, Fink, Sartre, Merleau-
Ponty, Lévinas und viele andere folgten ihm.
Husserl ist der Gründungsvater der Phänomenologie, viele
behaupten aber, daß so gut wie alle, die seiner Lehre folgten, sich
in Wirklichkeit früher oder später von Husserls Grundprinzipien
distanzierten. Viele begreifen Husserls transzendentale Phänome-
nologie und Heid­eg­gers und Merleau-Pontys hermeneutische und
existentielle Ansätze als sich ausschließende Alternativen. Ein oft
genanntes Argument ist, daß erst die letztgenannten Denker Themen
wie Intersubjektivität, Sozialität, Leiblichkeit, Geschichtlichkeit,
Sprache und Interpretation in die Phänomenologie aufnahmen, was
zu einer entscheidenden Veränderung des Husserlschen Programms
führte. Einige gehen sogar so weit zu sagen, daß Husserl nicht nur
der Gründer der Phänomenologie war, sondern auch gleichzeitig ihr
einziger Ausübender. Folgt man dieser Sichtweise, muß man zu dem
Schluß kommen, daß sich die phänomenologische Tradition auf den
„Namen“ Phänomenologie beschränkt. Weder besteht eine einheit-
liche Methode, noch ein gemeinsames Forschungsprogramm.

Die gängige Husserl-Kritik

Es ist allerdings etwas rätselhaft, daß Heid­eg­ger und Merleau-Ponty


oft gemeinsam genannt werden, als ob ihre Kritik an Husserl sie
vereinen würde. Man wird leicht überrascht sein, wenn man nach
74 Dan Zahavi

der Lektüre von Sein und Zeit (oder Prolegomena zur Geschichte
des Zeitbegriffs) auf Merleau-Ponty stößt. Sowohl Heid­eg­ger als
auch Merleau-Ponty beziehen sich auf Husserl, aber ihre Darstel-
lung ist so grundverschieden, daß man sich ab und zu fragen mag,
ob beide von demselben Autor sprechen. Niemand kann übersehen,
daß Merleau-Pontys Interpretation Husserls signifikant von derje-
nigen Heid­eg­gers abweicht. Sie ist wesentlich wohlwollender. Tat-
sächlich stellt sich Merleau-Ponty sehr oft gegen übliche Ansichten,
wenn er die Verdienste Husserls bzw. Heid­eg­gers bewertet. Dies ist
nicht nur in seiner berüchtigten Bemerkung auf der allerersten Seite
von Phénoménologie de la perception der Fall, wo er verkündet, daß
das gesamte Werk Sein und Zeit nur eine Artikulation von Husserls
Lebensweltkonzept ist, sondern auch – um ein weiteres Beispiel zu
nennen – in einer seiner Sorbonne-Vorlesungen, in der er schreibt,
Husserl nehme das Thema der Geschichtlichkeit weit ernster als
Heid­eg­ger.1
Angesichts Merleau-Pontys beständigen und relativ enthusia­
stischen (obwohl keineswegs unkritischen) Interesses an Hus-
serl stellt sich die Frage, wie es kommt, daß sich viele Anhänger
Merleau-Pontys weigern, seine Husserl-Interpretationen ernst zu
nehmen? Angeblich kommt das daher, daß Merleau-Pontys Ausle-
gungen Husserls nicht so sehr davon handeln, was Husserl gesagt
hat, sondern eher davon, was er Merleau-Pontys Ansicht nach
hätte sagen sollen, und daß diese Auslegungen infolgedessen eher
als eine Darstellung Merleau-Pontys eigener Gedanken, denn als
echte Husserl-Interpretationen gelesen werden müssen.2 Warum ist
man sich so sicher, daß die Philosophie der beiden gegensätzlich sei
und Merleau-Ponty Husserls Position, um ihr die Befremdlichkeit
zu nehmen, mehr oder weniger absichtlich falsch dargestellt habe?
Der Grund ist scheinbar, daß viele Interpreten davon überzeugt sind,
Husserl sei ein Cartesianer geblieben, ein Idealist und Solipsist bis
zum bitteren Ende, ungeachtet dessen, was Merleau-Ponty selbst
darauf entgegnet hätte. In der Tat, eine solche Husserl-Interpretation
wird nicht nur von Merleau-Pontianern, sondern auch, sogar mit
1
Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la Perception, Paris
1945; vgl. Maurice Merleau-Ponty, Merleau-Ponty à la Sorbonne. Résumé
de Cours 1949–1952, Cynara 1988, 421–422.
2
Gary Brent Madison, The Phenomenology of Merleau-Ponty, Athens
1981, 170, 213 und 330; vgl. Hubert L. Dreyfus/ Paul Rabinow, Michel Fou-
cault. Beyond Structuralism and Hermeneutics, Chicago 1983, 36; Martin C.
Dillon, Merleau-Ponty’s Ontology, Evanston 1997, 27.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 75

großer Vehemenz, von vielen Heid­eg­gerianern verteidigt. Lassen Sie


mich zwei Beispiele nennen.

1. Taylor Carman hat in mehreren Schriften die These vertreten, daß


die Philosophien von Husserl und Heid­eg­ger sowohl hinsichtlich
ihres Stils als auch hinsichtlich ihres Inhalts Welten voneinander
entfernt und ihre jeweiligen Absichten und Bestrebungen grundle-
gend verschieden sind.3 Er beharrt darauf, daß „Heid­eg­ger’s fun-
damental Ontology can not be understood as a mere supplement
or continuation, let alone ‚translation‘ of Husserl’s philosophy“.4
Laut Carman hat Heid­eg­ger im Gegenteil gezeigt, daß „Husserl’s
phenomenology is at once uncritical and incoherent: uncritical in
its appropriation of the Cartesian conception of the subject and the
platonic-aristotelian interpretation of being as presence (Anwesen);
incoherent because it proports to ground those prejudices in a rigo-
rous philosophical method that can itself be made intelligible only
by taking them for granted. Husserl’s project is thus caught in a
vicious circle, for its results presuppose its methods and its methods
presuppose its results. Neither genuinely radical nor free of sub­
stantive presuppositions, Husserl’s phenomenology is simply not
the ‚rigorous science‘ it claims to be“.5 Demnach läuft die herme-
neutische Phänomenologie von Sein und Zeit laut Carman auf eine
komplette Ablehnung von Husserls transzendentaler Phänomeno-
logie mit all ihrem Platonismus, Mentalismus und methodologi-
schem Solipsismus hinaus. Folglich ist es auch nicht verwunderlich,
wenn Carman ebenso behauptet, Heid­eg­ger hätte Husserls trans-
zendentale Reduktion deswegen zurückgewiesen, weil diese nicht in
der Lage ist, den hermeneutischen Einsichten Rechnung zu tragen,
die notwendig sind, um menschliches Sein als In-der-Welt-sein zu
begreifen.6 Wie aber interpretiert Carman die phänomenologische
Reduktion? Er sagt folgendes: „The transcendental reduction […]
consists in methodically turning away from everything external to
consciousness and focusing instead on what is internal to it. The
reduction thus amounts to a special kind of reflection in which the
ordinary objects of our intentional attitudes drop out of sight, while

3
Vgl. Taylor Carman, Heid­eg­ger’s Analytic. Interpretation, Discourse and
Authenticity in Being and Time, Cambridge 2003, 54.
4
Carman, Heid­eg­ger’s Analytic, 65.
5
Carman, Heid­eg­ger’s Analytic, 54.
6
Vgl. Carman, Heid­eg­ger’s Analytic, 56.
76 Dan Zahavi

the immanent contents of those attitudes become the new objects of


our attention“.7 Folglich, für Husserl „intentionality is internal, the
world is external, and the transcendental reduction focuses on the
former to the exclusion of the latter“.8

2. Jean-Luc Marions Ansicht nach sei die Phänomenologie Husserls


naiv und ungenügend, da sie einer Metaphysik der Präsenz ver-
haftet bleibe. Man müsse Husserl zwar, so wird argumentiert, für
seinen Fokus auf verschiedene Weisen des Gegebenseins preisen,
aber bedauerlicherweise lasse er „ininterrogée la donation dont il
a pourtant accompli l’élargissement”.9 Mit anderen Worten, Hus-
serl versäume es, die fundamentale Frage des Gegebenseins selbst
zu behandeln. Was heißt überhaupt „geben“, was kommt ins Spiel,
wenn man davon spricht, daß etwas „gegeben“ sei? Dieses Ver-
säumnis habe weitreichende Konsequenzen. Anstatt sich in seinen
Untersuchungen an den Sachen selbst zu orientieren, sei Husserl von
traditionellen bzw. cartesianischen Vorraussetzungen und Entschei-
dungen geleitet. Aus diesem Grund bleibe Husserls Phänomenologie
im Endeffekt unphänomenologisch,10 oder sie sei nur teilweise phä-
nomenologisch.11 Die Phänomenalität der Phänomene werde redu-
ziert auf die Gewißheit ihrer aktuellen Gegenwärtigkeit,12 sie werde
reduziert auf Objektivität im Sinne der Sicherheit von Permanenz.
Dieser Fokus auf objektive Existenz (Subsistenz) gehe mit Husserls
Unvermögen einher, Nicht-Gegenwärtiges, Abwesendes zu behan-
deln.13 Aus diesem Grund sei das Phänomen im Sinne Husserls –
definiert als und beschränkt auf die Präsenz für das Bewußtsein – ein
flaches Phänomen, ein Phänomen ohne jegliche Tiefe.14 Letztendlich
behauptet Marion: 1) Der husserlschen Phänomenologie mangle es
an einer Thematisierung der Phänomenalität der Phänomene. 2) Sie
privilegiere ein aktiv konstituierendes Ich. 3) Sie werde dem spezi-
fischen Sein des Bewußtseins nicht gerecht, indem sie dessen Sein
beharrlich als eine Form von objektivem Sein interpretiere. 4) Zu

7
Carman, Heid­eg­ger’s Analytic, 80.
8
Carman, Heid­eg­ger’s Analytic, 86.
9
Jean-Luc Marion, Réduction et donation. Recherches sur Husserl, Heid­
eg­ger et la Phénoménologie, Paris 1989, 62.
10
Vgl. Marion, Réduction et donation, 78.
11
Vgl. Marion, Réduction et donation, 124.
12
Vgl. Marion, Réduction et donation, 81.
13
Vgl. Marion, Réduction et donation, 89.
14
Vgl. Marion, Réduction et donation, 90, 93 und 97.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 77

guter Letzt habe die husserlsche Phänomenologie aufgrund der


Betonung objektiver Existenz nur einen Blick für die Präsenz und
vermöge es nicht, die Gegebenheit von Abwesendem bzw. Nicht-
Gegenwärtigem zu behandeln.

Lassen Sie mich gleich einräumen, daß es schwierig gewesen wäre,


die Gemeinsamkeiten von Husserl und Heid­eg­ger zu betonen,
wären diese Interpretationen korrekt. Wenn jene Kritiken gerecht-
fertigt sind, dann wäre es nur rechtens zuzugeben, daß Husserls Phä-
nomenologie ernstzunehmenden Beschränkungen unterliegt und
daß folglich der Phänomenologie nach Husserl nichts anderes übrig
bleibt, als jene Rahmenbedingungen zu durchbrechen. Aber: Ist die
Kritik gerechtfertigt? Ich denke nicht. Meiner Meinung nach war
Husserl selbst offenkundig weit über das hinaus, was man eine fla-
che, oberflächliche Phänomenologie nennen könnte. Wenn es etwas
an Tiefe fehlt, dann ist es nicht Husserls Phänomenologie, sondern
der gängigen Kritik an ihr.
Ich möchte keineswegs Carmans und Marions Kritik gleichstel-
len, aber sie haben trotzdem verschiedene Züge gemeinsam. Für beide
ist die Quelle der Kritik die gleiche, nämlich Heid­eg­ger. Der Einfluß
der Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs ist unleugbar. Beide
nehmen keine sonderliche Rücksicht auf die neue(ste) Husserl-For-
schung, und endlich ist es auch auffällig, wie wenige von Husserls
eigenen Werken in Betracht gezogen werden. Die Hauptquellen sind
Logische Untersuchungen, Ideen I, Cartesianische Meditationen und
Krisis. Es fehlt jede Bezugnahme auf so zentrale Werke wie Zur Phä-
nomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Zur Phänomenologie der
Intersubjektivität I-III oder auf jegliche andere Husserliana-Bände,
die in den letzten 30 Jahren erschienen sind. Dem läßt sich Merleau-
Pontys Einstellung gegenüberstellen, dessen Interesse an Husserls
Forschungsmanuskripten bis zum Ende seines Lebens anhielt. Der
Grund dafür war zweifellos, daß er den wichtigsten Inhalt von
Husserls Werk als in diesen Manuskripten enthalten ansah. Wie
er in einem Brief von 1942 schrieb: „Après tout, la philosophie de
Husserl est presque entièrement contenue dans les inédits“.15 Eine
Bemerkung, die genau Husserls eigener Einschätzung entspricht.
Wie Husserl 1931 an Adolf Grimme schrieb: „In der Tat, der grösste
und wie ich sogar glaube, wichtigste Teil meiner Lebensarbeit steckt

15
Hermann Leo van Breda, Maurice Merleau-Ponty et les Archives-Husserl à
Louvain, in: Revue de Métaphysique et de Morale 67 (1962), 410–430, hier 420.
78 Dan Zahavi

noch in meinen, durch ihren Umfang kaum noch zu bewältigenden


Manuskripten“.16
Meines Erachtens besitzt die husserlsche Phänomenologie die
Ressourcen, viele der Standard-Einwände zu entkräften: Sie hat zum
Beispiel wiederholt betont, in welchem Ausmaß intentionale Aktivi-
tät Passivität voraussetzt. Sie hat den nicht-objektivierenden Modus
des Seins von Bewußtsein analysiert, und sie hat das Wechselspiel
von Präsenz und Abwesenheit in extenso diskutiert. Da es im fol-
genden nicht möglich sein wird, alle Kritikpunkte zu überprüfen,17
werde ich mich stattdessen auf einen zentralen Punkt konzentrieren,
nämlich auf Husserls Auffassung des Transzendentalen. Wie ich zei-
gen werde, versteht Husserl die Aufgabe der Transzendentalphilo-
sophie anders als die klassische Tradition.

Die transzendentale Reduktion

Im Jahr 1925 schrieb Husserl einen Brief an Ernst Cassirer, in dem


er die Entwicklung seiner eigenen Wertschätzung Kants im Detail
beschrieb.18 Ursprünglich war Husserl stark beeinflußt von Brenta-
nos negativer Beurteilung Kants, jedoch ließen ihn weiterführende
Studien die Ähnlichkeiten zwischen seinem eigenen und Kants Pro-

16
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektität. Texte aus
dem Nachlaß. Dritter Teil. 1929–1935, Husserliana XV, hrsg. von Iso Kern,
Den Haag 1973, LXVI.
17
Vgl. dazu Dan Zahavi, Husserl’s Phenomenology of the Body, in: Études
Phénoménologiques 19 (1994), 63–84; Dan Zahavi, Horizontal Intentiona-
lity and Transcendental Intersubjectivity, in: Tijdschrift voor Filosofie 59/2
(1997), 304–321; Dan Zahavi, The Fracture in Self-Awareness, in: Dan Zahavi
(Hrsg.), Self-Awareness, Temporality and Alterity, Dordrecht 1998, 21–40;
Dan Zahavi, Self-Awareness and Affection, in: Natalie Depraz/Dan Zaha-
vi (Hrsg.), Alterity and Facticity. New Perspectives on Husserl, Dordrecht
1998, 205–228; Dan Zahavi, Merleau-Ponty on Husserl. A Reappraisal, in:
Ted Toadvine/Lester M. Embree (Hrsg.), Merleau-Ponty’s Reading of Hus-
serl, Dordrecht 2002, 3–29; Dan Zahavi, Husserl und das Problem des Vor-
reflexiven Selbstbewußtseins, in: Heinrich Hüni/Peter Trawny (Hrsg.), Die
erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held, Berlin 2002, 697–724; Dan
Zahavi, Internalism, Externalism, and Transcendental Idealism, in: Synthese
160/3 (2008), 355–374.
18
Vgl. Edmund Husserl, Husserl an Cassirer, 3. IV. 1925 (Durchschlag), in:
Husserliana Dokumente III, Briefwechsel, Band V, Die Neukantianer, hrsg.
von Karl Schuhmann, Dordrecht/Boston/London 1994, 3–6, hier 4.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 79

jekt erkennen. Natürlich gibt es eine Stelle, an der Kants Einfluß auf
Husserl sichtbar wird. Wie Husserl in Erste Philosophie I zugibt,
benutzte er einen von Kant stammenden Begriff, als er sich entschied,
seine eigene Phänomenologie als transzendental zu bezeichnen.19
Warum verdient Husserls Phänomenologie den Namen trans-
zendental? Husserls Standardantwort darauf ist, daß die Phänome-
nologie deshalb transzendental ist, weil ihr Ziel in der Aufklärung
der Konstitution von Transzendenz besteht.20 Oder, wie er es in den
Cartesianischen Meditationen ausdrückt, sind die beiden Begriffe
Transzendenz und transzendental miteinander verknüpft und die
Aufgabe der transzendentalen Phänomenologie besteht darin, welt-
liche Transzendenz durch eine systematische Aufklärung der konsti-
tuierenden Intentionalität zu erhellen.21 Husserl räumt ein, daß auch
die traditionelle Erkenntnistheorie mit dem Problem der Transzen-
denz konfrontiert war, nämlich in Form der Frage, wie Gewißheiten
und Evidenzen des immanenten bewußten Lebens objektive Gültig-
keit gewinnen können.22 Einfacher gesagt, bestand das traditionelle
Problem darin, aus der Sphäre des Bewußtseins herauszukommen.
Husserl stellt demgegenüber fest, daß bereits die Übernahme dieser
Problemdarstellung eine Lösung unmöglich macht. In der Tat ist die-
ses Problem ein Pseudo-Problem, das nur dann auftaucht, wenn man
die wahre Lektion der Intentionalität vergißt und die Subjektivität
als isolierte, von der Welt abgetrennte Einheit sieht. Es ist somit ein
entscheidender Fehler, Erfahrung als Verbindung zweier unabhän-
gig voneinander veränderbarer Dimensionen zu betrachten, gerade
als ob Subjektivität und Welt nur per Zufall zusammenpaßten.23
Für Husserl bilden Subjektivität und Welt keine eigenständigen
Entitäten; sie sind vielmehr verflochten, grundlegend miteinander
verbunden.

19
Vgl. Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923–1924). Erster Teil. Kriti-
sche Ideengeschichte, Husserliana VII, hrsg. von Rudolf Boehm, Den Haag
1956, 230.
20
Vgl. Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Husserliana
XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den Haag 1974, 259.
21
Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, in: Cartesianische
Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg. von Stephan Strasser,
Den Haag 1950, 41–193, hier 34 und 65.
22
Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 116.
23
Vgl. Edmund Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nach-
lass (1908–1921), Husserliana XXXVI, hrsg. von Robin Daryl Rollinger in
Verbindung mit Rochus Sowa, Dordrecht 2002, 30.
80 Dan Zahavi

Husserl behauptet oftmals, daß seine transzendentale Phänome-


nologie eher als ein Versuch der Einlösung denn als ein Versuch der
Verleugnung des Realismus der natürlichen Einstellung angesehen
werden kann. Tatsächlich behauptet Husserl, daß eine transzenden-
tale Reflexion oder Methodologie dann erforderlich ist, wenn wir
den Realismus, der der natürlichen Einstellung immanent ist, ver-
stehen und erklären wollen. Deshalb kann Husserl schreiben, daß
der transzendentale Idealismus den natürlichen Realismus in sich
birgt,24 da er eine Auslegung des Sinns ist, den die Welt „vor allem
Philosophieren“ für uns hat.25 Diese letztere Bemerkung paßt gut zu
Husserls wiederholter Betonung, es sei das Ziel seiner Forschung,
die Rechtmäßigkeit unseres Glaubens an die Realität zu verstehen
und zu verdeutlichen, und nicht, sie kritisch zu bewerten oder zu
begründen (eine derartige Begründung ist nämlich gar nicht notwen-
dig). Lassen Sie mich drei Stellen, die diesen Punkt verdeutlichen,
zitieren:
„Die transzendente Welt, die Menschen, ihr miteinander und mit
mir als Menschen verkehren, miteinander erfahren, denken, wirken
und schaffen wird durch meine phänomenologische Besinnung nicht
aufgehoben, entwertet, geändert, sondern nur verstanden“.26
„Einen stärkeren Realismus kann es also nicht geben, wenn die-
ses Wort nicht mehr besagt als: ‚ich bin dessen gewiß, ein Mensch
zu sein, der in dieser Welt lebt usw., und ich zweifle daran nicht
im mindesten‘. Aber es ist eben das große Problem, diese ‚Selbst-
verständlichkeit‘ zu verstehen.“27 „Daß die Welt existiert, daß sie
in der kontinuierlichen immerfort zu universaler Einstimmigkeit
zusammengehenden Erfahrung als seiendes Universum gegeben
ist, ist vollkommen zweifellos. Ein ganz Anderes ist es, diese Leben
und positive Wissenschaft tragende Zweifellosigkeit zu verstehen
und ihren Rechtsgrund aufzuklären.28 Deshalb kann Husserl expli-

24
Vgl. Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX,
hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1962, 254.
25
Edmund Husserl, Die Pariser Vorträge, in: Cartesianische Meditationen
und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg. von Stephan Strasser, Den Haag
1950, 1–39, hier 36.
26
Edmund Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Husserliana
XVII, 282.
27
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie, Husserliana VI, hrsg. von Walter Biemel,
Den Haag 1954, 190–191.
28
Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phä-
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 81

zit verneinen, daß die Durchführung der transzendentalen Reduk-


tion irgendeinen Verlust impliziert, außer natürlich den Verlust der
Naivität. Der wahre Zweck der ἐποχή und der Reduktion ist nicht,
die Realität anzuzweifeln, zu vernachlässigen, aufzugeben oder
von unserer Forschung auszuschließen; das Ziel ist vielmehr, eine
bestimmte dogmatische Einstellung gegenüber der Realität aufzu-
heben, sie zu neutralisieren, indem wir uns darauf konzentrieren,
unsere Aufmerksamkeit enger und direkter auf die Realität zu rich-
ten, so wie sie uns gegeben ist. Anders gesagt: Der Vollzug der ἐποχή
und der Reduktion bedeutet keine Wende zur Innerlichkeit. Im
Gegenteil, die ἐποχή und die Reduktion erlauben es uns, die Realität
auf eine völlig neue Art und Weise zu untersuchen, nämlich in ihrer
Bedeutung und Manifestation für das Bewußtsein. Kurz: Die ἐποχή
ist mit einem Einstellungswechsel gegenüber der Realität verbunden
und nicht mit ihrem Ausschluß. In seiner Vorlesung Phänomenolo-
gie und Anthropologie, die er im Jahr 1931 in Frankfurt, Berlin und
Halle hielt, weist Husserl darauf hin, daß das Einzige, das die ἐποχή
ausschließt, eine gewisse Naivität ist, jene Naivität nämlich, die die
Welt einfach als wirklich hinnimmt und gleichzeitig den Beitrag des
Bewußtseins ignoriert.29 Husserl besteht in jener Vorlesung wieder-
holt darauf, daß die Wende von einer naiven Erforschung der Welt zu
einer reflexiven Erforschung jener eine Wende ist, die es uns erstmals
erlaubt, die Welt radikal zu untersuchen und zu verstehen.30 Obwohl
sich jene reflexive Erforschung von einer direkten Erforschung
unterscheidet, so ist und bleibt sie doch eine Erforschung der Reali-
tät; sie ist keine Untersuchung irgendeines außerweltlichen, menta-
len Reichs. Nur eine verfehlte Sichtweise von Sinn und Erscheinung
kann zu solch einem Mißverstehen führen. So hat Husserl denn auch
in vielen seiner Texte betont, daß die Durchführung der ἐποχή und
die der Reduktion eine Entdeckungsfunktion haben und demnach als
eine Erweiterung des Forschungsgebietes gesehen werden sollen.31

nomenologischen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die


Fundamente der Wissenschaften, Husserliana V, hrsg. von Marly Biemel,
Den Haag, 1952, 152–153.
29
Vgl. Edmund Husserl, Phänomenologie und Anthropologie (Vortrag in
den Kantgesellschaften von Frankfurt, Berlin und Halle 1931), in: Aufsätze
und Vorträge (1922–1937), Husserliana XXVII, hrsg. von Thomas Nenon
und Hans Rainer Sepp, Dordrecht/Boston/London 1989, 164–181, hier 173.
30
Vgl. Husserl, Phänomenologie und Anthropologie, Husserliana XXVII, 178.
31
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 66; vgl. Hus-
serl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 154.
82 Dan Zahavi

Wie er in der Krisis schreibt, kann die ἐποχή mit einem Übergang
von einem zweidimensionalen zu einem dreidimensionalen Leben
verglichen werden.32 Husserl erscheint es sogar besser, wie er in Erste
Philosophie II anmerkt, den Terminus „Ausschaltung“ überhaupt zu
vermeiden. Er könnte uns leicht zu jener verfehlten Sicht der Dinge
verleiten, die die Welt nicht mehr als Thema der Phänomenologie
ansieht, obwohl die transzendentale Forschung in Wahrheit auch
„die Welt selbst, nach all ihrem wahren Sein“ 33 einschließt.
Diese Interpretation kann anhand von Material gestützt werden,
das in dem vor kurzem veröffentlichten Husserliana-Band XXXIV
Zur phänomenologischen Reduktion: Texte aus dem Nachlass zu
finden ist. In diesen zwischen 1926 und 1935 entstandenen Texten
weist Husserl darauf hin, daß die Rede von einer „Ausschaltung“ der
natürlichen Welt nichts anderes meint, als daß der Transzendental-
philosoph aufhören muß, die Welt naiv zu setzen.34 Dies impliziert
aber nicht, daß ich nicht weiterhin die Welt beobachten und thema-
tisieren kann, Urteile über sie fällen kann, usw., sondern lediglich,
daß ich dies in einer reflexiven Art und Weise tun muß, die die Welt
als intentionales Korrelat betrachtet.35 Um es anders auszudrücken:
Die ἐποχή und die Reduktion durchzuführen bedeutet, eine the-
matische Umstellung herbeizuführen. Die Welt zeigt sich fortan als
Phänomen, und als solches bleibt sie im Fokus meiner phänomeno-
logischen Forschung.36 Husserl sagt: „Welt als ‚Phänomen‘, als Welt
in der ἐποχή, ist doch nur ein Modus, in dem dasselbe Ich, das Welt
vorgegeben hat, sich auf diese Vorgegebenheit und was in ihr liegt,
besinnt und nicht etwa darum sie und ihre Geltung preisgegeben
oder gar einfach zum Verschwinden gebracht hat.“37

32
Vgl. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
120.
33
Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923–1924). Zweiter Teil. Theorie
der Phänomenologischen Reduktion, Husserliana VIII, hrsg. von Rudolf
Boehm, Den Haag 1959, 432.
34
Edmund Husserl, Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem
Nachlass (1926–1935), Husserliana XXXIV, hrsg. von Sebastian Luft, Dord­
recht 2003, 12.
35
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
58.
36
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
204 und 323.
37
Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV, 223.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 83

Die Welt als Phänomen zu betrachten ist folglich keine Abstrak-


tion, sondern vielmehr die Thematisierung einer ansonsten anonym
fungierenden Dimension, nämlich der Dimension der Gegebenheit.
Der Vollzug der Reduktion ist, wie Husserl es ausdrückt, gleich-
bedeutend damit, die Welt von einer verborgenen Abstraktion zu
befreien und sie in ihrer Konkretion als ein konstituiertes Sinnge-
bilde zu enthüllen.38 Andererseits befreit die Reduktion das Ich
aber auch von den Einschränkungen seines natürlichen Seins. Mein
alltägliches, natürliches Leben ist laut Husserl ein Leben in Selbst-
entfremdung, da es nichts von seiner Transzendentalität weiß. Mit-
tels der Reduktion können wir jene Scheuklappen loswerden, die
gewöhnlich den vollen und transzendentalen Charakter des Lebens
verdecken.39
Wenn wir die phänomenologische Einstellung einnehmen, rich-
ten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Gegebenheit öffentlicher
Dinge (Bäume, Planeten, Gemälde, Symphonien, Zahlen, Sachver-
halte, soziale Beziehungen, etc.). Doch wir konzentrieren uns nicht
einfach auf die Dinge, genau wie sie sind; sondern wir konzentrieren
uns auch auf die subjektive Seite des Bewußtseins und entdecken
dabei unsere subjektiven Fähigkeiten und die Intentionalität, die die
Dinge so erscheinen läßt, wie sie es tun. Wenn wir erscheinende Dinge
untersuchen, offenbaren wir uns als die Dative der Erscheinung, als
jene, denen die Dinge erscheinen. Das Thema der phänomenologi-
schen Analysen ist folglich nicht ein weltloses Subjekt, und die Phä-
nomenologie ignoriert die Welt nicht zugunsten des Bewußtseins.
Im Gegenteil, die Phänomenologie legt nach Husserls Darstellung
deshalb den Fokus auf das Bewußtsein, weil es die Welt enthüllt.
Phänomenologie sollte demnach als philosophische Analyse der
verschiedenen Arten von Gegebenheiten (wahrnehmend, imagina-
tiv, erinnernd etc.) verstanden werden und in Verbindung damit als
reflexive Erforschung der Strukturen der Erfahrung und des Verste-
hens, die verschiedenen Gegenständen erlaubt, sich selbst als das,
was sie sind, zu zeigen. Die Phänomenologie ist an der Dimension
von Gegebenheit oder Erscheinung interessiert und versucht, deren
essentielle Strukturen und die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu
untersuchen. Eine derartige Untersuchung der Sphäre der Präsenz

38
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
225.
39
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, Husserliana XXXIV,
226.
84 Dan Zahavi

liegt jenseits der Trennung zwischen psychischer Innerlichkeit und


physischer Äußerlichkeit, da sie eine Untersuchung derjenigen
Dimension ist, in welcher sich jegliches Objekt – sei es intern oder
extern – überhaupt manifestieren kann.40
Die Tatsache, daß sich Husserls Phänomenologie als eine Form
der Transzendentalphilosophie qualifiziert, erfordert eigentlich
keine umfassende Argumentation – doch die Frage, ob sie der kan-
tianischen Version der Transzendentalphilosophie ähnelt oder sich
von ihr unterscheidet, bedarf näherer Überlegungen und ich werde
gleich zu dieser Frage zurückkehren. Aber wie steht es mit Heid­
egger? Sowohl Heid­eg­ger als auch Husserl würden die Aufgabe der
Phänomenologie weder als genaue und akribische Beschreibung von
Dingen oder Erfahrungen noch als Untersuchung der Phänomene
in all ihrer tatsächlichen Vielfältigkeit bezeichnen. Wie Scheler einst
bemerkte, wäre dies eine „Bilderbuchphänomenologie“.41 Nein, für
beide ist die wahre Aufgabe der Phänomenologie, die Dimension von
Erscheinung oder Gegebenheit zu untersuchen und ihre Struktur
sowie die Bedingungen ihrer Möglichkeit aufzudecken. Laut Michel
Henry, und dies wird z. B. in L’essence de la manifestation ausführ-
lich begründet, interpretiert man Heid­eg­gers Seinsfrage korrekter-
weise so, daß man sie als Frage nach dem Wesen des Erscheinens
betrachtet, als sich beziehend auf die Frage nach der Möglichkeit des
Erscheinens von Seiendem.42 Das Sein ist der Horizont, innerhalb
dessen das Seiende erscheinen kann, es ist die Bedingung der Mög-
lichkeit für Manifestation, Verständlichkeit und Bedeutung. Aber
diese Bewegung von einer direkten metaphysischen oder empirischen
Erforschung von Dingen zu einer Untersuchung der Dimension von
Manifestation, einer Untersuchung der Rahmenbedingungen von
Bedeutung und Verständlichkeit, die eine solche direkte Erforschung
erst möglich machen, verlangt eine transzendentale Einstellung, die
jener, die in den positiven Wissenschaften vonnöten ist, völlig unähn-
lich ist. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Heid­eg­ger die Wissenschaft
des Seins als transzendentale Wissenschaft bezeichnet43 und daß er

40
Vgl. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 554 und 555; Bernhard Waldenfels,
Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt
am Main 2000, 217.
41
Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik,
Halle 1927, VII.
42
Vgl. Michel Henry, L’essence de la manifestation, erster Band, Paris 1963,
67.
43
Vgl. Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 23.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 85

behauptet, die Seinsweise des Daseins sei von solcher Art, daß sie
transzendentale Konstitution ermöglicht.44
Ich behaupte natürlich nicht, es gäbe einen reibungslosen Über-
gang zwischen Husserl und Heid­eg­ger, eine unproblematische
Kontinuität, als ob das Denken des Letzteren einfach als natürliche
Entwicklung jenes des Ersteren angesehen werden könnte. Es gibt
mehrere bedeutsame Unterschiede, und man sollte niemals verges-
sen, daß wir es hier mit unabhängigen Denkern, die von verschie-
denen Persönlichkeiten der philosophischen Tradition beeinflußt
waren, zu tun haben. Dennoch findet Heid­eg­gers Kritik an Husserl
innerhalb eines Horizonts gemeinsamer Annahmen statt. Diese Kri-
tik ist eine immanente, der Phänomenologie innewohnende Kritik,
und sie ist weder ein Bruch noch eine allgemeine Zurückweisung.
Aus den gleichen Gründen würde ich behaupten, daß ein genaues
Verständnis des husserlschen Programms unerläßlich ist, um den
phänomenologischen Aspekt in Heid­eg­gers Denken verstehen und
schätzen zu können. Anders ausgedrückt: Wenn man die Verbin-
dung zwischen Husserl und Heid­eg­ger ignoriert oder herunterspielt,
ist es sehr gut möglich, daß man am Ende Heid­eg­gers Philosophie
fehlinterpretiert. Nehmen wir z. B. Mark Okrents kürzlich erschie-
nenen Artikel Heid­eg­ger in America or How Transcendental Philo-
sophy Becomes Pragmatic. Ausgehend von einer sehr cartesianischen
Lesart der Phänomenologie Husserls behauptet Okrent, daß Phä-
nomenologie, Pragmatismus und Transzendentalphilosophie eine
inkonsistente Triade darstellen und daß insofern Heid­eg­ger ein prag-
matischer Philosoph sei und auch als transzendentaler Pragmatist
ausgelegt werden könne, er deswegen kein Phänomenologe sei.45

Husserl, Kant und das Problem der Intersubjektivität

Wenn es um eine Würdigung von Husserls Phänomenologie geht,


kann eine Bezugnahme auf Kant als passend angesehen werden. Das
ist besonders dann der Fall, wenn es um den Vorwurf geht, die Hus-
serlsche Phänomenologie sei bloß eine Form von Introspektionis-

44
Vgl. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 601–602.
45
Vgl. Mark Okrent, Heid­eg­ger in America or How Transcendental Philo-
sophy Becomes Pragmatic, in: Jeff Malpas (Hrsg.), From Kant to Davidson.
Philosophy and the Idea of the Transcendental, London 2003, 122–138, hier
137.
86 Dan Zahavi

mus – wie es Dennett gelegentlich zu denken scheint. Diesbezüglich


sollte man jedoch sehr vorsichtig sein und die entscheidenden Unter-
schiede zwischen Kant und Husserl nicht übersehen. Anders gesagt:
Es wäre ein Fehler anzunehmen, die Transzendentalphilosophie sei
immer von gleicher Gestalt, und damit zu übersehen, daß zwischen
der kantianischen Transzendentalphilosophie und der Transzenden-
talphilosophie der Phänomenologie ein Unterschied besteht.
Schon in den Logischen Untersuchungen hat Husserl Kant dafür
kritisiert, daß es ihm nicht gelungen sei, eine mit Metaphysik kon-
taminierte Erkenntnistheorie zu vermeiden. Zudem äußerte er, daß
metaphysische Theorien fehl am Platz seien, wenn es darum geht,
das Verhältnis zwischen den Gesetzen der Natur und den Geset-
zen der Vernunft zu verstehen. Benötigt werden nicht Erklärungen,
sondern phänomenologische Klärungen des Bedeutens, Denkens
und Wissens.46 Später wird Husserl auch behaupten, daß Kant kein
schlüssiges Konzept des a priori dargelegt hat, daß er mit einer zu
starken Unterscheidung zwischen Empfinden und Verstehen arbei-
tete, daß er sich zu nahe an den Naturwissenschaften orientierte,
daß er noetische und noematische Analysen miteinander verwech-
selte und daß es ihm an methodologischer Strenge fehlte.47 Bezüglich
des Unterschieds in der Methodik kann eine klare Aussage in einem
Manuskript aus dem Jahre 1920 gefunden werden, in dem Husserl
folgendes schreibt: „Kants Deduktion ist ein Meisterstück einer
transzendentalen Beweisführung von oben her. Von allen phänome-
nologischen Analysen hält sie sich fern.“ Und dann fügt er noch
hinzu, daß eine solche Deduktion von Phänomenologen nur mit

46
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Zwei-
ter Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis,
Husserliana XIX/2, hrsg. von Ursula Panzer, 729 und 732.
47
Vgl. Husserl, Erste Philosophie I, Husserliana VII, 198–199, 235 und
282; Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
420–421; Edmund Husserl, Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie,
Husserliana XXIV, hrsg. von Ullrich Melle, Den Haag 1984, 729 und 732;
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchun-
gen zur Konstitution, Husserliana IV, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag
1952, 128; Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in
die reine Phänomenologie. Erster Halbband, Husserliana III.1, hrsg. von
Karl Schumann, Den Haag 1976, 246; Husserl, Cartesianische Meditationen,
Husserliana I, 48.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 87

einem „Kopfschütteln“ bedacht werden kann.48 In Kant und die Idee


der Transzendentalphilosophie, einem seiner längsten Texte zu Kant,
den er zu dessen Gedenkfeier zum 200. Geburtstag geschrieben und
präsentiert hat, schreibt Husserl, daß Transzendentalphilosophie
auf der systematischen Beschreibung und Analyse des Bewußtseins
und all seiner Modalitäten basieren sollte.49 Husserl distanziert sich
von jeglicher Art regressiver transzendentaler Argumentation und
kritisiert Kants Methode als regressiv-konstruktiv. Es fehle ihr eine
intuitive Basis und sie sei untauglich, uns eine angemessene Beschrei-
bung des Bewußtseins zu geben. Dagegen besteht die Phänomeno­
logie auf einer tiefgehenden Untersuchung des Bewußtseins, was, wie
Husserl abschließend aufzeigt, eine Erweiterung von Kants Konzept
des Transzendentalen erfordert. Es erweist sich als notwendig, die
Geisteswissenschaften und die Mannigfaltigkeit der menschlichen
Sozialität und der menschlichen Kultur in die transzendentale Ana-
lyse mit einzubeziehen.50 Diese Kritik wird ein paar Jahre später
verstärkt, wenn Husserl schreibt, daß die Möglichkeit einer tran­
szendentalen Erhellung von Subjektivität und Welt dann verloren ist,
wenn man der kantianischen Tradition folgt, transzendentale Subjek-
tivität als isoliertes Ego zu betrachten und deswegen das Problem der
transzendentalen Intersubjektivität ignoriert.51 Demnach ist es kein
Zufall, daß Husserl sein eigenes Projekt manchmal als soziologische
transzendentale Philosophie bezeichnete.52 Letztendlich, und das
ist etwas, das erst seit wenigen Jahren gewürdigt wird, kann Hus-
serls spätere Phänomenologie als eine explizite Verteidigung dessen
bezeichnet werden, was man eine intersubjektive Transformation der
Transzendentalphilosophie nennt.53

48
Edmund Husserl, Manuskript F I 28, Sommersemester 1920, 281 und 282,
zitiert in: Iso Kern, Husserl und Kant. Eine Untersuchung zu Husserls Ver-
hältnis zu Kant und zum Neukantianismus, Den Haag 1964, 104.
49
Vgl. Husserl, Erste Philosophie I, Husserliana VII, 234–235.
50
Vgl. Husserl, Erste Philosophie I, Husserliana VII, 282.
51
Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und
die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband, Husserliana XXIX,
hrsg. von Reinhold Nikolaus Smid, Dordrecht 1993, 120.
52
Vgl. Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 539.
53
Vgl. Dan Zahavi, Husserl’s Intersubjective Transformation of Transcen-
dental Philosophy, in: Journal of the British Society for Phenomenology
27/3 (1996), 228–245; Dan Zahavi, Husserl und die transzendentale Inter-
subjektivität. Eine Antwort auf die sprachpragmatische Kritik, Dordrecht
1996.
88 Dan Zahavi

Oft wurde behauptet, daß Intersubjektivität als Lackmustest


für Husserls transzendentale Phänomenologie dient. Dem stimme
ich zu, doch aus meiner Sicht ist es der falsche Weg, zunächst ein
besonderes Verständnis der Transzendentalphilosophie voraus-
zusetzen, um dann ihre Anwendbarkeit auf Husserls Theorie der
Intersubjektivität zu testen. Man sollte vielmehr das Gegenteil tun.
Der wirkliche Sinn von Husserls transzendentaler Phänomenologie
kann nur enthüllt werden, wenn die Theorie der Intersubjektivität
in Betracht gezogen wird. Diese Umkehr scheint auch von Husserl
selbst bestätigt zu werden, schreibt er doch, seine Überlegungen zur
Intersubjektivität hätten den vollen und sachgemäßen Sinn der tran-
szendentalen Phänomenologie erstmals verständlich gemacht.54
Die Verbindung zwischen der Rolle der Intersubjektivität und
dem Status der Transzendentalphilosophie wird von Husserl immer
wieder bestätigt. Er schreibt wiederholt, seine phänomenologische
Behandlung der Intersubjektivität habe das Ziel, seine konstitutive
Analyse zu einem Abschluß zu führen – einem Abschluß, der genau
in der Einsicht kulminiert, daß transzendentale intersubjektive Sozi-
alität die Basis ist, in der alle Wahrheit und alles wahre Sein ihre
intentionale Quelle haben.55 In der Tat, Husserls Intersubjektivitäts-
analyse ist vor allem eine Analyse des transzendentale, das heißt, der
konstitutiven Leistung der Intersubjektivität, und sein Ziel besteht
darin, eine Theorie der transzendentalen Intersubjektivität zu ent-
wickeln, und nicht darin, eine genau Untersuchung des Ich-Du Ver-
hältnisses zu liefern. Es ist offensichtlich, daß Husserl den Begriff
einer Mehrheit transzendentaler Subjekte für widerspruchsfrei hielt,
und also für möglich. Letztendlich würde er diese These sogar noch
radikaler fassen und behaupten, daß diese Mehrheit notwendig ist,
insofern „Subjektivität nur in der Intersubjektivität ist, was sie ist:
konstitutiv fungierendes Ich”.56 Die Behauptung, daß die Subjekti-
vität allein in ihrer Beziehung zu anderen sich vollständig als konsti-
tutive und somit transzendentale entfalten kann, steht in auffälligem
Gegensatz zu jedem traditionellen kantianischen Verständnis der
transzendentalen Subjektivität.

54
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 176.
55
Vgl. Husserl, Die Pariser Vorträge, Husserliana I, 35. vgl. Husserl, Car-
tesianische Meditationen, Husserliana I, 182; Husserl, Erste Philosophie II,
Husserliana VIII, 449; Husserl, Phänomenoloische Psychologie, Husserlia-
na IX, 295, 344 und 474.
56
Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 175.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 89

Tatsächlich verlangt nicht nur der Abschluß, sondern auch die


Realisierung transzendentaler Phänomenologie eine Analyse der
Intersubjektivität.57 Wie wir bereits gesehen haben, ist Phänome-
nologie genau deswegen transzendental, weil sie sich mit dem Pro­
blem, wie die Transzendenz der Objektivität konstitutionsanalytisch
verstanden werden kann, befaßt. Wie Husserl wiederholt feststellt,
ist diese Klärung nur durch eine Analyse der Intersubjektivität mög-
lich.58 In den kürzlich veröffentlichten C-Manuskripten schreibt er
auch: „Die Transzendenz, in der die Welt konstituiert ‚ist‘, besteht
darin, daß sie sich mittels der anderen und der generativ konstituier-
ten Mitsubjektivität konstituiert und ihren Seinssinn als unendliche
Welt dadurch gewinnt.“59 Jede wirkliche Transzendenz, jedes wirk-
liche Hinausgehen einer Subjektivität über sich selbst beruht somit
auf Fremderfahrung, welche, indem sie mein Eigenwesentliches
transzendiert, die Quelle aller Transzendenz ist: „Hier ist die allein
eigentlich so zu nennende Transzendenz, und alles, was sonst noch
Transzendenz heißt, wie die objektive Welt, beruht auf der Tran­
szendenz fremder Subjektivität“.60 So nennt Husserl das andere Ich
das an sich erste Fremde61 und schreibt – polemisch gegen Scheler –,
daß erst die konstitutive Phänomenologie dem Problem der Fremd­
erfahrung seinen wahren Sinn und seine wahre Reichweite gegeben
hat; nämlich insofern sie erkannt hat, wie sich die Fremdheit des
Anderen auf die ganze Welt als ihre Objektivität überträgt und ihr
diesen Sinn erst gibt.62
Wie Husserl es in Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III
klarstellt, meint die Reduktion auf die transzendentale Subjektivi-
tät gleichzeitig eine durch sie erreichbar gemachte Reduktion hin

57
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 69; Husserl,
Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 345; Husserl, Erste Phi-
losophie II, Husserliana VIII, 464.
58
Vgl. Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 465; Husserl, Auf-
sätze und Vorträge (1922–1937), Husserliana XXVII, 259; Husserl, Ideen I,
198; Husserl, Die Pariser Vorträge, 10.
59
Edmund Husserl, Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die
C-Manuskripte, Materialienband VIII, hrsg. von Dieter Lohmar, Dordrecht
2006, 393.
60
Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 495, Anm. 2; vgl. Hus-
serl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV, 560.
61
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 137; Husserl,
Formale und Transzendentale Logik, Husserliana XVII, 248.
62
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 173; Husserl, Zur
Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV, 17, 73 und 403.
90 Dan Zahavi

zur transzendentalen Intersubjektivität. In der Tat, die Einführung


der intersubjektiven Dimension bedeutet keine Art externer Erwei-
terung transzendentaler Subjektivität, sie drückt eher ein besseres
Verständnis der Subjektivität an sich aus. So heißt es später im sel-
ben Band: „Ich muss scheiden: die jetzt transzendental-phänome-
nologisierende Subjektivität (als wirkliches ego – Monade) und die
transzendentale Subjektivität schlechthin; diese erweist sich als die
transzendentale Intersubjektivität, welche die transzendental phä-
nomenologisierende in sich fasst.“63
Diese Idee findet sich in der Tat recht oft bei Husserl. In Erste
Philosophie II schreibt Husserl zum Beispiel, daß die volle Univer-
salität und der volle Umfang der transzendentalen Subjektivität die
transzendentale Allsubjektivität ist, und daß nur sie als das konstitu-
tive Korrelat der Welt bezeichnet werden darf.64 Somit ist jedes Ego
nur, was es ist, als socius einer Sozialität, als Gemeinschaftsglied in
einer Totalgemeinschaft.65 Allein die Iche in ihrer Gemeinschaft sind
die absoluten Träger der Welt.66 Diese Überlegungen führen Husserl
schließlich zur Einsicht, daß das absolute Sein – Sein eines transzen-
dentalen Subjekts – Sein als Glied der transzendentalen Intersub-
jektivität heißt. Die transzendentale Subjektivität ist in ihrer vollen
Universalität eben die Inter-Subjektivität.67
Man kann die weitreichenden Auswirkungen hiervon gar nicht
genug betonen. Ich glaube, Stephan Strasser hatte zumindest teil-
weise recht, als er 1975 schrieb, die Veröffentlichung der Husserliana
XIII-XV, Husserls Forschungsmanuskripte über Intersubjekti-
vität, habe Material freigegeben, das alle gängigen Ansichten über
Husserls Philosophie unzulänglich mache.68 Die Einführung der
Intersubjektivität ist nicht bloß eine marginale Ergänzung des tran-
szendentalphilosophischen Programms, sondern impliziert dessen
ganz grundlegende Änderung. Zur Erklärung:

63
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana XV,
74–75.
64
Vgl. Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 480.
65
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 193.
66
Vgl. Husserl, Erste Philosophie II, Husserliana VIII, 505.
67
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 480.
68
Vgl. Stephan Strasser, Grundgedanken der Sozialontologie Edmund Hus-
serls, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 29 (1975), 3–33, hier 33.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 91

Wenn man Husserls Überzeugung annimmt, Realität sei inter-


subjektiv gültig und meine wirklichkeitssetzenden Akte hingen von
der Erfahrung anderer ab, muß man nicht nur den Konsens, sondern
auch den Dissens der welterfahrenden Subjekte ernst nehmen. Hus-
serls ausgedehnte Analysen dieses Problems ließen ihn schließlich
Felder betreten, die traditionell für die Psychopathologie, Soziolo-
gie, Anthropologie und Ethnologie reserviert waren. Während die
ursprüngliche kantianische Transzendentalphilosophie solche empi-
rischen Bereiche als ohne jede transzendentale Relevanz angesehen
hätte, war Husserl aufgrund seines Interesses an transzendentaler
Intersubjektivität dazu gezwungen, sie von einem transzendentalen
Standpunkt aus zu betrachten.69 Deshalb glaube ich, daß Husserls
spätes Denken von einer entscheidenden Ausdehnung der tran­
szendentalen Sphäre bestimmt ist; eine Ausdehnung, die von seinem
Inter­esse an der Intersubjektivität bewirkt wurde und die ihn schließ-
lich dazu zwang, die transzendentale Bedeutung der Generativität,
Tradition, Geschichtlichkeit und Normalität zu berücksichtigen.
Lassen Sie mich kurz auf das Problem der Normalität, mit dem
sich Husserl intensiv in mehreren Zusammenhängen beschäftigte
und das er als zentrales Herzstück betrachtete, eingehen. Grund-
sätzlich vertritt Husserl die Meinung, daß unsere Erfahrungen von
der Erwartung der Normalität geleitet sind. Wir begreifen, erfah-
ren und konstituieren in Übereinstimmung mit normalen und typi-
schen Strukturen, Modellen und Mustern, die frühere Erfahrungen
in unserem Bewußtsein sedimentiert haben.70 Wenn das, was wir
erfahren, mit unseren früheren Erfahrungen kollidiert, erfahren wir
Anormalität, die in der Folge zu einer Modifikation unserer Erwar-
tungen führt.71 Ursprünglich erforschte Husserl diesen Prozeß in
Zusammenhang mit seiner Analyse der passiven Synthesis, doch
kann diese nicht als Leistung eines einsamen Subjekts verstanden
werden. Husserl führt aus, daß ich, solange ich denken kann, von
Menschen umgeben bin und meine Antizipationen deshalb von den
intersubjektiv vermittelten Strukturen der Apperzeption abhängig
sind.72 Normalität ist auch Konventionalität, die in ihrem Sein das
69
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 391.
70
Vgl. Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, Husserliana XI,
hrsg. von Margot Fleischer, Den Haag 1966, 186.
71
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Husserliana
XV, 438.
72
Vgl. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte
92 Dan Zahavi

Individuum transzendiert.73 Folglich verwies Husserl bereits in


Ideen II auf die Tatsache, daß, neben den von anderen Personen
erzeugten Absichten, auch eine unbestimmte, generelle Vorgabe
besteht, die ihren Grund in Brauch und Tradition hat: „Man“ urteilt
so, „man“ hält die Gabel so-und-so usw.74 Was normal ist, lerne ich
von anderen (und als erstes und am allermeisten von meinen näch-
sten Verwandten, das heißt den Menschen, die mich großziehen und
unterrichten)75 und dadurch bin ich in eine allgemeine Tradition ein-
gebunden, die durch eine Kette von Generationen bis in die dunkle
Vergangenheit zurückreicht.
Wie gerade erwähnt, besteht eine Konsequenz von Husserls
Beschäftigung mit der Intersubjektivität darin, daß er auch die
Unstimmigkeiten zwischen welterfahrenden Subjekten berück-
sichtigen muß. Wenn meine Konstitution von Objektivität davon
abhängt, daß andere dasselbe wie ich erfahren oder erfahren können,
ist es problematisch, wenn sie behaupten, etwas anderes zu erfah-
ren – obwohl es bereits eine Gemeinsamkeit darstellt, daß wir uns
darüber einig sein können, uns uneinig zu sein.76 Husserl betont
jedenfalls in diesem Zusammenhang, daß nur die (Un)einigkeit zwi-
schen normalen Mitgliedern einer Gemeinschaft relevant ist. Wenn
es heißt, daß wirkliches Sein von jedem erfahrbar sein muß, dann
haben wir es mit einer bestimmten Durchschnittlichkeit und Ideali-
sierung zu tun.77 „Jeder“ ist die Person, die zu einer Normalität von
Subjekten gehört und die normal nur in und durch die Gesellschaft
ist.78 Nur mit ihr streiten wir über Wahrheit und Falschheit, Sein
und Nichtsein unserer gemeinsamen Lebenswelt. Nur das Nor-
male wird als mitkonstituierend wahrgenommen,79 während meine

aus dem Nachlaß. Zweiter Teil. 1921–1928, Husserliana XIV, hrsg. von Iso
Kern, Den Haag 1973, 117 und 125; Husserl, Zur Phänomenologie der Inter-
subjektivität III, Husserliana XV, 136.
73
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 611.
74
Vgl. Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 269.
75
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 428–429, 569 und 602–604.
76
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 47.
77
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 141, 231 und 629.
78
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 142.
79
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 93

Nichtübereinstimmung mit dem Abnormalen (fürs erste) als folgen-


los erachtet wird.
Es ist notwendig, hier zwischen zumindest zwei fundamentalen
Arten der Normalität zu unterscheiden. Zum einen sprechen wir von
Normalität, wenn wir es mit einer reifen, gesunden und rationalen
Person zu tun haben. Das Abnormale dagegen wäre hier das Klein-
kind, der Blinde oder Schizophrene. Zum anderen sprechen wir von
Normalität, wenn es um unsere Heimwelt geht. Die Abnormalität
wird hingegen dem Fremden zugerechnet, der wiederum, wenn
bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, als Mitglied einer fremden
Normalität wahrgenommen werden kann.
In diesem Zusammenhang gewinnt die Uneinigkeit eine grund-
legende Bedeutung. Nach Husserl führt die Erfahrung der Unei-
nigkeit zwischen normalen Subjekten (die Erfahrung einer Vielfalt
von Normalitäten, von denen jede ihre eigene Auffassung davon hat,
was wahr ist) nicht bloß zu einem komplexeren Weltverständnis,
insofern wir einen reicheren Einblick erlangen können, wenn es uns
gelingt, unsere Standpunkte zu vereinen. Uneinigkeit kann ebenso
als Motivation dafür dienen, wissenschaftliche Objektivität anzustre-
ben, insofern wir danach streben, eine für uns alle gültige Wahrheit
zu finden.80 Demnach wird es schließlich notwendig, zwischen 1)
„normaler“ Objektivität, die mit einer begrenzten Intersubjektivität
verbunden ist (eine Gesellschaft normaler Subjekte) und 2) „stren-
ger“ Objektivität, die mit der unbegrenzten Totalität aller Subjekte
verbunden ist, zu unterscheiden.81
Wir können also feststellen, daß Husserl an eine Korrelation
zwischen verschiedenen Ebenen der Normalität und der Objekti-
vität glaubte.82 Sogar absolut objektives Sein und absolut objektive
Wahrheit ist mit einer subjektabhängigen Normalität korreliert: der
Normalität rationaler Subjekte.83

XV, 162 und 166; Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX,


497.
80
Vgl. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
324.
81
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität II, Husserliana
XIV, 369–374; Husserl, Formale und Transzendentale Logik, Husserliana
XVII, 38 und 349.
82
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 155.
83
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 35–36.
94 Dan Zahavi

Wie hier deutlich wird, darf man unter keinen Umständen Hus-
serl so verstehen, als ob sein Begriff von Intersubjektivität ein Ersatz
für den Begriff der Subjektivität wäre. Für Husserl hat es nur Sinn,
von Intersubjektivität zu sprechen, wenn es eine (mögliche) Mehr-
heit von Subjekten gibt, und die Intersubjektivität kann deshalb
weder der Individualität und Verschiedenheit der einzelnen Subjekte
vorangehen noch sie begründen. Daher kann man sich nach Hus-
serl nicht auf den Begriff der Intersubjektivität berufen, ohne sich in
irgendeiner Form zu einer Philosophie der Subjektivität zu beken-
nen. Der Begriff der Intersubjektivität stellt hier also eine Ergänzung
dar und keine Alternative.
Husserl ist zweifellos ein Transzendentalphilosoph. Aber meiner
Ansicht nach vertritt er eine Form der Transzendentalphilosophie,
die sich der Endlichkeit des transzendentalen Subjekts bewußt ist.
Dies wird nicht nur durch Husserls Berufung auf die Pluralität
transzendentaler Subjekte klar, sondern auch durch seine Betonung
des fortlaufenden und unvollendeten Charakters der transzenden-
talen Reflexion. In Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III
bemerkt Husserl z. B., daß insofern die Vernunft, die das Korrelat
des wahren Seins ist, auch eine Struktur der Normalität darstellt,
nämlich diejenige der Vernunftsubjekte,84 dann auch das Sein und
die Wahrheit in Form absoluter Objektivität einer subjektrelativen
Normalität entsprechen85 und ihre Konstitution läßt sich als die Kul-
mination der Entwicklung der transzendentalen Intersubjektivität
verstehen, die eben als eine Entwicklung in der Ausbildung immer
neuer und in immer höheren Stufen sich vereinheitlichender Norm-
systeme zu begreifen ist.86 Immer neue Generationen kooperieren
auf transzendentaler Ebene bei der Konstitution immer neuer Struk-
turen der Gültigkeit der objektiven Welt, die eine durch Tradition
überlieferte Welt ist.87 Es gibt, wie Husserl schreibt, keine feste Welt:
Die Welt ist vielmehr, was sie für uns ist, nur in der Relativität von
Normalitäten und Abnormalitäten.88 Normalität ist eine an Tradi-

84
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 36.
85
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 35.
86
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 421.
87
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 463.
88
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 95

tionen gebundene Klasse von Normen. Ich lerne von anderen, was
als normal gilt, und ich bin dadurch Teil alltäglicher Traditionen.
Deshalb spricht Husserl auch von normalem und generativem Leben
und bemerkt, daß jedes (normale) menschliche Wesen dadurch histo-
risch ist, daß es als Mitglied einer historisch beständigen Gesellschaft
betrachtet wird.89 In einem Manuskript aus den 1920er Jahren drückt
er es folgendermaßen aus: „Was ich von mir aus original (urstiftend)
erzeuge, ist das Meine. Aber ich bin ‚Kind der Zeit‘, ich bin in einer
weitesten Wir-Gemeinschaft, die ihre Tradition hat, die wieder in
neuer Weise Gemeinschaft hat mit den generativen Subjekten, mit
den nächsten und fernsten Vorfahren. Und sie hat auf mich ‚gewirkt‘,
ich bin, was ich bin, als Erbe. Was ist nun mein wirklich originales
Eigene, wiefern bin ich wirklich urstiftend? Nun, ich bin es auf dem
Untergrund der ‚Tradition‘, all mein Eigenes ist fundiert, teils durch
diese Vorfahrentradition, teils durch Mitfahrentradition.“90 Es kann
auch auf andere Art gezeigt werden, daß Husserl der Transzenden-
talphilosophie eine historische Dimension hinzuzufügen versuchte.
In einer früher zitierten Passage schreibt Husserl, daß die Transzen-
denz der Welt durch andere und durch die generativ konstituierte
Mitsubjektivität konstituiert ist. Genau dieses Konzept generativer
Intersubjektivität91 zeigt, daß Husserl nicht länger die Geburt und
den Tod des Subjekts als bloße kontingente Tatsachen ansah, son-
dern vielmehr als transzendentale Möglichkeitsbedingungen der
Weltkonstitution.92 Wie Husserl in der Krisis schreibt, gehört die
Einbettung in den Einheitsstrom einer Geschichtlichkeit, bzw. in
einen generativen Zusammenhang mit Geburt und Tod, genau so
untrennbar zum Ich wie die Form der Wahrnehmungsgegenwart.93
Man kann darüber diskutieren, ob Husserls Versuch, eine inter-
subjektive Transformation der Transzendentalphilosophie durchzu-
führen ein fruchtbarer Ansatz oder ein letztes aporetisches Konzept

XV, 212 und 381.


89
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 138–139 und 431.
90
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität II, Husserliana XIV,
223.
91
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 199.
92
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, Husserliana
XV, 171.
93
Vgl. Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
256.
96 Dan Zahavi

war. Daß Husserl keine klassische cartesianisch-kantianische Sub-


jektphilosophie vertrat und daß er kein Solipsist war, sondern im
Gegenteil Intersubjektivität als transzendentalphilosophischen
Begriff von äußerster Wichtigkeit behandelte, sollte jedoch aufge-
zeigt worden sein.

Ein neues Verständnis des Transzendentalen

Wozu führt uns eine Bewertung von Husserls Begriff des Tran­
szendentalen? Ein Kommentator behauptete kürzlich, daß Husserl
während der 1920er und 1930er Jahre „increasingly wide-reaching,
even baroque, in his conception of the transcendental“94 wurde.
Aber anstatt Husserls Verständnis des Transzendentalen barock zu
nennen, wäre es eher angebracht zu erkennen, daß er die Idee des
Transzendentalen einer weitreichenden Transformation unterwor-
fen hat. Wie ich anderswo festgestellt habe, ist Husserls spätere Phä-
nomenologie dadurch charakterisiert, daß er versuchte, die statische
Opposition zwischen dem Transzendentalen und dem Mundanen,
zwischen Konstituierendem und Konstituiertem zu überwinden.95
Vor diesem Hintergrund sollte man beispielsweise diejenigen Aus-
sagen aus den Cartesianischen Meditationen verstehen, die besagen,
daß die Konstitution der Welt eine Mundanisierung des konsti-
tuierenden Subjekts impliziert96 – das heißt, daß die konstitutive
Erfahrung des Subjekts mit der Erfahrung seines eigenen weltlichen
Seins Hand in Hand geht. Tatsächlich behauptete Husserl schließ-
lich, daß die transzendentale Subjektivität sich notwendigerweise
als weltliches Wesen begreifen muß, wenn sie eine objektive Welt
konstituieren möchte, da Objektivität nur von einem Subjekt, das
sowohl leiblich als auch sozialisiert ist, konstituiert werden kann.97
Diese Erkenntnis gewann Husserl nicht erst am Ende seines Lebens.
In einem zwischen 1914 und 1915 geschriebenen Text, der unlängst

94
Dermot Moran, Making Sense. Husserl’s Phenomenology as Transcen-
dental Idealism, in: From Kant to Davidson, 48–74, hier 51.
95
Vgl. Zahavi, Husserl und die transzendentale Intersubjektivität; Dan Za-
havi, Husserl’s Phenomenology, Stanford 2003.
96
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 130.
97
Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 130; vgl. Hus-
serl, Ideen III, Husserliana V, 128; Edmund Husserl, Ding und Raum. Vor-
lesungen 1907, Husserliana XVI, hrsg. von Ulrich Claesges, Den Haag 1973,
162.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 97

in Band XXXVI der Husserliana erschienen ist, ist zu lesen, daß


aktuelles Sein oder das Sein aktueller Wirklichkeit nicht einfach eine
Beziehung zu irgendeinem formalen erkennenden Subjekt voraus-
setzt, sondern daß das in Frage stehende konstituierende Subjekt
notwendigerweise ein leibliches und situiertes Subjekt sein muß.
Demnach sagt Husserl bereits in dieser Periode, daß das Subjekt
notwendigerweise leiblich in der Welt, die es konstituiert, situiert
sein muß, um sie konstituieren zu können.98 Fortfahrend erläutert er,
daß die Konstitution einer objektiven Welt es eben fordere, daß das
Subjekt in einer essentiellen Beziehung zu einer offenen Pluralität
von anderen leiblichen und situierten Subjekten steht.99
All diese Feststellungen lassen sich nur schwer mit der Idee
vereinbaren, daß Husserl ein methodologischer Solipsist war, ein
prototypischer Internalist, der die Subjektivität als eine Art selbst-
genügendes, konstituierendes Prinzip sah. Tatsächlich ist es enttäu-
schend, daß es vielen genügt, Husserl als handlichen Prügelknaben
zu benutzen, dem sie die Brillanz nachfolgender Phänomenologen
wie Heid­eg­ger oder Merleau-Ponty gegenüberstellen können.
Aber lassen Sie mich zum phänomenologischen Verständnis des
Transzendentalen zurückkehren. In Les mots et les choses behaup-
tet Foucault, daß Phänomenologie eine Form modernen Diskurses
darstellt, die in ihrer Erforschung der Erfahrung versucht, das Empi-
rische und das Transzendentale sowohl auszusondern als auch zu
integrieren. Es ist eine Erforschung der Erfahrung, die die verlorene
Dimension des Transzendentalen zurückzubringen versucht hat,
aber gleichzeitig Erfahrung konkret genug gemacht hat, um sowohl
Leib als auch Kultur zu integrieren. Für Foucault ist es ziemlich
klar, daß diese moderne Form der transzendentalen Reflexion von
der kantianischen Form abweicht, da sie ihren Ausgangspunkt eher
im Paradoxon der menschlichen Existenz als in der Existenz der
Naturwissenschaft sieht. Obwohl es Husserl scheinbar gelang, das
cartesianische Thema des cogito mit dem transzendentalen Motiv
Kants zu vereinen, veränderte er in Wirklichkeit die wahre Natur
der transzendentalen Analyse. Wenn man die transzendentale Sub-
jektivität in der fundamentaleren Dimension der Zeit lokalisiert,
ist die strikte Trennung zwischen dem Transzendentalen und dem
Empirischen gefährdet. Fragen nach der Gültigkeit und der Genese
verstricken sich ineinander. Es ist diese Verwandlung, die nach Fou-

98
Vgl. Husserl, Transzendentaler Idealismus, Husserliana XXXVI, 133.
99
Vgl. Husserl, Transzendentaler Idealismus, Husserliana XXXVI, 135.
98 Dan Zahavi

caults Ansicht darin resultierte, daß die Phänomenologie in einer


Nähe zu empirischen Analysen des Menschen steht, die zugleich
vielversprechend und bedrohlich ist.100
Ich halte Foucaults Diagnose für korrekt, obwohl ich seine
nachfolgende Kritik an der Phänomenologie nicht teile. Anders
gesagt glaube ich, daß man den Unterschied zwischen der phäno-
menologischen Transzendentalphilosophie und der Transzenden-
talphilosophie Kants erkennen muß. Die Ansprüche von Husserls
Transzendentalphilosophie sind meines Erachtens bescheidenere.
Die Tatsache, daß die transzendentale Phänomenologie mit einer
erweiterten Auffassung des Transzendentalen arbeitet, sowie die
Tatsache, daß sie Themen wie Leiblichkeit und Intersubjektivität in
ihre transzendentale Analyse integriert, verschafft ihr einen Vorteil
gegenüber der traditionellen kantianischen Form der Transzenden-
talphilosophie. Dennoch muß man fairerweise sagen, daß diese Ver-
änderung auch neue Probleme hervorruft. Wenn die transzendentale
Untersuchung die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens nicht
ignorieren kann, wenn sich transzendentale Strukturen mit der Zeit
entwickeln und unter dem Einfluß von Erfahrung verändert werden
können, besteht die Gefahr des Relativismus.

Konklusion

Viel mehr könnte gesagt werden, aber ich denke, daß es schon klar sein
sollte, warum ich einen guten Teil der üblichen heid­eg­gerianischen
Kritik an Husserl für unbegründet halte. Oftmals wird angenom-
men, Heid­eg­gers Kritik an Husserl, wie er sie in persönlichen Brie-
fen, in der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs
und in Sein und Zeit ausdrückte, sei ein privilegiertes, maßgebendes
und endgültiges Urteil über Husserls Phänomenologie. Aber diese
Haltung ist offen gesagt grotesk. Die Interpretation Heid­eg­gers
basiert nicht nur auf einer sehr begrenzten textlichen Grundlage – sie
bezieht sich im großen und ganzen nur auf die Logischen Untersu-
chungen und die Ideen I –, es gibt außerdem andere Ursachen dafür,
die Verläßlichkeit dieser Interpretation in Frage zu stellen. Heid­eg­
ger hatte seine eigenen Absichten, und er hatte Gründe, seine eigene
Originalität gegenüber dem alten Lehrer hervorzuheben.101

100
Vgl. Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1966, 331–336.
101
Vgl. Dan Zahavi, How to Investigate Subjectivity. Heid­eg­ger and Natorp
on Reflection, in: Continental Philosophy Review 36/2 (2003), 155–176.
Phänomenologie und Transzendentalphilosophie 99

Wenn die Phänomenologie auch weiterhin im 21. Jahrhundert


eine wichtige Rolle im philosophischen Leben spielen soll, müssen
wir uns unbedingt auf das Gemeinsame der phänomenologischen
Unternehmung konzentrieren und es weiterentwickeln, anstatt uns
auf sektiererische Auseinandersetzungen, die die Geschichte der
Phänomenologie bedauerlicherweise belastet haben, einzulassen.
Selbstverständlich müssen wir Husserl kritisieren. Eine solche Kritik
gehört zu dem anhaltenden Versuch, über die Grundprinzipien der
Phänomenologie weiterzudenken. Doch wenn die Kritik intellektu-
ell ehrlich sein soll, erfordert sie es, sich nicht mit einer karikierten
Fassung von Husserls Phänomenologie zu begnügen. Sie setzt es
nicht nur voraus, mit dem Umfang von Husserls Schriften, also mit
den verschiedenen Bänden der Husserliana, vertraut zu sein, son-
dern auch mit den neuesten Forschungsergebnissen. Einfach Heid­
eg­gers Kritik aus den frühen 1920er Jahren zu übernehmen – und
dabei die Husserl-Forschung der vergangenen 80 Jahre zu ignorie-
ren – ist schlicht inakzeptabel. Es versteht sich von selbst, daß auch
Husserl dieser Pointe zustimmen würde. Wie er in einer Beilage zur
Krisis bemerkt: „Im voraus meint man schon zu wissen, um was es
sich handelt […]. Man hat günstigstenfalls meine Schriften gelesen
oder, was noch häufiger ist, sich bei meinen Schülern, die, als von
mir selbst belehrt, doch zuverlässige Auskunft geben können, Rat
geholt; so orientiert man sich nach Interpretationen und Kritiken
von Scheler, von Heid­eg­ger und anderen und erspart sich das aller-
dings sehr schwierige Studium meiner Schriften. Auf meine Proteste
dagegen hat man seine Antwort: das Alter versteift sich auf seine
eingefahrenen Gedankenbahnen und wird unempfänglich für jede
widerlegende Kritik […]. Ich fordere hier am Eingang nur dies eine,
daß man seine diesbezüglichen Vorurteile, sein vermeintliches Im-
voraus-Wissen, was die von mir mit völlig neuem Sinn ausgestatteten
Worte: Phänomenologie, transzendental, Idealismus […] meinen, in
seiner Brust fest verschlossen halte […]. Zunächst höre und sehe
man, was vorgelegt wird, man gehe mit und sehe zu, wohin das füh-
ren mag und was damit getan werde.“102

102
Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
439–440.
Michael Großheim
Phänomenologie des Bewußtseins oder
Phänomenologie des „Lebens“?
Husserl und Heid­eg­ger in Freiburg

1.1 Einleitung

Husserl und Heid­eg­ger in Freiburg – dieser Titel könnte das Miß-


verständnis hervorrufen, daß eine Untersuchung ihres persönlichen
Verhältnisses geplant sei, etwa unter dem Aspekt eines Lehrer-Schü-
ler-Verhältnisses. Nicht in Freiburg, aber aus der Marburger Distanz
gibt Heid­eg­ger 1924/25 in einer Interpretation von Platon, Sophistes
216a–219a über den Gast aus der Schule der Eleaten eine aufschluß-
reiche Erläuterung: „es muß sich jetzt herausstellen, ob er am Ende
ein solcher ist, der die Möglichkeit bei sich trägt, zum Vatermörder zu
werden, d. h. die Position seines Lehrers von Grund auf zu erschüt-
tern. Nur dann, wenn er diese in sich trägt, könnte er vielleicht ein
Mensch sein, der sachlich ernst zu nehmen ist“.1 Gegen eine mögli-
cherweise dadurch provozierte moralische Empörung muß festge-
halten werden: Es ist philosophisch völlig legitim, die Position seines
Lehrers von Grund auf zu erschüttern. Im Kultursystem der Wis-
senschaft ist persönliche Loyalität kein relevantes Kriterium. Unsere
Untersuchung ist daher ganz an sachlich-philosophischen, nicht an
persönlich-moralischen Gesichtspunkten ausgerichtet.2
Die allgemeinen Sach-Fragen, die sich in unserem Zusammen-
hang stellen, lauten:
– Was soll Phänomenologie sein? Was ist die „Möglichkeit“ der
Phänomenologie?3

1
Heid­eg­ger, Platon: Sophistes, GA 19, 241.
2
Letzteres ist aber der Fall in: Hugo Ott, Martin Heid­eg­ger. Unterwegs zu
seiner Biographie, Frankfurt/New York 1992, 167–179.
3
Vgl. Heid­eg­ger, Ontologie, GA 63, 74; Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 38.
102 Michael Großheim

Wenn in dieser Weise nach der „Möglichkeit“ der Phänomenologie


gefragt wird, geht es also ausdrücklich nicht um ihre Wirklichkeit,
das heißt die konkrete historische Fassung, die ihr Husserl gegeben
hat und die er nach der Enttäuschung durch Heid­eg­ger leidenschaft-
lich gegen Fehldeutungen und „Rückfälle“ verteidigt. Sein Freibur-
ger Nachfolger wiederum reagiert auf Husserls Bemühungen um
eine öffentliche Abgrenzung der phänomenologischen Orthodoxie
von ihren Abirrungen, indem er den eigenen Anspruch, als Phäno-
menologe zu gelten, aufgibt.

1.2 Heid­eg­ger als Kritiker

Die Differenz zwischen Heid­eg­ger und Husserl, das soll im fol-


genden dargestellt werden, ist eine fundamentale. Heid­eg­ger ist
im Rückblick nicht der wichtigste Schüler Husserls, sondern sein
wichtigster Kritiker. Allerdings muß man ebenso konstatieren, daß
seine Kritik nicht nur bei Husserl, sondern auch in der übrigen
Philosophie auf den meisten Feldern eigentümlich folgenlos geblie-
ben ist. Diese erklärungsbedürftige Situation fordert auf zu einer
intensiven Neu-Lektüre Heid­eg­gers, mit dem Ziel, die Grundzüge
der Kritik stärker zu profilieren. Der im folgenden unternommene
Versuch einer Vergewisserung folgt also dem Appell „Zu den Tex-
ten selbst!“, der durch die in der Heid­eg­ger-Gesamtausgabe ver-
öffentlichten Vorlesungen inzwischen sehr gute Voraussetzungen
vorfindet.
Heid­eg­gers Kritik an der Phänomenologie Husserls konzentriert
sich auf folgende Probleme:
– die Einschränkung des Gegenstandsbereichs (Bewußtsein statt
„Leben“)
– sachfremde Ansprüche an wissenschaftliche „Strenge“, Gewiß-
heit der Erkenntnis
– das Überspringen der Alltäglichkeit, des Nächsten, der Lebenswelt
– die Ignoranz gegenüber den Verstrickungen in die philosophische
Tradition
– die Unterschätzung der Aufgabe (mangelnde Geduld; Vorurteile;
Vertrauen auf Techniken)
– die Verfehltheit der „theoretischen“ Einstellung
– die unzureichende Fassung der Intentionalität (statt dessen:
„Lebensbezug“; „In-der-Welt-sein“)
– der Rückgriff auf Rekonstruktion anstelle von Hermeneutik
Husserl und Heidegger in Freiburg 103

Die genannten Bereiche können im folgenden nicht alle behan-


delt werden. Die Untersuchung orientiert sich an drei konkreten
Leitfragen:
– Wohin führen die gedanklichen Linien von Heid­eg­gers Kritik, die
er nicht erst ab 1927, sondern bereits in der gemeinsamen Freibur-
ger Zeit von 1919–1923 an Husserls Konzept der Phänomenolo-
gie geübt hat?
– Warum setzt Heid­eg­ger nicht bei der von Husserl etablierten
Domäne phänomenologischer Forschung, dem Bewußtsein, an?
– Was versteht Heid­eg­ger eigentlich unter seinem philosophischen
Leitbegriff „Leben“, den er etwa von 1919 bis 1923 als Alternative
zu Husserls Leitbegriff „Bewußtsein“ behauptet?4

1.3 Husserl und Heid­eg­ger: Formales und materiales Kriterium

Die erste grundlegende Differenz zeigt sich in der Auslegung der


phänomenologischen Parole „Zu den Sachen selbst!“. Husserl und
Heid­eg­ger sind sich uneinig vor allem in zwei Fragen:
– Wie soll der Zugang zu den Sachen aussehen?
– Was sind überhaupt die Sachen?
Gegen Husserls Vision von Philosophie als einer „strengen Wissen-
schaft“ hat Heid­eg­ger Einwände: „Das phänomenologische Prinzip
‚Zu den Sachen selbst‘ hat eine ganz bestimmte Auslegung erfahren.
‚Zu den Sachen selbst‘ heißt: zu ihnen, sofern sie als Thema einer
Wissenschaft in Frage kommen“.5 Das Interesse an Gewißheit der
Erkenntnis ist ein formales Kriterium, ähnlich wie das Kriterium
der Widerspruchsfreiheit; aber während die Widerspruchsfreiheit
ein primäres und unerläßliches formales Kriterium darstellt, ist die
absolute Gewißheit ein nachgeordnetes Kriterium dieser Art. Heid­
eg­gers Anliegen ist demgegenüber die Stärkung des materialen Kri-
teriums. Daher formuliert er als Ziel, die „Erfahrungswelt selbst“
zu befragen,6 „aus konkreten Erfahrungen heraus das Dasein als
solches zu sehen und kategorial zu bestimmen“.7 Die von Husserl
4
Vgl. zur lebensphilosophischen Phase Heid­eg­gers: Michael Großheim,
Von Georg Simmel zu Martin Heid­eg­ger. Philosophie zwischen Leben und
Existenz, Bonn 1991; Theodore Kisiel, The Genesis of Heid­eg­ger’s Being and
Time, Berkeley 1993.
5
Heid­eg­ger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 274.
6
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 92.
7
Heid­eg­ger, Einführung in die phänomenologisches Forschung, GA 17, 276.
104 Michael Großheim

für die Philosophie angemahnte „Strenge“ wird auch von Heid­eg­


ger akzeptiert, aber material interpretiert (als reine Hingabe an die
echten Lebenssituationen) und dadurch dem Vorbild der Mathe-
matik entzogen: „Die ‚Strenge‘ der Methode hat nichts zu tun mit
rationalistischer Exaktheit der Naturwissenschaft. ‚Strenge‘ betrifft
nicht logisches Beweisen und unwiderlegliches Argumentieren,
restloses Aufgehen der Rechnung oder gar mathematische Klarheit
der Begriffe; ‚streng‘: ‚angestrengt‘ – rein hingegeben den echten
Lebenssituationen; aber auch nach der anderen Seite gesehen: nicht
Mystik und Mystizismus, keine willkürlichen Verstiegenheiten und
schwächlichen Ahnungen!!“8
Die an Heid­eg­gers Kritik eingeführte Unterscheidung formaler
und materialer Normativität verdient noch eine kurze zusätzliche
Erläuterung. Häufig wird in der Philosophie bei der Beurteilung
von Theorien vor allem auf das formale Kriterium geachtet: Ist die
Theorie logisch einwandfrei, ist sie z. B. widerspruchsfrei? Dieser
Aspekt wird z. B. in Logik und moderner analytischer Philosophie
in vorbildlicher Weise berücksichtigt. Auch der Logiker muß sich
andererseits fragen: Wie komme ich zu dem Ausgangsmaterial, das in
das – formal korrekte – Verfahren eingegeben wird? Woher stammt
es? Das Material verdient also eigene Aufmerksamkeit.
Die Phänomenologie nimmt neben dem formalen auch das mate-
riale Kriterium ganz ernst. Eine Theorie muß nämlich weiterhin
geprüft werden mit Hilfe der Frage:
– Komme ich auch mit allen meinen Erfahrungen in dieser Theorie
unter?
– Anspruchsvoller formuliert: Beschreibt diese Theorie menschli-
che Lebenserfahrung, oder schiebt sie ihr ein Konstrukt unter?
Ein solches Konstrukt kann formal vollkommen korrekt sein; wenn
es material nicht durch menschliche Lebenserfahrung gedeckt ist,
wenn es keinen „Sitz im Leben“ hat, dann ist es philosophisch uner-
heblich. Durch ihre besondere Beachtung des materiellen Kriteriums
ist Phänomenologie wesentlich Reduktionismus-Kritik.9

8
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 137, vgl. 231.
An anderer Stelle sucht er den dritten Weg nicht zwischen Mathematik und
Mystik, sondern zwischen „Logistizismus“ und „Gefühlsphilosophie“
(Heid­eg­ger, Die Idee der Philosophie GA 56/57, 110; vgl. Heid­eg­ger, Herak-
lit, GA 55, 176; Heid­eg­ger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristo-
teles, GA 61, 38).
9
Vgl. ausführlich: Michael Großheim, Ludwig Klages und die Phänome-
nologie, Berlin 1994.
Husserl und Heidegger in Freiburg 105

Husserl ist nun vom Beginn seiner phänomenologischen Bemü-


hungen an auf Ergebnisse von „apodiktischer Gewißheit“10 aus. Ein
gewisses „Pathos der Phänomenologie“ (Eugen Fink) wird durch
regelmäßig wiederkehrende Schlüsselwörter beschworen: „abso-
lut“, „vollkommen“, „endgültig“, „radikal“. Hier setzt Heid­eg­gers
Kritik an: Er greift die Dominanz sachfremder, formaler Ansprü-
che an. Das, was in dieser Erkenntnis erkannt werden soll, ist
nämlich von vornherein sekundär: „Primär geht die Sorge darauf
aus, überhaupt irgendeine mögliche absolut-verbindliche Erkennt-
nisart zu schaffen“.11 Heid­eg­gers Vorwurf lautet: Diese Sorge ist
„sachunangemessen“.12 Sie wirkt sozusagen wie ein Filter, der nur
dasjenige Material passieren läßt, das den formalen Ansprüchen
genügt. Damit kann man aber nicht mehr den Anspruch erheben,
eine bestimmte Sache untersucht zu haben. Die spezifische Sorge der
Gewißheit „zeigt, daß die Sorge des Erkennens sich nicht aufhält bei
einem Seienden qua Seiendem und auf Gegenstände nicht hinsicht-
lich ihres Sachgehaltes, sondern auf diese im Wie ihrer Erfaßbarkeit
geht und diese Erfaßbarkeit gesehen auf Zustimmung“.13 Gerade in
Hinblick auf Heid­eg­gers Hauptthema zeigt sich hier ein erhebliches
Versäumnis: „In dieser Sorge um absolute Sicherheit der Norm und
zugleich um Ausbildung einer echten Gesetzlichkeit kommt es gar
nicht zur Aufgabe der Betrachtung menschlichen Daseins selbst“.14
Die Dominanz des formalen Kriteriums hat also eine ganz unphä-
nomenologische Reduktion des Materials zu Folge. Cum grano salis
entlarvt Heid­eg­ger hier den transzendentalphilosophisch gewen-
deten Husserl als einen Verräter am ursprünglichen Programm der
Phänomenologie.
Heid­eg­gers fundamentale Differenz zu Husserl an diesem Punkt
äußert sich in verschiedenen kritischen Stoßrichtungen:

10
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena
zur reinen Logik, Husserliana XVIII, hrsg. von Elmar Holenstein, Den Haag
1975, 85.
11
Heid­eg­ger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17,
101. Vgl. „Der Sorge der Gewißheit kommt es […] primär an auf Gültig-
keit und Verbindlichkeit, das, wovon etwas gültig ist, das Seiende selbst aber,
kommt nicht primär in den Blick, es kommt nicht zu seinem Recht“ (Heid­
eg­ger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 281).
12
Heid­eg­ger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 102.
13
Heid­eg­ger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 221.
14
Heid­eg­ger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 90,
vgl. 275.
106 Michael Großheim

– im Verdikt gegen eine „unangebrachte Gewißheits- und


Sicherheitstendenz“15
– im Plädoyer für die Ausschaltung von „Erkenntnisidealen und
Gegebenheitsoptima“16
– in der Weigerung, sich am Evidenzideal der Mathematik zu
orientieren17
– im Bemühen, dem bei seinen Vorgängern beherrschenden
Begriffsfeld von Skeptizismus/Relativismus - Absolutheit zu
ent­kommen18
– in der Sorge um die „freie und immer neue Zugangsmöglichkeit“19

1.4 Husserl und Heid­eg­ger: Wissenschaftstheoretische Differenzen

Dahinter stehen ebenso grundsätzliche wissenschaftstheoretische


Differenzen, die man auf die knappe Formel bringen kann: Der wis-
senschaftstheoretische Cartesianer Husserl steht dem wissenschafts-
theoretischen Aristoteliker Heid­eg­ger gegenüber.
Daß Husserl bei allen Differenzen in Detailfragen ein positives
Verhältnis zu Descartes hat, ist bekannt.20 Von außen betrachtet

15
Heid­eg­ger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 41.
16
Heid­eg­ger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 153.
17
Vgl. Heid­eg­ger, Platon: Sophistes, GA 19, 24; Heid­eg­ger, Die Idee der
Philosophie, GA 56/57, 110; Heid­eg­ger, Ontologie, GA 63, 71–72; Heid­
egger, Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, 186; Heid­eg­ger, Anmer-
kungen zu Karl Jaspers, GA 9, 3. Skepsis gegenüber der „Strenge“ der Ma-
thematik auch Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 9.
18
Vgl. Heid­eg­ger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 3; Heid­eg­ger, Phä-
nomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 162–167; Heid­eg­
ger, Der Begriff der Zeit, Vortrag vor der Marburger Theologenschaft Juli
1924, hrsg. von Hartmut Tietjen, Tübingen 1989, 25: „Aber die Angst vor
dem Relativismus ist die Angst vor dem Dasein.“
19
Heid­eg­ger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 175.
20
Die historische Bedeutung der cartesischen Zweifelsbetrachtung liegt für
Husserl in der Entdeckung der absolut schauenden, selbst erfassenden Evi-
denz. Descartes’ Irrtum habe darin gelegen, seine historische Entdeckung
nicht richtig gewürdigt und sogleich wieder verlassen zu haben: „Wir tun
nichts weiter als reinlich fassen und konsequent weiterführen, was in dieser
uralten Intention schon lag“ (Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenolo-
gie. Fünf Vorlesungen, Husserliana II, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag
1950, 10). Das vom Rätsel der Transzendenz freie Sein der Cogitationes stellt
die gesuchte Sphäre letzter und absoluter Evidenz dar. Zu Descartes’ Be-
deutung für das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz vgl. Husserl,
Husserl und Heidegger in Freiburg 107

bekommt diese Nähe einen problematischen Zug. Descartes ist für


Heid­eg­ger das Paradigma eines nicht an der Sache, sondern an vorge-
faßten formalen Ansprüchen orientierten Denkers.21 Häufig steht in
den frühen Texten der Name Descartes, wenn Husserl gemeint ist.22
Die Bezeichnung Heid­eg­gers als eines wissenschaftstheoretischen
Aristotelikers greift zurück auf das erste Buch der Nikomachischen
Ethik,23 in dem Aristoteles einen immer noch nicht ausreichend
bedachten und befolgten Grundsatz formuliert: Die Natur des
Gegenstands selbst (in diesem Fall also das, was Aristoteles den
„Stoff der menschlichen Handlungen“ nennt) gibt den Grad der zu
erwartenden Präzision in der wissenschaftlichen Erschließung vor,
nicht dagegen die davon ganz unabhängigen Präzisionswünsche eines
einzelnen Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlergemeinschaft.24

Die Idee der Phänomenologie, Husserliana II, 33. Daß Descartes in Husserls
Augen bald darauf wieder in alte Fehler zurückfällt, ändert nichts an dem
grundlegenden Wandel des Stils der Philosophie, der von ihm ausgehe in
Gestalt der „radikalen Wendung vom naiven Objektivismus zum transzen-
dentalen Subjektivismus“ (Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen,
in: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg.
von Stephan Strasser, Den Haag 1950, 46). Vgl. zu Descartes auch Husserl,
Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 47; Husserl, Die Idee der Phäno-
menologie, Husserliana II, 148; Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phä-
nomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phäno-
menologische Untersuchungen zur Konstitution, Husserliana IV, hrsg. von
Marly Biemel, Den Haag 1952, 103; Edmund Husserl, Die Krisis der europäi-
schen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana
VI, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1954, 455; Edmund Husserl, Aufsätze
und Vorträge (1911–1921) Husserliana XXV, hrsg. von Thomas Nenon und
Hans-Rainer Sepp, Dordrecht/Boston/London 1989, 76.
21
Vgl. Heid­eg­ger, Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis
Kant, GA 23, 138–140.
22
Vgl. z. B. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 442.
23
Vgl. Otfried Höffe, Ethik als praktische Philosophie, in: Otfried Höf-
fe (Hrsg.), Die Nikomachische Ethik (Klassiker Auslegen 2), Berlin 1995,
13–38, hier 19–30.
24
Aristoteles, Ethica Nicomachea 1094b: (der griechische Text der Niko-
machischen Ethik wird zitiert nach: Aristotelis Ethica Nicomachea, hrsg. von
Ingram Bywater, Oxford 1894. Die deutsche Übersetzung folgt meist der von
Olof Gigon in: Die Nikomachische Ethik, eingeleitet und übertragen von
Olof Gigon, Zürich 1951) „Wir werden uns aber mit demjenigen Grade von
Bestimmtheit begnügen müssen, der dem gegebenen Stoffe entspricht. Denn
man darf nicht bei allen Fragen die gleiche Präzision verlangen, wie man es ja
auch nicht im Handwerklichen tut. […] Es kennzeichnet den Gebildeten, in
jedem einzelnen Gebiet nur so viel Präzision zu verlangen, als es die Natur des
108 Michael Großheim

Aristoteles distanziert sich hier bereits von einer offenbar in dieser


Hinsicht an Ansehen weit herausragenden Mathematik, die nicht ein
beliebig übertragbares Modell der Wissenschaftlichkeit darstelle.
Heid­eg­ger folgt nun ganz offensichtlich den Spuren des Ari­
stoteles in der beschriebenen wissenschaftstheoretischen Hinsicht,
wenn er in den frühen Vorlesungen sagt (in der Regel mit kriti-
schem Unterton gegen Husserl): Wichtig sei, „daß zuerst das, was
erkannt wird, als das Bestimmende anerkannt wird“.25 „Die Wahr-
heit, Unverborgenheit, das Aufgedecktsein, richtet sich vielmehr
nach dem Seienden selbst und nicht nach einem bestimmten Begriff
von Wissenschaftlichkeit“.26 Wesentlich für die Wissenschaft ist das
„aus der Sache selbst geschöpfte und in Anmessung an sie ausgebil-
dete Fragenkönnen“.27 „Man darf nicht a priori ein Erkenntnis­
ideal aufstellen. Mit jeder Erkenntnisart muß zugleich das Seiende
umgrenzt werden, das durch sie zugänglich wird“.28 „Diese Ein-
setzung eines Vorbildes ist unphänomenologisch, vielmehr ist aus
der Gegenstandsart und der ihr angemessenen Zugangsart der Sinn
für die Strenge der Wissenschaft zu erheben“.29 „Alles Überstülpen
der Sachsphäre durch unbewährte und frei gewählte Theoreme und
Vormeinungen ist zu vermeiden“.30 „Methode ist nicht etwas, was
willkürlich einem Gegenstandsgebiet aufgepreßt wird, sondern was
seinem Strukturgehalt nach dem Erkenntnisziel sowohl wie der
regionalen Grundartung des Erkenntnisfeldes in seiner Bestimmt-
heit entwächst“.31 Als Konsequenz ergibt sich eine Skepsis gegen-
über jedem Verständnis von „Rationalität“, das die Unterschiede
der Sachgebiete zu ignorieren und zu nivellieren sucht. Rationalität
steht dann für eine spezifische Auslegungsart, die sich hier und da als
passend erweist; Rationalität und Irrationalität sind aber unabhängig
vom Spezifischen eines Sachzusammenhanges nicht brauchbar.32

Gegenstandes zuläßt. Andernfalls wäre es, wie wenn man von einem Mathe-
matiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen und vom Redner zwingende
Beweise fordern würde.“ Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea 1098a.
25
Heid­eg­ger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17,
103.
26
Heid­eg­ger, Platon: Sophistes, GA 19, 24.
27
Heid­eg­ger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, 29.
28
Heid­eg­ger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, 242.
29
Heid­eg­ger, Ontologie, GA 63, 72, vgl. 47.
30
Heid­eg­ger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 61.
31
Heid­eg­ger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 181.
32
Vgl. Heid­eg­ger, Ontologie, GA 63, 45.
Husserl und Heidegger in Freiburg 109

1.5 Phänomenologie des Bewußtseins: Edmund Husserl im Bann


des Innenweltdenkens

Der wichtigste Gegenstand in Husserls Phänomenologie ist zwei-


fellos das „Bewußtsein“. Aber was versteht er eigentlich genau
unter „Bewußtsein“? Dazu muß man den Versuch machen, auf brei-
ter Textgrundlage so etwas wie ein Konzept des Bewußtseins bei
Husserl herauszuarbeiten. Der wichtigste Hinweis scheint in der
berühmten „Intentionalität des Bewußtseins“ zu liegen. Gewöhn-
lich wird folgende Formulierung Husserls herangezogen „Jedes
Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas“33 und interpretiert nach dem
Muster: Im Sehen wird etwas gesehen, im Hören etwas gehört, im
Denken etwas gedacht, im Wollen etwas gewollt.34
Traditionelle Innenwelttheoretiker wie Nicolai Hartmann beste-
hen demgegenüber auf eine stärkere Abgetrenntheit des Bewußt-
seins: „Es gibt das Bewußtsein als geschlossene Welt in sich. Dagegen
darf einen weder die Intentionalität noch die Transzendenz des
Erfassens blind machen.“35 Zum Wesen des Bewußtseins gehört
Hartmann zufolge, daß es nie etwas anderes als seine eigenen Inhalte
zu fassen bekommt: „Es bleibt ewig in sich gefangen, auf die Welt
seiner Setzungen und Vorstellungen angewiesen.“36
Husserl weist solche Vorstellungen als „theoretische Interpre-
tationen“ zurück, „die uns glauben machen wollen, daß die Welt
selbst niemals in unsere Erfahrung falle, sondern statt dessen immer
nur in unserer eigenen Seele eingekapselte Bilder oder Zeichen“.37

33
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine
Phänomenologie, Husserliana III, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1950,
239–240.
34
Vgl. z. B. Ulrich Melle, Die Phänomenologie Edmund Husserls als Phi-
losophie der Letztbegründung und radikalen Selbstverantwortung, in: Hans
Rainer Sepp (Hrsg.), Edmund Husserl und die Phänomenologische Bewe-
gung. Zeugnisse in Text und Bild, Freiburg im Breisgau/München 1988,
45–59, hier 48–49. – Husserls eigene Beispiele für Intentionalität: „Ich sehe
einen Baum, der grün ist; ich höre das Rauschen seiner Blätter, ich rieche seine
Blüten.“ „Ich erinnere mich an meine Schulzeit.“ „Ich bin betrübt über die
Erkrankung des Freundes“ (Husserl, Die Krisis der europäischen Wissen-
schaften, Husserliana VI, 236).
35
Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921),
vierte Auflage, Berlin 1949, 108.
36
Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 62.
37
Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Som-
110 Michael Großheim

Er vertritt also nicht die radikale Position, die mit unheimlicher


Konsequenz im zweiten Buch von Fichtes „Bestimmung des Men-
schen“ entwickelt wird; das muß ausdrücklich festgehalten werden.
Allerdings ist er auch kein Anhänger jener anderen, ebenfalls radikal
anmutenden Position, die davon ausgeht, daß die Rede von „Imma-
nenz“ und „Transzendenz“ überhaupt ein unausgewiesenes Erbe der
philosophischen Tradition darstellt und auf den Schutthaufen der
Geistesgeschichte gehört. So weit – wie es sich etwa Sartre (siehe
unten I.6) wünscht – geht Husserl gerade nicht. Für ihn steht immer
noch fest: „Transzendente Dinge sind nur originär gegeben durch
das Medium immanenter Dinge, nur durch empirische Dingapper-
zeptionen, wobei alle transzendenten Beschaffenheiten sich durch
immanente Daten darstellen.“38
Husserls eigene Position in dieser Frage läßt sich besser markie-
ren, wenn man eine feine Unterscheidung von Hermann Schmitz auf-
greift: Innenweltdogma und Immanenzdogma. Schmitz definiert das
Innenweltdogma folgendermaßen: „Für jeden Bewußthaber zerfällt
die Welt in seine Innenwelt und seine Außenwelt mit der Maßgabe,
daß ihm ein Gegenstand in seiner Außenwelt höchstens dann zu
Bewußtsein kommt, wenn dieser Gegenstand in der Innenwelt des
Betreffenden mindestens einen Vertreter hat.“39 Es spielt dabei keine
Rolle, unter welchem Titel die Innenwelt konkret-­historisch auf-
taucht (Seele, Bewußtsein, Gemüt). Das schärfere Immanenzdogma

mersemester 1925, Husserliana IX, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1962,
388; vgl. auch Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil. Kri-
tische Ideengeschichte, Husserliana VII, hrsg. von Rudolf Boehm, Den Haag
1956, 342; Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 20–21.
38
Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kri-
tik der logischen Vernunft, Husserliana XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den
Haag 1974, 392; Husserl, Erste Philosophie, Husserliana VII, 277; Edmund
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß.
Zweiter Teil. 1921–28, Husserliana XIV, hrsg. von Iso Kern, Den Haag 1973,
526.
39
Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, 90. Vgl. Hermann
Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, 218: „Das schwächere
Innenweltdogma beschränkt sich darauf, jedem Bewußthaber eine priva-
te Innenwelt mit obligatorischem Vertreter für jeden ihm zu Bewußtsein
kommenden Gegenstand seiner Außenwelt zu vindizieren; daraus wird das
Immanenzdogma, wenn man – letztlich im Interesse personaler Emanzipa-
tion von den unwillkürlichen Regungen – diese Innenwelt als abgeschlossen
vorstellt und damit das Erleben des Bewußthabers von seiner Außenwelt
absperrt.“
Husserl und Heidegger in Freiburg 111

besagt: Der Bewußthaber ist in einer abgeschlossenen Innenwelt


mit den Vertretern von Gegenständen allein gelassen und der Ver-
legenheit ausgesetzt, wie er von den Vertretern zu den vertretenen
Gegenständen, die er als Bewußthaber dann nicht besuchen kann,
eine Brücke schlagen soll.
Die übliche Verteidigung Husserls gegen den aus der Heid­eg­ger-
Kritik stammenden Vorwurf, er sei ein Innenweltdenker, führt nun
ins Feld, daß er kein Vertreter des Immanenzdogmas im eben ange-
gebenen Sinne ist. Das ist richtig. Dabei wird aber übersehen, daß er
ein Vertreter des Innenweltdogmas bleibt. Beide Thesen sollen nun
durch entsprechende Textpassagen belegt werden.
Husserl interessiert sich überhaupt nicht für die überlieferte, etwa
von Kant und auch noch von Hartmann verfolgte Fragestellung nach
dem Verhältnis innerer Vorstellungen zu äußeren Dingen an sich.40
Das sei eine „metaphysische Frage“, mit der er sich nicht beschäf-
tigen wolle.41 Er vermeidet aus diesem Grund auch weitgehend die
traditionelle Rede von „Innenwelt“ und „Außenwelt“ bzw. setzt
diese und verwandte Ausdrücke in distanzierende (aber damit auch
für Uneindeutigkeit sorgende) Anführungszeichen.
Ganz selbstverständlich spricht er jedoch immer wieder davon,
daß etwas im Bewußtsein sei. Am gebräuchlichsten ist in seinen Tex-
ten die Terminologie von „Immanenz“ und „Transzendenz“, die ent-
hüllt, daß er das Bewußtsein als Sphäre der Immanenz betrachtet.42
Der Titel „Bewußtsein“ soll nach Husserls Wunsch – das ist ent-
scheidend – so weit gespannt werden, daß er „alles Immanente“ zu
bezeichnen hätte.43 Die Transzendenz gilt ihm dagegen als „Sphäre
der Fraglichkeit“,44 während die Immanenz frei von dieser Rätsel-

40
Vgl. Edmund Husserl, Ding und Raum, Husserliana XVI, hrsg. von Ul-
rich Claesges, Den Haag 1973, 139–140.
41
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster
Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis,
Husserliana XIX.1, hrsg. von Ursula Panzer, Den Haag/Boston/Lancaster
1984, 26.
42
Husserl grenzt eine eigene Sphäre der Immanenz unter verschiedenen
Titeln ab, z. B. als „Sphäre absoluter immanenter Gegebenheiten“, „Sphäre
der reinen Selbstgegebenheiten“, „Sphäre reiner Evidenz“ (Husserl, Die Idee
der Phänomenologie, Husserliana II, 43, 60 und 76), „Bewußtseinssphäre“
(Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 68; Husserl, Erste Philosophie, Husser-
liana VII, 144), „immanente Sphäre“ (Husserl, Formale und transzendentale
Logik, Husserliana XVII, 174).
43
Vgl. Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), Husserliana XXV, 35.
44
Edmund Husserl, Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vor-
112 Michael Großheim

haftigkeit ist.45 Das hat Folgen für das Arbeitsfeld des Phänomenolo-
gen: „Wie weit reicht nun der Titel Phänomenologie? Nun offenbar
so weit als die Möglichkeit einer rein immanenten, alle Transzendenz
ausschaltenden Untersuchung reicht“.46 Phänomenologie wird zur
„Wissenschaft vom Bewußtsein in sich selbst“.47 Auch die nachträg-
lichen Kommentare zu seiner Intention in den „Logischen Unter-
suchungen“ stellen das Projekt der Phänomenologie dar, als ob in
seinem Mittelpunkt nur eine Innenweltanalyse in transzendentaler
Einstellung gestanden habe.48 Und um dem Zauberwort „transzen-
dental“ einmal etwas von seinen Nimbus zu nehmen, muß man an
dieser Stelle bemerken: Nicht jede Innenweltpsychologie verfährt
transzendental, aber jede transzendentale Untersuchung setzt eine
Innenwelt voraus.
Als Fazit läßt sich festhalten: Auch wenn Husserl das von ihm
zum wichtigsten Bestandteil des Menschen stilisierte „Bewußtsein“
nicht ausdrücklich als „Innenwelt“ bezeichnet, auch wenn er eine

lesungen 1906/07, Husserliana XXIV, hrsg. von Ulrich Melle, Dordrecht/


Boston/Lancaster 1984, 212; vgl. zur Transzendenz auch: Husserl, Die Idee
der Phänomenologie, Husserliana II, 36, 39, 43–45 und 81–83; Husserl, Ide-
en I, Husserliana III.1, 91–94 und 116–117; Edmund Husserl, Zur Phäno-
menologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917), Husserliana X, hrsg.
von Rudolf Boehm, Den Haag 1966, 345 und 349. Vgl. ausführlicher zu den
Mängeln der transzendenten Wahrnehmung: Großheim, Ludwig Klages und
die Phänomenologie, 34–36.
45
Vgl. Husserl, Die Idee der Phänomenologie, Husserliana II, 33.
46
Husserl, Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie, Husserliana
XXIV, 219, vgl. 326.
47
Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), Husserliana XXV, 73, vgl.
72; Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Husserliana X,
337; Edmund Husserl, Vorlesungen über Ethik und Wertlehre 1908–1914,
Husserliana XXVIII, hrsg. von Ulrich Melle, Dordrecht/Boston/London
1988, 330.
48
In den Logischen Untersuchungen gehe es „um eine Rückwendung der
Intuition auf die logischen Erlebnisse, die sich in uns, wenn wir denken,
abspielen“ (Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 21).
Phänomenologie sei dort immer zu verstehen als „Wissenschaft von den Ak-
ten in rein immanenter Betrachtung“ (Husserl, Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins, Husserliana X, 337). Es handele sich um „subjektiv gerich-
tete Untersuchungen“, „in denen zum ersten Male die cogitata qua cogitata
als Wesensmomente jedes Bewußtseinserlebnisses, so wie es in echter innerer
Erfahrung gegeben ist, zu ihrem Rechte kommen“ (Husserl, Die Krisis der
europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 237).
Husserl und Heidegger in Freiburg 113

„Abkapselungstheorie“49 nach der Art Hartmanns zurückweist, und


auch wenn er großen Wert darauf legt, keine einfache „Innenpsycho-
logie“ nach bekanntem Schema zu treiben,50 wird das anthropologi-
sche Innenwelt-Paradigma nicht verlassen. Das Lernziel ist nämlich,
zu erkennen, „daß ich in meiner letzten und wahren Wirklichkeit ein
absolut geschlossenes Eigenleben lebe“.51 Husserl entwickelt also im
20. Jahrhundert die modernste und raffinierteste Version des „homo
clausus“ (Norbert Elias).52
Wenn man Husserl an seinen eigenen Ansprüchen mißt,
dann muß man konstatieren, daß er das propagierte „Prinzip der
Voraussetzungslosigkeit“53 gerade an den zentralen Gegenständen
seines Philosophierens nicht befolgt. Als Phänomen gegeben sind
nämlich streng genommen nur Vorgänge des Bewußthabens: Ich
habe jetzt z. B. diesen Schreibtisch bewußt (ein Lieblingsbeispiel
Husserls) – genauer habe ich eine chaotisch-mannigfaltige Situation
bewußt, aus der sich der Schreibtisch als ein einzelner Gegenstand
abhebt. Von solchen Vorgängen des Bewußthabens zur Hypostasie-
rung einer irgendwie abgetrennten Sphäre namens „Bewußtsein“ ist
es ein weiter Schritt. Husserl liefert keinerlei Rechtfertigung dafür,
er reflektiert nicht einmal die Problematik.
Das ist nicht der einzige Mangel in seinem Konzept von „Bewußt-
sein“. Seine Redewendungen „Immanenz“ und „Transzendenz“ sind

49
Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 388.
50
Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phä-
nomenologischen Philosophie. Drittes Buch. Die Phänomenologie und die
Fundamente der Wissenschaften, Husserliana V, hrsg. von Marly Biemel, Den
Haag 1952, 148; Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Hus-
serliana VI, 83; Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil.
Theorie der phänomenologischen Reduktion, Husserliana VIII, hrsg. von
Rudolf Boehm, Den Haag, 1959, 79; Husserl, Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins, Husserliana X, 346; Husserl, Formale und transzendentale
Logik, Husserliana XVII, 260. Die Abgrenzung von der bloßen Reflexion auf
„reines seelisches Innensein“ ist für Husserl wichtig, weil die Verwechslung
mit dieser (aus seiner Sicht) falschen Form der Innenbetrachtung so nahe
liegt. Es gibt hier eine scharfe Konkurrenz zweier verschiedener Ansätze der
Innenweltanalyse.
51
Husserl, Erste Philosophie, Husserliana VIII, 78.
52
Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische
und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Ver-
haltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, achte Auflage,
Frankfurt am Main 1981, Einleitung (1968), IL-LXIV.
53
Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.1, 24.
114 Michael Großheim

– wenn auch weniger offensichtlich als das entsprechende Wortpaar


im Deutschen – zunächst einmal nichts als räumliche Metaphern, die
nicht ohne ausführliche Erläuterungen eingeführt werden dürfen,
etwa zur Art der trennenden Grenze. Wenn man so grundsätzlich
philosophieren will, wie es gerade Husserl immer wieder verlangt,
dann muß man sich zuallererst die Frage stellen: Wie komme ich
eigentlich dazu, den Menschen als ein Wesen auszugeben, das in zwei
räumlich beschriebene Sphären aufgeteilt werden muß? Welche kon-
kreten Phänomene geben mir das Recht dazu?
Husserl aber geht wie selbstverständlich von einem als Behäl-
ter konzipierten „Bewußtsein“ aus, ohne dies eigens auszuweisen.
In diesem Bewußtsein gibt es dann einzelne „Akte“ – auch dieser
Grundbegriff bleibt ohne ausreichende Rechtfertigung. Man kann
sowohl daran zweifeln, ob die von Husserl einfach vorausgesetzte
Einzelheit der Bewußtseins-Phänomene tatsächlich von vornherein
vorliegt, als auch (für die Gesamtheit der zu bezeichnenden Phäno-
mene) die Ausdrücke „Akt“ und „Intentionalität“ für unglücklich
halten.54

1.6 Der Traum der Phänomenologie: Der Mensch in der Welt

Husserl selbst hat erklärt: „Der Problemtitel, der die ganze Phä-
nomenologie umspannt, heißt Intentionalität“.55 Diese Bemerkung
greift Heid­eg­ger in seiner Einleitung zu Husserls „Vorlesungen zur
Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“ auf, um sie – ver-
mutlich gegen den Willen des Autors – zuzuspitzen: „Auch heute
noch ist dieser Ausdruck kein Losungswort, sondern der Titel eines
zentralen Problems“.56 Was Heid­eg­ger konkret im Auge hat, ist die
in der Philosophie seit langem unauffällig mitschwimmende Innen-
welttheorie. Im Rahmen einer Kritik der Erkenntnistheorie seines
Marburger Kollegen Nicolai Hartmann bezieht er auch das Kon-
zept der Intentionalität mit ein: „Im Sichrichten auf … und Erfassen

54
Vgl. dazu z. B. Hermann Schmitz, „Bewußtsein von etwas“ als leibliches
Geschehen, in: Subjektivität. Beiträge zur Phänomenologie und Logik, Bonn
1968, 1–31, hier besonders 3. Zu Heid­eg­gers Auseinandersetzung mit dem
Terminus vgl. Heid­eg­ger, Einführung in die phänomenologische Forschung,
GA 17, 318; Heid­eg­ger, Platon: Sophistes, GA 19, 424.
55
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 337.
56
Husserl, Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Husserliana X;
Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), Husserliana XXV.
Husserl und Heidegger in Freiburg 115

geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die
es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart
nach immer schon ‚draußen‘ bei einem begegnenden Seienden der
je schon entdeckten Welt“.57 Eigentlich kennt Heid­eg­gers Ansatz
sogar kein „draußen“ mehr, der Ausdruck ist hier vermutlich aus
didaktischen Gründen dem traditionellen Sprachgebrauch entlehnt
und durch Anführungszeichen verfremdet.
Die von Heid­eg­ger bekämpfte Innenwelttheorie wird zwar in der
Gegenwartsphilosophie kaum noch offensiv vertreten; das bedeutet
jedoch nicht, daß sie aus dem Repertoire der unthematisiert aner-
kannten Arbeitsvoraussetzungen, geschweige denn aus dem allge-
meinen menschlichen Selbstverständnis verschwunden wäre. Gerade
in der Popular-Philosophie ist sie verbreitet und verwurzelt wie eh
und je. Daher ist die phänomenologische Kritik des Innenweltdog-
mas einer der wichtigsten Beiträge zur aktuellen Anthropologie.
Heid­eg­ger ist der erste konsequente Kritiker dieses Motivs. Seine
philosophiegeschichtliche Bildung ermöglicht ihm eine nüchterne
Einordnung von Husserls traditionell angelegtem Bewußtseinsbe-
griff.58 Sein Ziel ist gerade „nicht eine immanente Wahrnehmung in
theoretischer Abzweckung, ausgehend auf Feststellung vorhandener
‚psychischer‘ Vorgangs- und Aktbeschaffenheiten“.59
Weitere Anhaltspunkte bekommt man im Rahmen von Heid­eg­
gers Auseinandersetzung mit Franz Brentanos Intentionalitätsbe-
griff, dem Husserl wichtige Anregungen verdankt. Heid­eg­ger rügt
hier vor allem zwei Punkte:
1. die Identifizierung von Intentionalität mit dem Psychischen
2. die an Descartes erinnernde Auffassung des Psychischen im tra-
ditionellen Sinne des immanent Wahrnehmbaren, des immanent
Bewußten.

57
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 62. Zu Heid­eg­gers Kritik an Nicolai
Hartmann im besonderen und Innenwelttheorien allgemein vgl. Heid­eg­ger,
Sein und Zeit, GA 2, 60 und 62 und die entsprechenden Vorformen Heid­eg­
ger, Einführung in die phänomenologische Forschung GA 17, 318 und Heid­
eg­ger, Prolegomena, GA 20, 216 und 221, ferner Heid­eg­ger, Sein und Zeit,
GA 2, 33, 202–204 und 366 sowie Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe
der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 204–205.
58
Vgl. Heid­eg­ger, Einführung in die phänomenologische Forschung,
GA 17, 271.
59
Heid­eg­ger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 31. Überhaupt ist, wenn
Heid­eg­ger „Immanenz“ und „Transzendenz“ sagt, von Husserl die Rede
(z. B. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 60–61).
116 Michael Großheim

Dieses Moment ist Heid­eg­ger zufolge auch in der Phänomeno­


logie seiner Zeit (und d. h. vor allem bei Husserl) noch nicht über-
wunden. Dagegen fordert er eine „radikalere Ausbildung“ der
Intentionalität,60 die konsequent das Innenweltdogma bekämpft.
Der Begriff des „In-der-Welt-seins“ ist das konstruktive Ergebnis
seiner Fundamentalkritik am Innenweltdogma. Weder die Kritik
noch der Alternativvorschlag sind allerdings in ihrer Bedeutung bis-
her ausreichend anerkannt worden.
Dieser Befund wird noch rätselhafter, wenn man hinzunimmt,
daß die Phänomenologie nach Heid­eg­ger das Motiv fortgesetzt und
seine große Bedeutung ganz unmißverständlich herausgestellt hat.
Eigenartigerweise bauen aber Jean-Paul Sartres wichtigste Beiträge
zur Überwindung des Innenwelt-Paradigmas auf produktiven Miß-
verständnissen der Phänomenologie Husserls auf. Diese ranken sich
um den Zentralbegriff der „Intentionalität“ des Bewußtseins. Sartres
Beispiel für Intentionalität lautet: „mein Haß auf Pierre“. Der Haß
ist hier aber, wie hervorgehoben wird, „kein Bewußtsein“, er über-
steigt nach Sartre vielmehr die Grenzen des Bewußtseins und ist ein
„transzendentes Objekt“.61
Dieses offensichtliche Mißverständnis ist aufschlußreich für die
Hoffnungen, Sehnsüchte und Erwartungen, die die jüngere Gene-
ration angesichts der phänomenologischen Bewegung hat. Es gibt
in der Philosophie des 20. Jahrhunderts einen starken Impuls, die
Vorstellung eines in seiner Innenwelt gefangenen Bewußthabers zu
überwinden,62 und diese Tendenz wird vor allem von Phänomeno-
logen getragen. Es geht um eine Befreiung aus dem Gefängnis der
Immanenzphilosophie: „Zu den Sachen selbst!“ wird verstanden als
ein „Heraus aus der Innenwelt!“63

60
Vgl. Heid­eg­ger, Heid­eg­ger, Prolegomena, GA 20, 62.
61
Jean-Paul Sartre, Die Transzendenz des Ego, in: Die Transzendenz des
Ego. Philosophische Essays 1931–1939. Deutsch von Uli Aumüller, Traugott
König und Bernd Schuppener. Mit einem Nachwort von Bernd Schuppener,
Reinbek bei Hamburg 1982, 39–96, hier 61.
62
Vgl. z. B. Jean-François Lyotard, Die Phänomenologie (1954), übersetzt
von Karin Schulze, Hamburg 1993, 44: „Diese Pfeife auf dem Tisch wahr-
nehmen, heißt nicht, eine Miniatur-Reproduktion dieser Pfeife im Kopf zu
haben, wie die Assoziations-Psychologie meint, sondern auf den Gegenstand
Pfeife selbst gerichtet zu sein.“
63
Daher auch die Enttäuschung mancher frühen Phänomenologen, wenn
sie im Rückblick über Husserls Wendung nach innen urteilen. Vgl. z. B.
Hedwig Conrad-Martius, Die transzendentale und die ontologische Phäno-
Husserl und Heidegger in Freiburg 117

Sartres Mißverständnis wird noch deutlicher, wenn man nach dem


eben behandelten Text von 1936/37 einen etwas später entstandenen
Aufsatz heranzieht: „Eine grundlegende Idee der Phänomenologie
Husserls: Die Intentionalität“ (1939). Hier kommt seine Erleichte-
rung über Husserls Begriff der Intentionalität zum Ausdruck, den er
als eine Befreiung aus der Isolation der Innenwelt und der Selbstbe-
spiegelung feiert. Für die „Immanenzphilosophie“ seien alle Gegen-
stände der Welt nur Bewußtseinsinhalte,64 Husserl dagegen habe
nach Sartre gelehrt, daß die Dinge sich nicht im Bewußtsein auflösen
könnten: „Husserl dagegen setzt zuerst den Baum außerhalb von
uns“.65 An einem anschaulichen Beispiel: „Sie sehen diesen Baum
hier, gut. Aber sie sehen ihn an eben diesem Platz, wo er steht: am
Straßenrand, mitten im Staub, allein und unter der Hitze gekrümmt,
zwanzig Meilen von der Mittelmeerküste entfernt“.66 Der Mensch
wird jetzt in der Welt ausgesetzt: „Die Transzendenzphilosophie
wirft uns auf die Landstraße, mitten in Gefahren, unter ein grel-
les Licht“.67 Sartre beschreibt die philosophische Sprengung der
Innenwelt mit beeindruckenden Worten, doch Husserl wird seine
Intentionalität nicht wiedererkennen, wenn er sie als ein „Bersten“
beschrieben findet.
Der von Sartre so begeistert rezipierte Husserl hat, wie oben aus-
führlich dargestellt, ganz anderes im Sinn. Er entwirft Menschen,
die als dauerhafte, uninteressierte Zuschauer ihrer selbst dem, was
sie erleben, mehr beiwohnen als sich von ihm angehen zu lassen.68

menologie, in: Edmund Husserl 1859–1959. Recueil commémoratif publié à


l’occasion du centenaire de la naissance du philosophe, La Haye 1959, 175–
184, hier 177; vgl. auch Edith Stein, Aus dem Leben einer jüdischen Familie.
Das Leben Edith Steins: Kindheit und Jugend, Edith Steins Werke, hrsg. von
L. Gelber und P. Fr. Romaeus, Band VII, Leuven/Freiburg 1965, 174.
64
Vgl. Jean-Paul Sartre, Die Imagination, in: Die Transzendenz des Ego,
97–254, hier 127–128.
65
Sartre, Die Imagination, 228; vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das
Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943), hrsg. von
Traugott König, übersetzt von Hans Schöneberg und Traugott König, Rein-
bek bei Hamburg 1982, 35.
66
Sartre, Die Transzendenz des Ego, 34.
67
Sartre, Die Transzendenz des Ego, 35.
68
Zum Menschen als „uninteressierter Zuschauer“ seiner selbst vgl. Hus-
serl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 73 und 75; Husserl, Die
Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 242; Husserl, Erste
Philosophie, Husserliana VIII, 92, 107 und 162. Zwischen „dem Menschen“
und „dem Phänomenologen“ etabliert Husserl eine fundamentale Habitus-
118 Michael Großheim

Ein solches Menschenbild hat Konsequenzen. Michael Landmann


spricht in seinem Standardwerk über „Philosophische Anthropolo-
gie“ vom „Einfluß der menschlichen Selbstdeutung auf die mensch-
liche Selbstgestaltung“: Die Selbstdeutungen, die der Mensch auf
sich anwendet, werden zu Zielbildern und Direktiven, denen gemäß
die Selbstgestaltung sich vollzieht.69
Sartre will die Selbstdeutung korrigieren, um die Selbstgestaltung
aus ihrer Erstarrung und Einseitigkeit zu befreien. Wenn Husserls
Mensch die Zuschauerperspektive auf das eigene Leben einnimmt, um
den Preis einer Entfremdung von der Möglichkeit intensiver affekti-
ver Erfahrung, gewinnt Sartres Mensch die Akteurperspektive zurück
und damit das ganze Spektrum engagierter Existenz: „Die Phäno-
menologen haben den Menschen wieder in die Welt eingetaucht, sie
haben seinen Ängsten und Leiden, auch seinen Revolten ihr ganzes
Gewicht wiedergegeben“.70
Ähnlich wie Sartre bemüht sich auch Merleau-Ponty, das Fe-
stungs-Modell des Menschen, der sich in seiner Innenwelt verschanzt,
zu überwinden und noch stärker als Heid­eg­ger für eine Haltung der
Offenheit zu werben. Mit unverkennbarer Anspielung auf Husserl
erklärt er: „Die Welt ist kein Gegenstand, dessen Konstitutionsge-
setz sich zum voraus in meinem Besitz befände, jedoch das natür-
liche Feld und Milieu all meines Denkens und aller ausdrücklichen
Wahrnehmung. Die Wahrheit ‚bewohnt‘ nicht bloß den ‚inneren
Menschen‘, vielmehr es gibt keinen inneren Menschen: der Mensch
ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt.“71 Der Traum der Phä-
nomenologen ist bisher ein Traum geblieben; die theoretische und

Differenz. Besonders bezeichnend: Husserl, Aufsätze und Vorträge, Husser-


liana XXV, 109, vgl. aber auch Husserl, Erste Philosophie, Husserliana VIII,
425, 421 und 428; Husserl, Phänomenologische Psychologie, Husserliana
IX, 442. Gelegentlich beschreibt Husserl diese Trennung auch als „Spaltung“
(Husserl, Erste Philosophie, Husserliana VIII, 422–424). Von der Notwen-
digkeit, die natürliche Einstellung zur Welt dauerhaft durch einen (allerdings
mühsam herauszubildenden) phänomenologischen „Habitus“ zu ersetzen,
spricht er: Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana
VI, 153–154; Husserl, Erste Philosophie, Husserliana VIII, 419–420; Husserl,
Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, 340–341 und 442–444;
Husserl, Aufsätze und Vorträge, Husserliana XXVII, 171.
69
Vgl. Michael Landmann, Philosophische Anthropologie, Berlin/New
York 1982, 7–9.
70
Sartre, Die Transzendenz des Ego, 91.
71
Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übersetzt
von Rudolf Boehm, Berlin 1966, 7.
Husserl und Heidegger in Freiburg 119

praktische Befreiung des Menschen aus dem Gefängnis seiner Innen-


welt steht noch aus.

2.1 Die Vieldeutigkeit des Lebensbegriffs

Martin Heid­eg­ger schreibt Anfang 1920 an Heinrich Rickert, daß


er – im Gegensatz zu Husserl, der sich zu sehr von der mathemati-
schen Naturwissenschaft bestimmen lasse – vielmehr im „lebendigen
geschichtlichen Leben selbst“ Fuß zu fassen suche, genauer in der
„faktischen Umwelterfahrung“.72 Dieses offene Bekenntnis gerade
gegenüber einem Antipoden derartiger Ansätze ist erstaunlich. Heid­
eg­gers Experimente mit dem Lebensbegriff Anfang der zwanzi-
ger Jahre des 20. Jahrhunderts müssen vor dem Hintergrund von
Rickerts Polemik gegen die Lebensphilosophie gesehen werden.73
Entgegen der Behauptung Hugo Otts, Rickert habe für Heid­eg­ger
auch in philosophischer Hinsicht eine „recht marginale Rolle“74
gespielt, ist davon auszugehen, daß zwar keine intensive Übernahme
von Ansichten des Älteren stattgefunden hat, aber eine sehr intensive
Auseinandersetzung mit ihnen. Zumindest als eine ständige Heraus-
forderung zum Widerspruch hat Rickert eine nicht zu unterschät-
zende Bedeutung. Was beide wesentlich voneinander trennt, ist das
Verhältnis zum eigenen Erleben: Wenn Heid­eg­ger seine Habilita­
tionsschrift über Duns Scotus dem Lehrer als „Ausdruck schuldigen
Dankes“ widmet, versäumt er nicht, zugleich seinen eigenen Stand-
punkt andeutungsweise abzugrenzen, er plädiert für das „schöp-
ferische Gestalten der Probleme aus dem starken persönlichen
Erlebnis“.75 Diesen Ansatz kann der Adressat der Widmung nicht
mittragen, denn für ihn verdankt das Erlebnis seine Brauchbarkeit
in der Philosophie „allein einer weitgehenden Unbestimmtheit“.76

72
Martin Heid­eg­ger/Heinrich Rickert, Briefe 1912 bis 1933 und andere Do-
kumente, hrsg. von Alfred Denker, Frankfurt am Main 2002, 48 (Brief vom
27. Januar 1920).
73
Vgl. Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kri-
tik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920.
74
Ott, Martin Heid­eg­ger, 78.
75
Heid­eg­ger, Frühe Schriften, GA 1, 191.
76
Heinrich Rickert, System der Philosophie. Erster Teil. Allgemeine
Grundlegung der Philosophie, Tübingen 1921, 312, vgl. 311 sowie Rickert,
Die Philosophie des Lebens, 5–6, 112.
120 Michael Großheim

Heid­eg­ger stimmt der Analyse zu, nicht aber den Konsequenzen:


„Die verwirrende Vieldeutigkeit des Wortes ‚Leben‘ und seine Ver-
wendung darf nicht der Anlaß werden, es einfach abzusetzen“.77 Die
Not kann sogar eine Tugend sein: „Das Problemwort ‚Leben‘ muß in
seiner Vieldeutigkeit belassen werden, um die von ihm intendierten
Phänomene anzeigen zu können“.78 Dennoch ist das nicht das letzte
Wort Heid­eg­gers, denn Vieldeutigkeit bleibt für ihn letztlich eine
Herausforderung, durch Explikation zu vereindeutigen und so doch
noch zu einem Begriff zu kommen, der aber nicht die Inhaltsleere
rickertscher Analysen hat. Er kündigt daher an, selbst einen „stren-
gen und philosophisch scharfen Begriff“ des Lebens erarbeiten zu
wollen.79 Es geht ihm im folgenden darum, aus der Vieldeutigkeit
diejenigen Tendenzen herauszufiltern, die neuartige, vielverspre-
chende Ausblicke bieten. Man müsse gerade der Verschiedenheit
der Ausdruckszusammenhänge nachgehen, zum Zwecke einer
„aneignenden Aufhebung der positiven Tendenzen der modernen
Lebensphilosophie“.80 Noch in Sein und Zeit, nach dem offiziel-
len Abschied von der Lebensphilosophie, finden sich im Rückblick
Momente der Anerkennung: „Andererseits liegt aber in der rechtver-
standenen Tendenz aller wissenschaftlich ernsthaften ‚Lebensphi-
losophie‘ […] unausdrücklich die Tendenz auf ein Verständnis des
Seins des Daseins“.81 Die im folgenden mit Heid­eg­ger zu suchenden
positiven Tendenzen der Lebensphilosophie könnten auf den ersten
Blick den Eindruck erwecken, daß hier ein uneinheitlicher Lebens-

77
Heid­eg­ger, Anzeige der hermeneutischen Situation, GA 62, 351.
78
Heid­eg­ger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 15.
79
Heid­eg­ger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61,
89.
80
Heid­eg­ger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61,
82. „Die Tendenz der Lebensphilosophie muß aber doch im positiven Sinne
genommen werden als Durchbruch einer radikaleren Tendenz des Philoso-
phierens, obgleich die Grundlage ungenügend ist“ (Heid­eg­ger, Ontologie,
GA 63, 69). „Diese Opposition gegen die Philosophie des Lebens, die von
Rickert ausgegangen ist, beruht von vornherein auf diesem Mißverständnis,
daß sie die kategoriale Problematik der Philosophie bezüglich des Lebens und
die biologische verwechselt. Rickert muß insofern recht gegeben werden, als
die Philosophie des Lebens de facto in ihren Untersuchungen und Resultaten
im Grund nicht zu den kategorialen Strukturen vorgedrungen ist, daß sie
aber der Tendenz nach so etwas im Auge hat“ (Heid­eg­ger, Logik. Die Frage
nach der Wahrheit, GA 21, 216).
81
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 46.
Husserl und Heidegger in Freiburg 121

begriff entstünde. Am Ende der Untersuchung soll sich zeigen, daß


die heterogen wirkenden Tendenzen doch zusammengehören.

2.2 Heid­eg­gers Lebensbegriff: Zwei Thesen

Die Forschung unterschätzt das Problem der Vieldeutigkeit des


Lebensbegriffs bis heute. Zu oft wird davon ausgegangen, daß der
Ausdruck „Leben“ selbstverständlich ist und keiner weiteren Erläu-
terung bedarf. Es ist dann beispielsweise auch möglich, die zum Teil
erheblichen Differenzen zwischen den Lebensbegriffen verschie-
dener „Lebensphilosophen“ einfach einzuebnen und so zu tun, als
ob ein einheitlicher Komplex vorliege. Hier sind erheblich größere
hermeneutische Anstrengungen nötig.
Als hermeneutische Maxime kann folgender Satz dienen: Die Viel-
deutigkeit des Lebensbegriffs ist am besten aufzulösen, wenn man zu
ermitteln versucht, zu welchem Begriff er in Opposition steht. So
versteht man in der Alltagssprache „Leben“ häufig als Gegensatz
zu „Tod“ – in der Lebensphilosophie hilft diese Perspektive leider
nicht weiter. In anderen Fällen ist „Leben“ wiederum etwas anderes,
nämlich der Gegensatz zu Langeweile oder der Gegensatz zu Statik
bzw. Stagnation.
Dieser methodische Ansatz ist nun auf Heid­eg­gers Lebensbegriff
anzuwenden. Das Ergebnis nehme ich in Gestalt von zwei allgemei-
nen Thesen vorweg:
1. „Leben“/„Erlebnis“ steht in Opposition zu:
Konstatieren/Kenntnisnehmen/theoretischer Haltung.
2. „Leben“/„Erlebnis“ steht in Opposition zur Isolierung eines
Gegenstandes aus seiner Einbettung in eine ganzheitliche Situ-
ation („Bewandtniszusammenhang“, „Zeugzusammenhang“,
„Welt“).
Anders gesagt: „Leben“ ist eine Formel für den ganzheitlichen, zu
explizierenden Bedeutsamkeitszusammenhang.82 Und statt mit einem
traditionellen Modell von der Abgehobenheit eines Subjekt- oder
Objekt-Pols auszugehen, müssen wir hier mit komplizierteren Ver-
hältnissen rechnen, nämlich mit einem „Mitgehen“, „Verschwimmen“
oder „Aufgehen“ des Erkennenden.83 Mit Hilfe dieser suchenden

82
Vgl. Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 111, 118.
83
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 97, 100, 113
und 117.
122 Michael Großheim

Ausdrücke will Heid­eg­ger zweierlei sagen: 1. Bei genauer Beachtung


der Lebenserfahrung kann man ein Subjekt von einem Objekt nicht
sauber trennen. 2. Ebensowenig ist von vornherein und ohne weiteres
ein einzelnes Objekt von anderen Objekten abgehoben.

2.3 Heid­eg­gers Lebensbegriff: „Leben“ statt Konstatieren

Daß Heid­eg­ger, wie in der ersten These behauptet, den Lebensjar-


gon gegen das nüchterne Konstatieren oder das teilnahmslose Zur-
Kenntnis-nehmen ins Feld führt, ist bisher kaum bemerkt worden
und muß daher, um Plausibilität gewinnen zu können, sorgfältig
nachgewiesen werden.
Eine der frühesten Aussagen zu diesem Thema findet sich in
einem Brief von Martin Heid­eg­ger an Elisabeth Blochmann vom
1. Mai 1919: „Und in Momenten, wo wir uns selbst u. die Rich-
tung in die wir lebend hineingehören unmittelbar erfühlen, da dür-
fen wir das Klargehabte nicht nur als solches konstatieren, einfach
zu Protokoll nehmen – als stünde es uns wie ein Gegenstand bloß
gegen-über – sondern das verstehende Sich-selbsthaben ist nur ein
echtes, wenn es wahrhaft gelebtes d. h. zugleich ein Sein ist.“84 Das
Thema ist Selbsterkenntnis. Es geht um die Frage nach dem ange-
messenen Verhältnis zu Einsichten, die bei derartigen Bemühungen
gewonnen werden. Konstatieren und Zu-Protokoll-Nehmen sind
Distanzverhältnisse, in denen das Erkannte gegenüber steht, wäh-
rend Heid­eg­ger die authentische Selbsterkenntnis (das „verstehende
Sich-selbst-haben“) als eine Beziehung der Nähe zum Erkannten
beschreibt, die gleichermaßen in der Sprache des Lebens wie des
Seins auszudrücken ist. Die für die Diskreditierung des Konstatie-
rens bemühte räumliche Metaphorik von Nähe und Distanz dient
hier zur Darstellung von Verhältnissen stärkerer und schwächerer
affektiver Anteilnahme oder Involviertheit.
Wenn man bei der Untersuchung menschlicher Lebenserfahrung
nicht nur auf der Metaebene der affektiven Neutralität den Vorzug
gibt, sondern in einer Art Übererfüllung von Objektivitätsfor-
derungen auch bereits auf der Objektebene so tut, als gebe es die
unzähligen, durch Selbstbekümmerung bestimmten Erfahrungen

84
Martin Heid­eg­ger an Elisabeth Blochmann am 15. Juni 1918, in: Mar-
tin Heid­eg­ger – Elisabeth Blochmann. Briefwechsel 1918–1969, hrsg. von
Joachim W. Storck, zweite Auflage, Marbach am Neckar 1990, 14.
Husserl und Heidegger in Freiburg 123

nicht, oder so tut, als ob sie wissenschaftlich nicht relevant oder


nicht erfaßbar wären, dann macht man sich eines Verstoßes gegen
das Gebot phänomenologischer Treue zum Material schuldig (1.3).
Die einfachste und in der Wissenschaft auch verbreitetste Weise des
Umgangs mit menschlicher Lebenserfahrung ist die schlichte Igno-
ranz, das Gar-nicht-erst-Thematisieren. Diese wenig reflektierte
philosophische Gewohnheit hat Wilhelm Dilthey z. B. zu seinem
Einspruch im Namen eines ‚echten Empirismus‘ herausgefordert.85
Der Lebensbegriff dient nun bei Dilthey wie bei Heid­eg­ger dazu,
zunächst einmal überhaupt einen möglichst weit gefaßten Gegen-
standsbereich für die wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu reservie-
ren. Dazu gehören vor allem die Phänomene der Jemeinigkeit oder
„Meinhaftigkeit“ (Kurt Schneider).86 Sie sind es vor allem, die mit
„Leben“ und erstaunlicherweise auch mit „Sein“87 in einem der spä-
teren ontologischen Phase noch fremden Sinne sprachlich gesichert
werden sollen.
Das zeigt sich erst deutlich, wenn man das ganze Feld der Äuße-
rungen studiert, in denen der junge Heid­eg­ger die „lebendige“,
das heißt bekümmerte Erfahrung der gleichgültigen, bloß konsta-
tierenden Erfahrung gegenüberstellt. Die wichtigsten Zeugnisse
in zeitlicher Reihenfolge lauten: „Erfahrung ist nicht Kenntnis-
nehmen, sondern das lebendige Beteiligtsein, das Bekümmertsein,
so daß das Selbst ständig von dieser Bekümmerung mitbestimmt
ist“.88 „Lebenserfahrung ist mehr als bloße kenntnisnehmende
Erfahrung“.89 „Diese bekümmerten Erfahrungen selbst sind nun

85
„Der Grundgedanke meiner Philosophie ist, daß bisher noch niemals die
ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung dem Philosophieren zugrundegelegt
worden ist, mithin noch niemals die ganze und volle Wirklichkeit. […] Aber
der Empirismus ist nicht minder abstrakt. Derselbe hat eine verstümmelte,
von vornherein durch atomistische theoretische Auffassung des psychischen
Lebens entstellte Erfahrung zugrunde gelegt. Er nehme, was er Erfahrung
nennt: kein voller und ganzer Mensch läßt sich in diese Erfahrung einschrän-
ken. Ein Mensch, der auf sie eingeschränkt wäre, hätte nicht für Einen Tag
Lebenskraft!“ (Wilhelm Dilthey, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur
Philosophie der Philosophie, Gesammelte Schriften (im folgenden: GS),
Band VIII, hrsg. von Bernhard Groethuysen, zweite Auflage, Stuttgart/Göt-
tingen 1960, 171).
86
Vgl. zum Phänomen der Subjektivität bei Husserl und Heid­eg­ger aus-
führlich: Schmitz, Husserl und Heid­eg­ger.
87
Vgl. z. B. den eben zitierten Brief an Elisabeth Blochmann vom 1. Mai 1919.
88
Heid­eg­ger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 173.
89
Heid­eg­ger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 11.
124 Michael Großheim

nicht einfach da, gleichsam in einem seelischen Strom, sondern sie


selbst sind im Erfahren gehabt – (dieses Gehabtwerden ist ihr ‚Sein‘) –,
und zwar nicht in bloßer theoretisch kenntnisnehmender Konstatie-
rung, son­dern selbst in einer Bekümmerung“.90 „daß diese katego­
rialen Zusammenhänge im konkreten eigenen Leben am Leben sind,
nicht bloß so belanglos konstatierbare Beliebigkeiten, wie wenn ich
sage: ‚Das Ding da ist rot.‘“91 „daß das Gegenständliche (faktisches
Leben) und sein Seinssinn nicht einfach konstatierbar sind, daß die
Seinsbestimmtheit von Leben genuin nicht erfaßbar ist in einer frei-
schwebenden und beliebig zu vollziehenden Kenntnisnahme eines
vor der Hand liegenden Objekts“.92 „Die Hermeneutik soll ja nicht
Kenntnisnahme erzielen, sondern das existenzielle Erkennen, d. h.
ein Sein“.93 Später stellt Heid­eg­ger die sich in den Bewandtnisbezü-
gen des zuhandenen Zeugzusammenhangs orientierende „Umsicht“
gegen das Konstatieren;94 dessen Rolle übernimmt jetzt das schlichte
„Vernehmen“ eines Vorhandenen.95
„Das Ding da ist rot“ – ein klassisches Philosophenbeispiel wie
dieses sorgt mit vielen anderen seiner Art für die Plausibilität jener
Auffassung, daß das Konstatieren der primäre und repräsentative
Zugang zur Welt sei. Die Auswahl von Beispielen ist ein bisher wenig
beachtetes und daher auch kaum kultiviertes Instrument der Steue-
rung von Aufmerksamkeit und Fixierung von Perspektiven. Heid­
eg­ger hat für diese Problematik einen ausgeprägten Sinn. Ihm fällt
auf, daß sich in der Bevorzugung derartiger Beispiele die Tendenz zu
einer „isolierten Auffassung eines wahrgenommenen Dinges“ aus-
drückt96 (wie im eben betrachteten Fall „das Ding da“).
Wittgenstein hat als eine Hauptursache philosophischer Krank-
heiten ausgemacht: „Einseitige Diät: man nährt sein Denken nur mit
einer Art von Beispielen.“97 Das trifft für viele Philosophen der Tra-

90
Heid­eg­ger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 208.
91
Heid­eg­ger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 99.
92
Heid­eg­ger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 175.
93
Heid­eg­ger, Ontologie, GA 63, 18.
94
Vgl. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 359.
95
Vgl. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 25, 33, 61–62, 115 und 172. Gegen
Husserls Fundierungstheorem: Heid­eg­ger, Einführung in die phänomeno­
logische Forschung, GA 17, 298.
96
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 237; vgl. Heid­
eg­ger, Prolegomena, GA 20, 248.
97
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am
Main 1967, 189 (Abschnitt 593).
Husserl und Heidegger in Freiburg 125

dition zu. Heid­eg­ger dagegen macht in seiner phänomenologischen


Phase ganz deutlich, daß er seine Beispielwelt nicht auf die bei Philo-
sophen beliebten „Schreibtischphänomene“98 beschränken möchte:
Husserl wiederum erliegt der Versuchung des Philosophen, die ihn
gerade umgebende Situation des Arbeitens am Schreibtisch und sein
eigenes Verhältnis dazu als Reservoir für Beispiele zu bevorzugen.
Er sitzt an seinem Schreibtisch99 und konstatiert: „Ich sehe weißes
Papier.“100 Ein Federzug oder Tintenfleck auf dem Papier101 lenkt
die bloß registrierende Aufmerksamkeit zum Tintenfaß102 und zum
Briefbeschwerer.103 Gelegentlich wirft Husserl auch einen Blick aus
dem Fenster, dann macht er eine „schlichte Baumwahrnehmung“,104
oder er stellt fest: „Eine Amsel fliegt auf“.105
An Husserls Lieblingsbeispiel des Tisches hat Heid­eg­ger – ohne
direkte Bezugnahme, aber für den Kenner offensichtlich – den
grundlegenden Unterschied beider Ansätze veranschaulicht. Hus-
serls „Fehldeskription der alltäglichen Welt“ präsentiert den Tisch
zunächst als materielles Raumding, das dazu noch Wertprädikate
besitzt. Diese Beschreibung ist das Ergebnis einer konstatierenden
Einstellung.
Heid­eg­ger wählt dagegen die „Deskription der alltäglichen Welt
aus dem verweilenden Umgang“; der Tisch ist eingebettet in einen
räumlichen und zeitlichen Zusammenhang, aus dem heraus sich erst
seine primäre, nicht ergänzte Bedeutsamkeit entfaltet.106 Etwas wird
als etwas (Sachverhalt, Programm, Problem) expliziert. Das von
Heid­eg­ger favorisierte „Als der Bedeutsamkeit“ ist hier ein „situa­
tionsentwachsenes, historisches“, im Gegensatz zu dem Husserl

98
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 219.
99
Vgl. Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 325.
100
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Zweiter Band. Zweiter Teil.
Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Husser-
liana XIX.2, hrsg. von Ursula Panzer, Den Haag/Boston/Lancaster 1979,
659–660; vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.1, 119.
101
Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.1, 420.
102
Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.2, 558–560;
vgl. Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 307–308; Edmund Husserl, Aufsätze
und Rezensionen (1890–1910), Husserliana XXII, hrsg. von Bernhard Rang,
Den Haag/Boston/London 1979, 276.
103
Vgl. Husserl, Ideen II, Husserliana IV, 146.
104
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 225–228.
105
Husserl, Logische Untersuchungen, XIX.2, 550–552.
106
Vgl. Heid­eg­ger, Ontologie, GA 63, 88–90.
126 Michael Großheim

zugeschriebenen „Als der abhebenden theoretischen Isolierung“.107


Heid­eg­gers eigene Beschreibung ist eine Explikation menschlicher
Lebenserfahrung. Hier steht nicht die nüchterne Kenntnisnahme im
Vordergrund, sondern das „Leben“ mit seinen vielfältigen Bedeut-
samkeiten: „Unser faktisches Leben ist unsere Welt – wir begegnen
immer irgendwie, sind dabei ‚gefesselt‘, abgestoßen, entzückt, ange-
widert, und die Kenntnisnahmen sind irgendwie bedeutungsbetont:
wertvoll, gleichgültig, überraschend, nichtssagend usf.“108

2.4 Heid­eg­gers anti-theoretischer Affekt

Der Lebensbegriff, so lautete unsere hermeneutische Maxime, erhellt


sich, wenn man sein jeweiliges Gegenteil kennt. Wenn Heid­eg­ger den
Lebensbegriff als Gegensatz zur „Theorie“ verwendet, verschiebt
sich damit also der Klärungsbedarf: Was heißt nun „Theorie“ bei
Heid­eg­ger? Explizite Überlegungen über die „theoretische Einstel-
lung“ finden sich sowohl bei Rickert wie bei Husserl.109 Wenn man
Heid­eg­gers Verständnis von „Theorie“ im ganzen Umfang rekon­
struieren möchte, empfiehlt es sich aber, nicht nur diese möglichen
Vorlagen der Kritik heranzuziehen. Er will nämlich mit diesem
Begriff ein ganz grundsätzliches Problem der Philosophie seiner Zeit
thematisieren: „Es ist nicht nur der Naturalismus, wie man gemeint
hat (Husserl, Logosaufsatz), es ist die Generalherrschaft des Theo-
retischen, was die echte Problematik verunstaltet. Es ist der Primat
des Theoretischen“.110 „Diese Vorherrschaft des Theoretischen muß
gebrochen werden“.111 Heid­eg­ger betont, daß Philosophie „über-
haupt nicht im theoretischen Sinne nachfragt, sondern nachsorgt“.112
Die „Sorge“ scheint also der Begriff zu sein, der an die Stelle der
„Theorie“ treten soll.113

107
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 114 und 111. Spä-
ter kehrt dieses Muster in etwas eingeschränkter Form wieder, wenn das „ur-
sprüngliche ‚Als‘ der umsichtigen Auslegung“ dem „Als der Vorhandenheits-
bestimmung“ gegenübergestellt wird (Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 158).
108
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 96.
109
Vgl. dazu die Details in: Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heid­
eg­ger, 6–8.
110
Heid­eg­ger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 87.
111
Heid­eg­ger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 59.
112
Heid­eg­ger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 131.
113
„Theorie“ wird auch als „Sorglosigkeit“ gefaßt; vgl. Heid­eg­ger, Phäno-
Husserl und Heidegger in Freiburg 127

Was ist nun aber genau unter „Theorie“ bzw. „Theoretisierung“


zu verstehen? Man muß sich hier wie häufig bei Heid­eg­gers eigenar-
tigen Ausdrücken um eine Übersetzung bemühen, die das Gemeinte
mit anderen, einfacheren Worten sagt. In unserem Fall könnte das
Ergebnis lauten: Theoretisierung ist so etwas wie vergleichgülti-
gende Abstandnahme, Abstreifen aller affektiven Bindung an das
Erlebte, bloß neutrale Betrachtung, Aufhebung jeder Verstrickung
in ein meinhaftiges Geschehen mit Bedeutsamkeit.
Heid­eg­ger nutzt das diffuse Pathos des Erlebnisbegriffs, um den
Gegenpol der Theoretisierung, das Phänomen jemeinig erfahrener
Bedeutsamkeit, provisorisch zu bezeichnen. Er warnt deshalb davor,
das „Erlebnis eigens für mich“ voreilig zum objektiven „Vorgang“
zu „versachlichen“, zu einem bloßen Geschehen ohne jede Anteil-
nahme meinerseits zu reduzieren.114 In diesem Fall finde ein „Ent-
leben“ statt. Dagegen soll nach Möglichkeit das Ausgangsphänomen
erhalten bleiben und untersucht werden, diese Gewißheit, daß ich
„irgendwie ganz dabei“ bin, das „Mitanklingen des jeweiligen eige-
nen Ich“, „dieses Mitschwingen, dieses Mitherausgehen meiner“.115
Diese Perspektive ist in Heid­eg­gers Entwicklung bemerkenswert.
Während er später nämlich zur Subjektivität bzw. Jemeinigkeit
gerade auf dem Weg über die Entfremdung gelangt (in der „Angst“
als Verlusterfahrung von Bedeutsamkeitsbezügen), setzt er hier beim
unmittelbaren affektiven Betroffensein an. Und zur Bezeichnung
dieses nicht-theoretischen und nicht distanzierten, sondern innigen
und bekümmerten Verhältnisses zu Sachverhalten, Programme und
Problemen ist die Semantik des Lebens besonders geeignet. Entspre-
chend betont er das Zueigensein des Erlebnisses: „Das Er-leben geht
nicht vor mir vorbei, wie eine Sache, die ich hinstelle, als Objekt,
sondern ich selbst er-eigne es mir, und es er-eignet sich seinem Wesen
nach“.116 Alle philosophischen Versuche, sich dem Betroffensein
zu entziehen, beispielsweise durch Aufschwung in ein nur noch
betrachtendes „theoretisches Verhalten“, verunstalten dagegen die
Phänomene, das „grundwesentlich Theoriefremde“.117

menologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles,


GA 62, 115.
114
Heid­eg­ger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 75.
115
Heid­eg­ger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 73.
116
Heid­eg­ger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 75.
117
Heid­eg­ger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 89; vgl. Heid­eg­ger, Sein
und Zeit, GA 2, 69 und 138.
128 Michael Großheim

2.5 Husserls Phänomenologie des Theoretischen

Theoretisierung im eben explizierten Sinne ist nun gerade ein Grund-


zug der Phänomenologie Husserls und Schelers. Aus dem histori-
schen Abstand fällt es leichter zu sagen: Ein erheblicher Anteil der
philosophischen Energie Husserls wie Schelers ist in Bemühungen
geflossen, in immer neuen Anläufen eine Technik darzustellen (und
für diese zu werben), mit der man in eine stabile theoretische Ein-
stellung gelangen kann. Heid­eg­ger gesteht Husserl zwar Verdienste
um die „ursprüngliche Neuaneignung der Phänomene theoretischen
Erfahrens und Erkennens“ zu; doch zugleich mahnt er an, daß das
„volle Erfahren in seinem eigentlich faktischen Vollzugszusammen-
hang im historisch existierenden Selbst“ zu sehen ist.118 Das „volle
Erfahren“ wird verfehlt – diese Kritik ist deutlich von Dilthey ins-
piriert, der ja an der bisherigen Philosophie bemängelt, daß sie noch
nie „die ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung“ zugrundegelegt
hat.119 In diesem Sinne spürt Heid­eg­ger sehr früh, daß auch Husserl
der Fülle der Lebenserfahrung nicht gerecht wird.120
Husserls Konzept der Intentionalität ist nach Heid­eg­gers Auf-
fassung das Kernstück einer Phänomenologie des Theoretischen;121
in seinen frühen Jahren verfolgt er daher das Projekt einer Enttheo­
retisierung der Intentionalität: „,Intentional‘ muß hier ganz formal
verstanden werden unter Abstreifung eines besonders betonten theo­
retischen Bezugssinnes, welche besondere Bedeutung die Fassung
der Intentionalität als ‚Meinen von‘ beziehungsweise korrelativ ‚Ver-
meintsein-als‘ besonders leicht suggeriert“.122 Wohin dieser Gedanke
führt, wird klar, wenn man eine Bemerkung aus einer zeitnahen
Vorlesung heranzieht: „Das Sorgen ist Grundsinn des Bezugs von
Leben. […] Voller Sinn der Intentionalität im Ursprünglichen! Theo­
retische Einstellung abgeblaßt. Nicht ein verkehrt Allgemeines als
formalisiert Theoretisches von Bezugssinn ansetzen, sondern den echt

118
Heid­eg­ger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 34–35.
119
Dilthey, Weltanschauungslehre, GS VIII, 171. Vgl. Michael Großheim,
Auf der Suche nach der volleren Realität: Wilhelm Dilthey und Ludwig
Klages. Zwei Wege der Lebensphilosophie, in: Dilthey-Jahrbuch 10 (1996),
161–189.
120
Vgl. Martin Heid­eg­ger, „Mein liebes Seelchen!“ Briefe Martin Heid­eg­gers
an seine Frau Elfride 1915–1970, hrsg. von Gertrud Heid­eg­ger, München
2005, 57 und 101.
121
Vgl. dazu auch Heid­eg­ger/Rickert, Briefe, 52.
122
Heid­eg­ger, Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 22.
Husserl und Heidegger in Freiburg 129

existenzial-formalen – aber das Sorgen in seinem formal-angezeigten


vollen Bezugssinn!“123 Die „Sorge“ macht also aus dem theoretischen
Erfahren der Intentionalität ein volles Erfahren. Husserl benötigt dafür
eine besondere Konstruktion,124 derzufolge affektive Akte erst einmal
in einem theoretischen Meinen fundiert sind.125 Das ganze Phänomen
muß dann rekonstruiert werden durch eine zweite, darüber liegende
Schicht. Einfach gesagt: Erst muß ein theoretischer Akt da sein, der
einen Gegenstand gibt, dann wird dieser durch einen emo­tionalen Akt
des Sich-Freuens ergänzt. Damit gewinnt das theoretische Meinen jene
Bedeutung, die ihm Heid­eg­ger streitig machen will.

2.6 Heid­eg­gers Lebensbegriff: „Leben“ als Einbettung


in ganzheitliche Situationen

Auch die zweite These zu Heid­eg­gers Lebensbegriff – „Leben“ bzw.


„Erlebnis“ steht in Opposition zur Isolierung eines Gegenstandes
aus seiner Einbettung in eine ganzheitliche Situation („Bewandtnis-
zusammenhang“, „Zeugzusammenhang“, „Welt“) – kann nicht ohne
nähere Erläuterungen einleuchten. Es empfiehlt sich, mit jenen sel-
tenen Stellen zu beginnen, an denen Heid­eg­ger einmal so etwas wie
eine Definition von „Leben“ wagt: „‚Leben‘ besagt eine Weise des

123
Heid­eg­ger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 98.
124
Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen XIX.1, 457; Husserl, Ideen I,
Husserliana III.1, 266–267. – In Heid­eg­gers Augen ist es eine „Ungeheu-
erlichkeit“, etwa die Liebe als Bewußtsein-von-etwas zu bezeichnen (Heid-
eg­ger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 59).
125
„Dieselbe Sorge der Gewißheit führt nun dazu, das, was – trotz all dieser
Verklammerung in traditioneller Hinsicht – an Positivem in der Phänomeno-
logie geleistet wurde, in eigentümlicher Weise zu verunstalten: 1. hinsichtlich
der Intentionalität, sofern diese weniger ausdrücklich als unausdrücklich im-
mer als spezifisches theoretisches Sichverhalten gefaßt wird. Charakteristisch
ist, daß Intentionalität in der Übersetzung meist mit Meinen wiedergegeben
wird, daß man vom willentlichen, liebenden, hassenden Meinen usf. spricht.
Durch diese Fixierung schleicht sich eine bestimmte Vorzeichnung der Blick-
richtung für jede intentionale Analyse ein, was ausdrücklich sich dadurch
noch zeigt, daß in der Tat bewußt behauptet wird, daß für jeden intentiona-
len Zusammenhang verwickelter Art das theoretische Meinen das Fundament
bildet, daß jedes Urteil, jedes Wollen, jedes Lieben auf ein Vorstellen fundiert
sei, das überhaupt das Wollbare, das Haß- und Liebbare vorgibt“ (Heid­eg­ger,
Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 271). Vgl. zum
„Meinen“ bei Husserl: Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 222.
130 Michael Großheim

Seins, und zwar Sein-in-einer-Welt“.126 „Dasein (faktisches Leben)


ist Sein in einer Welt“.127 Der Lebensbegriff gewinnt hier in zweierlei
Hinsicht an Profil. Einerseits wird durch die Betonung des In-Seins
in einer Welt die traditionelle Innenwelttheorie verlassen. Anderer-
seits geht es um das In-Sein in einer Welt. Was aber ist Welt?128
In der Vorlesung des Wintersemesters 1926/27 untersucht Heid­
eg­ger das Phänomen der Schwere. Er tut dies jedoch nicht, um
zu konkreten Ergebnissen über dieses Phänomen zu gelangen,
sondern um grundsätzliche Möglichkeiten der Erforschung belie-
biger Gegenstände darzustellen. Die Schwere kann man auf zwei-
erlei Weise untersuchen: im Zeugzusammenhang und im Labor.
Heid­eg­ger nutzt im folgenden ein Beispiel, um den Weg vom
vorwissenschaftlichen Sein bei der Natur zur wissenschaftlichen
Naturerfassung zu verdeutlichen.129 Der Hammer kann zu schwer
sein, zu leicht oder gerade recht. Aber dies alles kann er nur sein als
Zuhandenes, d. h. in einem konkreten Zeugzusammenhang. Wenn
wir dagegen die Schwere im Labor einfach messen, dann nehmen
wir den Hammer als ein vorhandenes Ding. In diesem Fall hat es gar
keinen Sinn mehr zu sagen, der Hammer sei zu schwer oder zu leicht.
Warum nicht? fragt Heid­eg­ger. Die Antwort: „Weil er jetzt gar nicht
in einem Zeugzusammenhang steht; nur noch Ding, nach seinen an
ihm vorhandenen Beschaffenheiten und der gesetzlichen Bestimmt-

126
Heid­eg­ger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 18.
127
Heid­eg­ger, Ontologie, GA 63, 80.
128
Der Zusammenhang von Welt und Leben wird gelegentlich auch so ge-
faßt, daß Welt der Gehalt des Lebens sein soll: „Mit der phänomenologischen
Kategorie ‚Welt‘ besprechen wir zugleich, und das ist wichtig, was gelebt
wird, wovon Leben gehalten ist, woran es sich hält“ (Heid­eg­ger, Phänomeno-
logische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 86; vgl. Heid­eg­ger, Grund-
probleme der Phänomenologie, GA 58, 96; Heid­eg­ger, Phänomenologische
Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles, GA 62, 116).
Ausschlaggebender ist jedoch eine breiter ausgeführte Bestimmung von Welt,
die die zweite These zu Heid­eg­gers Lebensbegriff stützt.
129
Die Verengung von der allgemeineren „Bedeutsamkeit“ zur engeren „Zu-
handenheit“ zeigt sich auch in den Beispielen. In der lebensphilosophischen
Phase geht Heid­eg­ger nicht von einem „Zeugzusammenhang“, sondern von
einem „Lebenszusammenhang“ aus (dem Erlebnis des Sonnenaufgangs für
den Chor der thebanischen Ältesten in Sophokles’ „Antigone“), um diesen
mit dem Phänomen des Sonnenaufgangs für den Astronomen in Kontrast
zu setzen, der ein bloßer Vorgang in der Natur ist (Heid­eg­ger, Die Idee der
Philosophie, GA 56/57, 74).
Husserl und Heidegger in Freiburg 131

heit. Seine Schwere nicht orientiert auf Handlichkeit und Unhand-


lichkeit, sondern lediglich im Sinne der Gravitation verstanden“.130
Das Zuhandene des Hammers zeigt sich nur im Zeugzusammen-
hang: „Zuhandenes wird immer schon aus der Bewandtnisganzheit
her verstanden.“131 Geht die Zuhandenheit verloren, z. B. durch
Beschädigung des Werkzeugs, kommt der Zeugzusammenhang als
solcher zum Vorschein, der explizit bis dahin noch nicht sichtbar
war, aber in der Umsicht implizit ständig berücksichtigt wurde. Der
so ausdrücklich entdeckte Zeugzusammenhang ist ein Ganzes, und
mit diesem Ganzen meldet sich nach Heid­eg­ger die Welt.132 Weltlich-
keit ist das Verweisungsganze der Bedeutsamkeit.133 Zu einer Welt
gelangt man nicht durch die Aufzählung und Beschreibung einzelner
innerweltlicher Dinge.134 Die Zusammenfügung von verschiedenem
Seienden ergibt nicht als Summe so etwas wie Welt.135
1. der synthetisch-konstruktive Weltbegriff:
Welt ist das Produkt eines Subjekts, in dessen interessegeleite-
teter Perspektive eine Anzahl von vornherein als einzeln wahr-
genommener Gegenstände zusammengefaßt wird (Primat der
Einzelnheit).
2. der hermeneutisch-explikative Weltbegriff:
Welt ist das nicht auf Subjekt und Objekt verteilbare Ganze,
aus dem heraus erst einzelne Gegenstände begegnen (Primat der
Ganzheit).
Das Phänomen des Zeugzusammenhangs zeigt, daß ein isoliertes
Zeug nicht vorkommt, daß Zeug vielmehr immer aus der Zugehö-
rigkeit zu anderem Zeug ist.136

130
Heid­eg­ger, Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant,
GA 23, 21.
131
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 150. Vorher betont Heid­eg­ger den „Vor-
rang der Präsenz der Verweisungsganzheit und der Verweisungen vor den in
den Verweisungen sich selbst zeigenden Dingen“ (Heid­eg­ger, Prolegomena,
GA 20, 254; vgl. auch Heid­eg­ger, Geschichte der Philosophie von Thomas
von Aquin bis Kant GA 23, 24).
132
Vgl. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 75.
133
Vgl. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 123, vgl. 334.
134
Vgl. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 63; vgl. Heid­eg­ger, Der Ursprung des
Kunstwerks, GA 5, 30; Georg Simmel, Lebensanschauung, Berlin 1918, 28.
135
Vgl. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 72.
136
Einzelnes, z. B. ein einzelnes Zeichen ist „nicht ein Ding, das zu einem
anderen Ding in zeigender Beziehung steht, sondern ein Zeug, das ein Zeug-
ganzes ausdrücklich in die Umsicht hebt, so daß sich in eins damit die Welt-
mäßigkeit des Zuhandenen meldet“ (Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 80).
132 Michael Großheim

Woran Heid­eg­ger Anstoß nimmt, ist die Auffassung von der


Notwendigkeit eines nachträglichen Stiftens von Relationen, die von
zunächst isolierten Teilen ausgeht, die in Beziehungen zueinander
gebracht werden müssen. Diese so zustande gebrachten Beziehun-
gen (Summen o. ä.) sind äußerlich; auf diesem Wege gelangt man nur
zu einem Zusammen-vorhanden-sein,137 zu einem „gleichgültigen
Zusammenvorkommen beliebiger Dinge“,138 zu einer „anhäufenden
Zusammenstückung“.139
Mit dieser Abwertung der durch sekundäre Relationen gebilde-
ten Summe bezieht Heid­eg­ger auch philosophiehistorisch Position.
Die genannten Größen scheinen alle die Eigenart dessen zu besitzen,
was Aristoteles im Gegensatz zur Einheit einen bloßen „Haufen“
nennt.140 Für Leibniz sind Monaden als einfache unzusammenge-
setzte Substanzen die Elemente der Dinge, während die Vielheiten
oder das Zusammengesetzte nichts anderes sind als eine Anhäufung
oder ein Aggregat von Einfachem.141 Während Leibniz die Gegen-
position zu Heid­eg­ger einnimmt, steht Hegel mit der Unterschei-
dung von Ganzem und Aggregat in seiner Nähe.142 Heid­eg­ger selbst
scheint in seinem Sprachgebrauch durch Diltheys und Schelers
Gegenüberstellung von Summe und Ganzheit angeregt zu sein.143

137
Vgl. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 56, 128, 159, 176 und 204; Heid­eg­ger,
Prolegomena, GA 20, 328.
138
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 121.
139
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 242. Entsprechend pejorativ verwendet
Heid­eg­ger folgende Ausdrücke: „Kompositum“ (Heid­eg­ger, Sein und Zeit,
GA 2, 191, 198; Heid­eg­ger, Prolegomena, GA 20, 207), „summatives Resul-
tat“ (Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 125, vgl. 48 und 128; Heid­eg­ger, GA 20,
329), „summatives Beieinander“ (Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänome-
nologie, GA 58, 167), „summatives Mit- oder Nacheinander“ (Heid­eg­ger,
Anmerkungen zu Karl Jaspers, GA 9, 22), „bloß Summe“ (Heid­eg­ger, Die
Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 412, vgl. 435), „Gesamtsumme“
(Heid­eg­ger, Prolegomena, GA 20, 228), „commercium“ (Heid­eg­ger, Sein und
Zeit, GA 2, 62 und 132; Heid­eg­ger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 143
und 289).
140
Aristoteles, Metaphysica 1041b; Aristoteles Metaphysik wird zitiert nach:
Aristotle’s Metaphysics, hrsg. von William David Ross, zwei Bände, Oxford
1924.
141
Vgl. Leibniz, Monadologie, §§ 1–2.
142
Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte,
Werke 12, Frankfurt am Main 1970, 274.
143
Vgl. zu Dilthey: Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwär-
tige Kampf um eine historische Weltanschauung. 10 Vorträge (Gehalten in
Kassel vom 16.IV.–21.IV.1925), in: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992/93), 143–180,
Husserl und Heidegger in Freiburg 133

Worauf läuft nun Heid­eg­gers Theorie von der Zuhandenheit im


Zeugzusammenhang als einer Welt allgemein hinaus? Heid­eg­ger
wirft dem Hauptstrom des bisherigen Philosophierens Weltverges-
senheit vor. Dieser Zug drückt sich auf zweierlei Weise aus:
1. in der Weltvergessenheit des isoliert und als Innenwelt gedachten
Subjekts
2. in der Weltvergessenheit des von vornherein als einzeln und iso-
liert gedachten Gegenstandes.
Mit der bloß noch theoretischen Schwere im Labor, die durch Ent-
fernung des Gegenstandes aus dem Zeugzusammenhang entstanden
ist, will Heid­eg­ger auf die zweite, die für uns wichtigere Form auf-
merksam machen. Er versteht diese „Entweltlichung“ nicht als einen
Gewinn von „Objektivität“, sondern als einen erkenntnistheoretisch
hochproblematischen Vorgang der „Theoretisierung“. So ist seine
merkwürdige Frage zu verstehen: „Worin liegt der Umschlag von
der Umsicht zur Theorie, wenn nicht in einem bloßen Mangel und
Fehlen?“144 Diese Entweltlichung des Zuhandenen läßt nach Heid­eg­
ger das Nur-Vorhandensein zum Vorschein kommen.145 Das „Zeug“
wird zum bloßen „Ding“. Und in der „Dinglichkeit“ als Gegen-
standssphäre bleibt Husserl stehen.146
Was ein Gegenstand ist, wird gerade bestimmt durch seine Ein-
bettung in einen Zusammenhang. Am Beispiel: Vor mir steht eine
Wasserflasche – warum sollte der Zusammenhang der Situation
dabei eine Rolle spielen? Ein Behälter zur Bereitstellung von Trink-
barem ist dieser Gegenstand für mich in der gegenwärtigen Situation.
Diese Thematisierung dürfte auch zweifellos die in unserer Kultur
häufigste sein, sie ist gewissermaßen die konventionelle, aber sie ist
eben nicht die einzig mögliche. Denn dieser Gegenstand könnte
ebenso gut als Wurfgeschoß, Unterlage, Kunstwerk, Pfandobjekt
angesprochen werden, und kleine Kinder pflegen darin ein außer-
ordentlich faszinierendes Spielzeug zu sehen. Nur unsere kulturelle
Konvention „Trinkgefäß“ scheint uns hier vor einem Relativismus
der Bedeutungen zu bewahren. Entscheidend ist aber letzten Endes

hier 165; zu Scheler: Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, in:
Wesen und Formen der Sympathie. Die deutsche Philosophie der Gegenwart,
Gesammelte Werke, Band 7, hrsg. von Manfred S. Frings, Bern/München
1973, 7–332, hier 41.
144
Heid­eg­ger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, 23.
145
Vgl. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 75, vgl. 112.
146
Vgl. Heid­eg­ger, Ontologie, GA 63, 60.
134 Michael Großheim

der jeweilige Zusammenhang der Situation. Ein Stuhl im Hörsaal ist


ein Sitzgegenstand – ein Stuhl im Museum in jedem Fall auch?
In seinen Anfängen greift Heid­eg­ger auf die Semantik des Lebens
zurück, wenn er die Einbettung in ganzheitliche Zusammenhänge
kennzeichnen will: „Alles muß in seinem lebendigen Zusammenhang
betrachtet werden, d. h. man muß die ganzen Situationen vor sich
haben“.147 Er fordert dazu auf, die Phänomene in ihrem „Lebenszu-
sammenhang“ zu sehen.148 Später, in Sein und Zeit, wird diese brei-
tere (und brauchbarere) Perspektive des „Lebenszusammenhanges“
auf den „Zeugzusammenhang“ eingeschränkt; zugleich zeigt sich,
daß hier ein Primat der Ganzheit vor der Einzelheit behauptet wird:
„Zeug ist in seiner Zeughaftigkeit entsprechend immer aus der
Zugehörigkeit zu anderem Zeug: Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier,
Unterlage, Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer. Diese
‚Dinge‘ zeigen sich nie zunächst für sich, um dann als Summe von
Realem ein Zimmer auszufüllen. Das Nächstbegegnende, obzwar
nicht thematisch Erfaßte, ist das Zimmer, und dieses wiederum nicht
als das ‚Zwischen den vier Wänden‘ in einem geometrischen räum-
lichen Sinne – sondern als Wohnzeug. Aus ihm heraus zeigt sich die
‚Einrichtung‘, in dieser das jeweilige ‚einzelne‘ Zeug. Vor diesem ist
je schon eine Zeugganzheit entdeckt“.149
Die von Heid­eg­ger problematisierte „Entweltlichung“ oder
„Theoretisierung“ hat also zwei Seiten:
1. Verlust der Bedeutsamkeit (am Beispiel: der Hammer wird nicht
mehr als Gebrauchsgegenstand angesprochen)
2. Isolierung eines Einzelnen (der Hammer wird außerhalb seines
Gebrauchskontextes als Gegenstand für sich betrachtet).
Heid­eg­gers frühe Philosophie des „Lebens“ ist ein Versuch, die Situa­
tionsvergessenheit des bisherigen Denkens zu korrigieren.

2.7 Heid­eg­gers Lebensbegriff: „Leben“ statt Präparat

Wie oben (1.5 und 1.6) gezeigt kann Heid­eg­ger sich mit der Ein-
schränkung des phänomenologischen Gegenstandsbereichs auf eine

147
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 219.
148
Vgl. Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 108.
149
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 68–69; vgl. Heid­eg­ger, Prolegomena,
GA 20, 252–253.
Husserl und Heidegger in Freiburg 135

eigens präparierte Region nicht abfinden.150 Diese Kritik hat eine dop-
pelte Stoßrichtung, gegen Husserls Konzentration auf eine bestimmte
Region (das „Bewußtsein“) und gegen seine Phänomenologie der
Präparate (nach aufwendiger Ausschaltung der natürlichen Welt-
zugewandtheit in transzendentaler Einstellung zu untersuchende
Bewußtseinsakte).
Heid­eg­ger spielt die Formel „Leben“ auch gegen die philosophi-
sche Arbeit mit Präparaten aus. Wie das gemeint ist, kann man sich an
einer Äußerung der Husserl-Schülerin Gerda Walther klarmachen. Sie
schreibt 1928/29 über die Arbeit ihres philosophischen Lehrers: „In
unermüdlicher Zähigkeit ist Husserl bemüht, alles und jedes in den
Maschen seines ‚reinen Bewußtseins‘ einzufangen, in seiner ‚konsti-
tutiven Phänomenologie‘ in einem Bewußtseins-Koordinatensystem
auch das kleinste Stäubchen des Weltalls in seine Gegebenheitsweise
im ‚reinen Bewußtsein‘ aufzulösen, bis die ganze Welt schließlich im
‚reinen Bewußtsein‘ festgenagelt und geordnet ist, wie die armen auf
Nadeln gespießten Schmetterlinge im Glaskasten eines Sammlers.
Es läßt sich kaum ein konsequenterer Priester des Panrationalismus
denken, als ihn [sic!].“151 Der im Glaskasten aufgespießte Schmetter-
ling bietet dem Erkenntnisinteresse, insbesondere dem an „strenger
Wissenschaft“ ausgerichteten, natürlich sehr gute Möglichkeiten.
Während Husserl dem Sammler gleicht, der sich mit derart fixierten
Präparaten beschäftigt, fordert Heid­eg­ger den Wissenschaftler mit
Nachdruck zur Arbeit in der freien Natur auf. Er soll sich so der weit-
aus anspruchsvolleren Gegenständlichkeit widmen, dem lebendigen,
äußerst beweglichen und daher sehr viel schwerer zu beobachtenden
Schmetterling. „Leben“ steht hier also für das reichhaltigere, durch
seine Dynamik aber auch schwerer zu erfassende Material.
Am gleichen Beispiel hat Goethe schon deutlich gemacht, daß
der Präparat-Wissenschaftler vordergründig im Vorteil ist, genauer
betrachtet aber einen hohen Preis zahlen muß: „Mendelssohn und
andre […] haben versucht die Schönheit wie einen Schmetterling zu
fangen, und mit Stecknadeln, für den neugierigen Betrachter festzu-
stecken; es ist ihnen gelungen; doch es ist nicht anders damit, als mit
dem Schmetterlingsfang; das arme Thier zittert im Netze, streifft sich
die schönsten Farben ab; und wenn man es ia unversehrt erwischt, so
stickt es doch endlich steif und leblos da; der Leichnam ist nicht das

150
Vgl. Heid­eg­ger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 137.
151
Gerda Walther, Ludwig Klages und sein Kampf gegen den „Geist“, in:
Philosophischer Anzeiger 3 (1928/29), 48–90, hier 51–52.
136 Michael Großheim

ganze Thier, es gehört noch etwas dazu, noch ein Hauptstück, und
bei der Gelegenheit, wie bey ieder andern, ein sehr hauptsächliches
Hauptstück: das Leben, der Geist der alles schön macht.“152

2.8 Philosophie und Leben

Die Phänomenologie des „Lebens“ ist Heid­eg­gers Alternative zu


Husserls Phänomenologie des Bewußtseins. Am Ende unserer
Überlegungen empfiehlt es sich, den Horizont etwas zu öffnen und
Heid­eg­gers Lebensbegriff auch im Rahmen der zeitgenössischen
„Lebensphilosophie“ deutlicher zu konturieren. Eine Reihe von
Abgrenzungen müssen hier vorgenommen werden: Gemeint ist nicht
Leben im alltäglichen Sinne als Gegenteil von Tod oder Leben als die
Zeitspanne zwischen Geburt und Tod, auch nicht Leben im Sinne der
Biologie; gemeint ist weder ein Leben im Sinne Nietzsches als ent-
fesselte kulturelle Produktivität noch ein metaphysisches, jede Ver-
ankerung im Individuum geheimnisvoll überschreitendes Leben wie
bei Georg Simmel und schließlich ebensowenig ein über Lebewesen
generell hinausreichendes „Alleben“ wie bei Ludwig Klages. Heid­
eg­gers Lebensbegriff ist deutlich enger, er ist nicht auf die Gesamt-
heit aller Lebewesen, nicht auf Tiere oder Pflanzen, auch nicht auf die
Gattung homo sapiens bezogen, sondern auf die alltägliche „faktische
Lebenserfahrung“ des menschlichen Individuums. „Leben“ in diesem
Sinne ist der bisher allzu leichtfertig übersprungene, zu Unrecht miß-
achtete, eigentliche Gegenstand der Philosophie.153 Die Analyse der
„faktischen Lebenserfahrung“ ist eine Fortsetzung des von Wilhelm
Dilthey angeregten Projekts eines ‚echten Empirismus‘. Heid­eg­ger
steht in den frühen Jahren Dilthey näher als Husserl.

152
Johann Wolfgang von Goethe, An Hetzler den Jüngeren (Straßburg, d.
14. Jul. 1770), in: Briefe der Jahre 1764–1786, Goethes Briefe. Hamburger
Ausgabe, hrsg. von Karl Robert Mandelkow, Band I, München 1988, 110–111,
hier 111.
153
Heid­eg­ger legt Wert darauf, „daß Philosophie nicht in allgemeinen ab-
gezogenen Definitionen besteht, sondern immer ein Element der faktischen
Lebenserfahrung ist“ (Heid­eg­ger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59,
36). „Ausgang sowohl wie Ziel der Philosophie ist die faktische Lebenserfah-
rung“ (Heid­eg­ger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60,
15). „Philosophie ist historisches (d. h. vollzugsgeschichtlich verstehendes)
Erkennen des faktischen Lebens“ (Heid­eg­ger, Phänomenologische Interpre-
tationen zu Aristoteles, GA 61, 2).
Hans-Helmuth Gander
Phänomenologie der Lebenswelt:
Husserl und Heid­eg­ger

„Wer heute das Wort ‚Lebenswelt‘ in den Mund nimmt, spricht [wie
Bernhard Waldenfels zutreffend bemerkt] nicht nur die Sprache
Husserls, sondern die Sprache einer Übergangszeit“,1 die bis an die
Schwelle des 20. Jh. zurückreicht. In zahlreichen Studien wurden
inzwischen die begriffsgeschichtlichen Spuren im einzelnen verfolgt
und gesichert. Geprägt wird diese Zeit von der Ende des 19. Jh.
aufblühenden Lebensphilosophie. Zu ihren Repräsentanten zählen
unter anderen Henri Bergson oder auch Wilhelm Dilthey, die die für
die moderne Philosophie konstitutive Wende auf das Subjekt wei-
terentwickeln, und zwar in Richtung eines Erlebnis-Ich. Der damit
verbundene Perspektivenwechsel wird im Begriff der Lebenswelt
mitvollzogen. Das heißt, daß die Welt, die als Kosmos oder Univer-
sum von jeher Thema der Philosophie war, als das Ganze nun bezo-
gen wird auf das Leben. Der Philosophie kommt dabei die Aufgabe
zu, im Erleben als Innewerden des Lebens durch ‚Selbstbesinnung‘
hinter dem Objektivismus der Wissenschaften den Lebenszusam-
menhang aufzudecken. In unterschiedlicher Weise versuchen Hus-
serl und Heid­eg­ger mit ihren Konzeptionen einer Phänomenologie
der Lebenswelt, sich dieser Herausforderung zu stellen.
Im ersten Teil der nachfolgenden Überlegungen wird vornehm-
lich im Ausgang von Husserls berühmter Spätschrift Die Krisis der
europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomeno-
logie der Aufweis der Bodenfunktion der Lebenswelt in ihrer wis-
senschaftsbegründenden wie transzendentalphänomenologischen
Funktion rekonstruiert. Rekonstruiert wird dieser Aufweis aller-
dings nur so weit, daß von hier aus Husserls Ansatz einer lebens-

1
Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am Main
1985, 7.
138 Hans-Helmuth Gander

weltlichen Ontologie verdeutlicht werden kann, in der Lebenswelt


als lebensweltliche Wirklichkeit die jeweilige Kulturform bestimmt.
Ob Husserls lebensweltliche Ontologie mit ihrem Ausgang vom
Wahrnehmungsparadigma dabei dem damit verbundenen Anspruch
gerecht werden kann, soll in einem nächsten Gedankenschritt unter-
sucht werden. Hierfür beziehe ich mich im zweiten Teil meiner
Ausführungen auf Heid­eg­gers Entwurf einer Phänomenologie der
Lebenswelt, wie er sie zu Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit
in den Freiburger Privatdozentenvorlesungen konturiert hat.

1.

Zu Beginn des ersten Teils meiner Überlegungen sei zunächst an die


bereits von Dilthey skizzierte Aufgabe erinnert, hinter dem Objekti-
vismus der Wissenschaften den Lebenszusammenhang aufzudecken.
Bekanntlich zeichnet sich im Entstehen des Objektivismus für Hus-
serl bereits eine Krise vor. Sie wird von ihm als Krise des europäi-
schen Menschentums diagnostiziert. Ihren Ursprung hat sie in der
Selbsterhebung und dem damit verbundenen Deutungsanspruch der
epistemischen Vernunft. Sie geht davon aus, daß die Wissenschaften
eine von der Subjektivität völlig unabhängige und in diesem Sinne
objektive Beschreibung der Wirklichkeit leisten kann. Daß dies
möglich ist, ist nicht zu bestreiten und wird auch von Husserl nicht
bestritten. Insofern besteht die Krise für Husserl dementsprechend
in der Verabsolutierung der objektiven Perspektive. Sie verbindet
sich für Husserl mit jener Entwicklung innerhalb der neuzeitlichen
Wissenschaften, in der seit Galilei eine Vorstellung von Welt domi-
nant wird, die in der Mathematisierung ihre wahre Darstellungsform
sieht. Kennzeichnend für diese Entwicklung ist nach Husserl die
Verachtung des mit dem Titel δόξα bezeichneten vor- bzw. außer-
wissenschaftlichen Lebens. Damit geht einher, daß die für die δόξα
charakteristische subjekt-relative Bezogenheit auf die Umwelt, und
das ist für Husserl „unsere alltägliche Lebenswelt“,2 aus der wissen-
schaftlichen Perspektive ausgeschaltet bleibt.
Es bedeutet von daher eine Rehabilitierung der δόξα, wenn Hus-
serl mit Blick auf den diagnostizierten Objektivismus und Tech-

2
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie, Husserliana VI, hrsg. von Walter Biemel,
Den Haag 1954, 49.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 139

nizismus der modernen Wissenschaften für deren Überwindung


fordert, das Subjekt-Relative wieder in sein ursprüngliches Recht
einzusetzen. Das aber bedeutet, wie es in der Krisis-Schrift heißt,
daß das Subjekt-Relative nicht als „ein irrelevanter Durchgang,
sondern als das für alle objektive Bewährung die theoretisch-logi-
sche Seinsgeltung letztlich Begründende“3 begriffen werden muß
und in diesem Sinne als „Evidenzquelle, [als] Bewährungsquelle“4
fungiert. Damit aber gibt Husserl der so aufgewerteten δόξα „ein
Vorrecht gegenüber wissenschaftlichen Einsichten, da sie [als Quelle
der Sinnbildung] Boden und Fundament abgibt für alle theoreti-
schen Konstruktionen“.5 Mit anderen Worten heißt das: Durch den
Rückgang auf die Lebenswelt als dem im Laufe der Geschichte sedi-
mentierten Erfahrungsbestand, in den auch alle wissenschaftlichen
Errungenschaften einbehalten sind, wird wissenschaftliches Wissen
neu fundiert. Denn diesseits ihrer Konstruktionen und Idealisierun-
gen wird auf diesem Wege den Wissenschaften wieder ihre Lebens-
bedeutsamkeit erschlossen. Für Husserl muß sie sich dann ihrerseits
in der sich unter dem Telos der Vernunft fortentwickelnden Kultur
produktiv bewähren.
In der Schrift Erfahrung und Urteil begründet Husserl seine
„Rechtfertigung der Doxa“6 mit der Einsicht, „daß dieser Bereich der
Doxa […] eben der Bereich der letzten Ursprünglichkeit [ist], auf den
sinngemäß die exakte Erkenntnis zurückgeht, deren Charakter als
einer bloßen Methode und nicht als eines ein An-sich vermittelnden
Erkenntnisweges durchschaut werden muß“.7 Wichtig zu beachten
ist, daß bei Husserl die Zurückweisung des objektivistischen Selbst-
mißverständnisses der Wissenschaften nicht gleichbedeutend ist mit
einer „Abwertung der exakten Erkenntnis“.8 Demgegenüber geht
es Husserl um eine „Erhellung des Weges, auf dem zu den höher-
stufigen [und das sind für ihn die wissenschaftlichen] Evidenzen zu
gelangen ist, und [damit zu] den verborgenen Voraussetzungen, auf
denen sie beruhen“.9 Es ist demnach keine Frage, daß für Husserl

3
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 129.
4
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 129.
5
Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 39.
6
Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie
der Logik, redigiert und hrsg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg 1948, 44.
7
Husserl, Erfahrung und Urteil, 44.
8
Husserl, Erfahrung und Urteil, 44.
9
Husserl, Erfahrung und Urteil, 44–45.
140 Hans-Helmuth Gander

der Weg der Erkenntnis „von der Doxa zur Episteme aufzusteigen“10
hat. Doch darf, betont Husserl, „über dem letzten Ziel der Ursprung
und das Eigenrecht der unteren Stufen nicht vergessen werden“.11
Das konstitutive Band zwischen δόξα und ἐπιστήμη besteht darin,
daß die „Welt als Lebenswelt […] vorwissenschaftlich die ‚gleichen‘
Strukturen [hat wie] die objektiven Wissenschaften“.12 Zurecht
wurde darauf verwiesen, daß nur „aufgrund einer gewissen Struk-
turgleichheit zwischen Lebenswelt und idealwissenschaftlichen
Elementarbegriffen […] sich die phänomenologische Herleitung
der objektiven Wissenschaft aus der Lebenswelt bewerkstelligen“13
läßt. So gesehen fungiert für Husserl das ‚lebensweltliche Apriori‘14
als „letzte Kritiknorm für alle faktische Wissenschaft“,15 sofern das
„Wissen von der objektiv-wissenschaftlichen [Welt] in der Evidenz
der Lebenswelt“16 gründet.
Im Sinne des programmatischen Anspruchs seiner transzenden-
talen Phänomenologie kann es für Husserl demnach „bei der Ent-
deckung der Lebenswelt als theoretisches Thema (nämlich der der
objektiven Wissenschaft als Selbstverständlichkeit vorgegebenen
Welt) nicht sein Bewenden haben“.17 Das heißt, Husserl kann für
sich selbst beim Aufweis des Eigenrechts, ja Vorrechts der δόξα
nicht Halt machen. Er kann dies schon darum nicht, weil diese
Entdeckung ihrer Bodenfunktion überhaupt nur vollzogen wer-
den konnte aus einem reflexiven Ansatz heraus, der im vorhinein
bereits die konstitutive Naivität der δόξα überschritten hat. Mit
anderen Worten ist für Husserl die Entdeckung der Lebenswelt in
der Intention, die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlichen
Erkennens aufzuweisen, an ein Wissen geknüpft, das sich diesseits
der wissenschaftlichen wie der alltäglichen Erkennensweisen als ein
Wissen sui generis erweist. In seiner transzendentalen Struktur lei-

10
Husserl, Erfahrung und Urteil, 45.
11
Husserl, Erfahrung und Urteil, 45.
12
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 142.
13
Paul Janssen, Edmund Husserl. Einführung in seine Phänomenologie,
Freiburg/München 1976, 142.
14
Vgl. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
143.
15
Rüdiger Welter, Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer
Erfahrungswelt (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und
Lebenswelt 14), München 1986, 99.
16
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 133.
17
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 463.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 141

stet es damit zugleich einer neuen ἐπιστήμη Vorschub, nämlich der


Phänomenologie als strenger Wissenschaft.
In dieser neuen ἐπιστήμη wird mit dem Aufweis des Eigenrechts
der δόξα von Husserl in gewisser Weise zugleich auch schon wieder
ihre Abwertung betrieben. Denn mit Blick auf die aus dem Geist
der Phänomenologie zu vollziehende Ausbildung einer universalen
Vernunft gilt die δόξα lediglich als eine Vorstufe bzw. Vorgestalt.
Für Husserl geht es bekanntlich als letzte Zweckidee um eine Philo-
sophie, die, wie er sagt, „gegenüber dem vorwissenschaftlichen und
auch wissenschaftlichen Objektivismus auf die erkennende Subjek-
tivität als Urstätte aller objektiven Sinnbildungen und Seinsgeltun-
gen zurückgeht und es unternimmt, die seiende Welt als Sinn- und
Geltungsgebilde zu verstehen und auf diese Weise eine wesentlich
neue Art der Wissenschaftlichkeit und der Philosophie auf die Bahn
zu bringen“.18
Diesen mit den Ideen I erreichten transzendental-idealistischen
Standpunkt hat Husserl nicht mehr aufgegeben. So betrachtet läßt
sich Husserls Thematisierung und das heißt Reduktion auf die
Lebenswelt „als eine Vertiefung seiner Bestimmung der natürli-
chen Einstellung in den ‚Ideen‘ auffassen“.19 Zunächst dachte Hus-
serl noch, er habe mittels der Ausschaltung der Generalthesis der
natürlichen Einstellung, also der Einklammerung des universalen
Seinsglaubens und damit verbunden der Ausschaltung der weltli-
chen Erkenntnisobjekte, die Sphäre reiner Subjektivität aufgewie-
sen. Doch mit der Entdeckung der Horizontintentionalität wird
ihm klar, daß die Ausschaltung der Generalthesis und ihrer Wirk-
lichkeitssetzungen selbst noch hinterfangen bleibt vom In-Geltung-
lassen des Weltglaubens. Dies zeigt sich unter anderem darin, wie
Husserl in Formale und transzendentale Logik ausführt, daß das
„ganze tägliche Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft auf
eine typische Gleichartigkeit der Situationen bezogen ist, derart, daß
jeder, der in die Situation eintritt, als normaler Mensch eo ipso die ihr
zugehörigen und allgemeinsamen Situationshorizonte hat. Man kann
diese Horizonte nachträglich explizieren, aber die konstituierende
Horizontintentionalität, durch die die Umwelt des täglichen Lebens

18
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 102.
19
Ernst Wolfgang Orth, Phänomenologie der Vernunft zwischen Szientis-
mus, Lebenswelt und Intersubjektivität, in: Ernst Wolfgang Orth (Hrsg.),
Profile der Phänomenologie. Zum 50. Todestag von Edmund Husserl (Phä-
nomenologische Forschungen 22), Freiburg/München 1969, 63–87, hier 80.
142 Hans-Helmuth Gander

überhaupt Erfahrungswelt ist, ist immer früher als die Auslegung des
Reflektierenden“.20 So gesehen bleibt auch der Transzendentalphä-
nomenologe im Vollzug der Reduktion auf das reine Bewußtseins-
leben als konstitutiver Subjektivität einbehalten in den vorgängigen
universalen Welthorizont. Dieser umspannt das gesamte intentionale
Leben und ist als dieser Weltboden nicht außer Geltung zu setzen.
Zu Husserls Grundeinsichten gehört daher, daß „jede weltliche
Gegebenheit Gegebenheit ist im Wie eines Horizontes, daß in Hori-
zonten weitere Horizonte impliziert sind und schließlich jedwedes
als weltlich Gegebene den Welthorizont mit sich führt und nur
dadurch als weltlich bewußt wird“.21 Das Wie der Vorgegebenheit
der Welt wird damit zum phänomenologischen Universalproblem.
Genauer besehen wandelt sich für Husserl das Weltproblem, wie
Eugen Fink betont, in die „Frage nach dem Wesen der transzen-
dentalen Subjektivität, für die letztlich die ‚Welt‘ gilt, und in deren
sich zur Einheit einer universalen Apperzeption gestaltendem Leben
der Weltglauben mit seinem Seinssinn Welt in ständigem Gesche-
hen ist“.22 Wenn Husserl somit das Problem des Seins der Welt
transponiert in den „Relator ‚Vorgegebenheit für ein Subjekt‘“,23
so wird Welt hier der Reduktion auf ein subjekt-unabhängiges An-
sich-sein entzogen. Und aufgrund der intentionalen Verfaßtheit des
Bewußtseins wird Welt zugleich davor bewahrt, lediglich als ein
rein bewußtseinsimmanentes Phänomen zu gelten. Genauer bese-
hen erweist sich, mit Eugen Fink gesprochen, als das „wahre Thema
der Phänomenologie […] weder die Welt einerseits, noch eine ihr
gegenüberzustellende transzendentale Subjektivität andererseits,
sondern das Werden der Welt in der Konstitution der transzenden-
talen Subjektivität“.24
So betrachtet reduziert sich, wie Husserl in den Vorlesungen Erste
Philosophie ausführt, „die reale Welt auf ein Universum von inten-
tionalen Korrelaten von wirklichen und möglichen intentionalen
Erlebnissen meines transzendentalen Ich und ist von diesen als Kor-

20
Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kri-
tik der logischen Vernunft, Husserliana XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den
Haag 1974, 207.
21
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 267.
22
Eugen Fink, Studien zur Phänomenologie 1930–1939 (Phaenomenologica
21), Den Haag 1966, 120.
23
Welter, Der Begriff der Lebenswelt, 57.
24
Fink, Studien zur Phänomenologie 1930–1939, 139.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 143

relat untrennbar“.25 Von daher ist nach Husserl das Subjekt „immer
bei sich selbst, nämlich im abgeschlossenen Kreis seiner eigenen
transzendentalen Subjektivität“.26 Es ist dies im Sinne einer Latenz
immer auch bereits in der natürlichen Einstellung, „wenn es die Welt
erfährt und als Weltkind ihr hingeben ist“.27 Für die explizit „tran-
szendentale […] Einsicht in den subjektiven Grund des Seinssinnes
der Welt“28 ist es daher erforderlich, daß sich das Welt erkennende
Bewußtsein in seiner konstituierenden Leistung als extramundane
transzendentale Subjektivität erkennt. Dies gelingt, wie Husserl
in einer komplexen Operation zeigt, mittels der transzendentalen
Epoché, die die letztfungierende transzendentale Subjektivität rein
als sie selbst in den Blick bringt.
Diese Sphäre letztfungierender transzendentaler Subjektivität
läßt sich als eine solipsistische Sphäre kennzeichnen. Husserl selbst
charakterisiert die transzendentale Phänomenologie als „transzen-
dentale Egologie“.29 Das im Durchgang durch die transzendentale
Reduktion aufgewiesene transzendental reine Ich ist für Husserl
durch „eine einzigartige philosophische Einsamkeit [ausgezeichnet],
die das methodische Grunderfordernis ist für eine wirklich radikale
Philosophie“.30 Daß „alles, was für mich ist, seinen Seinssinn aus-
schließlich aus mir selbst, aus meiner Bewußtseinssphäre schöpfen
kann“,31 dieser Grundsatz behält für Husserl auch im Horizont der
Intersubjektivitätstheorie seine fundamentale Geltung.
In Formale und transzendentale Logik heißt es: „Zuerst und
allem Erdenklichen voran bin Ich. Dieses ‚Ich bin‘ ist für mich […]
der intentionale Urgrund für meine Welt, wobei ich nicht überse-
hen darf, daß auch die ‚objektive‘ Welt, die ‚Welt für uns alle‘ als

25
Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil. Theorie
der phänomenologischen Reduktion, Husserliana VIII, hrsg. von Rudolf
Boehm, Den Haag 1959, 180.
26
Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil, Husserliana VIII, 180.
27
Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil, Husserliana VIII, 180.
28
Janssen, Edmund Husserl, 144.
29
Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil, Husserliana VIII, 174. Vgl. „Als
Phänomenologe bin ich notwendig Solipsist, obschon nicht im gewöhnli-
chen, lächerlichen Sinn, der in natürlicher Einstellung wurzelt, aber eben
doch im transzendentalen.“ (Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil, Hus-
serliana VIII, 174).
30
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
187–188.
31
Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, hrsg. und
eingeleitet von Stephan Strasser, Den Haag 1950, 176.
144 Hans-Helmuth Gander

mir in diesem Sinne geltende, ‚meine‘ Welt ist“.32 Mit der „Welt für
uns alle“ ist bei Husserl hier die transzendentale Vergemeinschaf-
tung des Ich angesprochen, in der ich mich als vom Anderen kon-
stitutiert erfahre. Dieses Konstituiertsein betrifft jedoch nur mich
als vergemeinschaftetes Ich, nicht aber das im Durchgang durch
die phänomenologische Reduktion aufgewiesene transzendentale
Ich, das Husserl in Cartesianische Meditationen als „solus ipse“33
auszeichnet. Mit anderen Worten: auch dadurch, daß die Anderen
und mithin die objektive Welt als transzendentale Phänomene mei-
ner Eigenheitssphäre aufgewiesen werden, bleibt im Entwurf seiner
eigenen Monadologie die Egologie, wie Husserl selbst sagt, „eine
solipsistische Phänomenologie“.34 Bereits 1928 hat Theodor Celms
darauf hingewiesen, daß sich für Husserl Subjektivität zwar nur
als Intersubjektivität realisiert, Husserl aber den Solipsismus nicht
wirklich vermeiden kann. Vielmehr etabliert Husserl in der Mona-
dengemeinschaft das Modell eines „pluralistischen Solipsismus“.35
Das heißt, die ‚einzigartige philosophische Einsamkeit‘, von der
Husserl spricht, universalisiert sich zur Einsamkeit innerhalb einer
transzendentalen Monadengemeinschaft.
Die im Monadenmodell aufscheinende Nähe zu Leibniz verdeut-
licht sich bei Husserl, wenn man sich den Grundgedanken von Leib-
niz vergegenwärtigt. Das bedeutet, daß für Leibniz in der Vielzahl der
gegebenen einfachen Substanzen mit dieser Vielheit eine ebensolche
an verschiedenen Welten gesetzt ist, die selbst jedoch nichts ande-
res sind als perspektivische Ansichten einer einzigen. Das aber heißt
doch, daß in diesem Ansatz von Perspektivität sich die Möglichkeit
der Ansicht von etwas zwar entsprechend der jeweiligen Betrach-
tungshinsicht perspektivisch vervielfacht, aber nicht, wie etwa bei
Nietzsche, perspektivisch auflöst. Für Leibniz wäre eine Auflösung
auch gar nicht möglich, sofern es eine ontologisch fundierte tragende
Ordnung im Sinne einer prästabilierten Harmonie gibt.
Eine solche erfahrungsungebundene Ordnung, wie wir sie bei
Leibniz noch konstatiert finden, ist jedoch nach Kant, und also auch
für Husserl, nicht mehr annehmbar. Von daher liegt bei Husserl die
32
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 243–244.
33
Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserli­ana
I, 12.
34
Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil, Husserliana VIII, 176.
35
Theodor Celms, Der phänomenologische Idealismus Husserls und ande-
re Schriften 1928–1943 (Philosophie und Geschichte der Wissenschaft 21),
hrsg. von Juris Rozenvalds, Frankfurt am Main u. a. 1993, 168.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 145

Pointe im Gedanken der transzendentalen Vergemeinschaftung der


Monaden darin, plausibel zu machen, wie sich die Subjekte in einer
für sie objektiven und darin identischen Welt halten und zueinan-
der verhalten. Eine Lösung für die damit verbundene Aufgabe, eine
symmetrische Beziehung zwischen Ego und Alter ego aufzuweisen,
versucht Husserl bekanntlich mit der phänomenologischen Opera-
tion der verähnlichenden Appräsentation.
Mit Blick auf die mögliche Erfahrung der Anderen notiert Hus-
serl 1931: „So sind denn überhaupt dem menschlichen Sich-verste-
hen nur zu empfindliche Grenzen gesetzt“.36 Der offene Horizont,
in dem ein anderer Mensch in seiner personalen Innerlichkeit ver-
standen ist, hat in sich einen Horizont des in Zukunft Verstehbaren
und einen Horizont des Unverständlichen. So gesehen ist, was die
transzendentale Intersubjektivität betrifft, für Husserl das phäno-
menologische Ideal anschaulicher Selbstgegebenheit nicht mehr
einzulösen. Hier ist vielmehr lediglich, wie Husserl es nennt, „die
auslegende Konstruktion“37 möglich.38
Als phänomenologischer Zuschauer, der in der transzendentalen
Reflexion erblickt, worin die Seinsweise des welthaft Seienden und
seiner selbst gründet, gewinnt das phänomenologisch reflektierende
Ich diese Erkenntnis aber einzig als das mundane Ich, das es in der

36
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter
Teil 1929–1935, Husserliana XV, eingeleitet und hrsg. von Iso Kern, Den
Haag 1973, 384.
37
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil 1929–
1935, Husserliana XV, 384.
38
In einer Notiz von 1931 heißt es: „Aber ich, in transzendentale Einstel-
lung eintretend und die auslegende Konstruktion der transzendentalen In-
tersubjektivität vollziehend, erkenne die von meinem horizonthaften Sein
erschliessbaren Horizonte meines eigenen Seins und als darin beschlossen
alles für mich erdenklichen Seins und darin auch die horizonthaften Mög-
lichkeiten der bekannten Anderen und die in den unbekannten beschlosse-
nen Möglichkeiten […], also die Implikation der Anderen in mir und die
wechselseitige der koexistenten Anderen in der Weise, wie sie zu verstehen
ist in der Endlichkeit und Subjektivität ihrer Zugänglichkeit.“ (Husserl, Zur
Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil 1929–1935, Husserliana
XV, 384) In der Krisis spricht Husserl von der durch die Phänomenologie
„systematisch zu entfaltenden Einheit der Intentionalität in wechselseitiger
Implikation der Lebensströme der einzelnen Subjekte; was in der naiven
Positivität oder Objektivität ein Außereinander ist, ist von innen gesehen
ein intentionales Ineinander.“ (Husserl, Die Krisis der europäischen Wissen-
schaften, Husserliana VI, 260).
146 Hans-Helmuth Gander

Welt lebend ist. Nun wird diese Welt ihrerseits jedoch im transzen-
dentalen Bewußtsein allererst konstituiert. Husserl selbst erkennt
hierin eine nicht aufzulösende und von ihm so auch angesprochene
„Paradoxie“.39 In ihrer faktischen Notwendigkeit muß diese Para-
doxie daher als Voraussetzung für eine transzendentale Selbsterfas-
sung erkannt werden. Der phänomenologische Zuschauer darf also
nicht als weltenthobenes Subjekt betrachtet werden. Denn das in
natürlicher Einstellung naiv vollzogene Weltleben ist für die tran­
szendentale Reflexion der unhintergehbare Ausgangspunkt. Weil
dies so ist, ist der Rückgang auf die Lebenswelt nicht nur im Blick auf
den die Lebensbedeutsamkeit verfehlenden Objektivismus, sondern
ebenso für Husserls Entwurf einer transzendentalen Phänomeno­
logie unverzichtbar.
Die im natürlichen Weltleben erfahrene Lebenswelt ist „als erste
elementarste Form tatsächlicher subjektiv-intentionaler Orientie-
rung […] eine kulturelle und anthropologische Tatsächlichkeit“.40
Ihre Analyse – und damit komme ich zum nächsten Schritt meiner
Untersuchung – bestimmt Husserl als Aufgabe einer lebensweltli-
chen Ontologie. In der Krisis-Schrift heißt es dazu, daß die Lebens-
welt „ohne alles transzendentale Interesse, also in der ‚natürlichen
Einstellung‘ (transzendentalphilosophisch gesprochen: der naiven
vor der Epoché), zum Thema einer eigenen Wissenschaft – einer
Ontologie der Lebenswelt rein als Erfahrungswelt […] werden“41
kann.
Für Husserl, dem die Erfahrungswelt die „in wirklicher und
möglicher erfahrenden Anschauung einheitlich und konsequent ein-
stimmig anschaubare […] Welt“42 ist, hat die Lebenswelt in all ihren
Relativitäten einzig als Wahrnehmung „ihre allgemeine Struktur, an
die alles relativ Seiende gebunden ist“.43 Da diese selbst nicht mehr
relativ ist, schreibt sie damit verbindlich die Ordnung der Welt als
raum-zeitliche fest. Darin aber erweist sich die Lebenswelt für Hus-
serl, und zwar ungeachtet aller konkreten soziokulturellen Unter-
schiede, als ein und dieselbe für alle Menschen. Das heißt, es gibt
mit der kategorialen Ordnung von Raum und Zeit, wie Husserl es
39
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Dritter Teil 1929–
1935, Husserliana XV, 438.
40
Orth, Phänomenologie der Vernunft zwischen Szientismus, Lebenswelt
und Intersubjektivität, 81.
41
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 176.
42
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 176.
43
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 142.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 147

am konkreten Beispiel klar macht, für den chinesischen Bauern wie


für den indischen Hindu oder auch den europäischen Lehrer einen
für alle gemeinsamen Nenner der Welthabe. Hinter dieser Annahme
steht Husserls Ansetzung der Wahrnehmung als „Urmodus der
Anschauung“,44 die uns die Gegenstände „in Uroriginalität, das ist
im Modus der Selbstgegenwart“45 darstellt. Damit stützt Husserl
seine Annahme, daß jedem Menschen anschauungsmäßig die Dinge
als selbig, das heißt sinnlich erfahrbar in raum-zeitlicher Körper-
lichkeit gegeben sind, wenn auch in unterschiedlichsten Modi und
Perspektivierungen.
Was sich Husserl für die damit erzielte Universalisierung einhan-
delt, zahlt nach Ansicht seiner Kritiker allerdings den Preis, sowohl
die konkrete Wahrnehmungswelt als auch den Erfahrungsbegriff
unterbestimmt zu lassen. Im husserlschen Ansatz wird demnach nicht
berücksichtigt, daß im Vergleich zum Gegebenen unsere Erfahrun-
gen von ihm durchaus differieren. Das in der Erfahrung Differente
meint dabei nicht bloß empirisch Variables. Denn diese Erfahrungen
von Differentem können ja auch als konkurrierende Sinn- und Struk-
turbildungen aufgefaßt werden. Und nur als solche konkurrieren-
den Sinnbildungen eröffnen sie uns die produktive Möglichkeit zur
Überschreitung und Neustrukturierung unserer tradierten internen
Bezugssysteme. Was damit gemeint ist, deutet Waldenfels in seinen
Bemerkungen zu einer „konkreten Wahrnehmungstheorie“46 an.
Im Sinne einer solchen konkreten Lebenswelttheorie zeigt sich, daß
gerade die raumzeitliche Körperwelt, die Husserl der Relativität zu
entziehen meint, bereits in der für Husserl paradigmatischen Ding­
erfahrung ihre vermeintlich sichere Grundlage verliert. Wenn man
z. B. an Erscheinungen des Animismus denkt, so zeigt sich rasch,
daß hier in der Frage der Unterscheidung von ‚leblos‘ und ‚leben-
dig‘ Husserls Dingkonstanzannahme nicht zutrifft. Ein Wald kann
aus der Sicht eines europäischen Menschen einen Holzvorrat dar-
stellen, den man zum Befeuern von Heizungsanlagen oder auch für
die Herstellung von Möbeln verwenden kann. Für Angehörige einer
animistischen Naturreligion kann der in der Wahrnehmung selbige
Wald aber ein Ahnenhain sein. Als ein weiteres Beispiel ließe sich
anführen, daß auch die Körpererfahrung in ein Netz verschiedener

44
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 107.
45
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 107.
46
Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 25.
148 Hans-Helmuth Gander

kultureller Deutungen eingelassen ist. Davon liefern die Geschichte


der Medizin, der Kunst oder auch der Mode anschauliche Beispiele.
Im Blick auf Untersuchungen unter anderem von Goldstein,
Merleau-Ponty oder Goffman zeigt sich, daß auch die Raumerfah-
rung des Menschen nicht von einer eindeutigen Konstanzannahme
getragen ist. Vielmehr erweist sie sich abhängig von konkreter
Raumorientierung oder auch davon, ob es sich um offene oder
geschlossene Räume handelt. So ist unsere konkrete Raumerfahrung
unter anderem auch davon abhängig, wie sich soziale Ordnungen in
Formationen der Raumanordnung spiegeln. Ein anschauliches Bei-
spiel bieten Theaterräume mit dem sie bestimmenden binären Code
von Akteur und Publikum, so daß die Möglichkeitsbedingungen der
Aufführungspraxis über die räumlichen Anordnungsverhältnisse
formuliert werden. Ein ähnlich differierendes Spektrum findet sich
auch hinsichtlich der lebensweltlichen Zeiterfahrung. Sie prägt sich
in unterschiedlichen Rhythmen wie Eß-, Schlaf- und Arbeitspha-
sen aus. Auch in der Annahme von linearen und zyklischen Zeit-
schemata tritt die lebensweltliche Zeiterfahrung unterschiedlich auf,
etwa hinsichtlich der Bedeutung des Wechsels der Jahreszeiten für
die Arbeit in der Landwirtschaft im Vergleich zur 24-Stunden-Aus-
lastung von Maschinen in der industriellen Produktion und deren
Lebensanpassungen im Beruf.
Auch wenn man zugibt, daß ein Wahrgenommenes immer ein
raum-zeitlich situiertes Objekt ist, ließe sich an Husserls Adresse
gerichtet kritisch fragen, ob dies bedeutet, daß uns das Ding primär
als Raum-Zeit-Körper begegnet, auf den sich dann die unterschied-
lichen höherstufigen Bedeutungsschichten aufbauen und aus denen
heraus sich unsere Erkenntnis des Gegenstandes bildet? Husserl
selbst scheint dies nahe zu legen, wenn er in den Ideen II betont: „Es
genügt nicht, diesen Tisch zu sehen und einen wahrnehmenden Blick
darauf zu werfen […]. Vielmehr ist es notwendig, wahrnehmend,
erfahrend dem wahrnehmungsmäßig Vermeinten nachzugehen, [so
daß] der wahrgenommene Gegenstand […] zeigt, […] was zu seinem
Wesen gehört“.47

47
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchun-
gen zur Konstitution, Husserliana IV, hrsg. von Marly Biemel, Den Haag
1952, 34.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 149

2.

Im Blick auf diese Probleme der Dingwahrnehmung – und damit


komme ich zum zweiten Teil meiner Überlegungen – hat der frühe
Heid­eg­ger bereits deutliche Kritik angemeldet. So hat er darauf
hingewiesen, daß ein natürlich immer auch raum-zeitlich situiertes
Ding, wie z. B. ein Bleistift in meiner Hand, mir darin nicht primär
als Raum-Zeit-Körper begegnet. Vielmehr erweist sich der Bleistift
als ein Ding, das für die Erfassung seiner Seinsart primär aus seinem
Gebrauch, seiner Dienlichkeit her bestimmt werden muß. Heid­eg­
gers Kritik am Primat einer fundierenden Wahrnehmung führt ihn
dann zu einer Neuformulierung des Lebensweltbegriffes, der darin
zugleich die Umbildung der husserlschen Phänomenologie zu einer
hermeneutischen Phänomenologie initiiert.
Was es damit auf sich hat, läßt sich anschaulich zeigen, wenn man
Heid­eg­gers im Sommer 1919 formulierte Analyse des Umwelterleb-
nisses näher betrachtet. Das Beispiel, das Heid­eg­ger wählt, ist das
beim Betreten eines Hörsaals erblickte Katheder. Seine die Analyse
einleitende Ausgangsfrage lautet: „Was sehe ‚ich‘?“48 Von Beginn an
wehrt Heid­eg­ger entschieden die Auffassung eines wahrnehmungs-
theoretisch explizierbaren Fundierungszusammenhanges ab, „als
sähe ich zuerst braune, sich schneidende Flächen, die sich mir dann
als Kiste, dann als Pult, weiterhin als akademisches Sprechpult, als
Katheder gäben, so daß ich das Kathederhafte gleichsam der Kiste
aufklebte wie ein Etikett“.49 Für Heid­eg­ger ist das mißdeutende
Interpretation. Positiv bestimmt sich für ihn hingegen das Erlebnis
so: „Ich sehe das Katheder gleichsam in einem Schlag; ich sehe es
nicht nur isoliert, ich sehe das Pult als für mich zu hoch gestellt […],
ich sehe das Katheder in einer Orientierung, Beleuchtung, einem
Hintergrund“.50 Das Beispiel präludiert in Struktur und Gehalt
deutlich der aus Sein und Zeit bekannten Analyse der Umweltlich-
keit. Das heißt, es macht klar, daß mir Umweltliches nicht für sich
gegeben ist, sondern einzig in seiner Bedeutsamkeit für mich. Ich bin
im Kathedersehen, wie Heid­eg­ger betont, „mit meinem vollen Ich
dabei“.51 Mit dem Ereignischarakter unterstreicht er folglich, daß das
Umweltliche in bezug auf sein Erleben die „genuine Selbstauswei-

48
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 71.
49
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 71.
50
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 71.
51
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 75.
150 Hans-Helmuth Gander

sung in sich selbst“52 hat. Denn im Erleben offenbart sich mir sein
Bedeutungscharakter unmittelbar und gleichsam in einem Schlage.
Das im Kontext des Kathedersehens angesprochene Als nennt
Heid­eg­ger an anderer Stelle bezeichnenderweise „das ‚Als‘ der
Bedeutsamkeit“.53 Dieses Als der Bedeutsamkeit ist ein, wie er sagt,
„notwendig immer situationsentwachsenes historisches“.54 Das so
bestimmte Strukturmoment bezeichnet in diesen frühen Vorlesun-
gen nichts anderes als jenes bekannte hermeneutische Als, das in
Sein und Zeit im Unterschied zum apophantischen Als von Heid­eg­
ger als Konstituens der fundamentalen vortheoretischen Seinsweise
der Auslegung, in der sich der Mensch ja beständig bewegt, zum
Aufweis gebracht wird. Entscheidend ist für Heid­eg­ger hierbei, daß
jegliches vorprädikative schlichte Sehen von Dingen selbst immer
schon verstehend-auslegend ist. Daß und wie vom Auslegenden her
das Auszulegende in seinen Verweisungsbezügen vorverstanden sein
muß, um sich in seiner Dienlichkeit zu erschließen, präzisiert der
frühe Heid­eg­ger im gewählten Beispiel des Kathedersehens mit dem
Mittel einer Selbstanfrage. In ihrem Gefolge wird das umweltlich
erlebende Ich in den sein auslegendes Verstehen allererst konstitu-
ierenden Möglichkeiten offengelegt. Heid­eg­ger fragt sich, ob dieses
‚Erfassen des Katheders in einem Schlag‘ nur unter der Voraussetzung
einer Teilhabe an der eigenen akademischen Lebensform möglich ist.
Den Einwand stützt er durch den Hinweis auf einen Schwarzwald-
bauern, der den Hörsaal betreten könnte, ohne zu wissen, daß dies
da ein Katheder ist bzw. so heißt. Heid­eg­ger verschärft den Blick-
winkel noch, indem er einen Senegalesen assoziiert, der unversehens
aus seiner Hütte in den Hörsaal versetzt, dem Katheder in völliger
Unkenntnis seiner Dienlichkeit gegenüberstünde.
Bei diesen Beispielen geht es Heid­eg­ger darum, zu zeigen, daß
auch eine mangelnde oder gar fehlende Vertrautheit mit dem aka-
demischen Lebenszusammenhang nicht dazu führt, daß anstelle
des Katheders einzig Farbkomplexe und Flächen gesehen werden.
Denn auch der Schwarzwaldbauer sieht nach Heid­eg­ger den vor ihm
befindlichen „Gegenstand als mit einer Bedeutung behaftet“.55 Er
sieht nämlich, wie Heid­eg­ger betont, „den Platz für den Lehrer“.56

52
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 91.
53
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 114.
54
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 114.
55
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 71.
56
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 71.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 151

Und auch der hier von Heid­eg­ger als Beispiel des Exotisch-Fremden
zitierte Senegalese sieht das Katheder entsprechend der apriorisch
existenzialen Auslegung nicht als bloßes Etwas, sondern aller Wahr-
scheinlichkeit nach „als ein Etwas, ‚mit dem er nichts anzufangen
weiß‘“.57 Das aber heißt, daß so individuell und sogar grundverschie-
den das auffassende Sehen von so etwas wie einem Katheder ausfal-
len mag, so eignet doch dem umweltlichen Erleben immer schon
ein „bedeutungshaftes Moment“.58 Wichtig zu beachten ist, daß
dieses ‚bedeutungshafte Moment‘ nicht als ein dem erstgegebenen
Gegenstand zusätzlich aufgelagerter Bedeutungscharakter begriffen
werden darf.
Von hier aus formuliert Heid­eg­ger die Grundeinsicht, daß das
„Bedeutungshafte des ‚zeuglichen Fremdseins‘ und das Bedeutungs-
hafte ‚Katheder‘ […] ihrem Wesenskern nach absolut identisch“59
sind. Das dergestalt identisch Bedeutungshafte hat seinen Wesens-
kern im Potential seiner das Umweltliche konstituierenden Bedeut-
samkeit. Bedeutsamkeit ist demnach die formale Struktur allen
umweltlichen Erlebens. Da Bedeutsamkeit immer Bedeutsamkeit
von etwas Bedeutsamem für jemanden ist, gibt sie sich im Bezug
auf den umweltlich Erlebenden entweder wie im Beispiel des Kathe-
ders für den Professor erschlossen oder im Blick auf den Senegale-
sen verschlossen. Damit kommt ein weiterer entscheidender Aspekt
zum Tragen. Denn im Aufweis des unterschiedlich gearteten bedeu-
tungshaften Momentes konturiert sich als erkenntnisfundierender
wie verhaltensregulierender Aspekt jetzt die Differenz der Bedeut-
samkeit als Unterschied der Lebenswelten. In diesem Sinne ist also
die Lebenswelt in sich immer schon zugleich plural und kontingent
verfaßt und als diese kulturelle Sinnbezugsvielfalt durch und durch
historisch bestimmt. Dabei ist es die jeweils konkrete Lebenswirk-
lichkeit, die in ihrer Bedeutsamkeit die Sinnerschlossenheit des
jeweiligen Umwelterlebens konstituiert.
Auf der Ebene des Beispieles heißt das, daß der Senegalese aus
seinem eigenen nichtwissenschaftlich geprägten geschichtlichen
Erfahrungshorizont heraus, innerhalb dessen sich seine Deutungs-
kategorien ausbilden, wesensmäßig das Katheder nicht als ein sol-
ches zu begreifen vermag. Die wissenschaftliche Lebenswelt bleibt
auf der Ebene des gewählten Beispiels in ihren Bedeutungszu-

57
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 72.
58
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 72.
59
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 72.
152 Hans-Helmuth Gander

sammenhängen für ihn unentdeckt und in ihrer Unzugänglichkeit


fremd. Die angesprochene Entdeckbarkeit charakterisiert zugleich
auch den qualitativen Unterschied in der Lage des Senegalesen und
des Schwarzwaldbauern. Denn der individuell konkrete lebenswelt-
liche Erfahrungsbezug des Schwarzwaldbauern ist zwar auch nicht-
wissenschaftlich. Aber die konkrete lebensweltliche Erfahrung des
Schwarzwaldbauern ist situiert innerhalb des ihn individuell über-
steigenden kulturell historischen Horizontes, dem als europäische
Kultur auch die wissenschaftliche Lebensform angehört. Dieser kul-
turell historisch selbige Horizont eröffnet dem Schwarzwaldbauern
dann aber die Möglichkeit, im Sehen des Katheders das bedeutungs-
hafte Moment ‚Platz für den Lehrer‘ als Sinnbezug zu enthüllen. So
könnte das Anordnungsverhältnis von Pult und Bänken den Bauern
an das Klassenzimmer seiner Schulzeit erinnern, in dem das, was
gelehrt wird, vom Pult aus der Schulklasse verkündet wird.
In seinem Beispiel hat Heid­eg­ger die Fremdheitserfahrung des
Schwarzwaldbauern oder des Senegalesen beim Betreten des Hör-
saales in betontem Sinne an eine Ortsverlagerung geknüpft. Ihr
lebensphänomenologisches Gewicht erhält sie allerdings dadurch,
daß hier die Ortsverlagerung genauer als Differenzerfahrung inter-
pretiert werden muß. Der dabei verwendete Begriff von Erfahrung
bezeichnet mit Wilhelm Diltheys Worten jenen Vorgang, „durch
welchen ein Wirkliches dem Bewußtsein aufgeht“.60 Ihrer Struktur
nach ist Erfahrung ein offenes Geschehen. Einzig auf diese Weise
kann einen die Erfahrung dann auch etwas lehren. Und was sie
lehrt, ist die Anerkennung des Wirklichen im faktischen Daß seines
Wie. Hermeneutisch betrachtet ist das die Anerkennung der in der
Differenz der Bedeutsamkeiten sich ereignenden Pluralität der von
Grund auf pluralisierten Lebenswelt. Daß das Differentielle der Welt
nicht bloß ontische Vielfalt ist, vielmehr die ontologische Struktur
der Lebenswelt auszeichnet und damit den traditionellen Begriff von
Welt als die Ganzheit des Seienden überwindet, zählt zu den ent-
scheidenden und seinen weiteren Denkweg bestimmenden Einsich-
ten der heid­eg­gerschen Analyse des Umwelterlebnisses.

60
Wilhelm Dilthey, Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der
Gesellschaft und der Geschichte, Ausarbeitung und Entwürfe zum zweiten
Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1870–1895), Gesammelte
Schriften (im folgenden: GS), Band XIX, hrsg. von Helmut Johach und Frith-
jof Rodi, Göttingen 1982, 23.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 153

Zusammenfassend erweist sich der Als-Bezug in der konkreten


hermeneutischen Situation, etwa des Kathedersehens in seinem
Lebensweltbezug, vorbestimmt durch die historisch kulturelle
Konstellation. Konkret heißt das, daß etwas als Bedeutsames für
mich nur verstanden wird, sofern mein es ‚als etwas Sehen‘ gelei-
tet wird von einem vorgängigen Verständnis des ihm zugehörigen
Verweisungszusammenhanges. Dieser zieht jenen lebensweltli-
chen Horizont aus, in dem ich mich verstehend auslegend zu dem
umweltlich Begegnenden verhalte. Damit wird die Welthaftigkeit
des Umweltlichen und mithin die genuine Selbstausweisung in der
Bedeutsamkeit konstitutiv an das sie erlebende Ich rückgebunden.
Und dies geschieht in der Weise, daß sich mir die Möglichkeit der
Sinnerschließung des apriori bedeutungshaften Etwas als bedeut-
sam für mich erschließt. Das aber geschieht nur, wenn ich das Etwas
als zugehörig zu meiner lebensweltlichen Situation, aus der heraus
sich mir meine Verstehensmöglichkeiten vorzeichnen, identifizieren
kann. Darin zeigt sich zugleich ein der Situation inhärenter Auf-
forderungscharakter. Verstanden habe ich nämlich eine Situation
nur, wenn ich die situativen Gegebenheiten so in meine Kompetenz
integrieren kann, daß ich darin die erkenntnis- wie handlungsrele-
vanten Erfordernisse der Situation erfülle. Von daher entfaltet sich
der Sinn des Ausdrucks ‚Selbst‘ in und als die Weise des Verhaltens.
Der Blick richtet sich bei Heid­eg­ger darauf, daß ich mir selbst in der
Lebenswelt aus jenen Bezügen heraus begegne, in denen ich zumeist
sogar unausdrücklich lebe. In der Regel gebe ich mich in ihnen dabei
jeweils mit zu Besorgendem ab. So gesehen begegne ich mir primär in
bzw. aus meiner Umwelt, aber auch, da ich sie zumeist koexistenziell
mit Anderen teile, in bzw. aus meiner Mitwelt. Mit anderen Worten
lebe ich in einer Welt, die als Um- und Mitwelt ihre charakteristische
Bedeutsamkeit von meinem Selbst her gewinnt. Dieses strukturell
zu fassende ‚von meinem Selbst her‘ zeitigt sich für Heid­eg­ger aber
nicht erst mittels eines reflexiven Aktes. Vielmehr ist aller Reflexion
zuvor unser Welt- als Selbstverhältnis konstituiert, und folglich ist
unser Selbstverhältnis ursprünglich Weltverhältnis.
Die programmatische Antwort, die Heid­eg­ger daher auf die
gestellte Frage nach dem Sinn des Selbst im faktischen Lebensvollzug
gibt, lautet so gesehen stimmig: „Die Ausdrucksgestalt des Selbst ist
seine Situation. Ich habe mich selbst heißt: die lebendige Situation
wird verständlich“.61 Das aber bedeutet, daß das mit dem Etwas-

61
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 166.
154 Hans-Helmuth Gander

Verstehen verwobene konstitutive Moment des Sichverstehens


bestimmt ist als situationsadäquates sinnerschließendes Entwerfen
auf Möglichkeiten hin, die im Raum ihrer Verwirklichung wie im
Profil ihrer konkreten Erfordernis durch die faktische Situation der
Lebenswelt vorstrukuriert werden. Das damit gegenüber der Tra-
dition des ‚ich‘ nun ohne Objektivierung formulierte Phänomen
des Selbst artikuliert nach Heid­eg­ger „den Rhythmus des Erfahrens
selbst“.62 Das heißt, das Selbst ist einzig im „Ausdruck der Situation
gegenwärtig“.63 In diesem Sinne ist das historisch faktische Selbst für
Heid­eg­ger weder substantia noch ichlicher Wesenskern, sondern, wie
er es formuliert, „Funktion der ‚Lebenserfahrung‘“.64 Seine Konkre-
tion ist eben die selbstweltliche „Situation ohne Objektivierung“.65
Heid­eg­ger erläutert dies dahingehend, daß der Lebenserfahrungs-
zusammenhang „ein Zusammenhang von Situationen [ist], die sich
durchdringen“.66 Mit der Ansetzung des Selbst als Funktion der
Lebenserfahrung wird im prozessualen Verständnis die Idee des
Ich lebensweltlich kontextualisiert. Prägnant faßt Heid­eg­ger dies so
zusammen: „Das Selbst lebt in immer neuen und neu sich durch-
dringenden, für alle folgenden unverlierbaren Situationen“.67 Eine
solche Selbstweltsituation ist nach Heid­eg­ger darum auch „keine
ordnungsbestimmte Konfiguration von Dingelementen, sondern
Phänomen, Lebensgebilde, Lebenszusammenhang“.68
Die Nähe zu Diltheys hermeneutischem Grundbegriff des Lebens-
zusammenhanges ist hier deutlich zu erkennen. Sie beruht auf Heid­
eg­gers in diesen frühen Jahren positiver Würdigung der Diltheyschen
Lebensphilosophie als einer für ihn notwendigen Station auf dem
eigenen Weg. In dieser Nähe tritt aber zugleich auch schon Heid­eg­
gers eigenständige Transformationsleistung in den Blick. Denn für
Dilthey agiert das Selbst qua Zusammenhalt stiftende Einheit der
‚Kräfte des Seelischen‘ einzig in der Rolle eines Antriebs für die Ent-
wicklung und Entfaltung des Lebens- als Strukturzusammenhangs.
Allerdings bleibt die Zuwendung zu den „Lebensbeziehungen, in
denen sich dies Selbst findet“69 bei Dilthey in einer eher indifferenten

62
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 258.
63
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 258.
64
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 208.
65
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 258.
66
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 210.
67
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 62.
68
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 165.
69
Dilthey, Grundlegung der Wissenschaften, GS XIX, 349.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 155

Zuständlichkeit. Demgegenüber artikuliert für Heid­eg­ger die Situa-


tion als Ausdrucksphänomen gerade den Seinscharakter des Selbst.
Das aber heißt, daß im Sinne der frühen Ontologie der Faktizität
es für Heid­eg­ger so besehen weder sinnvoll noch möglich ist, von
einem Sein des Ich zu sprechen, das unabhängig davon ist, wie es
situativ gegeben ist. Deshalb bestimmt Heid­eg­ger dieses Ich explizit
als „Situations-Ich“.70
In diesem Sinne bestimmt sich das Ich in der vollzugsgeschicht-
lichen Funktion des Lebenszusammenhanges für Heid­eg­ger im
„faktischen […] Wie der bekümmerten [d. i. sorgenden] Selbstan-
eignung des Selbst“,71 d. h. in der kompetenten Situationsbewälti-
gung. Im Blick auf eine darin in verschiedenen Stufen sich steigernde
„Konzentration des Vollzugs“72 gewinnt dieser Prozeß der Selbst-
aneignung für Heid­eg­ger seine qualitativ höchste Verdichtung in
„der Spontaneität des lebendigen Selbst“.73 Der Anklang, der in
dem nicht näher von Heid­eg­ger erläuterten Begriff der Sponta-
neität hörbar wird, verweist seiner Tendenz nach auf eine Nähe
zu Bergsons These von der Spontaneität als Struktur der Freiheit,
ohne allerdings die bei Bergson damit verbundene metaphysische
Basis des élan vital mitzuaktivieren. Die Spontaneität als der, wie
Heid­eg­ger sagt, „Grundsinn des Vollzugs des Selbst in seinem
[faktisch historischen] Leben“,74 verleiht dem Sinn von Existenz
seine ursprüngliche Bedeutung. Ist das Selbst als Funktion der
Lebenserfahrung, wie gesehen, einzig in der Situation gegenwär-
tig, so erfährt in der vollzugsdominanten Spontaneität als Struk-
tur der Freiheit damit die Situation insofern eine Modifizierung
ihres Gehaltsinnes, als es nun für Heid­eg­ger „zur schöpferischen
Gestaltung der Lebenswelt“75 kommt. Sie setzt darin Weisen der
Selbstgestaltung frei, die ihrerseits zu einer gelingenden personalen
Identität beitragen können. In diesem gestalterischen Moment ist
eine Seinssinnstruktur angezeigt, die im Begriff der Spontaneität
einen Vorverweis erkennen läßt auf den in Sein und Zeit entfalteten
existenzialen Entwurf-Charakter des selbsteigenen und in diesem
Sinne eigentlichen Daseins. Damit hat Heid­eg­gers Hermeneutik

70
Heid­eg­ger, Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 208.
71
Heid­eg­ger, Wegmarken, GA 9, 35.
72
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 260.
73
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 261.
74
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 261.
75
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 261.
156 Hans-Helmuth Gander

des Selbst zugleich jenen Punkt aufgewiesen, von wo aus „der Sinn
der [geschichtlich kulturellen] Wirklichkeit in allen Schichten des
Lebens“76 verständlich wird.
Beim frühen Heid­eg­ger selbst findet sich über diese Anzeige hin-
aus allerdings keine weitere anthropologisch forcierte Analyse der
geschichtlich kulturellen Wirklichkeit als dem faktisch historischen
Gestaltungsraum der Selbstbestimmung des Menschen. Offen bleibt
demnach die Frage, in welcher Weise dieses Mich-selbst-haben kon-
kretisiert werden kann, um sich darin als gelingend identisches Selbst
zu gestalten. Um aber diese Frage beantworten zu können, wäre es
nötig, das in formal ontologischer Anzeige vergewisserte Situation-
sein des Menschen auf jene Entscheidungssituationen hin zu kon-
kretisieren, die im Ansatz darin die Situation als historisch kulturell
und im Sinne etwa von Charles Taylor auch als moralisch bestimmte
Dimension entwickeln.
Was bei Heid­eg­ger eigentümlich leer bleibt, gewinnt demgegen-
über bei Husserl eine klarere Kontur, wenn man seinen Kulturbe-
griff etwas näher betrachtet. Ausgang hierzu bietet die im ersten Teil
bereits exponierte Annahme Husserls, daß eine konkrete Lebens-
welt immer eine Kulturform ist. Mit anderen Worten erweist sich
Kultur als die Wirklichkeit des Menschen, in der er als interagie-
rendes Wesen mit Seinesgleichen zusammenlebt. Als europäische,
und das heißt für Husserl neuzeitlich wissenschaftlich technische
Kultur, ist diese Kultur in die Krise geraten. Europäisch in diesem
Sinne, also nicht geographisch zu nehmen, sondern im Sinne der
wissenschaftlich-technischen Kultur zu fassen, zeigt an, daß jene
kulturelle Entwicklung, die in Europa ihren Ausgang nahm, spä-
testens mit dem weltumspannenden Prozeß der Industrialisierung
zu einem globalen Ereignis geworden ist, in dem das geographische
Europa selbst nur noch eine Stimme unter vielen anderen darstellt.
Als Krise aber birgt sie für Husserl, wie es in den Kaizo-Artikeln
von 1924 heißt, zugleich in sich die Chance bzw. das Ziel zu einer
‚Erneuerung der Kultur‘ beizutragen. Kultur bestimmt Husserl als
„den Inbegriff der Leistungen, die in den fortlaufenden Tätigkeiten
vergemeinschafteter Menschen zustande kommen und die in der
Einheit des Gemeinschaftsbewußtseins und seiner forterhaltenden
Tradition ihr bleibendes geistiges Dasein haben“.77

76
Heid­eg­ger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 261.
77
Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937), Husserliana XXVII,
hrsg. von Thomas Neuon und Hans Rainer Sepp, Dordrecht 1989, 21.
Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger 157

Mit dem Begriff des geistigen Erbes deutet sich an, daß für Hus-
serl Kultur nicht allein der „Inbegriff anschaulicher und zugleich
immanent sinnhafter menschlicher Wirklichkeiten“78 ist. Vielmehr
begreift Husserl im Verweis auf das geistige Erbe Kultur noch in
einem zweiten Sinn und das heißt als „höchstes Norm- und Selbst-
Bewußtsein, in welchem die Kultur ihre eigene Wirklichkeit […]
auf den Begriff bringt.“79 In diesem Sinne heißt es im dritten Kaizo-
Artikel, daß „das handelnde Leben einer Gemeinschaft, einer gan-
zen Menschheit […] die Einheitsgestalt praktischer Vernunft, die
eines ‚ethischen‘ Lebens annehmen [kann]. Das aber in wirklicher
Analogie zum ethischen Einzelleben verstanden. Ebenso wie dieses
wäre es also ein Leben der ‚Erneuerung‘ aus dem eigenen Willen
heraus geboren, sich selbst zu einer echten Menschheit im Sinne
praktischer Vernunft, also ihre Kultur zu einer ‚echt humanen‘ Kul-
tur zu gestalten“.80 Dieses Kulturideal findet sich auch am Ende der
Krisis-Schrift formuliert, wenn Husserl mit Blick auf die „Unend-
lichkeit des Lebens und Strebens auf Vernunft“81 hin betont, daß
„Vernunft [als das Spezifische des Menschen als in personalen
Aktivitäten und Habitualitäten lebendes Wesen] gerade das besagt,
worauf der Mensch als Mensch in seinem Innersten hinaus will“.82
So betrachtet kann Husserl im Entwurf seiner Phänomenologie der
Lebenswelt hervorheben, daß „Menschsein ein Teleologischsein
und Sein-sollen ist und diese Teleologie in allem und jedem ichli-
chen Tun und Vorhaben waltet“.83 Was Husserl hier als ethisches
Ziel seiner Phänomenologie der Lebenswelt propagiert, ist, wie
er selbst sagt, die „Idee der Autonomie, [also die] Idee einer Wil-
lensentschiedenheit, sein gesamtes personales Leben zur syntheti-
schen Einheit eines Lebens in universaler Selbstverantwortlichkeit
zu gestalten“.84

78
Ernst Wolfgang Orth, Edmund Husserls ‚Krisis der europäischen Wis-
senschaften und die transzendentale Phänomenologie‘. Vernunft und Kultur,
Darmstadt 1999, 143.
79
Orth, Edmund Husserls ‚Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie‘, 143.
80
Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937), Husserliana XXVII, 22.
81
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 275.
82
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 275.
83
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
275–276.
84
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 272.
158 Hans-Helmuth Gander

Was von Husserl hier als Kulturideal formuliert wird, ist eine
Form von Lebenswelt höherer Stufe. Für diese gilt, daß in ihr
der Glaube an die Vernunft die Kultur prägt und bestimmt. Es ist
aber nicht eine lediglich szientifische Vernunft, eine technologisch
geprägte Rationalität, die hier intendiert ist. Denn der von Husserl
geforderte universale Glaube an die Vernunft hat sein Fundament
darin, daß die Kultur als höhere Stufe der Lebenswelt darum weiß,
daß ihr eigenes Telos nichts anderes als eben die Vernunft selbst ist,
die sich im konkreten Vollzug als universaler Vernunftglaube eta-
bliert und damit selbst in die Verantwortung für die Welt nimmt.
Wirksam entfalten kann sich diese Verantwortung, wenn der phä-
nomenologische Rückgang auf die Lebenswelt deren Lebensbedeut-
samkeit als notwendige Voraussetzung für eine höhere menschliche
Lebensform erschließt. Damit aber erschließt eine Phänomenologie
der Lebenswelt jenen moralischen Raum, in dem die philosophische
Selbstbesinnung aus der „Idee einer Willensentschiedenheit, sein
gesamtes personales Leben zur synthetischen Einheit eines Lebens
in universaler Selbstverantwortlichkeit zu gestalten“85 heraus, jenen
neuen Begriff von Vernunft ausarbeitet, der nach Husserl aus der
gegenwärtigen Krise herausführt. Für dieses Konzept einer lebens-
bedeutsamen Vernunft ließe sich, ohne daß dies hier nun noch weiter
ausgeführt werden könnte, auch Heid­eg­gers Entwurf einer herme-
neutischen Lebensweltphänomenologie öffnen, mindestens in dem
Bereich, den Heid­eg­gers frühe Vorlesungen als die Dimension einer
Hermeneutik der Faktizität erschließen.

85
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
272.
Mario Ruggenini
Die Zukunft der Phänomenologie
Zwischen der Sinngebung der Subjektivität
und dem Fragen nach der Wahrheit

1. Die „natürliche Einstellung“ und die Paradoxie der


Phänomenologie

Die Phänomenologie ist von der Grundüberzeugung geleitet, daß


man dem Programm, zu den Sachen selbst zu gelangen, nur dann
genügen könne, wenn das, was sich zunächst und zumeist nicht
zeigt, zum Sichzeigen gebracht werden kann: dasjenige, wofür die
natürliche Einstellung keine Augen hat, insofern sie von der unver-
meidbaren, bedrängenden Inständigkeit der Dingwelt, von ihrer
unanfechtbaren Wirklichkeit gefangen ist. Man kann eine auffällige
Verwandtschaft zwischen der husserlschen Phänomenologie des
„natürlichen Bewußtseins“, die in die Reduktionsproblematik ein-
leitet, und der heid­eg­gerschen Ausarbeitung des Themas der Seins-
vergessenheit und des Verfallens als eines existenzialen Phänomens
leicht anerkennen. „Das Dasein hat vielmehr gemäß einer zu ihm
gehörigen Seinsart die Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden
her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst
verhält, aus der ‚Welt‘.“1 Beide Positionen legen die Situation, von
der die phänomenologische Reflexion ausgeht, mindestens als eine
mangelhafte Lage aus, insofern das Bewußtsein sich selbst noch nicht
kennt bei Husserl, ja als Zustand der Selbstverwirrung und Selbst-
verlust der Existenz bei Heid­eg­ger, weil das Dasein sich hier selbst
entfremdet ist. Die Paradoxie dieses Ansatzpunkts der Phänome-
nologie steht in der Anmaßung, das, was nicht erscheint, erschei-
nen zu lassen, so daß das wirkliche Phänomen, das, was notwendig
in Betracht zu ziehen ist, das ist, was zuerst verborgen steht. Die

1
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 21–22.
160 Mario Ruggenini

ἐποχή und die transzendentale Reduktion sind bei Husserl die bei-
den Momente einer Strategie der Enthüllung des Verdeckten, das
heißt, des Subjekts als des transzendentalen Prinzips der universalen
Sinngebung, während bei Heid­eg­ger die Voraussetzung als Ansatz
gilt, daß es eine Frage nach dem Sein und nicht direkt nach dem Sei-
enden gibt, weil zwischen Sein und Seiendem eine Differenz besteht,
die zu entdecken und in Geltung zu setzen ist. In beiden Fällen ist
die Frage, ob die Entwicklung, die dem Ansatz folgt, die Voraus-
setzung rechtfertigen kann (aber zugleich muß die Rechtfertigung
selbst erläutert werden).
Was Husserl betrifft, erweist sich die ‚natürliche Einstellung‘ des
phänomenologischen Bewußtseins als das vorgängige Moment einer
unmittelbaren Besinnungslosigkeit, eine Art notwendig vorausge-
hende Unwissenheit, in der das Bewußtsein sich noch nicht verlo-
ren hat, obwohl es sich auch noch nicht finden kann. Eine solche
Situation drückt Husserls wiederholte Charakterisierung der ‚natür-
lichen Einstellung‘ als ursprüngliche Naivität, fast als verzauberte
Verwunderung vor dem unmittelbaren Erscheinen der Welt, aus.
Das Bewußtsein kann sich nur um die Welt kümmern, ohne daß
dieser ‚natürliche‘ Vorzug der Welt den ausdrücklichen Irrtum einer
absoluten Setzung der Wirklichkeit zum Schaden des Bewußtseins
selbst schon einschließt. Was Husserl ausdrücklich in Betracht zieht,
ist, daß die ‚natürliche Einstellung‘ die „Generalthesis“ enthält, „ver-
möge deren die reale Umwelt beständig […] als daseiende ‚Wirklich-
keit‘ bewußt ist“,2 aber nicht die „philosophische Verabsolutierung
der Welt“.3 Letztere sei vielmehr ein „philosophischer Widersinn“,
der nur dann entsteht, wenn man über den letzten Sinn der Welt zu
philosophieren meint, ohne dabei zu bemerken, daß „die Welt selbst
ihr ganzes Sein als einen gewissen ‚Sinn‘ hat, der absolutes Bewußt-
sein, als Feld der Sinngebung, voraussetzt“.4
Die „Generalthesis“ als solche „kann […] nie widersinnig
werden“,5 aber entweder kann man ihre völlige Hingabe an die
Wirklichkeit der Welt im Sinne eines realistischen Dogmatismus

2
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-
nologischen Philosophie, Husserliana III.1, hrsg. von Karl Schuhmann, Den
Haag 1976, 62.
3
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 120.
4
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 120–121 (Hervorhebung durch den
Verfasser). Die Paragraphen 30 bis 55 sind für diese Betrachtungen besonders
zu berücksichtigen.
5
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 120.
Die Zukunft der Phänomenologie 161

mißverstehen oder aber einen solchen naiven Weltglauben angemes-


sen erfassen, indem man die Weltwirklichkeit auf das Bewußtsein,
für das sie gilt, als dessen Leistung zurückführt. So denkt Husserl
infolge der Entwicklung der Konstitutionsproblematik immer
entschiedener. Die ‚natürliche Einstellung‘ ist keineswegs dasselbe
wie die von den Wissenschaften verursachte „Naturalisierung des
Bewußtseins“. Diese letztere bedeutet tatsächlich die Entartung
der ‚natürlichen Einstellung‘, deren tätige Übernahme und philo-
sophische Ausarbeitung den natürlichen Charakter jener naiven
Einstellung verbergen und verzerren. Der philosophische Dogma-
tismus verdirbt die Natürlichkeit der Weltthese, insofern er sie in
den philosophischen Glauben an die absolute Selbständigkeit der
Welt umgestaltet, in die widersinnige Auffassung von einem ständi-
gen Ansichsein, das in sich des Bewußtseins völlig entbehren kann,
als ob es ein beliebiges Ding wäre. In diesem Realismus entartet die
ursprüngliche, naive Selbstvergessenheit des Bewußtseins hinter der
Maske einer vermeintlichen Treue zur unbestreitbaren Realität der
Welt. Auf jeden Fall ist die Phänomenologie Husserls eine wirkliche
Umkehrung der Welterfahrung oder eine umgekehrte Ontologie,
sofern sie das Sein der Welt von der „Aussage“ des Bewußtseins
abhängig macht. In einer bedeutsamen, in ihrer Konsequenz weit-
reichende Notiz Husserls aus dem Jahr 1929 liest man dazu: „Stellen
wir in den Mittelpunkt: die Welt ist – aber daß sie ist, ist doch meine
Aussage, und rechtmäßige Aussage, sofern ich die Welt erfahre. […]
Wäre ich nicht, so wäre für mich keine Welt, das klingt wie eine
Tautologie. Aber indiziert sich damit näher besehen nicht die wun-
derbarste Tatsache, daß die Welt, die für mich ist […], eine Einheit
ist, die sich in meinen subjektiven Erlebnissen und darin auftreten-
den ‚Darstellungen‘ darstellt und von dieser Korrelation nicht los-
zulösen ist?“6 Damit ist gesagt, daß die Welt auf die Leistungen des
intentionalen Bewußtseins radikal reduziert ist, das heißt, die Welt
ist wesentlich nichts als die Weltthese der transzendentalen Subjek-
tivität. Deshalb kann das Grundprinzip der Phänomenologie Hus-
serls seine ‚idealistische‘ Umkehrung der Seinsproblematik auf diese
Weise ausdrücken: „So kehrt sich der gemeine Sinn der Seinsrede
um. Das Sein, das für uns das Erste ist, ist an sich das Zweite, d. h.
es ist, was es ist, nur in ‚Beziehung‘ zum Ersten.“7 Das „für uns“
meint hier das, was Husserl als die natürliche Bewußtseinseinstel-

6
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 599–600.
7
Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 106.
162 Mario Ruggenini

lung eingeführt hat. Nur für diese naive Einstellung gilt das Sein als
das Erste aufgrund einer direkten Erfahrung, die keine Rücksicht auf
sein Erleben hat. Das natürliche Bewußtsein kann aber nicht das Sein
als das Erste ausdrücklich setzen, ohne seine Naivität zu verlieren
und ins Widersinnige zu geraten. „An sich“ bleibt das Bewußtsein
das Erste, auch wenn es seinen Vorrang hinsichtlich des Seins, das
von ihm intentional konstituiert wird, noch nicht entdeckt hat.

2. Die transzendentale Subjektivität und die Subjekte

Auf dem Wege der Reduktion und der Konstitution, nämlich der
universalen Sinngebung, hat die Phänomenolgie ihre Ontologie
gefunden, die aber jede Alterität auflöst, sie scheint, was diese Sinn-
gebung angeht, keine Grenze anerkennen zu können. „Die Phäno-
menologie als Wissenschaft von allen erdenklichen transzendentalen
Phänomenen […] ist eo ipso apriorische Wissenschaft von allem
erdenklichen Seienden […], von dem Seienden überhaupt, als wie
es seinen Seinssinn und seine Geltung aus der korrelativen inten­
tionalen Konstitution schöpft.“8 Die unerbittliche Folge, die Husserl
ohne Zögern zieht, ist, die transzendentale Subjektivität selbst in den
Bereich des konstituierten Seienden miteinzuschließen. In der Tat
fügt Husserl unmißverständlich hinzu: „Das befaßt auch das Sein der
transzendentalen Subjektivität selbst, deren erweisbares Wesen es ist,
transzendental in sich und für sich konstituierte zu sein.“9
Kann es sich auch in diesem Fall um eine intentionale Konstitu-
tion handeln, wie sie im Fall von Dingen und von anderen Personen
gegeben ist. Und wenn nicht, wie kann es möglich sein, die Diffe-
renz der konstituierenden Subjektivität zu allem von ihr Konstitu-
ierten zu sichern? Der Begriff der Konstitution, so wie ihn Eugen
Fink als ‚operativen‘ in seiner von Husserl nicht erklärten Funk-
tion bestimmt hat,10 zeigt, wie eng die Verbindung der phänome-
nologischen Ontologie Husserls mit der überlieferten Ontologie

8
Edmund Husserl, Der Encyclopaedia Britannica Artikel (vierte, letzte
Fassung), in: Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, hrsg. von
Walter Biemel, Den Haag 1962, 277–301, hier 296–297.
9
Husserl, Der Encyclopaedia Britannica Artikel (vierte, letzte Fassung),
Husserliana IX, 297.
10
Vgl. Eugen Fink, Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie, in:
Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hrsg. von
Franz-Anton Schwarz, Freiburg im Breisgau/München 1976, 180–204.
Die Zukunft der Phänomenologie 163

der Vorhandenheit sein kann. Die Revolution der transzendentalen


Intentionalität, so wichtig sie ist, um die Differenz der Subjektivi-
tät zu bestimmen, kann zwar den Realismus und die Dualismen der
alten und der neuzeitlichen Metaphysik in Frage stellen, die tiefen
Wurzeln der abendländischen Ontologie der Anwesenheit (Präsenz)
kann sie jedoch nicht destruieren. Die intentionale Konstitution alles
Seienden gibt diesem den Seinssinn des Vorhandenen. Das bestätigt,
was Husserl ausdrücklich hinsichtlich der Konstitution wiederholt:
„Das gilt auch von den Subjekten selbst, wesensmäßig ist ihr Sein
Für-sich-selbst-sein.“11 Für-sich-selbst-sein bedeutet für die Phäno-
menolgie Husserls soviel wie Objekt für sich selbst zu sein.
Ja, die Subjekte im Plural, das ist schon immer eine „fühlbare
Schwierigkeit“12 für die Phänomenologie Husserls gewesen, weil
die Aufgabe der universalen Sinngebung, die die transzendentale
Subjektivität sich stellt, konkret bedeutet, daß die „Ausweisung
einer Welt nicht meine eigene Erfahrungssache ist, sondern Sache
der intersubjektiven, sich wechselseitig ergänzenden, bereichernden
‚Erfahrung‘, und so erst Welt als die da ist, die für uns die seiende
ist“.13 Dieser Schwierigkeit kann Husserl nicht ausweichen. Deshalb
fährt er mir einer radikalen Frage fort: „Indessen, bin ich es nicht,
in dessen Leben ‚Andere‘ Sinn und Seinsgeltung erlangen müssen,
und in dem das Mit-Anderen-Sein, Mit-Anderen-Erfahren etc. seine
erste und letzte fest wurzelnde Ausweisungskraft erhält? In mir
letztlich weist sich die Welt auch als intersubjektive aus – wie, das
ist freilich ein großes Problem.“14 Husserl versteht, daß die Heraus-
forderung von der „Struktur der Apodiktizität meines Seins als des
reinen Ich meines reinen Lebens“15 kommt, und besonders in Hin-
blick „auf das zeitliche, immanent zeitliche Ganze dieses Seins und
Lebens“.16 Er vertraut aber auf die Grundthese, daß „das konkrete
Sein meines Bewußtseinsstromes apodiktisch“17 ist, nämlich, daß
sein „immanentes Sein, mit einem apodiktischen Gehalt ausweisbar

11
Edmund Husserl, Aus dem Schlußteil der dritten Fassung des Encyclopa-
edia Britannica Artikels (Beilage XXX), in: Phänomenologische Psychologie,
Husserliana IX, 519–526, hier 519.
12
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 601.
13
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 601
14
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 601 (Hervorhebung durch den
Verfasser).
15
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 600.
16
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 600.
17
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 600.
164 Mario Ruggenini

[ist], der doch die volle Bestimmtheit dieses Seins nur als unendliche
‚Idee‘ zugänglich macht.“ 18
In Wahrheit ist die Schwierigkeit eine doppelte, weil sie von der
Struktur der Apodiktizität erzeugt wird, die, erstens, von Husserl
in seinem Absolutismus unerklärt bleibt (dazu gibt es neue ein-
schränkende Erläuterungen in den Cartesianischen Meditationen)
und, zweitens, diese Apodiktizität, in solchem exklusiven egologi-
schen Sinne verfaßt, die Konstitution der ‚Monaden-Gemeinschaft‘
sehr problematisch macht, mit der Husserl seinen Absolutismus
der Subjektivität ergänzen möchte. Total verkehrt ist für ihn die
methodische Idee, die ein direktes „Hineinspringen in die transzen-
dentale Intersubjektivität“19 als berechtigt erklärt, weil im Gegen-
teil das „ego meiner Epoché […] seine Einzigkeit und persönliche
Undeklinierbarkeit“20 nicht übersprungen werden kann. Es ist nur
mein Ego, das „sich […] für sich selbst transzendental deklinier-
bar macht; [das] also von sich aus und in sich die transzendentale
Intersubjektivität konstituiert, der es sich dann zurechnet, als bloß
bevorzugtes Glied, nämlich als Ich der transzendentalen Andern.“21
Die absolute Egologie Husserls drückt hier auf radikalste Weise die
moderne Idee aus, die von Descartes stammt und von der nachfol-
genden Philosophie der ἐποχή umfassend geteilt wurde, indem sie
das Ich als Grundprinzip zur Erneuerung des Denkens versteht.
In diesem Radikalismus gibt es sicher die Größe eines Abschlus-
ses, der einen neuen Anfang öffnen kann. Dank Husserls Intentio-
nalität wird das Thema der Intersubjektivität auf die transzendentale
Konstitution der Welt entschieden ausgerichtet, aber die streng ego-
logische Struktur der Apodiktizität schließt jede wirkliche Gegen-
seitigkeit prinzipiell aus. Wenn ich allein das „ego meiner Epoché“
bin, das heißt, sofern ἐποχή und Reduktion die ganz private Sache
jeder Selbstkonstitution sind, dann bin ich und bleibt jedes Ich für
sich selbst das undeklinierbare ‚Ur-Ich‘ der universalen Sinngebung.
Die kooperative Teilnahme der Anderen kommt immer zu spät, nur
indem „das immerfort einzige Ich […] eine erste Gegenstandssphäre,
die ‚primordiale‘, konstituiert […], durch die eine intentionale
18
Husserl, Ideen I, Husserliana III.2, 601.
19
Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die
transzendentale Phänomenologie, Husserliana VI, hrsg. von Walter Biemel,
Den Haag 1954, 188.
20
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 188.
21
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
188–189.
Die Zukunft der Phänomenologie 165

Modifikation seiner selbst und seiner Primordialität zur Seinsgel-


tung kommt unter dem Titel ‚Fremdwahrnehmung‘, Wahrnehmung
eines Anderen, eines anderen Ich, für sich selbst Ich wie ich selbst.“22
Auf diesem Grund bleibe nur ich, das heißt jedes Ich für sich selbst,
„das wirkliche originale Ich, das der aktuellen Präsenz“,23 und nur
dieses Ich eines jeden fungiert als der Regisseur, der die Szene für den
Eintritt der Anderen vorbereiten kann.
Was bedeutet demnach Subjekt und was Phänomenologie für
Husserl? Ist jedes Seiende ein solches aufgrund der transzendenta-
len Beziehung zur Subjektivität, so ist dann diese selbst das, was sie
in sich ist, aufgrund eines ursprünglichen Selbstverhältnisses, sei es
„zunächst als Ego“,24 sei es in „ähnlicher Weise [als] die transzenden-
tale Intersubjektivität […], die in mir, also auf mich relativ, konsti-
tuiert ist als Vielheit von ‚Egos‘“.25 Subjektsein bedeutet dann soviel
wie: ein Ego zu sein, das heißt das Seiende, das allein ‚in sich und für
sich‘ ist. Im ursprünglichen, transzendentalen, das heißt monologi-
schen Sinne ist Ego das Seiende, das als solches nicht für ein anderes
Subjekt, sondern von Grund aus für sich ist: darum ist es in sich,
unabhängig von jedem anderen, das heißt absolut. Genau dies ist
es, was Husserl tatsächlich folgert: „Als Ego bin ich absolut in mir
und für mich seiend. […] Absolut Seiendes ist seiend in Form eines
intentionalen Lebens, das, was immer es sonst in sich bewußt haben
mag, zugleich Bewußtsein seiner selbst ist. Eben darum kann es […]
wesensmäßig jederzeit auf sich selbst […] reflektieren, sich selbst
thematisch machen“.26 Kraft des universalen konstitutiven Vermö-
gens, die das Subjektsein in sich selbst absolut gründet, kann Hus-
serl seine egologische Spekulation auf diese Weise abschließen: „Die
ganze Phänomenologie ist nichts weiter als die […] wissenschaftli-
che Selbstbesinnung der transzendentalen Subjektivität, [d. h.,] die
Selbstauslegung der sich auf ihre transzendentalen Funktionen besin-
nenden Subjektivität.“27 Nachdem der Phänomenologe das absolute
Sein des transzendentalen Ego für sich selbst gewonnen hat, ist er

22
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 189.
23
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 189
(Hervorhebung durch den Verfasser).
24
Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kri-
tik der logischen Vernunft, Husserliana XVII, hrsg. von Paul Janssen, Den
Haag 1974, 279.
25
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 279.
26
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 279–280.
27
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 280.
166 Mario Ruggenini

von jeder naiven Ehrfurcht vor irgendeiner unbegründeten Tran­


szendenz befreit und kann endlich die gesamte philosophische Pro-
blematik in seiner eigenen Selbstauslegung auflösen: „Ich besinne
mich rein auf das, was ich ‚in‘ mir selbst finden kann“.28

3. Die Unzugänglichkeit des Anderen, die phänomenologisch


zugänglich wird

Und was bedeutet der Andere nach dieser Erklärungen und dem
Wortsinn nach? Die Frage wird von Husserl gestellt und die Ant-
wort lautet: „alter sagt alter-ego, und das ego, das hier impliziert ist,
das bin ich selbst […] (als primordinaler Mensch) als personales Ich
unmittelbar waltend in meinem, dem einzigen Leib […]; im übrigen
Subjekt eines konkreten intentionalen Lebens“.29 Husserl konzipiert
die Idee einer „mittelbaren Intentionalität“,30 die, die Fremderfah-
rung als analogische Apperzeption und „Appräsentation“31 genannt,
den „Schritt zu dem Anderen“32 vollziehen kann, einem Anderen,
der den „Sinn Mensch“33 bekommen muß. Das Ergebnis dieser
besonderen intentionalen Operation muß sein, daß „der Andere […]
selbst leibhaftig vor uns da“34 stehe. Husserl aber erklärt: „Ande-
rerseits hindert diese Leibhaftigkeit nicht, daß wir ohne weiteres
zugestehen, daß dabei eigentlich nicht das andere Ich selbst […]
zu ursprünglicher Gegebenheit komme.“35 Nicht seine Erlebnisse,

28
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 281. Das
Logik-Werk hatte erklärt: „Das subjektive Apriori ist es, das dem Sein von
Gott und Welt und allem und jedem für mich, den Denkenden, vorangeht.
Auch Gott ist für mich, was er ist, aus meiner eigenen Bewußtseinsleistung,
auch hier darf ich aus Angst vor einer vermeinten Blasphemie nicht wegse-
hen, sondern muß das Problem sehen. Auch hier wird wohl, wie hinsichtlich
des Alterego, Bewußtseinsleistung nicht besagen, daß ich diese höchste Tran-
szendenz erfinde und mache.“(Husserl, Formale und transzendentale Logik,
Husserliana XVII, 258) Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen
und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg. und eingeleitet von Stephan Stras-
ser, Den Haag 1950, 116–121.
29
Husserl, Cartesianische, Husserliana I, 140.
30
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 138.
31
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 139.
32
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 138.
33
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 138.
34
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 139.
35
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 139.
Die Zukunft der Phänomenologie 167

nicht seine Erscheinungen selbst, nichts von dem, was seinem Eigen-
wesen selbst angehört, kann ich als ursprüngliche Erfahrung haben.
„Wäre das der Fall, wäre das Eigenwesentliche des Anderen in
direkter Weise zugänglich, so wäre es bloß Moment meines Eigen-
wesens, und schließlich er selbst und ich selbst einerlei.“36 Die sich
ergebende „ursprüngliche Paarung“37 von Ego und Alterego bringt
deshalb mit sich, „daß das vermöge jener Analogisierung Apprä-
sentierte nie wirklich zur Präsenz kommen kann, also zu eigentli-
cher Wahrnehmung“.38 Der Andere ist also „phänomenologisch als
Modifikation meines selbst“ zu apperzipieren, „doch nicht einfach
als Duplikat meiner selbst, also mit meiner und einer gleichen Ori-
ginalsphäre, darunter mit den räumlichen Erscheinungsweisen, die
mir von meinem Hier aus eigen sind, sondern […] mit solchen, wie
ich sie selbst in Gleichheit haben würde, wenn ich dorthin ginge
und dort wäre. […] Mein primordinales ego [konstituiert] das für
es andere ego durch eine appräsentative Apperzeption […], die
ihrer Eigenart gemäß nie Erfüllung durch Präsentation fordert und
zuläßt.“39 Das Argument der phänomenologischen Analyse ist also,
daß das andere ego ich selbst „im Modus Dort“40 bin, und daraus
der merkwürdige Schluß gezogen wird, daß „nach diesen Aufklä-
rungen […] es also kein Rätsel mehr [ist], wie ich in mir ein anderes
Ich, und radikaler, wie ich in meiner Monade eine andere Monade
konstituieren und das in mir Konstituierte eben doch als Anderes
erfahren kann“.41 Die transzendentale Intersubjektivität als „offene
Monadengemeinschaft“42 ist „in mir, im meditierenden ego, rein aus
Quellen meiner Intentionalität für mich konstituiert, aber als solche,
die in jeder in der Modifikation Anderer konstituierten als dieselbe,
nur in anderer subjektiver Erscheinungsweise konstituiert ist, und
konstituiert als dieselbe objektive Welt notwendig in sich tragend.“43
Die ‚Krisis‘ erklärt, „daß jedes transzendentale Ich der Intersubjekti-
vität (als Welt […] mitkonstituierendes) notwendig als Mensch in der
Welt konstituiert sein muß, daß also jeder Mensch ‚ein transzenden-

36
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 139.
37
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 142.
38
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 142.
39
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 146–148.
40
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 146.
41
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 154.
42
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 158.
43
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 158.
168 Mario Ruggenini

tales Ich in sich trägt‘“.44 So kann jeder, der den Weg der ἐποχή und
der Reduktion gegangen ist, „sein letztes, in all seinem menschlichen
Tun fungierendes Ich erkennen“.45
Diese Darstellung der Intersubjektivität als Monadengemein-
schaft scheint höchst spekulativ und zu optimistisch, fast ein Rück-
fall in die Metaphysik des deutschen Idealismus, der Preis in der
Tat, den Husserl für seinen Neucartesianismus der Apodiktizität
bezahlen muß. Der Schritt zum Anderen scheitert, weil er gestehen
muß, daß der Andere unzugänglich bleibt: „Die Appräsentation
[gibt] das originaliter Unzugängliche des Anderen“,46 und „fremder
Leibkörper und fremdes waltendes Ich“ sind nur „in der Weise einer
einheitlichen transzendierenden Erfahrung gegeben“.47 Am Anfang
seiner Analyse der Fremderfahrung hat Husserl eingeräumt, wie
schon gesehen, daß die leibhaftige Präsenz des Anderen „nicht das
andere Ich selbst […] zu ursprünglicher Gegebenheit kommen“ läßt.
Dieses Zugeständnis bedeutet, daß der andere meiner prinzipiellen
Möglichkeit, ihn als meinen Anderen zu konstituieren, Widerstand
leistet, das heißt, daß seine Andersheit nicht reduzierbar ist. Damit
ist aber eine Transzendenz eingeführt, die die Tragweite der phäno-
menologischen Anerkennung des Anderen radikal abschwächt, weil
sie nur auf dem Niveau seiner Leibhaftigkeit annehmbar ist, nämlich,
auf dem Niveau einer Beziehung, die einen überwiegend physikali-
schen Charakter hat. Kann man das Unzugängliche, das heißt, das,
was nicht appräsentierbar ist, auf diese Weise trennen von dem, was
„leibhaftig vor uns da“ ist? Kann der Andere nur als Leib da sein?
Was macht diesen Leib zu mehr als nur einem Körper, wenn das,
was im Anderen als das Unzugängliche angenommen wird, ausge-
schaltet bleibt? Man muß hinsichtlich dieser Analyse anerkennen,
daß das Unzugängliche im Anderen eine physikalische Idee der
Beziehung zwischen Subjekten trotz bester Intentionen erhält, die
mit der „Struktur der Apodiktizität“ übereinstimmt. Apodiktizität
bedeutet so viel wie Sein als Präsenz, und es ist offensichtlich, daß
die Phänomenologie trotz ihrer starken Impulse zur Erneuerung der
Philosophie unter dem schweren Joch der Ontologie der Präsenz

44
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI,
189–190.
45
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Husserliana VI, 190.
46
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 143.
47
Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, 143–144 (Hervor-
hebung durch den Verfasser).
Die Zukunft der Phänomenologie 169

(als Vorhandenheit) bleibt. Aufgrund dieses gründlichen Präsen­


tialismus (dieses schweren ontologischen Vorurteils) ist die Phäno-
menologie gezwungen, sich den Anderen als Ich „im Modus Dort“
vorzustellen und auf diese Weise seine Differenz auszulöschen. Und
wie kann man sich erklären, daß die Phänomenologie der univer-
salen Reduktion und Sinngebung die unlösbare Transzendenz des
Anderen bewahren muß? Das Unzugängliche nur im Anderen und
nicht auch in mir, dem Ur-Ich jeder Konstitution, das zuerst seine
Selbstkonstitution zu vollziehen hat?
Der Transzendentalismus der universalen Sinngebung, der
Mythos der Selbstgegenwart und Selbstdurchsichtigkeit, die es zu
suchen gilt, und sei es in einer unendlichen Anstrengung, erleidet
in der V. Meditation seine definitive Niederlage, in dem Moment,
in dem er das Konzept einer irreduziblen Transzendenz einführen
muß. Eine Niederlage, die sich Husserl allerdings nicht eingesteht.

4. Das unvordenkliche Ereignis der Welt-Sprache

Außerdem ist Husserls Idee einer Monadengemeinschaft ein vergeb-


licher, irenischer Versuch: wenn jedes Subjekt ein transzendentales
Ich in sich birgt, wer kann dann eine friedliche Kooperation garan-
tieren? Allein mein Ur-Ich oder das Ur-Ich eines jeden? Der Friede
zwischen den Subjekten, von denen jedes ein absolutes Subjekt ist,
ist unwahrscheinlich. Plausibler scheint die Hypothese von Thomas
Hobbes des bellum omnium contra omnes. Bei Husserl ist jedoch
kein Vertrag zwischen den absoluten Subjekten denkbar, der die
Gefahr abwenden könnte. Hobbes denkt als Philosoph politisch in
höherem Sinn, indem er entdeckt, wieviel wir der Sprache schuldig
sind.48 Er denkt, daß wir dank der Sprache in Sicherheit und anstän-
dig leben können, in einer Gesellschaft solange verbunden, wie wir
an den Verträgen festhalten. Der moderne Philosoph bezieht sich auf
Aristoteles, der schreibt, daß der λόγος nur den Menschen, nicht
den Tieren von der φύσις gegeben, der Grund von der Familie οἰκία
und der πόλις wurde, insofern, als er zeigt, was gerecht und was
ungerecht ist und somit die Einsicht vom Guten und Bösen gibt: ἡ δὲ
τούτων κοινωνία ποιεῖ οἰκίαν καὶ πόλιν.49 Das, was diese Zitate

48
Vgl. Thomas Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger, eingeleitet und hrsg.
von Günter Gawlick, Hamburg 1959, 16–18.
49
Aristoteles, Politica 1253 a; die Politik wird zitiert nach: Aristotelis Po-
170 Mario Ruggenini

aus der antiken und frühneuzeitlichen Philosophie zu denken geben,


ist, daß die Sprache die Differenz des Menschen von den Lebewesen
in einem konkreten existenzialen Sinn ausmacht, eine Differenz, die
abstrakt, nur theoretisch bleibt, sofern die Sprache in der Verfügung
des Denkens gedacht ist. Denn durch solche Unterstellung wird
Sprache zum Mittel herabgesetzt, die der zwischen-menschlichen
Kommunikation zu dienen hat, so daß das reine Denken, und später
das reine Bewußtsein, der eigentliche Ort der Wahrheit werden. Wie
vom Anfang der Philosophie an, zumindest von Platon aus, aufgrund
eines radikalen, unanfechtbaren Mißtrauen gegen das Wort und den
gesprochenen λόγος wegen seiner Unbeständigkeit und tendenziell
unklaren Durchschaubarkeit. Dagegen wird der λόγος als Denken
des Bleibenden und des Absoluten als der Bereich der sonnenklaren
Durchsichtigkeit gefordert. Trotz jedes Mißtrauens scheint aber eine
andere Erfahrung des λόγος auch bei den Griechen und der christli-
chen Überlieferung bis zur Neuzeit durch, wenn eine konkrete Inter-
pretation des In-der-Welt-seins von den Menschen stattfinden kann.
Allerdings nicht bei Husserl, trotz seinem früheren Interesse für die
Probleme von ‚Ausdruck und Bedeutung‘ und von dem „Unterschied
der selbstständigen und unselbstständigen Bedeutungen und [der]
Idee der reinen Grammatik“,50 die bald von denen des „Bewußtseins
als reell-phänomenologische Einheit der Ich-erlebnisse“51 und vom
„Bewußtsein als intentionalem Erlebnis“ überwunden sind.52 Hier
gibt es eine Lücke in der Phänomenologie, eine leere Stelle, die nach
Heid­eg­gers „Kehre“ Merleau-Ponty und Lévinas auszufüllen ver-
sucht haben. Aber beide konnten auf den expliziten oder verkappten

litica, hrsg. von William David Ross, Oxford 1972: οὐθὲν γάρ, ὡς φαμέν,
μάτην ἡ φύσις ποιεῖ·λόγον δὲ μόνον ἄνθρωπος ἔχει τῶν ζῴων.
50
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil.
Untersuchungen zur Phänomenologie und Erkenntnis, Husserliana XIX.1,
301.
51
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.1, 356.
52
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIX.1, 377.
Vgl. Husserl, Ideen I, Husserliana III.1, 51: „Jede Aussage, die nichts wei-
ter tut, als solchen Gegebenheiten durch bloße Explikation und genau sich
anmessende Bedeutungen Ausdruck zu verleihen, ist also wirklich […] ein
absoluter Anfang, im echten Sinne zur Grundlegung berufen, principium.“
Laut Husserl gibt es eine Sphäre, in der die Bedeutung mit dem Gegebenen
verglichen wird, um dieses letztere ausdrücken zu können. Das Wort kommt
nach der Aufnahme vom Gegebenen von seiten des Bewußtseins und in der
Aussage/Ausdruck kommt es auf nichts anderes an, als auf die Angleichung
der Bedeutung an das Gegebene.
Die Zukunft der Phänomenologie 171

Vorrang des Ich nicht verzichten, auf das Ego als Prinzip, das sich als
Grund und Ursprung des neuzeitlichen Denkens durchgesetzt hat
– transzendental oder empirisch verstanden, absolut oder endlich.
Was Sein und Zeit betrifft, ist hervorzuheben, daß der „Ansatz der
existenzialen Frage nach dem Wer des Daseins“53 in diesem Sinne zu
verstehen ist: „Dasein ist Seiendes, das je ich selbst bin, das Sein ist
je meines.“54 Was folgt, sind die Erläuterungen des Seins des Daseins
als Mitseins, so wie der Welt des Daseins als Mitwelt. Und wenn
behauptet wird, daß „als Mitsein […] das Dasein wesenhaft umwil-
len Anderer“ „‚ist‘“55 – ein Gedanke, der bei Husserl und seiner
Phänomenologie der Intersubjektivität unmöglich zu finden ist –,
so lautet die Erklärung der „zum Mitsein gehörigen Erschlossenheit
des Mitdaseins Anderer […]: im Seinsverständnis des Daseins liegt
schon, weil sein Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses
Verstehen ist […] nicht eine […] Kenntnis, sondern eine ursprüng-
lich existenziale Seinsart“.56 Daraus folgt: „Sofern Dasein überhaupt
ist, hat es die Seinsart des Miteinanderseins.“57 Nach dem Transzen-
dentalismus von Sein und Zeit ist jedes Dasein mit einem Apriori
ausgestattet, so daß der Bezug zu den Anderen für jeden konstitutiv
ist. Das ist eine fast objektivistische Lösung des Problems des Solip-
sismus, der der neuzeitlichen Subjektivität anhaftet. Aber man muß
sagen, daß der Solipsismus durch diese Lösung nur bestätigt wird.
Das Apriori der „ursprünglich existenzialen Seinsart“ schließt jede
von ihnen in sich selbst ein, statt das Zusammensein der Existenzen
zu fördern; es entbindet von der des Miteinanderseins entbindet. Es
fehlt die Erfahrung der Andersheit des Anderen, des Heraustretens
von sich selbst, um dem Anderen bei ihm selbst in seiner Andersheit
zu begegnen, wenn jede Existenz die Differenz des Anderen apriori
schon in sich selbst aufgehoben hat. Es fehlt dieser Phänomenolo-
gie die Erfahrung, daß das Mitsein der Existenzen seinen Grund im
Anderen, nicht in den Existenzen findet. Was erstaunlich scheint, ist,
daß das Mitsein keine Rede und keine Sprache, kein ausgesprochenes
Wort, fordert.
Gegen den ungelösten Egologismus der modernen Philosophie
ist die These, daß kein Ego möglich ist außerhalb der Sprache, was

53
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 153.
54
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 153.
55
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 164.
56
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 165.
57
Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 167.
172 Mario Ruggenini

mit sich bringt, daß nur die Möglichkeit, das unvordenkliche Ereig-
nis der Sprache nachzuholen, der Phänomenologie die Tür einer
Zukunft öffnen kann, die das konkrete Miteinandersein der Existen-
zen, das heißt, die wirkliche Intersubjektivität, verantworten kann.
Der phänomenologische Grund dieser These ist die existenzial-phä-
nomenologische Erfahrung, daß niemand eine Welt, die noch nicht
gesprochen und interpretiert worden wäre, weder entdecken kann,
noch könnte. Für diese Erfahrung kommen wir alle zu spät, weil
jeder Neugeborene von einer Welt angenommen wird, die von Spre-
chenden schon gewohnt ist, wenn ihm die Möglichkeit zu existieren
gegeben wird. Am Anfang ist das Wort, weder das Sein, noch das Ich,
noch die Tat,58 weil ohne das Wort keine eigentliche Tätigkeit mög-
lich ist. Denn um wirklich tätig zu sein, muß der Handelnde verant-
wortlich sein, sonst ist das, was an Neuem geschieht, nur physische
Bewegung, die wiederum nur eine bewußte Existenz wahrnehmen
und messen kann. Was die Philosophie seit ihrem metaphysischen
Ursprung nötig hat, ist eine andere Erfahrung mit der Sprache und
mit der Philosophie im allgemeinen, besonders mit der Phänome-
nologie in ihrem ersten Entwurf. Dann überläßt das Wort als Name
(ὄνομα) und Begriff, als solche dem Wort vorangehend, das Feld
dem enthüllenden, offenbarenden, aber auch verhüllend-verbergen-
den Wort im Horizont einer grundlegenden Erfahrung der End-
lichkeit, mit der die Beziehung zwischen der Wahrheit der Worte
und dem sprachlichen Sein der Existenz ins Spiel kommt. Deshalb
darf die Sprache nicht umgangen werden, wenn ein Rückfall in den
‚Logozentrismus‘ im Namen verschiedener, manchmal ahnungs-
loser, oft regressiver Mythologien des Vorsprachlichen vermieden
werden soll. Es bedarf einer Überwindung der erklärten oder unter-
schwellig waltenden Fortdauer des traditionellen Intellektualismus
aufgrund einer anderen Erfahrung von Sprache. Und diese wird zu
einer anderen Erfahrung von Wahrheit, einer kosmischen Wahrheit,
wenn das Dasein des Menschen als In-der-Welt-sein nur vom Wort
erschlossen werden kann. Ohne Sprache keine Welt, aber keine Spra-
che ohne Welt. Das untrennbare Ereignis beider vollzieht sich im Da-
sein der Existenzen. Da sind wir an der Grenze der menschlichen
Möglichkeit zu denken, aber auch nur an deren Anfang.

58
Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, in: Weimarer Klassik 1798–
1806, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe,
Band 6.1, hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert,
Norbert Miller und Gerhard Sauer, München 1986, 535–673, hier 568.
Die Zukunft der Phänomenologie 173

Kraft des Wortes ist der Mensch in der Tat nicht bloß Leben,
sondern Existenz in der Welt, das heißt Möglichkeit und Verantwor-
tung. Und all das, was geschieht – nicht nur in Gedanken, sondern
auch in Erfahrungen, Gefühlen, Freuden und Ängsten, ist nie auf
seine einsame Jemeinigkeit reduziert, sondern in die Erschlossenheit
des Gesprächs der Existenzen einbegriffen, das die Menschen, von
dem Augenblick an, in dem sie ihre Augen für das ihn umgebende
Sein öffnen, zur Teilhabe daran aufruft. Daher existieren Menschen
für (und durch) die Wahrheit, weil sie schon immer im Gespräch
miteinander sind und dieses Gespräch für jede Existenz ihr In-der-
Welt-Sein, ihre Verantwortung für die Welt erschließt. Das muß jen-
seits der Phänomenologie der Intersubjektivität Husserls gedacht
und gesagt werden. Andererseits kann man von der Wahrheit nur
als Wahrheit der Existenz sprechen, die sich zu denken gibt, weil sie
sich sagen läßt und sich auf diese Weise im Gespräch hervorbringt
oder verweigert, indem sie sich allein aufgrund des konstitutiven
Faktums, nicht nur der Tatsache, ins Spiel bringt, daß sie Menschen
sprechen läßt. Eine Wahrheit, die nie ‚ist‘, die nicht irgendwo dar-
auf wartet, entdeckt zu werden, sondern die zur Existenz kommt.
Wahrheit ereignet sich, insofern die Existenz zum Wort gerufen ist,
aber nicht jede Rede ist ein Wort der Wahrheit, sie ist es nur in dem
Maße, wie sie sich für die Existenz als Welt-Erschließung ereignet,
als Gabe von Seinsmöglichkeiten, im Gespräch mit anderen, das
heißt in der Vereinigung mit anderen. Diese Gemeinschaft entsteht
nicht nur dann, wenn man miteinander übereinkommt und ein Ein-
verständnis erzielt, sondern zuerst und vor allem, weil man sich im
Gespräch auseinandersetzt und die Differenzen austrägt, oft bis zum
offenen Widerspruch, immer jedoch im Versuch, auf einen Wahr-
heits-Anspruch zu antworten, der jeden nicht nur von den Worten
her erreicht, sondern zugleich von einem tieferen Ursprung her –
von der Bestimmung zum Wort, die jedem aus dem Ereignis der Welt
zukommt. Der Ursprung für unser Im-Gespräch-Sein ist daher das
Faktum, daß wir da sind, daß wir uns in einer Welt vorfinden, die
bereits von anderen gesagt und gesprochen wurde, in diesem Sinne
in einer anderen Welt, die zwar verschiedene Erfahrungen der Welt-
lichkeit der Welt sich ereignen läßt und versammelt, so wie auch die
Sprache eine andere ist, die jedoch bei niemandem ihren Ursprung
hat, sondern vielmehr jenes Ereignis ist, innerhalb dessen sich erst
jeder Ursprung, jede Beziehung, jede Bereicherung und jeder Ver-
lust, interpretieren läßt. Das gilt auch für „andere Worte“, für die
Worte des ‚Anderen‘, für das Ereignis der Welt-Sprache als unhinter-
174 Mario Ruggenini

gehbarem Ursprung, nicht nur der anderen im Sinne anderer Leute,


sondern einer Alterität, die die Mitsprechenden, die im Gespräch
aufgerufen worden sind, zusammenhält. Das Zusammenhaltende ist
kein Gott und kein Mensch, wie es in einem Fragment von Heraklit
über den Ursprung der Welt heißt,59 sondern das unvordenkliche
Ereignis der Welt-Sprache.
Ein Ursprung ohne Anfang, ohne Prinzip, den Verfügungs-
möglichkeiten von Göttern und Menschen entzogen, wie alles,
was φύσις ist. Nach einem anderen Spruch des Heraklits, dem
Spruch über den Streit (πόλεμος), der die Differenz zwischen
Göttern und Menschen, und vermutlich auch zwischen den Men-
schen bestimmt.60 Aus diesem Gedanken einer Auseinandersetzung
im Gespräch als eines πόλεμος, der Differenzen setzt, indem er
sie zusammenhält, läßt sich folgern: der Mensch (kommt) von der
Sprache, nicht die Sprache vom Menschen. Daraus ergibt sich der
Gedanke einer Wahrheit, die den Menschen durch die Worte, die
er vernimmt, in Anspruch nimmt und in seinen Antworten weitere
Gestalten findet. Dieser Gedanke ist dem einer Wahrheit entgegen-
gesetzt, derer sich der Mensch bemächtigt, um über sie wie über
einen erworbenen Besitz zu verfügen. Gemeint ist keine Wahrheit,
die man nur kennenzulernen hätte, keine Wahrheit als verfügbarer
Gegenstand, sondern Wahrheit, die sich zu erkennen gibt und sich
vor allem in ihrem unerbittlichen, vielfältigen Differieren zu den-
ken gibt. Schließlich ergibt sich der Gedanke menschlicher Existenz
als eines Antworten-Müssens, was nichts anderes bedeutet als die
paradoxe Übernahme der Verantwortung für das Faktum da zu sein.
Nur insofern unsere Abhängigkeit von der Zufälligkeit, die für unser
Da-sein entschieden hat, sich in ein Schicksal von Möglichkeiten und
Grenzen verwandelt, das jeder auf sich nimmt; nur insofern das, was
gesagt wird und geschieht, uns gesagt wird und uns geschieht, kann
die Interpretation, die sich Gesagtes und Geschehenes sich für jede
Existenz aneignet, es in eine Möglichkeit der Wahrheit und zugleich
Freiheit übersetzen.

59
Vgl. Heraklit, VS 22 B 30; die Fragmente Heraklits werden zitiert nach:
Hermann Diels/Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, siebte
Auflage, Berlin 1954, Band 1–3.
60
Vgl. VS 22 B 53: Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ
βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν
δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους.
Die Zukunft der Phänomenologie 175

Das Auf-sich-Nehmen, die An- und Übernahme, die zur Aneig-


nung und Antwort zugleich wird – und das heißt letztlich Interpre-
tation – ist der Augenblick, in dem das Ich als solches sich aussetzt, in
dem es einem Aufruf entspricht, von dem es in Anspruch genommen
wird, mit dem die Konstitution des Selbst beginnt. Vom Ego zum ipse,
vom Ich zum Selbst, verwirklicht die innere Dynamik der Existenz
ihr Schicksal der Endlichkeit außerhalb jeder egozentrischen Ver-
herrlichung der Subjektivität (das selbstsüchtige Allmachtsdelirium
des modernen Menschen). Denn die Konstitution als Ich und Selbst
erfolgt nicht in einem Prozeß der Selbstkonstitution als sich durch-
setzende Selbstbehauptung, die in der Konzeption des idealistischen
Selbstbewußtseins gipfelt und in mannigfachen Modifikationen als
Grundmodell des abendländischen Denkens immer noch herrschend
ist. Viel mehr erfolgt sie aufgrund der Notwendigkeit des Wortes, die
der Existenz weder ihre metaphysische Verabsolutierung noch den
solipsistischen Rückbezug auf sich selbst zugesteht. Das endliche
Sein der Existenz ist Beziehung, Relation, Öffnung der Existenz auf
die Alterität des Wahren hin, auf ihr Geheimnis.

5. Wahrheit als ἀλήθεια. Die Wahrheit der Sprache und die Tran-
szendenz des Wahren

Die Existenz spricht, weil in den Worten das Sein der Dinge interpre-
tiert und ausgelegt wird. Sie ist kein Zeigen, keine Aufweisung, kein
einfaches Sehen oder Erscheinen-lassen nach der üblichen, phäno-
menologischen Denkweise, weil es keine einfache Transparenz gibt
(nach Husserl selbst, aber mehr noch nach Heid­eg­ger und vielen
anderen bis Derrida). Die Notwendigkeit der Welt, in der Existenz
je den Raum der hermeneutisch-sprachlichen Begegnung der Dinge
zu erschließen, geht jedem Existierenden immer schon voraus, was
bedeutet, daß nicht die Existenz sich entscheidet zu sprechen, son-
dern sie von Beginn an in Anspruch genommen ist von der Notwen-
digkeit der Welt, Wort zu werden. Die Existenz entspricht dieser
Notwendigkeit, die sie sein läßt, aber insofern, als sie die Verantwor-
tung übernimmt, das Gehörte zu hüten, es in jene Worte zu über-
setzen, mit denen sie am Gespräch der verschiedenen Existenzen
teilnimmt. Jeder spricht also, um die Wahrheit zu sagen, das heißt,
um das Sein der Welt (Existenzen, Lebewesen, Dinge) zu interpretie-
ren und so zu enthüllen. Aber gerade deshalb, gerade weil er spricht,
kann jeder Existierende die von ihm interpretierte Wahrheit auch
176 Mario Ruggenini

verraten, indem er lügt, schweigt, die Suche und das Vertrauen der
anderen, den von ihnen ausgehenden Wahrheitsanspruch stört und
beeinträchtigt. Auch der bewußte Verrat gehört zur Verbergung,
das heißt zur Unmöglichkeit und Undenkbarkeit einer vollkommen
offenbaren Wahrheit, die in sich unabhängig von den Interpretati-
onsbemühungen feststehen sollte, um jedem Wort und Gespräch ein
anspruchsvolles Vertrauen zu sichern. Daß das Wahre notwendig in
einem Spannungsverhältnis sowohl zu einem Ungesagten als auch
zu einem Ungedachten steht, das sie trägt und bedroht, birgt somit
ein Risiko gegen das sich die Wahrheit nie völlig absichern kann, ist
aber kein Zeichen einer metaphysischen Katastrophe. Es ist gerade
die sich in Worten erschließende Wahrheit selbst, die diesen Spiel-
raum zwischen Enthüllung und Verhüllung eröffnet, die einander
wechselseitig bedürfen, so wie das, was gesagt werden kann, immer
auf Anderes verweist, das verborgen bleibt, während wir umgekehrt
das, was wir noch suchen müssen, nur ausgehend von dem denken,
was davon schon ans Licht gekommen ist, oft in einem kaum zu
durchdringenden Helldunkel. Die paradoxe Enthüllung des Ver-
borgenen, seine Wahrheit, bringt die Notwendigkeit mit sich, daß
das, was offenbar wird, zugleich immer auch die Verdunkelung und
Verhüllung dessen bewirkt, was immer noch zu sagen bleibt, an das
man nicht denkt, bis nicht ein neues Wort, eine neue Enthüllung das
Fragen nach und die Erfahrung von dem anregt, was bisher unge-
dacht geblieben ist.
So geschieht es, daß das, was sich zunächst enthüllt hat, einen
anderen Sinn annimmt, manchmal eine Wahrheit, die als umfassen-
dere erscheinen mag, manchmal aber auch eine, die als Korrektur
oder gar Widerlegung dessen, was man bisher für wahr hielt, zu ver-
stehen ist. Allgemein gesagt, ist nichts, was die Rede einmal enthüllt
und offenbar gemacht hat, einem Licht ohne Untergang übereignet,
der Untergang einer früher schon entschlossenen ist vielmehr oft
die Bedingung für den Aufgang einer neuen Wahrheit, sowie das
Vergessen die Möglichkeit einer neuen Erfahrung gewähren kann.
Wenn aber für das Geschehnis der sich erschließenden Wahrheit das
Spannungsverhältnis zum Dunkel konstitutiv ist, aus dem, wenn
etwas hervorgeht, anderes zurückfällt, sobald die ihm gewährte Zeit
verstrichen ist, so gehört zu diesem Spannungsverhältnis das endli-
che Schicksal jeder Enthüllung und Offenbarung. Und dazu gehört
auch, daß jede Form von Fehler, Irrtum, Verstellung und Lüge, das
heißt also jede Art von Gewalt, die unauslöschliche Kehrseite der
Welt-Erschließung im Gespräch der Menschen darstellt.
Die Zukunft der Phänomenologie 177

Heid­eg­ger hat den Namen dieser Wahrheitserfahrung geändert,


insofern er aufgezeigt hat, in welchem Maße der gewöhnlich ver-
wendete Namen das Wesen der Sache, um die es hier geht, verdecken
kann, die als solche nicht eine in sich und für sich stehende Wahrheit
ist oder eine Wahrheit, die aufgrund eines Willensaktes festgehal-
ten wird, sondern eine Wahrheit als Entbergen, das verbirgt, und
zugleich ein Verhüllen, das dennoch enthüllt.61 Also nicht mehr veri-
tas, sondern ἀλήθεια, wie die Griechen seit jeher sagen, obwohl sie
im Laufe ihrer Geschichte den tiefen Sinn einer Einsicht verloren
haben, der man erneut Gehör schenken muß, wenn man dem Ver-
hältnis von Wahrheit und Existenz nachgeht. Wenn es darum geht,
die Erfahrung, die der Mensch mit der Wahrheit macht, zu verste-
hen, die im wesentlichen die Erfahrung der eigenen Endlichkeit ist,
erweisen sich die Hinweise, die das antike Wort zu geben vermag,
als erhellender als jede triumphale Rede über das unwandelbare Sein
des Wahren, deren sich die christliche Theologie aufgrund ihrer
Begegnung mit der griechischen Metaphysik und deren Aneignung
lange Zeit bedient hat. Die Unwandelbarkeit des Wahren spricht von
etwas, zu dem der Mensch keinen Zugang haben kann, aber beinahe
einem Mythos gleich als Ausdruck seines Wunsches gilt. So z. B. bei
Platon im Aufstieg der Philosophie zur Erkenntnis des μέγιστον
μάθημα, dem Guten.62 Die Frage ist daher, welche Wahrheit diesen
Wunsch (oder dieses allzu menschliche Bedürfnis?) nach Dauer und
Unvergänglichkeit je befriedigen kann, angesichts der Tatsache, daß
das, was Stabilität, Festigkeit, Sicherheit und Trost verspricht, immer
komplexer wird und schwankt und schwindet – sei es im Verlauf
der Tage, sei es in der Folge der Generationen und Epochen. Welche
Wahrheit rechtfertigt das Bedürfnis und Verlangen nach einem tran-
szendenten Schutz, dem sich die metaphysisch-theologische Tra-
dition des Abendlandes anvertraut hat, wenn nicht die Macht und
Dringlichkeit des Bedürfnisses selbst?
Die Erfahrung der ἀλήθεια hat Heid­eg­ger die Möglichkeit geöff-
net, vom Transzendentalismus von Sein und Zeit Abschied zu nehmen

61
Die Etymologie von veritas, verus, das heißt der lateinischen Übersetzung
der griechischen ἀλήθεια, verweist auf ein Vertrauensverhältnis demgegen-
über, der es verdient, daß man ihm glaubt, der „glaub-würdig“ ist (die slawi-
sche Form vera, „Glaube“, schwingt im deutschen Wort wahr mit). Severus
ist demnach derjenige, der kein Vertrauen (zu anderen) hat, so wie securus
der ist, der ohne Sorgen ist (sine cura).
62
Vgl. Plato, Res publica 505a; Platons Dialoge werden ziertiert nach: Pla-
tonis Opera, hrsg. von John Burnet, Oxford 1900–1907.
178 Mario Ruggenini

und das Thema der Wahrheit ins Zentrum seiner Seinsfrage zu stellen.
An anderer Stelle habe ich die These vertreten, daß die Beiträge zur
Philosophie die radikale ‚Kehre‘ in der Weise, die Seinsfrage weiter zu
bringen, darstellen.63 Die Pointe meiner These ist, daß das Denken
der ἀλήθεια ihre eigene Dynamik dem Sein überträgt und ihm die
Möglichkeit gibt, die grundlegende Stellung einzunehmen, die Sein
und Zeit dem Dasein, noch nicht dem Sein, in der Tat zuerkannte,
und zwar trotz der nachdrücklichen Betonung des Vorrangs von Sein
gegenüber dem Seienden. Woher kommt dann dem Sein die wesent­
liche Dynamik des Selbstentzugs, der eine entscheidende Bedeutungs-
verwandlung der Themen der Lichtung und der Seinsvergessenheit
mit sich bringt, wenn nicht von einer Vertiefung der Entdeckung der
ἀλήθεια nach der ersten Einführung in Sein und Zeit? Trotz Heid­
eg­gers intensiven Bestehens auf die Seinsfrage, hebt die Frage nach
der Wahrheit jenen vorhergehenden Ansatz bei dem Sein als solchem
durch die ‚Kehre‘ auf. So muß Heid­eg­ger vorbehaltlos behaupten: „das
Wesen des Seins“ sei „die ἀλήθεια”,64 nachdem er die Idee, daß die
Wahrheitsfrage nur die Vor-frage der Seinsfrage sei, in den Beiträgen
überwunden hatte: „Die Vor-frage nach der Wahrheit ist zugleich die
Grundfrage nach dem Seyn, dieses als Ereignis west als Wahrheit.“65
Zugleich wird aber gesagt: „Die Wahrheit ist das erste Wahre, und
zwar lichtend-verbergend, des Seyns. Das Wesen der Wahrheit liegt
darin, als das Wahre des Seyns zu wesen“. Auf diese Weise scheint
Heid­eg­ger das Wesen der Wahrheit immer noch um des Seins willen
zu denken, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß die Leere, die
das Beharren beim Fragen nach dem Sein nur scheinbar besetzt, nur
vom Denken der ἀλήθεια wirklich erfüllt ist. Was geschieht ist also,
daß die ἀλήθεια das Sein als die Grundfrage von Heid­eg­gers Denken
auf unscheinbare Weise vertritt. Damit ist zugleich gesagt, daß nur
die ἀλήθεια den Weg für das Ereignis öffnen kann, so wie es Heid­
eg­ger selbst im Anschluß an das vorangegangene Zitat erläutert: „das
Seyn […] als Ereignis west als Wahrheit“.66
Was Heid­eg­ger jedoch gefehlt hat, ist die Einsicht, daß das, was
unausweichlich zur Erfahrung und Auffassung der Wahrheit als
ἀλήθεια führt, gerade die Bestimmung der endlichen Existenz zum

63
Vgl. Mario Ruggenini, La verità dell’essere, l’essere della verità, in: An-
nuario Filosofico 23 (2007), 57– 80.
64
Heid­eg­ger, Parmenides, GA 54, 218.
65
Heid­eg­ger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 348.
66
Heid­eg­ger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 348.
Die Zukunft der Phänomenologie 179

Wort ist. Es soll daher in aller Deutlichkeit festgehalten werden, daß


ἀλήθεια notwendigerweise als Wahrheit der Sprache zu verstehen
ist: die einzige Wahrheit, die wir als endliche Intelligenzen erfahren,
zugleich die Wahrheit, die keine Offenbarung uns abnehmen und
aufheben kann, insofern unser Endlich-sein nicht in erster Linie die
beklagenswerte Ursache des notwendigen Irrens der Menschen ist,
sondern die Öffnung auf jene Wahrheit hin, die sich den Menschen
zuspricht, die für die Menschen bestimmt ist, insofern sie sprechen.
Die Teilhabe an der Sprache, das Bestimmtsein der Existenzen zum
Gespräch, de-finiert, um-grenzt, ihre Endlichkeit. Diese Sprachlich-
keit macht aus dem Menschen ein (endlich) existierendes Wesen, das
sich nicht auf die Tatsache, geboren worden zu sein und zu sterben,
reduzieren läßt. Umgekehrt wird der Mensch geboren und stirbt im
Unterschied zu allen anderen Lebewesen, insofern er geboren wird
und stirbt zum Schicksal des Existierens, das heißt des Sprechen-
Müssens. Gleichzeitig ist aber auch wahr, daß sowohl das Gesagte als
auch das Verschwiegene zum Irrtum führen können. Das gehört zur
Wahrheit des Gesprächs. Daher sagt jedes Wort zugleich mehr und
weniger von dem, was es zu verstehen gibt, in Bezug auf den Kontext
der Rede und der Intelligenz, in die es eingebettet ist, in Bezug auf
die Bereitschaft des Hörens, das das gesprochene Wort vernimmt, in
Bezug auf das Vermögen der Interpretation, die auf seine Botschaft
und seinen Anspruch antwortet. Von diesem Helldunkel, das jedes
Wort hervorbringt, kommen Nutzen und Schaden für die Wahrheit
des Gesprächs, für jene Wahrheit, welche die Gesprächsteilnehmer
jenseits ihrer Erwartungen und Intentionen in Frage stellt und sie
sprechen läßt.
Das Schicksal der Worte erfüllt sich immer jenseits bzw. diesseits
der besten oder schlechtesten Absichten, weil es nicht ausschließ-
lich das Schicksal eines Sprechers ist, sondern das Schicksal der
Wahrheit, die im Gespräch der Welt entsteht. Niemand verfügt über
dieses Schicksal, es kommt vielmehr auf uns zu, insofern es unsere
Verantwortung für die Wahrheit fordert, die jeden zum Gespräch
mit den anderen ruft. Die Wahrheit unserer eigenen Worte wie
der Worte der anderen gehört keinem bestimmten Sprecher: sie ist
nämlich die Wahrheit der Sprache, die jede Existenz im Ereignis
der vielfältigen Reden sprechen läßt, ein Ereignis ohne Anfang und
ohne berechenbares Ende, das sich auf diese Weise als das Andere
jeder Existenz konstituiert. Und es ist das Bedürfnis der Wahrheit,
das den Menschen sprechen läßt, und nicht umgekehrt das Bedürf-
nis des Menschen, das die Wahrheit so macht, wie sie ihm gerade
180 Mario Ruggenini

paßt. Das Bedürfnis der Sprache nach Wahrheit eröffnet der Welt
die Möglichkeit, sich in den Worten der Menschen als das Andere
zu zeigen, das sie sein läßt; auf diese Weise bietet die Sprache den
Sprechern Existenzmöglichkeiten, die ihrerseits der Welt weitere
Möglichkeiten geben, Ereignis zu werden im Gespräch, zu dem sie
Menschen ruft.
Die Wahrheit der Sprache als ἀλήθεια ist die Wahrheit der Welt.
Die Transzendenz des Wahren ist daher nicht als das In-sich-Stehen
von etwas zu verstehen, das es selbst bleibt unabhängig von den
Reden, sondern als die Selbstbildung und Selbstbestimmung des
Wahren in den Worten, die Menschen miteinander wechseln, ohne
daß es sich deshalb auf die Verfügbarkeit für einen einzelnen Spre-
cher oder für das Übereinkommen mehrerer reduziert. Die Wahrheit
urteilt somit über die Rede der einzelnen aufgrund des Urteils, das
jeder von den Reden der anderen gibt, aber sie identifiziert sich nie
mit irgendeinem der ‚Wahr-sprüche‘ (italienisch ver-detto, franzö-
sich verdict, spanisch veredicto: die Wahrheit des Urteilsspruch im
Gericht), zu denen die Auseinandersetzung der Sprecher gelangt.
Die Wahrheit vergleicht die Worte der einen mit den Worten der
anderen, um immer neue Möglichkeiten der Rede hervorzubringen.
Sie beansprucht also nicht Geltung im Sinne eines Urteilsspruchs,
der jede Rede beendet, von dem nichts gestrichen und dem nichts
mehr hinzugefügt werden kann, außer dem Kommentar einer
Autorität vielleicht, der disziplinarischen Gehorsam verlangt. Der
Schiedsspruch der Wahrheit ist vielmehr jener Wahrspruch, das vere
dictum, das immer dann, wenn ein Abschluß erreicht ist, dessen
vorläufigen Charakter zumindest im Prinzip nicht verheimlicht und
somit immer neue Verstehensversuche anregt, wenn das helldunkle
Licht, das er wirft, neue Möglichkeiten der Intelligenz enthüllt, die
das Nicht-Gesagte jedes erreichten Urteils, jedes Urteilsspruches,
jeder erläuternden Rede, in sich birgt.
In der Sprache, das heißt im Miteinandersprechen der Existenzen,
wird die Möglichkeit aufs Spiel gesetzt, daß es eine Welt geben kann,
die gestattet, den einen in den Worten der anderen die Wahrheit zu
suchen, die sie im Gespräch zusammenhält und jede aufruft, die
eigene Differenz mit der schuldigen Achtung auf die der anderen zu
verantworten. Die ἀλήθεια im Gespräch ist das, was weder Husserl
noch Heid­eg­ger gedacht haben. Und nur die denkende Erfahrung
des Gesprächs, weder die Philologie, noch irgendeine spekulative
Erleuchtung, kann die Differenz zwischen ἀλήθεια und veritas
erklären und die Spannung im Ereignis zwischen Sichentziehen und
Die Zukunft der Phänomenologie 181

Offenheit, nämlich der „Lichtung für das Sichverbergen“,67 frei von


jedem unbefugten Seinsmystizismus aushalten und bewahren.

6. Die Wahrheit des Gesprächs: eine Wahrheit im Plural

Zum Abschluß zwei zusammenfassende Thesen:


1. Die Wahrheit der ἀλήθεια ist als Wahrheit des Gesprächs eine
Wahrheit im Plural, Wahrheit der vielen Reden, in denen die Erschlie-
ßung von Welt geschieht. Die Rede der Welt ist eine vielstimmige
Rede: eine Rede, aber viele Stimmen; oder auch: viele Reden, aber
nur ein Gespräch; oder auch: viele Gespräche, aber nur eine Welt, in
dem Sinne, daß die Welt, die zur Existenz kommt, das heißt die Welt,
auf die hin die Existenz konstitutiv erschlossen ist, einzig ist und
für die daher der Plural keinen Sinn hat, wie Husserl dies deutlich
gesehen hat. Allerdings aber ist sie eine Welt von Welten, die sich
in der Sprache der vielen Reden und der vielen Gespräche ereignet.
Diese unbegreifliche und unfaßbare Einheit der Welt, ebenso wie
die Notwendigkeit der Sprache, die Welt zu sagen – sie ins Gespräch
zu bringen als die einzige Welt der vielen Welten und damit in den
verschiedensten Sprachen und Lebensformen – erfährt die Existenz
aufgrund der ihr zukommenden Möglichkeit, sich von einer Welt in
die andere, von einer Sprache in die andere zu übersetzen. Sie findet
sich so immer wieder in einer anderen Welt und einer anderen Spra-
che wieder, ohne jemals die Welt oder die Sprache zu verlassen. Die
Welt der Welten und die Sprache der vielen Sprachen, in denen sie
sich ereignet, ist das Unbestimmbare (τὸ ἄπειρον), das alles, was ist
(alle Bestimmtheiten) zusammenhält kraft ihrer verborgenen Not-
wendigkeit: κατὰ τὸ χρεών, gemäß der Ordnung der Notwendig-
keit und der Zeit, wie es im Wort Anaximanders heißt.
Die Wahrheit des Gesprächs, der vielstimmig sich vollziehenden
Rede, ist daher die Wahrheit der vielen Wahrheiten, die kraft der
vielen Sprachen und Erfahrungen entstehen und die sich nicht zu
einer einzigen Wahrheit zusammenfügen lassen als Ergebnis einer
Zwangssynthese. Weder Synthese, noch Reduktion, sondern Aus-
einandersetzung: die Wahrheit des πόλεμος, die die differierenden
Existenzen gemeinsam sein läßt, nicht die Wahrheit einer vorausge-
setzten Identität, der die (imaginäre) Konsistenz eines an sich sei-
enden Dinges anhaftet, verteidigt durch Autorität beanspruchende

67
Heid­eg­ger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 338.
182 Mario Ruggenini

Definitionen irgendeiner Macht. Die Wahrheit als Paradox: dasselbe


Paradox der Kommunikation unter den Sprechern, um so wahrer,
je mehr Vielfalt sie verträgt, also vielseitig und allergisch gegen
Reduktionen und Zusammenfassungen, die die Differenzen opfern,
fähig, verschiedene Interpretationen anzuregen, und das heißt wahre
Reden, die aber immer in der Auseinandersetzung mit anderen veri-
fiziert werden müssen; nicht jedoch die Wahrheit des Konsenses,
sondern die Wahrheit, die über jede Übereinkunft und Verständi-
gung urteilt; ohne deshalb von der eigenen Unnachgiebigkeit und
Strenge abzurücken, also ohne sich einem indifferenten Relativis-
mus anheimzugeben, der jedem ohne zu zögern und ohne Widerrede
seine Privatwahrheit zugesteht. Die Wahrheit, die die Existenz jedes
einzelnen zur Rechenschaft zieht und daher zum Anlaß vieler Erfah-
rungen von Wahrheit wird, nicht die Wahrheit, die der Mensch als
Subjekt zu seiner Selbstbehauptung festsetzt, in der er die exklusive
Steigerung seines eigenen Seins erkennt, die aber letztlich so ist, wie
sie sich jeder nach seinen Bedürfnissen zurechtmacht.
Ist dies Babel? Oder nicht vielmehr der geheimnisvolle, nicht
eingrenzbare Reichtum der Rede? Das Multiversum der Welt, die
innerhalb der jeweils gesetzten Grenzen nicht um jeden Preis die
ihr widerstehenden, fremden Existenzen durch Gewalt zwingt, son-
dern die das Sein eines jeden auf das hin öffnet, was noch sein kann
jenseits dessen, was jeder schon aus sich gemacht hat, weil die Welt
immer Anderes bleibt, weil sie immer im Kommen ist als Welt der
Welten, Möglichkeit jedes Möglichen, weil Möglichkeit selbst des
Unmöglichen.
2. Die Wahrheit sagen bedeutet die Pluralität des Wahren – Pluralität
im Sinne der vielen Gesprächsteilnehmer, Pluralität der Erfahrung
einer Wahrheit, die im Gespräch der Existenzen entsteht, wo jeder
das Gemeinsame erfährt, indem er seine Differenz zu den anderen
Existenzen austrägt und sich nicht gleichmachen läßt – Differenz der
Verantwortung in dem Sinne, daß die Verantwortung für sich und
die anderen vor der Welt die Differenz des Existierens ausmacht, die
Verantwortung der Differenz hervorruft: jeder ist verantwortlich für
den Austrag der Differenzen zwischen sich und den anderen. Und
damit auch Pluralität im Sinne der vielen Philosophien und schließ-
lich Pluralität im Sinne der vielen Formen der Erfahrung der Wahr-
heit, in den Künsten, den Religionen, den Wissenschaften, unter
denen die sprachlich-diskursive der Philosophie nur eine ist, nicht die
einzige und schon gar nicht aufgrund eines Rechtsanspruchs oder
einer privilegierten Stellung die wichtigste. In der Tat erhält jede die-
Die Zukunft der Phänomenologie 183

ser Formen eine besondere Bedeutung nur in dem Maße, wie sie sich
Gehör verschafft in der Erschließung von Existenzmöglichkeiten,
denen die Philosophie ihr Gehör schenken muß, um diese auf ihre
eigene Weise befragen zu können, gemäß ihrer Aufgabe, das Unge-
dachte und das Ungesagte der Reden zu erkunden. Somit bleibt die
Philosophie auf der Suche nach der Wahrheit, die das Gesagte nur
aufgrund dessen offenbart, was es vor ihr verbirgt, also nur dem-
jenigen überhaupt enthüllt, der es zu befragen und zu interpretie-
ren versteht. In keinem Fall aber schützen besondere Garantien die
Wahrheit der Philosophie, weder vor der unbewußten Illusion noch
vor dem bewußten Betrug. Schließlich meint Pluralität auf keinen
Fall Unbezüglicheit, so wie die Möglichkeit des Bezugs nicht die
Ableitbarkeit der einen Erfahrung aus der anderen oder umgekehrt
Reduzierbarkeit der einen auf die andere bedeutet. Im Gegenteil, es
ist gerade der Philosophie eigen, ein Auge zu haben für die verbor-
gene Einheit jenseits – unterhalb – der offenbaren und für diese Sorge
zu tragen, gemäß der weisen Aufforderung Heraklits „die verbor-
gene Harmonie mehr als die offenbare“68 zu schätzen.

68
Heraklit, VS 22 B 54.
John Sallis
Die Logik des Denkens

Von Anfang an wird Logik verstanden als die Logik des Denkens.
Bereits im griechischen Denken schreibt man der Logik die Aufgabe
des Identifizierens, Formulierens und Formalisierens von Denkge-
setzen zu. Entsprechend ist Logik darauf verpflichtet, zu untersu-
chen, wie Begriffe, Urteile oder Sätze und Argumente in der Gestalt
von Syllogismen gebildet werden. Was Logik von anderen Erkennt-
nisdisziplinen, von anderen Arten der ἐπιστήμη oder Wissenschaft
unterscheidet, ist, daß Logik diese verschiedenartigen Gebilde nur
hinsichtlich ihrer Form betrachtet, das heißt, ohne deren Inhalt
im mindesten zu beachten. Ob ein Syllogismus richtig gebildet
ist, so daß der Schlußsatz aus den Prämissen folgt, erweist sich so
schlechterdings als eine Frage der Form der beteiligten Sätze und
der formalen Beziehung zwischen ihnen; die Gültigkeit des Argu-
ments ist nicht im geringsten mit dem Inhalt der Sätze verknüpft,
mit dem also, wovon sie handeln. Aufgrund dieses Nichtbeachtens
oder Abziehens des Inhalts ist die Formalisierung bereits der Idee
von Logik selber eigentümlich. Auf diese Weise stellt die moderne
Mathematisierung der Logik lediglich die Vollendung einer bereits
von Anfang an wirksamen Tendenz dar.
Diese klassische Auffassung von Logik bringt Heid­eg­ger in sei-
ner Vorlesung über Logik von 1934 prägnant zum Ausdruck. Hier
bestimmt er Logik als „die Wissenschaft von den Grundgebilden
des Denkens“1 und genauer, als „die Wissenschaft von den forma-
len Grundgebilden und Regeln des Denkens.“2 Indes werden diese
Bestimmungen, die am Anfang der Vorlesung von 1934 stehen,
nicht im Zuge einer erneuten Bestätigung vorgebracht, sondern
vielmehr als Vorbereitung zu einer „Erschütterung“ der Logik (wie
Heid­eg­ger es nennt) mit weitreichenden Folgen für diese Disziplin.

1
Heid­eg­ger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 5.
2
Heid­eg­ger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 11.
186 John Sallis

Diese „Erschütterung“ ist eine von mehreren Gebärden, die man


zusammengenommen als die Dekonstruktion der Logik bezeichnen
könnte.
Das vornehmliche Ziel meines Vortrags ist es, genau herauszustel-
len, was bei dieser Dekonstruktion von Logik auf dem Spiel steht,
das heißt, was sie antreibt, wie sie durchgeführt wird und was in
ihrer Folge zu beachten bleibt. Dieser Schritt erfolgt indes vor dem
Hintergrund einer Beschäftigung mit der Logik, die bis zum ersten
Anfang der Phänomenologie zurückreicht. Bereits in den Logischen
Untersuchungen unternimmt es Husserl, die Logik auf radikalere
Weise wiederzugewinnen und zu begründen. Dies ist ein Unterneh-
men, das Husserl niemals aufgibt und das er insbesondere energisch
in Formale und transzendentale Logik erneuert. Es handelt sich um
dasselbe Unternehmen, das Heid­eg­ger in seinen frühen Schriften
und Vorlesungen aufnimmt und anspricht, anfänglich in der von
Husserl vorgeprägten Form, später dann auf unabhängigere und
schließlich auf dekonstruktive Art und Weise.

1.

Logik ist die Wissenschaft der formalen Strukturen, Regeln oder


Gesetzmäßigkeiten des Denkens. Dieser Auffassung wohnt eine
grundlegende Zweideutigkeit inne. Leicht führt diese Zweideutigkeit
zu Fehlauffassungen. Aufgrund dieser kam im neuzeitlichen Denken
eine gewisse Tendenz auf, die den Status selbst der Logik als einer
reinen Wissenschaft gefährdet. Gegen diese Tendenz unternahm es
Husserl, den eigentlichen Sinn von Logik wiederzugewinnen.
Die Zweideutigkeit liegt in der Auffassung von Gesetzen oder
Regeln des Denkens; denn diese können entweder als Gesetze ver-
standen werden, durch welche das Denken erfolgt oder aber als
Gesetze, durch welche es erfolgen sollte. Sie können ausgelegt werden
als Gesetze, die gegenwärtige Denkvorgänge steuern in der Art wie
Naturgesetze physikalische Vorgänge steuern; oder aber als Gesetze,
die normativ funktionieren, Gesetze also, die vorschreiben, welchen
Gang das Denken zu nehmen hat, um formal mit seinem Gegenstand
in Übereinstimmung und so möglichst wahr oder gültig zu sein.
Besagte Tendenz, die im neuzeitlichen Denken aufkommt, betont
die erste dieser Alternativen. Noch bestärkt durch den Empirismus,
neigt man dazu, Denkgesetze als Gesetze zu betrachten, die tatsäch-
lich die menschliche Psyche steuern. John Stuart Mill beispielsweise
Die Logik des Denkens 187

sieht den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch primär in der Tat-


sache begründet, daß Glaube und Zweifel zwei mentale Zustände
sind, die einander ausschließen. Er erklärt sich dieses Gesetz so,
daß es aus der Selbstbeobachtung hervorginge, bei welcher wir
herausfinden, daß wir nicht zugleich etwas glauben und es bezwei-
feln können. Diese Selbstbeobachtung wird gemäß Mills Erklä-
rung verstärkt durch unsere Außenbeobachtung wonach, wenn ein
bestimmtes Phänomen gegenwärtig vorliegt, dessen Gegenteil stets
abwesend ist, wie bei Licht und Dunkel, Klang und Stille, Gleichheit
und Ungleichheit. Das Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch
betrachtet er sodann als die Verallgemeinerung all dieser Tatsachen.
Allgemeiner betrachtet er alle Gesetze der Logik als bloße Verall-
gemeinerungen, die auf tatsächlicher Erfahrung beruhen, also als
allgemeine Ausdrücke realer Leistungen der menschlichen Psy-
che. Logik müßte somit auf die wissenschaftliche Erforschung der
menschlichen Psyche gegründet werden, das heißt, auf Psycholo-
gie. Eine solche Überstellung der Logik zur Psychologie nennt man
Psychologismus.
Husserls Logische Untersuchungen setzen ein mit einem macht-
vollen Angriff auf einen derartigen Psychologismus. In seinen Pro-
legomena zur reinen Logik stellt Husserl auf gründlichste Weise die
Voraussetzungen und die Folgen eines psychologistischen Logik-
verständnisses heraus. Der Kern von Husserls Kritik besteht in der
Anschuldigung, daß der Psychologismus ein skeptischer Relativis-
mus sei. Das bedeutet, daß eine solche Theorie, welche die Gesetze
der Logik auf die menschliche Psyche – und somit relativ zu die-
ser – begründet, tatsächlich die Bedingungen der Möglichkeit von
Theorie selbst untergräbt, und somit sich selbst. Lassen Sie mich
nur eine der vielen Hinsichten ausführen, in welchen Husserl seine
feingliedrige Kritik ausbreitet. Da der Psychologismus die Gesetze
der Logik relativ zur menschlichen Psyche begreift, könnten diese
Gesetze, während sie wahr für die menschliche Gattungen wären,
doch falsch für Vertreter anderer Gattungen sein. Und doch, der
Sinn von Wahrheit selbst bringt es mit sich, daß das Selbe nicht
zugleich wahr und falsch sein kann. So erklärt Husserl: „‚Wahrheit
für die oder jene Spezies‘, z. B. für die menschliche, das ist […] eine
widersinnige Rede“. Und er fährt fort: „Was wahr ist, ist absolut, ist
‚an sich‘ wahr; die Wahrheit ist identisch Eine, ob sie Menschen oder
Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen.“3 Was hier – wie

3
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena
188 John Sallis

bei aller Kritik, die Husserl gegen den Psychologismus richtet, – auf
dem Spiel steht, ist die Unterscheidung zwischen den idealen Geset-
zen der Logik und den realen Gesetzen empirischer Wissenschaften
wie eben auch der Psychologie.
Entscheidend ist die Einsicht, daß die Gesetze der Logik nicht
reale Leistungen der Psyche betreffen, sondern vielmehr die idea-
len Gegenstände des Denkens oder die idealen Verknüpfungen, die
für diese Gegenstände gelten. Das Gesetz vom ausgeschlossenen
Widerspruch beispielsweise hat nichts gemein mit unserem Unver-
mögen, widersprüchliche Attribute zu denken; nicht wenige würden
behaupten, daß wir solche Widersprüche tatsächlich denken können.
Was das Gesetz ausschließt, ist die objektive Möglichkeit von Wider-
sprüchen; was es prinzipiell – das heißt, idealerweise – ausschließt, ist
die Möglichkeit eines objektiven Inhalts, in dem sich widersprüchli-
che Attribute verbinden.
Husserl sagt, daß die abschließende Klärung der Psychologis-
musdiskussion „von der richtigen Erkenntnis des fundamentalsten
erkenntnistheoretischen Unterschiedes, nämlich dem zwischen Rea-
lem und Idealem“4 abhängt. So sind die idealen Gesetze der Logik
von absoluter Genauigkeit, im Unterschied zu den vagen Verall-
gemeinerungen ausgehend von Erfahrung, welche die empirische
Psychologie als Gesetzmäßigkeiten ansetzt. Die idealen Gesetze der
Logik weisen eine apriorische Gültigkeit auf, anders als empirische
Gesetze, die nur durch Induktion gewonnen werden und die deshalb
nur Wahrscheinlichkeitscharakter haben.
Vor und gegen diesen Hintergrund entwirft Husserl am Ende
der Prolegomena die Idee einer reinen Logik, einer Logik, in der
die Idealität ihres Inhalts gesichert würde. Solch eine reine Logik
bliebe weiterhin eine Logik des Denkens, nun aber im Sinne einer
Logik, die jene Gesetzmäßigkeiten formulierte, welche die idea-
len Beziehungen bestimmen, die zum Gegenstand des Denkens
gehören. Aufgrund der formalen und idealen Beschaffenheit ihrer
Gesetze würde reine Logik die Bedingungen der Möglichkeit von
Theorie im allgemeinen ausweisen. Recht verstanden, würde reine
Logik die Theorie der Theorie, die Wissenschaft der Wissenschaf-
ten werden.

zur reinen Logik, Husserliana XVIII, hrsg. von Elmer Holenstein, Den Haag
1975, 125.
4
Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XVIII, Erster Band,
190–191.
Die Logik des Denkens 189

Und doch, Husserls Widerlegung des Psychologismus stellt nur


eine Reihe von Prolegomena zur reinen Logik dar; sie ist nichts
weiter als die Vorbereitung zur radikalen Wiedergewinnung und
Begründung von Logik, was Husserls Absicht in den Logischen
Untersuchungen ist. Ganz gleich wie energisch sich Husserl auch
weigert, Logik auf empirische Psychologie zu begründen, sein
Angriff auf den Psychologismus bringt ihn nicht dazu, eine rein
objektive Grundlage für Logik zu suchen. Darauf weist er bereits
in den Prolegomena hin: „In dem Streit um psychologische und
objektive Begründung der Logik nehme ich also eine Mittelstellung
ein.“5 Selbst im Vorwort der ersten Auflage bemerkt Husserl, daß er
sich auf stetig zunehmende Weise zur kritischen Reflexion „über das
Verhältnis zwischen der Subjektivität des Erkennens und der Objek-
tivität des Erkenntnisinhaltes gedrängt“6 sah.
Nachdem die Psychologismuskritik gezeigt hat, daß die Gesetze
der Logik durch ideale Objektivität gekennzeichnet sind, schlägt
Husserl daher zu Beginn der eigentlichen Logischen Untersuchungen
vor, sich den subjektiven Quellen dieser idealen objektiven Gesetze
zuzuwenden. Die Aufgabe der Phänomenologie, zumindest ihre
erste, liegt in der Hinwendung zu den Quellen, woraus die Gesetze
der Logik hervorgehen: Die Phänomenologie „erschließt […] die
‚Quellen‘, aus denen die Grundbegriffe und die idealen Gesetze der
reinen Logik ‚entspringen‘, und bis zu welchen sie wieder zurück-
verfolgt werden müssen, um ihnen die für ein erkenntniskritisches
Verständnis der reinen Logik erforderliche ‚Klarheit und Deut-
lichkeit‘ zu verschaffen“.7 Obzwar Husserl den Ausdruck später
zurücknehmen wird, charakterisiert er Phänomenologie anfangs – in
der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen – als „deskriptive
Psychologie“ und versucht diese Disziplin von der empirischen Psy-
chologie dadurch zu unterscheiden, daß er jene als die Vorbereitung
zur eigentlichen Psychologie deutet. Indes erst in den eigentlichen
Logischen Untersuchungen, in den Analysen selbst, beginnt Husserl
die Unterscheidung auszuführen, durch welche die Phänomenologie
sich ihrer Reinheit versichert. Die Unterscheidung zwischen Phä-
nomenologie und Psychologie, ein Problem, das Husserl stets von

5
Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XVIII, 167.
6
Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XVIII, 7.
7
Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil. Unter-
suchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Husserliana
XIX.1, hrsg. von Ursula Panzer, Den Haag/Boston/Lancaster 1984, 7.
190 John Sallis

neuem angeht, erweist sich als offensichtlich notwendig, um Cha-


rakter und Bedeutung der phänomenologischen Wende zu erhellen.
Nur so läßt sich zeigen, daß die Hinwendung zu den subjektiven
Quellen logischer Gesetzmäßigkeiten das Gegenstück ist zur Psy-
chologismuswiderlegung und nicht, wie Husserls frühe Kritiker
bemängelten, eine Hinwendung zur allerersten Position, die in den
Prolegomena widerlegt worden war.
Formale und transzendentale Logik ist eine gewaltige Klärungs-
arbeit. Obwohl das Werk nahezu drei Jahrzehnte nach den Logischen
Untersuchungen erscheint, beharrt Husserl darauf, daß er trotz aller
Klärungsarbeit in dem späteren Werk weiterhin am Unternehmen
festhält, das zuerst in den Prolegomena zur reinen Logik auf den
Weg gebracht worden war.8 Indessen treibt Formale und Transzen-
dentale Logik dieses Unternehmen auch voran, primär dadurch, daß
das Buch das Problem einer philosophischen Logik in den entfalte-
ten Zusammenhang der transzendentalen Phänomenologie zurück-
führt. Innerhalb dieses Zusammenhangs gewinnt das spätere Werk
die methodischen Mittel, die es erlauben, strenge Rechenschaft dar-
über abzulegen, was die Wende von logisch-idealen Entitäten zurück
zu deren subjektiven Ursprüngen beinhaltet.
Der Zusammenhang wird auf eine Weise dargestellt, die Husserls
Beunruhigung über die Krise der Wissenschaften vorwegnimmt. Er
bemerkt, daß, indem die Wissenschaften unabhängig geworden sind,
diese dazu neigten, das Ideal radikaler wissenschaftlicher Selbst-
verantwortung aufzugeben und sich zu schlichten theoretischen
Techniken zu entwickeln. Inmitten dieser „Tragik der modernen
wissenschaftlichen Kultur“,9 wie er es formuliert, hat die Logik ihre
geschichtliche Berufung verloren; anstatt eine Wissenschaftstheorie
beizubringen, ist Logik selber eine Spezialwissenschaft geworden.
Was zuvor die „Fackelträgerin der Methode“10 war, ist stetig weiter
ins Hintertreffen geraten, um in neuerer Zeit vom eigenen Sinn und
Aufgabenbereich ganz abzukommen.
Derart dargestellt erscheint der Zusammenhang um so zwin-
gender. Denn dem zeitgenössischen Versagen der Logik liegt ein
radikaler Fehler zugrunde, der zur Logik durch deren Geschichte

8
Vgl. Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer
Kritik der logischen Vernunft, Husserliana XVII, hrsg. von Paul Jansen, Den
Haag 1974, 109. Diese Arbeit ist erstmals 1929 erschienen.
9
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 7.
10
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 6.
Die Logik des Denkens 191

hindurch gehört. Der Fehler beruht in ihrem Unvermögen, ihre


eigene Aufgabe auszuführen in Bezug auf das Subjektive, das heißt,
in Bezug auf das Denken. Ihr Fehler liegt in ihrem Unvermögen, in
einem radikalen Sinn eine Logik des Denkens zu werden. Logik in
diesem radikalen Sinn auf Denken und Subjektivität zurückzube-
ziehen, ist gemäß Husserl nur möglich innerhalb des Zusammen-
hangs der transzendentalen Phänomenologie. Nur innerhalb dieses
Zusammenhangs ist eine strenge Rechenschaft von der Innerlichkeit
abzulegen, in der Erkenntnis und Theorie hervorgebracht werden.
Daher erklärt Husserl: „Nur eine transzendentale Logik kann eine
letzte Wissenschaftslehre […] sein.“11
Formale und Transzendentale Logik zeichnet den Weg vor von
bloß formaler Logik zu transzendentaler Logik. Und doch, im
Schlußwort des Werkes beharrt Husserl darauf, daß transzendentale
Logik „nicht eine zweite Logik, sondern nur die in phänomenolo-
gischer Methode erwachsende radikale und konkrete Logik selbst
ist“.12 Husserl räumt sogar ein, daß das, was ihm als transzenden-
tale Logik vorschwebt, lediglich tradierte, beschränkte Logik ist. So
ergibt sich, daß transzendentale Logik nicht signifikant den Inhalt
überlieferter Logik verändert, zumindest nicht jenseits der Sup-
plementierungen, die Husserl bei der Ausarbeitung der formalen
Logik vorschlägt. Transzendentale Logik ist schlicht formale Logik,
die ausdrücklich rückgebunden und thematisch verknüpft wurde
mit ihrem transzendentalen Ursprung. Transzendentale Logik ist
schlicht formale Logik, die radikaler gefaßt wurde, dadurch daß sie
transzendental begründet worden ist.
In Formale und Transzendentale Logik unterstreicht daher Hus-
serl mehrfach die doppelte Ausrichtung, die nun von der Logik ver-
langt werden muß. Logik muß, so erklärt Husserl, indem er sich auf
die der Logik notwendige Überarbeitung bezieht, ihre phänome-
nologische Naivität überwinden. Dies erfordert, daß die Logik sich
nicht in ihren Idealitäten verliere, sondern vielmehr daß diese eine
Rückkehr von den idealen Gebilden zum Bewußtsein, das sie konsti-
tuiert, durchführe.13 Dies erfordert eine Logik, die in zwei gegensätz-
11
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 20.
12
Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana XVII, 296.
13
Husserl hält hinsichtlich der Logik fest: „Vielmehr in beständig zweiseiti-
ger (sich dabei wechselweise bestimmender) Forschung muß sie systematisch
von den idealen Gebilden auf das sie phänomenologisch konstituierende Be-
wußtsein zurückgehen“ (Husserl, Formale und transzendentale Logik, Hus-
serliana XVII, 270).
192 John Sallis

liche Richtungen fragt, indem sie auf der einen Seite zurückgeht auf
die produktiven Aktivitäten und Habitualitäten, die, auf der anderen
Seite, Ergebnisse und ideale Gebilde konstituieren, die anschließend
in ihrer idealen Objektivität bestehen bleiben. Husserl legt nahe,
daß gerade diese Zweiseitigkeit, – das heißt, die Schwierigkeit, die
in jener liegt – die Tatsache erklärt, daß Logik nach Jahrtausenden
noch immer nicht den Weg wahrhaft rationaler Entwicklung einge-
schlagen hat.14 Die Schwierigkeit, so erklärt er, liegt primär in der
Tatsache, daß die idealen Gebilde wie Urteile nicht bereits da sind
wie äußere Dinge, sondern aus unserer Denktätigkeit hervorgehen;
einmal hervorgebracht, bleiben diese idealen Gebilde indes bestehen
und scheinen so auf undurchschaubare Weise zwischen Subjektivität
und Objektivität herumzutreiben.15 Traditionell neigt man dazu, sie
entweder der einen oder der anderen Seite zuzuordnen, während
doch eine Untersuchung erforderlich ist, die – transzendental veror-
tet – in beide Richtungen vorgeht.
Erforderlich wird eine Doppelbewegung, ein Schweben, sozusa-
gen zwischen den Strukturen formaler Logik und der subjektiven
Wende, die von der transzendentalen Logik ins Spiel gesetzt wird.
Auf der einen Seite nimmt die Logik die beständigen Gebilde auf, die
konstituiert worden sind; dadurch daß sie aber auf die unterliegende
konstituierende Tätigkeit zurückgeht und diese durch eine thema-
tisierende Reflexion wiedererweckt, vermag es Logik, die Einheit
der idealen Gebilde gegen Verschiebungen und Verstellungen abzu-
sichern, die zu semantischen und sprachlichen Mehrdeutigkeiten
führen.16 Auf diese Weise wendet sich die Bewegung, die von der
formalen hin zur transzendentalen Logik ging, zurück zur formalen
Logik, um dieser eine Genauigkeit und Strenge einzuschärfen, zu der
sie anders nicht fähig wäre.

14
Vgl. dazu Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana
XVII, 38–39.
15
Vgl. dazu Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana
XVII, 85–86.
16
Vgl. dazu Husserl, Formale und transzendentale Logik, Husserliana
XVII, 184.
Die Logik des Denkens 193

2.

Heid­eg­ger erkennt Husserls Errungenschaften für die philosophische


Logik offen an. Tatsächlich sind Heid­eg­gers eigene früheste Veröf-
fentlichungen innerhalb jenes Zusammenhangs von Logikforschung
verortet, der von Husserls Logischen Untersuchungen herrührt.
Sowohl Heid­eg­gers Abriß zur zeitgenössischen Logikdiskussion
Neuere Forschungen über Logik (1912) als auch seine Dissertation
über Die Lehre vom Urteil im Psychologismus (1913) nehmen Bezug
auf die große Tragweite von Husserls Werk und schreiten selber
innerhalb des Horizonts voran, den dieses Werk eröffnet hat. Mehr
als ein Jahrzehnt später, zur Zeit als Heid­eg­ger Sein und Zeit ver-
faßte, hebt er weiterhin Husserls Logische Untersuchungen als den
einzigen Text hervor, in welchem noch eine fruchtbare Fragestellung
in bezug auf Logik zu finden ist.17 Selbst sehr viel später unterstreicht
Heid­eg­ger in seinem rückblickenden Aufsatz von 1963 Mein Weg in
die Phänomenologie die Bedeutung der Logischen Untersuchungen
für sein Denken und erinnert sich daran, daß ihn auch weiterhin,
nachdem Husserls Arbeit eine durchaus neue Richtung einschlug,
„der nicht nachlassende Bann, der von den ‚Logischen Untersuchun-
gen‘ ausging, gefangen“ hielt.18
Daher ist es kaum verwunderlich, daß Heid­eg­ger in zahlreichen
Texten und mannigfachen Zusammenhängen Fragen aus der Logik
anspricht. Selbst in vielen Texten, die nicht ausdrücklich Logik zum
Thema haben, erkennt man unter der Textoberfläche mühelos Fra-
gen und Motive, die mit Heid­eg­gers Logikforschungen und darü-
ber hinaus mit dessen Aneignung der Analysen aus den Logischen
Untersuchungen eng verbunden sind. Doch was in dieser Hinsicht
vielleicht am meisten ins Auge fällt, ist die Tatsache, daß Heid­eg­ger
zwischen 1925 und 1938 vier Vorlesungen gehalten hat, die sich –
jede auf eigene Weise – der Logik widmen; für jede wird das Thema
jeweils dadurch angezeigt, daß das Wort „Logik“ im Titel der Vorle-
sung vorkommt. Vergegenwärtigt man sich, daß diese Vorlesungen
den entscheidenden Zeitabschnitt von Heid­eg­gers Niederschrift
des veröffentlichten Teils von Sein und Zeit bis zum Jahr, in dem
er die Beiträge zur Philosophie abschloß, umspannen, dann steht zu
erwarten, daß die betreffenden Vorlesungen in sehr unterschiedliche

17
Vgl. dazu Heid­eg­ger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 24. Die
Vorlesung wurde im Wintersemester 1925/26 gehalten.
18
Heid­eg­ger, Mein Weg in die Phänomenologie, GA 14, 97.
194 John Sallis

Richtungen ausholen. Bereits ein flüchtiger Blick zeigt in der Tat,


daß in dieser Reihe nicht nur Entwicklungen, sondern auch Unter-
brechungen, ja Sprünge auftauchen, worin der Sinn philosophischer
Logik selber tiefgreifenden Veränderungen unterzogen wird.
Die erste dieser Vorlesungen trägt den Titel Logik und zusätzlich
den Untertitel Die Frage nach der Wahrheit; Heid­eg­ger hat sie im
Wintersemester 1925/26 gehalten, ein Jahr vor der Veröffentlichung
von Sein und Zeit. Hauptthema des einführenden Teils der Vorle-
sung ist Husserls Psychologismuskritik. Heid­eg­ger gibt diese Kritik
prägnant wieder, zeichnet bestimmte historische Verbindungen (bei-
spielsweise zu Lotze) und Konsequenzen nach. Obzwar Heid­eg­
gers Diskussion Husserls Kritik größtenteils bestätigt und verstärkt,
macht sich in zwei Punkten der Beginn einer gewissen Divergenz
bemerkbar.
Der erste Punkt betrifft die Bewertung überlieferter Logik. Im
Gegensatz zu Husserl, der selbst im radikaleren Gepräge von Formale
und transzendentale Logik weitgehend den Inhalt überlieferter Logik
beibehält, hat Heid­eg­ger nichts als Geringschätzung für die Schullo-
gik, die zeitgenössische Erbin überlieferter Logik, übrig. Diese Logik
ist, sagt er, nichts weiter als eine Bequemlichkeit für träge Dozenten.
Es handelt sich um ein bloßes Scheingebilde, das alle Verbundenheit
mit Philosophieren und Fragen verloren hat; es ist ein bloßer Speicher
von Sätzen, Formeln, Regeln und Definitionen, bestimmt zur schlich-
ten Weitergabe. Gemäß Heid­eg­ger rührt eine solche Logik von einem
Stadium der Philosophie her, in dem diese bereits ihren produktiven
Grundzug verloren hatte; sie stelle das gänzlich entwurzelte und ver-
härtete Überbleibsel ursprünglichen philosophischen Fragens dar, wie
es bei Plato und Aristoteles lebendig gewesen sei.19 Der historische
Bezug läßt deutlich werden, daß Heid­eg­gers Geringschätzung weit
über die gegenwärtige Gestalt der Logik hinausreicht und bis hin zur
überlieferten Logik als solcher reicht, wie sie in der hellenistischen
Philosophie festgeschrieben worden ist.
Heid­eg­ger hebt eine derartige Logik energisch von einer philo-
sophischen Logik ab. Es handelt sich um eine Logik, die anders als
eine philosophische Logik ist, die nicht mehr, wie noch bei Husserl,
dadurch philosophisch werden kann, daß man sie transzendental
begründete. Wie der Untertitel der Vorlesung bereits nahelegt, liegt
die primäre Frage, welche die philosophische Logik belebt, nach

19
Vgl. Heid­eg­ger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 12–13.
Die Logik des Denkens 195

Heid­eg­gers Auffassung in der Frage nach der Wahrheit.20 Insbeson-


dere hier wird offensichtlich, daß Heid­eg­ger in bezug auf Inhalt und
Artikulation von Logik weit über Husserls traditionelleres Logik-
verständnis hinausgeht. In Formaler und transzendentaler Logik
unterscheidet Husserl drei Logikebenen. Die unterste befaßt sich
mit den reinen Urteilsformen; sie bestimmt und systematisiert die
fundamentalen Formen und die grundlegenden Operationen. Die
zweite Ebene ist die Logik des ausgeschlossenen Widerspruchs, wel-
che die Gesamtheit der Syllogistik umfaßt. Nur auf der dritten Ebene
kommt die Frage nach der Wahrheit ins Spiel; als Wahrheitslogik
ist es ihre Aufgabe, die formalen Wahrheitsgesetze zu formulieren.
Logik unmittelbar und direkt auf die Wahrheitsfrage zu beziehen,
wie Heid­eg­ger es tut, heißt andererseits, die beiden ersten Ebenen zu
überspringen. Es stellt sich die Frage, ob und wie es möglich ist, zu
diesen anderen Ebenen zurückzukehren, um sich ihren überlieferten
Inhalt anzueignen – oder vielleicht diesen umzubilden.
Der zweite Anhaltspunkt für den Beginn einer gewissen Diver-
genz begegnet in Heid­eg­gers Diskussion von Husserls Psycho-
logismuskritik. Gemäß Heid­eg­ger besteht der Hauptfehler des
Psychologismus darin, logische Prinzipien auf empirische Tatsachen
zu gründen, beispielsweise dadurch, daß er das Prinzip vom aus-
geschlossenen Widerspruch als Aussage über reale psychische Vor-
kommnisse auffaßt oder gar als Ergebnisse von Verallgemeinerungen
solcher Vorkommnisse. In diesem Zusammenhang erweist sich der
Psychologismus als blind angesichts des eigentlichen Sinns solcher
Prinzipien, und zwar hinsichtlich dessen, daß sie etwas über ide-
ales Sein aussagen, über den geurteilten Inhalt und nicht über das
psychische Vorkommnis des Urteilens. Der grundlegende Fehler
des Psychologismus besteht also in seiner naturalistischen Blindheit
für ideales Sein, das heißt, in seinem Versagen, eine grundsätzliche
Unterscheidung im Sein des Seienden zu verstehen. Heid­eg­ger merkt
an, daß das, was im Hintergrund der gesamten Auseinandersetzung
steht, die Frage nach dem Sinn von Sein ist. Letzteres fortführend
hält Heid­eg­ger fest, daß „diese Kritik des Psychologismus […]
am Leitfaden der Unterscheidung von realem und idealem Sinn“
gewonnen ist. Sodann fügt er etwas Entscheidendes hinzu: „Die-
ser Unterschied ist nichts anderes als der Platonische Unterschied
zwischen dem sinnlichen Sein, dem αἰσθητόν, und dem Sein, wie

20
Vgl. dazu Heid­eg­ger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 18.
196 John Sallis

es durch Vernunft zugänglich wird, durch den νοῦς, das νοητόν.“21


Dieser Unterschied legt die positive Grundlage für Husserls gesamte
Psychologismuskritik. Tatsächlich ist diese Grundlage in Husserls
Text deutlich ausgewiesen. Beispielsweise schreibt Husserl in einer
Passage aus den Prolegomena zur reinen Logik, in der er Kritik an
der Relativierung von Wahrheit übt: „Aber jede Wahrheit an sich
bleibt, was sie ist, sie behält ihr ideales Sein. Sie ist nicht ‚irgendwo
im Leeren‘, sondern ist eine Geltungseinheit im unzeitlichen Reiche
der Ideen.“22
Die Stelle macht deutlich, daß Heid­eg­gers Darstellung lediglich
unterstreicht, was in Husserls Text bereits offensichtlich ist. Und
doch, die Implikationen von Husserls Rückhalt in der grundlegen-
den platonischen Unterscheidung erweisen sich für Heid­eg­ger als
weitreichender und dies in zunehmendem Maße in den Jahren nach
der Veröffentlichung von Sein und Zeit. Denn diese Unterscheidung
liegt selbst der Metaphysik zugrunde; und, wie Heid­eg­gers Arbeit in
den 1930er Jahren zeigen wird, handelt es sich um eine Unterschei-
dung, die mit Nietzsche an ihr Ende kommt. Am Horizont zeichnet
sich bereits die Frage ab: Was impliziert es für die Logik, wenn sich
Denken aus dieser Unterscheidung herauswindet?
In der Vorlesung von 1925/26 indes verbleibt Heid­eg­ger im
Zusammenhang der Phänomenologie und allenfalls der Umformung,
der jene in Sein und Zeit unterzogen wird. So führt Heid­eg­ger in der
Vorlesung die Phänomenologie als eine neue Art der Forschung ein,
welche die Rolle übernimmt, die zuvor der Psychologie zugeschrie-
ben worden war, nun aber in vollem Bewußtsein des Unterschieds
zwischen realem und idealem Sein. Es stellt sich dann nur die Frage,
wie denn dieser Unterschied phänomenologisch zu verstehen sei.
Heid­eg­ger erinnert daran, daß dies lediglich das alte Problem der
Teilhabe des Sinnlichen am Übersinnlichen ist. Doch er beharrt dar-
auf, daß diese Auffassung das Problem verdreht und nichts zu dessen
Lösung beiträgt. Hier ein Zerrbild einer solchen Auffassung: „Man
nehme die Kluft und ziehe die Brücke; das ist ungefähr so schlau,
wie die übliche Anweisung, man nehme ein Loch und mache darum
Stahl, um ein Kanonenrohr herzustellen.“23 Solchen Strategien setzt
Heid­eg­ger eine Auffassung der Psyche entgegen, gemäß welcher der
Grundzug der Psyche Intentionalität ist. Setzt man diesen Grundzug

21
Heid­eg­ger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 52.
22
Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XVIII, 136.
23
Heid­eg­ger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 92.
Die Logik des Denkens 197

voraus, dann gilt, „daß das Psychische in sich selbst so etwas wie
eine Beziehung ist des Realen zum Idealen“.24 Indem sie intentional
ist, öffnet die Psyche eher den Unterschied, als daß sie einen bereits
vorhandenen Spalt überbrückte. Auf tiefgründigster Ebene ereignet
sich eine solche Öffnung durch das, was Husserl transzendentale
Konstitution nennt und als die Ideationsleistung des intentiona-
len Bewußtseins umreißt. So schreibt sich Heid­eg­gers Auffassung
weiterhin in diese phänomenologische Auffassung ein, selbst dann,
wenn – in den späteren Teilen der selben Vorlesung – Heid­eg­gers
Daseinsanalytik dazu gelangt, die phänomenologische Auffassung
von Psyche zu verschieben – oder zumindest neu zu verankern. In
einem kürzlich veröffentlichten Text von 1927, bezieht sich Heid­eg­
ger gar – in versöhnlicher Geste vielleicht – auf die transzendentale
Konstitution derart, daß sie vom Dasein ermöglicht würde.25
Indessen findet man keine derart versöhnlichen Gesten in der
zweiten der vier Vorlesungen. Tatsächlich wird die Differenz bereits
im Titel der Vorlesung hörbar, die Heid­eg­ger im Sommersemester
1928, seinem letzten Semester in Marburg, gehalten hat. Die Vorle-
sung trägt den Titel Metaphysische Anfangsgründe der Logik, und
die spezifische Herangehensweise Heid­eg­gers an dieses Thema wird
durch den Zusatz angezeigt im Ausgang von Leibniz. Die Vorlesung
wendet sich also nicht primär der Logik als solcher zu, sondern ihren
ursprünglichen metaphysischen Grundlegungen, wie sie im Denken
Leibniz‘ zu erkennen sind.
Gleichwohl ist der Ton zu Beginn der Vorlesung von 1928 jenem
der früheren Vorlesung sehr ähnlich. Heid­eg­ger bemerkt, daß Logik,
wie sie für gewöhnlich gelehrt wird, staubtrocken sei; auch erscheine
sie ziemlich nutzlos und ganz abgetrennt von der Philosophie. Heid­
eg­ger erklärt: „nicht, um eine Kollegvorlesung unterhaltsamer zu
machen, bedarf es einer anderen Logik, sondern einzig darum, weil
die sogenannte Logik gar keine Logik ist und mit Philosophie nichts

24
Heid­eg­ger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 98.
25
Heid­eg­ger schreibt, daß das Dasein „in sich die Möglichkeit der tran­
szendentalen Konstitution birgt“, und auch, daß „die Existenzverfassung des
Daseins die transzendentale Konstitution alles Positiven ermöglicht.“ Diese
Bemerkungen fallen in Anlage I zu einem Brief vom 22. Oktober 1927, den
Heid­eg­ger Husserl anläßlich ihrer Zusammenarbeit für den Artikel Phäno-
menologie in der Encyclopedia Britannica geschrieben hat. Die Texte sind
veröffentlich in: Heid­eg­ger, Zur Sache des Denkens, GA 14, 129 – 132, hier
131.
198 John Sallis

mehr gemein hat“.26 Die Logik, so fügt er hinzu, solle philosophisch


werden. Wenn es gelänge, im Vorblick auf dieses Ziel die Idee einer
philosophischen Logik sichtbar zu machen – so Heid­eg­ger – dann
würde es möglich, die eigentliche Geschichte der Logik durchsichtig
werden zu lassen. Dann aber – fährt er fort – wird offenbar, „daß der
Faden ihrer ‚Entwicklung‘ bereits bei Aristoteles und Plato abriß
und seitdem unauffindbar geblieben ist – bei allen neuen Impulsen,
die durch Leibniz, Kant und Hegel und zuletzt durch Husserl in
die Logik kamen“.27 Hier beginnt die Dissonanz zu tönen. In Heid­
eg­gers Bestreben, die Logik philosophisch zu machen und so den
Verfall zu überwinden, den sie seit der Antike erleidet, reicht es aus
Heid­eg­gers Sicht nicht mehr hin, die phänomenologische Begrün-
dung der Logik zu erneuern, die Husserl eröffnet hatte, noch auch
den husserlschen Anstoß zu radikalisieren. Nicht einmal Husserl ist
es gelungen, den abgerissenen Faden der Logik wieder aufzugreifen;
und wenn Logik eigentlich erneuert, wenn sie philosophisch werden
soll, dann muß das Bestreben in eine andere Richtung weisen.
Genau in diese andere Richtung deutet der Haupttitel der Vorle-
sung Metaphysische Anfangsgründe der Logik. Was Heid­eg­ger nun
ausführt, ist nicht der Schritt von den logischen Idealitäten zurück
zu den Konstitutionsleistungen, in bezug auf welche die Idealitäten
begründet würden. Vielmehr geht der Schritt von den Gesetzen der
Logik zurück zu ihrem metaphysischen Grund. Der Schritt geht
von der überlieferten Logik, beispielsweise von der Urteilslogik,
wie sie Leibniz formuliert hat, zurück zu solch grundlegenden Fra-
gen wie Wahrheit, Grund und Freiheit. Es ist in Heid­eg­gers Worten
der Vollzug „eines kritischen Abbaus der überlieferten Logik auf
ihre verborgenen Fundamente“28 hin. Und, wie der Titel des ersten
Hauptstücks anzeigt, beginnt dieses mit der „Destruktion“ von
Leibniz‘ Urteilslehre hin auf ihre unterschwelligen metaphysischen
Fragen. Was in den beiden Worten „Abbau“ und „Destruktion“,
so wie sie in Heid­eg­gers Sprechen geprägt werden, zum Ausdruck
kommt, ist genau jenes, was Derrida unternahm, mit dem französi-
schen Wort déconstruction auszudrücken. Was Heid­eg­gers Vorle-

26
Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von
Leibniz, GA 26, 5–6.
27
Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von
Leibniz, GA 26, 7.
28
Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von
Leibniz, GA 26, 27.
Die Logik des Denkens 199

sung von 1928 sich also vornimmt, ist genau die Dekonstruktion
von Logik.
Und doch, selbst beim Abschluß der Vorlesung bleibt die Frage
bestehen: bewirkt diese Dekonstruktion von Logik die Erneuerung
von Logik? Läßt sie Logik philosophisch werden? Ist der Ertrag der
Dekonstruktion eine philosophische Logik? Oder läßt der Schritt
zurück in die metaphysischen Gründe nicht einfach die Logik hinter
sich? Gegen Abschluß der Vorlesung findet man mehrere bedeut-
same Hinweise. Zuerst bezieht Heid­eg­ger Logik auf die Grund-
probleme der Wahrheit und der Transzendenz, um dann auf dieser
Grundlage zu erklären, daß „Logik selbst Metaphysik“29 sei. Es ist,
als ob derselbe Schritt von der Logik zu den metaphysischen Grün-
den ein Schritt sei, der die Logik in den Bereich der Metaphysik
hineinzöge. So nimmt Heid­eg­ger zweitens Bezug auf die „Radika-
lisierung der Logik zur Metaphysik“ und schließlich gar auf eine
„Logik als Metaphysik.“30 Die Radikalisierung und Begründung
von Logik hatten, so scheint es, eine Angleichung der Logik an die
Metaphysik bewirkt. Was bleibt, ist nicht eine philosophische Logik,
sondern eher ein metaphysischer Diskurs, aus dem Logik als solche
verschwunden ist.
Die dritte Vorlesung über Logik wurde im Sommersemester 1934
gehalten. Wie die erste bringt auch deren Titel eine bestimmte Auf-
fassung darüber zum Ausdruck, was Logik ist. Der Titel lautet Logik
als Frage nach dem Wesen der Sprache. Wie in vielen anderen Erörte-
rungen bemerkt Heid­eg­ger, daß sich das Wort Logik vom Ausdruck
ἐπιστήμη λογική herleitet; jetzt indes betont er, daß Logik, wie die
Wissenschaft oder das Wissen vom λόγος, auf ausgezeichnete Weise
mit Sprache verbunden ist.
Anders als die anderen Vorlesungen beginnt diese mit einer
Besprechung der Strukturen überlieferter Logik: Heid­eg­ger
beschreibt die Art und Weise, wie Logik Ausdrücke, Sätze und Syl-
logismen erforscht, und er zeigt, wie die Logik, entsprechend die-
sen Leitthemen, die Prinzipien der Identität, des ausgeschlossenen
Widerspruchs und des Grundes umfaßt. Er unterstreicht auch den
rein formalen Charakter von Logik.

29
Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von
Leibniz, GA 26, 281.
30
Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von
Leibniz, GA 26, 282.
200 John Sallis

Erst nach dieser Besprechung der Leitthemen der überliefer-


ten Logik kündigt Heid­eg­ger das Ziel seiner Vorlesung an: weder
geht es darum, Logik zu begründen, noch zu den Grundsätzen
zurückzukehren, die ihr unterliegen; Ziel ist vielmehr, die Logik zu
erschüttern. In Heid­eg­gers eigenen Worten: „Wir wollen die Logik
als solche von ihrem Anfang an aus ihrem Grund erschüttern, eine
ursprüngliche Aufgabe unter diesem Titel erwecken und greifbar
machen“.31 Im Durchgang durch diese Erschütterung der Logik
unternimmt es Heid­eg­ger zu zeigen, daß die Grundfrage der Logik
die Frage nach dem Wesen der Sprache ist. Ziel ist, in seinen Worten,
„die Verwandlung der Logik in die allgemeine Aufgabe der Frage
nach dem Wesen der Sprache“.32
Gegen Ende der Vorlesung berührt Heid­eg­ger wieder die
Zukunftsaussichten der Logik und spricht über die noch nicht ergrif-
fene Aufgabe, Logik auf der Grundlage des ursprünglichen Begriffs
vom Wesen der Sprache zu erneuern.33 Doch bleibt dies wenig mehr
als ein Ausblick, als Heid­eg­ger die Vorlesung beschließt, indem er
erklärt, daß das ursprüngliche Wesen von Sprache in der Sprache
der Dichtung zu finden ist. Der Weg von der Sprache der Dichtung
zurück zur Erneuerung der Logik verbleibt gänzlich unvermessen.
In der letzten der vier Vorlesungen finden sich keine Anhalts-
punkte mehr für einen solchen Weg zurück und es wird ersichtlich,
daß sich Heid­eg­ger völlig von der Aufgabe abgewandt hat, die Logik
zu erneuern, diese philosophisch zu machen. Bedeutsam ist, daß im
Titel jener Vorlesung, Grundfragen der Philosophie: Ausgewählte
„Probleme“ der „Logik“, das Wort Logik nur im Untertitel und dann
in Anführungszeichen gleichsam eingeklammert auftaucht. Heid­eg­
ger erläutert die durch Anführungszeichen angezeigte Modifikation:
er beabsichtigt hinter das zurückzugehen, was man als Probleme der
Logik gedeutet – das heißt fehlgedeutet – hat, um vielleicht hier auf
die verborgene, noch ungefragte Grundfrage der Philosophie zu sto-
ßen. In der Sprache der Vorlesung benennt das Wort „Logik“ keine
philosophische Disziplin mehr, nicht einmal eine, die es noch nötig
hätte, philosophisch gemacht zu werden. Logik ist nicht mehr die
Logik des Denkens, sondern sie ist vielmehr genau jenes, mit dem
das Denken brechen muß. Denn die Fragen, mit welchen das Den-

31
Heid­eg­ger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 8.
32
Heid­eg­ger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, 18.
33
Vgl. dazu Heid­eg­ger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache,
GA 38, 169.
Die Logik des Denkens 201

ken zu seiner Aufgabe am Ende der Philosophie durchstoßen würde,


sind – selbst im allerradikalsten Fall von Nietzsche – „in den Fesseln
der ‚Logik‘ gefangen“ geblieben.34 Heid­eg­ger erklärt, daß sich die
Aufgabe stellt, „über die ‚Logik‘ […] hinaus“ zu gehen.35
In seinen Nachkriegsschriften kommt Heid­eg­ger selten auf
das Logikmotiv zurück. Da, wo er das Motiv berührt – dies stets
knapp –, dient, was er sagt, weithin dazu, die Ausrichtung zu bestäti-
gen und zu festigen, die in den vier Vorlesungen verfolgt worden war.
Beispielsweise im Brief über den Humanismus verortet er Logik
direkt auf der Seite der Metaphysik. Nun aber, anstatt die Logik um
Willen der Metaphysik zurückzulassen, stellt Heid­eg­ger beide dem
ursprünglichen Denken gegenüber. Er sagt: „Die ‚Logik‘ versteht das
Denken als das Vorstellen von Seiendem in seinem Sein“.36 Dies aber
ist gerade metaphysisches Denken im Unterschied zum ursprüng-
lichen Denken der Wahrheit des Seins. Nur ein solch ursprüngli-
ches Denken kann Zugang erlangen zum Wesen des λόγος, das, sagt
Heid­eg­ger, „bei Plato und Aristoteles, dem Begründer der ‚Logik‘,
schon verschüttet und verlorengegangen ist“.37 Indessen beschreibt
Heid­eg­ger ein solch ursprüngliches Denken des λόγος nicht als eine
Erneuerung oder Radikalisierung von Logik, sondern eher als das,
was „gegen ‚die Logik‘ denken“38 heißt.
Der Text aus den sechziger Jahren mit dem Titel Das Ende der
Philosophie und die Aufgabe des Denkens klärt die Verschiebung
auf, die ab den spätern 1920er Jahren Heid­eg­ger davon abgehalten
hat, die husserlsche Strategie zur Grundlegung der Logik anzuneh-
men. Bereits in Sein und Zeit verbot sich eine derartige Strategie
dadurch, daß Intentionalität in das In-der-Welt-sein zurückverlegt
worden war, das heißt, durch die Verschiebung der Subjektivität
ins Dasein. Im späteren Text wird diese Verschiebung zur Sprache
gebracht durch ein Wort, das bereits in Sein und Zeit von Bedeutung
ist, das Wort „Lichtung“. Dieses Wort sagt, gemäß Heid­eg­ger, was
in der Phänomenologie, im Aufruf „Zu den Sachen selbst!“ und in
der Wende zur transzendentalen Subjektivität ungedacht geblieben
ist. Es sagt auch, was im Projekt einer transzendentalen Logik unge-
dacht geblieben ist.

34
Heid­eg­ger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 11.
35
Heid­eg­ger, Grundfragen der Philosophie, GA 45, 8.
36
Heid­eg­ger, Brief über den Humanismus, GA 9, 348.
37
Heid­eg­ger, Brief über den Humanismus, GA 9, 348.
38
Heid­eg­ger, Brief über den Humanismus, GA 9, 348.
202 John Sallis

Indem Heid­eg­ger seine Dekonstruktion von Logik zuerst dem


Zusammenhang der Fundamentalontologie einschrieb und dann
dem ursprünglichen Denken der Wahrheit des Seins, wurde er in
steigendem Maße bestimmter darin, daß das Denken von Logik,
oder was immer davon übrigbliebe, unterschieden bleiben müsse.
Denken würde über Logik hinausgehen, würde ein Denken gegen
die Logik werden, diese in ihrer festen Verbundenheit mit der Meta-
physik einfach hinter sich lassend. Offen bleibt die Frage der Rück-
kehr aus der Dekonstruktion von Logik zurück zur Erneuerung der
Logik. Hat sich das Denken einmal auf die Wahrheit des Seins ein-
gelassen und ist es einmal dem Sein als Ereignis zugeeignet, wird es
dann möglich, Logik wieder als die Logik des Denkens in Anspruch
zu nehmen und die Spuren des ursprünglichen Denkens – in noch
gänzlich unerhörten Schemata – aufzureißen?
Zu den Autoren

RUDOLF BERNET, geb. 1946, ist ordentlicher Professor für Phi-


losophie an der Universität Leuven und Präsident des Husserl-
Archivs. Er ist Herausgeber der Reihen Husserliana – Edmund
Husserl, Gesammelte Werke und Edmund Husserl – Collected Works
und Beiratsmitglied zahlreicher philosophischer und psychoanaly-
tischer Zeitschriften. Gastprofessuren in Nizza, Kopenhagen, Rom,
Boston, New York und Hong Kong. Wichtigste Publikationen: La
vie du sujet. Recherches sur l’interprétation de Husserl dans la phéno-
ménologie, 1994; Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens (zus.
mit Iso Kern und Eduard Marbach), 21996; Conscience et existence.
Perspectives phénoménologiques, 2004; Drive: A Psychoanalytical or
Metaphysical Concept? On the Philosophical Foundation of the Plea-
sure Principle, in: Philosophy today 51 (2007), 107–118; La conscience
dans la perspective d’un transcendantalisme structuraliste, in: Revue
de phénoménologie 16 (2008), 27–47; L’extimité du corps et la ques-
tion du naturalisme en phénoménologie, in: Temps Modernes 63/650
(2008), 174–201. Als Herausgeber: Edmund Husserl. Texte zur Phä-
nomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 1985; Edmund Husserl,
Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/1918)
(zus. mit D. Lohmar), Husserliana 33, 2001; Edmund Husserl: Criti-
cal Assessments of Leading Philosophers (zus. mit Donn Welton und
Gina Zavota), 2005.

GÜNTER FIGAL, geb. 1949, ist ordentlicher Professor an der Uni-


versität Freiburg im Breisgau und Herausgeber des Internationalen
Jahrbuchs für Hermeneutik. Gastprofessuren in Berlin, Nishino-
miya, Aarhus, Rom und Boston. Wichtigste Publikationen: Der
Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie, 1996;
Nietzsche. Eine philosophische Einführung, 1999; Martin Heidegger.
Phänomenologie der Freiheit, 32001; Gegenständlichkeit. Das Her-
meneutische und die Philosophie, 2006; Verstehensfragen. Studien zur
204 Zu den Autoren

phänomenologisch-hermeneutischen Philosophie, 2009; Zu Heid­egger.


Antworten und Fragen, 2009. Als Herausgeber: Heidegger Lese-
buch, 2007; Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (Reihe:
Klassiker auslegen), 2007; Ernst Jünger, Martin Heidegger, Briefe
1949–1975, 2008.

HANS-HELMUTH GANDER, geb. 1954, ist Professor für


Philo­sophie an der Universität Freiburg im Breisgau, Direktor des
Husserl-Archivs und Mitherausgeber der Schriftenreihe der Heid­
egger-Gesellschaft. Gastprofessuren in Tokyo, Seoul und Dubrovnik.
Wichtigste Publikationen: Positivismus als Metaphysik. Voraus-
setzungen und Grundstrukturen von Diltheys Grundlegung der
Geisteswissenschaften, 1988; Selbstverständnis und Lebenswelt.
Grundzüge einer phänomenologischen Hermeneutik im Ausgang
von Husserl und Heidegger, 22006. Als Herausgeber: Martin Heid­
egger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), Gesamtaus-
gabe 58, 1993; Anerkennung. Zu einer Kategorie gesellschaftlicher
Praxis, 2004; Menschenrechte. Philosophische und juristische Posi­
tionen, 2009. Als Mitherausgeber: Heidegger und die Anfänge seines
Denkens (Heidegger-Jahrbuch 1), 2004; Dimensionen des Herme-
neutischen. Heidegger und Gadamer, 2005; Bausteine zu einer Ethik
des Strafens. Philosophische, juristische und literaturwissenschaftliche
Perspektiven, 2008; Phänomenologie und Ordnungsökonomie. Hus-
serl und Eucken im Dialog, 2009.

MICHAEL GROSSHEIM, geb. 1962, ist Professor für phäno-


menologische Philosophie an der Universität Rostock. Wichtigste
Publikationen: Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie
zwischen Leben und Existenz, 1991; Ludwig Klages und die Phäno-
menologie, 1994; Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus
in der Moderne, 1995; Politischer Existentialismus. Subjektivität
zwischen Entfremdung und Engagement, 2002. Als Herausgeber:
Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Dis-
kussion, 1994; Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie, 1995;
Perspektiven der Lebensphilosophie, 1999; Neue Phänomenologie
zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz,
2008. Als Mitherausgeber: Rehabilitierung des Subjektiven. Fest-
schrift für Hermann Schmitz, 1993.

JEAN-LUC MARION, geb. 1946, ist ordentlicher Professor für


Philosophie an der Université Paris-Sorbonne (Paris IV) und Mit-
Zu den Autoren 205

glied der Academie Française. Wichtigste Publikationen: Réduction


et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoméno­
logie, 1989; Questions cartésiennes II. L’ego et Dieu, Paris 1996;
Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, 1997; De
surcroît. Etudes sur les phénomènes saturés, 2001; Le phénomène éro-
tique, 2003; Le visible et le révélé, 2005; Acerca de la doncion. Una
perspectiva fenomenologica, 2005; Dialogo con l’amore, 2007; Au lieu
de soi. L’approche de saint Augustin, 2008.

MARIO RUGGENINI, geb. 1940, ist ordentlicher Professor für


theoretische Philosophie an der Università Ca’ Foscari in Venedig
und Mitherausgeber der Zeitschrift Filosofia e Teologia. Wichtigste
Publikationen: Verità e soggettività. L’idealismo fenomenologico di
Edmund Husserl, 21974; Il soggetto e la tecnica. Heidegger filosofo
inattuale, 1978; Marx e la tecnica, 1979; Volontà e interpretazione,
Nietzsche, la metafisica della soggettività e la fine della filosofia, 1984;
I fenomeni e le parole: La verità finita dell’ermeneutica, 1992; Il
discorso dell’altro. Ermeneutica della differenza, 1996; Il Dio assente.
La filosofia e l’esperienza del divino, 1997; Die Welt der Anderen und
das Rätsel des Ichs, in: Die erscheinende Welt. Festschrift für Klaus
Held (hrsg. von Heinrich Hüni), 2002, 89–110; Dire la verità. Noi
siamo qui forse per dire …, 2006.

JOHN SALLIS, geb. 1938, ist ordentlicher Professor für Philosophie


(Frederick J. Adelmann Lehrstuhl) am Boston College und Her-
ausgeber der Zeitschrift Research in Phenomenology. Wichtigste
Publikationen: Die Krisis der Vernunft. Metaphysik und das Spiel
der Einbildungskraft, 1983; Chronology: On Beginning in Plato’s
‚Timaeus‘, 1999; Stein, 2003; On translation, 2002; Platonic legacies,
2004; Topographies, 2006; Transfigurements: on the true sense of art,
2008; The verge of philosophy, 2008; Einbildungskraft. Der Sinn des
Elementaren, 2009.

DAN ZAHAVI, geb. 1967, ist ordentlicher Professor für Philosophie


an der Universität zu Kopenhagen und Leiter des Zentrums für Sub-
jektivitätsforschung der Nationalen Forschungsstiftung Dänemarks.
Er ist ehemaliger Präsident der Nordischen Gesellschaft für Phäno-
menologie und Mitherausgeber der Zeitschrift Phenomenology and
the Cognitive Sciences. Wichtigste Publikationen: Intentionalität
und Konstitution. Eine Einführung in Husserls Logische Untersu-
chungen, 1992; Husserl und die transzendentale Intersubjektivität.
206 Zu den Autoren

Eine Antwort auf die sprachpragmatische Kritik, 1996; Self-aware-


ness and Alterity. A Phenomenological Investigation, 1999; Subjec-
tivity and Selfhood. Investigating the first-person perspective, 2005;
Phänomenologie für Einsteiger, 2007; The Phenomenological Mind.
An introduction to philosophy of mind and cognitive science (zus.
mit Shaun Gallagher), 2008. Als Herausgeber: One Hundred Years
of Phenomenology. Husserl’s Logical Investigations Revisited (zus.
mit Frederik Stjernfelt), 2002; The Structure and Development of
Self-consciousness. Interdisciplinary perspectives (zus. mit Thor
Grünbaum und Josef Parnas), 2004; Hidden Resources. Classical
perspectives on subjectivity, 2004.
Personenverzeichnis

Anaximander 181 Gadamer, Hans-Georg 10


Aristoteles 12, 18 f., 31, 50, 64, Galilei, Galileo 138
75, 106–108, 132, 169, 194, Goethe, Johann
198, 201 Wolfgang von 135
Goffmann, Irving 148
Bergson, Henri 25, 137, 155 Goldstein, Kurt 148
Blochmann, Elisabeth 122 Grimme, Adolf 77
Bolzano, Bernard 27, 37, 39,
42 Hartmann, Nicolai 109, 111,
Brentano, Franz 28, 78, 115 113 f.
Hegel, Georg Wilhelm
Carman, Taylor 75 Friedrich 31, 132, 198
Carnap, Rudolf 25 Henry, Michel 84
Cassirer, Ernst 78 Heraklit 174, 183
Celms, Theodor 144 Hobbes, Thomas 169

Dennett, Daniel Clement 86 Kant, Immanuel 35, 39 f., 42,


Derrida, Jaques 10, 175, 198 78–79, 85–88, 91, 96–98, 111,
Descartes, René 43, 63, 74–76, 144, 198
85, 96 f., 106 f., 115, 164, 168 Klages, Ludwig 136
Dilthey, Wilhelm 123, 128,
132, 136–138, 152, 154 Landmann, Michael 118
Duns Scotus, Johannes 119 Lask, Emil 32, 35 f., 40
Leibniz, Gottfried
Elias, Norbert 113 Wilhelm 132, 144, 197 f.
Lévinas, Emmanuel 10, 54, 71,
Fichte, Johann Gottlieb 110 73, 170
Fink, Eugen 10, 73, 105, 142, Locke, John 25
162 Lotze, Hermann 194
Foucault, Michel 97 f. Löwith, Karl 6
208 Personenverzeichnis

Malebranche, Nicolas 63 Sartre, Jean-Paul 10, 54, 71,


Marion, Jean-Luc 10, 76 f. 73, 110, 116–118
Meinong, Alexius 27, 37, 39 f., Scheler, Max 73, 84, 89, 99,
42 128, 132
Mendelssohn, Moses 135 Schmitz, Hermann 110
Merleau-Ponty, Maurice 10, Schneider, Kurt 123
54, 73 f., 77, 97, 118, 148, 170 Simmel, Georg 136
Mill, John Stuart 186 f. Stein, Edith 45
Strasser, Stephan 90
Natorp, Paul 27, 34–36, 40, 42 Suarez, Francesco 40
Neurath, Otto 25
Nietzsche, Friedrich 136, 144, Taylor, Charles 156
196, 201 Twardowski, Kasimir 37, 40,
42
Okrent, Mark 85
Ott, Hugo 119 Waldenfels, Bernhard 137, 147
Walther, Gerda 135
Platon 21, 75, 101, 170, 177, Wittgenstein, Ludwig 124
194–196, 198, 201 Wolff, Christian 40

Rickert, Heinrich 27, 33, 35 f.,


40, 119 f., 126
Ricœur, Paul 10

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